Info: William King Warhammer 40.000
Wolfskrieger Für Ragnar scheint der glücklichste Tag in seinem noch jungen Leben a...
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Info: William King Warhammer 40.000
Wolfskrieger Für Ragnar scheint der glücklichste Tag in seinem noch jungen Leben angebrochen zu sein. Von einer Winterlichen Schiffsreise zu den Eiseninseln zurückgekehrt, steht seine Aufnahme in die Reihen der Männer in einem Fest bevor. Doch die ausgelassene Feier währt nicht lange. Die arglos Zechenden werden von Grimmschädeln überfallen, die jene Insel zurückerobern wollen, von der sie vor vielen Jahren vertrieben wurden. Ragnar kämpft wie ein Berserker und erschlägt zahlreiche Feinde, bis er schwer verwundet auf dem Schlachtfeld liegen bleibt. Er ist der einzige Überlebende seines Stammes und wird von unbekannten Magiern gesund gepflegt. Nach seiner Genesung wird er in ein Übungslager mit kampferprobten Jugendlichen gebracht, wo er im Kampf gegen Seine Kameraden, wilde Bestien und die unerbittliche Natur zu einem verwegenen Krieger heranreift. Ragnar beschleicht ein entsetzlicher Gedanke: Ist die kleine, beschauliche Welt, die er kannte, in Wahrheit eine Zuchtstätte für den Nachwuchs des mächtigen Wolfsordens? Und wer ist der Feind, der solche Anstrengungen erfordert? Ragnar erklimmt Stufe um Stufe in der Hiararchie der Space-Marines, doch die eigentliche Bewährungsprobe steht ihm noch bevor ...
Scan, Korrektur, Layout by Larentia Mai 2003 Diese digitale Kopie ist NICHT für den Verkauf bestimmt !
In gleicher Ausstattung erschienen in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY die Serien: WARHAMMER
Jack Yeovil: Drachenfels • 06/5571 Jack Yeovil: Die untote Geneviève • 06/5575 David Pringle (Hrsg.): Das Gelächter dunkler Götter •06/5576 Jack Yeovil: Bestien in Samt und Seide • 06/5577 KONRAD-TRILOGIE :
David Ferring: Konrad • 06/5572 David Ferring: Schattenbrut • 06/5573 David Ferring: Kriegsklinge • 06/5574 ORPHEUS-TRILOGIE:
Brian Craig: Zaragoz • 06/5578 Brian Craig: Seuchendämon • 06/5579 Brian Craig: Sturmkrieger • 06/5580 DIE ABENTEUER VON GOTREK UND FELIX :
William King: Schicksalsgefährten • 06/9116 William King: Der Graue Prophet • 06/9117 William King: Die Chaos-Wüste • 06/9118 William King: Der Hort des Drachen • 06/9119 (in Vorb.) William King: Dämonenkrieger • 06/9120 (in Vorb.) WARHAMMER 40000
Ian Watson: Inquisitor • 06/5551 Ian Watson: Space Marine • 06/5552 Ian Watson: Harlekin • 06/5553 Neu Jones & David Pringle: Genräuber • 06/5554 Ian Watson: Kind des Chaos • 06/5556 William King: Wolfskrieger • 06/5557 William King: Ragnars Mission • 06/5558 (in Vorb.)
WARHAMMER 40.000
WILLIAM KING
Wolfskrieger Roman Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/5557
Titel der englischen Originalausgabe SPACE WOLF Deutsche Übersetzung von Christian Jentzsch
Umwelthinweis: Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt Deutsche Erstausgabe Redaktion: Ralf Oliver Dürr Copyright © 1999 by Games Workshop Ltd. Erstausgabe by Black Library/Games Workshop Ltd. Warhammer® und Games Workshop Ltd.® sind eingetragene Warenzeichen Umschlagbild: Wayne England/Games Workshop Ltd. Copyright © 2002 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München http: //www.heyne.de Printed in Germany 2002 Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Technische Betreuung: M. Spinola Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Eisnerdruck, Berlin ISBN 3-453-21318-1
PROLOG
STURM AUF HESPERIDA Überall standen Gebäude in Flammen. Ragnar schritt durch den Moloch der Schlacht und rief seinen Männern Befehle zu. »Bruder Hrolf - schießt sofort zwei Krak-Raketen auf diese vorgeschobene Geschützstellung ab! Die übrigen Brüder sollen sich neu formieren und sich auf den Sturmangriff vorbereiten, sobald der Zugang freigesprengt ist.« Über den Ohrstöpsel, der ihn mit dem Funknetz verband, kamen Bestätigungen. Er spurtete von dem Eingang, wo er Deckung gesucht hatte, zu einem riesigen Trümmerblock, der seinem Ziel gute zwanzig Meter näher war. Gegnerische Laserstrahlen pulverisierten den Beton hinter seinen Fersen, aber selbst in seiner verstärkten Schlachtrüstung bewegte er sich noch so schnell, dass die Ketzer ihn nicht richtig ins Visier bekamen. Er duckte sich hinter den Trümmern und wartete einen Moment. Das Donnern schwerer Geschütze lag in der Luft. Irgendwo in der Ferne war das Heulen von Thunderhawk-Triebwerken und ein mehrfacher Überschallknall zu hören, als die Flugmaschinen ihre Umlaufgeschwindigkeit verringerten. Gleich darauf durchdrangen strahlend gelbe Kondensstreifen die bleiernen Wolken, und die Kampfhubschrauber wurden sichtbar. Raketenbündel lösten sich von ihren Tragflächen, rasten erdwärts und schlugen Augenblicke später in die Stellungen der Ketzer ein. Er prüfte seine Waffen mit der aus einem Jahrhundert der Erfahrung geborenen Präzision, holte tief Luft, murmelte ein an den Kaiser gerichtetes Gebet und wartete. Er war sich allem bewusst. Sein Primärherz schlug regelmäßig. Die geringfügigeren Schnitte und Kratzer, die ihm
umherfliegende Splitter zugefügt hatten, verheilten bereits. Er spürte, wie sich eine Schramme in seiner Wange schloss. Seine Sinne - weitaus schärfer als diejenigen des Menschen, der er früher einmal gewesen war - versorgten ihn mit einem steten Fluss von Informationen über das Schlachtfeld ringsumher. Er konnte die beruhigende Anwesenheit seiner Schlachtbrüder in der Nähe riechen, eine Mischung aus gehärtetem Ceramit, Öl, dem Fleisch von Fenris und den subtilen Duftstoffen, die verrieten, dass sie nicht ganz menschlich waren. Mehr noch, er konnte die schwachen Pheromone von Wut, Schmerz und gut beherrschter Furcht wahrnehmen. Er überprüfte seine Rüstung, um sich zu vergewissern, dass ihr struktureller Zusammenhalt nicht gelitten hatte. Hier und da waren ein paar Schrammen, wo Splitter vom gehärteten Ceramit der Rüstung abgeprallt waren. An zwei Stellen hatte die Tarnbemalung Blasen geworfen, die von der flüchtigen Bekanntschaft mit dem Strahl einer Laserkanone kündeten. An einem Schulterpolster hatte ein Geschoss die leicht erhöhte Umrandung durchschlagen. Nichts Ernstes. Die Servomotoren, die den mächtigen Kampfanzug mit Energie versorgten, arbeiteten gegenwärtig mit 75 Prozent Wirkungsgrad, da die meisten Systeme leerliefen, um Energie zu sparen. Die in den Anzug eingebauten Auto-Sensoren informierten ihn über schwache Spuren von Schadstoffen, Verseuchungsstoffen und Neurotoxinen, welche die Ketzer zu Beginn des Aufstands bei ihrem Überraschungsangriff auf die loyalistischen Truppen eingesetzt hatten. Kein Grund zu übermäßiger Sorge, gelobt sei Russ. Die Fähigkeit seines Körpers, Gifte abzubauen, wurde kaum benötigt, um mit den Schadstoffen fertig zu werden. Er hatte schon mit Giften zu tun gehabt, die stark genug waren, um Kopfschmerzen, Muskelkrämpfe und Schwindelanfälle zu verursachen, während sein Körper sich daran anpasste. Diese hier waren nicht annähernd von so einem Kaliber. Alles in
allem sah es gar nicht so schlecht aus. Um die Wahrheit zu sagen, er genoss die Situation sogar. Nach einem Monat der Meditation in seiner Zelle im Fang und einer Woche beklemmender Enge an Bord eines der großen ImperiumsSternenkreuzer auf dem Weg zu diesem unbedeutenden Kriegsschauplatz schwelgte er förmlich in der Aktivität. Tatsächlich war das kaum überraschend: er war dazu geboren und ausgebildet. Sein ganzes Leben war eine Vorbereitung auf diesen Augenblick. Denn schließlich war er ein Kaiserlicher Space Marine vom Orden der Space Wolves. Was konnte er mehr vom Leben verlangen als das hier? Er hatte eine geladene Bolzenpistole in der Hand und die Feinde des Kaisers vor sich. In diesem Leben gab es kein größeres Vergnügen, als seine Pflicht zu erfüllen und dem Leben jener verblendeten Ketzer ein Ende zu setzen. Das Mauerwerk in seinem Rücken erbebte. Steinbrocken prallten von seiner Rüstung ab. Jemand hatte seine Deckung unter Beschuss genommen, vielleicht mit einer Rakete oder einer schweren Bolzengranate. Es spielte keine Rolle. Aus langer Erfahrung wusste er, dass der metallverstärkte Beton so etwas verkraften konnte. Er studierte die Zeitanzeige, die sich über sein Gesichtsfeld legte. Eine Minute und vier Sekunden waren verstrichen, seit er Bruder Hrolf seine Befehle erteilt hatte. Seiner Schätzung nach würde Hrolf zwei Minuten brauchen, um Stellung zu beziehen, und weitere zehn Sekunden, um die Raketen auszurichten und abzufeuern. Das war mehr als genug Zeit für den Rest seiner Streitmacht, um in Stellung zu gehen. Für die Ketzer hingegen reichte die Zeit nicht aus, um seine Deckung zu pulverisieren, wenn sie nicht mehr Feuerkraft aufwendeten, als dies augenblicklich der Fall war. Offenbar war dem gegnerischen Kommandant dieser Gedanke ebenfalls gekommen. Ragnar hörte den Lärm monströser Ketten näher kommen. Er wusste, dass er von
einem feindlichen Vehikel verursacht werden musste. Die Streitkräfte des Imperiums hatten gerade erst mit der Landung begonnen, wobei die Space Wolves die Speerspitze bildeten. Sie konnten noch keine Panzerfahrzeuge abgesetzt haben. Die logische Schlussfolgerung war simpel. Was immer sich näherte, war nicht freundlich gesinnt. Unmittelbar darauf bestätigte ein Ruf über Funk diese Einschätzung. +Truppe Ragnar. Feindlicher Panzer vom Typ Predator nähert sich Ihrer Stellung. Wünschen Sie Unterstützung? Ende+
Ragnar überlegte kurz. An dieser Stelle wurde die Luftunterstützung der Thunderhawks anderenorts dringender gebraucht, um den Einheiten zu helfen, die sich gerade im kritischen Stadium der Landung befanden und vom Feind unter Beschuss genommen wurden. Er wollte diese Hilfe nicht von seinen Schlachtbrüdern abziehen. Insbesondere nicht, um sich eines einzigen feindlichen Panzers zu erwehren. +Hier Ragnar. Negativ. Wir kümmern uns selbst um den Predator. Ende.+ +Nachricht erhalten und verstanden. Möge der Kaiser über euch wachen. Ende.+
Ragnar wog seine Möglichkeiten ab. Er konnte hören, wie der Panzer sich näherte, und die stechenden Abgase seiner Auspuffanlage riechen. Beton wurde unter seinen Ketten zermahlen. Er konnte Bruder Hrolf auffordern, den Panzer mit den schweren Artilleriewaffen der Abteilung zu zerstören, aber das hieße, den Angriff auf den Bunker abzublasen, während Hrolf eine neue Stellung bezog, doch dafür bestand keine Notwendigkeit, wenn er sich selbst um den Panzer kümmerte. Er überprüfte die Fächer in seinem Vielzweckgürtel. Alles war an Ort und Stelle. Injektoren mit Heilmitteln, Granatspender, Reparaturpflaster. Er tippte gegen den Granatspender, und eine Krak-Granate fiel in seine Hand. Die würde reichen. Er spähte aus seiner Deckung und sah den
langen Geschützlauf des Predator um die Ecke biegen. Augenblicke später wurde der ganze Panzer sichtbar. Es handelte sich um das Standardmodell eines Imperiumspanzers, doch anstelle der akuraten Lackierung der Kaiserlichen Planetaren Armeen war er in aller Hast blutrot eingesprüht worden, und auf die Flanke hatte man mit gelber Farbe ein primitives achtarmiges Chaos-Symbol gepinselt. Beim Anblick des verhassten Emblems bleckte Ragnar die Zähne. Es war das Zeichen der Dämonenanbeter, die geschworen hatten, alles zu stürzen, für dessen Erhaltung Ragnar sein Leben lang gekämpft hatte, und sein bloßer Anblick weckte die animalische Wildheit, die Bestie, die ein Teil seiner Natur als Space Wolf war, und ließ sie in den Vordergrund treten. Er erhob sich und maß mit geübtem Auge die Entfernung zwischen sich und dem Panzer. Nicht mehr als hundert Schritte, schätzte er. Die Entfernung verringerte sich rasch, da der Panzer vorwärts rumpelte. Er konnte erkennen, dass die leichten Turmgeschütze bereits auf ihn einschwenkten. Seine Stellung war umgangen worden. Nur gut, dass er ohnehin beschlossen hatte, sie aufzugeben. Die Servomotoren seiner Rüstung jaulten, als er über das offene Gelände dem Panzer entgegenrannte. Abermals waren ihm die Laserstrahlen dicht auf den Fersen, aber wie er gehofft hatte, waren die Schützen zu überrascht über seinen unvermuteten Ausbruch aus der Deckung, um ihn schnell aufs Korn zu nehmen. Auch die Schützen im Panzer trauten offenbar ihren Augen nicht. Leuchtspurgeschosse zischten über seinen Kopf hinweg. Die Bemühungen der Schützen waren halbherzig. Sie schienen zu glauben, dass er unter ihrem heranrasenden Vehikel zerquetscht würde. Ragnar hatte die Absicht, sie eines Besseren zu belehren. Sie würden dafür büßen, einen der Söhne von Leman Russ unterschätzt zu haben. Er lief dem Panzer geradewegs entgegen. Er wuchs rasch in
seinem Blickfeld. Obwohl er oft neben solchen Vehikeln marschiert war oder sich an ihnen festgeklammert hatte, während sie ihn und seine Schlachtbrüder ins Gefecht trugen, überraschte es ihn, wie groß dieser jetzt aussah. Er lächelte. Es war immer etwas anderes, wenn man mit einem Panzer tatsächlich kämpfen musste. Der Abstand zwischen ihm und dem Predator verringerte sich rasch. Das Summen der Vibrationen seines Motors lag in der Luft. Der Gestank der Abgase drang ihm jetzt fast überwältigend stark in die Nase. Das Flackern des Laserbeschusses kam seinen Fersen noch näher. Im letzten Augenblick warf er sich nach rechts und brachte damit den Predator zwischen sich und das Feuer aus dem Feindbunker. Er warf die erste Krak-Granate zwischen die Steuerräder und die mit ihnen verbundenen Ketten. Der Zünder war auf drei Sekunden eingestellt. Reichlich Zeit für Ragnar, noch eine Granate nachzulegen. Als sie explodierten, wurden Teile der Kette weggesprengt, und die Steuerräder kamen knirschend zum Stillstand, als die Kraftübertragung ins Stocken geriet. Ein riesiges Stück Kette riss sich flatternd los und hätte Ragnar beinahe getroffen. Nur seine blitzschnellen Reflexe, die infolge der Anspannung der Schlacht auf übermenschliche Schärfe eingestellt waren, ermöglichten ihm, sich gerade noch rechtzeitig zu ducken. Die schiere Wucht, mit der die gegliederten Metallsegmente sich bewegten, hätte sicher ausgereicht, um ihn sauber zu enthaupten. Des Antriebs einer Kette beraubt, drehte der Predator sich jetzt langsam auf der Stelle. Die Kette auf der anderen Seite funktionierte noch und trieb das Vehikel vorwärts, aber es würde nirgendwohin fahren, nur noch im Kreis. Darüber war Ragnar froh. Da der Geschützturm bereits in die Richtung seiner Einheit schwenkte, wurde es Zeit, zur nächsten Phase seines Plans überzugehen.
Mit einem gewaltigen Satz sprang Ragnar oberhalb des Kettenschutzes auf die Seite des Predator. Er landete leichtfüßig und mit einem Klirren seiner Ceramitstiefel auf der Wandung, dann lief er vorwärts, während er bei Russ hoffte, dass in dem Panzer noch niemand durchschaut hatte, was vorging. Er konnte gedämpft das Bellen von Befehlen und verwirrtes Geschrei hören, also nahm er an, dass noch alle im Dunkeln tappten. Gut. Sie würden niemals erkennen, was über sie gekommen war. Er lief weiter zum Geschützturm und sah, dass die Luke geschlossen war. Ein Jammer, dachte Ragnar, aber nichtsdestoweniger hatte er genau damit gerechnet. In einer Nahkampfsituation würde kein Panzerkommandant mit entblößtem Haupt herumfahren. Trotzdem war es dumm von ihnen, dass sie ohne Infanterieunterstützung so weit vorgerückt waren. Die Ausführung seines Plans wäre ihm in Anwesenheit bewaffneter Fußtruppen erheblich schwerer gefallen. Er nahm an, dass der Panzer auf ein verzweifeltes Hilfeersuchen des Bunkers hin so rasch wie möglich gekommen war. Nun, er würde dafür sorgen, dass die Ketzer für diesen Fehler büßten. Er packte den Griff auf dem Geschützturm mit beiden Händen und wappnete sich, dann spannte er seine verstärkten Muskeln an und zog mit aller Kraft. Nichts geschah. Er führte den Servomotoren seiner Rüstung immer mehr Energie zu, bis die Muskelfasern kurz vor der Überladung standen und die in seinem Blickfeld aufleuchtenden Wartungsanzeigen sich immer weiter in den roten Bereich schoben. Langsam und mit einem grässlichen Knirschen löste sich die Luke aus ihren Angeln. Ceramit bog sich unter der furchtbaren Kraft des Space Wolfs. Ragnar hätte fast das Gleichgewicht verloren, als die Luke sich gänzlich aus den Angeln löste. Ein Strom schlechter Luft zischte aus dem Panzer, und Ragnar erkannte den Gestank der Mutation. Diese Ketzer hatten wahrhaftig den Preis dafür bezahlt, ihren finsteren Herren Gefolgschaft geschworen zu haben. Er warf den
Lukendeckel weg und entnahm seinem Gürtelspender eine Krak-Granate. Er schaute hinab ins Innere des Panzers. Ein rascher Blick zeigte ihm abscheulich veränderte Mutantengesichter, die zu ihm hochsahen. Eines war mit riesigen roten Warzen übersät, die alle in einem Auge endeten. Das andere war geschmolzen und zerlaufen, als bestehe es aus Kerzenwachs. Das Zeichen ihrer Schlechtigkeit haftete ihnen unübersehbar an, da ihr Äußeres verändert und an die innerliche Verdorbenheit durch die bösen Mächte angepasst worden war, die sie verehrten. Einer der Mutanten griff nach seiner gehalfterten Pistole. Dem Ausdruck blinder Panik auf dem Gesicht der Kreatur konnte Ragnar entnehmen, dass sie sich zusammengereimt hatte, was gleich geschehen würde. Und sie hatte Recht. Ragnar ließ die Granate durch die offene Luke fallen und sprang ab. Im Sprung griff er nach einer weiteren Granate und warf sie ebenfalls durch das offene Turmluk. Es war gerade noch möglich, dass es den Mutanten gelang, eine Granate rechtzeitig aufzuheben und durch die Luke nach draußen zu werfen. Beide konnten sie nicht erwischen. Der Panzer befand sich immer noch zwischen ihm und dem Bunker. Er riss seine Waffen heraus. In der Seite des Predator hatte sich eine Luke halb geöffnet. Eines der Besatzungsmitglieder hatte erkannt, was geschah, und versuchte sich zu retten. Ragnar trat die Luke zu und sprang zurück, als zwei gewaltige Explosionen den Panzer erschütterten. Eine blutige Fontäne schoss durch das offene Turmluk in die Höhe. Ragnar rannte schnell in Deckung, da es nur allzu gut möglich war, dass die Antriebssysteme des Panzers hochgehen würden. Glücklicherweise waren die Insassen des Bunkers durch das Schicksal des zu ihrer Unterstützung abkommandierten Predator abgelenkt, und so warf er sich gerade in dem Augenblick in die Deckung des Mauerwerks, die er kurz zuvor
verlassen hatte, als eine gewaltige Explosion das mächtige Vehikel in Stücke riss. Riesige Fetzen Metallpanzerung bogen sich durch die Wucht des explodierenden Antriebsblocks nach außen. Öliger schwarzer Rauch kräuselte sich aus den Überresten himmelwärts. In diesem Augenblick drang der Donner einer weiteren Explosion an Ragnars Ohren. Bruder Hrolf hatte die Tür des Bunkers mit dem Raketenwerfer beschossen. Ragnar. sprang auf, wobei er mit Befriedigung zur Kenntnis nahm, dass der Plastahl von der Explosion vollkommen aus den Angeln gesprengt worden war und der Überflügelungstrupp der Space Wolves bereits von beiden Seiten in Stellung ging. Unter Ragnars aufmerksamen Blicken warf Bruder Snagga sich flach auf den Boden, robbte unterhalb des Feuerbereichs der Bunkerbesatzung zum offenen Eingang und beförderte eine Hand voll Mikrogranaten hindurch. Explosionen und Schmerzensschreie waren seine Belohnung. Binnen Sekunden waren zwei Space Wolves in den Bunker eingedrungen. Schüsse knallten, als sie die Überlebenden niedermachten. Ragnar lächelte und entblößte zwei große wölfische Reißzähne. In seinen gelblichen Wolfsaugen erschien ein Funkeln des Triumphs. Er hatte einen weiteren Sieg errungen. In diesem Augenblick registrierte er das schwache Funkeln von Sonnenlicht auf Glas irgendwo rechts von ihm. Sein Instinkt riet ihm, sich flach auf den Boden zu werfen, aber es war bereits zu spät. Er sprang zwar, aber das Geschoss des Scharfschützen, raketengetrieben und panzerbrechend, war bereits unterwegs und zu schnell, um ihm noch ausweichen zu können. Seine Bewegung brachte seinen Körper lediglich teilweise aus der Schussbahn. Die Granate, die auf sein Herz gezielt war, explodierte stattdessen in seiner Brust. Schmerzen zuckten durch seinen Körper. Boten der Qual rasten seine Nerven entlang. Er stürzte vorwärts in eine Lavagrube unsäglicher Pein.
***
»Keine Sorge, Bruder Ragnar«, hörte er eine Stimme aus weiter Ferne sagen. »Wir haben dich.« Ragnar wunderte sich darüber und fragte sich, ob es nicht bereits zu spät sei. Die Stimmen klangen bereits so, als kämen sie vom oberen Ende eines riesigen Schachts. Es kam ihm so vor, als falle er nach unten, der kalten Hölle seines Volks entgegen, wo ihn seine Familie und seine Freunde und auch seine alten Feinde begrüßen würden, die er persönlich dorthin befördert hatte. Es war merkwürdig, dass er so weit weg von zu Hause und so viel später sterben sollte, als er dies erwartet hatte. Diese sonderbare Empfindung hatte etwas Tröstliches. Er wusste, was er zu erwarten hatte. Er sollte es auch wissen. Schließlich war er schon einmal gestorben. Eisige Klarheit ergriff Besitz von seinem Verstand. Seine Erinnerung flutete zurück. Seine Seele raste durch die Jahrhunderte in die Vergangenheit. Und erinnerte sich.
1
DAS DRACHENMEER »Wir werden alle sterben!«, schrie Yorvik der Harpunier, während er sich mit vor Furcht weit aufgerissenen Augen umsah. Blitze zuckten über den Himmel von Fenris und beleuchteten das gequälte Gesicht des Mannes. Das schiere Entsetzen machte seinen Schrei über das Tosen des Windes und das Donnern der Wellen gegen das Schiff hinweg hörbar. Die Regentropfen, die ihm übers Gesicht liefen, hatten unheimliche Ähnlichkeit mit Tränen. »Sei still!«, schrie Ragnar ihn an und verpasste dem entsetzten Mann eine Ohrfeige. Schockiert darüber, von einem Jugendlichen geschlagen worden zu sein, der gerade alt genug war, den Flaum der Mannbarkeit auf den Wangen zu tragen, vergaß Yorvik vorübergehend seine Furcht und griff nach seiner Axt. Ragnar schüttelte den Kopf und funkelte den älteren Mann mit seinen kalten grauen Augen an. Yorvik hielt inne, als ginge ihm gerade auf, wo er war und was er tat. Sie standen für alle Krieger sichtbar im Bug des Schiffs. Ein Angriff auf den Sohn seines Kapitäns würde ihm weder in den Augen der Götter noch in denen der Besatzung zur Ehre gereichen. Yorviks Wangen überzogen sich mit dem Rot der Scham, und Ragnar schaute weg, um den Mann nicht noch mehr zu erniedrigen. Ragnar warf den Kopf in den Nacken, um die Mähne schwarzer Haare aus den Augen zu bekommen. Während er durch das Peitschen des Windes und die salzige Gischt der stürmisch wogenden See blinzelte, gab er Yorvik insgeheim Recht. Sie würden sterben, wenn kein Wunder geschah. Er fuhr zur See, seit er laufen konnte, und hatte noch nie einen so schlimmen Sturm erlebt. Finstere Wolken jagten über den Himmel. Es war so dunkel
wie in der Nacht, obwohl Mittag war. Gischt wogte, als der Schiffsbug durch die nächste riesige Welle pflügte. Die Drachenhaut des Decks hallte wie eine gewaltige Trommel unter der Wucht des Aufpralls. Er mühte sich, auf dem unablässig schwankenden Deck das Gleichgewicht zu bewahren. Auch über das Dämonengekreisch des Windes konnte er das Ächzen der Schiffsknochen hören. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Meer das Boot verschlang. Es war ein Wettrennen zwischen dem Bemühen der Wellen, die Speer von Russ in tausend Stücke zu schlagen, und dem Bestreben der Drachenhaut, sich unter dem steten Wasserdruck vom Skelett des Schiffs zu schälen und sie damit kentern zu lassen. Ragnar schauderte nicht nur wegen der kalten, durchweichten Nässe seiner Kleidung. Für ihn wie für alle Angehörigen seines Volks war Ertrinken der schlimmste aller möglichen Tode. Es bedeutete schlicht, in die Klauen der Meerdämonen zu sinken, wo seine Seele in ewiger Knechtschaft gefangen sein würde. Dort gab es keine Möglichkeit, sich seinen Platz unter den Auserwählten zu verdienen. Er würde nicht mit Axt oder Speer in der Hand sterben. Er würde weder einen ruhmreichen Tod noch einen raschen Weg zum Saal der Helden in den Götterbergen finden. Ein Blick über das regengepeitschte Deck zeigte Ragnar, dass all die gewaltigen Krieger ebenso verängstigt waren wie er, obwohl sie ihre Furcht gut verbargen. Die Anspannung stand in jedem bleichen Gesicht und in jedem blauen Auge. Der Regen durchnässte ihre langen blonden Haare und verlieh ihnen ein hoffnungsloses, heruntergekommenes Aussehen. Sie saßen zusammengekauert auf ihren Bänken und hielten nutzlose Ruder bereit. Regenjacken aus massiver Drachenhaut lagen über ihren Schultern oder flatterten im Wind wie Fledermausflügel. Jeder der Krieger hatte seine Waffen neben sich auf dem klatschnassen Deck liegen, Waffen, die ohnmächtig gegen den Feind waren, der jetzt ihr Leben
bedrohte. Der Wind heulte, hungrig wie die großen Wölfe Asaheims. Das Schiff fiel die andere Seite der riesigen Welle hinunter. Der Drachenzahn am Bug durchschnitt das schäumende Wasser wie ein Speer. Über ihnen mühten die Segel sich redlich und spannten sich. Ragnar war froh, dass sie aus reinem Drachendarm genäht waren. Nichts anderes hätte die reißenden Krallen des Sturms überstanden. Vor ihnen türmte sich ein weiterer riesiger Wasserberg auf. Irgendwie schien es unmöglich zu sein, dass das Schiff es überleben konnte, wenn diese Wassermassen über ihm zusammenstürzten. Ragnar fluchte vor Zorn und Enttäuschung. Es hatte den Anschein, als sei sein kurzes Leben vorbei, bevor es richtig begonnen hatte. Er würde nicht einmal seine Reife zur Mannbarkeit in der nächsten Jahreszeit erleben. Er war noch nicht richtig im Stimmbruch und schon dazu verdammt, im Meer unterzugehen. Er schirmte die Augen ab und starrte in den Sturm in der Hoffnung, das Langschiff seiner Sippe zu erspähen. Es war nirgendwo zu sehen. Wahrscheinlich lag es bereits auf dem Meeresgrund. Die Leichen würden Nahrung für Drachen und Kraken abgeben, während die Seelen den Dämonen als Sklaven dienen würden. Er drehte sich um und warf einen wütenden Blick auf den Fremden, der sie in diese Lage gebracht hatte. In dem Wissen, dass er ebenfalls sterben würde, lag einige Befriedigung. Sofern er kein Zauberer oder verkappter Meerdämon war, der ausgesandt worden war, den Klan der Donnerfäuste ins Verderben zu locken. Wenn er den alten Mann so betrachtete, wie er auf dem vom Wasser überspülten Deck stand, furchtlos und unerschrocken, kam ihm dies nur allzu wahrscheinlich vor. Dieser knorrige uralte Mann hatte etwas Übernatürliches an sich. Er sah trotz der Furchen, die das Alter in seine Stirn gegraben hatte, stark wie ein Krieger in der Blüte seiner Jahre aus und hielt das Gleichgewicht trotz der zahlreichen Spuren
von Weiß in seinen Haaren besser als viele Seefahrer, die halb so alt wie er waren. Ragnar wusste, dass er ein Zauberer war. Wer außer einem Zauberer würde die Felle jener gewaltigen Wölfe um die Schultern und jene sonderbare Metallrüstung tragen, die seinen ganzen Körper umhüllte und so anders als die Ledertuniken der Seeleute war? Wer außer einem Zauberer würde sich mit all diesen absonderlichen Amuletten und Talismanen behängen? Wer außer einem Zauberer konnte seinem Vater und ihrer Sippe so viele kostbare Eisenbarren anbieten, dass sie die selbstmörderische Fahrt durch das Drachenmeer in dieser Jahreszeit der Stürme versuchten? Ragnar sah, dass der Fremde auf etwas zeigte. War das irgendein Zaubertrick, fragte er sich, oder wirkte der Fremde einen Zauber? Ragnar drehte sich um und spürte, wie sein Mund vor Angst trocken wurde. Wieder zuckte ein Blitz über den Himmel. Ragnar sah, dass ein riesiger Kopf die Wellen neben dem Schiff durchbrochen hatte, als habe der Fremde ihn beschworen. Ein Albtraumgesicht voller dolchartiger Zähne ragte vor ihnen auf. Der lange Hals spannte sich, und der Kopf senkte sich auf der Suche nach Beute herab. Es war ein Meerdrache und kein Jungtier, ein vollständig ausgewachsenes Ungeheuer, so groß wie das Schiff und von der Wut des Sturms vom Meeresgrund emporgelockt. Der Donner sprach seine zornigen Worte. Der Tod schlug eine Armlänge neben Ragnar zu. Er spürte den Luftzug der Bewegung, als die riesigen Kiefer des Drachen sich um Yorvik schlossen. Große Fänge durchbohrten das harte Leder von Yorviks Rüstung, als sei sie aus Papier. Knochen gaben nach. Blut spritzte. Der schreiende Mann wurde emporgehoben, und seinen rudernden Armen entfiel die Harpune. Ein höhnisches Lächeln umspielte Ragnars Lippen. Er hatte schon immer gewusst, dass Yorvik ein Feigling war, und jetzt hatte er den Beweis. Er würde sich einen Platz in den kalten Höllen Frostheims suchen. Der Drache biss zu und schluckte, und ein
Teil Yorviks verschwand in seinem Schlund. Der andere Teil fiel neben Ragnar aufs Deck. Die heraufbrandenden Wellen säuberten ihn von Blut und Galle. Die Krieger sprangen von ihren Bänken und hoben trotzig ihre Äxte und Speere. Ragnar konnte mühelos erkennen, dass sie tief im Herzen froh waren. Hier war ein rascher Tod und ein heldenhafter noch dazu: der Kampf gegen ein Ungeheuer aus den Tiefen des Meeres. Vielen musste es so vorkommen, als habe Russ ihre Gebete erhört und ihnen diese Bestie geschickt, um ihnen einen großartigen Untergang zu gewähren. Das gewaltige Haupt senkte sich erneut herab. Der Anblick ließ mehrere Krieger erstarren. Als sei sie geschickt worden, Feiglinge auszumerzen, schlug die Bestie sie nieder und biss sie mit ihren reißenden Fängen entzwei. Andere DonnerfaustKrieger benutzten ihre Waffen. Äxte prallten wirkungslos von den massiven gepanzerten Schuppen ab. Einige wenige Speere bohrten sich ins Fleisch, aber die Kreatur schenkte den Stichen so viel Beachtung wie ein Mensch einem Nadelstich. Der Schmerz stachelte sie lediglich zu größerer Wut an. Der Drache öffnete das Maul und stieß ein entsetzliches Bellen aus, das sogar das Tosen der Wellen übertönte. Die schiere Lautstärke lahmte alle Krieger. Sie erstarrten, als seien sie von einem Zauberbann überwältigt worden. Ragnar sah, dass die Bestie sich halb aus dem Wasser erhoben hatte. Ihre gewaltige Länge überragte das Boot. Sie brauchte sich lediglich vornüber fallen zu lassen, dann würde ihre gewaltige Körperfülle das Boot entzwei brechen. Irgendetwas riss in Ragnar. Seine Wut auf den Sturm, auf die Götter, auf diese gewaltige Bestie und auf seine feigen Kameraden kochte über. Er bückte sich und hob die Harpune auf, die Yorvik hatte fallen lassen. Ohne sich mit Nachdenken und Zielen aufzuhalten, damit ihn jene riesigen triefenden Kiefer nicht vor Angst erstarren ließen, warf er die Harpune ins Auge der Bestie. Es war ein guter Wurf. Die Knochenspitze
des Speers traf ihr Ziel und bohrte sich bis zum Schaft in das Auge des Drachen. Das Ungeheuer schraubte sich noch höher und brüllte vor Wut und Schmerzen. Ragnar glaubte, sein Schrei müsse ihn taub werden lassen. Er war jetzt sicher, dass er sterben, dass das gesamte Schiff von der erzürnten Bestie in Stücke geschlagen würde. Dann hörte er ein anderes Geräusch, ein stotterndes Tosen, das vom Heck des Schiffs kam. Er riskierte einen Blick auf den Fremden und sah, dass er die Quelle des Lärms war. Der Alte hatte irgendeine Ikone aus massivem Eisen aus einem Futteral an seiner Seite gezogen, die er in die Höhe hielt, um damit auf die Bestie zu zeigen. Ein sengender Feuerstrahl zuckte begleitet von jenem tosenden Geräusch aus dem Ende des heiligen Talismans. Ein Blick zurück auf den Drachen zeigte Ragnar, dass überall auf seinem Rumpf riesige klaffende Wunden entstanden - Zeugnis der starken Magie des Fremden. Der Drache riss das Maul auf, um vor Schmerzen zu brüllen, und der Fremde hob seinen Talisman noch höher. Ein Loch erschien im Oberkiefer des Drachen, und einen Augenblick später explodierte seine Schädeldecke. Die Kreatur kippte hintenüber und verschwand unter den Wellen. Der Fremde warf den Kopf in den Nacken und lachte. Seine lautstarke Freude übertönte das Tosen des Sturms. Ragnar überlief ein Schauder abergläubischer Furcht. Zwei gewaltige Eckzähne ragten aus dem Mund des Fremden nach unten. Er trug Russ' Zeichen! In ihm floss das Blut der Götter. Wahrhaftig, er war ein Zauberer oder sogar noch mehr. Tief geduckt, sodass er trotz aller Schiffsbewegungen mühelos das Gleichgewicht hielt, drehte Ragnar sich um und wandte sich in Richtung des Steuerruders. Gischt rann ihm wie Tränen übers Gesicht. Als er sich über die Lippen leckte, schmeckte er Salz. Auf gleicher Höhe mit dem Fremden schlug eine Welle über dem Schiff zusammen. Er spürte den Druck
vieler Tonnen von Wasser und schwankte. Die Kraft der Welle hob ihn vom Deck und spülte ihn davon. Im Toben der Wellen konnte er nicht klar erkennen, wo er sich befand. Er wusste nur, dass er über Bord geschwemmt und ins Verderben gerissen würde. Er knurrte vor Zorn und bezwang die Furcht. Allem Anschein nach hatte er die Kiefer des Drachen nur überlebt, um von den Meerdämonen geholt zu werden. Dann krampften sich Finger wie Eisenklammern um sein Handgelenk. Enorme Kraft kämpfte gegen die Urgewalt des Meeres. Dann war das Wasser verschwunden. Augenblicke später lag Ragnar zappelnd auf dem Deck, von dem Fremden gerettet, der den Drachen gebannt hatte. »Bleib ruhig, Junge«, sagte der Zauberer. »Es ist nicht meine Bestimmung, hier zu sterben. Und deine auch nicht, glaube ich.« Mit diesen Worten wandte sich der Fremde ab und schritt zum Bug des Schiffs. Dort blieb er stehen und starrte nach vorn wie ein uralter Gott. Von Furcht und einer merkwürdigen Ehrfurcht erfüllt, ging Ragnar zu der Stelle, wo sein Vater stand. Als er aufschaute, erblickte er Verständnis in seinen Augen. »Ich habe es gesehen, mein Sohn«, rief sein Vater. Ragnar wusste, dass keine weitere Erklärung nötig war. ***
Als habe der Tod des Drachen einen bösen Bann gebrochen, beruhigte sich das Meer allmählich. Bereits wenige Stunden später war es glatt wie Glas, und vom leisen Klatschen der Wellen gegen den Schiffsrumpf abgesehen, war der gleichmäßige Trommelschlag des Rudermeisters das einzige Geräusch.
Der Fremde stand immer noch im Bug, als halte er Wache gegen die Dämonen des Meeres. Er suchte den entfernten Horizont ab, indem er die Augen mit einer knorrigen Hand abschirmte, da er etwas zu suchen schien, das nur er sehen konnte. Hoch über ihnen brannte die Sonne hernieder, nicht mehr die kleine blasse Kugel des Winters, sondern ein riesiger feuriger Ball, der den Himmel mit seinem goldenen Licht erfüllte. Das Auge von Russ war vollständig geöffnet und begutachtete seine Auserwählten dabei, wie sie die Schrecken von Fenris' langem, hartem Sommer ertrugen. Das auf Deck verbliebene Wasser verdampfte unter seinem Blick. Die Krieger waren still. Ehrfurcht war über sie gekommen. Von dem üblichen Gerede und der Prahlerei, wie normalerweise von Leuten zu erwarten war, die solch ein furchtbares Unwetter überlebt hatten, war nichts zu hören. Auch nichts von der damit verbundenen guten Laune und dem Gesang. Ragnars Vater hatte nicht befohlen, zur Feier des Tages das Alefass anzustechen. Eine Ehrfurcht, die an Entsetzen grenzte, schien von der gesamten Besatzung Besitz ergriffen zu haben. Ragnar konnte mühelos verstehen, warum. Sie hatten gesehen, wie der Fremde einen Drachen mit der Macht seiner Magie bezwungen hatte. Mit einem Strahl hatte er einen Schrecken der Tiefe vernichtet. Mit seinem Blick hatte er den Sturm besänftigt. Gab es nichts, was er nicht vermochte? Dennoch blieben Fragen offen, dachte Ragnar. Wenn der Fremde so mächtig war, warum hatte er dann ihr Schiff mieten müssen, indem er mit kostbarem Eisen bezahlt und noch mehr versprochen hatte, um zu seinem Ziel zu gelangen? Warum hatte er nicht einfach Magie angewandt? Gewiss hätte er seine Meisterschaft der Runen benutzen können, um ein Luftschiff oder einen geflügelten Wolf zu beschwören und sich an seinen Bestimmungsort tragen zu lassen. War diese Reise mit irgendeinem finsteren Hintersinn unternommen worden?
Ragnar versuchte den Gedanken abzutun. Vielleicht hatte der Zauberer sich die Feindschaft der Sturmdämonen zugezogen und konnte nicht fliegen. Vielleicht erstreckte sich seine Meisterschaft nicht auf die Beherrschung der entsprechenden Runen. Woher sollte Ragnar das wissen? Er hatte keinen blassen Schimmer von der Zauberkunst und kannte auch niemanden, der etwas darüber wusste, wenn man vom alten Skalden der Donnerfäuste, Imogrim, absah, und der hatte den Fremden mit abergläubischer Scheu angesehen, sich geweigert, etwas über ihn zu sagen, und seinen Leuten lediglich aufgetragen, dem Fremden unbedingten Gehorsam zu leisten. Ragnar bezweifelte, dass die abergläubische Scheu, die den Fremden wie ein Mantel umgab, irgend jemanden dazu bewegt hätte, diese Reise zu unternehmen, hätte der Skalde dies nicht nahegelegt. Ihr Bestimmungsort, die Insel der Eisenmeister, wurde von allen seefahrenden Völkern und Sippen außerhalb der Handelssaison im Frühjahr gemieden. Das letzte Frühjahr war vor über fünfhundert Tagen zu Ende gegangen, und die Handelssaison war längst vorbei. Wer wusste, wie die geheimnisvollen Schmiede der Inseln jetzt Fremde begrüßen würden? Sie blieben meistens für sich und verteidigten ihre Bergwerke mit dem kostbaren Eisen so, wie ein Troll seinen Hort bewachte. Dennoch, überlegte Ragnar, wenn der Fremde verlangt hätte, dass sie ihn auch ohne seine ansprechende Bezahlung dorthin brachten, hätten sie ihm dieses Ansinnen abschlagen können? Ragnar bezweifelte, dass selbst das gesamte Dorf der tapferen Donnerfaust-Krieger der Magie hätte standhalten können, die der Fremde gewirkt hatte. Ragnar bezweifelte sogar, dass ihre Waffen überhaupt nur die zweite Haut aus Metall durchdringen konnten, die seinen Körper umgab. Der alte Mann hatte etwas Faszinierendes an sich, und Ragnar sehnte sich danach, mit ihm zu reden und ihm Fragen zu stellen. Der Fremde hatte ihn gerettet und ihn angesprochen,
und das musste doch etwas zu bedeuten haben. Trotzdem stand Ragnar wie angewurzelt auf Deck. Die Vorstellung, mit dem Zauberer zu reden, war furchteinflößender als die Begegnung mit dem Maul des Drachen. Er blieb noch einen Moment wie erstarrt, dann nahm er seine ganze Entschlossenheit zusammen. Sei nicht albern, sagte er sich. Du hast ihm nicht einmal für deine Rettung gedankt. Schweigend trat Ragnar vor. Vorsichtig wie beim Beschleichen einer wilden Ziege näherte er sich dem Schiffsbug. »Was gibt es, Junge?«, fragte der Fremde, ohne sich umzudrehen, bevor Ragnar sich ihm auch nur bis auf zehn Schritt genähert hatte. Ragnar erstarrte. Hier war ein weiterer Beweis für die Zauberkräfte des Fremden. Ragnar hatte sich leise bewegt. Seine Füße hatten kein Geräusch auf dem Deck verursacht. Bei seinen Leuten galt er als großer Jäger. Doch der Fremde wusste, dass er da war, ohne auch nur den Kopf zu drehen. Ragnar war sicher, dass der Fremde das zweite Gesicht besaß. »Ich habe dir eine Frage gestellt, Junge«, sagte der Fremde, indem er sich zu Ragnar umdrehte. In seiner Stimme lag kein Zorn, nur Autorität. Er klang wie ein Mann, der daran gewöhnt war, dass er seinen Willen bekam. Auch seiner Sprechweise haftete etwas Merkwürdiges an. Er redete sehr langsam, und sein Akzent war antiquiert. Er erinnerte Ragnar an die Art, wie der Skalde sprach, wenn er die Epen von Russ und dem Allvater zitierte. Ragnar hatte den Eindruck, dieser alte Mann mochte direkt aus einer dieser Sagen getreten sein. Er hatte eine Art an sich, wie sie einer der alten Helden besessen haben mochte. »Ich möchte Euch danken, dass Ihr mir das Leben gerettet habt, Jarl«, sagte Ragnar, indem er die respektvollste Anrede benutzte, die er kannte. Das Gesicht des alten Mannes hatte etwas Seltsames an sich, ging ihm jetzt auf. Es war lang und barbarisch, die Nase war riesig und hatte gewaltig aufgeblähte
Flügel. Die ledrige, über den Wangen eingefallene Haut verlieh ihm ein wölfisches Aussehen. Und was hatten die drei in die Stirn eingelassenen Knöpfe zu bedeuten?, fragte sich Ragnar. Und wie waren sie dorthin gelangt? In seiner Sippe fiel ihm keine Möglichkeit ein, wie man so etwas erreichen konnte, ohne dass sich die Geister des Wundbrands einnisten würden. »Deine Zeit zu sterben war noch nicht gekommen«, sagte der Zauberer und wandte sich wieder der Betrachtung des Horizonts zu. Wie konnte der Fremde das wissen, staunte Ragnar. »Was sucht Ihr?«, fragte Ragnar, von seiner Kühnheit selbst überrascht. Der Fremde schwieg eine Weile, und Ragnar fürchtete, er werde nicht antworten. Doch in diesem Augenblick zeigte der Zauberer auf etwas. Ragnar konnte erkennen, dass sein Finger in Metall gehüllt war und das Sonnenlicht reflektierte. Er schaute dorthin, wohin der Fremde zeigte, und hielt den Atem an. Vor ihnen erhoben sich mächtige Gipfel über den Horizont, gewaltige Zinnen aus Speeren, welche die Wolken durchbohrten. Die Wälle dieser Gipfel waren weiß, und etwas wie Eis glitzerte auch auf ihren Hängen, wo sie ins Meer flossen. »Die Wälle der Götter«, sagte Ragnar und beschrieb das Runenzeichen von Russ über der Brust. »Die Gipfel Asaheims«, murmelte der Fremde leise und lächelte dann, so dass seine gewaltigen Fänge enthüllt wurden. »Ich muss in deinem Alter gewesen sein, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, Junge, und das liegt gute dreihundert Jahre zurück.« Ragnar starrte ihn mit offenem Mund an. Der Fremde hatte zugegeben, ein übernatürliches Wesen zu sein. Niemand auf Fenris, nicht einmal der älteste Graubart, lebte länger als fünfunddreißig Jahre. »Ich bin froh, dass ich die Gelegenheit habe, sie noch einmal
zu sehen«, sagte der Fremde und klang dabei ganz so wie einer der alten Männer des Dorfs, bevor er ging, um sein Totengedicht zu skandieren. Der Fremde schüttelte den Kopf und grinste mit jenen beunruhigenden Fängen auf Ragnar herab. »Ich muss langsam senil werden, dass ich so vor mich hin plappere«, sagte er. Ragnar erwiderte nichts, sondern sah ihn nur an, ihn und dann die weit entfernten Berge. »Lauf zurück und sag deinem Vater, er soll den Kurs ändern. Haltet nach Steuerbord und folgt der Küste. Desto eher werden wir unser Ziel erreichen.« Er sagte es mit der Kraft einer Prophezeiung, und Ragnar glaubte ihm. *** Die nächsten zwei Tage segelten sie die Küste Asaheims entlang. Zwei Tage ruhiger See und kalten Windes sowie einer Stille, die nur vom Krachen gewaltiger Eisbrocken durchbrochen wurde, welche von den Bergen fielen und aufs offene Meer trieben. Dies war in der Tat Asaheim, der Ort weit im Norden, wo die großen Eisberge entstanden, das gefrorene Land, aus dem die eisigen schwimmenden Berge stammten. Am Himmel kreisten mächtige Seeadler, und hin und wieder sichteten die Männer die Wasserfontänen großer Orca-Herden, wenn sie aus dem kalten, sauberen Nass auftauchten, um Luft zu holen. Sie passierten die Einmündungen großer Fjorde, Orte von erstaunlicher Schönheit, und manchmal sahen sie die Steindörfer des Gletschervolks hoch oben auf ihren Hängen thronen. Dann ruderten sie schneller, denn die Fjordbewohner waren grimmig, manche sagten, trollblütig, und verspeisten angeblich ihre Gefangenen, anstatt sie in Knechtschaft zu
nehmen. Solch ein Schicksal ließ selbst die Klauen der Meerdämonen verführerisch erscheinen. In der ganzen Zeit, in der sie die Küste entlangsegelten, verließ der Fremde kein einziges Mal seinen Posten im Bug des Schiffs. Bei Sonnenuntergang stand er in das Licht der letzten Strahlen des Auges von Russ gehüllt da. Im Morgengrauen, wenn die Tagwache aufstand, stand er immer noch da. Ragnar redete mit der Nachtwache und war nicht im Geringsten überrascht, dass der Fremde nicht geschlafen hatte. Wenn er Müdigkeit verspürte, ließ der Fremde es sich jedenfalls nicht anmerken. Seine Augen blieben so klar und strahlend, wie sie es am Tag des Kampfes mit dem Drachen gewesen waren. Ragnar hatte keine Ahnung, warum er dort stand und beobachtete, er war nur froh, dass der alte Mann es tat. Er hatte das Gefühl, dass ihnen nichts Böses zustoßen konnte, solange der Zauberer Wache hielt. Dann fiel das Land hinter ihnen zurück, und sie waren wieder auf dem offenen Meer. Das Wetter blieb freundlich. Der Fremde schnupperte im Wind und verkündete, das Meer werde ruhig bleiben, bis sie ihren Bestimmungsort erreichten. Als habe es Angst, ihm nicht zu gehorchen, fügte sich das Meer. Nach zwei Tagen auf hoher See sahen sie Rauch voraus und Feuer, die den Nachthimmel erhellten. Die Männer beteten in abergläubischer Scheu zu Russ, befürchteten aber, er werde sie nicht erhören. Sie wussten, dass sie ein Gebiet erreicht hatten, das den Feuerriesen heilig war, und hier hatten Russ und der Allvater nur geringes Gewicht. Am nächsten Tag, als sie sich den Inseln näherten, erkannte Ragnar, dass sie in Flammen standen. Ihre Spitzen brannten. Der geschmolzene rötliche Speichel der Feuerriesen rann an ihren schwarzen Flanken herunter und zischte und dampfte, wenn er ins Wasser glitt. Das Gebrüll der gefangenen Riesen ließ sie erzittern.
Voller Beklommenheit näherte Ragnar sich wieder einmal dem Zauberer. Es beruhigte ihn zu sehen, dass der Alte keine Spur von Furcht erkennen ließ, lediglich ein stilles Vergnügen und eine gewisse Traurigkeit wie bei einem Mann, der eine Reise genossen hat und sich nicht auf ihr Ende freut. »Es heißt, Ghorghe und Sla Nahesh seien in diesen Inseln gefangen«, sagte Ragnar, indem er etwas wiederholte, das der Skalde nach dem Frühjahrshandel gesagt hatte. Trotz seiner Furcht war er aufgeregt. Noch nie zuvor war er mit seinem Vater so weit gesegelt. »Es heißt, Russ habe sie dort eingesperrt, als die Welt noch jung war.« »Das sind böse Namen, Junge«, sagte der Zauberer. »Du solltest sie nicht erwähnen.« »Warum nicht?«, fragte Ragnar, zur Abwechslung einmal nicht von dem Fremden eingeschüchtert. Seine Neugier überwand seine Ehrfurcht. Der Fremde betrachtete ihn und lächelte. Die Frage schien ihn nicht zu verstimmen. »Das sind die Namen von großen Übeln, die an einem Millionen Meilen entfernten Ort und vor vielen Millennien geboren wurden. Russ hat sie nicht eingesperrt. Niemand konnte es. Nicht einmal der Kaiser - der Allvater persönlich - in den Tagen seiner Herrlichkeit.« Ragnar war nicht überrascht, von ihrem großen Alter zu erfahren. Schließlich hatte Russ in grauer Vorzeit gegen sie gekämpft, bevor er sein Volk aus Asaheim verbannt hatte. Er war jedoch überrascht zu erfahren, dass sie Millionen Meilen entfernt geboren waren. Das war eine Entfernung, die er sich nicht vorstellen konnte. »Ich dachte, sie seien die Kinder der Drachengöttin Skrinneir aus ihrer Ehe mit dem dunklen Gott Horus.« »Und das ist noch ein Name, den du nicht aussprechen solltest, Junge. Denn du hast keine Ahnung von seiner wahren Bedeutung.«
»Werdet Ihr mir seine Bedeutung verraten?« »Nein, Junge, das werde ich nicht. Wenn es deine Bestimmung ist, solche Dinge zu wissen, wirst du sie noch früh genug erfahren.« »Und wie werde ich sie erfahren?« »Indem du stirbst, Junge, und wiedergeboren wirst.« »Seid Ihr so zu Eurer großen Weisheit gelangt?«, fragte Ragnar, über die Antwort des Fremden verärgert und vom Sarkasmus seines Tonfalls verblüfft. Zu seiner Überraschung lachte der Fremde nur. »Du hast Mumm, Junge, und außerdem ganz Recht.« Er wandte sich von Ragnar ab und starrte auf das Meer. Vor ihnen erhoben sich dunkle Wolken, und das Meer war ölig schwarz gefleckt. Im Westen erbebte der Berg, und eine riesige Feuersäule erhob sich aus seiner Spitze. »Der Feuerberg ist heute zornig«, sagte der Zauberer. »Das ist ein schlechtes Zeichen.«
2
DER EISENTEMPEL »Bei Russ, hast du so etwas schon mal gesehen?«, fragte Ulli mit ehrfürchtiger Stimme. Ragnar schaute seinen Wolfbruder an und schüttelte den Kopf. Er musste gestehen, dass dies nicht der Fall war. Der Hafen war riesig und fremdartig, eine ausgedehnte Kluft in den schwarzen Klippen, die zu einem großen, von einem schwarzen Ufer gesäumten See führte. Die Anlage war so ausgedehnt, dass tausend Drachenschiffe gleichzeitig hätten anlegen können, ohne den Hafen wirklich auszufüllen, und Ragnar wusste, dass dies in der Handelssaison durchaus vorkam. Dann kamen von allen Küsten des riesigen Ozeans Leute, um Axtköpfe, Speerspitzen und alle möglichen Metallwaren zu erstehen. Es war nicht die schiere Größe des Hafens, die Ragnars Aufmerksamkeit so vollkommen fesselte. Vielmehr waren es die umliegenden Gebäude. Das kleinste von ihnen war doppelt so groß wie das große Langhaus daheim, das größte Bauwerk, welches Ragnar bis zu diesem Augenblick in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Noch viel bemerkenswerter war die Tatsache, dass alle Gebäude aus Stein gefertigt waren. Stein, dachte Ragnar und schauderte. Das war fast unvorstellbar. Was, wenn eines der gewaltigen Erdbeben sie einstürzen ließ? Würden dann nicht alle Leute in den Gebäuden von den Steinlawinen zu blutigem Brei zerquetscht? Diese gewaltigen, rußgeschwärzten Bauwerke waren Todesfallen. Jeder wusste, dass die einzig vernünftige Art, ein Haus zu bauen, dieselbe war wie die, ein Drachenschiff zu bauen - aus Drachenhautleder als Bespannung für ein Gerüst aus Drachenknochen. Für heilige Bauwerke konnte man auch in Erwägung ziehen, kostbares Holz zu verwenden, obwohl es
verbrennen mochte, falls bei einem Beben eine Öllampe umfiel. Ragnar hatte so etwas schon erlebt. Jeder hatte das. Fenris' Inseln waren gefährdet und waren es schon gewesen, bevor Russ sein auserwähltes Volk hierher geführt hatte. Es war Wahnsinn, aus Stein zu bauen, aber diese Leute hatten es getan. Und nicht einfach, indem Stein auf Stein getürmt worden war, wie man einen Schutzwall errichtete. Nein, diese Häuser bestanden aus gewaltigen behauenen Steinblöcken, die man zu perfekten Quadern gemeißelt und dann in einem verschachtelten Muster angeordnet hatte. Und den schwärzlichen Moosen an den Seiten und den dicken Rußschichten nach zu urteilen, welche die Mauern überzogen, waren die Häuser uralt. Sie sahen auch alt aus und verwittert, wie die ältesten Runensteine im großen Ring auf dem Donnerberg. Der Skalde behauptete, sie seien schon seit Anbeginn der Zeit dort. Es gab nicht nur ein großes Gebäude, sondern Hunderte davon, manche so groß wie Hügel. Aus einigen Dächern ragten mächtige Schlote, aus denen schwarzer Rauch quoll und hin und wieder gigantische Flammenzungen in die Höhe schossen. »Sie haben die Feuerelementare gezähmt«, sagte Ulli. »Das sind große Zauberer.« Es sah ganz gewiss danach aus, dachte Ragnar. Diese Leute fürchteten sich sicher nicht vor dem Feuer. Sie mussten in der Tat mächtige Zauberer sein, wenn sie sich weder vor dem Beben der Erde noch vor der Bedrohung des Feuers fürchteten. Und wie hatten sie diese riesigen Hallen errichtet? Hatten sie Magie benutzt, um die Steine an Ort und Stelle zu fügen? Oder hatten sie ihre gefangenen Dämonensklaven die ganze Arbeit verrichten lassen? Die hier am Werk befindliche Macht und das offenkundige Geschick waren ehrfurchtgebietend. Dennoch war Ragnar nicht sicher, ob es ihm gefallen hätte, hier zu leben. Die Luft roch schlecht und stechend, und es
schien ein ähnlicher Gestank vorzuherrschen, wie er daheim von den Gerbereien ausging, nur vielfach verstärkt und tausendmal schlimmer. Rußschwaden trieben durch die Luft wie schwarze Schneeflocken und ließen sich auf Haar und Kleidung nieder. Das Wasser hatte eine sonderbare Farbe und sah an einigen Stellen schwarz und zähflüssig aus, an anderen rot oder grün, von Abwässern verfärbt, welche von den schwarzen Rohren ausgespien wurden, die sich bis zum Hafen zogen. »Bei Russ' Knochen«, hauchte Ulli. »Sieh dir das an!« Ragnar schaute in die Richtung, in die Ulli deutete, und sah das Erstaunlichste von allem. Es war ein Turm vollständig aus Eisen, einem der kostbarsten Metalle überhaupt. Er erhob sich gleich am Rande des Wassers. Als er das Bauwerk genauer betrachtete, erkannte Ragnar, dass es sich um eine seltsame Konstruktion handelte. Der Turm war nicht solide. Er bestand aus einem Gitterwerk aus Metallstreben, wie das Skelett, um das man ein Langhaus baute. Mit dem Unterschied, dass dieses Gitterwerk nicht mit Drachenhaut bespannt war. Der Rahmen war der Luft und den Elementen ausgesetzt, und man konnte die komplizierte Maschinerie darin sehen. Es gab riesige Zahnräder und große Metallarme, die sich in einer regelmäßigen, rhythmischen Bewegung wie das Schlagen eines großen Herzens hoben und senkten. Ein schwarzes Zeug, flüssig und schleimig, quoll aus Rohren in der Turmspitze und durch lange Leitungen herab, um an der Basis des Turms in Holzbottichen aufgefangen zu werden. Kleine Gestalten liefen umher, die ständig die Bottiche verschoben und mit Eimern leerten. Es war das seltsamste, beeindruckendste und verwirrendste Bauwerk zugleich, das Ragnar je gesehen hatte. »Warum fürchten diese Leute die Beben nicht?«, fragte er Ulli, mehr um seiner Neugier Ausdruck zu verleihen, denn in Erwartung einer Antwort.
»Weil sie sie nicht zu fürchten brauchen, Junge«, sagte die Stimme des Zauberers. »Diese Inseln wurden seit Jahrhunderten nicht erschüttert, und so wird es noch viele weitere sein.« Ragnars Gedanken überschlugen sich. Die Vorstellung war ungeheuerlich. Ein Land, das nicht ständig zitterte und bebte wie ein angeleintes Tier. Ein Ort, an dem keine Gefahr bestand, dass die Erde sich öffnete und einen verschlang. Ein sicherer Zufluchtsort vor der größten und am weitesten verbreiteten Katastrophe von allen, welche Russ' Volk heimsuchten. Konnten die Bewohner dieser Inseln wirklich derart gesegnet sein? Ragnar kam ein weiterer Gedanke, der jedem Angehörigen seines Kriegervolks gekommen wäre. »Warum hat dann noch niemand die Inseln erobert? Die Klans würden für so einen sicheren Zufluchtsort töten. Wie haben diese Leute so lange überlebt, ohne überwältigt zu werden?« »Das wirst du schon sehr bald sehen, Junge. Sehr bald.« Der Fremde schüttelte den Kopf und schien zu versuchen, seine Belustigung zu bezähmen. *** »Nennt euer Begehren, Fremde, oder bereitet euch darauf vor zu sterben!« Die Stimme des Insulaners war harsch und guttural, und in jedem Wort lag eine offenkundige Drohung. Sie wurde durch einen Metalltrichter in seiner Hand verstärkt, der sie noch kategorischer klingen ließ. Ragnar starrte staunend auf das Schiff, das auf sie zukam. Plötzlich fürchtete er sich sehr. Hier war wahrhaftig ein Zeugnis großer Zauberei zu bestaunen. Das Schiff hatte keine Segel und war aus Metall. Wie kam es, dass es nicht sank wie ein Stein? Und was trieb es an? Geknechtete Feuerelementare?
Vielleicht quoll deshalb Rauch aus dem Schornstein im Heck des Schiffs. Das kam ihm wie eine Beleidigung der Meerdämonen vor, funktionierte aber ganz offensichtlich. Vielleicht war irgendein absonderlicher Pakt geschlossen worden ... Bevor Ragnars Vater antworten konnte, schwang sich der Zauberer auf den Bug und streckte grüßend einen Arm aus. »Ich bin's, Ranek Eiswanderer. Sie haben mich auf mein Ersuchen hergebracht. Ich wünsche eine Unterredung mit dem Eisenmeister.« Diese Ankündigung hatte hektische Aktivität auf den Decks des Metallschiffs zur Folge. Mehrere Gestalten kauerten sich zur Beratung zusammen, bevor der Sprecher wieder seinen Verstärkertrichter hob. »Es heißt, Ranek sei tot. Bist du ein Meergeist, der sich aus dem Wasser erhoben hat?« Diese Frage sandte einen Schauder des Entsetzens über die Decks der Speer von Russ. Die Männer rutschten unbehaglich auf ihren Ruderbänken herum. Das dröhnende Gelächter der Zauberers hallte über das Wasser. »Sehe ich wie ein Geist aus? Klinge ich wie ein Geist? Werden sich meine Stiefel wie die eines Geists anfühlen, wenn ich euch für eure Unverschämtheit in den Hintern trete?« Vom Deck des anderen Schiffs antwortete ihnen Gelächter. »Dann komm an Land, Wolfpriester, und sei hier willkommen. Bring deine Begleiter mit, dann werden wir feiern.« Das seltsame Schiff vollführte ein Manöver, das Ragnar übernatürlich vorkam. Ohne zu wenden, änderte es die Fahrtrichtung und fuhr rückwärts zur Küste zurück, so dass es das Drachenschiff die ganze Zeit im Blick hatte. Der Trommelschlag des Rudermeisters ließ die Speer von Russ wieder zum Leben erwachen, sie sich auf den Weg zur Anlegestelle machte.
*** Ragnar folgte dem Wolfpriester, wenn dies denn sein Titel war, durch die Straßen, ohne wirklich zu wissen, warum er dies tat, aber er war entschlossen, ihn zu begleiten und Fragen zu stellen, denn er konnte nicht wissen, ob sich ihm in seinem Leben je wieder so eine Gelegenheit bieten würde. Die übrigen Besatzungsmitglieder warteten in einer Hafentaverne oder wanderten durch die Straßen. Ragnar war mit dem Zauberer allein. Ragnar ging durch Straßen, die mit Steinen gepflastert waren, durch einen Irrgarten aus verrußten Häusern und engen Gassen. Es roch nach Rauch und stechenden alchemistischen Ausdünstungen. Die Leute waren fremd und neu für ihn und redeten in einem Dialekt, den er nicht verstand. Viele kamen ihm klein, bucklig und hager vor. Sie trugen Tuniken und Hosen in grauen und braunen Farben und keine Waffen. Sie sammelten Reste und Abfälle von den Straßen und eilten mit Lasten beladen oder auf Botengängen dahin. Sogar hier, auf diesen durch das Metall reichen Inseln, gab es Armut. Die wenigen Herrscher der Insel waren überaus wohlhabend. Sie trugen eine Metallrüstung und Stahlklingen in Scheiden aus Drachenhautleder. Es waren hochgewachsene, gutgebaute Männer mit dunkler Haut und braunen Augen. Sie nickten ihm mit distanzierter Höflichkeit zu, wenn er vorbeiging, und er reagierte entsprechend. »Warum folgst du mir, Junge?«, fragte der Wolfpriester. »Weil ich Euch Fragen stellen will.« Der alte Mann schüttelte den Kopf, aber er lächelte und enthüllte dabei seine furchterregenden Fänge. »Es sind immer Fragen, Fragen in deinem Alter, nicht wahr? Dann frag.« »Warum seid Ihr hergekommen? Oder vielmehr, warum habt
Ihr uns dafür bezahlt, Euch herzubringen? Hättet Ihr nicht stattdessen Eure Magie benutzen können?« »Ich verfüge nicht über Magie, Junge. Nicht so, wie du es meinst.« »Aber Euer Talisman ... wie Ihr den Drachen getötet habt ...« »Das war keine Magie. Der >Talisman< war eine Waffe, wie eine Axt oder ein Speer, nur komplizierter.« »Eine Waffe?« »Gewiss.« »Dann seid Ihr kein Zauberer?« »Russ behüte, nein! Ich kenne einige, die du als Zauberer bezeichnen würdest, Junge, und ich würde nicht für alles Eisen auf diesen Inseln mit ihnen tauschen wollen.« »Warum nicht?« »Sie tragen eine furchtbare Bürde.« Ragnar schwieg. Es schien auf der Hand zu liegen, dass der alte Mann nicht mehr preisgeben wollte. Ragnar war sicher, dass Raneks eiserner Talisman mächtige Magie enthielt, mochte der Wolfpriester sagen, was er wollte. Sie marschierten weiter durch die Straßen und an geöffneten Läden vorbei. Als er einen eingehenderen Blick in diese Läden warf, sah er, dass es sich um Werkstätten mit Schmiedeöfen handelte. Die Schatten wurden vom Schein rotglühenden Metalls aufgehellt. Er konnte das Klirren von Hammer auf Amboss hören, das ihm verriet, dass in diesen Werkstätten die Waren der Eisenmeister gefertigt wurden. »Ihr habt meine erste Frage nicht beantwortet«, sagte Ragnar, selbst über seine Kühnheit erstaunt. »Ich weiß nicht, ob ich sie auf eine Weise beantworten kann, die du verstehen würdest - oder ob ich sie überhaupt beantworten soll.« »Warum nicht?«
Das dröhnende Lachen des alten Mannes hallte durch die Gassen. Ragnar sah, wie alle sich zu ihnen umdrehten, um dann das Zeichen des Hammers zu beschreiben und rasch wegzuschauen. »Du lässt dich nicht leicht entmutigen, nicht wahr, Junge?« »Nein.« »Warum auch? Ich hatte einen Auftrag. Es gab einen Unfall. Mein Gefährt wurde zerstört. Ich musste hierher zurück und Verbindung mit meinen ... Brüdern aufnehmen. Um eine so große Entfernung möglichst schnell zu überwinden, brauchte ich das Schiff deines Vaters, und für seine Hilfe wird er belohnt.« »Was war das für ein Auftrag?« »Das kann ich dir nicht sagen«, erwiderte Ranek in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. »War es für die Götter?« »Es war für meine Götter.« »Sind nicht alle Götter gleich? Jeder auf den Inseln verehrt Russ und den Allvater.« »Ich auch, aber anders als ihr.« »Wie kann das sein?« »Eines Tages findest du das vielleicht heraus, Junge.« »Aber nicht heute?« »Nein. Nicht heute.« Sie betraten einen großen Platz auf dem Hügel. Er war von gewaltigen Häusern umgeben. Ein jedes war so breit, dass sie geduckt wirkten, obwohl sie die Größe eines Mannes um das Zehnfache übertrafen. Die Mauern waren auf seltsame Art verziert. In die gewaltigen Steinblöcke waren ineinander greifende Zahnräder gemeißelt. Metallrohre zogen sich durch das Mauerwerk wie Ansammlungen riesiger Würmer, die an
einer Stelle aus der Erde ragten und an anderer wieder darin eintauchten. Ruß schwärzte die Mauern, und aus den Rohren waren einst Abwässer gesickert und hatten große Flecken in der Farbe von Rost auf den Mauern hinterlassen. Von drinnen ertönte der Lärm monströser Maschinen, ein Klirren und Rattern, als hämmerten Riesen auf gewaltige Ambosse. Der Geruch nach Rauch und heißem Metall drang scharf in Ragnars Nase. Er fragte sich, ob er der Einzige in dem ganzen Bienenstock war, dem Lärm und Gestank etwas ausmachten. Sie schritten über den Platz zum größten der Gebäude. »Dies ist der Eisentempel«, sagte Ranek der Wolfpriester leise. »Und hier trennen sich unsere Wege einstweilen.« Ragnar schaute an dem großen Haus empor. Es war eine gedrungene Festung, aber es stellte alle Gebäude ringsumher in den Schatten. Schießscharten funkelten in seinen Mauern wie die Augen einer hungrigen Bestie. Hoch oben auf dem Gebäude war eine große Metallblume so groß wie ein Drachenschiff. Ragnar konnte ihre Bedeutung nicht einmal erahnen. Große metallbeschlagene Türen versperrten am Beginn der Rampe den Weg. Die Glätte und die Vertiefungen verrieten Ragnar, dass in Hunderten von Jahren viele Füße diesen Weg beschritten hatten. Seltsame Runen, ganz anders als alle, die Ragnar je gesehen hatte, prangten über dem Türbogen. Zwei Posten, bewaffnet mit Harpunen mit Metallspitzen, bewachten den Weg. Die Männer sahen aus, als seien sie aus Metall. Eine eiserne Rüstung umschloss sie wie eine zweite Haut. Metallhelme schützten ihren Kopf. Schilde aus Stahl, die mit denselben Runen wie über dem Eingang gezeichnet waren, hingen an ihrem linken Arm. »Sind die hier Eure Sippe?«, fragte er Ranek. Der Kopf des alten Mannes fuhr rasch zu ihm herum und betrachtete ihn. Die scharfen Augen bohrten sich in seine. So nah bei ihm ging
Ragnar auf, wie groß der Wolfpriester war. Er selbst galt unter seinen Leuten als hochgewachsen und gutgebaut, aber verglichen mit diesem alten Mann hatte er nur die Größe eines Kindes. Ranek überragte ihn um Kopf und Schultern und wäre auch ohne seine merkwürdige Rüstung weitaus stämmiger gewesen. »Nein, Junge, die Eisenmeister sind eine eigene Sippe. Auf allen Inseln des Großen Ozeans gibt es keine wie sie. Sie sind ein eigenes Volk.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Ragnar. »Wo sie doch all dieses Metall haben und diese Magie ... Warum haben sie nicht versucht, die Herrschaft über die ganze Welt zu erringen? Sie könnten sie doch gewiss erringen, oder nicht?« »Die Eisenmeister streben ausschließlich nach der Herrschaft über Metall und Feuer. Eroberungen sind nicht ihre Art. Sie kämpfen nur, um sich zu verteidigen. Das ist Bestandteil des Alten Pakts.« »Des Alten Pakts?« »Genug Fragen, Junge. Ich muss gehen.« »Ich hoffe, dass wir uns eines Tages wiedersehen, Jarl«, sagte Ragnar ernst. Der alte Mann drehte sich um und betrachtete ihn. Der Ausdruck in seinen Augen war seltsam. »Ich mag dich, Junge, also gebe ich dir einen guten Rat. Bete, dass wir uns nie wiedersehen. Denn wenn wir es tun, wird es ein Tag des Verhängnisses für dich sein.« Etwas im Tonfall des alten Mannes traf Ragnar bis ins Mark. Die Worte waren mit der Eindringlichkeit einer Prophezeiung geäußert worden. »Wie meint Ihr das? Würdet Ihr mich töten?« »Du wirst es erfahren, falls es je dazu kommen sollte«, sagte Ranek, dann wandte er sich ab und ging weiter. Ragnar beobachtete den alten Mann bei seinem Marsch die Rampe empor. Die großen Türen schwangen lautlos auf. Ranek
wurde von einer gebückten Gestalt gegrüßt, die ganz in Schwarz gewandet und deren Gesicht hinter einer Metallmaske verborgen war. Ragnar sah den Wolfpriester in die Düsternis des Hauses treten und stand noch lange Minuten sinnend da. Nach einer Weile hörte er ein summendes Knirschen. Die große Blume auf dem Dach des Gebäudes hatte angefangen, sich zu bewegen und sich zum entfernten Asaheim wegzudrehen. Während er staunend zusah, entfalteten sich ihre metallenen Blütenblätter. In ihrer Mitte pulsierten unheimliche Lichter. Ragnar wusste nicht, was diese Magie zu bedeuten hatte, aber er war sicher, dass sie etwas mit dem alten Zauberer zu tun hatte. Auf dem großen Platz sich selbst überlassen, wurde Ragnar von Furcht übermannt. Er wandte sich um und eilte zurück zum Hafen. *** Der Trommelschlag hallte laut in Ragnars Ohren, als die Speer von Russ das dunkle Wasser des Hafens der Eisenmeister verließ und ins offene Meer lief. Er atmete die saubere, frische Luft tief ein und lächelte, froh, die stinkende und schmutzige Stadt hinter sich gelassen zu haben. Die Insulaner mochten reich sein, aber sie lebten auf eine Art, die ihm ungesünder vorkam als diejenige der niedrigsten aller Knechte und Leibeigenen. Im Heck des Drachenschiffs lagerte eine Fracht aus eisernen Axtschneiden und Speerspitzen, die in Drachendärme gehüllt waren, um sie vor der zersetzenden Wirkung des Meeres zu schützen. Sie bedeuteten großen Wohlstand für den Donnerfaust-Klan, und Ragnar war stolz, an der Fahrt teilgenommen zu haben, die ihn errungen hatte. Aber dieser Wohlstand hatte auch etwas Beunruhigendes an sich. Er
misstraute glücklichen Fügungen und glaubte dem alten Sprichwort, dass die Götter die Menschen für ihre Geschenke bezahlen ließen. Keiner der anderen an Bord schien seine Besorgnis zu teilen. Sie sangen fröhliche Trinklieder, da sie erleichtert waren, den Hafen zu verlassen und den Wolfpriester nicht mehr an Bord zu haben. So sehr sie ihn auch geachtet und so viel Ehrfurcht sie ihm auch entgegengebracht hatten, seine Anwesenheit hatte ihre Lebensfreude gedämpft. Jetzt scherzten sie und erzählten Geschichten über die Ereignisse der Fahrt. Sie aßen freudig ihre gesalzenen Dörrfleischstreifen und tranken ebenso freudig Krüge mit Ale. Gelächter hallte über das Deck und weckte gleichermaßen Freude in Ragnars Herzen. Plötzlich gab es einen Knall wie ein Donnerschlag. Ragnar schaute voller Furcht empor. Nicht eine dunkle Wolke war am Himmel, und nichts deutete auf ein nahendes Unwetter hin. Es gab nicht den geringsten Grund für das Geräusch. Seine scharfen Augen suchten den Horizont nach einer Ursache ab. Überall ringsumher verstummte das Gelächter, und Schutzgebete wurden an Russ gerichtet. Da! In der Ferne aus der Richtung Asaheims sah er etwas kommen. Es war kaum mehr als ein schwarzer Punkt, der einen weißen Schweif hinter sich herzog wie ein Meteor am Nachthimmel, nur dass heller Tag und der Schweif eine weiße Linie auf dem Hellblau des Himmels war. Er beobachtete, wie der schwarze Punkt in ihre Richtung umschwenkte, um dann mit unfassbarer Schnelligkeit zu wachsen. Die Verwünschungen und Gebete wurden lauter, und die Männer griffen nach ihren Waffen. Ragnar hielt den Blick fest auf den Punkt gerichtet und fragte sich, worum es sich dabei handeln mochte. Er konnte jetzt erkennen, dass das Ding zwei Flügel hatte wie ein Vogel, die sich aber nicht bewegten. Was für ein Ungeheuer war es? Ein Drache? Ein Lindwurm? Irgendein Dämon, beschworen durch mörderische Magie?
Nein, es schien kein lebendiges Wesen zu sein. Als es näher kam, konnte er erkennen, dass es Ähnlichkeit mit einem der eisernen Schiffe im Hafen hatte. Seine Gedanken überschlugen sich. Wie es unmöglich erschien, dass so etwas schwimmen konnte, so musste es diesem Ding ganz gewiss unmöglich sein zu fliegen. Und doch tat es das ganz offensichtlich. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als seinen Augen zu trauen. Es wurde langsamer, je näher es kam, und verlor etwas von der entsetzlichen Geschwindigkeit, mit der es schneller als alle Vögel über den Himmel gejagt war. Das laute Donnerhallen war einem heulenden Tosen gewichen, als schrien tausend verlorene Seelen in äußerster Qual. Das Ding flog niedrig und wühlte das Meer unter ihm auf und peitschte die Wellen schaumig. Es schien jetzt direkt auf sie zuzufliegen, und Ragnar fragte sich, ob sie sich durch irgendeine Tat den Zorn der Götter zugezogen hatten. Vielleicht war diese schreckliche Erscheinung geschickt worden, um sie zu vernichten. Es flog dicht über sie hinweg. Als er es von unten betrachtete, konnte Ragnar erkennen, dass es sich um irgendein Vehikel aus Metall handelte, um eine Kreuzgestalt mit Flügeln, auf deren Seiten und Flügeln ein Adler gemalt war. Einen Moment lang glaubte er, vorn Fenster und dahinter menschliche Gesichter gesehen zu haben, aber er tat diesen Eindruck als vorübergehende Verwirrung ab. Er folgte dem Ding mit seinem Blick und sah Flammen aus dem Heck züngeln wie der Atem eines Drachen. Es heulte in die Ferne und zur Insel der Eisenmeister, wo es innehielt. Lange Flammenstrahlen schossen nach vorn. Einen Augenblick schwebte es über dem Eisentempel, und Ragnar sah atemlos zu, da er nicht wusste, was er zu erwarten hatte. Halb fragte er sich, ob das Ding die Stadt mit seinen Flammen vernichten würde, und halb glaubte er, dass er jeden Augenblick Zeuge einer absonderlichen und entsetzlichen Magie würde.
Nichts dergleichen geschah. Das Vehikel ließ sich langsam auf dem Dach des Eisentempels nieder. Alle sahen schweigend zu und fragten sich, was als Nächstes geschehen würde. Ragnar hörte sein Herz laut in der Brust schlagen. Fünf Minuten später erhob sich der metallene Vogel wieder in den Himmel und schoss in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Als das Ding über ihnen war, wackelte es wie zum Gruß mit den Flügeln. Plötzlich wusste Ragnar irgendwie, dass Ranek der Wolfpriester ein neues Transportmittel gefunden hatte, das ihn überallhin bringen würde, wohin er auch wollte. Danach waren alle an Bord der Speer von Russ noch für Stunden still.
3
DAS FEST DES ÜBERGANGS Ragnar lächelte nervös. Das war albern, sagte er sich. Er war jetzt ein Mann. Er hatte den Geistern der Vorfahren auf dem Runenaltar seinen Treueeid geschworen. Er hatte seine eigene Axt und seinen Schild aus Drachenhautleder, der über einen Rahmen aus Knochen gespannt war. Er hatte sogar damit begonnen, sich sein schwarzes Haar lang wachsen zu lassen, wie es sich für einen Wolfbruder ziemte. Er war jetzt ein Mann. Er durfte keine Angst davor haben, ein Mädchen zum Tanz aufzufordern. Und doch musste er zugeben, dass genau dies der Fall war. Schlimmer noch, er hatte keine Ahnung, warum. Das Mädchen, Ana, schien ihn zu mögen. Jedes Mal, wenn er sie sah, lächelte sie ihm ermutigend zu. Und natürlich kannten sie sich schon, seit sie Kinder waren. Er konnte nicht den Finger darauf legen, was genau sich zwischen ihnen verändert hatte, aber er wusste, dass irgendetwas anders geworden war. Seit seiner Rückkehr von der Insel der Eisenmeister vor all diesen Monden war etwas anders. Er betrachtete seine Kameraden, die Wolfbrüder, mit denen er Bluteide geleistet hatte, und es war schwer, nicht zu lachen. Sie sahen wie Jungen aus, die sich für Männer ausgaben. Sie hatten noch den Flaum der Jugend auf den Lippen. Sie gaben sich alle Mühe, den schaukelnden Gang erwachsener Krieger nachzuahmen, und doch schien es irgendwie nicht richtig zu sein. Sie sahen aus wie Kinder, die Krieger spielten, nicht so, als seien sie selbst Krieger. Und doch war dies nicht der Fall. Sie alle waren zur See gefahren. Sie alle hatten schon bei Sturm an den Rudern gezogen und bei der Jagd auf Drachen und Orcas geholfen. Sie alle hatten ihren Anteil an der Beute erhalten. Einen kleinen Anteil, zugegeben, aber eben doch
einen Anteil. Nach den Bräuchen ihres Stammes waren sie Männer. Ragnar sah sich um. Es war ein Spätherbstnachmittag, und das Wetter war herrlich. Es war der Tag des Erinnerns, der erste Tag der letzten Hundert-Tage-Periode des Jahres, der Beginn der kurzen Herbstsaison, in der für allzu kurze Zeit das Wetter gut und die Welt friedlich sein würde. Das Auge von Russ wurde kleiner am Himmel. Die Zeit der Beben und Eruptionen war fast vorbei. Viel zu bald würden die Schneefälle einsetzen, und dann würde sich der lange Winter über die Welt senken, da das Auge noch kleiner würde. Der Atem von Russ würde die Welt erkalten lassen, und das Leben würde in der Tat sehr hart sein. Er schob den Gedanken beiseite. Jetzt war nicht die Zeit, an solche Dinge zu denken. Jetzt war die Zeit zu feiern, lustig zu sein und sich zu verloben, solange das Wetter gut und die Tage noch lang waren. Er sah sich um. Die Feierstimmung hatte von jedem Besitz ergriffen. Die Hütten waren mit frischer Drachenhaut bespannt. Die Holzwände des Langhauses waren rot und weiß bemalt. Ein großer Scheiterhaufen stand in der Mitte des Dorfs. Ragnar roch den minzigen Duft der Kräuter, der die Luft erfüllen würde, wenn der Haufen erst einmal brannte. Die Braumeister rollten bereits große Fässer ins Freie. Die meisten Leute arbeiteten noch, aber Ragnar und seine Freunde waren von den Schiffen. Dieser Tag war ein Feiertag für sie, und sie hatten nichts anderes zu tun, als in ihrer besten Kleidung herumzulungern. Sie waren aus ihren Hütten geworfen worden, so dass ihre Mütter fegen und sauber machen konnten. Ihre Väter waren bereits im Langhaus und erzählten sich Geschichten über die große Schlacht mit den Grimmschädeln. Irgendwo in der Ferne hörte er, wie der Skalde sein Instrument stimmte und seine Lehrlinge einfache Rhythmen auf den Trommeln schlugen, mit denen sie ihn begleiten würden.
Ein magerer Hund kreuzte seinen Weg und sah freundlich zu ihm auf. Er streckte die Hand aus und kraulte ihn hinter den Ohren, wobei er die Wärme des Fells spürte, das zur Vorbereitung auf den kommenden Winter bereits dichter wurde. Der Hund leckte ihm mit einer Zunge rau wie Sandpapier über die Hand und rannte dann aus schierer Freude am Laufen die Straße entlang. Plötzlich wusste Ragnar, was das für ein Gefühl war. Er nahm einen tiefen Zug von der salzig-frischen Luft und verspürte den Drang, aus schierer Freude darüber, am Leben zu sein, zu heulen. Stattdessen wandte er sich an Ulli, zog ihn am Ohr und rief: »Du bist es!« Er fuhr herum und lief los, bevor Ulli Gelegenheit hatte zu begreifen, was vorging. Als sie sahen, dass das Spiel begonnen hatte, sprengten die anderen Wolfbrüder auseinander und rannten zwischen Hütten und geschäftigen Leuten hindurch, so dass die Hühner gackernd aufflogen. Ulli rannte ihm nach und rief dabei Herausforderungen. Ragnar machte auf der Stelle kehrt, wobei ihn sein Schwung beinah zu Fall gebracht hätte, und schnitt Ulli ein Gesicht. Sein Freund stürzte sich mit ausgestreckten Armen auf ihn. Ragnar ließ ihn fast an sich herankommen, bevor er sich wieder umdrehte und weiterlief. Er schwenkte nach rechts und rannte eine schmale Straße entlang. Er wich nach links aus, um nicht gegen das Fass eines Brauers zu prallen, und dabei rutschte er auf einem glitschigen Grasbüschel aus und fiel. Bevor er sich wieder aufrappeln konnte, warf Ulli sich auf ihn, und sie rangen auf dem Boden, Muskelkraft gegen Muskelkraft, wie verspielte Hundewelpen. Sie wälzten sich hierhin und dorthin und rollten schließlich einen Hang hinunter, bis sie mädchenhaftes Kreischen hörten und gegen etwas stießen. Ragnar öffnete die Augen und stellte fest, das er in Anas hübsches, schmales Gesicht starrte. Sie zupfte an ihrer Haarflechte, während sie ihn betrachtete, und dann lächelte sie. Ragnar erwiderte ihr Lächeln und spürte, wie er errötete.
»Was macht ihr zwei da?«, fragte Ana mit ihrer leisen heiseren Stimme. »Nichts«, erwiderten Ragnar und Ulli gleichzeitig und brachen dann in lautes Gelächter aus. *** Strybjörn Grimmschädel stand im Bug des Drachenschiffs und starrte grimmig auf den Horizont. Er räusperte sich und spie einen dicken Klumpen Schleim verächtlich ins Meer. Er spürte, wie sich die Kampfeslust in ihm regte, und hoffte, dass er den Kampf bald bekommen würde. Vor der Flotte lag die Heimatinsel der Grimmschädel, die Stätte ihres heiligen Runensteins und der Ort, von dem sie vor zwanzig langen Jahren von den verfluchten Donnerfäusten vertrieben worden waren. Natürlich war das vor Strybjörns Geburt geschehen, aber das spielte keine Rolle. Er war mit unzähligen Geschichten über die Schönheit der Insel aufgewachsen und hatte das Gefühl, sie bereits zu kennen. Ihr Bild hatte sich aus den Erzählungen seines Vaters klar in seinen Verstand eingeprägt. Dies war das geheiligte Land, aus dem sie vor vielen Jahren durch die Heimtücke der Donnerfäuste vertrieben worden waren und das sie sich heute, am Jahrestag ihres Verlusts, endlich zurückholen würden. Wut auf die Eindringlinge erfüllte ihn. Er empfand sie so schneidend wie jeder Überlebende des Angriffs und des anschließenden Massakers, als die Donnerfäuste gelandet waren, um sich das Land mit Gewalt zu nehmen. Zehn Drachenschiffe hatten die zahlenmäßig unterlegenen Grimmschädel überwältigt, da die überwiegende Mehrheit der Krieger auf See war und den Orca-Herden folgte. Als die tapferen Krieger heimgekehrt waren, hatten sie feststellen müssen, dass ihr eigenes Land gegen sie befestigt worden war
und die Donnerfäuste ihre Frauen und Kinder in Knechtschaft genommen hatten. Nach einem kurzen Kampf am Ufer waren sie zu ihren Schiffen gedrängt und auf See vertrieben worden, wo sie das Elend der Langen Suche hatten ertragen müssen. Strybjörn teilte ihre Verbitterung angesichts dieser schrecklichen Reise. Die vergeblichen Angriffe auf andere Siedlungen, die fruchtlosen Bemühungen, eine neue Heimat zu finden. Er erinnerte sich an die Namen all jener, die vor Hunger und Durst oder im Kampf gestorben waren, als seien sie seine eigenen Vorväter. Er schwor wieder einmal, dass er sie rächen und ihre Geister mit Donnerfaust-Blut beschwichtigen würde. Er wusste, dass es so sein würde, denn war es nicht so von den Göttern bestimmt worden? Hatte schließlich nicht Russ selbst es für richtig gehalten, die Beharrlichkeit der Grimmschädel-Krieger zu belohnen? Sie waren auf das Dorf Ormskrik gestoßen, dessen Bewohner halb tot von der Pest waren, und sie hatten es überwältigt, die Männer getötet und die Frauen und Kinder den uralten Bräuchen entsprechend geknechtet. Und dann hatten sie sich niedergelassen, um sich zu erholen und zu vermehren. Und in all den langen Jahren hatten sie niemals die Stätte ihres angestammten Runensteins vergessen. Zwanzig lange Jahre hatten sie Pläne geschmiedet und Vorbereitungen getroffen. Söhne waren geboren worden. Die Götter hatten gelächelt. Eine neue Generation war zu Männern gereift. Aber immer hatten die Grimmschädel sich an die Heimtücke der Donnerfäuste und an die mächtigen Vergeltungseide erinnert, die sie geschworen hatten. Heute Nacht würden sich diese Eide erfüllen. Die Götter lächelten wahrhaftig, denn war heute nicht auf den Tag genau der Jahrestag des Angriffs der Donnerfäuste? Es war ein Zeichen des Himmels, dass genau zwanzig Jahre nach dem Verlust des Landes ihrer Vorväter die Grimmschädel dieses Land zurückerobern würden.
Strybjörn war stolz auf seine Männer. Es wäre leicht gewesen zu vergessen. Es wäre leicht gewesen, in der Behaglichkeit ihres neuen Landes zu versinken. Doch das war nicht die Art der Grimmschädel. Sie kannten den Wert eines Eides. Sie waren verpflichtet, Vergeltung zu üben. Sie hatten ihre Kinder verpflichtet, Vergeltung zu üben, sobald sie alt genug waren, ihre Mannbarkeitsschwüre zu leisten. Als Strybjörn ein Wolfbruder geworden war, hatte er geschworen, dass er nicht ruhen würde, bis der Runenstein sich wieder in ihrem Besitz befinden und er die geheiligte Erde ihrer Vorväter mit stinkendem Donnerfaust-Blut getränkt haben würde. Er strich sich mit breiter, starker Hand über die zerfurchte Stirn, schirmte die Augen ab und starrte zum fernen Horizont. Bald würden sie landen, und dann mussten sich die Donnerfäuste vorsehen. *** Ragnar sah zu, wie der Hohe Jarl Torvald die großen Leuchtfeuer entzündete. Die brennende Fackel flog auf das ölgetränkte Holz, und die Flammen schossen in die Höhe wie tanzende Dämonen. Der Geruch nach Ambra und Krautern wallte durch die Straßen. Die Hitze der Flammen überzog sein Gesicht mit Röte. Er schaute sich um. Alle Dorfbewohner hatten sich um das Freudenfeuer versammelt und sahen dem Häuptling des Stammes dabei zu, wie er ernst seine feierlichen Pflichten erfüllte. Torvald schwang seine Axt. Zuerst nach Norden, nach Asaheim und dem großen Berg der Götter, dann nach Süden, hin zum Meer und den dort ansässigen Dämonen zum Trotz. Er hob die Waffe hoch über den Kopf, nahm sie in beide Hände und wandte sich der untergehenden Sonne zu. Er stieß ein gewaltiges Brüllen aus, und alle fielen ein und skandierten
Russ' Namen in der Hoffnung, sich die Gunst des Gottes für ein weiteres Jahr zu sichern, wie sie es in jedem Jahr getan hatten, seit Russ ihnen zugelächelt und den Sieg ermöglicht hatte. Als der Häuptling in die Reihen seiner Krieger zurückkehrte, hinkte der alte Skalde Imogrim in den Schein des Feuers und gebot Stille. Seine Lehrlinge folgten ihm mit ihren Instrumenten und begannen, seine Worte mit einem leisen Rhythmus zu unterlegen. Imogrim hob seine Harfe und zupfte ein paar Akkorde. Seine Finger bewegten sich sanft über die Saiten, während er einen Moment völlig still dastand und seine Gedanken zu ordnen schien. Ein Lächeln umspielte seine dünnen, blutleeren Lippen. Der Feuerschein beleuchtete jede Furche in seinem faltigen Gesicht und verwandelte seine Augen in tiefe Höhlen. Sein langer weißer Bart glänzte im flackernden Licht. Die Menge wartete atemlos darauf, dass er begann. Ringsumher war die Nacht still. Ragnar sah sich um und erblickte Ana. Es hatte den Anschein, als habe sie ihn angesehen, denn als ihre Blicke sich begegneten, sah sie fast schüchtern weg, den Blick auf den Boden gerichtet. Imogrim fing an zu singen. Seine Stimme war leise und doch überraschend voll, und seine Worte schienen im Einklang mit dem Trommelschlag aus seinem Mund zu fließen. Es war, als habe er eine riesige Quelle der Erinnerung in sich angezapft, deren Wasser jetzt sacht, aber unaufhaltsam strömte. Er beschwor die Taten der Donnerfäuste, sang das Lied ihrer Vorfahren, eine Arbeit, die in den vergessenen Tiefen der Zeit vor Hunderten von Generationen begonnen worden war und zu der seitdem jeder Skalde beigetragen hatte. Es war Imogrims Lebenswerk, sich das Lied einzuprägen, einen Abschnitt hinzuzufügen und es an seine Lehrlinge weiterzugeben, wie sie es an ihre weitergeben würden. Eine alte Redensart besagte, dass der Jarl das Herz und der Skalde das Gedächtnis eines Volkes war. In Zeiten wie diesen begriff Ragnar, wie viel
Wahrheit in dieser Redensart steckte. Natürlich würde an diesem Abend nicht genug Zeit für die ganze Geschichte sein, also begnügte Imogrim sich mit Auszügen. Er spielte nur kurz auf die uralten Zeiten an, als die Menschen in von den Göttern erbauten Schiffen noch zwischen den Sternen gesegelt waren. Er sang von Russ, der die Menschen gelehrt hatte, wie man in den finsteren Zeiten überleben konnte, als die Welt gebebt hatte und uraltes Böses in die Welt gekommen war. Er sang von der Zeit des Auswählens, als Russ sich aus allen Klans die besten zehntausend Krieger ausgesucht und sie fortgeführt hatte, um nie wiederzukehren und im Krieg der Götter zu kämpfen. Er sang von den alten Kriegen und den gewaltigen Taten der Donnerfäuste, wie Berak den großen Drachen Thrungling erschlagen und dafür eine Schatulle mit Eisen und die Hand des Donnergeists Maya verlangt hatte. Wie der große Seefahrer Niai in seinem mächtigen Schiff Windwolf um die Welt gesegelt war. Von der Nacht, als die Trolle gekommen waren und die Donnerfäuste aus dem Land ihrer Vorfahren vertrieben hatten. Er schlug den Bogen zur Gegenwart mit der Geschichte, wie Ragnars Vater und dessen Stamm diese Insel, die unter der Herrschaft der grausamen und brutalen Grimmschädel stand, gefunden und sie nach einem Tag blutiger Auseinandersetzung erobert hatten. An dieser Stelle des Lieds hatten einige der Anwesenden gejubelt. Andere starrten ins Feuer, als gedächten sie gefallener Kameraden und der brutalen Kämpfe der Vergangenheit. Und schließlich, nach langen Stunden, erreichte die Geschichte die jüngsten Begebenheiten. Ragnar spürte, wie sein Herz vor Stolz einen Satz machte, als Imogrim von ihrer Reise berichtete, auf der sie den Wolfpriester Ranek zur Insel der Eisenmeister gebracht hatten und auf der Ragnar dem Drachen den Speer ins Auge geschleudert hatte, bevor die Bestie von dem alten Zauberer und seiner Magie endgültig
vernichtet worden war. Er wusste nun, dass sein Name ewig leben würde. Denn solange sein Klan existierte, würden sich der Skalde und seine Lehrlinge an seinen Namen erinnern und vielleicht sogar an hohen heiligen Tagen und anderen Festen von ihm singen. Auch später, wenn er in die Halle der Erschlagenen eintrat, würde sein Name fortleben. Er drehte sich um und sah den Stolz auf Anas Gesicht. Er war so entzückt, dass er dem Rest des Lieds kaum Beachtung schenkte. *** Wie entgegenkommend von den Donnerfäusten, ein Leuchtfeuer anzuzünden, das ihnen den Weg wies, dachte Strybjörn, während er das flackernde Freudenfeuer am Horizont betrachtete. Es strahlte hell, und sein Spiegelbild auf den Wellen schien das Licht nur noch zu verstärken. Zuerst hatte Strybjörn gedacht, bei dem Leuchtfeuer handele es sich um ein Warnzeichen und man habe die GrimmschädelFlotte gesichtet, aber es gab keinerlei Anzeichen für Kriegsvorbereitungen. Der Strand war verlassen. Keine Drachenschiffe rückten aus, um ihnen zu begegnen. Es hatte einige Bestürzung hervorgerufen, als entsprechende Meldungen kursierten, aber bis jetzt war nichts geschehen. Zuerst hatte Strybjörn geargwöhnt, es könne eine Falle sein. Noch ein Beweis für die Heimtücke und Verschlagenheit der Donnerfäuste, als sei noch einer nötig. Dann hatte die Nachricht die Runde durch die Ruderbänke gemacht, dass die Donnerfäuste höchstwahrscheinlich den Jahrestag ihres berüchtigten Sieges feierten und sich voller Häme über das Massaker freuten, das sie mit ihrer Heimtücke angerichtet hatten. Sehr bald würden sie am eigenen Leib spüren, wie sich
die derart Besiegten fühlten. Der Jarl hatte ihnen befohlen, in der Grimmbucht außer Sicht des Dorfs zu landen. Von dort war es nur ein kurzer Marsch zur raschen und endgültigen Vergeltung. Strybjörn spürte, wie ihn eine Welle des Zorns erfasste, die auch seine Klansbrüder erfasst hatte. Bei Russ, und wie diese Donnerfäuste büßen würden. *** Bald darauf war das Singen vorbei, und es wurde Zeit, zu feiern und zu tanzen. Der Jarl und sein Leibwächter gingen zum Langhaus voran. Dort ächzten die Tische unter der Last von gebratenem Geflügel und frisch gebackenem Brot. Berge von Käse türmten sich über den Böcken auf. Seen von Honig glänzten in ihren Schüsseln. Der Geruch nach Ale lag in der Luft. Die Brauer füllten bereits große Krüge, und Trinkhörner wanderten von Hand zu Hand. Ulli grinste ihn an und reichte ihm einen Lederhumpen. Ragnar stürzte das bittere Gebräu hinunter, wie er es ältere Krieger hatte tun sehen. Dies war nicht das den Jungen vorbehaltene Leichtbier. Dies war das Festtagsgetränk für Krieger, und es war stark und kräftig. Das Kribbeln hätte ihn beinah ausspeien lassen, und die starke Bitterkeit überraschte ihn, aber er behielt die Flüssigkeit bei sich und entehrte sich nicht, da er den ganzen Humpen in wenigen Schlucken unter dem bewundernden Applaus seiner Kameraden bis zur Neige leerte. Nicht weit entfernt sah er seinen Vater das große Trinkhorn ansetzen und beobachtete dann, wie dessen Inhalt unaufhaltsam in seine Kehle rann, während die älteren Krieger von zehn abwärts zählten. Das ganze Horn war leer, als sie bei fünf angelangt waren. Es war eine gute Zeit. Das Horn wurde
wieder gefüllt und weitergereicht, und diesmal begann die Zählung bei fünf, aber der neue Trinker war kein Gegner für Ragnars Vater und konnte das Horn nicht leeren, bevor die anderen ausgezählt hatten. Verlegen gab er das Horn dem nächsten Krieger. Ragnar ging zu den für die Wolfbrüder gedeckten Tischen und nahm sich von dem heißen Huhn und dem frischen Brot. Das warme Fleisch schmeckte wunderbar. Die Säfte liefen ihm über das Kinn, und er wischte das gerinnende Fett mit Brotstücken auf, bevor er sie in den Mund steckte. Das Ale war in seinem Bauch zur Ruhe gekommen, und er fühlte sich wunderbar, wenn auch wegen der ungewohnten Stärke des Gebräus ein wenig benebelt. Ulli stieß ein langes Heulen aus, dem ein Rülpsen folgte. Er sah Ragnar an und warf dann einen vielsagenden Blick auf die Tische, wo die unverheirateten Mädchen saßen. Ragnar lächelte und nickte, da er nicht mehr ganz so nervös war. Bald würde es an der Zeit sein zu tanzen. *** Strybjörn half den anderen Kriegern dabei, das Drachenschiff an den Strand zu ziehen und auf den Sand zu setzen. Seine Muskeln schmerzten von der Anstrengung, und sein Atem kam stoßweise. Das Schiff war schwer, auch wenn die volle Besatzung von vierzig Kriegern daran zog. Seine Füße waren nass von den Wellen, und seine Hose war bis zu den Knien durchweicht, seitdem er im flachen Wasser von Bord gesprungen war. Er fühlte sich ein wenig wacklig auf den Beinen, da die Unverrückbarkeit des Landes zunächst ein wenig ungewohnt war. Die Wochen auf See bewirkten, dass er immer noch das Schaukeln des Boots ausgleichen wollte. Doch er sagte sich, dass es nicht lange dauern würde, bis er sich
darauf eingestellt hatte. Er schloss sich seinen Wolfbrüdern an, junge Männer wie er und darauf bedacht, in dieser ihrer ersten großen Schlacht Ruhm zu erwerben, sich einen Namen zu machen und die Aufmerksamkeit des Jarl und der Götter zu erlangen. Er richtete ein Gebet an Russ, in dem er gut zu kämpfen gelobte und versprach, falls er sterben musste, dies nur mit schweren Wunden und erst dann zu tun, wenn er die Aufmerksamkeit der Erwähler der Gefallenen auf sich gezogen hatte. Am Strand formierten sich die Grimmschädel-Krieger zu langen Reihen und machten ihre Waffen bereit. Als sie sich zu Kampftrupps zusammengetan hatten, erklommen sie rasch und lautlos den Weg zum Dorf der Donnerfäuste. *** Ragnar stieß einen Jubelruf aus und hakte seinen Arm bei Ana unter. Er war betrunken und glücklich. Die Tänzer hatten lange Reihen gebildet und woben zur Musik des Skalden und seiner Lehrlinge komplizierte Muster. Ana lächelte ihn mit gerötetem Gesicht an, während sie im Kreis umherwirbelten, bevor sie einen Platz weiter wieder in ihre jeweilige Reihe zurückkehrten. Auf diese Weise kam jeder junge Mann dazu, mit jedem Mädchen zu tanzen. Es war ein allgemeiner Wirbel. Paartänze würden später noch folgen. Aus der Ferne hörte er Gesang und Trinklärm, da die Älteren ihr Fest im Langhaus fortsetzten. Langsam kamen jetzt auch die verheirateten Paare nach draußen, um am Tanz teilzunehmen. Hunde bellten. Gänse schnatterten. Ziegen blökten. Die Festivitäten regten sie auf, wie nichts anderes es vermochte. Plötzlich hörte die Musik auf, als der Skalde und seine Burschen abbrachen, um ihren Durst mit Ale zu stillen. Einer Eingebung folgend, ging Ragnar zu Ana. Sie wechselten einen
Blick. Ohne zu reden, schritten sie davon, Arm in Arm, in die Dunkelheit und weg vom Langhaus. Ragnar sah, dass das Gesicht des Mädchens gerötet war. Ihre Haare waren in Unordnung. Ihre Augen kamen ihm im flackernden Fackelschein riesengroß vor. Ragnar legte ihr den Arm um die Taille, und sie tat es ihm nach. Sie sahen einander an und kicherten wie Verschwörer, als sie im Schatten der Hütten untertauchten. Während sie im Dunkeln standen und den vergnügten Geräuschen aus dem Dorf lauschten, spürte Ragnar, dass hier etwas Wichtiges geschah. Er fühlte sich mit derselben Kraft zu dem Mädchen hingezogen, die den Magnetstein nach Norden zog. Das sagte er ihr auch, und zwar in der Erwartung, dass sie lachen würde. Sie schaute ihn an und lächelte, wobei sich ihre Lippen ein wenig öffneten. Er war sich augenblicklich ihrer Schönheit und der weichen Wärme ihres Körpers an seinem bewusst. Ohne nachzudenken, zog er sie an sich. Ihre Lippen trafen sich. Ihre Arme kamen hinter seinem Kopf hoch, umschlossen sein Gesicht von beiden Seiten und führten ihn. Nach einem langen Augenblick lösten sie sich voneinander und lächelten ihr Verschwörerlächeln, dann wandten sie sich wieder dem Küssen zu. *** Strybjörn und seine Wolfbrüder näherten sich auf leisen Sohlen dem Dorf der Donnerfäuste. Er war verblüfft. Die Dummköpfe fühlten sich so sicher, dass sie nicht einmal eine Wache aufgestellt hatten. Das üppige Leben im Land von Strybjörns Vorfahren hatte sie weich gemacht. Tja, dachte er, bald würden sie für ihren Fehler büßen. Er wusste, dass rings um das ganze Dorf GrimmschädelKrieger in Stellung gingen. Bald würden erfahrene Krieger
über die Palisade klettern und das Tor von innen öffnen. Dann würden Strybjörn und die Seinen über ihre törichten Feinde herfallen wie Wölfe über eine Schafherde. Nichts konnte sie jetzt noch aufhalten. *** »Wünsch dir was«, sagte Ana, während sie ihr Kleid ordnete. Ragnar hielt im Zuknöpfen seiner Tunika inne und schaute in die angezeigte Richtung. Er sah ein Licht am Himmel. Zuerst dachte er wie das Mädchen, dass es eine Sternschnuppe war, aber dann fiel ihm der feurige Kometenschweif auf, den die Erscheinung hinter sich herzog. Er erinnerte ihn an etwas anderes. Im Augenblick war er vom Bier und den Umarmungen so benebelt, dass er nicht mehr wusste, woran. In der Ferne bellten Hunde wie als Reaktion auf den Anblick des fallenden Meteors. Er wälzte sich herum, packte das Mädchen und zog es zu sich herunter, um es zu küssen. Ana zierte sich einen Moment, bevor sie sich zu ihm auf den Boden sinken ließ. Er glaubte nicht, schon jemals in seinem Leben so glücklich gewesen zu sein wie in diesem Augenblick, aber der Gedanke an jene vom Himmel fallenden Flammen nagte weiterhin in seinem Hinterkopf. Schließlich fiel ihm wieder ein, wo er schon einmal solche Flammen gesehen hatte. Sie waren aus dem Heck des Luftschiffs gekommen, das den Wolfpriester Ranek von der Insel der Eisenmeister abgeholt hatte. Welche Bedeutung konnten sie haben, fragte er sich träge, bevor er in der Leidenschaft des Augenblicks gänzlich zu denken aufhörte. Als das Geschrei einsetzte, bemerkte er es kaum.
*** Strybjörn hielt seine Axt fest umklammert und rannte durch das offene Tor. Ringsumher taten seine Wolfbrüder es ihm nach, die Augen glänzend vor Vorfreude, den Mund weit aufgerissen. Strybjörn fühlte sich plötzlich für einen Moment schwach. Er wusste, er würde vergehen: das Gefühl überkam ihn jedes Mal, bevor er einer Gefahr begegnete. Es war wie ein Zeichen, dass sein Körper auf die Begegnung vorbereitet war. Unvermittelt war er sich bewusst, dass sein Atem sich beschleunigte, sein Herz schneller schlug und der Schweiß auf seinen Handflächen es erschwerte, die Axt richtig zu halten. Mit seinen Kameraden lief er in das Dorf, aus dem Klänge nach Musik und Tanz zu ihnen drangen. Plötzlich waren Leute vor ihnen. Es waren keine Grimmschädel. All seine Sinne spannten sich wie eine Trosse. Strybjörn brauchte keine weitere Provokation. Er schlug mit seiner Axt zu. Es gab ein grässlich feuchtes Sauggeräusch, als die Klinge traf und dann zurückgezogen wurde. Strybjörn schlug wieder zu und spürte, wie warmes Blut aus dem Körper des Mannes spritzte, der ihm vor die Füße fiel. Er stürmte tiefer in die Leiber hinein. Sonderbarerweise spielte die Musik weiter. Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund. Als verkünde er der ganzen Welt den Angriff, ertönte hoch oben am Himmel ein Knall wie Donner. *** »Was war das?«, fragte Ana, während ein Ausdruck der Furcht auf ihrem Gesicht Gestalt annahm. Ragnar löste sich von ihr und sah auf.
»Ich weiß es nicht«, sagte er, dann ging ihm plötzlich auf, dass er sich irrte. Er hatte so ein donnerndes Krachen schon einmal gehört, als das Luftschiff sich der Insel der Eisenmeister genähert hatte. War dies ein Omen? Und was war das für ein Lärm? Es klang so, als sei vor dem Langhaus ein gewaltiger Streit ausgebrochen. Er kam langsam auf die Beine. Ana erhob sich neben ihm. Ihre Hand haltend, tastete er sich durch die Dunkelheit zwischen den Hütten zurück und dem Lärm entgegen. Was er sah, war schlimmer als alles, womit er gerechnet hatte. Fremde waren unter den Feiernden, große stämmige Männer mit dunklen Haaren. Ihre Züge waren zerfurcht und ihre Kiefer breit. Sie sahen fast wie Trolle aus, und Ragnar erkannte sie augenblicklich aus den Liedern des Skalden wieder. Es war, als seien sie aus einem seiner Lieder gestiegen. Sie waren Grimmschädel. Einen Moment ließ abergläubische Furcht Ragnar erstarren. Waren sie aus dem Grab zurückgekehrt, um sich die Seelen ihrer Bezwinger zu holen? War hier schwarze Magie am Werk? Konnten die Toten auferstanden sein, um Rache an den Lebenden zu nehmen? Vor seinen Augen machte ein Halbwüchsiger mit brutalen Zügen, der wie ein Wolfbruder gekleidet war, Ullis Vater nieder. Der alte Mann sah immer noch benebelt vom Bier und von der Überraschung aus, während er sich an den Bauch griff und versuchte, die Eingeweide festzuhalten, die herausglitten. »Wir werden angegriffen!«, rief Ragnar und schob Ana in die Schatten zurück. »Es ist ein Überfall.« Im tiefsten Innern seines Herzens wusste er, dass es nicht nur ein Überfall war. Nach der Menge der anwesenden Krieger und der Anzahl der Schlachtrufe zu urteilen, die er von überall her hören konnte, handelte es sich um eine regelrechte Invasion mit der Absicht, seinen Klan zu versklaven oder zu vernichten. Er
fluchte in dem Wissen, dass der Angriff zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt erfolgte, da alle Krieger betrunken waren und tanzten. Und es war ihre eigene Schuld. Sie hätten Wachposten aufstellen müssen. Sie hätten vorbereitet sein müssen, aber sie waren es nicht. Die langen Jahre des Friedens hatten sie eingelullt und ihnen ein falsches Gefühl der Sicherheit gegeben, wie es kein Mensch auf Fenris je haben durfte. Und jetzt büßten sie dafür. Wut und Verzweiflung rangen in Ragnars Herzen. Einen langen Augenblick stand er starr da. Alles war hoffnungslos. Über die Hälfte der Dorfbewohner waren bereits tot oder lagen im Sterben, von diesen furchtbaren Eroberern zerschmettert wie verrottete Drachenknochen. Die Angreifer waren gut ausgerüstet und in Formation, und sie kämpften mit einer schrecklich zielstrebigen Disziplin. Die Donnerfäuste waren unbewaffnet, führungslos, verwirrt und unfähig, viel mehr zu tun, als sich wie Hühner abschlachten zu lassen. Plötzlich wusste Ragnar, dass der Untergang der Donnerfäuste bevorstand.
4
DAS LETZTE AUFBÄUMEN »Geh zurück!«, rief Ragnar, indem er Ana in die nächste Hütte schob. Sie konnte ihnen nur wenig Schutz bieten, denn die Angreifer mochten sehr bald alle Gebäude niederbrennen. Aber er brauchte Zeit zum Nachdenken, und er wusste ohne den Schatten eines Zweifels, dass es in der Hütte Waffen gab, die besser waren als der Dolch an seinem Gürtel. Ohne richtig zu verstehen, was eigentlich los war, wehrte Ana sich, aber er war stärker und drängte sie hinein. Er legte ihr die Hand auf den Mund. »Sei still, wenn dir dein Leben lieb ist!«, sagte er zu ihr und sah einen Ausdruck entsetzten Wissens in ihre Augen treten, der rasch fester Entschlossenheit wich. Sie war eine wahre Tochter ihres Volkes, das konnte Ragnar jetzt deutlich sehen. Schreie und Kriegsrufe hallten gedämpft durch die Drachenhautwände der Hütte. Drinnen war es dunkel. Ragnar tastete hektisch herum, bis er einen Schild und eine Axt fand. Rasch band er sich den Schild an den Arm und nahm die Waffe in die Hand. Er fühlte sich ein wenig besser, wusste aber immer noch nicht, was er tun sollte. Was er gesehen hatte, hatte sich bereits unauslöschlich in seinen Verstand eingebrannt. Er erinnerte sich an den Ausdruck des Entsetzens auf dem Gesicht von Ullis Vater. Er wusste noch, dass er den alten Horgrim im Dreck hatte liegen sehen, dem die obere Schädelhälfte gefehlt hatte. Er sah noch die furchtbar pulsierende Wunde in der Brust von Ranald dem Brauer vor sich. Dinge, die er zu diesem Zeitpunkt kaum wahrgenommen hatte, brannten sich jetzt in sein Bewusstsein. Tränen liefen sein Gesicht hinunter. Das hatte er nicht erwartet. Das war nicht die Art Schlacht, von der die Skalden sangen. Dies war
das brutale Abschlachten Unbewaffneter durch einen tödlichen Feind. Und doch sagte ihm ein kleiner Teil seines Verstandes, dass dies in der Tat eine Schlacht war. Es gab immer Tote und Sterbende und furchtbare Wunden. In einer Schlacht ging es selten anständig zu, und immer endete es mit schrecklichen Toden. Die Frage lautete: Was sollte er tun? Würde er in dieser Hütte hocken bleiben wie ein geschlagener Hund, oder würde er nach draußen gehen und sich dem Tod stellen wie ein Mann? Er wusste, dass er kaum eine Wahl hatte. Er würde ohnehin sterben, und am besten begegnete man den Geistern der Vorfahren mit ungeheuren Wunden und blutiger Waffe in der kalten toten Hand. Und doch hielt ihn etwas davon ab, das Unvermeidliche zu tun. Sein Blick wanderte immer wieder zu dem verängstigten Mädchen, das trockenen Auges und bleich in der Ecke stand. Ana wischte sich die Tränen mit dem Ärmel ab und versuchte ihn anzulächeln. Es war eine furchtbare Grimasse, und er hatte das Gefühl, das Herz müsse ihm brechen. Wie sein Leben sich doch binnen weniger Minuten verändert hatte. Noch vor weniger als einer Stunde war er vollkommen glücklich gewesen. Er und Ana waren zusammen gewesen. Ihre gemeinsame Zukunft schien nach Art des Dorfs geregelt zu sein. Sie hätten geheiratet, Kinder bekommen, zusammengelebt. Jetzt gab es diese Zukunft nicht mehr. Nichts war mehr übrig außer Blut, Asche und vielleicht das ehrlose Leben eines Knechts, wenn er verschont wurde. Er wusste, dass er das nicht ertragen konnte. Was sollte er tun? Er konnte nicht bleiben. Wenn er das tat, gefährdete er nur ihr Leben. Vielleicht kam es zu einem Kampf, und es kam nicht selten vor, dass wütende Männer Unschuldige niederschlugen. Wahrscheinlich würde sie verschont und die Frau oder Leibeigene eines Grimmschädels
werden. Das war der Lauf der Welt. Der Gedanke schmerzte ihn mehr, als er sagen konnte, aber wenigstens würde sie leben. Und trotzdem konnte er nicht gehen. Derselbe Magnetismus, der ihn früher zu Ana hingezogen hatte, hinderte ihn jetzt daran, sie zu verlassen. Stattdessen ging er zu ihr, legte die Axt nieder, berührte ihr Gesicht und zog die Konturen mit den Fingern nach in dem Versuch, sie sich einzuprägen, so dass er die Erinnerung daran in die Hölle mitnehmen konnte, wenn es sein musste. Sie war das Beste, was ihm in seinem ganzen Leben je widerfahren war. Jetzt zerriss es ihm das Herz, zu wissen, dass es mehr nicht geben würde, dass ihr Leben vorbei war, bevor es richtig begonnen hatte. Er zog sie für einen letzten Kuss an sich. Ihre Lippen trafen sich für einen langen Augenblick, und dann schob er sie weg. »Leb wohl«, sagte er leise. »Es wäre so schön gewesen.« »Leb wohl«, sagte sie, genug Kind ihres Volkes, um nicht zu versuchen, ihn zurückzuhalten. Er trat in die brennende Nacht hinaus, in das heulende Chaos und in den Wahnsinn. Und dann wusste er nur noch, dass eine gewaltige Gestalt mit hoch erhobener Axt vor ihm aufragte. *** Strybjörn pirschte durch die Nacht und tötete dabei. Er heulte frohlockend in dem Wissen, dass die Stunde der Rache gekommen war. Der Geschmack nach Blut war süß in seinem Mund. Ihm gefiel das Töten, das Gefühl der Macht, das es ihm gab. Ihm gefiel das Kräftemessen Sehne gegen Sehne, Mann gegen Mann. Aber diese Donnerfäuste waren schwache Gegner und kaum den Grimmschädel-Stahl wert. Sie waren betrunken und schlecht bewaffnet und schienen kaum zu begreifen, was
geschah. Wie war es ihnen nur gelungen, sein Kriegervolk von seiner Heimatinsel zu vertreiben? In einer kurzen Kampfpause kam ihm ein Gedanke. War dies ein Teil der Strafe für das Leben auf diesen Inseln? Hatte das Wohlleben seine Vorfahren verweichlicht, wie es die Donnerfäuste verweichlicht hatte? Hatte sein Volk früher auch einmal seine kriegerische Ader verloren wie diese Schafe hier? Das musste er mit seinem Vater bereden, wurde ihm klar. Es durfte nicht wieder geschehen. Würde nie wieder geschehen, wenn er Häuptling war. *** Verzweifelt parierte Ragnar den Hieb des Angreifers. Die Wucht des Aufpralls ließ seinen Arm taub werden, obwohl der Schild einen Teil auffing. Ragnar zielte einen Konter auf den Kopf des Mannes, der jedoch ebenfalls pariert wurde. Er schlug mit seinem Schildarm zu und traf den Angreifer im Gesicht. Als der Mann zurücktaumelte, setzte Ragnar nach und spaltete ihm mit seiner Axt den Schädel. Er sah sich um. Sein Heim stand in Flammen. Das Langhaus brannte. Es war ein Wahnsinn. Schattenhafte Gestalten hackten und töteten in der Düsternis. Es war wie eine Szene aus der Hölle. Frauen rannten durch die Nacht und trugen Kinder. Hunde schnappten nach den Beinen der Angreifer. Ein Huhn flatterte mit brennenden Flügeln gackernd durch die Nacht. Wo war sein Vater?, fragte sich Ragnar. Höchstwahrscheinlich beim Langhaus, wo er versuchen würde, die Krieger um sich zu scharen. Wenn er noch lebte. Ragnar versuchte hektisch, den Gedanken zu verdrängen, aber wie ein Messer durchfuhr es ihn, dass am Ende dieser Nacht nicht nur sein Vater, sondern jeder andere Krieger, den er kannte, und vermutlich auch er selbst tot sein würde.
Trotzdem blieb nichts weiter, als zu kämpfen, wie hoffnungslos die Lage auch sein mochte. Alle Sinne aufs äußerste angespannt, lief Ragnar zum Langhaus, wobei er wider alle Vernunft hoffte, seinen Vater und die anderen lebendig vorzufinden. *** Abermals rauschte das seltsame Heulen über ihn hinweg, und Strybjörn erkannte, dass sich ein riesiger geflügelter Schatten über das Schlachtfeld gelegt hatte. Er schaute auf und sah den brennenden Kometenschweif dicht über sich hinwegfliegen. Für einen Augenblick hörten die Kämpfe auf, und alle betrachteten ehrfürchtig die magische Erscheinung. »Die Erwähler der Gefallenen!«, rief jemand. Strybjörn wusste nicht, ob es ein Grimmschädel oder eine Donnerfaust war. Er wusste nur, dass der Sprecher Recht hatte. Ein Schauder überlief ihn. Die Boten der Götter waren hier. Sie beurteilten die Kämpfer. Jetzt! In diesem Augenblick schauten sie mit ihrem brennenden Blick herab, um festzustellen, ob jemand würdig war, sich den großen Kriegern im Saal der Helden anzuschließen. Es war möglich, dass in dieser Nacht ein Krieger lebendig zu dem legendären Berg gebracht wurde, wo die Auserwählten der Götter in unsterblicher Pracht und Herrlichkeit wohnten. Strybjörn wusste, dass sie nur die Tapfersten der Tapferen und die Grimmigsten der Grimmigen erwählen würden. Nur die Kühnsten waren der Unsterblichkeit würdig. Die Namen der Auserwählten würden in Ewigkeit leben und in den Heldenliedern der Skalden genannt werden. Brennender Ehrgeiz erwachte in seinem Herzen. Er wusste jetzt, was er zu tun hatte. Irgendwo unter diesen gepeitschten Hunden musste er Gegner finden, die seines
Stahls würdig waren. Er musste Gegner finden, deren Name es wert war, genannt zu werden, und sich im Zweikampf mit ihnen messen. Die Erwähler erschienen nicht bei jeder Schlacht. Vielleicht würde sich so eine Gelegenheit nie mehr bieten. Es war möglich, dass er in seinem ganzen Leben nie wieder einem so greifbaren Beweis für die Anwesenheit dieser mysteriösen Wesen begegnen würde. Er sah sich um. Dieselbe Erkenntnis schien auch allen anderen Kriegern gekommen zu sein, welchem Klan sie auch angehörten. Die Grimmschädel lösten sich von ihren Feinden und gaben ihnen Zeit, sich bessere Waffen zu beschaffen. Strybjörn wartete gespannt ab, was als Nächstes geschehen würde. *** In einer Kampfpause schaute Ragnar auf und sah das Luftschiff über sich hinwegfliegen. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass er es vom Deck der Speer von Russ beobachtet hatte, obwohl es in Wirklichkeit nur zweihundert Tage waren. Vielleicht war es nicht dasselbe Schiff. Vielleicht gab es mehr als eines. Wer außer den Göttern wusste solche Dinge? Langsam schlich sich der Gedanke in sein Bewusstsein, dass die Erwähler hier sein mussten, ihn vielleicht sogar in diesem Augenblick beobachteten, um festzustellen, ob er würdig war, in den Saal von Russ einzugehen. Es war ein seltsam erhebender Gedanke. Er verlieh den Grausamkeiten ringsumher Bedeutung. Plötzlich war dies kein schlichter Überlebenskampf mehr, sondern eine Prüfung der Ehre und Würdigkeit. Natürlich waren das angeblich alle Schlachten, aber nur bei sehr wenigen gab es einen tatsächlichen Beweis für die Anwesenheit der Götterboten. Dies war so eine Schlacht. Es war durchaus möglich, dass ein Mann von hier aus
direkt in die Legende einging. Der massige, stämmige Krieger, mit dem er noch eine Sekunde zuvor Hiebe gewechselt hatte, sah ihn an, und etwas wie Begreifen dämmerte in seinen brutalen grauen Augen. Sie traten auseinander. Ragnar wich zum verbliebenen Rest seiner Sippe zurück, der sich am brennenden Langhaus sammelte, während die Grimmschädel sich zurückzogen. Ragnar sah sich nach Leuten um, die er kannte. Ulli war da, und auch sein Vater, wie er mit einem Seufzer der Erleichterung sah. Jarl Torvald stand noch, obwohl er aus einer gezackten Kopfwunde blutete. Der Kriegerhäuptling riss gerade den Ärmel von seiner Tunika und wickelte ihn sich um den Kopf. Sie alle wechselten merkwürdig gehetzte Blicke. Sie alle wussten, dass sie so gut wie tot waren. Es war nur eine Frage der Zeit. Ein Blick auf die versammelte Horde der Grimmschädel machte offensichtlich, dass sie mindestens fünf zu eins unterlegen waren. Viele Krieger der Donnerfäuste waren gleich beim ersten Ansturm gefallen. Sie konnten unmöglich hoffen, so viele zu überwinden, auch wenn sie sich als weit bessere Krieger als ihre Gegner erwiesen. Und der Grausamkeit der Grimmschädel nach zu urteilen, die sie bereits erlebt hatten, war dies nicht der Fall. Mann gegen Mann schienen sie gleichwertig zu sein - oder vielleicht sogar den Grimmschädeln unterlegen, musste Ragnar widerstrebend zugeben. Dennoch hatte das Auftauchen des Luftschiffs für eine Veränderung gesorgt, so viel war offensichtlich. Die Grimmschädel hielten sich im Augenblick zurück. Ebenso wie die Donnerfäuste wollten sie die himmlischen Beobachter beeindrucken. Sie waren dazu übergegangen, anstelle eines Gemetzels den Kampf mit einem würdigen Gegner zu suchen. Ein Funke des Zorns loderte in Ragnars Brust auf.
Jetzt waren sie bereit, ehrenhaft zu kämpfen. Jetzt, da sie wussten, dass die Augen der Götter auf ihnen ruhten, waren sie bereit, ihren Feinden einen anständigen Kampf zuzugestehen. Noch vor wenigen Minuten waren sie dazu nicht bereit gewesen. Das konnte kaum als anständig bezeichnet werden. Ein kleiner Teil Ragnars lachte über seine Blauäugigkeit. Was hatte es für einen Sinn, sich über Anständigkeit oder Unanständigkeit zu ereifern? Die Götter würden ihr Urteil auf ihre übliche unergründliche Art fällen und sich nicht täuschen lassen, das hoffte er zumindest. Warum hätte er protestieren sollen? Die Grimmschädel gaben ihm die Gelegenheit, einen würdigen Tod zu suchen, auch wenn sie schlimme Heuchler waren. Und zumindest sorgten sie dafür, dass die Donnerfäuste einige wenige von ihnen mit in die Dunkelheit nehmen würden. Einige Krieger der Donnerfäuste liefen ins brennende Langhaus und kehrten mit Armladungen von Waffen und Schilden zurück. Die Grimmschädel schienen bereit zu sein, ihren Feinden zuzugestehen, sich zu bewaffnen und anständig auf den Kampf vorzubereiten. Spannung lag jetzt in der Luft. Sie war so greifbar, als habe die Anwesenheit der Erwähler eine eigene elektrische Energie erzeugt. Krieger lockerten die Muskeln und zerteilten die Luft mit Probeschlägen. Die Anführer der Grimmschädel kauerten beieinander und schienen darüber zu streiten, wie weiter zu verfahren sei - zweifellos debattierten sie, wie sie es bewerkstelligen konnten, in Russ' Augen am besten auszusehen. Unter den Donnerfäusten gab es keine derartigen Debatten, dachte Ragnar. Ihre Pflicht war klar: Sie mussten ihr Leben so teuer wie möglich verkaufen und gut und ehrenhaft kämpfen, bevor sie starben. Es gab keine andere Wahl. Irgendwo in ihren Reihen weinte ein Mann. Es klang nach
Ranald Einzahn. Das überraschte Ragnar, denn er kannte Ranald schon sein ganzes Leben lang, und er war immer ein ausgeglichener Mann gewesen, unerschütterlich auch im Angesicht des schlimmsten Unwetters oder des gewaltigsten Orcas. Bei allen Überfällen und Schlachten, an denen er teilgenommen hatte, hatte er sich gut gehalten. Er war sogar dem Nachttroll von Gaunt im Zweikampf gegenübergetreten und siegreich daraus hervorgegangen. Warum verließ ihn jetzt der Mut?, fragte sich Ragnar. Von allen anwesenden Männern war er derjenige, dem die Gunst der Erwähler vielleicht am sichersten gewesen wäre. Seine Tapferkeit war immer wieder auf die Probe gestellt worden. War es möglich, dass ein Mann in seinem Leben nur eine begrenzte Menge Mut aufbringen konnte und ihn verlor, wenn diese verbraucht war? Oder ließ ihn die Anwesenheit der Erwähler verzweifeln? Das Wissen, dass die Augen der Götter auf einem ruhten, mochte seltsame Dinge mit einem Mann anstellen, dachte Ragnar. Oder vielleicht lag es auch an dem sicheren Wissen, dass die Donnerfaust-Krieger sehr bald gerichtet und ihr endgültiges Schicksal kennen würden. Es war eine Sache, in ein Unwetter zu geraten oder sich in eine Schlacht zu stürzen, wenn man wusste, dass man mit etwas Glück oder durch das Wohlwollen der Götter oder auch dank eigener Kraft und Geschicklichkeit überleben mochte. Es war eine ganz andere, wenn man ohne den geringsten Schatten eines Zweifels wusste, dass das Leben in Kürze vorbei sein würde. Ragnar schaute tief in seine eigene Seele und stellte fest, dass dort Furcht war, aber keine überwältigende. Er war nervös und auf eine seltsame Art aufgeregt, aber er war nicht verängstigt oder entsetzt. Mehr noch, in ihm war Zorn und ein Durst nach Rache an den Grimmschädeln für deren Heimtücke, und neben diesen Empfindungen war seine Furcht gering und unbedeutend. Er spürte, dass er sich am Rande eines rasenden
Tötungswahns befand. Tief im Herzen wartete er ungeduldig darauf, seinen Feinden gegenüberzutreten, und sehnte sich danach, dass das Töten endlich begann. Und er musste zugeben, dass das Verlangen nach der Gunst der Götter überhaupt nichts damit zu tun hatte. Er war sicher, glücklich in die Hölle zu fahren, wenn er einen Grimmschädel mitnehmen konnte, und dass sein Leben nicht sinnlos gewesen sein würde, wenn er zwei mitriss. Da sein Leben vorbei war, hatte er nichts mehr zu verlieren. Für ihn gab es jetzt nur noch die Gelegenheit, es teuer zu verkaufen. Es war merkwürdig, dass ein Mann im Laufe eines Abends so viele Veränderungen durchleben konnte. Er versuchte, sich an Anas Gesicht zu erinnern, das einzuprägen er sich noch vor wenigen Minuten so große Mühe gegeben hatte, und stellte fest, dass er keine klare Vorstellung mehr davon hatte. Ein Jammer, dachte Ragnar kalt. Es wäre gut gewesen, die Erinnerung an etwas Schönes mit ins Jenseits zu nehmen. Die Krieger der Donnerfäuste hatten sich mittlerweile bewaffnet und waren zum Kampf bereit. Die Grimmschädel schienen jetzt ihre Krieger ausgewählt zu haben. Sie musterten einander über die Schatten der brennenden Lichtung hinweg. Für einen langen Augenblick musterten sie einander mit Furcht und Hass. Dann wurden alle Blicke von einer massigen Gestalt angezogen, die aus den Schatten trat. Es war ein monströser stämmiger Mann, der eine Metallrüstung und das Fell eines riesigen Wolfs um die Schultern trug. Ragnar traf die Erkenntnis wie ein Schlag. Es war der Wolfpriester, den sie vor wenigen kurzen Hunderttagen zur Insel der Eisenmeister gebracht hatten. Mit einem Aufwallen der Furcht fielen Ragnar wieder die letzten Worte des Wolfpriesters ein. Dies war in der Tat ein Tag des Verhängnisses für ihn. Allem Anschein nach war Ranek nicht nur ein Zauberer, sondern auch ein Seher. Alle warteten ab, ob der Wolfpriester eingreifen würde, aber
er tat nichts, sondern betrachtete sie lediglich mit seinen blitzenden Augen. In diesem Moment sah Ragnar mit äußerster Klarheit, dass Ranek etwas Unmenschliches oder sogar Übermenschliches an sich hatte. Was mit ihm auch geschehen war, es hatte ihn von der übrigen Menschheit entfernt und ihn in etwas Ungeheuerliches verwandelt. In ihm war keine Furcht. Er stand mit äußerstem Vertrauen in seine Unverwundbarkeit da wie ein Mann, der Kindern bei einem Streit zusah und nicht einer Schlacht zwischen erwachsenen und bewaffneten Kriegern. Es war, als wisse er, dass ihm nichts Schaden zufügen konnte, als könne er sie alle mühelos töten, sollten sie ihn gegen sich aufbringen. Ragnar erinnerte sich, wie er den Meerdrachen besiegt hatte, und bezweifelte nicht, dass es so war. Ein anderer Gedanke schob sich in sein Bewusstsein. Ranek war mit dem Luftschiff eingetroffen. Er war nicht nur ein Zauberer. Er war einer der Erwähler der Gefallenen, ein Abgesandter der Götter. Derselbe Gedanke schien auch den anderen Kriegern gekommen zu sein, als sie sahen, wie der Feuerschein von der glänzenden Rüstung des Wolfpriesters reflektiert wurde. Ein Gefühl der Ehrfurcht überkam alle Anwesenden. Sie wussten, dass etwas Übernatürliches zugegen war. Der schreckliche Alte beobachtete sie ungeduldig, als warte er darauf, dass sie endlich begannen. Ragnar hatte den Verdacht, dass seine Anwesenheit die Krieger eingeschüchtert hatte. Sich selbst überlassen, hätte für einen kurzen Moment sogar die Möglichkeit bestanden, dass sie gänzlich zu kämpfen aufhörten. Dann bedeutete ihnen der alte Mann fortzufahren. Die beiden Streitmächte wappneten sich wie Wölfe kurz vor dem Sprung und stürzten sich dann vorwärts in das rasch entstehende Getümmel.
*** Strybjörn durchzuckte Erregung, als der gewaltig gerüstete Alte aus den Schatten trat. Im Innersten seines Herzens wusste er, dass dies einer der Erwähler war, ein Wesen, das ihm Unsterblichkeit und endlose Schlachten bis in alle Ewigkeit gewähren konnte, wenn es wollte. Sein Blick wurde von der gerüsteten Gestalt angezogen wie Eisenfeilspäne von einem Magneten. Dem Erwähler haftete die Aura einer ehrfurchtgebietenden Macht an, die Strybjörn mit Neid und Sehnsucht erfüllte. Er wollte an dieser Macht teilhaben und in der Lage sein, mit derselben Sicherheit mitten in einem Gemetzel zu stehen. Er wollte etwas von demselben Stolz besitzen. Hier war jemand, neben dem der größte aller Grimmschädel-Krieger nur ein Trottel war. Was der alte Mann auch haben mochte, er wollte es auch. In der bevorstehenden Schlacht wollte er sich als Held beweisen oder wenigstens bei dem Versuch sterben. Wenn er die Gelegenheit dazu bekam. Er war nicht in der ersten Welle der Krieger, die sich mit den Donnerfäusten im Zweikampf messen durften. Er warf einen Blick auf die Gegner, um zu schätzen, wie viele von ihnen noch übrig waren, und sah, dass einer der Donnerfäuste, ein Jugendlicher in seinem Alter, den Alten mit einem Ausdruck des Wiedererkennens anstarrte. War es möglich, dass er den Erwähler kannte? Nein, das konnte nicht sein. Es musste daran liegen, dass ihn der Todeswahnsinn gepackt hatte. Strybjörn prägte sich das Gesicht des jungen Mannes so gut wie möglich ein. Er war plötzlich von einer unerklärlichen Abneigung gegen ihn besessen und betete inbrünstig, dass er die anfängliche Schlacht überleben würde, sodass er ihn persönlich töten konnte. Auf das Signal des alten Mannes stürmten die Grimmschädel vorwärts.
*** Ragnar tauchte unter dem Hieb eines großen stämmigen Kriegers hinweg. Er schwang seine Axt aufwärts und traf den Mann in die Brust. Knochen splitterten, und Blut und Eingeweide quollen heraus. Er fuhr gerade noch rechtzeitig herum, um dem Hieb eines anderen Grimmschädels auszuweichen, und spürte dann zu seinem Entsetzen, dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Der Sterbende, der in einer Lache seines eigenen Bluts lag, hatte Ragnars Bein umklammert. Er schien den Entschluss gefasst zu haben, seinen Bezwinger mit in den Tod zu nehmen. Durch die Kraft des tödlich Verwundeten an Ort und Stelle gefesselt, war diese Möglichkeit sehr wahrscheinlich geworden. Der zweite Grimmschädel hieb nach ihm, und Ragnar gelang es gerade noch, den Schlag mit seinem Schild abzuwehren. Durch den Zug an seinem Bein beeinträchtigt, war es schon schwierig genug, überhaupt das Gleichgewicht zu wahren. Er setzte zu einem Gegenangriff an, der seinen Angreifer zurückspringen ließ. In dieser kurzen Kampfpause entschied er sich dafür, ein unerhörtes Risiko einzugehen. Ohne Bewegungsfreiheit konnte er unmöglich überleben. Er riskierte es, für einen kurzen Moment den Blick von seinem Angreifer abzuwenden, nach unten zu schauen und einen Hieb gegen das Handgelenk des Arms zu führen, der ihn festhielt. Die scharfe Schneide der Axt fuhr durch Fleisch, Knochen und Sehnen und trennte die Hand sauber ab. Heißes Blut nässte Ragnars Bein. Der Sterbende stieß einen Schrei aus wie die Verdammten. Ragnar sprang gerade noch rechtzeitig beiseite, um seinem Angreifer auszuweichen. Als der Mann an ihm vorbeistürmte, schlug Ragnar mit seiner Axt zu und traf ihn mit einem furchtbaren Hieb im
Nacken. Die Axt grub sich durch die Halswirbel, und der Kopf des Mannes wurde fast vom Hals getrennt. Die Leiche wusste noch nicht recht, dass sie tot war, und lief noch ein paar Schritte weiter, bevor sie über den handlosen Mann stolperte und auf den blutgetränkten Boden fiel. Ragnar richtete sich auf und sprang vorwärts, wobei er mit seiner Axt nach links und rechts hieb. Sein erster Schlag traf einen überraschten Krieger an der Schläfe und zerschmetterte ihm den Schädel. Sein zweiter Schlag wurde von einem kleinen, untersetzten Grimmschädel-Krieger pariert. Er und Ragnar wechselten in Windeseile einen Wirbelsturm von Hieben. Eine Schmerzwelle schoss durch Ragnars Arm, wo sich dessen Speerspitze tief hineinbohrte. Ragnars Erwiderungshieb ließ den Mann geradewegs in die Hölle torkeln. Ragnar war überrascht, wie gut er kämpfte. Alles rings um ihn schien sich viel langsamer zu bewegen als sonst. Er kämpfte mit perfekter Koordination und einem Tempo, das er nicht für möglich gehalten hätte. Sein Verstand war kristallklar, kalt wie ein von Gletschern gespeister Gebirgsbach. Er fühlte sich stark und schnell und spürte kaum die Schmerzen seiner Wunden. Natürlich hatte er von älteren Kriegern gehört, dass es manchmal so war, und sein Körper würde später die Anstrengungen der Schlacht teuer bezahlen. Doch jetzt, in diesem Augenblick, fühlte er sich unüberwindlich. Ein rascher Rundumblick verriet ihm, wie irreführend dieses Gefühl war. Es schien noch immer eine endlose Horde von Grimmschädel-Kriegern zu geben. Wenn einer fiel, sprang ein anderer vor, begierig, den Kampf aufzunehmen. Die verbliebenen Donnerfäuste schlugen sich jetzt gut, aber über die Hälfte von ihnen war gefallen. Als er sich weiter umschaute, sah Ragnar seinen Vater tot auf dem Boden liegen. Er starrte mit blicklosen Augen himmelwärts, die Hände immer noch um seine Axt gelegt und zwei tote Grimmschädel zu
seinen Füßen. Entsetzen packte Ragnar. Dies war der Mann, der ihn nach dem Tod seiner Mutter allein aufgezogen hatte. Er war da, solange Ragnar zurückdenken konnte, ein Pfeiler unbeugsamer Stärke. Es war einfach unmöglich, dass er tot war. Feinde wie Spreu niedermähend, erzwang er sich einen Weg zu der Stelle, wo sein Vater lag. Der junge Donnerfaust-Krieger beugte sich über den Leichnam und legte die Hand auf die Stirn seines Vaters. Die Haut war bereits kalt. Als er die Hand auf die Kehle legte, konnte er keinen Puls ertasten. Kummer erfüllte ihn und lahmte ihn für einen Moment. Ein Grimmschädel lief auf ihn zu. Ragnar sah ihn kommen. Sein Kummer verhärtete sich. Die Notwendigkeit zu töten loderte in Ragnars Seele auf. Der Grimmschädel bewegte sich so langsam, dass er durch Melasse zu waten schien. Ragnar konnte jede Einzelheit an seinem Angreifer erkennen, von der Warze auf dessen linkem Handrücken bis zu den Kerben im funkelnden Stahl seiner Klinge. Allem haftete eine tödliche Klarheit an. Dem Hinken des Mannes konnte er entnehmen, dass er sich das Bein verdreht hatte, aber die Beeinträchtigung verlangsamte ihn nicht sehr. Er sah zu, wie der Mann mit seiner Axt zu dem Hieb ausholte, der Ragnar enthaupten würde. Es war so, als widerfahre dies alles einem anderen. Dann konnte er schräg hinter dem Angreifer den alten Mann sehen, den Wolfpriester Ranek, der ihn beobachtete. In den Augen des alten Mannes stand etwas. Es mochte Mitgefühl sein oder auch Verachtung. Ragnar konnte es nicht sagen. Jene Wolfsaugen waren für einen Sterblichen wie Ragnar unergründlich. Und doch brach der Blick den Bann, unter dem er stand. Kalte Wut und heißer Hass erfüllten ihn. Er explodierte förmlich schnellte aus seiner geduckten Haltung unter dem Hieb hindurch und prallte gegen seinen Angreifer. Er trat dem Mann gegen sein verwundetes Bein, was diesen zurücktaumeln und dann vollends das Gleichgewicht verlieren
ließ. Als er stürzte, spaltete Ragnar ihm den Schädel wie ein Scheit Feuerholz und rückte gegen die Reihen der Grimmschädel vor. Jetzt kämpfte er wie ein Gott. Nichts konnte ihm widerstehen. Sein Hass und seine Wut verliehen ihm ungeahnte Kräfte. Er kannte keine Furcht. Er lebte nur, um zu töten, und ihm war jetzt völlig gleichgültig, ob er lebte oder starb. In seiner Wut pflügte er durch die Grimmschädel wie ein Drachenschiff durch stürmische See. Alles, was ihm in die Quere kam, wurde niedergemacht. Irgendwo in dem Wahnsinn spaltete der Hieb einer Grimmschädel-Axt seinen Schild. Er tötete den Mann, der diese Kühnheit besessen hatte, und fing dessen umherwirbelnde Axt im Fall auf. Mit einer Waffe in jeder Hand stürmte er vorwärts wie ein Wirbelwind des Todes und tötete alles in seiner Reichweite. Nachdem er den zwanzigsten Grimmschädel erschlagen hatte, zählte er nicht mehr weiter. Er gewöhnte sich an den Ausdruck der Furcht und des Entsetzens, den er in den Gesichtern der Männer sah, die ihm gegenübertraten. Es war jener Ausdruck, den man aufsetzte, wenn man sich einem Dämon zum Kampf stellte. Ragnar bekümmerte dies nicht. In diesem Augenblick fühlte er sich auch wie ein Dämon. Vielleicht hatte einer von ihm Besitz ergriffen. Wenn das der Fall war, begrüßte er ihn, wie er alles begrüßen würde, was ihm dabei half, Grimmschädel zu töten. Einen Moment schien es so, als könne er ganz allein das Blatt wenden. Die Donnerfäuste versammelten sich hinter ihm, bildeten einen Keil und pflügten ermutigt durch Ragnars Kraft und Geschick durch die Feinde. Aber es konnte nicht andauern. Einer nach dem anderen fielen seine Leute. Nichts konnte diesen furchtbaren, übermenschlichen Grad der Wildheit aufrechterhalten, der von Ragnar Besitz ergriffen hatte. Er blutete aus einem Dutzend kleiner Wunden. Das Parieren Dutzender wuchtiger Schläge raubte ihm allmählich die Kräfte.
Er wurde langsamer, nahm seine Schmerzen wieder wahr und kehrte auf die Ebene der Menschlichkeit zurück. *** Strybjörn hieb eine weitere Donnerfaust nieder und versuchte den jungen Krieger auszumachen, auf den er vorher aufmerksam geworden war. Er war nirgendwo zu sehen und musste zu einem anderen Teil des Schlachtfelds gezogen sein. Das war bedauerlich. Immerhin war es Strybjörn gelungen, den alten Mann zu erwischen, der eine gewisse Ähnlichkeit mit dem jüngeren hatte. Für eine Donnerfaust hatte er einen ziemlich guten Kampf geliefert. Strybjörn war stolz auf sich. Nun, da die Donnerfäuste neuen Mut gefasst hatten, verwandelten sie sich in würdige Gegner, und er hatte bereits fünf getötet. Er war ziemlich sicher, dabei den Blick des Erwählers auf sich gespürt zu haben. Er hatte sich seine Feinde mit Bedacht ausgesucht. Alle waren Krieger in der Blüte ihrer Jahre gewesen, und alle waren seiner Axt zum Opfer gefallen. Erneut erfüllte ihn die schiere Lust am Blutvergießen. Er war so glücklich wie noch nie zuvor in seinem kurzen hasserfüllten Leben. Der Akt des Tötens bereitete ihm mehr Freude als Essen, Schlaf oder Ale. Er war süßer als Honig und süßer als die Küsse eines Mädchens. Indem er den Tod brachte, gewann ein Krieger Macht, die derjenigen der Götter gleichkam. Oder vielleicht auch nicht, vielleicht gab es noch etwas Besseres als das, etwas, das nur den Erwählern und ihren Herren bekannt war. Strybjörn hoffte jedenfalls, es herauszufinden. Und jetzt war es an der Zeit, die von ihm auserwählte Beute zu suchen. Es war an der Zeit, wieder zu töten. ***
Müdigkeit überkam Ragnar. Er spürte, wie er langsamer wurde. Die Kräfte verließen ihn. Er parierte den Hieb eines Grimmschädel-Kriegers und wich einem zweiten Hieb aus. Die Schneide der Axt zerriss seine Tunika und hinterließ eine blutige Strieme auf seiner Brust. Er ließ die Axt an sich vorbeisausen, rückte nach und hackte mit seiner zweiten Waffe ein beträchtliches Stück aus der Axt seines Angreifers. Ein Hieb von rechts schickte den Mann zu seinen Vorfahren. Hinter ihm waren noch viele Grimmschädel. Es schien so, als träten für jeden Getöteten zwei neue vor, um dessen Platz einzunehmen. Nicht, dass Ragnar dies etwas ausgemacht hätte. Er war nur auf Töten aus, darauf, sie für den Tod seines Vaters und den Diebstahl des Lebens, das er mit Ana hätte führen sollen, büßen zu lassen. Wenn er in die kalten Höllen einging, würden ihn viele begrüßen, die er getötet hatte, und dieses Wissen machte ihn froh. Er bedauerte nur, dass es ihm nicht gelingen würde, alle zu töten, und dass er den Tötungswahn nicht aufrechterhalten konnte, der ihn so viele Feinde hatte überwältigen lassen. Ein Hagel von Hieben erledigte die nächsten beiden Angreifer, und dann wusste Ragnar, dass seine Kraft verbraucht war. In dieser Schlacht hatte er seine Kraft verbrannt wie ein Feuer Holz. Es war nichts mehr übrig. Er kämpfte nur noch reflexhaft. Seinen Schlägen fehlte die tödliche Wucht, die sie bis vor wenigen Augenblicken gehabt hatten, und dann stand er plötzlich dem Mann gegenüber, der ihn töten würde. Es war ein jugendlicher Grimmschädel-Krieger, der ihm schon zuvor aufgefallen war. Ein Krieger ungefähr in Ragnars Alter mit einer Stirn wie eine Klippe und einem gewaltig vorspringenden Kinn. Er lächelte grausam und enthüllte dabei Zähne wie Mühlsteine. In seinen Augen stand ein Ausdruck blutgierigen Wahnsinns, der Ragnars eigenem entsprechen
musste. Sie hielten kurz inne, um einander zu messen. Beide hatten das Gefühl, in dieser Begegnung die Hand des Schicksals zu spüren. *** Strybjörn betrachtete sein auserwähltes Opfer. Endlich hatte er den Krieger gefunden, der eine Schneise der Zerstörung in den Reihen von Strybjörns Kameraden hinterlassen hatte. Er hatte denjenigen gefunden, den er sich zuvor ausgesucht hatte, den Krieger, der den Erwähler wiedererkannt zu haben schien. Er sah nicht nach viel aus, war nur ein weiterer schmächtiger Donnerfaust-Bursche mit einer ungewöhnlichen Mähne schwarzer Haare, doch Strybjörn unterschätzte ihn nicht. Er hatte selbst gesehen, welche Verwüstung dieser junge Krieger angerichtet hatte. Nun, damit war jetzt Schluss. Es war Strybjörns Bestimmung, diesen Schlächter zu töten und damit den Beifall der Götter zu erringen. Dieses Zusammentreffen war schon vor langer Zeit vom Schicksal festgelegt worden, dessen war er ganz sicher. »Ich bin Strybjörn«, sagte er. »Und ich werde dich töten.« »Ich bin Ragnar«, erwiderte der Donnerfaust-Krieger. »Versuch's nur.« *** Ragnar sah den Ausdruck des Hasses in den Augen des Grimmschädels, registrierte den flackernden Blick, der besagte, dass er jetzt angreifen würde, und wich zurück, als Strybjörn zuschlug. Der Grimmschädel war schnell, kein Zweifel. Ragnar gelang es kaum, den Hieb mit seiner Axt abzuwehren, ganz zu
schweigen davon auszuweichen. Und als er es dann doch tat, rückte Strybjörn nach und schlug ihn mit seinem Schild von den Beinen. Die Wucht des Hiebs ließ Sterne vor Ragnars Augen tanzen. Er stolperte rückwärts über Leichen. Schon fuhr die Axt des Grimmschädels in glitzerndem Bogen nieder. Ragnar blieb kaum Zeit genug, sich herumzuwälzen. Blut bespritzte ihn, als die Axt mit einem Geräusch in die Leiche fuhr, als treffe ein Schlachter mit seinem Hackbeil eine Fleischseite. Ragnar trat zu in dem Versuch, dem Grimmschädel die Beine unter dem Körper wegzutreten, aber sein Gegner wich zur Seite und ließ seine Axt niedersausen. Diesmal gelang es Ragnar, seine linke Axt hochzureißen, aber seine Position war schlecht, und die Wucht des Hiebs drückte seine Waffe zusammen mit der Klinge des Grimmschädels gegen seine Brust. Er zuckte vor Schmerzen zusammen und spürte, wie ihm sein eigenes Blut über die Brust lief. Strybjörn hob die Axt zu einem weiteren Hieb. Ragnar wälzte sich noch einmal zur Seite und sprang auf, um gleich darauf gerade noch rechtzeitig vorwärts und unter dem nächsten Hieb hindurch zu hechten. Er landete der Länge nach auf dem Boden, aber diesmal war er vorbereitet, so dass er sich abrollte und wieder aufsprang. Sogleich sah er sich mit einem anderen Grimmschädel-Krieger konfrontiert. Der Mann hob seine Klinge zum tödlichen Hieb. »Nein, lass ihn! Er gehört mir«, hörte er Strybjörn hinter sich brüllen. Der zweite Grimmschädel hielt überrascht inne. Ragnar nutzte seine Verwirrung aus, um dem Mann seine Axt in die Rippen zu schmettern, und fuhr dann gerade noch rechtzeitig herum, um Strybjörns nächsten Hieb zu parieren. Diesmal bewirkte die Wucht des Schlages mehr als nur ein Gefühl der Taubheit in seinem linken Arm. Er spürte, wie etwas in seinem Handgelenk nachgab, und dann schoss ein brennender Schmerz seinen Arm empor. Die Axt entfiel seiner
gefühllosen linken Hand. Strybjörns wulstige, brutale Lippen verzogen sich zu einem triumphierenden Grinsen. »Jetzt stirbst du, Ragnar Donnerfaust«, knurrte er. Ragnar zahlte das Grinsen mit gleicher Münze zurück und schlug mit der ihm verbliebenen Waffe zu. Der Hieb kam schnell, schneller als der des Grimmschädels, und Strybjörn blieb kaum genug Zeit, um auszuweichen. Die rasiermesserscharfe Klinge streifte ihn und löste einen großen Hautfetzen von seiner Stirn. Blut tropfte Strybjörn in die Augen. Er schüttelte den Kopf, um sein Blickfeld zu klären. Ragnar trat zurück, um sein Werk zu betrachten, da er jetzt im Vorteil war, wenn er die nötige Geduld aufbrachte. Das aus der Wunde laufende Blut würde seinem Gegner bald die Sicht nehmen, und dann konnte Ragnar ihn mühelos töten. Offenbar war Strybjörn derselbe Gedanke gekommen, da er jetzt einen wütenden Schrei ausstieß und wie ein wütender Keiler vorstürmte. Der Hagel von Schlägen, mit dem er Ragnar eindeckte, hätte beinahe ausgereicht, den Donnerfaust-Krieger zu überwältigen, aber irgendwie gelang es ihm zurückzuweichen, ohne dabei mehr als ein paar Kratzer abzubekommen. Dabei ging ihm jedoch auf, dass seine Lage hoffnungslos war. Strybjörns Angriff hatte ihn rückwärts in einen großen Halbkreis von Grimmschädel-Kriegern getrieben, von denen jeder Einzelne auf die Gelegenheit brannte, seine abgeschlachteten Kameraden zu rächen. Ragnar hatte keine Möglichkeit, sich gegen sie und Strybjörn gleichzeitig zu verteidigen. Augenblicklich traf er eine Entscheidung. Er würde dafür sorgen, dass er noch einen letzten Feind in die Dunkelheit mitnahm. Er gab jede Deckung auf, wappnete sich gegen den tödlichen Hieb und warf dann seine Axt. Er spürte das Gewicht des Todes in seinem Wurf, noch bevor die Klinge ihr Ziel traf. Er wusste, dass das Schicksal seines Angreifers besiegelt war.
Die Axt traf Strybjörn in die Brust. Rippen brachen, Eingeweide quollen heraus. Einen Moment empfand Ragnar nur Befriedigung darüber, dass er Rache genommen hatte, dann spürte er eine Welle grellen Schmerzes durch seine Brust rasen. Mit einem reflexhaften tödlichen Hieb hatte Strybjörn seine Waffe tief in Ragnars Brust versenkt, dann rückten seine Kameraden vor, um sein Werk zu vollenden. Von den Schmerzen dieses Hagels von Schlägen geschüttelt, fiel Ragnar vornüber in die Dunkelheit, in der ihn der Tod erwartete, um ihn willkommen zu heißen.
5
DER ERWÄHLER DER GEFALLENEN Ragnar trieb in einem Meer aus Schmerzen. Sein ganzer Körper brannte. Er litt auf eine Weise, die er nicht für möglich gehalten hätte, ertrug Qualen, wie sie keinem Sterblichen bestimmt sein konnten, dessen war er ganz sicher. Also war dies die Hölle, dachte er. Sie war nicht so, wie er erwartet hatte. Es war nicht kalt. Es gab nur Schmerzen. Wo waren die anderen, die er erschlagen hatte? Warum waren sie nicht hier, um ihn zu begrüßen? Wo waren die Richter der Toten? Wo waren sein Vater, seine Mutter und seine übrigen Verwandten? Trotz der Schmerzen wurde er sich eines schrecklichen Gefühls der Enttäuschung bewusst. Er war nicht erwählt worden. Er war nicht an der großen Festtafel im Saal der Helden hoch oben auf dem Berg der Ewigkeit erwacht. Er hatte sich nicht als würdig genug erwiesen. Er war herabgesetzt worden. Es war ein mürrischer Gedanke, und dann wusste er nichts mehr. *** Erneut wurde er sich seiner Schmerzen bewusst, aber sie kamen ihm nicht mehr so stark vor. In seinen Ohren dröhnte ein seltsames Stampfgeräusch und das Tosen eines mächtigen Windes. Langsam ging ihm auf, dass das Stampfen der Schlag seines Herzens und der Wind das Keuchen seines Atems sein mochten. Dann war es, als bohrten sich rotglühende Schürhaken überall dort in seine Brust, wo er verwundet worden war. Er wollte schreien, aber er konnte den Mund nicht öffnen. Kein
Laut kam über seine Lippen. Er hatte das Gefühl, als würden ihm Eisnadeln durch die Haut gestochen und ein Faden aus geschmolzenem Blei benutzt, um seine Wunden zu nähen. Die Hölle, dachte er, war ein Ort der Folter und, der Qual. Schwärze. Stille. *** Jetzt war es kalt. Eis umgab ihn und hielt ihn in klirrender und brennender Umklammerung zugleich. Das kam der Sache schon näher. Die Skalden und ihre alten Lieder hatten ihn dazu gebracht, ebendies zu erwarten. Es war der Ort der unendlichen Kälte, an dem die verlorenen Seelen umherwanderten, bevor alle Erinnerung verblasste und sie in den Urstoff des Universums eingingen. Doch wo waren die anderen ruhelosen Toten? Und warum konnte er sie nicht sehen? Er bekam keine Antworten. Er trieb Äonen durch die Unendlichkeit, bis ihn das Bewusstsein verließ. *** Ihm wurde wärmer. Sein Körper bebte. Schmerzen und Hitze schienen ununterscheidbar zu sein. Sie hüllten ihn ein wie ein Schleier. Er zitterte. Er fühlte sich sehr müde. Sein ganzer Körper schmerzte. Er fühlte sich, als sei sein Geist lange umhergewandert und habe jetzt alle Kraft verloren. Dennoch war er sich noch seiner selbst bewusst. Irgendwie existierte er immer noch in der einsamen Leere, die er ausfüllte. Er war sich nur der Schmerzen und seiner eigenen Erinnerungen bewusst, aber immerhin hatte er ein Bewusstsein von ihnen. Daran konnte er sich klammern. Er war kaum zu
diesem Schluss gekommen, als er spürte, wie die Messer wieder zu schneiden anfingen und er in die lange Dunkelheit des Vergessens fiel. *** Ein Gewicht wie das einer ganzen Insel lag auf ihm, erstickte ihn. Er konnte nicht atmen und empfand zum ersten Mal überhaupt einen Luftmangel. Er war sich seiner Gliedmaßen bewusst, aber sie schienen zu schwer zu sein, um sie zu bewegen. Er spürte seine Augenlider, konnte sie aber nicht öffnen. Er hatte den Eindruck, dass jemand irgendwo, sehr weit entfernt, seinen Namen rief. Konnten es die Toten sein?, fragte er sich, wobei er bereits wusste, dass sie es nicht waren. Er zwang sich, bei Bewusstsein zu bleiben. Er versuchte, die Augen zu öffnen. Es war, als ringe er mit einer unendlichen Last. Er wusste jetzt, wie Russ sich gefühlt haben musste, als er es mit der gewaltigen Kraft der Mittweltschlange aufgenommen hatte. Das Vorhaben schien seine Kräfte zu übersteigen und doch gestattete er sich nicht aufzugeben. Er konzentrierte seine gesamte Willenskraft darauf, die Augen zu öffnen. Sie widersetzten sich ihm so nachhaltig, wie die Erde des Grabes sich den Bemühungen eines lebendig Begrabenen widersetzen mochte. Er hörte nicht auf, es zu versuchen, wollte sich nicht gestatten aufzugeben. Er zwang sich weiterzumachen. Schmerzen stachen durch alle seine Gliedmaßen, doch er ließ sich von ihnen nicht ablenken. War das Schweiß, was ihm über die Stirn lief? Er wusste es nicht, denn er konnte die Hand nicht heben, um ihn abzuwischen. Er konnte nur alle Kraft seines Lebens in den Versuch legen, die Augen zu öffnen. Für einen Mann, der so wie er in einer derart gewaltigen Schlacht
gekämpft hatte, hätte dies eine triviale Aufgabe sein müssen, aber das war es nicht. Es war das Schwerste, was er je unternommen hatte. Er brachte sich dazu, an seine Eltern und Freunde zu denken. Wenn er es schaffte, die Augen zu öffnen, konnte er sie wiedersehen. Er würde in das Land der Toten schauen. Der Gedanke war beängstigend, aber was konnte er sonst tun? Er war nun dort. Früher oder später würde er sich dem stellen müssen, und er war kein Feigling. Er kannte sich gut genug, um zu wissen, dass dies stimmte. Warum war er dann so widerwillig? Warum verspürte er diese sonderbare Angst in der Magengrube? Fürchtete er sich vor dem Blick auf das Unbekannte, oder fürchtete er sich davor, jene wiederzusehen, die er einmal geliebt hatte, und ihnen gegenübertreten zu müssen? Er zwang sich fortzufahren und wurde mit einem Schimmer von Licht belohnt. Plötzlich wurde die Dunkelheit von einem blau-weißen Blitz zerteilt. Das hatte er überhaupt nicht erwartet. Er zwang sich, es weiterhin zu versuchen, die Augen ganz zu öffnen, und langsam dämmerte ihm, dass er in einen Himmel starrte, der genauso wie der von Fenris war. Die Nachwelt war wahrhaftig nicht, was man ihn glauben gemacht hatte. Er kam sich ein wenig betrogen vor. Als sei das Erblicken des Himmels ein Signal, überfluteten andere Wahrnehmungen sein Gehirn. Er wurde des Geruchs der Erde gewahr, des Gesangs der Vögel, des entfernten Tosens einer Brandung. Dann folgten der bittere Geruch nach Asche, rauchiger Brandgeruch und der bittersüße Gestank nach Menschenfleisch auf Scheiterhaufen. Unter ihm war etwas Weiches. Er spürte Gras zwischen seinen Fingern, als sie sich in feuchtes Erdreich bohrten. Er registrierte Schmerzen und ein merkwürdiges Gefühl der Taubheit, das sich dazwischen schob, so ähnlich, wie das Bier
ihn von der Welt entfernt hatte, nur dass diese Taubheit tausendmal stärker war als Alkohol. Ein großer grauhaariger Kopf schob sich in sein Blickfeld. Kalte blaue Augen wie Splitter vom Himmelsgewölbe starrten ihn an. Er erkannte das zerfurchte, abgespannte Gesicht. Es gehörte Ranek, dem Wolfpriester, dem Erwähler der Gefallenen. »Also seid Ihr mir hierher gefolgt«, wollte er sagen, aber aus seinem Mund kam nur ein unverständliches Gurgeln. »Nicht sprechen, Junge«, sagte Ranek. »Du hast einen langen Weg hinter dir. Es ist eine gewaltige Reise zurück aus dem Land der Toten in das Land der Lebenden, und es ist keine Reise, die vielen vergönnt ist. Spar deine Kraft. Du wirst sie noch brauchen.« In einer Sprache, die Ragnar nicht kannte, sagte er etwas zu jemandem, der außerhalb seines Gesichtsfelds stand. Ragnar spürte einen stechenden Schmerz im Arm, dann ergoss sich etwas so kalt wie ein Gletscherbach in seine Adern, und das Bewusstsein verließ ihn. *** Diesmal erwachte er schlagartig und war sich augenblicklich der Sonne auf seinem Gesicht und dem Streicheln der Finger des Windes auf der Wange bewusst. Er fühlte sich ausgeruht und hatte kaum Schmerzen. Er versuchte sich aufzurichten. Es war eine gewaltige Anstrengung, aber er schaffte es. Er sah, dass er nackt war. Instinktiv hob er die Finger, um die Stelle zu berühren, wo Strybjörns Axt sich in seine Brust gebohrt hatte. Zu seiner Überraschung fand er nur eine winzige Narbe und eine empfindliche Stelle vor, die ihm beim Betasten Schmerzen
bereitete. Ein Blick nach unten zeigte ihm eine frische rosafarbene Narbe und einen gelblichen Fleck, der wie eine ältere Prellung aussah. Auf seiner Brust waren noch viele andere Narben und Blutergüsse, und er bezweifelte nicht, dass sein Rücken genauso aussah. Was ging hier vor? Er sah, dass er nahe bei dem riesigen Luftschiff lag. Als er sich umschaute, konnte er etwas ausmachen, das wie die Überreste eines verbrannten Dorfs aussah. Es war seltsam: die Nachwelt hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit der wirklichen Welt. Nur einige Dinge stimmten nicht ganz. Wo sich das Dorf der Donnerfäuste hätte befinden müssen, stand eine Ansammlung von Ruinen. Das Dach des eingestürzten Langhauses schwelte noch immer. Am Strand brannten Scheiterhaufen. Gruppen von Frauen und Kindern wurden in Drachenschiffe getrieben, die auf den Wellen tanzten. Langsam dämmerte es Ragnar, dass er sich vielleicht tatsächlich in der Welt der Lebenden aufhielt. Er erinnerte sich an die große Schlacht mit den Grimmschädeln und an die Brände, die gewütet hatten. Nach solch einer Schlacht würde sein Heimatdorf in der Tat so aussahen, so viel war sicher. Oder vielleicht war dies auch eine neue und unbekannte Hölle, die Dämonen heraufbeschworen hatten. Vielleicht war es ein Ort, der ihm die Niederlage der Donnerfäuste vor Augen führen sollte. Düster genug war die Szenerie jedenfalls. Er hörte gewichtige Schritte auf dem Boden hinter sich und erblickte Ranek, als er sich umdrehte. Der alte Wolfpriester betrachtete ihn mit wissendem Blick. »Du weilst wieder unter den Lebenden, Junge«, sagte er. Es war keine Frage. »Tue ich das? Seid Ihr nicht einer der Erwähler der Erschlagenen?« Das dröhnende Gelächter des alten Mannes hallte durch die
Ruinen. Mehrere Gestalten drehten sich erschrocken zu ihm um. »Immer Fragen, was? Du hast dich nicht verändert, Junge.« »Ich bin kein Junge mehr. Vor ein paar Tagen habe ich die Robe der Mannbarkeit erworben.« »Und was das für Tage waren, wie? Nun, du hast dich auf dem Schlachtfeld ausgezeichnet, das muss ich dir lassen. Du bist ein Kämpfer, Junge. So ein Gemetzel habe ich seit Bereks Zeiten nicht mehr erlebt und die ... na ja, die sind schon sehr lange her.« »Also seid Ihr tatsächlich ein Erwähler?« »Ja, Junge, das bin ich. Aber nicht so, wie du glaubst.« »Wie dann? Entweder seid Ihr ein Erwähler oder nicht.« »Eines Tages wirst du es verstehen, falls du überlebst. Das Universum ist nicht annähernd so einfach, wie du glaubst. Das wirst du schon sehr bald herausfinden.« »Wenn ich überlebe?« Ragnar schaute staunend auf die Stelle, wo sich eine klaffende Axtwunde hätte befinden müssen. »Aber ich ...« »... war doch schon tot? Wolltest du das sagen? Ja, das warst du. Dein Herz hatte aufgehört zu schlagen, und du hattest viel Blut verloren. Dein Körper hat viel Schaden genommen, aber nicht genug. Unser Heiler ist zu dir gelangt, bevor der Hirntod bei dir eintrat, und es überstieg nicht unsere ... Magie, dein Leiden zu kurieren.« Ragnar war sicher, dass Ranek ein anderes Wort gemurmelt hatte, bevor er »Magie« sagte, aber dieses Wort hatte er noch nie zuvor gehört und es ergab keinen Sinn, aber das musste man von Zauberern auch erwarten. Sie sprachen in Rätseln und Unsinn. Dennoch erfüllten seine Worte Ragnar mit Hoffnung. »Ihr könnt die Toten zurückholen? Dann ist mein Vater ...« »Deinem Vater kann niemand mehr helfen, Junge«, sagte
Ranek. Er deutete zu den Scheiterhaufen. »Warum habt Ihr ihm nicht geholfen, wenn Ihr mir geholfen habt? Ihr hättet es tun können.« Ragnar schämte sich, dass seine Stimme nicht völlig gemessen klang, sondern ein wehleidiger Unterton darin lag. »Er hatte sich unserer Hilfe nicht würdig erwiesen. Du hingegen bist auserwählt worden, Junge.« »Auserwählt wofür?« »Das wirst du noch früh genug erfahren, falls das deine Bestimmung ist.« »Das sagt Ihr ständig.« »Ich sage das ständig, weil es stimmt.« Der alte Mann bleckte die Zähne zu jenem beunruhigenden Lächeln. »Jetzt gehörst du zu den Wölfen. Mit Leib und Seele!« *** Ragnar erhob sich unsicher wie ein Neugeborenes. Er versuchte einen Fuß vor den anderen zu setzen, stellte aber fest, dass er schwankte und torkelte. Sogleich verlor er das Gleichgewicht und ging mit schmerzhafter Wucht zu Boden. Er ließ sich davon nicht aufhalten. Mit beiden Händen stieß er sich vom Boden ab und erhob sich wieder. Diesmal gelangen ihm ein paar Schritte, und bevor er erneut stürzte, hielt er inne und blieb schwankend stehen. Ihm war ein wenig übel. Sein Magen spielte verrückt. Er fühlte sich schrecklich, aber auch unendlich erleichtert. Er war nicht tot. Er weilte unter den Lebenden. Welche mysteriösen Gründe sie dafür auch haben mochten, Ranek und seine Kameraden hatten beschlossen, ihn zu retten. Es hatte in der Tat den Anschein, als hätten sie ihn auf irgendeine Weise
auserwählt. Zwar war es nicht so gewesen wie in den Heldengeschichten, die er kannte, aber man hatte ihn dennoch ausgesucht. Sie waren in der Tat mächtige Zauberer. Sie hatten seine Wunden geheilt und ihn von den Toten zurückgeholt. Oder etwa nicht? Handelte es sich vielleicht um irgendeine schlimme Zauberei, wie sie angeblich von den Meerdämonen ausgeübt wurde? Hatten sie seine Seele unter Anwendung finsterster Zauberei an seine Leiche gebunden? Würde sein Körper bald in den Zustand der Verwesung übergehen? Er wandte sich zu dem Wolfpriester um. »Bin ich tot?«, fragte er. Es war eine wahnsinnige Frage, das wusste er, aber Ranek betrachtete ihn mit einer Miene, die Verständnis und vielleicht sogar Mitgefühl auszudrücken schien. »Soweit es diese Leute betrifft, bist du es, Junge. Du gehörst zu den Erschlagenen. Du wirst diesen Ort verlassen und niemals zurückkehren. Dein Schicksal liegt jetzt anderswo, im endlosen Eis und vielleicht in den Sternen.« Ragnar glaubte Ana zu sehen, wie sie gerade auf eines der Drachenschiffe gestoßen wurde. Plötzlich wusste er ohne den geringsten Schatten eines Zweifels, dass er zu ihr musste. Er setzte sich schwankend wie ein Betrunkener in Richtung Strand in Bewegung. Er rechnete damit, dass Ranek ihn aufhalten würde, doch der Wolfpriester ließ ihn gehen. Ragnar hatte keine Ahnung, wie lange er brauchte, um den Strand zu erreichen. Er wusste nur, dass er so schwer keuchte wie nach einem zwanzig Meilen langen Lauf durch den Sand, als er dort angelangt war. Er sah, wie die GrimmschädelKrieger sich alle umdrehten und ihn ansahen. Auf ihren Gesichtern lag Staunen und Entsetzen. Sie beschrieben das Zeichen von Russ, um dann weiter ins Meer zu waten und ihre Schiffe zu besteigen.
Ragnar wollte ihnen folgen, aber die Wellen schlugen ihm entgegen und er strauchelte. Das Wasser überspülte ihn und drang in seine Lunge. Er erhob sich und fing an zu husten. Er versuchte sich wieder in Bewegung zu setzen, aber eine starke Hand schloss sich um seine Schulter. Er fuhr herum und schlug zu. Schmerzen zuckten durch seinen Arm, und es fühlte sich an, als habe er sich die Finger gebrochen. »Ceramit ist nacktem Fleisch gegenüber unnachgiebig, Junge«, sagte Ranek, während er ihn trotz seiner Gegenwehr so mühelos hochhob, als sei er ein Welpe. »Du brichst dir nur die Hände, wenn du so weitermachst.« Vom Wasser hallten Trommeln herüber, und Ruderblätter klatschten ins Wasser. Die Drachenschiffe entfernten sich vom Ufer. »Wohin fahren sie?« »Sie kehren mit ihren neuen Leibeigenen nach Hause zurück, Junge. Jetzt werden sie sich hier nicht mehr niederlassen. Nach dieser Schlacht werden sie glauben, dass es auf dieser Insel spukt. Deine Wiederauferstehung wird diesem Standpunkt nur zusätzliche Glaubwürdigkeit verleihen. In kurzer Zeit wird diese Insel ein heiliger Ort sein, daran habe ich keinen Zweifel. Und dann werden sie alles vergessen. Menschen vergessen immer.« Ragnar sah den über die Wellen gleitenden Schiffen hinterher, und er fragte sich, ob die schmächtige Gestalt, die ihm zuzuwinken schien, Ana war. Das ließ sich jetzt nicht mit Bestimmtheit sagen, und er bezweifelte, dass er es je herausfinden würde. Ranek ließ ihn herunter, und er winkte dennoch zurück, wobei er sich fragte, ob die salzige Nässe in seinen Augen Tränen oder lediglich Meeresgischt war. ***
Ragnar kehrte schwankend zu dem Hügel zurück, auf dem das Luftschiff lag. Er versuchte sich das Dorf einzuprägen, denn er glaubte Raneks Worten, niemand werde jemals wieder hierher kommen. Er ging an der zerstörten Hütte unweit des eingestürzten Langhauses vorbei, die Ullis Heim gewesen war. Ulli war jetzt tot, das wusste er. Er musste mit seinem Vater in der Schlacht gestorben sein und war nicht auserwählt worden. Es kam ihm unmöglich vor, dass er Ulli nie wiedersehen würde, aber es war so. Den Freund, mit dem er in seiner ganzen Kindheit gespielt hatte, gab es nicht mehr. Es gab niemanden mehr. Ragnar konnte sich noch erinnern, wie er hier auf diesem Boden Fangen, Tretball und Held-und-Ungeheuer gespielt hatte. Wenn er angestrengt lauschte, glaubte er die Phantomstimmen jener spielenden Kinder zu hören, aber natürlich war das Unsinn. All das war jetzt Vergangenheit, vergangen und vorbei, und würde nie zurückkehren. Es war so kalt wie die Asche der ausgebrannten Hütte. Ragnar kam an der Stelle vorbei, wo sein Vater gefallen war, und er schob den Gedanken weit von sich. Später war noch genug Zeit, sich damit zu befassen. Wenn er zuließ, dass die Vorstellung sein Denken auch nur berührte, würden ihn Kummer und Zorn ganz gewiss verschlingen. Er mied ausdrücklich die Stelle, wo die Hütte seines Vaters gestanden hatte, das einzige Heim, an das er sich erinnern konnte, wenn er vom Deck der Speer von Russ absah. Seine Schritte führten ihn zum Rand des Dorfs. Es war ein Fehler gewesen, durch die Ruinen zu wandern. Die Erinnerung daran und das Entsetzen waren noch zu frisch, um sich dem zu stellen. Er wollte nur noch weg. So schnell er konnte, marschierte er zum Luftschiff der Erwähler.
*** Als er sich dem Schiff näherte, fiel Ragnars Blick auf eine am Boden liegende Gestalt. Sie lag auf einer Bahre aus Metall, und alle möglichen durchsichtigen Röhrchen bohrten sich in ihre Haut. Die Röhren endeten in einem Gerät, das wie eine große Spinne auf der Brust des jungen Mannes lag. Flüssigkeiten durchströmten sie. Seltsame Runen leuchteten in grellem Rot und Grün. Als Ragnar näher kam, sah er, dass es sich um Strybjörn handelte, um den Grimmschädel, mit dem er gekämpft hatte. Allem Anschein nach wirkten die Erwähler ihre Magie auch an ihm, und langsam dämmerte Ragnar die Erkenntnis, dass dies nur eines bedeuten konnte: Strybjörn war ebenfalls erwählt worden. Hass und kalte Wut tobten jäh in Ragnars Eingeweiden. Anscheinend war der Feind, den er getötet zu haben glaubte, seinem Verhängnis entronnen. Als er daran dachte, wie der Grimmschädel seine Sippschaft niedergemetzelt hatte, und als er sich an seine hasserfüllte Miene zu Beginn ihres Kampfes erinnerte, fragte Ragnar sich, ob die Götter ihn verspotteten, indem sie seinen Feind verschonten, wie sie ihn verschont hatten. Ohne nachzudenken, bückte er sich und hob einen großen Stein auf. Er hatte die Absicht, Strybjörn den Schädel einzuschlagen und das seltsame Gerät auf seiner Brust zu zerstören. Er wusste nicht, ob es funktionieren würde. Vielleicht würden ihn die Erwähler noch einmal von den Toten zurückholen. Vielleicht war ihre Magie so mächtig. Ragnar wusste es nicht, hatte aber die Absicht, es herauszufinden. Als er sich der reglosen Gestalt Strybjörns näherte, hatte er nichts anderes als Mord im Sinn. Er betrachtete sein Opfer. Strybjörn sah trotz seines Zustands
noch grimmig aus. Sein riesiger Kiefer und die vorspringende Stirn ließen ihn wie einen Wilden aussehen. Ragnar spürte, wie ihn eine schreckliche, ekelhafte Freude überkam, als er den Stein hob. In diesem Augenblick kümmerte es ihn nicht, was die Erwähler denken mochten. Ihn kümmerte nicht, dass er dem Willen der Götter trotzen mochte. Ihn kümmerte nur seine Rache. Und er hatte die Absicht, sie zu nehmen. Ein Hochgefühl überkam ihn, als er den Arm herabsausen ließ. Er grinste in freudiger Erwartung des Augenblicks, wenn der Stein Strybjörns Kopf treffen und ihn zu Brei schlagen würde. Der Augenblick kam nie. Stahlharte Finger schlossen sich um seinen Arm und hielten ihn fest. Ragnars Versuche, sich zu bewegen, waren so vergeblich, als habe er gerade versucht, einen Berg zu heben. »Bei Russ, Junge, du bist wahrhaftig ein Wilder«, sagte Ranek. »Der geborene Schlächter. Aber der hier ist nicht für dich. Er ist auserwählt worden, und du darfst ihn nicht töten.« »Ich werde ihn sterben sehen«, sagte Ragnar mit einer schrecklichen Ernsthaftigkeit. »Wohin du gehst, Junge, könnte dies tatsächlich geschehen. Andererseits ist es genauso gut möglich, dass er dein Ende erlebt.« »Wie meint Ihr das?« »Das wirst du noch früh genug herausfinden. Jetzt geh! Steig in den Thunderhawk!« Der alte Mann zeigte auf das fliegende Schiff. Mit einem Gefühl großer Beklommenheit stieg Ragnar ein. *** Das Innere des Luftschiffs sah so aus, wie Ragnar es sich niemals hätte vorstellen können. Der Boden war vollständig
aus Metall. Die Wände ebenfalls, wenn man von kleinen kreisrunden Fenstern absah, durch die man nach draußen schauen konnte. Der Sitz, auf den er geschnallt war, bestand aus einem merkwürdig muffigen Leder. Unbekannte Runen flackerten über Leisten unweit seines Kopfes. Seltsam tosende Geräusche ließen das ganze Gefährt erbeben, da es sich mühte, sich in die Luft zu erheben. Ragnar zappelte unruhig hin und her. Die neue Kleidung, die er von den Wolfpriestern bekommen hatte, fühlte sich komisch an. Es handelte sich um eine einteilige graue Tunika, die sich wie eine zweite Haut an seinen Körper schmiegte. Über dem Herzen prangte das Abbild eines Wolfskopfes, das Zeichen von Russ. Das Kleidungsstück hüllte ihn mit Ausnahme des Kopfes vollständig ein. Es bestand aus einem Stoff, wie Ragnar noch nie einen gesehen hatte. Er dehnte sich, damit er passte, aber er war leicht, und man konnte darin atmen. Der Stoff klebte nicht auf der Haut, sondern fühlte sich nur mäßig warm an. Ragnar hatte das Gefühl, durch einen Schneesturm wandern zu können, ohne die Kälte zu spüren, was seltsam war, denn der Stoff war nicht dicker als feinstes Kalbsleder. Plötzlich erzitterte das ganze Gefährt. Das Tosen schwoll an und wurde schriller. Er wurde in den Sitz gepresst. Als er aus dem Fenster schaute, überkam ihn Übelkeit, da er sah, wie das Land unter ihm wegkippte. Es war unnatürlich, dies zu beobachten, da das Luftschiff den Fängen der Schwerkraft entkam und in den Himmel sprang. Alles wurde kleiner. Er sah die Ruinen des Dorfs unter sich liegen wie Kinderspielzeuge und den Strand, der sich um die Insel zog. Langsam erhoben sie sich über die Hügelkuppen, dann setzte die Vorwärtsbewegung ein. Als er seine Aufmerksamkeit auf das Innere des Luftschiffs richtete, sah Ragnar, dass sich der Boden geneigt hatte. Der Bug des Schiffs zeigte nun steil aufwärts. Er schaute aus dem Fenster und sah, dass sie nun in die Höhe flogen und seine
Heimatinsel bereits in der Ferne schrumpfte. Auf dem Meer erblickte er die Schiffe der Grimmschädel-Flotte, die durch die Wellen pflügten, und dachte an die Leute, die er kannte und die an Bord waren. Dann sammelte sich grauer Nebel um das Luftschiff, das zu zittern anfing. Furcht griff nach Ragnar, als er sich fragte, ob die Winddämonen sie aus der Luft pflücken würden oder sie sich in den Klauen einer bösen Magie befanden. Dann dämmerte ihm langsam, dass sie durch die Wolken flogen. Kaum war ihm dieser Gedanke gekommen, als sie in strahlendes Sonnenlicht getaucht wurden und das Zittern aufhörte. Unter sich konnte Ragnar einen endlosen weißen Ozean sehen, der stellenweise mit Blau durchsetzt war. Ihm ging auf, dass er von oben auf die Wolken schaute und sich ihm ein Anblick bot, wie er nur wenigen Sterblichen vergönnt war. Für einen Moment empfand er Staunen und Dankbarkeit. Das Luftschiff stieg weiter. Ragnar wurde immer noch in seinen Sitz gepresst. Er hatte das Gefühl, von einer gigantischen Faust zerdrückt zu werden. Er warf einen Blick auf die anderen und sah, dass das Fleisch auf Ragnars Wangen wie von unsichtbaren Fingern zurückgeschoben wurde. Welche neue Zauberei war dies?, fragte er sich zu erstaunt, um sich zu fürchten. Was es auch war, es schien den alten Mann nicht zu beunruhigen, denn er grinste nur und zeigte Ragnar den erhobenen Daumen. Ein neuerlicher Blick durch das Fenster zeigte Ragnar Dunkelheit und Sterne. Unter ihnen war eine gigantische Halbkugel zu sehen, die so groß war, dass ihre Wölbung fast das ganze Blickfeld ausfüllte. Sie war hauptsächlich blau und weiß, aber hier und da waren auch grüne Sprenkel zu sehen. Ragnar kam der Gedanke, dass er vielleicht die Weltkugel sah und das Blaue das Meer, das Weiße die Wolken und das Grüne das Land war.
Der Druck auf seiner Brust verschwand mit erstaunlicher Plötzlichkeit, und er spürte, wie er sich langsam von seinem Sitz löste. Er hatte den Eindruck, nur noch von den Gurten gehalten zu werden. Er hatte das Gefühl, als habe sein Körper kein Gewicht mehr, eine absonderliche und nicht unangenehme Empfindung. Der Schiffslärm hatte sich gelegt, und die Stille war beinahe unheimlich. Plötzlich kehrte sein Körpergewicht zurück. Die Nase des Luftschiffs neigte sich abwärts, und die Weltkugel wuchs, bis sie sein gesamtes Blickfeld ausfüllte. Wiederum fing das Schiff an zu zittern. Als er aus dem Fenster schaute, sah Ragnar, dass die Flügelspitzen kirschrot glühten wie Kohlen in einem Feuer. Eine Welle des Entsetzens überflutete ihn. Stand das ganze Schiff kurz davor, von magischen Flammen verzehrt zu werden? Waren die Luftdämonen erzürnt? Er riskierte einen weiteren Blick auf Ranek. Der Wolfpriester hatte die Augen geschlossen und machte einen vollkommen gelassenen Eindruck. Ragnar rang einen langen Moment um seine Beherrschung, dann beschloss er, sich keine Sorgen zu machen. Vielleicht waren die flammenden Flügelspitzen lediglich Teil des Zaubers, der das Schiff in der Schwebe hielt. All das überstieg sein Begriffsvermögen. Jedenfalls schien Ranek nicht im Geringsten beunruhigt zu sein. Solange niemand anders Besorgnis erkennen ließ, brauchte er sich wohl auch keine Sorgen zu machen. Das Luftschiff bebte noch lange Minuten. In gewisser Weise wurde Ragnar an eine Schlittenfahrt mitten im Winter erinnert. Dann erwachte das Luftschiff tosend zum Leben. Ragnar hatte den Eindruck, dass gewaltige Kräfte entfesselt wurden. Der Druck auf Ragnars Brust stellte sich wieder ein, als das Gefährt abbremste. Die Sterne verschwanden. Die Farbe des Himmels wechselte von Tiefschwarz über Dunkelviolett zu Dunkelblau und Blau.
Die Wolken hoben sich ihnen entgegen, und sie stürzten erneut in die neblige Leere. Das ganze Vehikel kippte wie ein Schiff, wenn es seitwärts von einer Welle erwischt wurde, dann richtete es sich aus, und Ragnar erblickte zum ersten Mal das Land unter ihnen. Es war gewaltig: eine zerklüftete Landschaft aus Felsen und Bergen, aus Flechten und Schnee. Der Horizont schien weit entfernt zu sein. Gewaltige Gletscher zogen sich durch die Gipfel. In der ganzen Weite war keine Spur von Leben zu sehen. Alles wirkte so tot und fremdartig wie die Oberfläche des Mondes. Das Luftschiff raste weiter über die trostlose, endlose Weite, die anders war als alles, was er bisher gesehen hatte. »Asaheim«, hörte er Ranek murmeln. Das Land der Götter, dachte Ragnar und fragte sich, was ihn dort erwartete.
6
DIE AUSERWÄHLTEN »Ihr seid alle auserwählt worden«, verkündete Ranek, der vom Rednerstein auf die Neuankömmlinge herabblickte. Der gewaltige Steinbrocken ragte wie ein Fangzahn in die Höhe. Ein Teil der Spitze war weggemeißelt worden, um ein Podium zu schaffen. Der gesamte Fels war behauen, so dass der dem Publikum zugewandte Teil wie der Kopf eines knurrenden Wolfs aussah. »Und jetzt fragt ihr euch alle, warum.« Ragnar starrte an Ranek vorbei auf die weit entfernten Berge und schauderte. Ja, das fragte er sich in der Tat. Er warf einen Blick auf die anderen. Ihren Mienen konnte er entnehmen, dass sie alle dasselbe dachten. Ihre Blicke klebten mit beinah fanatischer Intensität an dem alten Wolfpriester. Außer ihm selbst waren vielleicht drei Dutzend andere anwesend. Sie hatten sich beim ersten Licht des Tages auf dem ebenen Gelände am Rande des Dorfs versammelt, um die Rede des Wolfpriesters zu hören. Ein jeder trug die seltsame Tunika, die Ragnar im Luftschiff angehabt hatte, und die vielen Schrammen und Narben auf den Gesichtern und Händen der anderen verrieten Ragnar, dass sie einer ähnlichen Heilung unterzogen worden waren. Ragnar schauderte. Es war kalt, und sein Atem bildete Wolken vor seinem Mund. Ihm fiel eine seltsame Eigenschaft auf, die das Licht hier in den Bergen hatte. Alles wirkte heller, und die Luft kam ihm unnatürlich dünn und klar vor. Er hatte das Gefühl, viel weiter sehen zu können als früher auf den Inseln. »Ihr alle seid von mir oder einem anderen Wolfpriester auserwählt worden, weil wir die Möglichkeit sahen, dass ihr würdig sein könntet, euch uns anzuschließen. Ich betone das Wort >könntetSergeant< und >Sie< anreden. Sonst, bei Russ, werde ich euch jedes Glied einzeln ausreißen wie ein kleiner Junge, der Fliegen quält.« Ragnar starrte den Sprecher an und rang ein sofortiges Hassgefühl nieder. Sergeant Hakon war eine furchterregende Gestalt, aber in diesem Augenblick empfand Ragnar nichts als
blanken Hass. Hakon war groß und stark. Wie Ranek war er viel größer als ein normaler Mensch und wäre auch ohne die funkelnde Rüstung, die seinen Körper umhüllte, viel breiter gewesen. Wie Ranek hatte er lange Eckzähne, die sichtbar wurden, wenn er lächelte, was er oft und auf grausame Weise tat. Wie Ranek trug er viele kleine Talismane von offensichtlich mystischer Bedeutung. Er trug ein großes Schwert mit sägeartig gezähnter Schneide, eine mystische Waffe wie jene, mit der Ranek den Drachen getötet hatte, sowie verschiedene andere Ausrüstungsgegenstände. Weder die Rüstung noch die Fetische waren so kunstvoll wie diejenigen des Wolfpriesters, aber sie waren ganz offensichtlich von derselben Machart und mussten aus denselben Schmieden stammen. Ragnar fragte sich, wo diese Schmieden sein mochten. Er sah nicht die geringsten Anzeichen für Schmiedeöfen oder Essen, sondern lediglich das kleine befestigte Lager mit Hütten aus Holz und Stein, die ganz anders waren als die Hütten daheim. Oder vielmehr dort, wo er früher einmal daheim gewesen war, korrigierte er sich. Jetzt gab es keinen Ort mehr, wohin er zurückkehren konnte. »Ihr mögt glauben, dass ihr auserwählt wurdet. Aber das wurdet ihr nicht! Ihr seid auserwählt worden, zu beweisen, dass ihr würdig seid, zu den wahrhaft Auserwählten zu gehören. Wenn ich euch erbärmliche Kreaturen so ansehe, bezweifle ich, dass es auch nur einer von euch ist. Ich glaube, die Wolfpriester haben einen Fehler gemacht und mir einen Haufen dumme, unnütze Kinder geschickt. Was meint ihr?« Niemand war so dumm zu antworten. Hakons Stimme war harsch und guttural. Der Tonfall war beständig höhnisch und eine Beleidigung ihrer Männlichkeit. Im Dorf der Donnerfäuste hätte Hakon sich mit diesem Verhalten eine sofortige Herausforderung zum Duell eingehandelt. Hier schien er reden zu können, wie er wollte. Trotz seines Hasses bezweifelte
Ragnar, dass einer der Neuankömmlinge etwas dagegen tun konnte. Hakon war im Gegensatz zu ihnen bewaffnet und mochte Magie zur Anwendung bringen. »Keiner von euch hat Mumm in den Knochen, was?«, sagte Hakon. »Allesamt ohne Rückgrat, habe ich Recht? Wie ich vermutet habe. Kein einziger Mann unter euch.« »Du bist bewaffnet, und wir sind es nicht«, sagte eine Stimme, die, wie Ragnar zu seiner Überraschung erkannte, Strybjörn gehörte. Es entsetzte ihn, dass der Grimmschädel es wagte, das Wort zu ergreifen, wo alle anderen davor zurückscheuten. »Wie heißt du, Junge?« »Strybjörn Grimmschädel, und ich bin kein Junge. Ich habe das Mannbarkeitsritual hinter mir.« Strybjörns dicke, brutale Lippen verzogen sich verächtlich. Wut flammte in seinen kalten Augen auf. »Wohl eher Strybjörn Dickschädel. Bist du dumm, Junge?« »Nein.« Strybjörn trat einen Schritt vor, die Fäuste geballt. Die versammelten Anwärter stießen einen kollektiven Seufzer aus. Niemand konnte die Verwegenheit des Grimmschädels richtig glauben. »Warum glaubst du dann, ich würde Waffen brauchen, um mit einem unverschämten Welpen wie dir fertig zu werden?« »Ach, das würdest du nicht? Große Worte für einen Mann in Rüstung, der eine Klinge trägt. Ohne sie wärst du vielleicht weniger mutig.« Der Sergeant lächelte, als habe er gehofft, jemand würde genau das sagen. Er trat vor, bis er vor Strybjörn aufragte. Der Grimmschädel war groß und stark, aber Hakon war viel größer und massiger. Sein Lächeln enthüllte jene unheimlichen Eckzähne, Einander widersprechende Gefühle überschlugen sich in Ragnars Verstand. Es sah so aus, als habe der
Grimmschädel einen furchtbaren Fehler gemacht und als bestehe die Möglichkeit, dass Hakon ihn tötete. Ragnar nahm nicht so sehr Anstoß daran, dass der Grimmschädel getötet wurde, sondern vielmehr an der Tatsache, dass nicht er selbst ihn erledigen würde. Andererseits schien sich in diesem Augenblick nichts daran ändern zu lassen. Der Sergeant zog seine Klinge aus der Scheide und hob sie hoch. Strybjörn zuckte mit keiner Wimper. Ragnar musste zugeben, dass der Grimmschädel tapfer war - wenn auch ein Dummkopf. Hakon rammte die Klinge vor Strybjörn in den Boden, wo sie zitternd stecken blieb. Ragnar konnte erkennen, dass die Waffe seltsam und fremdartig aussah. Die Klinge war von kleinen gezähnten Klingen umgeben und schien einen komplizierten Mechanismus zu enthalten. »Heb's auf, Junge«, sagte der Sergeant. »Benutz es - wenn du kannst. Dann bist du bewaffnet und ich nicht.« Strybjörn sah Hakon einen Moment an. Er schien verwirrt und auch ein wenig erschocken zu sein. Dann leuchtete das Licht des Blutdursts in seinen Augen auf, und seine Lippen verzogen sich zu einem brutalen Grinsen. Er griff zu und packte das Heft der mächtigen Waffe. Er zog daran und erwartete offenbar, die Waffe ebenso mühelos hochheben zu können wie der Sergeant. Nichts dergleichen geschah. Die Klinge rührte sich nicht. Strybjörn packte sie mit beiden Händen. Die Muskein an seinem Hals traten hervor wie Schiffstaue. Seine Bizeps wölbten sich. Sein Gesicht lief rot an. Schließlich zog er mit großer Mühe die Waffe aus dem Boden. »Zu schwer für dich?«, höhnte Hakon. »Vielleicht hättest du gern etwas Leichteres? Ich hätte hier noch ein Messer.« Mit einem wütenden Aufbrüllen warf Strybjörn sich vorwärts und ließ die Klinge auf den ungeschützten Kopf des Sergeants herabsausen. Angesichts des Gewichts der Waffe und Strybjörns offensichtlicher Stärke und Schnelligkeit konnte
der Sergeant unmöglich überleben, wenn der Hieb traf. Und er schien in der Tat zu treffen. Die Klinge sauste in pfeifendem Bogen heran, und der Sergeant unternahm keinen Versuch, sie abzulenken oder auszuweichen. Und gerade in dem Augenblick, als es so schien, als werde ihm der Schädel gespalten, war Hakon plötzlich nicht mehr da. Er trat einfach zurück, und die Klinge fuhr durch die Luft, wo er noch vor weniger als einem Zehntel Herzschlag gestanden hatte. »Du benutzt die Klinge wie ein Mädchen, Junge. Du könntest nicht mal Holz spalten. Gib dir mehr Mühe!« Strybjörn brüllte und schwang die Klinge in Hüfthöhe. Sein Gesicht war rot und wutverzerrt. Offensichtlich gefiel es ihm nicht, verspottet zu werden. Ragnar prägte sich dies ein, da es sich später noch einmal als nützlich erweisen mochte, wenn der unvermeidliche Tag kam, an dem sich ihm die Gelegenheit bieten würde, seine Rache zu nehmen. Wieder wartete Hakon bis zum letzten Augenblick und sprang dann einfach hoch. Die Klinge fuhr unter ihm hindurch. Er landete leichtfüßig auf dem Boden, während es Strybjörn gerade noch gelang, das Gleichgewicht zu halten. »Du bist unbeholfen, Junge. Ich gebe dir noch eine letzte Chance, wenn du den Mut hast, sie zu ergreifen. Aber sei gewarnt, dass es schlimm für dich enden wird, wenn du scheiterst.« Diesmal zielte Strybjörn hoch, und der Schlag ging seitlich zum Kopf des Sergeants. Der Sergeant duckte sich und ließ den plumpen Schlag über sich hinwegzischen. Einen Moment lang stand er mit einem gemeinen Grinsen da und schlug dann zu. Obwohl Ragnar aufs Äußerste gespannt und die Aufmerksamkeit in Person war, ging alles fast zu schnell, um es verfolgen zu können. Hakon schlug mit einer Faust zu. Sie traf Strybjörns Kiefer mit entsetzlicher Wucht und lautem Krachen. Der Grimmschädel taumelte rückwärts und war schon
bewusstlos, bevor er zu Boden ging. Die Waffe fiel ihm aus der Hand. Hakon pflückte die sich überschlagende Waffe ohne sichtliche Anstrengung mit einer Hand aus der Luft und hielt sie dann in die Höhe. Er berührte einen Knopf am Heft, und plötzlich erwachte die Waffe zu magischem Leben. Die Klingen rings um die eigentliche Schneide bewegten sich rotierend und beschleunigten dabei so stark, dass sie unsichtbar wurden. Alle beobachteten entsetzt, wie Hakon die Klinge durch die Luft zischen ließ, während sie darauf warteten, was der Sergeant tun würde. Würde er Strybjörn enthaupten und seinen Kopf als Trophäe benutzen? Es schien nur allzu gut möglich. Die Erdbrocken, die noch daran hafteten, nachdem die Klinge im weichen Boden gesteckt hatte, spritzten in alle Richtungen davon. Nach einigen Augenblicken drückte Hakon abermals auf den Knopf, und die Klingen stellten mit einem nervenzerfetzenden Kreischen die Bewegung ein. Hakon vergewisserte sich, dass sie sauber waren, bevor er das Schwert zurück in die Scheide schob. Dann ging er zu Strybjörn und sah mit verächtlichem Blick auf ihn herab. Ragnar bemerkte, dass die Brust des Grimmschädels sich immer noch hob und senkte. Er wusste nicht, ob er sich freuen oder enttäuscht sein sollte. >»Dickschädel< war richtig«, sagte Hakon. »Dieser Schlag hätte jedem den Kopf gekostet, der nicht den Schädel eines Ochsen hat.« Die nervöse Spannung entlud sich explosionsartig, als alle Neuankömmlinge zu lachen anfingen. Zu seiner Überraschung hörte Ragnar sich selbst einfallen. Hakons finsterer Blick ließ sie rasch verstummen. »In ein paar Minuten wird euch allen das Lachen vergehen. Ihr zwei bringt ihn zum zweiten Langhaus und meldet euch dann bei den Schmiedeöfen. Der Rest folgt mir. Es wird Zeit, euch vernünftig auszurüsten.«
*** Die Neuankömmlinge folgten Sergeant Hakon durch das kleine Dorf. Sie überschritten den Graben, der um die Holzpalisade verlief, welche Russvik umgab, und gingen weiter durch das offene Tor. Mit Speeren bewaffnete Wachposten auf hölzernen Wachtürmen beiderseits des Eingangs starrten auf sie herab. Ragnar sah sich voller Überraschung die Gebäude an. Dies war die erste Gelegenheit, sie eingehend zu betrachten, und er erkannte jetzt, wie sehr sie sich von denjenigen unterschieden, in denen er aufgewachsen war. Das vorherrschende Baumaterial war nicht Drachenhaut und Drachenknochen, sondern Holz, Stein und Stroh. Einige der Gebäude waren Blockhäuser: schlichte, einfache Gebilde aus den Stämmen toter Bäume, deren Dächer mit Erde bedeckt waren. Andere bestanden aus übereinander gestapelten Steinen nach Art des Dammbaus auf den Inseln. Auch bei diesen waren die Dächer mit Erde gedeckt. Beide Sorten hatten ein Loch im Dach, das als Abzug für das Herdfeuer diente. Die Straßen waren eher verschlammte Wege. Schweine suhlten im Matsch, und Hühner flatterten gackernd um improvisierte Ställe herum. Die Anwesenheit dieser Haustiere sorgte für eine seltsam heimelige Atmosphäre. Sie erinnerten Ragnar ein wenig an sein Zuhause. Das galt jedoch nicht für die sonderbaren Schnitzereien an jeder Wegkreuzung. Sie waren aus Holz und stellten sämtlich Wölfe dar, die sich aufbäumten, Beute beschlichen, knurrten, sprangen. Alle Schnitzereien waren ausgezeichnete Arbeiten und auf eine seltsame Art sehr lebensecht. Ragnar hatte keine Ahnung, was die in sie geschnitzten Runen bedeuteten, war aber sicher, dass sie irgendeine mystische Bedeutung hatten.
Auf den Straßen wimmelte es von jungen Männern, die alle Waffen trugen und ihren Angelegenheiten mit einer Gelassenheit nachgingen, wie sie in Ragnars Gruppe niemand besaß. Sie betrachteten die Neuankömmlinge im Vorbeigehen mit einer Mischung aus Mitleid und Verachtung. Hier und da waren auch ältere Krieger zu sehen, die wie Hakon gekleidet waren. Diese wurden von allen, die ihnen begegneten, mit wachsamem Respekt behandelt. Einige aus Ragnars Gruppe betrachteten die Steingebäude mit ehrfürchtigem Staunen, welches Ragnar verriet, dass sie Inselbewohner waren wie er selbst, aber im Unterschied zu ihm niemals die Insel der Eisenmeister gesehen hatten. Alles war mehr als sonderbar. Russvik lag in einem langen Tal an einem dunkelblauen See. Zu beiden Seit erhoben sich Berge in Höhen, die Ragnar bisher unbekannt waren. Neben diesen Gipfeln schrumpfte all vom Menschen Geschaffene zur Bedeutungslosigkeit. Es war beinah so, als sei dieser Ort absichtlich gewählt worden, damit die Neuankömmlinge sich klein fühlte Vielleicht war das tatsächlich der Fall, erkannte Ragnar. Vielleicht war alles darauf angelegt, in ihnen ein Gefühl völliger Bedeutungslosigkeit zu wecken. Er hatte keine Ahnung, warum das so sein sollte, aber er sah ganz deutlich, dass und wie es möglich war. Der Ort, die Rede des Wolfpriesters, Hakons Art, all das blies ins gleiche Horn. Es sagte einem, dass man nicht zählte, dass man sich erst beweisen musste. Irgendwo tief in sich spürte Ragnar, wie sich ein winziger Funke der Auflehnung entzündete und aufloderte. Er wusste nicht, wogegen er sich auflehnen würde, aber er war ganz sicher, dass es dazu kommen würde, und dabei würde er auch den verhassten Strybjörn erledigen! Er sah sich um und versuchte Blickkontakt zu den anderen aufzunehmen. Nur einer erwiderte den Blick und lächelte. Alle
anderen schienen zu sehr in ihre eigenen Überlegungen vertieft zu sein. Ragnar war nicht überrascht. Es gab viel zum Nachdenken. Er hatte so viele neue Dinge gesehen, dass er kaum glauben konnte, dass seit seiner Ankunft erst ein Tag verstrichen war. Am Abend hatte er Ranek Rede und Antwort gestanden. Der Wolfpriester hatte jede Einzelheit in ein großes ledergebundenes Buch im Haupthaus eingetragen. Danach hatten ihn Leute, die Ranek als Eisenpriester bezeichnet hatte, einer eingehenden körperlichen Untersuchung unterzogen. Sie hatten viele merkwürdig aussehende Amulette gehabt, mit denen sie an ihm entlanggefahren waren, und seinen Körper so gründlich inspiziert, als suchten sie nach den Stigmata der Mutation. Wäre die Situation nicht so seltsam gewesen, hätte Ragnar sich beleidigt gefühlt. Unter den Donnerfäusten hatte es keine Mutanten gegeben. Jeder Säugling, der auch nur die geringsten Spuren der Male des Chaos aufwies, war gleich nach der Geburt ertränkt worden. Bis man ihm gestattet hatte zu gehen, war es längst dunkel gewesen. Man hatte ihn zu einem Langhaus geführt, das vollständig aus Holzbohlen bestand. Drinnen roch es nach Pinienharz. Bei seinem Eintreffen hatten die Anwesenden ein wenig gemurrt. Er hatte sich eine Strohmatte gesucht und sich darauf gelegt und war sofort eingeschlafen. Erst am Morgen hatte er seine Kameraden gesehen und bemerkt, dass sich auch Strybjörn unter ihnen befand. Er musste in das Langhaus gekommen sein, nachdem Ragnar eingeschlafen war. Welche Wunden er sich auch in der Schlacht eingehandelt hatte, die Heiler hatten sie mit ihrer Magie kuriert. Ragnar bekam immer noch eine Gänsehaut, wenn er daran dachte, dass er die ganze Nacht unter demselben Dach verbracht hatte wie sein eingeschworener Feind. Ein Feind, den er bereits getötet hatte! Ragnar spie voller Abscheu auf den Boden. Es war jedoch keine Zeit geblieben, deswegen etwas zu
unternehmen, denn zuvor war der Wolfpriester gekommen und hatte sie dorthin geführt, wo sie seiner Rede gelauscht und Sergeant Hakon kennen gelernt hatten. Es war nicht einmal die Zeit geblieben, sich einem der Fremden vorzustellen. Jetzt spürte Ragnar die Seltsamkeit ihrer Lage mehr denn je. Er war von Leuten umringt, die Dutzenden verschiedener Klans angehörten. Unter normalen Umständen wären sie alle seine Feinde gewesen, ausgenommen bei einer Begegnung auf einem der großen Feste. Hier war jedoch niemand bewaffnet, und in diesem Augenblick schien auch keiner von ihnen zu Feindseligkeiten zu neigen. Sergeant Hakon hatte ihnen viele andere Dinge zum Nachdenken gegeben. Außerdem hatte Ragnar den Eindruck, dass die meisten der anderen zu wissen schienen, wohin sie unterwegs waren. Jedenfalls hatten die beiden, die Strybjörn forttrugen, gewusst, wohin sie ihn zu bringen hatten. Dies verriet Ragnar, dass die meisten dieser junger Krieger sich zumindest schon so lange in diesem trostlosen Lager aufhielten, dass sie sich mit den Örtlichkeiten vertraut gemacht und eine Ahnung hatten, wovon Hakon redete. Er wusste, dass er hier ein Neuling war, und Ragnar kam zu dem Schluss, dass es einstweilen das Klügste war, den Mund geschlossen und die Augen offen zu halten. Sie erreichten eines der größten Holzhäuser in Russvik. Hakon ging hinein und kam nach wenigen Minuten mit einem Stapel Waffen heraus, um sofort mit dem Aufrufen von Namen zu beginnen. Bei jeder Namensnennung trat einer der Jungen vor, und dann drückte Hakon ihm einen Speer und einen Dolch in die Hand und befahl ihm, in Reih und Glied zurückzukehren. »Ragnar Donnerfaust!«, hörte Ragnar seinen Namen und trat vor. Der Sergeant ragte vor ihm auf. Bis hierher hatte Ragnar keine richtige Vorstellung davon gehabt, wie groß und massig Hakon tatsächlich war. Jetzt konnte er erkennen, dass der Sergeant der massigste Mann war, dem er je begegnet war, noch größer und breiter als Ranek. Seine Rüstung war mit
kleinen Mechanismen wie denjenigen bedeckt, von denen er annahm, dass sie die kleinen Klingen am Schwert des Sergeants zum Kreisen brachten. Ragnars Respekt vor Strybjörns Tapferkeit - und Torheit - steigerte sich noch um eine Winzigkeit. »Worauf starrst du, Junge?« »Auf Sie, Sergeant!« Hakons Schlag erfolgte blitzschnell, und doch sah Ragnar ihn irgendwie kommen. Er wich gerade so weit zurück, dass er dem Schlag die größte Wucht nahm. Dennoch reichte er aus, um ihn in den Staub zu schicken, aber er rollte sich ab und kam sofort wieder hoch. Er hatte das Gefühl, von einem Schmiedehammer getroffen worden zu sein, und vor seinen Augen tanzten Funken, aber wenigstens war er noch bei Bewusstsein. »Du hast gute Reflexe, Junge«, sagte der Sergeant und warf Ragnar den Speer und die Scheide mit dem Messer zu. Ragnar gelang es, die Waffen aufzufangen und sich dennoch auf den Beinen zu halten. Er sah, dass die anderen ihn mit einer Mischung aus Neid und Respekt betrachteten. Das erfüllte ihn mit einem Gefühl der Befriedigung. Die Scheide war aus Leder. Der stählerne Verschluss hatte die Form eines Wolfskopfes. Diese Zurschaustellung von Prunk verblüffte Ragnar. In seinem ganzen Leben hatte er solche Reichtümer erst ein Mal gesehen, und zwar auf der Insel der Eisenmeister. Bei den Inselklans war der kostbare Stahl ausschließlich Klingen, Speerspitzen und Werkzeugen vorbehalten. Ein wohlhabender Jarl besaß vielleicht einige wenige eiserne Armreifen als jederzeit verfügbare Wertgegenstände, aber das kam nur selten vor. Er zog die Klinge aus der geölten Lederscheide und begutachtete sie. Die Qualität war erlesen, die Schneide rasiermesserscharf. Der Knauf endete in einem kleinen Wolfskopf, der demjenigen auf dem Verschluss entsprach. Der Speerschaft bestand aus bestem Eschenholz. Die Spitze war dünn wie eine Nadel und wies
nicht die geringste Rostspur auf. Winzige Runen waren in den Schaft eingraviert. Die Waffe vermittelte den Eindruck ausgiebiger Verwendung. Ragnar sah plötzlich Generationen von Neuankömmlingen vor seinem geistigen Auge, welche diese Waffe schon vor ihm benutzt hatten. Er wusste nicht, ob ihm das eine Beruhigung war oder nicht. Hakon sprach erneut. »Das sind jetzt eure Waffen. Gebt auf sie Acht. Sie könnten euer wertloses Leben retten. Verliert sie auch nicht und kommt dann zu mir gelaufen. Ersatz gibt es nicht. Für den unwahrscheinlicher Fall, dass irgend jemand von euch die Zeit hier überlebt wird die Rückgabe der Waffen erwartet. Falls welche von euch sterben, wird von den Überlebenden erwartet dass sie die Waffen der Toten zurückbringen. Lasst die Leichen für die Krähen, wenn ihr wollt - aber bringt die Klingen zurück. Jetzt werde ich euch euren Klauen zuteilen. Eine Klaue ist die kleinste und grundlegendste Kampfeinheit. Alle Mitglieder einer Klaue üben zusammen, essen zusammen, jagen zusammen und sterben höchstwahrscheinlich zusammen. Wenn ich eure Namen aufrufe, tretet vor!« Hakon rief fünf Namen auf, die Ragnar nicht kannte. Fünf der Neuankömmlinge traten vor den Sergeant. Er bedeutete ihnen, zur Seite zu treten, und rief die nächsten fünf Namen auf. Ragnar fragte sich, ob sein Name dabei sein würde, doch das war nicht der Fall. Weitere fünf Namen wurden genannt, dann noch fünf. Ragnars Name war immer noch nicht gefallen. Kurz darauf waren nur noch er selbst und drei andere Jugendliche übrig. »Kjel Falkner, Sven Drachenfeuer, Strybjörn Grimmschädel, Ragnar Donnerfaust, Henk Winterwolf.« Ragnar betrachtete seine Kameraden. Er sah einen kleinen, verdrossen dreinschauenden Jugendlichen, der sehr breit und sehr stark aussah. Einen pausbäckigen Jungen, der jünger aussah als alle anderen Anwesenden und einen großen,
sommersprossigen blondhaarigen Burschen mit einem offenen, lächelnden Gesicht. Seine Laune verschlechterte sich, als ihm aufging, dass er derselben Gruppe zugeteilt war wie der Grimmschädel. Er erwog kurz zu protestieren, doch ein Blick auf Hakon verriet ihm, dass er sich damit keinen Gefallen tun würde. Dem boshaften Lächeln nach zu urteilen, das die Lippen des Sergeants umspielte, schien Hakon vielmehr ganz genau zu wissen, was er tat. Andererseits, dachte Ragnar, hatte diese Einteilung auch ihre Vorteile. Zumindest war der Grimmschädel in ständiger Reichweite für Ragnars Rache. Hakons bestürzendes Grinsen wurde breiter. »Seht euch um«, sagte er. »Seht euch eure Kameraden an. Prägt euch die Gesichter ein und schreibt Euch hinter die Ohren: Wenn ihr nicht etwas ganz Besonderes seid – und ich glaube nicht, dass einer von euch das ist -, wird mindestens die Hälfte von euch tot sein, wenn ihr hier fertig seid.« Ragnar spürte, wie es ihn kalt überlief. Die Worte des Sergeants klangen bestürzend wahr. *** Vor dem Langhaus heulte der Wind. Es schien so kalt zu sein wie im Innern einer Eishöhle. Die Anwärter lagen auf ihren Matten und sehnten sich nach einem Feuer. In einer Ecke gab es eine Feuerstelle, aber kein Holz. Die einzelnen Gruppen waren zusammen eingetroffen und hatten Matten nebeneinander bezogen. In Ragnars Gruppe gab es eine leere Matte, die für Strybjörn reserviert war. Ragnar lag auf dem Rücken, starrte an die Decke und dachte über die Ereignisse des Tages nach. Weitere Untersuchungen. Noch mehr Ansprachen von Hakon. Eine Vielzahl harter Übungen. Eine Mahlzeit aus Grütze, Rüben und etwas, das Schweineschmalz
ähnelte. »Der gute Hakon ist etwas grimmig, findest du nicht?«, sagte eine ruhige, freundliche Stimme. Ragnar wandte den Kopf, und sein Blick fiel auf den sommersprossigen Jungen, der sie alle angrinste. Seine Züge waren länglich, und er hatte eine kleine Stupsnase, die ihm ein freches und zugleich fröhliches Aussehen verlieh. Lange blonde Haare rahmten sein Gesicht ein. Er machte einen geradezu irrsinnig glücklichen Eindruck, wenn man die Umstände bedachte. Ragnar musste das Lächeln unwillkürlich erwidern. »Ja«, sagte Ragnar. »Etwas grimmig.« »Ich bin Kjel von den Falknern.« Kjel streckte freundschaftlich die Hand aus, und Ragnar schüttelte sie. »Ragnar von den ... Donnerfäusten.« »Du scheinst dir dessen nicht sehr sicher zu sein.« »Ich bin nicht sicher, ob es noch Donnerfäuste gibt«, sagte Ragnar nur. »Ach, so ist das.« »Ja.« »Ich nehme an, du wurdest nach der Schlacht auserwählt, in der dein Klan ... Schaden genommen hat.« »Ja.« »War es eine große Schlacht?« »Sie war grimmig und hart. Ich weiß nicht, ob ich sie groß nennen würde. Mein Dorf wurde niedergebrannt, und meine Verwandtschaft getötet. Mein Mädchen ...« »Ja?«, fragte Kjel. Er machte einen mitfühlenden Eindruck. »Ich weiß es nicht.« »Dann vergisst du sie besser«, sagte der vierschrötige, brutale Junge auf der nächsten Matte. Er lächelte, als gefalle es ihm, der Überbringer schlechter Nachrichten zu sein. Ragnar
sah, dass seine Zähne, groß, kantig und gleichmäßig waren. Seine Nase war gebrochen und nur unzureichend gerichtet worden. Seine rötlichen Haare waren auf eine für einen Inselbewohner ungewöhnliche Art geschnitten, nämlich kurz bis fast auf den Schädel. »Du wirst sie nie wiedersehen. Du wirst niemanden wiedersehen, den du einmal gekannt hast.« »Es gibt keinen Grund, deswegen so erfreut zu klingen«, sagte Ragnar. Der Jugendliche schüttelte den Kopf und ballte eine Faust. Doch es war keine drohende Geste, erkannte Ragnar, mehr ein Ausdruck der Verärgerung. »Bei Russ' eisernen Eiern, ich bin nicht erfreut deswegen! Ich bin über nichts von alledem erfreut. Ich hatte damit gerechnet, zu den Auserwählten zu gehören und in den Saal der Helden eingelassen zu werden. Und was habe ich bekommen? Den verfluchten Sergeant Hakon und seine verfluchte Ansprache darüber, wie verflucht nutzlos wir alle sind.« »Vielleicht solltest du diesen Punkt noch einmal zur Sprache bringen«, schlug Kjel mit einem Grinsen vor. »Vielleicht tue ich das sogar. Andererseits, nachdem ich gesehen habe, was mit Strybjörn und Ragnar passiert ist, lasse ich es vielleicht doch lieber. Jedenfalls so lange, bis ich weiß, was ihn so anders macht.« »Du glaubst, dass ihn etwas so gemacht hat?«, fragte Ragnar neugierig. »Du glaubst nicht ...« »Das habe ich nur hier im Lager gehört, aber anscheinend werden die Überlebenden dieser kleinen Gruppen zu irgendeinem uralten Tempel gebracht, wo Magie gegen sie gewirkt wird. Sie werden in Bestien oder in Menschen wie Hakon und Ranek verwandelt. Bei der Elfenbeinlosung des Eisbären, ich bin verflucht hungrig. Was glaubt ihr, wann werden sie uns etwas zu essen geben?« »Du hältst Hakon für einen Menschen?«, fragte das vierte Mitglied der Gruppe, derjenige, der zu jung aussah, um
überhaupt bei ihnen zu sein. Ragnar betrachtete ihn eingehender. Seine Züge waren fein, und er sah zierlich und intelligent aus, mehr wie ein Skalde denn wie ein Krieger. »Jedenfalls ist er kein Geist«, sagte Ragnar. »Jedenfalls nicht so, wie er mich heute geschlagen hat.« »Ich war ziemlich erstaunt, dass es dir fast gelungen wäre, ihm auszuweichen«, sagte der Jüngling. »Ich hätte nicht gedacht, dass das jemand schaffen könnte.« »Ragnar hat es auch nicht geschafft.« »Aber fast.« »Wer bist du, Sven Drachenfeuer oder Henk Winterwolf?«, fragte Ragnar. »Ich bin der verfluchte Sven«, sagte der Vierschrötige. »Und bei des Eisbären heiliger rechter Arschbacke, du hast ein gutes Gedächtnis.« »Ich bin Henk«, sagte der Jüngste und erhob sich, um allen die Hand zu schütteln. Ragnar ging ebenso darauf ein wie Kjel, doch Sven blieb mit unter dem Kopf verschränkten Händen liegen und starrte an die Decke. »Das würde bedeuten, der letzte in unserer verfluchten lustigen kleinen Truppe ist Strybjörn Grimmschädel«, sagte Sven. »Ja«, spie Ragnar förmlich. Selbst er war überrascht über den Hass in seiner Stimme. Svens graue Augen richteten sich sofort auf ihn. »Du magst ihn nicht, Ragnar, nicht wahr? Warum?« »Er gehörte zu dem Abschaum, der mein Dorf überfallen hat.« »Das ist nicht gut«, sagte Kjel. »Er müsste tot sein. Ich dachte, ich hätte ihn getötet«, sagte Ragnar.
»Dann hast du, verflucht noch mal, keine gute Arbeit geleistet«, sagte Sven. »Wenn man bedenkt, dass er lebendig ist und in der Gegend umherläuft - oder zumindest hat er das getan, bis der alte Hakon ihn ins Land der Träume befördert hat.« »Die Wolfpriester haben ihre Magie eingesetzt, um ihn zu heilen. Sie haben dasselbe für mich getan«, sagte Ragnar. »Ich glaube, das haben sie für uns alle getan.« Kjel öffnete seine Tunika und zeigte eine lange Narbe, die sich über Brust und Bauch zog. »Ich glaube nicht, dass jemand eine solche Wunde ohne Magie überlebt hätte.« »Wie bist du hierher gekommen?«, fragte Ragnar. »Es gab eine Schlacht«, sagte Kjel. »Ich glaube, das versteht sich, verflucht noch mal, von selbst«, höhnte Sven. Kjel warf ihm einen angewiderten Blick zu. »Ich gehörte zu einer Gruppe auf Beutezug am Fuß der großen Gletscher. Wir waren auf der Suche nach Schafen ...« »Schafe!«, krähte Sven. »Was wolltet ihr mit denen anfangen?« »In den Tälern wird der Wert eines Mannes an der Größe seiner Herden gemessen.« »Darauf wette ich, verflucht noch mal«, sagte Sven, und sein Tonfall war eine einzige Anspielung. »Jedenfalls gerieten wir bei Einbruch der Dunkelheit in einen Hinterhalt der Wolfsköpfe. Der Kampf war heftig und grimmig. Ich muss vielleicht fünf von den Wolfsköpfen getötet oder verwundet haben, bevor mich einer von ihnen mit dem Speer traf. Ich dachte schon, dass alles vorbei wäre, aber dann sah ich einen alten Mann auf dem Berghang, bevor mich die Dunkelheit verschlang. Als ich erwachte, stand der alte Mann neben mir, aber ich befand mich in einem fliegenden Schiff
und war auf dem Weg hierher. Was ist mit dir, Sven - welche große Heldentat hast du vollbracht, um auserwählt zu werden?« »Ich habe acht Männer im Zweikampf getötet.« »Acht? Alle auf einmal?« »Nein. Einen nach dem anderen, verflucht. Sie waren alle Brüder. Sie haben meinen Onkel getötet und sich geweigert, Weggeld zu bezahlen, also habe ich sie beim Allthingfest herausgefordert. Der Wolfpriester hat zugesehen, wie ich sie getötet habe, und mir dann gesagt, ich gehörte zu den Auserwählten.« »Du bist nicht verwundet worden? Du bist nicht ... gestorben?« »Acht Männer sind gestorben. Acht erwachsene Männer und Krieger. Sie sind gestorben, ich nicht. Ich habe nicht einen Kratzer abbekommen.« »Wahrhaftig, Sven, du musst ein mächtiger Krieger sein«, sagte Henk. »Wahrhaftig«, bemerkte Ragnar trocken. »Du glaubst mir nicht?«, sagte Sven plötzlich. Jähzorn flackerte in seinen Augen. »Ich habe nichts dergleichen gesagt«, antwortete Ragnar. »Schließlich bist du hier, oder nicht?« »Und dass du das, verflucht noch mal, ja nicht vergisst«, sagte Sven. »Was ist mit dir, Henk?«, fragte Kjel. Der Jüngling errötete und schien verlegen zu sein. »Ich habe mit einem Troll gekämpft«, sagte er, »und ihn mit dem Speer getötet. Er hatte meinen Onkel und all seine Brüder umgebracht und war bereits verwundet, also war es keine große Leistung.« »Der Wolfpriester muss es geglaubt haben.«
»Er hätte ihn wahrscheinlich mühelos getötet, wenn ich es nicht getan hätte.« »Warum war er da?«, fragte Sven. »Das weiß ich nicht. Vielleicht hat unser brennender Bauernhof seine Aufmerksamkeit erregt. Wer kann das sagen?« Ragnar sah den Jüngling erstaunt an. Er hatte sich der tödlichsten Bestie, die es auf Fenris gab, zum Kampf gestellt und sie getötet, nachdem sie seine Familie umgebracht hatte, und er redete darüber, als sei das gar nichts. Tatsächlich schien ihm die Anerkennung sogar peinlich zu sein. Ihren Geschichten nach zu urteilen, verdienten alle seine Kameraden Achtung. Vielleicht sogar der Grimmschädel. Eine Windbö heulte durch das Langhaus, und alle richteten den Blick auf die geöffnete Tür. Sergeant Hakon trat ein, die immer noch bewusstlose Gestalt Strybjörns auf der Schulter. Er stapfte zu einer freien Matte und ließ ihn ohne weitere Umschweife auf das Stroh fallen. »Am Besten, ihr seht zu, dass ihr etwas Schlaf bekommt. Morgen werdet ihr eure Kräfte brauchen.« Ohne ein weiteres Wort ging er durch den Saal und löschte die Wandöllampen mit seinen gerüsteten Fingern, um dann in der jähen Dunkelheit zur Tür zurückzukehren, ohne auch nur über eine einzige der ausgestreckt daliegenden Gestalten zu stolpern. Das Zuschlagen der Tür kündete von seinem Verschwinden. Stille senkte sich über das Langhaus. Ragnar lag lange in der Dunkelheit und fragte sich, ob er sein Messer nehmen und dem Grimmschädel die Kehle durchschneiden sollte. Am Ende entschied er sich dagegen. Er wollte, dass sein Feind bei Bewusstsein war, wenn er ihn tötete. »Das komische Gurgeln, das ihr hören könnt, ist mein verfluchter Magen«, murmelte Sven. »Bei den Eiern des
Eisbars, ich bin verflucht hungrig.«
7
DIE JAGD Ragnar stach blitzschnell mit seinem Holzstab zu und traf Strybjörn am Auge. Der Stock wurde von der vorspringenden Stirn abgelenkt und prallte ab. »Das Auge! Ich gewinne!«, rief er, indem er zurückwich. Die zu einem Kreis versammelten Anwärter brüllten ihren Beifall heraus. Ragnar riskierte einen Blick auf Sergeant Hakon, um zu sehen, ob dieser seinen Sieg bestätigte. Der Grimmschädel knurrte und schlug mit seinem eigenen Holzstab zu. Die gebogene Spitze traf Ragnar unter den Rippen und presste ihm die Luft aus der Lunge. Der Stoß war mit der ganzen Kraft und dem vollen Gewicht des massigen Grimmschädels erfolgt. Dies war Kampfausbildung mit dem Messer, und die Hiebe und Stiche wurden nicht nur angedeutet. Hakon wollte nicht, dass sie sich daran gewöhnten, gegen Feinde zu kämpfen, die nicht ernsthaft zustachen. Ragnar krümmte sich vor Schmerzen zusammen und hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Er fühlte sich kaum noch in der Lage, sich auf den Beinen zu halten. Alles drehte sich um ihn. Ringsumher konnte er die feixenden Gesichter der anderen sehen. Sie hatten einen Kreis gebildet, um den Kampf zu beobachten. Strybjörn ließ den Stab auf Ragnars Schädel krachen, und der jugendliche Donnerfaust-Krieger sah Sterne. Er stieß einen langen Seufzer des Schmerzes aus und fiel auf die Knie. Strybjörn holte mit dem Fuß aus, um ihm einen Tritt zu verpassen. Plötzlich machte sich kalte Wut von irgendwo tief in Ragnar Luft. Er ließ sich nach vorn fallen und schlang im letzten Augenblick die Arme um die Beine des Grimmschädels. Mit einem harten Ruck holte er Strybjörn von den Beinen. Ein
lautes Knacken ertönte, als der Schädel seines Feindes gegen einen aus dem weichen Boden ragenden Stein stieß. Ragnar gestattete sich ein triumphierendes Knurren und warf sich vorwärts, um sich rittlings auf Strybjörn zu schwingen. Er nahm seinen Holzstab, legte ihn quer über die Luftröhre des Grimmschädels und drückte in der festen Absicht zu, seinen Feind zu erwürgen. Der Jubel der Menge drang an seine Ohren. Offenbar begriffen sie seine Absicht nicht. Plötzlich packte eine gerüstete Hand Ragnars Nacken und hob ihn von Strybjörn herunter. Ragnar schlug mit dem Holzstab zu, traf aber lediglich den harten Panzer von Hakons Rüstung. Der Sergeant sah ihn an. »Einige ungewöhnliche Messer-Techniken, das muss ich euch beiden zugestehen. Immerhin habt ihr so gekämpft, als meintet ihr es ernst.« Er setzte Ragnar auf dem Boden ab und warf einen Blick auf Strybjörn. Der Grimmschädel hustete, keuchte und funkelte Ragnar hasserfüllt an. »Ich habe gewonnen«, japste er. »Nein, hast du nicht«, sagte Hakon. »Dein letzter Hieb hätte Ragnar den Bauch aufgeschlitzt, sicher, aber hätte er ein richtiges Messer gehabt, hätte sein letzter Stich dein Auge durchbohrt und wäre in dein Gehirn gedrungen.« Ragnar gestattete sich ein triumphierendes Grinsen, Die klare Bergluft schmeckte süß vorn Sieg. Es gelang ihm sogar, den Schmerz in seinen Rippen zu ignorieren »Ich hätte ihn trotzdem mit meiner Erwiderung getötet«, sagte Strybjörn mürrisch. »Vielleicht hättest du das tatsächlich«, sagte Hakor »Wild genug dazu bist du.« Er wandte sich der Menge zu und zeigte auf Kjel und einen Neuling, den Ragnar nicht kannte. »Ihr zwei! Vorwärts! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.« Ragnar funkelte Strybjörn noch einmal in dem Wissen an,
den Grimmschädel mit Sicherheit getötet zu haben, wenn Hakon sich nicht eingemischt hätte. *** Ragnar hörte seinen keuchenden Atem. Die Bergluft schien plötzlich zu dünn zum Atmen zu sein. Die frühmorgendliche Kühle zwickte ihn. Sein Herzschlag dröhnte laut in seinen Ohren. Schweiß lief ihm über die Stirn und stach in den Augen. Die langen schwarzen Haare klebten an seiner Stirn. Seine Beine fühlten sich wie Gelee an. Die Steigung vor ihm schien kein Ende zu nehmen. »Vorwärts!«, brüllte Sergeant Hakon. »Das könnt ihr viel besser. Das ist doch nur ein kleiner Hügel.« Kjel schloss zu Ragnar auf und rang sich ein mattes Grinsen ab. »Der hat leicht reden. Wir sind schließlich nicht halb Ziege und halb Wolf«, japste er. »Spar dir den Atem fürs Laufen«, keuchte Ragnar. »Vergiss nicht, wer zuletzt oben ist, muss alles noch mal machen.« »Dann lasse ich dich wohl besser hinter mir.« Kjel überholte ihn und eilte mit langen Schritten über das zerklüftete Gelände. Ragnar mobilisierte seine letzten Kraftreserven und stürmte mit dem Gedanken weiter, dass Kjel Recht hatte. Beim Sergeant hatte alles ganz leicht ausgesehen. Er war später als sie losgelaufen, hatte die leicht bekleideten Anwärter aber trotz seiner massiven Rüstung rasch überholt. Er hatte die Hügelkuppe erreicht, während sie noch auf halbem Weg waren, und jetzt stand er gelassen dort oben und bellte sie an. Was war sein Geheimnis?, fragte sich Ragnar. »Vorwärts! Lauft!«, schrie Hakon. Ragnar riskierte einen Blick zurück. Tief unter ihnen im Tal konnte er' Russvik sehen. Aus dieser Höhe sah es winzig aus. Bisher hatten sie eine gewaltige Entfernung zurückgelegt. Als er die winzigen Gestalten seiner Kameraden
wie an der Schnur aufgereiht hinter sich sah, erkannte er voller Dankbarkeit, dass er wenigstens nicht Letzter war. Und er sorgte besser dafür, dass es auch dabei blieb. Auf wackligen Beinen stolperte er müde der Hügelkuppe entgegen. *** »Wer von euch kann jagen?«, fragte Sergeant Hakon. Etwa ein halbes Dutzend müde Stimmen bejahten. Sie waren alle erschöpft. In der vergangenen Woche hatten sie hart trainiert. Sie waren so oft den Hügel emporgestürmt, in dessen Schatten das Lager errichtet war, dass Ragnar das Gefühl hatte, es im Schlaf zu können. Sie hatten Holz gehackt. Sie waren den Hügel mit Holzscheiten auf den Schultern emporgestürmt. Jene, die nach Hakons Geschmack nicht schnell genug gewesen waren, hatten die Übung eins ums andere Mal wiederholen müssen, bis sie vor Erschöpfung zusammenbrachen. Sie hatten endlose Übungen hinter sich, die ihre Körper an die Grenzen ihrer physischen Leistungsfähigkeit getrieben hatten, bis sie sich nach Luft schnappend auf den kalten Boden geworfen hatten, während ihre Muskeln zuckten und brannten. Sie hatten mit Speer und Dolch geübt. Man hatte ihnen gezeigt, wie man mit der Äxten kämpfte, mit denen sie Holz hackten. Sie hatten mit dem Speer auf Strohpuppen geworfen. Die Gelegenheiten, bei denen sie Übungskämpfe aus getragen hatten, waren beinahe vergnüglich gewesen fand Ragnar, und er hatte sich dabei hervorgetan. Er war in seiner Fünfergruppe immer als Bester auserkoren worden, um gegen die Besten der anderen Klauen anzutreten. Das schien Strybjörn und Sven zu verdrießen, aber sie konnten nichts dagegen tun. Er hatte sie bei den Übungskämpfen beständig
besiegt. Mit Waffen war er besser als sie beide. Beim Ringkampf zahlten sie ihm die blauen Flecken heim, die er ihnen mit den stumpfen Waffen beibrachte. Beide waren stark, schnell und grausam. Ragnar hoffte, dass sie bald anfangen würden, mit echten Waffen zu üben. Dann würde es einen Unfall geben, und Strybjörn Grimmschädel würde sich in dem Wissen zu seinen Vorfahren gesellen, dass Ragnar ihn dorthin geschickt hatte. »Es müssen doch mehr von euch wissen, wie man jagt«, sagte Hakon mit spöttischem Unterton. Die Anwärter sahen einander wachsam an. Sie hatten gelernt, dem Sergeant gegenüber nicht zu großspurig aufzutreten. Das endete gewöhnlich mit Strafübungen oder einer ordentlichen Tracht Prügel, wenn ihre Fähigkeiten nicht Hakons Erwartungen entsprachen. »Nun, wenn keiner von euch weiß, wie man jagt, werden wir es euch wohl beibringen müssen. Nur so werdet ihr je wieder Fleisch zu sehen bekommen.« *** Die kleine Gruppe der Jäger folgte in einer Reihe dem langen felsigen Pfad. Ragnar drehte sich um und warf einen Blick zurück. Der kühle Wind peitschte ihm die langen schwarzen Haare ins Gesicht. Die über den Himmel jagenden Wolken schienen irgendwie näher denn je zu sein. Aber wenigstens waren sie weiß und vereinzelt, nicht dunkel und schwer und ein Versprechen von Regen. Es roch nach Pinienduft. Am seltsamsten war für ihn die Abwesenheit des salzigen Meergeruchs, den er sein Leben lang tagtäglich wahrgenommen hatte. Weit unter ihnen war Russvik als winzige Ansammlung von Hütten zu sehen, die von einer Palisade und einem Graben
umgeben waren. Überall ringsumher reckten sich gewaltige Berggipfel himmelwärts. Er atmete schwer. Das taten sie alle. Von der beständigen Anstrengung, den steilen Anstieg zu erklimmen, fühlten sich seine Oberschenkel wie Gelee an. Seine Knie waren wacklig. Sein Gesicht war gerötet. Es war eine Erleichterung zu sehen, dass keiner von den anderen besser aussah. Das ständige Bergsteigen der letzten Zeit ergab jetzt langsam einen Sinn. Ragnar bezweifelte, dass es auch nur einer von ihnen ohne Rast in diese Höhe geschafft hätte, wären sie nicht durch die Übungen darauf vorbereitet worden. Es war ein erhebendes Gefühl. Am vergangenen Tag waren sie weiter gekommen, als man auf Ragnars Heimatinsel marschieren konnte, ohne das Meer zu erreichen, und dabei hatten sie erst einen Bruchteil dieses unglaublich weiten Landes gesehen. Es schien sich in die Unendlichkeit zu erstrecken. Die Gipfel der Berge schienen das Himmelsgewölbe zu stützen das unendlich weit über ihnen lag. Die Wolken waren grauweiß und rochen nach Schnee. Seltsame Bäume bedeckten die Hügel. Statt Blättern hatten sie Nadeln, und unter ihnen lagen Holzzapfen auf dem Boden. Man hatte sie gelehrt, dass es höchstwahrscheinlich regnen würde, wenn diese Zapfen geöffnet waren. Wenn sie geschlossen waren, blieb das Wetter gut. Auch das gehört zu den seltsamen Dingen, die man ihnen in Russvik beibrachte. Große Vögel nisteten in diesen Bäumen. Sven hatte bereits vorgeschlagen, in den Nestern Eier zu suchen, aber die anderen hatten weitermarschieren wollen, um einen Hirsch oder eine wilde Ziege zu erlegen um damit vor den anderen Klauen zu prahlen. Dies war das erste Mal, dass Ragnars Klaue zur Jagd abkommandiert worden war. Es wurde als Ehre betrachtet, dass ihnen zugetraut wurde, sich ganz allein in die Berge zu begeben, was an und für sich ein Ärgernis war, eine schmerzliche Beleidigung des Stolzes der grimmigen jungen
Krieger. Niemand hatte gewagt, sich bei Sergeant Hakon darüber zu beschweren, dass man sie wie Kinder behandelte. Jetzt waren sie selbstbewusst wegen ihrer neuen Fähigkeiten. Sie hatten viele Tage mit dem Erlernen grundlegender Überlebenstechniken zugebracht. Wie man in den heulenden Schneestürmen Asaheims überlebte. Wie man sich nur mit Hilfe der Sterne orientierte. Das hatte Ragnar als ziemlich leicht empfunden, da er Seereisen gewöhnt war. Zugegeben, hier in Asaheim waren die Sterne ein wenig anders, aber die Konstellationen waren dieselben. Sie hatten gelernt, wie man schnell ein Feuer anzündete. Wie man aus Zweigen und Ästen einen Unterschlupf errichtete, um wenigstens etwas Schutz vor den rauhen Elementen zu finden. Man hatte ihnen die Grundlagen des Jagens in der Wildnis beigebracht. Sie waren nicht so schwierig zu meistern. Sie wussten jetzt, dass sie nach Wasserstellen Ausschau halten und die Augen nach Fährten offen halten mussten. Sie wussten, wie man Fallen für Kaninchen und Hasen baute. Jenen, die es nie gelernt hatten, wurde beigebracht, wie man ein Tier ausnahm, indem man ihm das Fell abzog, ihm den Bauch aufschlitzte und die Gedärme herausgleiten ließ. Auch das hatte Ragnar, der sein ganzes Leben lang Fische ausgenommen hatte, leicht gefunden. Und jetzt hatte man sie mit Speer, Schild und Dolch bewaffnet in die Wildnis geschickt. So einfach war das. Sie sollten erst zurückkehren, wenn sie Frischfleisch erlegt oder bei dem Versuch einen Krieger verloren hatten. Allem Anschein nach bestand die Ausbildung, ein Wolf zu werden, daraus, ins Wasser geworfen zu werden und dann um sich zu schlagen, bis man zu schwimmen gelernt hatte. Ragnar kam es so vor, als gingen Hakon und alle anderen in Russvik davon aus, dass es dort, wo sie herkamen, noch reichlich Anwärter gab. Es war Ragnars Pflicht, sich zu beweisen, denn niemand anders würde mehr auf ihn Acht geben. Tatsächlich war Ragnar in mancherlei Hinsicht froh darüber,
dem wachsamen Auge Sergeant Hakons entronnen zu sein. Er war glücklich darüber, dass die Klaue allein ausgesandt worden war. Er wusste, dass jede Möglichkeit bestand, dass Strybjörn vor dem Ende dieses Ausflugs einen tödlichen Unfall erleiden würde Er würde sogar mit Sicherheit einen erleiden, wenn Ragnar es einrichten konnte. Er drehte sich um und war einen Blick auf den Grimmschädel. Ohne große Überraschung nahm er zur Kenntnis, dass Strybjörn ihn ansah Ragnar schauderte ein wenig, als er dem brennender Blick seines Feindes begegnete. Es war nur allzu wahrscheinlich, dass der Grimmschädel über Ragnar in den selben Bahnen dachte. Mit einem leisen Grunzen er kannte Ragnar, dass er hier draußen in der Wildnis vorsichtig sein musste. Auch er konnte derjenige sein, der von einem Saumpfad stürzte oder von einer Steinlawine oder einem Erdrutsch überrascht wurde, wenn er nicht aufpasste. Aber im Augenblick hatte er das Kommando. Sergeant Hakon hatte verfügt, dass Ragnar am besten geeignet war, der Klaue Befehle zu erteilen. Kjel und Henk folgten willig seinen Anweisungen. Nur Sven und Strybjörn hatten gemurrt. Ragnar hielt kurz inne und schaute zum Himmel. Die rote Sonne versank langsam im Westen. Der Himmel am fernen Horizont hatte die Farbe von Blut, und rötliches Licht fiel durch die Wolkendecke und verlieh den Bergen ein finsteres Aussehen. Ragnar kam es nur allzu wahrscheinlich vor, dass diese Gegend von Trollen oder sogar noch grässlicheren Bestien heimgesucht wurde. Geschichten über ein Wesen, das Wolfen genannt wurde, hatten in den vergangenen Tagen im Lager die Runde gemacht. Niemand wusste genau, wer damit angefangen hatte, aber wenn auch nur ein Körnchen Wahrheit in den Geschichten über Entleibungen und grässliche Tode steckte, war der Wolfen in der Tat eine Bestie, die man fürchten musste. Ragnar vermutete, dass Hakon hinter diesen Schauergeschichten steckte.
Diese furchtbare Kreatur war angeblich ein Ungeheuer, teils Mensch, teils Wolf und von normalen Waffen praktisch nicht zu verwunden, hieß es. Die Geschichten kündeten von einem Wolfen-Dämon, der sich nach Russvik schlich und Anwärter fortschleppte. Niemand war sicher, ob das stimmte oder nicht, obwohl alle wussten, dass vor ein paar Tagen ein Anwärter namens Loka einfach verschwunden war, während er Wache gestanden hatte. Niemand wusste genau, ob er einfach nur desertiert war. Es war möglich, dass er sich von Trollen oder bösen Zauberern in die Flucht hatte schlagen lassen. Dennoch hatten die Geschichten über den Wolfen die Runde gemacht. Hakon und die anderen Anführer hatten sich bewaffnet und aufgemacht, wobei sie einer Spur folgten, die anscheinend nur mit ihren verschärften Sinnen zu erkennen war. Falls sie etwas entdeckt hatten, ließen sie nichts dergleichen verlauten. Ihren grimmigen Gesichtern hatte Ragnar bei ihrer Rückkehr entnommen, dass sie nichts gefunden hatten. Ihre Jagd war vergeblich gewesen. Als sich in der hereinbrechenden Dunkelheit diese Geschichten in seinen ermüdeten Geist schlichen, versuchte Ragnar nicht daran zu denken, welche Ungeheuer wohl in diesem gewaltigen Gebirge auf der Lauer liegen mochten. Ein paar Meilen zurück hatten sie eine Höhle passiert. Sie hätte ihnen als Unterschlupf für die Nacht dienen können, aber in stillschweigender Übereinstimmung war die ganze Klaue daran vorbeimarschiert, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Niemand von ihnen wollte begegnen, was sich in dieser Höhle eingenistet hatte. Möglicherweise war sie leer, aber wer konnte das wissen? Sie konnte auch einen Troll, einen Zauberer, einen Bären oder einen Wolfen beherbergen. Nicht einmal Sven oder Strybjörn schienen geneigt zu sein, es herauszufinden. Ragnar war froh, dass sie schon Feuerholz gesammelt hatten. Als die Dunkelheit weit fortgeschritten war, wählte er einen geeigneten Platz aus, um das Lager aufzuschlagen. Nicht weit
entfernt plätscherte ein Bach der Berg hinunter, der zum felsigen Kiesufer eines kleinen Sees am anderen Ende der Lichtung führte. Das ruhig schwarze Wasser sah so tief aus wie das Meer, und Ragnar fragte sich, ob wohl Fische darin schwammen Heute Abend würden sie sich jedoch mit ihrem Proviant begnügen, da jetzt rasch die Nacht hereinbrach. Ragnar befahl Kjel und Henk, für das Feuer zu sorgen, während Strybjörn und Sven Zweige und Äste sammelten, um einen Unterstand für die Nacht zu errichten, wie man es ihnen in Russvik beigebracht hatte. Er selbst wanderte zum Bach und holte Wasser. Er wollte die Gelegenheit nutzen, um eine kleine Weile für sich allein zu sein und um ihre Umgebung genauer in Augenschein zu nehmen. Trotz der zunehmenden Dämmerung war Ragnar sicher, als er den Blick über die wilden Hügel, felsigen Schluchten und ausgedehnten Wälder schweifen ließ, die sich unzählige Meilen weit in alle Richtungen erstreckten, dass ein Mensch hier hätte glücklich werden können, wären nicht die Bestien und Ungeheuer gewesen, die dieses wilde Land heimsuchten. Er nickte in stummer Bejahung seiner Gedanken. Hier in den Bergen war Platz genug für eigene Anwesen, es gab Wasser und Holz. Nach allem, was die anderen gesagt hatten, wären die Hügel ein guter Weidegrund für Schafe oder Ziegen. Hier konnte ein Mann eine Familie gründen und in Frieden leben, vielleicht sogar einen Grad von Zufriedenheit finden, eine Zuflucht vor allem Hass und Hader. Ragnars Gedanken kehrten zu Ana zurück, und er spürte die mittlerweile vertraute Traurigkeit seine Seele erfüllen. Ein Blick zurück zu Strybjörn verwandelte Kummer in bitteren Hass. Ragnar würde den Grimmschädel büßen lassen. Das war jetzt in seinem Leben die einzige Gewissheit. Mit einem ärgerlichen Knurren tauchte Ragnar seinen Wasserschlauch in den Bach, als sei er der Kopf des Grimmschädels, den er unter Wasser hielt, bis die Kette silbriger Blasen ein für alle Mal abriss. Während er den
Wasserschlauch in das eisige Wasser hielt, keuchte Ragnar ob seiner schneidenden Kälte. Das Wasser war so eisig, dass es ihn bis auf die Knochen zu verbrennen schien. Binnen Sekunden waren seine Hände taub. Ragnar zwang sich, den Schmerz zu ertragen, dann zog er den tropfenden Schlauch aus dem Wasser und warf einen grimmigen Blick auf die entfernten Berggipfel. Dies war Schmelzwasser, ging Ragnar auf, geschmolzener Schnee aus den Bergen. Es war bei weitem kälter als das Wasser, das man auf den Inseln aus den tiefsten Brunnen schöpfte. Diese Gedanken erinnerten ihn abrupt daran, wie weit er von seinem Zuhause entfernt war. Nicht, dass er noch ein Zuhause gehabt hätte, wohin er hätte zurückkehren können. Ragnars rauhes Gelächter hallte durch die dunkler werdenden Schatten. Das Feuer brannte. Die Schatten sammelten sich um den Unterstand. Strybjörn und Sven hatten aus den immergrünen Zweigen, die sie von den hohen Bäumen rings um die Lichtung gerissen hatten, einen durchaus brauchbaren Schutz zusammengefügt. Der Kochtopf war mit blubbernder Hafergrütze gefüllt, der einzigen Nahrung, die sie bei sich hatten. Jeder trug einen Sack davon und etwas Salz bei sich. Die Grütze schmeckte nicht besonders, aber sie würde sie sättigen, sobald sie in die Holzschalen gefüllt war, die sie alle in ihrem Rucksack hatten. Ragnar ließ den Blick um das Feuer kreisen und sah, dass die Gesichter seiner Kameraden vom flackernden. Feuerschein seltsam verfremdet wurden. Er änderte die Konturen ihrer Gesichter, sodass sie auf subtile Weise anders aussahen. Dasselbe galt für die Umgebung. In den wenigen Tagen in Russvik hatte Ragnar sich an das Lager gewöhnt. Trotz der Entbehrungen und Härten war es zu dem Ort geworden, wo er und seine Kameraden eine neue Heimat gefunden hatten. Jetzt waren sie an einem ebenso absonderlichen und doch ganz anderen Ort, und in gewisser
Weise wurden sie dadurch in seiner Vorstellung auch zu anderen Menschen. Zu Fremden. Der Vollmond war hell und freundlich aufgegange n Das Wolfsgesicht war auf seiner Oberfläche zu sehen ein großer Schatten ungefähr von der Form eines knurrenden Wolfskopfs. Es hieß, dass Russ persönlich seine Wolf Graumähne dorthin beordert hatte, um bis zu seiner Rückkehr über die Welt zu wachen. Wie zur Antwort auf diesen Anblick ertönte irgendwo in der Ferne ein beängstigendes Heulen, ein Laut, der von unvergleichlicher Einsamkeit und Hunger kündete. Die Mitglieder der Klaue sahen einander an. »Es ist nur ein Wolf«, sagte Kjel mit einem aufmunternden Grinsen. Es wäre weitaus überzeugender gewesen, hätte das Gesicht des Jugendlichen im Mondlicht nicht so blass ausgesehen. »Russ weiß, dass ich genug Wölfe habe heulen hören. Sie haben unseren Schafen in den Tälern schwer zugesetzt.« »Ich wette, sie waren nicht die Einzigen, die euren verfluchten Schafen schwer zugesetzt haben«, sagte Sven mit einem verächtlichen Unterton. »Wie meinst du das?« Bevor Sven antworten konnte, wurde das Heulen des Wolfs von der anderen Seite des Tals beantwortet. Der langgezogene Laut hallte durch die Weite und verjagte alle anderen Gedanken aus Ragnars Bewusstsein. Es schien das Signal für einen ganzen Chor zu sein. Auf jedem Gipfel, so schien es, heulten riesige Wölfe den Mond an. »Ein Rudel auf der Jagd«, sagte Kjel. »Was du nicht sagst«, bemerkte Strybjörn. »Da wäre ich, verflucht noch mal, nie darauf gekommen«, fügte Sven hinzu. »Das reicht«, sagte Ragnar gereizt.
»Keine Sorge«, sagte Kjel. »Wölfe greifen nur selten Menschen an. Gewöhnlich trauen sie sich nicht einmal in die Nähe eines Feuers. Es sei denn, sie sind am Verhungern oder verzweifelt.« »Wie es um sie steht, weiß ich nicht«, sagte Sven, »aber bei der gesegneten rechten Arschbacke Eisbars, ich bin ganz sicher verflucht noch mal am Verhungern. Wenn sie mir zu nahe kommen, ziehe ich ihnen das Fell ab und esse sie!« »Und was gibt es sonst Neues?«, fragte Ragnar. Nichtsdestoweniger musste er Sven beipflichten. »Henk, verteil die Grütze.« »Sicher«, pflichtete der junge Anwärter bei, beugte sich vor und begann damit, die Hafergrütze auf die Teller zu löffeln, die sie ihm hinhielten. »In Russ' Namen, was würde ich für ein schönes Stück Fisch geben«, sagte Sven. »Oder Huhn«, bemerkte Strybjörn. »Oder Hammel«, sagte Kjel. Das Geheul wurde lauter. »Die Wölfe scheinen ganz eurer Meinung zu sein«, sagte Ragnar. Niemand lachte. *** Es war spät. Das Geheul der Wölfe war in der Ferne verklungen. Vielleicht hatten sie eine andere Beute gefunden, dachte Ragnar. Oder vielleicht näherten sie sich auch nur lautlos und verstohlen. Aus dem Unterstand auf der anderen Seite des Feuers ertönte vernehmliches Schnarchen. Es war laut und pfeifend, eine Mischung aus Blasebalg und Sägen. Es reichte beinahe aus, um Ragnar alle Gedanken an Schlaf aus dem Kopf zu schlagen. Er schaute weg vom Feuer, wie Hakon
es sie gelehrt hatte. Es hatte keinen Sinn, sich die Nachtsicht zu verderben, wenn man Wache hielt. Er nahm den Speer fest in die Hände und fragte sich, was er wohl tun würde, wenn die Wölfe oder ein Ungeheuer der Finsternis angriffen. Diese Nacht in den Bergen hatte etwas seltsam Unheimliches an sich, wie er es von zu Hause nicht kannte. Vielleicht war es auch das Gefühl der Weite und Einsamkeit der Berge, was irgendwie vermuten ließ, dass es hier draußen für alles einen Platz zum Verstecken gab, wie unmenschlich oder böse es auch sein mochte. Auf der Insel hatte Ragnar das Gefühl gehabt, nahezu alles über das felsige Land zu wissen, auf dem sein Stamm gelebt hatte und gestorben war. Wenn sie als Jungen außerhalb des Dorfs lagerten, waren sie nie weit von den anderen entfernt gewesen und hatten sich unvermeidlich auf einem Gebiet befunden, auf dem sie schon hundert Mal gespielt hatten. Hier in den Bergen hatte Ragnar das Gefühl, dass ein Mensch hundert Leben lang umherwandern konnte und immer noch nicht alles gesehen hatte. Es war ein beängstigender und zugleich anregender Gedanke. Ragnar staunte jedoch, wie schnell er sich angepasst hatte. Trotz der Absonderlichkeit des Ortes sah er doch, dass er sich rasch an das Leben in Russvik, an seine neuen Kameraden, an die ständigen Übungen und an die harte Disziplin gewöhnt hatte. Es gab jetzt Zeiten, in denen ihm sein Leben auf den Inseln bereits wie ein Traum vorkam und alle Leute, die er früher gekannt hatte, kaum mehr als Schatten zu sein schienen. War er wirklich bei Sturm über das Deck der Speer von Russ geschritten? Hatte er Netze voller Meeresfische eingeholt? Hatte er zugesehen, wie Orcas harpuniert und Meerdrachen abgeschlachtet wurden? Verstandesmäßig wusste er, dass es so war. Aber in seinem Herzen war es manchmal schwierig, es noch als wirklich zu empfinden. Warum saß er hier auf einem Berghang im Dunkeln und starrte in die Finsternis? Er hatte keine genaue
Vorstellung. Er hatte im Grunde auch keine Ahnung, warum er auserwählt worden war. Er hatte ganz einfach überlebt, während andere gestorben oder in die Knechtschaft verschleppt worden waren. Dieser Gedanke weckte wiederum schmerzliche Gefühle. Er erinnerte sich unvermittelt an die Toten und Sterbenden und daran, wie ein Mädchen von der Flotte der Grimmschädel verschleppt worden war. Das Wissen, dass einer der Angreifer keine zwanzig Schritt entfernt lag und schnarchte, weckte in ihm den Wunsch, vor Wut laut zu schreien, seinen Speer zu nehmen und ihn Strybjörn in den Bauch zu bohren. Er konnte sich fast vorstellen, wie er es tat, beinah den warmen Schein der Zufriedenheit spüren, der sich in ihm ausbreiten würde, wenn er sich mit seinem ganzen Gewicht auf den abgenutzten Schaft lehnte und die funkelnde Spitze aus gehärtetem Stahl in nachgiebiges Fleisch bohrte. Ragnars Lippen verzogen sich zu einem grimmigen Lächeln, und er war versucht, aufzustehen und es auf der Stelle zu tun - als er leise Schritte hörte, die sich ihm näherten. Instinktiv hob er den Speer, aber ein Blick verriet ihm, dass es sich bei dem herannahenden Schatten nur um Kjel handelte. Kjel hockte sich neben ihn. »Ich kann ebenso gut gleich deine Wache übernehmen«, sagte er. »Jetzt, da die beiden so laut schnarchen wie Donnergrollen, kann ich sowieso nicht schlafen.« »Bist du sicher?«, fragte Ragnar. »Du bist nicht zu müde?« »Wenn ich müde genug werde, kann ich vielleicht später schlafen.« Ragnar nickte, rührte sich aber nicht vom Fleck. Er war nicht müde, und ihm war nach Reden. Er war sicher, dass sie die Schlafenden nur wecken würden, wenn sie laut schrien. »Das ist eine sonderbare Gegend«, sagte er schließlich. »Meinst du das Tal oder diese Berge?«
»Das ganze Land. Ich habe noch nie auch nur etwas Ähnliches gesehen. Jeder Einzelne dieser Berge scheint größer zu sein als die Insel, auf der ich aufgewachsen bin.« »Das sind sie wohl auch in gewisser Weise. Oder wenigstens könnten sie sehr wohl genauso groß sein.« »Wie meinst du das?« »Mir ist zu Ohren gekommen, dass die Inseln früher einmal Berge waren, die vom Meer verschlungen wurden, so dass jetzt nur noch die Spitzen aus dem Wasser ragen.« »Das ist eine seltsame Geschichte.« »Sie ist Teil einer alten Legende. Darin heißt es, in den Tagen vor Russ' Ankunft hätte es viel mehr Länder gegeben, die alle so groß wie Asaheim waren, aber dann wäre die große Flut gekommen, es hätte hundert Jahre geregnet, und alles Land außer Asaheim wären untergegangen. Es heißt auch, dass die Meerdämonen in den Ruinen der versunkenen Städte hausen, die alle so groß wie eine Insel sind.« »Glaubst du das, Kjel?« »Warum nicht? Es könnte stimmen. Oder auch nicht. Meine Leute sind keine großen Seefahrer. Sie leben in den Tälern unter den großen Gletschern und verbringen die Zeit mit Krieg und Jagd.« »Ich habe gehört, die Leute vom Gletscher segeln mit einem Schiff nur dann außer Sichtweite ihres Landes, wenn sie die Insel der Eisenmeister besuchen.« »Das stimmt mehr oder weniger. Warum würde jemand auch so weit aufs Meer segeln wollen, dass er kein Land mehr sieht? Sicher würden ihn die Meerdämonen holen.« »Ich habe auch gehört, die Leute vom Gletscher wären ... na ja, Menschenfresser.« Kjel lachte. »Ehrlich? Ich habe immer gehört, dass es die Inselbewohner wären, die einander verspeisen, weil es auf den
kleinen Inseln nicht genug zu essen gäbe.« »Es gibt immer Fisch und Orca-Fleisch«, platzte es aus Ragnar heraus. Er war wütend, des Kannibalismus beschuldigt worden zu sein. Andererseits hatte er zuvor Kjel mehr oder weniger desselben Vergehens bezichtigt, welches Recht hatte er also, sich beleidigt zu fühlen? In der Dunkelheit musste er über die Ironie ihrer Legenden und die sich in ihnen widerspiegelnde Ignoranz grinsen. »Aber du hast Recht mit diesem Tal«, sagte Kjel. »Es weckt schlimme Gefühle.« »Wie meinst du das?« »Das weiß ich selbst nicht. Etwas daran bewirkt, dass ich eine Gänsehaut bekomme. Es ist so, als wäre etwas da draußen und beobachtete uns.« »Wölfe?« »Mag sein. Vielleicht auch Trolle oder Nachtgänger.« Ragnar schauderte. »Hast du je einen Nachtgänger gesehen?« »Nein, aber ich kannte mal einen Mann, der welche gesehen hat. Es waren entstellte, böse Biester mit leuchtender Haut. Sie hausen in alten Orten unter der Erde und kommen heraus, um sich an Menschenfleisch zu laben. Außerdem heißt es, dass sie die Finsteren Mächte des Chaos anbeten.« »Ich habe noch nie von solchen Dingen gehört. Wir sollten nicht darüber reden.« Ragnar beschrieb eine schützende Geste zur Abwehr alles Bösen. »Du hast auf den Inseln gelebt. Das Meer ist frei von solchem Unrat.« Ragnar nickte. Trotz des Angstschauders, den Kjels Worte verursacht hatten, reckte er sich und gähnte. Er war plötzlich sehr müde.
*** Er legte sich ans Feuer und fiel in einen unruhigen Schlaf. Er träumte von vielen absonderlichen und schrecklichen Dingen. Er träumte von den blinden Würmern auf dem Grund des Ozeans, die an den Wurzeln seiner Insel nagten. Er träumte von entstellten Nachtgängern und monströsen Wölfen. Er träumte von einer gewaltigen Bestie in der Gestalt eines Menschen, aber mit einem Wolfskopf. Der bloße Anblick in seinem Traum ließ ihn ruckartig aus dem Schlaf schrecken, und er richtete sich jäh auf und sah sich mit gehetztem Blick und wild pochendem Herzen um. Plötzlich regte sich eisige Furcht in seinen Eingeweiden, denn es kam ihm so vor, als stehe außerhalb des Feuerscheins die Kreatur, von der er gerade geträumt hatte. Er schüttelte den Kopf, um einen klareren Blick zu bekommen, da er hoffte, dass es sich nur um ein Nachbild aus seinem Traum handelte, aber das war es nicht. Es stand immer noch dort draußen im Dunkeln, und es war so wirklich wie Ragnar selbst. Ragnar erstarrte für einen Augenblick und musterte es. Nein. Es war nicht wie das Wesen in seinem Traum. Es hatte keinen Wolfskopf. Vielmehr konnte er erkennen, dass der Körper monströs und verunstaltet war. Große Hörner ragten aus der Haut und verliehen seiner Silhouette etwas Gezacktes. Der Kopf war gewaltig, der Kiefer breit und die Ohren waren riesig und abstehend wie bei Fledermäusen. Die Augen leuchteten in einem unheimlichen grünen Licht. Langsam dämmerte es Ragnar, dass er einen Troll anstarrte. Eine Kreatur, über die schlimmste Geschichten kursierten. Und wahrscheinlich einen hungrigen Troll, denn er näherte sich jetzt langsam dem Feuer. Wo war Kjel, fragte sich Ragnar, oder wer in Russ' Namen gerade Wache hatte? Nicht, dass es eine große Rolle gespielt
hätte. Er würde selbst etwas unternehmen müssen. Verstohlen griff er nach Speer und Schild und betete dabei leise zu Russ, der Troll möge seine Bewegungen nicht bemerken. Er stieß einen langgezogenen Seufzer der Erleichterung aus, als er die Waffen in den Händen hielt, und erhob sich leise in eine geduckte Kampfhaltung. Im Feuerschein konnte er erkennen, dass die anderen noch schliefen. Strybjörn und Sven schnarchten laut. Kjel lag am Feuer. Henk saß mit dem Gesicht der Dunkelheit zugewandt, aber die Art, wie sein Kopf auf der Brust lag, verriet Ragnar, dass der Junge schlief. Ihm ging auf, dass es an ihm liegen würde, den Troll abzulenken, während sich seine Kameraden kampfbereit machten. Und ihm ging auf, dass er es bald tun musste. Aber warte noch eine Minute, flüsterte eine innere Stimme, vielleicht suchte sich die Kreatur Strybjörn aus und nahm ihm seine Rache ab. Ragnars Lippen verzerrten sich zu einem kranken Grinsen. Das war ein guter Gedanke, flüsterte ihm die innere Stimme zu. Nein, sagte er sich. Das war nicht die richtige Art, dies zu regeln. Er wollte seinen Feind mit eigenen Händen töten, nicht durch einen Akt des Verrats. Und es gab auch keine Gewähr, dass der Troll sich Strybjörn aussuchen würde. Vielleicht nahm er sich einen der anderen vor, und er musste zugeben, dass sie auf dem besten Weg waren, seine Freunde zu werden. Das Ungeheuer hatte das Feuer beinahe erreicht, und Ragnar wusste, dass die Zeit gekommen war zu handeln. »Aufwachen!«, schrie er. »Aufwachen! Ein Troll greift uns an!« Bei diesen Worten sprang er auf und lief dem Troll entgegen. Aus der Nähe konnte er die schuppige, ledrige Echsenhaut erkennen. Der Schleim, den sie absonderte, glänzte im Mondlicht. Das Wesen vermittelte den Eindruck, gerade noch nass gewesen zu sein, als sei es aus dem nahen See
gestiegen. Ragnar näherte sich ihm rasch. Aus der Nähe wirkte das Ungeheuer noch größer und beängstigender. Es war fast doppelt so groß wie Ragnar und viel, viel schwerer. Die Brust war so muskulös wie die der größten Bären und die Hände mit den Schwimmhäuten zwischen den Fingern waren fast so groß wie sein Schild. Jeder Finger endete in einer dolchgroßen Kralle. Das Ding riss das Maul auf und stieß ein ohrenbetäubendes Bellen aus. Ragnar konnte erkennen, dass dieses Maul von mehreren Reihen großer spitzer Zähne gesäumt wurde. Er stieß mit seinem Speer in der Hoffnung zu, eines der großen Telleraugen zu durchbohren, aber das Wesen drehte seinen Kopf, und Ragnars Klinge ritzte nur du Wange an. Zu seinem Entsetzen schloss sich die ledrige Haut vor seinen Augen mit einem widerlichen Sauggeräusch. Das sieht nicht gut aus, dachte er. Der Troll schlug nach ihm. Ragnar duckte sich unter einem Hieb hinweg, der ihm bei einem Treffer den Kopf abgerissen hätte, und stach nach dem Unterleib der Bestie. Er wurde mit einem unheimlichen schrillen Kreischen belohnt, das ihn beinah taub machte. Das Ding antwortete mit einem weiteren mächtigen Hieb. Ragnar hob seinen Schild und neigte ihn in dem Bemühen, wenigstens einen Teil der Wucht abzulenken. Seinem Bemühen war wohl Erfolg beschieden, aber die Wucht des Hiebs ließ ihn dennoch rückwärts taumeln. Er landete neben dem Feuer und roch den Gestank versengter Haare, als seine schwarze Mähne Feuer fing. Er fühlte sich benommen und schwach, aber er rappelte sich wieder auf und sah sich nach den anderen um. Mittlerweile waren sie alle wach und hatten Waffen und Schild ergriffen. Kjel holte gerade mit seinem Speer aus und warf ihn. Er flog in gerader Linie und traf zielsicher eines der riesigen Augen des Trolls. Ragnars Herz tat einen Sprung. Wenn er je einen tödlichen Wurf gesehen hatte, dann diesen. Er
wartete darauf, dass der Troll umfiel und starb, aber das tat er nicht. Vielmehr griff er nach dem Speer und packte ihn. Bei dem unbeholfenen Versuch, die Waffe herauszuziehen, brach er lediglich den Schaft ab und ließ die Spitze im Auge stecken. Jetzt zischte der Troll vor Wut wie eine Riesenschlange. Der Laut drang Ragnar durch Mark und Bein. Strybjörn und Sven sprangen vor und stachen mit dem Speer zu. Die scharfen Eisenblätter durchtrennten die ledrige Haut des Trolls. Grünliches Blut floss für einen Augenblick, doch auch diese Wunden begannen unnatürlich schnell zu verheilen. Der Troll streckte einen Arm aus und packte Sven mit seiner gewaltigen Hand. Ragnar sah Blut fließen, wo die Krallen sich in Svens Haut bohrten, aber wenn er Schmerzen hatte, ließ er es sich nicht anmerken. »Nimm das, du höllengeborener Hund von einem Troll!«, schrie Sven, während er den Speer umdrehte und ihn tief in die sehnige Hand des Trolls bohrte. Der brüllte vor Schmerzen und ließ ihn fallen. Einen kurzen, schrecklichen Moment befürchtete Ragnar, Sven werde unter den gewaltigen Füßen des Ungeheuers zertrampelt, aber es gelang Sven, sich gerade noch rechtzeitig zur Seite zu wälzen. Mittlerweile war Strybjörn vorgesprungen und hatte den Troll sauber in die Brust getroffen. Sein Speer bohrte sich genau unterhalb der Rippen in die Brusthöhle und traf dabei auch die Stelle, an der sich bei einem Menschen das Herz befunden hätte. Der Troll schrie jedoch lediglich auf und machte keine Anstalten, zu Boden zu gehen. Konnte denn nichts dieses Ding aufhalten?, fragte Ragnar sich. Furcht regte sich in ihm. Dann fiel ihm etwas anderes auf. Merkwürdige Dämpfe wehten aus dem Bereich um den durchbohrten Bauch des Ungeheuers, und der Schaft von Strybjörns Speer begann zu schmelzen. Natürlich, erinnerte sich Ragnar, in allen Geschichten waren die Verdauungssäfte eines Trolls so ätzend, dass sie solides Gestein zersetzen konnten. Die Lage wurde
immer verzweifelter Mit einem Rückhandschlag schleuderte das Ungeheuer Strybjörn zehn Schritt durch die Luft. Dass musste weh getan haben, dachte Ragnar. Unter normalen Umständen wäre er über das Ableben des Grimmschädels mehr als erfreut gewesen, aber ihm ging auf, dass sie hier und jetzt jeden einzelnen Krieger brauchten. Bisher war es ihnen nicht einmal gelungen, das Ungeheuer langsamer zu machen. »Wir müssen mit Feuer angreifen!«, schrie Henk. »Was?« »Wir müssen Feuer benutzen. So habe ich den Troll beim letzten Mal getötet. Es ist mir gelungen, ihn in das brennende Haus zu locken. Die Wunden schließen sich nicht, wenn sie durch Feuer verursacht werden.« Langsam sickerten Henks Worte ein. Das klang vernünftig. Feuer war die beste Waffe der Menschen gegen viele Schrecken der Nacht, und er hatte oft genug die Geschichte vom alten Imogrim gehört, wie die Männer von Jarl Kraki eines der Ungeheuer mit brennenden Fackeln und Pfeilen vertrieben hatten. Er riss ein brennendes Scheit aus den Flammen und schwang es um den Kopf, um das Feuer anzufachen. Als das Scheit aufloderte, stürzte sich Ragnar mit Henk an seiner Seite ins Getümmel. Henk hielt ebenfalls ein brennendes Scheit. Der Troll bückte sich gerade nach dem immer noch am Boden liegenden Sven, der sich das Ungeheuer mühsam vom Leib hielt, indem er mit seinem Speer hektisch nach dessen unversehrtem Auge stach. Dann war Ragnar heran und schwenkte das Scheit vor dem Gesicht des Trolls, der sich ihm augenblicklich mit einem übermächtigen Brüllen zuwandte. Als ihn die Wolke schalen Atems erreichte, nahm Ragnar unwillkürlich wahr, dass er nach verdorbenem Fisch roch. Der Gestank ließ ihn würgen. Er schlug mit seinem Feuerscheit zu und traf den Troll. Haut knisterte, brannte und wurde schwarz,
heilte aber nicht. Russ sei Dank, dachte Ragnar, Henk hatte Recht. Aus dem Augenwinkel sah Ragnar Feuer auflodern, was ihm verriet, dass Kjel seinem und Henks Beispiel gefolgt war. Der Falkner schwang in jeder Hand ein brennendes Holzscheit. Wo die Scheite Trollfleisch berührten, entstanden Brandwunden, die nicht heilten. Der Troll drehte sich jetzt unsicher im Kreis, da ihn die brennenden Scheite verwirrten. Henk stieß einen triumphierenden Schrei aus und sprang vorwärts, um dem Ungeheuer sein Scheit ins Gesicht zu schlagen. Er hinterließ eine große schwarze Strieme. »Nimm das, Bestie«, rief er und lachte im Gefühl des Sieges. Das Antwortgebrüll des Trolls übertönte ihn mühelos. Das Ungeheuer packte zu und hob Henk hoch. Seine Krallen bohrten sich in sein Fleisch und trennten den Arm ab, der die Fackel hielt. Er schob sich den Kopf des Jungen in sein gewaltiges Maul und biss zu. Blut spritzte, und Henks Schrei brach abrupt ab, als sein Kopf abgetrennt und heruntergeschluckt wurde. Entsetzt blieb Ragnar stocksteif stehen. Er konnte nicht glauben, dass Henk tot war. Vor einem Moment war der junge Krieger noch neben ihm gewesen, lebendig und voller Kampfesmut. Jetzt war er nicht mehr da. Der Tod hatte die Hand nach ihm ausgestreckt. Die furchtbare Erkenntnis machte sich in ihm breit, dass ihm ohne weiteres dasselbe zustoßen mochte, dass der Troll, wenngleich verwundet, immer noch ein Wesen von gewaltiger Kraft war, das sie alle töten mochte. Es war offensichtlich, dass allen anderen derselbe Gedanke gekommen war, denn sie standen wie erstarrt da und, schienen nicht zu wissen, was sie tun sollten. Der Drang, sich abzuwenden und zu fliehen, erfüllte Ragnar, aber wenn er das tat, würden die anderen ebenfalls fliehen, und dann würde Hanks Tod ungerächt bleiben. Schlimmer noch, es war durchaus möglich, dass der Troll sie einholte und tötete. In
einem Augenblick der Entscheidung erkannte Ragnar, dass er zwar Angst hatte, aber nicht fliehen würde. »Vorwärts, ihr Hunde!«, brüllte er. »Wenn schon sterben, dann mit vielen Wunden!« Die anderen hörten auf sein Kommando. Sven raffte sich auf und stach nach dem Troll. Kjel ging mit seiner Fackel auf ihn los, während Ragnar von der anderen Seite kam. Strybjörn hatte sich erhoben und ebenfalls ein brennendes Scheit ergriffen. Von allen Seiten von den verhassten Flammen umgeben, geblendet und von Schmerzen erfüllt, fuhr der Troll herum und floh den Bach entlang, Henks kopflose Leiche immer noch in seiner gewaltigen Pranke. Blut, das im fahlen Mondlicht schwarz aussah, spritzte ins eisige Wasser. Ragnar und die anderen folgten ihm über den zerklüfteten Boden, wobei die Scheite immer heller aufloderten, da der Wind an ihnen vorbei pfiff. Es war eine schnelle, aber vergebliche Hetzjagd, denn trotz seiner Größe und ungeschlachten Gestalt war der Schritt des Trolls viel länger als ihrer. Das Ungeheuer erreichte das Seeufer und stürzte sich hinein, wobei es eine Schaumspur in seinem Kielwasser zurückließ. Ragnar und die anderen blieben am Ufer stehen und sahen zu, wie der Troll langsam ins Tiefe watete. Schließlich tauchte sein Kopf unter die Wasseroberfläche und war verschwunden. »Glaubt ihr, dass er ertrunken ist?«, fragte Strybjörn. »Nein«, erwiderte Kjel. »Trolle können unter Wasser leben. Wahrscheinlich hat er dort unten seinen Bau.« »Können wir rausschwimmen und ihn töten?«, fragte Sven. »Wie?«, sagte Ragnar. »Die Fackeln brennen unter Wasser nicht.« »Aber er hat Henk«, erwiderte Sven. »Henk ist tot. Wir können nichts mehr für ihn tun.«
Trotzdem blieben sie am Ufer und hielten Wache, bis die Sonne aufging. Der Troll tauchte nicht wieder auf. »Was nun?«, fragte Kjel. »Wir kehren nach Russvik zurück und berichten, was geschehen ist«, sagte Ragnar. Darauf freute er sich nicht gerade. Schließlich war er der Anführer der Klaue und hatte die Verantwortung für Henk gehabt. Alle wechselten einen Blick. Ragnar meinte, sie müssten ihn anklagen, aber er sah nur Mitgefühl in ihren Augen, sogar in Strybjörns. Es war so, als habe der gemeinsame Kampf gegen den Troll ein Band zwischen ihnen geschmiedet. Ragnar schob den Gedanken weit fort. Es würde einen Waffenstillstand geben, bis sie wieder im Lager waren. Bis dahin wurde jeder Krieger gebraucht, denn wer wusste schon, welche anderen Grauen noch von den umliegenden Hügeln herabsteigen mochten. Aber nach ihrer Rückkehr hieß es wieder, jeder für sich, entschied Ragnar. Besonders, was Strybjörn betraf. Der Grimmschädel konnte sein Mitgefühl für sich behalten, dachte Ragnar. *** »Du bist ganz sicher, dass es sich so abgespielt hat?«, fragte Hakon. Ragnar nickte. Der Sergeant taxierte ihn mit seinem Blick. Er ließ Ragnar dessen Beschreibung des Vorfalls Wort für Wort wiederholen und schwieg dann eine ganze Weile. Ragnar starrte über die Schulter des Sergeants ins Leere, während er sich an den Rückmarsch nach Russvik erinnerte. Er war nicht angenehm gewesen. Er hatte ständig über Henks Schicksal grübeln und daran denken müssen, dass dessen Verhängnis leicht sein eigenes hätte sein können. Henk war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Ragnar wusste mit
schrecklicher Gewissheit, dass es ebenso gut ihn hätte erwischen können. Ein Blick auf die verängstigten, müden Gesichter seiner Kameraden verriet ihm, dass innen derselbe Gedanke gekommen war. Auf dem langen Rückmarsch zum Lager hatte sie das Heulen der Wölfe zu Tode erschreckt. Bei jedem Schatten hochfahrend, hatten sie damit gerechnet, auf der Stelle zu sterben, doch nichts dergleichen war geschehen. Nur das unheimliche Heulen schien ihnen durch Mark und Bein zu dringen und dort nachzuhallen wie die schrille Stimme des Verhängnisses. Ragnar war sicher, es würde von nun an jede Nacht durch seine Träume geistern und er werde den Troll, die Wölfe und den toten Henk dort untrennbar verbunden wiedersehen. Er fühlte sich für den Tod des Jungen verantwortlich, und das hatte er auch zu Hakon gesagt, als der Sergeant mit seiner Befragung begonnen hatte. Hakon hatte ihn ungerührt angesehen und ihn ausreden lassen. Ragnar war sich der Last seines Versagens bewusst, und es gab Zeiten, in denen es ihm so vorkam, als könne er Henks junges Gesicht sehen, wie es ihn anklagend ansah. Das war fast so schlimm wie jenes Gefühl, das er nach der Zerstörung seines Dorfs empfunden hatte. Er fragte sich, wie das möglich war - schließlich hatte er Henk kaum gekannt, während er mit seinem Klan sein ganzes Leben verbracht hatte. Doch ein Teil von ihm argwöhnte, dass er die Antwort bereits kannte. Bei den Donnerfäusten war er ein Gefolgsmann gewesen, von dem man nur erwartete, für seine Leute zu kämpfen und zu sterben. Bei seiner Klaue, allein in der Wildnis von Fenris, war er ein Anführer gewesen. Er war für das Schicksal seiner Wolfsklaue verantwortlich. Vielleicht war es so, ein Jarl oder Schiffskapitän zu sein. Er wusste nicht, ob ihm das wirklich gefiel, und zum ersten Mal in seinem Leben hatte Ragnar das Gefühl, Rang und Ruhm könnten ein nicht gänzlich ungetrübtes Vergnügen sein.
»Was werden Sie jetzt tun?«, fragte Ragnar. »Werden wir den Troll zur Strecke bringen?« »Warum sollten wir das tun?« »Weil er einen von uns getötet hat.« »Wenn einer von uns so schwach war, sich von ihm töten zu lassen, hat uns der Troll einen Gefallen getan.« »Ich glaube nicht, dass es so ist.« »Niemand hat nach deiner Meinung gefragt.« »Sind wir hier fertig?«, fragte Ragnar angewidert. Hakon nickte. Mit einem jähen Gefühl der Leere und Erschöpfung erhob Ragnar sich von seinem Stuhl und wandte sich zum Gehen. »Ragnar!« Er drehte sich um und funkelte den Sergeant an, und dann sah er zu seiner Überraschung etwas wie Mitgefühl auf Hakons strengen Zügen. »Ja, Sergeant?« »Es ist niemals leicht, einen Mann zu verlieren. Glaub mir, ich weiß es.« Ragnar nickte und verließ den Raum.
8
PRÜFUNGEN »Noch mehr Spuren«, sagte Ragnar kopfschüttelnd. Er sah sich in der trostlosen Landschaft nach Anzeichen für einen Überraschungsangriff um. Die Pinien fielen mit dem Hang unter ihnen ab. Klippen versperrten den Weg nach rechts. Es gab reichlich Deckung, aber nichts rührte sich. Er hatte nicht das Gefühl einer unmittelbar bevorstehenden Gefahr. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und strich sich die Haare aus den Augen. Der große Hirsch hatte sie umhergehetzt, und sie hatten sich weit von dem Weg entfernt, der nach Russvik zurückführte. »Das ist das fünfte Mal in dieser Woche«, sagte Kjel grinsend. »Vielleicht werden wir beobachtet.« »Vielleicht«, sagte Ragnar. Er starrte auf den dampfenden Kadaver des toten Hirschs. Strybjörn hatte ihn ausgeweidet, während Ragnar und Kjel diese neue Fährte inspizierten. »Versuch etwas vorsichtiger mit dem Messer umzugehen, Grimmschädel«, fügte er hinzu. Strybjörn funkelte ihn an. »Wenn du glaubst, dass du es besser kannst, Letzter der Donnerfäuste, warum ziehst du dann nicht deinen Dolch und kommst her? Dann zeige ich dir, wie man etwas anderes ausweidet als einen Hirsch.« Ragnars Hand zuckte zu seinem Dolchgriff. Heißer Hass erfüllte ihn. Kjel, der sah, was vorging, trat zwischen sie. Sven sah zu und wartete ab, was passieren würde. »Das reicht«, sagte Kjel. »Jetzt, da Henk tot ist, können wir es uns nicht leisten, noch einen Mann zu verlieren. Nicht, wenn andere in der Nähe sind und wir uns den Rückweg freikämpfen müssen. Strybjörn, vergiss nicht, Hakon hat Ragnar das Kommando gegeben.«
»Aye, und es hat uns wirklich viel genützt«, murmelte der Grimmschädel. Ragnar machte Anstalten, auf ihn loszugehen, doch Kjel schob ihn zurück. Er registrierte das unmerkliche Kopfschütteln des Falkners. Langsam ließ seine Wut nach. Kjels Worte waren nicht nur eine Erinnerung für Strybjörn, sondern auch für ihn. Es ging nicht an, dass er als Anführer noch einen seiner Krieger verlor, vor allem dann nicht, wenn er ihn selbst tötete. Er fand den Gedanken beinahe erheiternd, und die Spannung verließ ihn. Er gab sich damit zufrieden, den Grimmschädel anzugrinsen. Sven und Strybjörn banden den Kadaver an die Stange, an der sie ihn zurück nach Russvik tragen würden. Ragnar fand den Anblick des roten tropfenden Fleisches nicht mehr so bestürzend wie noch vor gar nicht so langer Zeit. Er hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, da er Dutzende der herrlichen Kreaturen erlegt und ausgeweidet hatte. Jedenfalls war ein toter Hirsch kein Grund zur Sorge. Das Problem war diese Fährte. Wem gehörte sie? Woher kamen diejenigen, welche sie hinterlassen hatten? Die Spuren schienen von menschenähnlichen Wesen hinterlassen worden zu sein, aber nachdem er noch nie Spuren von Wölfen oder Nachtgängern gesehen hatte, neigte Ragnar zu äußerster Vorsicht. Er konnte der Fährte folgen und dabei vielleicht in einen Hinterhalt geraten. Höchstwahrscheinlich war der Versuch, der Fährte zu folgen, ein sinnloses Unterfangen. Der frische Winterschnee, der in den höheren Lagen während der Schneestürme fiel, würde sie in Bälde zudecken, und die Gejagten würden verschwinden wie ein Wolfen in der Nacht. Vielleicht ganz genau wie ein Wolfen, dachte Ragnar. Aber es hatte den Anschein, als träfen die Gerüchte und Legenden über Asaheim nicht zu. Als er alle Gedanken an böse Unwesen, die sie verfolgten, für einen Augenblick verbannte, erkannte Ragnar, dass Fährten eben Fährten waren und hier irgendwelche Leute lebten. Jedenfalls gehörten diese Fährten
nicht zu den Anwärtern aus Russvik, so viel stand fest. In den Bergen mussten noch andere Leute leben. Ragnar hatte das Gefühl, sich die Frage sparen zu können, ob sie feindselig waren oder nicht. Allem Anschein nach war der natürliche Zustand auf Fenris der, dass alle Leute Feinde waren. So war es schon immer gewesen. So würde es immer sein. Russ hatte es vor langer Zeit so verfügt, um sein Volk stark zu halten. Dass die Fährte von Kriegern stammte, bezweifelte Ragnar nicht. Er bezweifelte hingegen, dass sie den Anwärtern Mann gegen Mann gewachsen waren. In Bezug auf die Anzahl mochten sich die Dinge jedoch anders verhalten. Er hatte in den vergangenen Monaten genug über das Fährtenlesen gelernt, um eine genaue Schätzung abgeben zu können, wie viele Personen die Gruppe gezählt hatte, die hier vorbeigekommen war: mindestens ein Dutzend. Die Frage war jetzt, ob die Fährten, welche die anderen Anwärter Russviks entdeckt hatten, zu derselben Gruppe oder zu einer anderen gehörten. Ragnar beschloss, Hakon bei seiner Rückkehr von ihrem Fund zu berichten. Im Augenblick schien er kaum etwas anderes tun zu können. *** Ragnar stapfte den Hang nach Russvik hinunter. Im Tal konnte er die Lichter der Laternen in den Langhäusern glitzern sehen. Er sah auch die flackernden Funken, die aus den Kaminen im Dach des großen Langhauses stoben, das sich in der Dunkelheit als massiver Klotz abzeichnete. Unbekannte Sterne standen am Himmel. Das Gurren der Nachtvögel lag in der Luft. Er konnte Holzrauch und den lehmigen Geruch der nahenden Nacht wahrnehmen. Wie immer kam es ihm so vor, dass seine anderen Sinne stärker wurden, wenn das Licht nachließ, um dieses Fehlen auszugleichen. Irgendwo in der
Ferne heulte ein Wolf. Er warf einen Blick zurück, um sich zu vergewissern, dass Sven und Strybjörn noch da waren. Er konnte ihre schattenhaften Umrisse in der Dunkelheit erkennen, wie sie den toten Hirsch zwischen sich trugen. Voraus sah er Kjel in der Finsternis umherspringen, der den Weg auskundschaftete. Seine Klaue würde keinen Krieger mehr verlieren, wenn er es verhindern konnte. Nicht, dass es jetzt noch wahrscheinlich war. In den seit Henks Tod verstrichenen Monaten waren seine Kameraden nur härter und zäher geworden. Unter dem Druck beständiger Übungen und Höchstleistungen waren sie stärker, schneller und ausdauernder geworden, als es je ein Inselbewohner gewesen war, den Ragnar gekannt hatte. Er seufzte nachdenklich. Er hatte in den vergangenen Monaten so viel gelernt, dass ihm schwindelte. Er kannte die gesamte essbare Flora und Fauna in den umliegenden Bergen. Er wusste, wie man einen Unterschlupf errichtete und Feuer machte. Er konnte sogar ein kleines Iglu aus dem Winterschnee bauen, das vor den Eisstürmen schützte. Er wusste, wie man Wunden und Erfrierungen behandelte. Er hatte gelernt, mit bloßen Händen zu kämpfen, und war jetzt im Kampf ohne Waffen ebenso tüchtig wie Sven und Strybjörn. Er war schon immer gut mit Speer und Harpune gewesen, aber er bezweifelte, dass es in seinem alten Dorf jemanden gegeben hatte, der sich mit seinen Fähigkeiten hätte messen können, nicht einmal die Meisterharpuniere. Es war nicht leicht gewesen. Die Hälfte der Anwärter war mittlerweile tot. Von den anfänglich gut drei Dutzend lebten nur noch ungefähr zwanzig. Einige waren von den Klippen gestürzt, auf denen sie das Klettern geübt hatten, andere waren nicht von der Jagd zurückgekehrt, ein Opfer von Wölfen, Trollen oder Wölfen. Zwei waren bei Waffenübungen mit Axt und Speer zu Tode gekommen. Einer war von Sergeant Hakon für irgendein unaussprechliches Verbrechen hingerichtet
worden. Natürlich waren neue Rekruten eingetroffen, frischgesichtig und voller Staunen und Furcht. Ragnar verblüfften seine eigenen Gefühle der Überlegenheit beim Anblick dieser Neuankömmlinge. Die wenigen Monate seit seiner Erwählung hätten ebenso gut ein ganzes Leben sein können. Zwischen ihm und den Neuankömmlingen schien eine Altersunterschied zu liegen, der größer war als jener zwischen Wolfbruder und knorrigem Ältesten in seinem Heimatdorf. Er fragte sich, wohin jene gegangen waren, die bei seiner Ankunft hier gewesen« waren. Viele von ihnen waren verschwunden, von einem Luftschiff zu einem unbekannten Bestimmungsort gebracht. Nur Sergeant Hakon wusste genau, wohin sie gebracht wurden, und niemand hatte je gewagt, ihn danach zu fragen. In dieser Zeit hatte Ragnar es geschafft, seinen Hass auf Strybjörn im Zaum zu halten. Er war nicht verschwunden, sondern wartete lediglich auf einen passenden Zeitpunkt. Und auf eine seltsame Art hatte er, solange Strybjörn noch lebte und Ragnars Hass kalt in ihm brannte, noch ein zartes Band zu seinem alten Leben auf der Insel. Ragnar wollte nicht, dass Strybjörn starb, während er zu seiner Klaue gehörte. Er war bereit, ihn zu verschonen, bis er keine Verantwortung mehr für ihn hatte. »Beeilen wir uns«, sagte er. »In Russvik gibt es hungrige Mäuler zu füttern.« »Friss nicht alles auf, bevor wir dort sind, Sven«, riet Kjel. Ragnar war aufgefallen, dass Sven sich unterwegs Portionen rohen Fleisches in den Mund gestopft hatte. »Ja, du hattest schon genug«, sagte Ragnar. »Hatte ich, verflucht noch mal, nicht«, erwiderte Sven und rülpste laut. Die anderen lachten laut, und ihre Lebensgeister hoben sich,
bevor sie weiter bergab gingen, dem flackernden Lampenlicht Russviks entgegen. *** »Ich sage euch, es waren über hundert«, sagte Nils. Er war ein schmächtiger Bursche, aber aufgeweckt und von rascher Auffassungsgabe, der Anführer einer der anderen AnwärterKlauen, die am Tag von Ragnars Ankunft zusammengestellt worden waren. Bisher hatte er zwei von seinen Leuten verloren, wenngleich nicht durch sein Verschulden. Eigentlich nur durch Pech. Ragnar musterte ihn mit Interesse, genau wie alle anderen, die im Langhaus ihr Gulasch aus Wildbret und Rüben aßen. Dies war die erste eindeutige Sichtung einer großen Gruppe von Fremden. »Wo hast du sie gesehen?«, fragte Strybjörn. »Auf dem Axtkopfpass. Wir waren talaufwärts und haben sie uns aus den Bäumen angesehen. Wir hatten seit einigen Stunden einen großen Hirsch und seine zwei Rehe verfolgt, als wir sie sahen. Wir dachten, wir kommen besser zurück und melden es Sergeant Hakon.« »Um die hundert«, sagte Kjel. »Das sind ziemlich viele.« Ragnar wusste, dass alle dasselbe dachten wir er. Die neuen Anwärter eingeschlossen, waren sie höchstens vierzig Krieger in Russvik, Hakon und etwaige gerüstete Besucher nicht gerechnet. Das war kein gutes Kräfteverhältnis, wenn es zum Kampf kam. Andererseits gab es immer noch die magischen Waffen, die der Sergeant und seinesgleichen trugen. Ob es hundert waren oder tausend, es würde keine Rolle spielen gegen die Zauberei, die einen ausgewachsenen Meerdrachen in Stücke reißen konnte. »Was hat der Sergeant gesagt?«, fragte Khel.
»Er hat nur gelacht und gemeint, wir brauchten uns keine Sorgen zu machen. Das sei nur die Winterwanderung der Fremden. Er sagte, sie würden uns keinen Ärger machen, wenn wir sie in Ruhe ließen.« Ragnar dachte darüber nach. Eine Winterwanderung - das klang danach, als sei diese Gruppe Teil einer viel größeren Bewegung von Leuten. Wiederum wurde ihm seine Unwissenheit in Bezug auf das Land bewusst in dem das Luftschiff ihn abgesetzt hatte. Er wünschte, er hätte mehr darüber gewusst. Er wünschte, jemand würde ihm Gelegenheit geben, mehr zu erfahren. Eines wurde jedoch zunehmend offensichtlicher. Die Fremden töteten bei ihrem Vorbeizug einen Großteil des Wilds. Der Hirsch, den Ragnars Klaue nach Russvik gebracht hatte, war seit geraumer Zeit das erste Fleisch, das eine Gruppe von Anwärtern erlegt hatte. Es mochte das letzte gewesen sein, nun, da der Winter hereinbrach. Und das war noch nicht das Schlimmste daran. Die Vorräte in den Häusern gingen langsam zur Neige. Es waren noch Säcke mit Korn übrig und auch noch etwas welkes Gemüse, aber kaum noch etwas anderes. Ragnar fragte sich, wie lange die Vorräte noch reichen würden. Er fragte sich außerdem, was Sergeant Hakon und die anderen Wölfe aßen. Er hatte sie noch nie mit den Anwärtern essen sehen. Bei näherem Nachdenken hatte er sie überhaupt noch nicht essen sehen. Das hatte etwas Übernatürliches. Er zuckte die Achseln und schob den Gedanken beiseite. Natürlich war es möglich, dass der Sergeant aß, wo niemand ihn sehen konnte. Vielleicht hatte er einen geheimen Nahrungsmittelvorrat, an dem er sich gütlich tat. Auch dieser Gedanke kam ihm lächerlich vor. Sergeant Hakon gehörte nicht zu der Sorte, die irgendetwas heimlich tat. Warum sollte er auch? Er war der unumschränkte Herr und Meister dieses Lagers. Dennoch war Ragnar beunruhigt. Der Winter wurde
strenger. Das Essen wurde knapper. Weitere Anwärter hatten sich zu ihnen gesellt. Eine Katastrophe zeichnete sich ab. *** »Bring ihn um! Bring das Schwein um!«, schrie die Menge hungriger Anwärter. Der Kampf im Langhaus war rasch ausgebrochen, und dabei waren Holztische und Teller mit dampfender Grütze umgeworfen worden. Kjel hatte versehentlich Mika und Vol, zwei aus Nils' Klaue, angerempelt, die alle für Grütze anstanden. Der Inhalt eines Tellers war verschüttet und die Burschen mit Essen bespritzt worden. Durch Wochen des Hungers, harter Übungen und Sergeant Hakons Bestrafungen waren arg strapazierte Geduldsfäden gerissen. Augenblicke später waren die beiden über Kjel hergefallen, und Mika stemmte ihn auf den Tisch, während Vol ihn trat und schlug. Ragnar fluchte. Sowohl Mika als auch Vol waren groß und stämmig, und beide waren sehr gute Ringer. Sven und Strybjörn waren beide noch nicht hier. Ihm blieb nichts anderes übrig. Wenn niemand eingriff, würden Nils' Klauenbrüder Kjel womöglich totschlagen. Keiner sah so aus, als wolle er eingreifen. Alle waren viel zu beschäftigt damit, die Angreifer anzustacheln. Ragnar lief los. Er sprang auf eine Bank, rannte über einen Tisch und stieß sich ab. Sein Schwung trug ihn mitten ins Getümmel. Er packte Mika und Vol am Kragen und riss sie zu Boden. Mikas Kopf schlug auf die festgestampfte Erde des Bodens. Ragnar rollte sich geschmeidig ab und kam rasch wieder auf die Beine, wobei er sich zu Vol drehte. Der Anwärter erhob sich mit erstaunlicher Schnelligkeit. Ragnar trat zu und erwischte ihn mit dem Fuß unter dem Kinn. Er hielt die Zehen gekrümmt, wie man es ihm beigebracht hatte, so
dass er sein Ziel mit dem Fußballen traf. Durch die Wucht des Tritts wurde Vols Kopf in den Nacken geschleudert, und er fiel auf einen anderen Tisch und verspritzte dabei Grütze in alle Richtungen. »Das kannst du nicht machen!«, schrie ein stämmiger Neuankömmling, den Ragnar nicht kannte, während er über den Tisch setzte, um ihn anzugreifen. »Kann ich das nicht, Bürschchen?«, knurrte Ragnar und fällte ihn mit einem Schlag unter das Kinn. Den Freunden des Angreifers gefiel dies offenbar nicht, und so setzten sie die von ihm begonnene Attacke für ihn fort. Als er sich mit grimmigem Lächeln zu diesen neuen Gegnern umwandte, spürte er einen kalten Luftzug im Rücken. Die Tür des Langhauses hatte sich geöffnet, und Ragnar hörte Svens und Strybjörns Freudengeheul angesichts der sich entwickelnden Schlägerei. Zwei schwere Leiber, die durch die Reihen der neuen Angreifer pflügten, verrieten Ragnar ihr Eintreffen. Es war, als sei ein Signal für den Beginn eines allgemeinen Getümmels gegeben worden. Teller mit Grütze flogen durch das Langhaus. Bänke wurden zerbrochen, Kamerad prügelte Kamerad, Freund schlug Freund in dem allgemeinen Wahnsinn. Rasch hieß es nur noch, jeder für sich und gegen alle. Ragnar trat zurück und stieß mit jemandem zusammen. Er fuhr mit erhobener Faust herum und sah, dass es Kjel war. Der Falkner sah ebenso bereit aus, ihn zu schlagen, doch als er sah, wer sein Gegenüber war, zuckte er die Achseln und grinste. »Duck dich«, rief er plötzlich. Ragnar hatte gerade noch Zeit, sich auf den Boden zu werfen, als auch schon eine Bank über seinen Kopf flog. Er hielt sich nicht damit auf, sich umzusehen, sondern trat mit dem Fuß zu und wurde mit einem schrillen Kreischen belohnt, als er seinen Angreifer im Unterleib traf. Er wälzte sich zur Seite, um einem
vorzuckenden Stiefel auszuweichen, und fand sich unter einem Tisch wieder, wo er aus dem unmittelbaren Kampfgetümmel heraus war. Ringsumher regierte der Wahnsinn. Gebrüll und Schmerzensschreie hallten durch die Luft. Blut spritzte auf den Boden. Die Anwärter bekämpften einander mit einer Wut, die jeden Feind in Angst und Schrecken versetzt hätte. Auf eine seltsame Art schienen sie sogar Spaß daran zu haben. Kämpfen und Raufen war immer Teil des Lebens auf Fenris gewesen, und es schien den Burschen gut zu tun, ihrer Frustration auf diese Art Luft machen zu können. Ragnar spürte die Erregung selbst und stürzte sich gerade rechtzeitig in das Getümmel, um von Nils einen Schlag ins Gesicht zu bekommen. Der Hieb war so heftig, dass Sterne vor Ragnars Augen tanzten. Er verzog die Lippen zu einem Grinsen grimmigster Freude, das Nils erstarren ließ, bevor Ragnar den Mann mit einem Hagel von Hieben zu Boden schickte, um sich dann auf das nächste Knäuel Kämpfender zu stürzen. »Das reicht«, bellte eine Stimme wie Donnerhall. Die Schlägerei endete augenblicklich. Ragnar verharrte wie angewurzelt. Sergeant Hakon schob sich in sein Blickfeld. Das Grinsen auf seinem Gesicht war kein angenehmer Anblick. »So«, sagte er. »Ihr wisst also nichts Besseres mit eurer Zeit anzufangen, als euch zu prügeln, was? Und ihr mögt das Essen so wenig, dass ihr es als Waffe benutzt. Das überrascht mich nicht. Asa kocht die Grütze so klumpig, dass man sie als Munition für Schleudern benutzen könnte. Trotzdem ist es eine Verschwendung. Wer hat den Kampf angefangen?« Niemand antwortete. Der Sergeant sah sich im Langhaus um. Sein Blick begegnete Ragnars. Der zwang sich, Hakons Blick standzuhalten. »Niemand, was? Tja, ich schätze, das heißt, ihr könnt alle vor dem Schlafengehen noch zwei Mal den Hügel hochlaufen. Das heißt, nachdem ihr diesen Schweinestall
ausgemistet habt.« Lautes Ächzen hallte durch das Langhaus. Niemand war glücklich bei dem Gedanken, vor dem Schlafen durch Dunkelheit und Schnee laufen zu müssen. Kjel trat vor. »Ich war's, Sergeant«, sagte er. »Ich habe angefangen.« »Wie, Junge?« »Na ja ...« Mika meldete sich. »Er hat mich angerempelt, Sergeant, aber ich habe zuerst zugeschlagen.« »Und dann?« »Dann habe ich mich eingemischt«, sagte Ragnar. Er erwähnte nicht, dass Mika und Vol Kjel gemeinsam in die Mangel genommen hatten. Das zu bestrafen oblag nicht dem Sergeant, sondern war bereits durch die Schlägerei geregelt worden. »Aha.« »Dann bin ich dazugekommen«, sagte Nils. »Und ich auch«, rief eine andere Stimme. Plötzlich schrien alle im Langhaus durcheinander, da alle Anwärter ihren Anteil an der Schuld geltend machten. Man könnte meinen, die Schwachköpfe wetteifern darum, wer einen Troll erlegt hat, dachte Ragnar, war aber dennoch merkwürdig stolz auf sie alle. »Tja, dann habt ihr wohl alle den Lauf verdient, oder nicht?«, sagte Hakon. »Aye!«, riefen sie zurück. »Dann fangt am besten gleich damit an«, sagte er. »Außer Kjel, Ragnar, Mika und Nils. Ihr macht hier zuerst sauber.« Damit machte Hakon auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum. Die Anwärter folgten ihm nach draußen in den Schnee. Die verbliebenen vier sahen einander an. »Dann holen wir wohl am besten die Eimer«, sagte Nils
schüchtern, als rechne er damit, dass Ragnar ihn gleich wieder schlagen würde. Ragnar nickte. Kjel warf ihm einen Blick zu und grinste. »Danke, Ragnar, dass du mir geholfen hast«, sagte er. »Denk dir nichts dabei«, sagte Ragnar. »Du würdest dasselbe für mich tun.« »Aye, das würde ich.« Sie verschränkten die Hände und schüttelten sie nachdrücklich. »Danke für das blaue Auge, Ragnar«, sagte Nils. »Aber nicht viel.« »Ach, was soll's«, sagte Mika grinsend. »Das war der beste Kampf seit einer Ewigkeit. Das müssen wir irgendwann mal wiederholen.« Damit machten sie sich an die Arbeit. *** Ragnars Finger bluteten, was gefährlich war. An dieser Tatsache hatte er keinen Zweifel, da er an einem gefrorenen Vorsprung fast hundert Schritt über dem Boden hing. Er hatte sie zum Schutz vor der Kälte mit Hirschfell umwickelt, bevor er mit dem Klettern begonnen hatte, aber das Fell war beim Aufstieg ausgefranst, und jetzt schnitt das scharfkantige Gestein in seine Finger. Der Wind zupfte an seiner Tunika und an dem hirschledernen Überwurf, den er selbst angefertigt hatte. Er blies ihm die langen schwarzen Haare in die Augen und ließ diese gleichzeitig tränen. Sein Herz hämmerte. Der kalte Schweiß fühlte sich an, als gefriere er auf seinem Gesicht. Er versuchte sich einzureden, dass er sich nicht zu fürchten brauchte, dass es keinen Grund zur Sorge gab, dass er schon Schlimmeres überlebt hatte. Angesichts des Abgrunds unter
seinen Fersen und der Windböen, die an ihm zerrten, waren seine diesbezüglichen Versuche nicht sonderlich überzeugend. Viele Anwärter waren an dieser Felswand gestorben. Erst gestern war Vol in den Tod gestürzt. Ragnar wollte nicht daran denken, wie er lange Minuten dagelegen hatte, mit gebrochenem Rückgrat und zermatschten Eingeweiden, während sein Blut den Schnee rötete und sein Leben verrann. In wenigen Sekunden mochte ihn dasselbe Schicksal ereilen. Ragnar versuchte seinen Griff zu ändern, aber seine Finger fanden auf dem glatten, eiskalten Felsen keinen Halt. Er suchte verzweifelt nach einem Halt für die Füße, aber das vereiste Gestein widersetzte sich ihm. Er rutschte langsam in den Tod. Vor seinem geistigen Auge sah er sich bereits abstürzen. Er spürte fast schon den kurzen Fall durch die Leere, das triumphierende Heulen des Windes in den Ohren, das Aufflammen unerträglicher Schmerzen, wenn der kalte Boden ihn willkommen hieß, und dann die lange Dunkelheit des Todes. Ein Teil von ihm sehnte sich beinah danach. Nach den Strapazen der vergangenen Wochen würde es eine Erlösung sein. Seit der Schlägerei hatte sich vieles verschlimmert. Das Essen war noch knapper geworden und die Ausbildung noch härter. Es hatte weitere Schlägereien und Prügel gegeben. Einer der neuen Anwärter war zu Tode getreten vor dem Langhaus gefunden worden, und diesmal war niemand vorgetreten, um die Verantwortung zu übernehmen. Sergeant Hakon hatte den Fall nicht einmal besonders gründlich untersucht. Er sagte, die Wahrheit werde schließlich ans Licht kommen, und die Schuldigen könnten sich nicht ewig verstecken. Ragnar hatte den Gedanken nicht sonderlich beruhigend gefunden. Er wünschte, er hätte die Zuversicht des Sergeants teilen können. Andere waren nicht mehr in der Lage gewesen, mit der Belastung fertig zu werden, und in die Kälte gewandert. Ihre erfrorenen Leichen hatte man unweit des Lagers gefunden. Sven hatte im Scherz vorgeschlagen, man
könnte sie in die Küche bringen. Wenigstens hoffte Ragnar, dass es scherzhaft gemeint war. Er schüttelte den Kopf. Woran dachte er eigentlich? Wie immer in Augenblicken extremer Gefahr schien sein Verstand mit unglaublicher Schnelligkeit zu arbeiten, aber er nutzte das lediglich dazu, in den Tag zu träumen und sich an die Vergangenheit zu erinnern. Er musste sich retten, und zwar sofort, bevor seine Finger von dem Vorsprung glitten und er ins Verderben stürzte. Er ließ den Vorsprung mit einer Hand los und spürte, wie er abrutschte. Er drehte sich, warf sich vorwärts und streckte die freie Hand aus, um an dem kalten Fels nach Halt zu suchen. Seine abgestorbenen Finger reagierten kaum, aber er konzentrierte seine ganze Willenskraft auf sie und brachte sie dazu, sich zu bewegen. Triumphierend spürte er etwas unter seinen Fingern. Es fühlte sich beinah an wie menschliches Haar. Es musste Moos oder eine Flechte sein, dachte er. Das Triumphgefühl verwandelte sich rasch in Verzweiflung, als er spürte, wie das Zeug nachgab. Sein Gewicht riss es an den Wurzeln aus. Seine Finger verloren den Halt, und er drohte zu fallen. Für einen kurzen, schwindelerregenden Augenblick spürte er, wie er sich von der Felswand löste. Sein Rücken krümmte sich, da sein langer Fall ins Leere begann. In diesem Augenblick wusste er, dass er sterben würde, und diesmal würde ihn weder Magie noch Zauberei ins Leben zurückholen. Dann schlossen sich starke Finger um sein Handgelenk, und sein Fall wurde aufgehalten. Er schaute auf und sah Kjel über sich. Er dankte Russ, dass Kjel seine Schwierigkeiten bemerkt hatte und zurückgekehrt war. Erleichterung überflutete ihn, und plötzlich fühlte er sich schwach. Er registrierte den Ausdruck äußerster Anstrengung auf dem Gesicht des Falkners einen Sekundenbruchteil, bevor
er spürte, wie Kjel langsam abrutschte. Nein, dachte Ragnar, indem er auf die Zähne biss und wieder nach einem Halt suchte, da er jetzt ebenso befürchtete, Kjel mit ins Verderben zu reißen, als selbst abzustürzen. Dank des zusätzlichen Halts durch Kjels Griff gelang es ihm diesmal, einen festen Halt zu finden und sich ganz auf den Vorsprung zu ziehen. »Das war viel zu knapp«, keuchte Ragnar nach einem Augenblick des Ausruhens. Die Angst und die Anstrengung hatten seine Stimme zu einem flüsternden Krächzen reduziert. »Ja«, sagte Kjel mit immer noch weißem Gesicht. »Ich schulde dir mein Leben«, sagte Ragnar. Kjel schaute das verbliebene Stück der Felswand empor. Es erstreckte sich noch etliche Meter in die Höhe. Ragnar war klar, dass Kjel die wenige ihnen noch verbliebene Kraft mit dem Rest der Kletterpartie verglich. Die Miene auf seinem Gesicht verriet ihm, dass Kjel ihre Aussichten nicht gerade als rosig einstufte. »Danke mir, wenn wir es beide lebend überstanden haben«, sagte Kjel. Müde setzten sie den langen Aufstieg fort. Als sie oben mit vor Erschöpfung zitternden Gliedern und rasselndem Atem ankamen, wartete Sergeant Hakon auf sie. Sein Gesicht hatte einen nachdenklichen Ausdruck. »Ragnar, finde dich morgen bei Tagesanbruch mit deiner Klaue im großen Haus ein.« Seinem Tonfall konnte Ragnar nicht entnehmen, ob es eine gute oder eine schlechte Neuigkeit war. *** Das trübe Morgenlicht fiel durch die Schlitze, die im großen
Haus als Fenster dienten. Es roch nach Rauch und altem Schweiß. Sergeant Hakon hatte sich vor Ragnars Klaue aufgebaut. In seinem Schatten kam Ragnar sich wie ein Zwerg vor. In den Augen des Sergeants stand ein sonderbares Funkeln, aber in seinem versteinerten Gesicht konnte Ragnar keinen besonderen Ausdruck erkennen. Er schien über sie nachzudenken, vielleicht im Hinblick darauf, sie zu töten, vielleicht auch mit anderen Absichten im Hinterkopf. »Ihr habt euch wacker geschlagen«, sagte er schließlich. »Zumindest habt ihr euch so gut geschlagen, dass ihr es bis hierher geschafft habt. Ihr habt alle überlebt, und ihr habt euch keine Schande gemacht. Hier in Russvik könnt ihr nicht mehr viel lernen, und ihr seid so zäh, wie euer jämmerlicher Körper es zulässt.« Alle Blicke waren jetzt auf den Sergeant gerichtet. Dies war etwas Neues. Seine Worte ließen auf eine Veränderung schließen. Vielleicht würden sie den anderen Klauen folgen. Das gab Ragnar zu denken. Keiner dieser Anwärter war jemals zurückgekehrt. Das Herz pochte ihm im Hals vor Aufregung. »Ihr bekommt die Gelegenheit, euch von hier abzusetzen«, fuhr Hakon fort. »Glaubt nicht, dass es leicht wird. Dort, wohin ihr geht, werdet ihr auf eure Zeit in Russvik als angenehme kleine Vergnügungsfeier zurückschauen.« Er hielt kurz inne, um seine Worte wirken zu lassen. Bei jedem anderen hätte Ragnar geglaubt, die Worte seien eine Übertreibung, um ihnen Angst einzujagen, aber da sie von Hakon kamen, wusste er, dass sie lediglich die Feststellung einer Tatsache waren. »Es mag sein, dass ihr ausgewählt werdet, ins nächste Stadium eurer Ausbildung einzutreten. Das setzt voraus, dass es euch gelingt, Morkais Tor zu passieren.« Ragnar gefiel nicht, worauf das hinzudeuten schien. In den Legenden seines Volks war Morkai Russ'
zweiköpfiger Hund. Er bewachte die Tore der tiefsten Hölle. Ein Blick auf seine Klauenbrüder verriet ihm, dass auch sie die Bedeutung dieses Namens kannten. »Wie gelangen wir dorthin, Sergeant?«, fragte Kjel. Ragnar merkte ihm an, dass er sein Bestes tat, um fröhlich zu klingen, aber es gelang ihm nicht, den ängstlichen Unterton aus seiner Stimme herauszuhalten. »Das werdet ihr noch früh genug herausfinden.«
9
MORKAIS TOR Wieder einmal befand sich Ragnar an Bord eines der großen Luftschiffe. Er wusste jetzt, dass es Thunderhawk genannt wurde. Vielleicht war es der Thunderhawk, aber irgendwie bezweifelte er das. Wie Hakon und die anderen darüber redeten, hatte er den Eindruck, dass es mehr als einen gab. Kjel, Strybjörn, Sven und er waren nicht die Einzigen, die an Bord gingen und sich anschnallten. Er nahm zur Kenntnis, dass Nils und Mika ebenfalls da waren. Außerdem erkannte er noch Lars, Hrolf und Magnus aus der Schar der mit ihm angekommenen Anwärter. Es hatte den Anschein, als seien sie die einzigen Überlebenden. Keiner von ihnen sah sonderlich fröhlich aus, und Ragnar nahm an, dass sie Sergeant Hakons Ansprache ebenfalls gehört hatten. Zumindest Nils versuchte sie anzulächeln, aber seine Miene war eher nachdenklich als glücklich. Wie Ragnar fragte er sich, was sie hinter Morkais Tor erwartete. Ein Tosen erhob sich, als der Thunderhawk zum Leben erwachte und sich vom Boden erhob. Als er durch das runde Bullauge schaute, konnte Ragnar sehen, dass der Schnee auf den Schwingen des Luftschiffs verdampfte. Die Kraft der Beschleunigung presste ihn in den Sitz. Er hielt den Blick jedoch fest auf das Fenster gerichtet, da er entschlossen war, einen letzten Blick auf Russvik zu werfen. So verrückt es nach den Entbehrungen, die sie dort erlitten hatten, auch zu sein schien, Ragnar empfand so etwas wie Wehmut. In den letzten Monaten war Russvik seine Heimat gewesen. So beschwerlich sein Leben dort auch gewesen sein mochte, er hatte sich daran gewöhnt. Jetzt wurde er fortgeschickt, um sich etwas Unbekanntem zu stellen, und das an sich war schon beängstigend. Nichts von allem, was er seit seiner Ankunft in
der eisigen Einöde Asaheims erlebt hatte, war angenehm gewesen, und er bezweifelte, dass sich daran so bald etwas ändern würde. Der Gedanke an die Heimat ließ ihn einen Blick auf Strybjörn werfen. Abermals überrollte ihn eine Woge des Hasses, als er die brutalen Züge des Grimmschädels betrachtete. Ragnar erkannte, dass ihm sein beständiger Hass bestürzenderweise ein grimmiges Gefühl der Befriedigung gab. Er war vielleicht sein einziger zuverlässiger Begleiter. Strybjörn bemerkte Ragnars Blick und erwiderte ihn mit einem Funkeln. »Hast du Angst, Letzter der Donnerfäuste?«, fragte er. »Nein«, sagte Ragnar. Eines Tages in nicht allzu ferner Zukunft würde er seine Rache nehmen, das wusste er. Er war ganz sicher. Der Waffenstillstand, der für Russvik gegolten hatte, war vorbei. Er würde sich bald mit Strybjörn befassen, vorausgesetzt, sie überlebten den Gang durch Morkais Tor. *** Der Thunderhawk raste über das schneebedeckte Land Diesmal sprang er nicht so hoch, dass er die Sterne zu berühren drohte. Diesmal jagte er durch die langen Täler zwischen den Bergen, und das Donnern ihres Vorbeiflugs erschreckte die Tiere tief unter ihnen auf der Schneefeldern. Ragnar hatte keine Ahnung, wie schnell sie flogen aber ihre Geschwindigkeit war unglaublich. Allem Anschein nach legten sie in einer Stunde eine Strecke zurück, wie sie ein gesunder Mann vielleicht in einem Monat bewältigen konnte. Ihr Schatten jagte viel schneller über die Wildnis unter ihnen als das jedes beliebigen Raubvogels. Das ganze Land unter ihnen war nur da nicht völlig weiß vom Schnee, wo das Grün der Pinien die Hügel bedeckte. Hier
und da schoss ein Bach in eine Gletscherspalte und in einem langen Gischtfächer dem Boden entgegen. Seltsamerweise wirkten die Berge aus ihrem dahinrasenden Thunderhawk noch größer. Sie erhoben sich in unendlichen gefrorenen Wellen dem Horizont entgegen, mächtige Wächter, die Schulter an Schulter dem ewig währenden Ansturm von Wind, Regen und Schnee trotzten. Jetzt flog das Gefährt über die mit Felsbrocken übersäte Oberfläche eines Gletschers, der im durch die Wolken einfallenden Sonnenlicht kalt glitzerte. Als er nach unten schaute, sah Ragnar eine Gruppe von Menschen über die gefrorene Oberfläche marschieren. Sie trugen keine Felle wie alle anderen Leute, die er gesehen hatte. Nach dem kurzen Blick hätte Ragnar geschworen, dass sie gerüstet waren wie Sergeant Hakon und auch dieselben Waffen trugen. Sie schienen dem Luftschiff im Vorbeiflug zuzuwinken und waren einen Augenblick später verschwunden. Zerfranste Wolkenbänder zogen unter dem Thunderhawk hinweg, der jetzt ein wenig bebte. Ragnar verspürte einen geheimen Schauder im Herzen. So mussten sich die Götter fühlen, wenn sie auf die Welt schauten, dachte er. Da ging ihm auf, dass Hakon und seine Brüder mächtige Magier und mit den Geheimnissen einer Zauberei gesegnet waren, die stark genug war, diese Welt zu beherrschen, wenn sie darauf Wert gelegt haben würden. Dann kam ihm der Gedanke, dass sie das vielleicht schon taten und die Welt so geordnet war, wie sie es war, weil sie es aus unergründlichen Motiven so wollten. Vielleicht waren alle Klans auf Fenris nicht mehr als das Nutzvieh der grausamen Götter. Kaum war ihm dieser Gedanke durch den Kopf geschossen, als irgendein Instinkt Ragnar sagte, dass er der Wahrheit entsprach. Saß er nicht in einem Gefährt, wie es von den Erwählern der Erschlagenen benutzt wurde, und waren die Erwähler nicht die Boten der Götter? Vielleicht bedeutete das,
dass sie bei den Göttern wohnten, oder vielleicht bedeutete es auch, dass sie auf irgendeine Weise selbst Götter waren. Ranek und Hakon besaßen jedenfalls viele der legendären Attribute, die Russ zugeschrieben wurden. Sie hatten die seltsamen Wolfsaugen und auch Russ' lange Eckzähne, seine gewaltigen Muskeln und seine enorme Körperkraft. Dass sie unzweifelhaft mit ihm verwandt waren, ließ sich nicht übersehen, jedenfalls kam es Ragnar so vor. Er bezweifelte nicht, dass er bald mehr herausfinden würde. Der Thunderhawk trug ihn noch tiefer in das Herz des Rätsels. Stunden verstrichen, und das Gelände, das sie überflogen, wurde immer wilder und trostloser. Hier und da schossen mächtige Geysire aus Lava hoch in den Himmel, und der Schnee schmolz in zischenden Wolken von der dampfenden Oberfläche des schwarzen Felsgesteins. Wenn je ein Land dazu bestimmt war, den Eingang zur Hölle zu enthalten, dann dieses, fand Ragnar. Die Berge wurden noch höher und kahler. Hier und da sprangen monströse Gestalten durch die mit Flechten bedeckten Felsen. Ganze Rudel riesiger Wölfe hoben den Kopf und heulten wie zum Gruß, wenn der Thunderhawk vorbeiflog. Die Münder gewaltiger Höhlen säumten die kahlen Hänge. Der spärliche Pflanzenwuchs war verdorrt und verkrüppelt. Die Täler wurden immer steiler, ihre unergründlichen Tiefen schwarz und unheimlich, die Berge immer höher. Tatsächlich ließen die zerklüfteten Riesen die Berge rings um Russvik jetzt wie kleine Erhebungen aussehen, welche die Bezeichnung Berge kaum verdienten, obwohl sie bis dahin die höchsten waren, die Ragnar je gesehen hatte. Die Berge, durch die sie flogen, waren in ihren Ausmaßen wahrhaftig ehrfurchtgebietend und wirkten wie eine von den Göttern errichtete Mauer zum Schutz vor Dämonen. Ihre bloße Größe war atemberaubend. Durch die Geschwindigkeit des Thunderhawk in ihre Sitze gepresst, schossen sie durch lange,
dunkle Täler voller Geröll und über Gletscher, die wie Flüsse aus Eis glitzerten, wo sie von den tastenden Fingern der Sonne berührt wurden. Der rasch dahinhuschende Schatten fiel auf gefrorene Seen und stürzte in die Wolken unterhalb hoch aufragender Klippen. Der Thunderhawk brüllte noch lauter, als er durch die Berge flog, als habe selbst dieser Streitwagen der Götter Mühe, in der dünner werdenden Luft zu steigen. Der Himmel wurde immer dunkler, und Ragnar war überzeugt, das kalte Funkeln der Sterne zu sehen. Dann legte sich das Luftschiff in eine scharfe Kurve, und während Ragnar sich fast der Magen umdrehte, sah er ihn: den höchsten Berg von allen, den höchsten Berg, den er je gesehen hatte und je sehen würde, und vermutlich den höchsten Berg in der gesamten Geschichte der Schöpfung. Er überragte die anderen Gipfel wie ein Erwachsener Kinder. Seine tieferen Hänge fielen Meilen um Meilen herab in die Wolken unter ihnen. Es war ein Berg von einem epischen Maßstab, ein Berg, wie er als Wohnsitz der Götter nicht geeigneter hätte sein können. Ragnar wusste, dass dies ihr Bestimmungsort war, auch wenn es ihm niemand gesagt hatte, und als er sich im abgedunkelten Innern des Thunderhawk umsah, stellte er fest, dass auch die anderen angesichts der Großartigkeit des gewaltigen Bergs in ehrfürchtiges Schweigen versunken waren. Nun, da er diesen hoch aufragenden Berg im Licht der Morgensonne betrachtete, wusste er, dass er diesen Augenblick niemals vergessen würde, so lange er lebte. Er würde niemals das Staunen und die Furcht vergessen, die der Anblick dieser mächtigen Felsspitze in seinem Herzen wachrief. *** Das Tosen des Luftschiffs änderte sich beim Anflug, da sie
tiefer gingen und langsamer wurden. Als der Gipfel näher kam, ging der Anblick des Bergs in seiner ganzen Gewaltigkeit verloren und wich landschaftlichen Einzelheiten. Auf dem Berghang wimmelte es von großen Höhlen, und in jeder befand sich eine gewaltige Metalltür, deren Ausmaße sein Begriffsvermögen überstieg. Bis zu diesem Augenblick hätte Ragnar nicht gedacht, dass es auf ganz Fenris genug Metall gab, um auch nur eine dieser Türen mit Eisen zu beschlagen. Er hatte keine Ahnung, was hinter diesen Portalen lauern mochte, und nicht das Verlangen, es herauszufinden. Ragnar konnte sich einfach nichts vorstellen, was so groß war, dass es so riesige Öffnungen brauchte. Er schauderte, von Ehrfurcht ergriffen. Es gab noch andere Dinge: riesige Komplexe aus Metall, die durch monströse schlangengleiche Röhren miteinander verbunden waren. Zuerst glaubte Ragnar, die Weltschlange hielte den Berg umschlungen, aber als er genauer hinsah, wurde diese Vorstellung durch die nicht weniger schockierende ersetzt, dass die gewaltigen Bauwerke aus Metall das Werk von Menschen oder vielleicht von Göttern waren. Sie verbanden die stählernen Gebäude, aus denen riesige Flammenstrahlen schossen. Er hatte keine Ahnung, welchem Zweck diese unheimlichen Maschinen dienten, aber er spürte, dass er gewaltig war. Warum wären sie sonst hier auf dem Berg der Götter gewesen? Als sie tiefer sanken, konnte er erkennen, dass jedes der gigantischen Metallgebilde so groß wie eine kleine Insel und ein eigener kleiner Berg aus kostbarem Stahl war. Riesige Schüsseln, die ihn an diejenigen auf dem Eisentempel erinnerten, welche er erst ein halbes Leben zuvor gesehen hatte, drehten sich auf diesen mächtigen Gebilden. Einige von ihnen schienen sich zu bewegen und den Thunderhawk zu betrachten. Ragnar blinzelte, klammerte sich an seinen Haltegurt und schnappte nach Luft, da er all die Wunder und
Schrecken unter sich gar nicht fassen konnte. Der Thunderhawk verharrte unweit einer der riesigen Metalltore mitten in der Luft. Ein Blick nach unten zeigte Ragnar etwas auf dem Boden unter ihnen, das wie eine riesige Zielscheibe aussah, und dann senkte sich der Thunderhawk darauf herab. Das Luftschiff setzte genau im Zentrum dieser großen Zielscheibe auf. Die erstaunliche Präzision des Vorgangs traf Ragnar wie ein Schwerthieb. Sie hatten Hunderte Meilen Land und einen riesigen Kontinent überflogen, und irgendwie hatte es der Steuermann dieses fliegenden Schiffs geschafft, genau diese Stelle zu finden und das Schiff dort festzumachen. Er war sicher, dass diese Präzision kein Zufall, sondern das Produkt einer mächtigen Zauberei war, die sein Vorstellungsvermögen weit überstieg. Über das leiser werdende Tosen des Antriebs hinweg und durch die dicke Metallhülle des Thunderhawk hörte Ragnar ein merkwürdig pumpendes Knirschen. Entsetzen packte ihn, als er sah, dass das Schiff im Boden versank. Steinwände schienen sich rings um den Thunderhawk aus dem Boden zu erheben, da die Erde ihn verschlang. Sein Magen tat einen Satz, und sein Mut sank, bis ihm ein Augenblick der Überlegung verriet, dass dieser Vorgang Absicht und die steinerne Scheibe eine Plattform war, die das Luftschiff in die Tiefen der Erde befördern sollte. Er blinzelte aus dem Fenster nach oben und wurde mit einem letzten Blick auf den Gipfel belohnt, der sich senkrecht in den Himmel erhob wie ein auf den Bauch des Himmels zielender Speer. *** Sie stiegen aus dem Luftschiff in eine riesige Höhle, die so groß zu sein schien wie das Himmelsgewölbe. Die Wände
hatten einen glasigen Schimmer, als seien sie unter gewaltiger Hitze geschmolzen worden. Wolken trieben unter den gewaltigen Torbögen und verdeckten die riesigen Deckengemälde. Ragnar starrte ehrfürchtig auf die teilweise verdeckten Darstellungen einer Schlacht zwischen Wesen, bei denen es sich nur um Götter und Dämonen handeln konnte. Überall an den Wänden der gewaltigen Kammer standen riesige Statuen in gleichermaßen riesigen Nischen. Jede war hundertmal so groß wie ein Mensch, und jede stellte eine Gestalt dar, die gerüstet und bewaffnet war wie Sergeant Hakon oder Ranek der Wolfpriester. Hier, dachte Ragnar, gab es Zauberei in einem wahrhaft niederschmetternden Maßstab. Ragnar hatte so etwas noch nie zuvor gesehen. Der riesige Raum wurde von magischen Laternen erhellt, die ein Licht heller als tausend Walöllampen abstrahlten, so dass es in der Kaverne fast taghell war. Überall waren absonderliche und geheimnisvolle Gestalten mit unergründlichen Dingen beschäftigt. Ragnar sah Gestalten in derselben Rüstung, wie Sergeant Hakon und ihr Steuermann sie trugen, und mit ihren Waffen im Anschlag durch die Kaverne zu anderen Luftschiffen gehen. Er sah Männer, die mehr als nur halb Maschine zu sein schienen, wie sie die Luftschiffe mit langen Metallstangen bearbeiteten, aus denen Funken und Flammen sprühten. Ähnliche Gestalten brachten lange Rohre am Bauch der Luftschiffe an. Er sah menschenähnliche Gestalten, die gänzlich aus Metall zu bestehen schienen, Wartungsarbeiten an den Schiffen ausführen. Wie sie ihren Pflichten nachgingen, erinnerten sie Ragnar an die Schiffszimmermänner in seiner früheren Heimat. Sie erweckten den Eindruck von Männern, die vollkommen in ihrer Tätigkeit aufgingen. Der Lärm war ohrenbetäubend. Das Tosen der Luftschiffe vermischte sich mit dem Scheppern von Metall auf Metall und den Rufen aus tausend Kehlen. Die Metallmenschen klirrten
und surrten. Die Maschinen, auf denen sie fuhren, grollten wie Donner. Ragnar horchte aufmerksam und erkannte, dass die Sprache, in der diese Leute riefen, nicht die geringste Ähnlichkeit mit seiner Muttersprache hatte. Sie war noch harscher und gutturaler, und dennoch schienen einige der Worte gleichsam zu fließen. Es roch nach Chemikalien. Nicht so wie die Gerbereien auf den Inseln oder wie in der Stadt der Eisenmeister. Es roch sauber und minzig mit einem Anflug von Öl und anderen Substanzen, die Ragnar an Maschinen denken ließen. Die Luft in seinen Lungen und der Boden unter den Füßen schienen in dem Tumult zu vibrieren. Alle seine Sinne wurden von Dingen bestürmt, wie er sie nie zuvor erlebt hatte. Nach einem Augenblick der Verwirrung fiel sein Blick auf das eine in all dieser Fremdartigkeit, das er wiedererkannte. Aus einer weiter entfernten Zone größerer Dunkelheit näherte sich ihnen der Wolfpriester Ranek. Ragnar überlief ein jäher Schauder der Furcht. Das Erscheinen des Zauberers hatte bisher immer gewaltige Veränderungen in seinem Leben angekündigt. »Willkommen im Fang! Im Wohnsitz der Wölfe!«, bellte er. »Ich hoffe, ihr seid bereit, durch Morkais Tor zu treten.« *** Ranek führte sie durch lange Flure tief in die Eingeweide des Berges. Er marschierte mit dem zielgerichteten, zuversichtlichen Schritt eines alten Wolfs. Er wusste genau, wohin er ging und wie er dorthin gelangte. Darüber war Ragnar froh, denn der ganze Komplex war ein Irrgarten in einem Maßstab, wie er ihn sich nie hätte vorstellen können. Seine gesamte Heimatinsel hätte mühelos in eine der kleineren Kammern gepasst.
Es gab Zeiten, in denen er das Entsetzen niederringen musste, das ihn erfüllte. Beängstigende Gedanken stürzten auf ihn ein. Was hielt diesen ausgehöhlten Berg davon ab, auf sie einzustürzen? Was, wenn er einstürzte und sie alle lebendig begrub? Wie würde er je wieder einen Weg nach draußen finden? Ein Blick auf die blassen Gesichter der anderen verriet ihm, dass sie seine Befürchtungen teilten. Maschinen, Krieger und jene, die halb Mensch und halb Maschine waren, hielten sich neben ihnen. Sie wurden von großen Karren mit Rädern überholt, die kein sichtbares Mittel des Antriebs aufwiesen und Lasten beförderten, wie sie selbst zwanzig starke Männer nicht hätten tragen können. Wahrhaftig, dachte Ragnar, hier war mächtige Magie am Werk. Die Bewohner des Fangs besaßen Maschinen, neben denen sich die größten Maschinen der Eisenmeister wie Kinderspielzeuge ausnahmen. Er hatte das Gefühl, endlich im heimlichen Herzen der Welt eingetroffen zu sein. Es war, als sei ein Vorhang gelüftet worden, um den Ort zu zeigen, wo die Dunkler Weber das Schicksal der Menschen woben. Die Mechanismen der Bestimmung wurden bloßgelegt. Er könnte jetzt sehen, wie die Götter lebten, und es war ein ehrfurchtgebietender Anblick. Ranek führte sie zu zwei höhlenartigen Öffnungen in der Seite des Bergs, aus denen ein seltsames Brausen drang. Über beide Öffnungen war das Zeichen eines großen zweiköpfigen Adlers gemeißelt. In den Klauen hielt er eine Scheibe mit Russ' Wolfskopf-Emblem. Neben einer Öffnung war ein grünlich schimmernder Pfeil gemalt, der nach oben wies. Der Pfeil neben der anderen Öffnung zeigte nach unten. »Geht hinein«, sagte Ranek, indem er mit einer in Metall gehüllten Hand auf die linke Öffnung zeigte. Ohne nachzudenken, folgte Kjel der Aufforderung. Ein Geräusch wie ein Schrei ertönte, als er prompt abwärts verschwand. Die anderen blieben wie angewurzelt stehen. War dies eine Falle?,
fragte sich Ragnar. Erwartete sie eine große Grube? War dies Morkais Tor? Hatte man sich so viele Umstände mit ihnen gemacht, um sie hier wie Schafe abzuschlachten? Das war unwahrscheinlich. War dies irgendeine sonderbare Form von magischem Opfer? Er konnte nicht einmal eine Vermutung anstellen. Die Dinge, die er hier gesehen hatte, überstiegen sein Begriffsvermögen. »Geht!«, befahl Ranek. Trotz des Entsetzens, das in ihm aufwallte, gelangte Ragnar zu der Überzeugung, dass er dem alten Zauberer vertrauen musste. Er trat in die Öffnung. Für einen furchtbaren Augenblick spürte er nichts unter den Füßen, dann befand er sich im Schacht und fiel. Obwohl er entschlossen war, nicht zu schreien, entwich seinen Lippen ein Seufzen der Furcht. Der Magen drehte sich ihm um, während er durch den Schacht sauste. Rote und gelbe Lichter flackerten an seinen Augen vorbei, da er rasch und mit zunehmender Geschwindigkeit abstürzte. Er wusste jetzt, dass dies tatsächlich eine Falle und sein Leben vorbei war. Er spürte gerade, wie ihn schwarze Wut über die Sinnlosigkeit seines unmittelbar bevorstehenden Endes überkam, als ihn eine unsichtbare Kraft packte und seinen Fall abbremste, so dass er sanft auf dem Boden des Schachts landete. Als er leicht wie eine Feder aufsetzte und ihm aufging, dass er nicht sterben würde, musste er unwillkürlich laut lachen. Er sah einen weiteren Ausgang und den breit grinsenden Kjel davor stehen. »Das war verblüffend«, sagte der Falkner. Ragnar konnte nur nicken und das Grinsen erwidern. »Pass auf!«, rief eine Stimme über ihm. Ragnar schaute nach oben und sah Svens Stiefel dicht über seinem Kopf. Er hatte gerade noch Zeit, aus dem Schacht zu springen, bevor Sven landete. Sven verschwendete keine Zeit, ihm zu folgen, da ihm die restlichen Anwärter einer nach dem anderen folgten.
Ranek kam als Letzter. Er landete leichtfüßig und mit einer Beugung der Knie, die davon kündete, dass er es schon unzählige Male zuvor getan hatte. Auf seinem Gesicht stand kein idiotisches Grinsen. Die Magie, die in dem Schacht wirksam war, musste schon vor langer Zeit aufgehört haben, etwas Besonderes für den Zauberer zu sein. Ranek bedeutete ihnen zu folgen und ging weiter. *** Das Gelände, das sie passierten, hätte durchaus ausgewählt worden sein können, um Entsetzen wachzurufen, dachte Ragnar und erkannte dann, dass es sich höchstwahrscheinlich auch so verhielt. Es war dunkel. Hier gab es keine leuchtenden Deckenkugeln, die den Rest des Labyrinths erhellten. Die einzige Lichtquelle waren die flammenden Feuergruben und das kirschrote Glühen der blubbernden Seen aus geschmolzener Lava, die sie umgaben. Es war warm und roch nach Schwefel. Wolken eines sengenden Nebels wallten über die Wege. Ragnar achtete ganz genau darauf, wohin er trat. Hier den Halt zu verlieren war gleichbedeutend mit einem Sturz in den sicheren Tod. Ranek ging weiter, ohne sich auch nur ein Mal umzudrehen. Offenbar war er sicher, dass sie ihm folgten. Er hatte auch allen Grund, sicher zu sein, erkannte Ragnar. Was konnten die Anwärter sonst tun? Keiner von ihnen kannte den Rückweg oder hatte eine Ahnung, welche Geheimnisse und Gefahren an diesem Ort auf den arglosen Eindringling lauerten. Vor ihnen erhob sich ein gewaltiger Torbogen, in den grinsende Wolfsköpfe und Runen einer unheimlichen Art gemeißelt waren, von denen Ragnar nicht wusste, wie man sie lesen sollte. Ranek blieb stehen und drehte sich zu ihnen um.
Einer nach dem anderen versammelten sich die Anwärter. Unbewusste Disziplin, wie sie ihnen in Russvik eingetrichtert worden war, veranlasste sie dazu, sich in Reih und Glied aufzustellen. Eine Aura der Furcht lag über diesem Ort. Ragnar spürte sie förmlich in der heißen schwefeligen Luft. Schweiß kleisterte ihm die Haare an die Stirn. Sein Gesicht war von der Hitze gerötet. Es fühlte sich an, als sei er in der Heimat der Feuerdämonen. Uralte und starke Kräfte waren hier am Werk, und Ragnar spürte unsichtbare Präsenzen, vielleicht Geister oder Gespenster. In diesem Torbogen und dem, was sich dahinter verbergen mochte, lag Macht. »Seht Morkais Tor«, sagte Ranek, indem er auf den Torbogen zeigte. »Durch dieses Tor führt der Weg zu Tod oder Ruhm. Einmal hindurch, gibt es kein Zurück mehr, außer als jemand, der würdig ist, mit Leib und Seele zu den Wölfen zu gehören. Es gibt jetzt keinen anderen Weg mehr für euch. Ihr könnt diesen Ort nicht lebend verlassen, ohne durch dieses Tor zu schreiten. Ich werde jeden, der sich weigert, in die Feuergruben werfen, und dort werden die Dämonen seine Seele verzehren. Hier gibt es nur noch eine Frage zu beantworten wer von euch geht zuerst?« Schweigen. Alle Augen waren auf den Torbogen gerichtet. Das Gefühl einer lauernden bösen Präsenz verstärkte sich. Abergläubische Furcht schlich sich verstohlen in die Gedanken jedes einzelnen Anwärters. Ragnar wusste, dass alle anderen genauso empfanden wie er. Es war nicht mehr so, als schauten sie durch einen von Nebel erfüllten Bogen. Es war, als starrten sie in das Maul einer gigantischen Bestie, die sie mit einem Haps verschlingen würde. Sie hätten sich um die Ehre, als Erster zu gehen, streiten müssen, und doch rührte sich keiner von ihnen. Hier war mächtige Magie am Werk, was Ragnars Herz mit Schrecken erfüllte und kalte Finger der Furcht sein Rückgrat
emporwandern ließ. Mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde es schwerer, sich zu bewegen, schwerer zu sprechen, sogar schwerer zu denken. Es war, als sei er ein kleiner Vogel, den eine Schlange hypnotisiert hatte. Er wollte etwas tun, und doch konnte er es nicht. Da kam ihm der Gedanke, dass die Prüfung bereits begonnen hatte, dass diese merkwürdige Magie Teil der Prüfung war, dass Tapferkeit eine der wichtigsten Messlatten war, die man anlegen würde, um zu beurteilen, ob er würdig war. Er zwang seine belegte Zunge, sich zu bewegen. Er zwang seine erstarrten Lippen, sich zu öffnen. Mit einem Gefühl immenser Beklommenheit hörte er sich sagen: »Ich werde durch das Tor gehen.« »Dann geh, Junge! Worauf wartest du noch?« Wie ein Automat oder das Opfer eines Zaubers in irgendeiner großen Saga trat Ragnar steifbeinig vor, um durch Morkais Tor zu gehen. Dabei überkam ihn ein Schwindelgefühl. Die Runen des Tors leuchteten auf. Die darin eingemeißelten Wolfsköpfe schienen lebendig zu werden und aus dem Gestein zu fließen, um ihn zu begrüßen: Wolfgeister, neblig und vage, die einen Kometenschweif hinter sich herzogen. In seinen Ohren glaubte er ein leises schrilles Heulen zu hören, wie es vielleicht die Geister eines längst toten Wolfsrudels verursacht hätten. Die Geister umschwirrten ihn, als er dem Torbogen entgegenschritt. Sie strömten in seinen geöffneten Mund und seine Nasenlöcher. Er spürte, wie der Nebel durch seine Kehle rann und seine Lunge ausfüllte. Er dachte, er werde an der stechenden, dumpfen Luft ersticken, zwang sich aber dennoch, weiterzugehen und sich dem mächtigen Torbogen immer mehr zu nähern ... ***
Für einen Moment glaubte er, er sei hindurch. Er erhaschte einen kurzen Blick auf drei schreckliche alte Männer, die Rüstungen trugen und sich das Fell eines großen weißen Wolfs um die Schultern gelegt hatten, und dann stellte sich ein Gefühl entsetzlicher Kälte ein, auf das eine Welle sengender Hitze und ein Gefühl des Fallens folgten, das weitaus schlimmer war als der Fall durch den Schacht. Zeit und Raum veränderten sich. Seine Haut schien Blasen zu werfen und zu schmelzen, und plötzlich war er ganz woanders. Er stand auf einer eisbedeckten Ebene. Weit entfernt konnte er Menschen und Maschinen sehen. Manche trugen eine graue Rüstung in der Art, wie Hakon und Ranek sie trugen. Andere waren in eine blutrote Rüstung gehüllt, die mit kunstvoll gestalteten Messingschädeln verziert war, ansonsten aber eine absonderliche Ähnlichkeit mit der Rüstung der Männer in Grau aufwies. Die Männer in Grau kämpften gegen die Männer in Rot unter dem kalten Licht einer fahlen weißen Sonne. Ragnar sah, dass er auf einem Leichenhaufen stand. Ein abgetrennter Kopf rollte von seinen Füßen fort. Gliedmaßen wurden unter seinen Stiefeln zerquetscht. Ihm ging auf, dass er ebenfalls eine graue Rüstung trug, die an tausend Stellen Kratzer und Dellen aufwies. Öl und Flüssigkeit vermischten sich auf ihrer glatten Oberfläche mit seinem Blut und demjenigen seiner Feinde. Er hielt eines der seltsamen magischen Schwerter, wie Sergeant Hakon immer eines trug, in jeder Hand. Eines war zerbrochen, die Sägezähne waren abgesplittert. Das andere hatte Aussetzer. Es erwachte vorübergehend zum Leben und kreischte und vibrierte in seinen Händen, um dann wieder innezuhalten, als sei der Zauber, der ihm Leben verlieh, erloschen. Als er sich umsah, fiel sein Blick auf die Leichen von Kjel, Sven und Strybjörn und sogar auf diejenigen von Sergeant Hakon und Ranek. Er war von Männern in Rot umzingelt. Einige von ihnen hatten das Visier ihres Helms
hochgeschoben, und ihre Gesichter waren zu furchtbaren Parodien menschlicher Antlitze verzerrt. Rot leuchtende Augen funkelten in entsetzlichem Hass aus den Helmen der anderen. Er wusste, dass sie zu zahlreich und zu stark für ihn waren. Ohne dass man es ihm zu sagen brauchte, erkannte er, dass dies die Diener Horus' waren, die Anhänger der letzten Dunkelheit und Russ' Feinde. Er wusste, dass es im ganzen Universum keine tödlicheren Kämpfer gab. Und er wusste, dass ihr nur noch Augenblicke vom Tod trennten. Eine der Gestalten in roter Rüstung bedeutete den anderen zu warten. Sie hielten einen Moment inne wie Hunde, die dem Befehl ihres Herrn gehorchten, aber Ragnar wusste, dass es sich nur um einen vorübergehenden Aufschub handelte. Sie dürsteten nach seinem Blut, und selbst der Wille ihres schrecklichen Anführers konnte sie nicht lange zügeln. Der Anführer sprach jetzt, und seine metallische Stimme klang ernst und aufrichtig. »Du bist ein mächtiger Krieger, Ragnar«, sagte er. »Du bist ein gewaltiger Schlächter. Du bist würdig, dich uns anzuschließen. Leg deine Waffen nieder. Nimm am Ritual des Bluts teil. Biete Khorne deine Seele an. Leb ewig und erfahre die Ekstase der endlosen Schlacht.« Wer war Khorne?, fragte sich Ragnar. Der Name klang merkwürdig vertraut, aber auch böse. Und warum waren seine Anhänger auf Ragnars Gefolgschaft aus? Nicht, dass es eine große Rolle spielte. Dies war ein ehrliches Angebot, und ein Teil von ihm war davon fasziniert. Der rotgerüstete Krieger bot ihm eine Ewigkeit blutigen Kampfes, wie sie den Helden versprochen wurde, die Russ folgten. Mehr noch, er wusste, sobald er an ihren Ritualen teilgenommen und ihre rote Rüstung angelegt hatte, würde ihm das Gemetzel mehr Freude denn je bereiten, und dafür würde er von einer Macht belohnt werden, die so groß war wie die eines Gottes. Einen Moment lang verspürte er den Kitzel der Versuchung. Warum sollte er
sich nicht diesen gewaltigen Kriegern anschließen? Warum sollte er diesem Khorne nicht seine Seele anbieten? Warum sollte er nicht Unsterblichkeit erringen? Doch noch während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, schreckte ein anderer Teil von ihm voller Abscheu zurück. Diese Anhänger der Finsternis waren verloren und verdammt. Ihnen fehlte etwas Wichtiges, und dieser Verlust hatte aus ihnen etwas Geringeres als Menschen gemacht. Sie mochten eine gewisse Art von Ehre haben, aber dies war nicht die Ehre, wie Ragnar sie verstand. Ihre Missgestalten waren ein Spiegel ihrer entstellten Seele, und diese Tatsache konnte auch die Schönheit ihrer künstlerisch gestalteten Rüstungen nicht verbergen. Ragnar lachte und spie dem Anführer ins Gesicht, dann sprang er mitten unter die Rotgerüsteten, wobei er nach rechts und links Hiebe austeilte. Nicht einmal der Biss der ChaosKlingen, die sich in seine brechenden Knochen gruben, veranlassten ihn dazu, seine Entscheidung zu bereuen. Eine Grube aus Finsternis öffnete sich zu seinen Füßen, und zu plötzlich für ihn, um die Art des Übergangs zu verstehen, befand er sich an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit. Er war von Mauern aus Fleisch in der Farbe von Blutergüssen umgeben. Dicke Rohre wie Adern durchzogen sie, in denen seltsame Flüssigkeiten brodelten. Gelbliche Säulen aus Knochen und Knorpel in der Farbe verfaulter Zähne stützten die Decke. Alles war von einem widerlichen klebrigen roten Schleim bedeckt. Seine Stiefel verursachten ein scheußliches Schmatzen, wenn er sie von dem zungenartigen Boden hob. Die Luft hatte die Temperatur von Blut. Es war eng und stickig. Er spürte Leben einer fremden Art überall ringsumher. Er fühlte sich, als sei er bei lebendigem Leib von einer gewaltigen Bestie verschlungen worden. Er trug wieder die graue Rüstung und hielt auch die seltsamen und mächtigen Waffen in den Händen. Entfernt und
zugleich unmittelbar hörte er das Geschnatter von Stimmen, die er kannte: Kjel, Strybjörn und Sven. Irgendeine Magie trug ihm ihre Worte zu, die seltsam ton- und gefühllos klangen. Er hörte sie reden, und ihre Stimmen kündeten von Staunen und Furcht. Ist dies wirklich?, fragte er sich. Er war sich nicht sicher. Es fühlte sich wirklich an. Unter den Füßen vibrierte der Boden im Einklang mit der Blasebalg- Atmung der riesigen Bestie. Er konnte den exotischen Gestank ihrer Innereien riechen. Merkwürdige Geschmacksrückstände hielten sich wie Gift in seinem Mund. Aber wie konnte dies wirklich sein? Er war unter den Klingen der rotgekleideten Krieger gestorben. War er wie nach der Schlacht mit den Grimmschädeln wieder zum Leben erweckt worden? Oder war nichts von alledem wirklich? Befand er sich im Banne irgendeines mächtigen Zaubers? Dieser hat eine starke Seele. Die Stimme hallte in seinem Schädel. Er kannte sie nicht, aber sie klang uralt und weise. Unmittelbar im Anschluss an die Worte spürte er eine Kraft in seinen Verstand eindringen, die seine Zweifel zerstreute, seine Erinnerung veränderte und ihn zwang, nur in der Gegenwart zu leben. Seine Zweifel zerliefen wie Blut in einem Gebirgsbach. Alle Gedanken, die sich mit anderen Dingen befassten als der unmittelbaren Gefahr, verschwanden, als er das entfernte Gebrüll einer gewaltigen Bestie hörte. Die Stimmen der anderen Anwärter hallten laut in seinen Ohren. Sie kündeten von unbändiger Furcht. Er riskierte einen Blick zurück und sah blankes Entsetzen und nackte Angst in Kjels Zügen. Die anderen blieben hinter ihnen zurück. Die Hände hielten Waffen wie jene, die Ranek vor so langer Zeit in Ragnars anderem Leben benutzt hatte, um den Meerdrachen zu töten. Ihm war klar, dass sie sich fragten, was sie hier taten. Sie alle erwarteten von ihm Führung und beispielhaftes Handeln wie in jener Nacht, als sie Henk verloren hatten. Sie verließen
sich auf seine Nerven, seinen Mut, sein Wissen. Und das Schlimmste daran war, dass er keine Ahnung hatte, was sie tun sollten. Er wusste nicht, wo sie waren, wie sie hierher gelangt waren und welcher Feind sich ihnen näherte. Er war nur sicher, dass sich irgendein Feind näherte, und zwar mit entsetzlicher Schnelligkeit. »Bleibt ruhig«, sagte er zu ihnen in der Hoffnung, dass niemand von ihnen die Unsicherheit in seiner Stimme bemerkte. Abermals ertönte das Gebrüll, und Ragnar überlief ein Schauder. Was für ein Ungeheuer diese Laute auch verursachte, es musste riesig sein. Und es gab mehr als eines. Dieses Brüllen war aus einer anderen Richtung gekommen als das erste. Es wurde von einem sonderbaren Ruf aus dem Gang voraus beantwortet. Dieser Ruf klang wie das Quieken Tausender Ratten oder vielleicht wie das Klicken Hunderter chitingepanzerter Klauen. Das Geräusch kam näher. Er hörte Kjel vor Angst aufschreien und rang um seine Beherrschung, um zu verhindern, dass Kjels Entsetzen sich auf ihn übertrug. Dies gelang ihm nur teilweise. Der Anblick dessen, was durch den Gang auf ihn zuraste, hätte ihn beinahe all seiner Kraft beraubt. Es waren Hunderte von Kreaturen, Ungeheuer größer als ein Mensch. Jedes hatte vier Arme, die in riesigen Klauen endeten, und Albtraumgesichter aus winzigen Augen und monströsen Kiefern. Sie waren viel schneller als ein Mensch und überbrückten die Entfernung fast zu rasch für das Auge, um ihnen zu folgen. »Wir werden alle sterben!«, rief Kjel, und Ragnar stimmte ihm insgeheim zu. Dennoch, auch wenn er sterben musste, würde er noch einige dieser Bestien mit in den Tod nehmen. Und er würde in jedem Fall dafür sorgen, dass die anderen seinem Beispiel folgten. »Bleibt stehen und kämpft«, schrie er. »Oder ich töte euch
eigenhändig, ihr blutlosen Feiglinge!« Das Tosen magischer Waffen wurde laut. Dieselbe Magie, welche auch den Drachen getötet hatte, forderte ihren Tribut von den Angreifern. Ragnar duckte sich, als Feuerstrahlen über seinen Kopf hinwegzuckten und die Ungeheuer trafen. Sie starben, aber nicht schnell genug. Köpfe explodierten. Leiber wurden zerfetzt. Blut und ekelhafte Flüssigkeiten liefen über den lebenden Teppich. Trotzdem liefen die Angreifer weiter, eine unaufhaltsame Flut aus unmenschlichem Hunger und Hass. Verzweiflung drohte Ragnar zu überwältigen. Welchen Sinn hatte ihr Kampf? Warum legten sie sich nicht einfach hin und starben? Er weigerte sich nachzugeben. Vor Wut und Hass schreiend, sprang er vor und in die Masse der Ungeheuer, wobei er mit seinen Klingen nach allen Seiten hieb. Einige hielten inne, um gegen ihn zu kämpfen, aber die meisten rasten an ihm vorbei, um zu seinen Kameraden zu gelangen. Er war von einem Wirbelsturm aus Zähnen und Klauen umgeben, die seine Rüstung und ihn selbst zerfetzten. Immer noch kämpfend, immer noch tötend, rang er die Qualen nieder, die ihn zu überwältigen drohten, während sich Dunkelheit über ihn senkte. Wieder erwachte er unbeschadet. Seine Augen erfassten die Umgebung mit einem Blick. Es war dunkel. Der Himmel wurde von gewaltigen Ausbrüchen von Licht erhellt. Ein Geräusch wie Donnerhall ließ die Luft erzittern. Er war von den Ruinen einer gewaltigen Stadt umgeben, die größer als alles war, was Ragnar je gesehen hatte, vielleicht mit Ausnahme des Fangs. Die geschwärzten Stümpfe hoher Gebäude ragten vor ihm in die Höhe. Jedes Gebäude schien fast so hoch zu sein wie ein Berg. In der Ferne, am Ende der Straße, sah er große MaschinenBestien aus Metall, die sich bewegten. Sie waren Menschen nachempfunden, aber vielleicht zehn Mal so groß. Sie hielten
riesige Waffen in den Händen, aus denen Lichtstrahlen über den Himmel zuckten wie Blitze der Götter. Auch aus ihren Schultern zuckten Blitze. Für einige Augenblicke lag ein schrilles Jaulen in der Luft, und dann war in der Ferne das markerschütternde Donnern einer Explosion zu hören. Der Boden unter seinen Füßen zitterte wie ein geprügelter Hund. Eine Wolke aus schwarzem Rauch und Trümmern jagte hoch in den Himmel, bevor sie in überraschend langsamer Bewegung wieder auf den Boden sank. Ragnar betrachtete die Szenerie. Wiederum trug er die graue Rüstung mit dem Wolfszeichen. Mittlerweile war er daran gewöhnt. Sie passte ihm wie eine zweite Haut und machte ihn schneller und stärker. Wieder einmal hielt er jene seltsamen, mächtigen Waffen in den Händen. Er fragte sich kurz, was er hier tat, aber erneut spürte er die mächtige Ausstrahlung jener uralten Präsenzen, und alle Zweifel wurden davongeschwemmt. Er sah sich um. Er war allein. Er war von seinen Kameraden getrennt worden. Zum ersten Mal seit Russ weiß wie vielen Monaten war er ganz allein. Niemand war da, um ihm Rückendeckung zu geben, um ihm zu helfen, wenn er strauchelte, um über ihn zu wachen, wenn er verwundet wurde. Er hatte keine Ahnung, wo die anderen waren und wie er an diesem ausgedehnten und entsetzlich fremdartigen Ort von ihnen getrennt worden war. Ihm fiel auf, dass die Sonne eine aufgeblähte rote Kugel war und der Himmel eine kobaltblaue Farbe hatte, wie sie ihm noch nie zuvor begegnet war. Er hatte ein Gefühl von großer Ferne, als sei er so weit von zu Hause weg, dass er die Entfernung gar nicht begreifen konnte. Er wusste, dass er die anderen finden musste, dass sie irgendwo dort draußen waren und ihren Anführer brauchten, aber er konnte nicht wissen, wo und warum Plötzlich kam er sich unbedeutend vor, verloren und allein wie ein Kind in der Wildnis. Er rang das Gefühl der Schwärze und Verzweiflung
nieder und marschierte los in Richtung des Schlachtfelds. Dabei bekam er einen besseren Eindruck von seiner Umgebung, und sein Staunen vertiefte sich noch. Menschen hatten diese Stadt erbaut. Das konnte er den Dingen entnehmen, die zwischen den Trümmern lagen. Bilder von Familien, mit so vielen Einzelheiten gemalt, dass sie beinahe wirklich schienen, in Kristallen gefangen, welche das Bild aus verschiedenen Blickwinkeln zeigte, wenn man sie drehte. Bücher in einer Sprache, die er nicht kannte, geschrieben in einer seltsamen mechanischen Regelmäßigkeit, wie es sie auf Fenris nicht gab. Kinderspielzeuge aus fremdartigen Stoffen, die glatt und kühl waren. Langsam dämmerte ihm der Maßstab dessen, was er hier erlebte. Dies war Krieg, und er wurde auf eine Weise ausgetragen, die bei seinem Volk unvorstellbar war. In dieser Stadt mussten mehr Leute gewohnt haben als auf seiner ganzen Welt, und sie war von den hier entfesselten Kräften so gründlich zerstört worden, als hätten die Götter sich aus dem Himmel herabgebeugt und sie zerschmettert. Vielleicht war genau das geschehen. Ihm schwindelte, als er sich die schiere Zerstörungskraft vorzustellen versuchte, die man auf diese Stadt gerichtet hatte. Kräfte, die zu erfassen sein Vorstellungsvermögen überstieg. Ragnar spürte, dass er hier herausgefordert und geprüft wurde und zu dieser Prüfung auch gehörte, sich an das anzupassen, was er sah, es zu begreifen und handlungsfähig zu bleiben. Er wusste, dass viele Angehörige seines Volks vor der bloßen Angst, durch diese titanischen Ruinen zu laufen, gelähmt gewesen wären. Er kam zu dem Schluss, dass es ihm nichts ausmachte. Er war Ragnar, und er würde hier ebenso gut kämpfen wie auf dem Deck eines Drachenschiffs, und er würde weiterkämpfen, ob seine Kameraden bei ihm waren oder nicht. Er gratulierte sich gerade zu seiner seelischen Stärke, als der Boden erbebte und er das bedrohliche Stampfen sich nähernder
Schritte hörte. Eine der entfernten riesigen Gestalten, die er anfangs gesehen hatte, bog um eine Ecke und kam in Sicht. Das Ding war fast zehn Mal so groß wie er und wie ein Mann proportioniert, nur größer und schlanker. Der Kopf war länglich, schnittig und oval, und der Art, wie er aufmerksam gedreht wurde, konnte er entnehmen, dass dieses Ding von Ragnars Anwesenheit wusste. An den Schultern flatterten rote und gelbe Wimpel im Wind. Seine gewaltigen Klauen hielten merkwürdige längliche Waffen. Es sprang vorwärts und bewegte sich dabei viel schneller als ein Mensch. Ragnar spürte, dass er vor Entsetzen erstarrt war. Gegen dieses Monstrum konnte er nichts unternehmen. Sein Schwert kam ihm so jämmerlich vor wie ein Zahnstocher, den ein Kind gegen einen ausgewachsenen Krieger schwang. Dieses Ding konnte ihn unter einem seiner enormen Füße zerquetschen, ohne auch nur langsamer zu werden. Tatsächlich schien es genau diese Absicht zu haben. Verdrängte Luft peitschte an Ragnars Gesicht vorbei Ein riesiger Schatten huschte an der Sonne vorüber, als der gewaltige Fuß sich herabsenkte. Im letzten Augenblick fasste er sich, entschlossen, etwas zu tun. Er versuchte sich zur Seite zu werfen und so aus dem Bereich zu entkommen, den der Fuß abdecken würde, aber es war zu groß. Er konnte dem Fuß nicht mehr entkommen. Vor Wut heulend und entschlossen, dem Ding das ihn tötete, etwas anzutun, hob er in einer letzter vergeblichen Geste des Trotzes sein Schwert. Funken sprühten, als die Zähne der Klinge auf Metall trafen. Es war das Letzte, was er sah, bevor sich eine gewaltige Last auf ihn senkte und seine Knochen zu Brei zerquetschte. Immer noch schreiend, schoss er kerzengerade in die Höhe und fand sich in einer neuen Umgebung wieder. Dies war die Hölle, davon war er überzeugt. Er würde die Ewigkeit damit zubringen, tausend Tode an Orten zu sterben, die er nicht verstand, und gegen Kräfte antreten, die er nicht begriff. Nein,
sagte er sich, während er in gequältem Trotz aufschrie, all das war nur eine Illusion, ein Zauber, der von diesen verbitterten Alten gewoben worden war, die hinter Morkais Tor warteten, und davon würde er sich nicht unterkriegen lassen. Dieser ist tatsächlich sehr stark, Brüder, sagte die dröhnende Stimme in seinem Kopf. Wenn er überlebt, wird er zu den Mächtigen zählen. Wieder spürte Ragnar eine gewaltige Woge der Macht durch seinen Verstand spülen, die seinen Willen betäubte und seinen Widerstand aufzehrte. Diesmal wehrte er sich dagegen und setzte jede Unze seiner Grausamkeit und seines Hasses ein. Er würde sich nicht noch einmal gegen seinen Willen in jene fremdartigen Welten zwingen lassen. Er würde nicht die willenslose Marionette uralter Zauberer sein. Er würde nicht nachgeben ... Wem oder was? Wem oder was würde er nicht nachgeben? Er konnte sich nicht erinnern. Es gab keinen Grund, sich zu erinnern. Er stand an einem Strand und betrachtete den Sonnenuntergang. Merkwürdige Bäume schwankten in einer sanften Brise. Es war warm und roch nach fremdartigen Düften. Unter den tastenden Fingern des Windes schwankten Blumen, die viel üppiger waren als alles, was je in der kahlen Öde von Fenris geblüht hatte. »Ragnar.« Er drehte sich um. Die schönste Frau, die er je gesehen hatte, ging auf ihn zu. Doch diese Beschreibung war nicht liebreizend genug, um die Eleganz ihrer Bewegungen zum Ausdruck zu bringen. Ihre Haut war bernsteinfarben. Ihre Haare waren von einem Schwarz, das sie flüssig wirken ließ. Etwas an ihren Zügen erinnerte ihn an Ana, aber an eine Ana ohne Makel, eine Ana, aus der alle Unzulänglichkeiten ausgemerzt worden waren. Sie lächelte, und Ragnar spürte, wie sein Herz einen Sprung tat. Es war ein Lächeln, das seine Umgebung erwärmte,
wie es sonst nur die Sonne vermocht hätte. Er fühlte sich durch eine subtile Kraft zu ihr hingezogen, obwohl ihr Lächeln kleine spitze Fänge entblößte wie diejenigen einer blutsaugenden Bestie. »Dann hast du dich also entschlossen«, sagte sie. Ihre Stimme war melodisch und so erregend wie die Sünde. Von ihrem bloßen Klang wurde er so trunken wie von einem Schlauch Wein. »Entschlossen? Wozu?« »Spiel nicht mit mir. Du hast dich entschlossen, dich uns anzuschließen? Dich mit uns zu verbinden und deine Seele unserem großen Herren Slaanesh anzubieten?« Was redete sie da? Wer war Slaanesh? Er hatte im Grunde keine Ahnung, aber allein der Name weckte das Empfinden von etwas Bösem. Mehr noch, er spürte, dass ihre Worte noch eine tiefere Bedeutung hatten, wie auch ihre verderbte Schönheit auf eine tiefergehende Wirklichkeit hinwies. War da eine Andeutung von Gereiztheit in ihrer Stimme? Verwechselte sie ein Missverstehen mit einer Weigerung? Was ging hier eigentlich vor? »Ich habe mich noch nicht entschlossen«, sagte er, um Zeit zu gewinnen. »Das ist bedauerlich«, erwiderte die Frau und beugte sich vor, um ihn zu küssen. Seine Lippen kribbelten von ihrer Berührung. Ihre Haut schien subtile Rauschmittel abzusondern. Ihre bloße Berührung bereitete ihm ein so intensives Vergnügen, dass es fast schmerzhaft war. Je länger der Kuss dauerte, desto mehr beschlich ihn das Gefühl, dass ihm etwas entzogen wurde, nämlich die Essenz seiner Persönlichkeit, seine Seele. Das war nicht schmerzhaft. Es war angenehm, als döse man auf einem weichen Daunenbett mit einer wunderschönen Frau neben sich ein, nachdem man sich alle nur erdenklichen Freuden bereitet hatte. Und doch war
irgend etwas nicht richtig. Mit Ana hatte es sich anders angefühlt. Plötzlich erkannte Ragnar, dass er sich nicht in diese sanfte Zerstörung all dessen, was er war, fügen wollte, nicht mehr, als er es begrüßen würde, vom stählernen Fuß einer mächtigen Kriegsmaschine zerquetscht zu werden. Er kämpfte dagegen an, und dabei erkannte er ihre Kraft. Es war, als werde man von einer starken Strömung unter Wasser gezogen. Man konnte sich wehren, so viel man wollte, und würde dennoch zu den Meerdämonen herabgezogen werden. Er versuchte zu widerstehen, und dennoch wurde ihm weiterhin seine Lebenskraft entzogen, und Schwärze umwölkte die Ecken seines Blickfelds. Wieder erwachte er in einem Albtraum. Diesmal stand er vor einem riesigen schwarzen Altar. Überall tollten seltsame Gestalten herum. Hoch über ihm schwebte ein gehörnter Zauberer auf einer großen leuchtenden Scheibe und trotzte der Schwerkraft mit seiner Magie. Kaum hatte Ragnar ihn erblickt, als er herabsank. Ein Lichtkreis umspielte die Klauenhände des Zauberers, doch bisher hatte er noch nichts Bedrohliches unternommen. Ragnar hob seine Waffe, schlug aber nicht zu, weil er wissen wollte, was geschehen würde. »Was kann mein Herr dir im Tausch für deine Seele gewähren?«, fragte der Zauberer mit einer Stimme, in der die Macht der Zauberei mitschwang. »Was wünschst du dir? Du brauchst nur daran zu denken, und es ist dein.« Augenblicklich und ungebeten kam ihm das Bild von Strybjörns Leiche in den Sinn. Bevor er auch nur versuchen konnte, seine Gedanken zu verschleiern, tauchte Strybjörn gefesselt auf dem Altar auf, und plötzlich hielt Ragnar ein großes Opfermesser fest in beiden Händen. Hass ließ seine Eingeweide verkrampfen. Er sah seinen Vater tot in den ausgebrannten Ruinen seines Heimatdorfs
liegen. Er sah, wie die überlebenden Angehörigen des Klans als Leibeigene auf die Drachenschiffe der Grimmschädel geführt wurden. Er durchlebte erneut das Duell, in dem er Strybjörn erschlagen zu haben glaubte und in dem der Grimmschädel beinah auch ihn erschlagen hatte. Der Drang, seinem Feind das Opfermesser in die ungeschützte Brust zu stoßen, war überwältigend, und fast hätte er es getan. Er wollte spüren, wie die Klinge in Strybjörns Brust eindrang, wie der Stahl auf Knochen traf, wollte spüren, wie das Blut über seine Hände spritzte. Das Einzige, was seine Hand für einen Moment ruhig hielt, war die Tatsache, dass Strybjörn ein Amulett mit demselben Wolfskopf-Emblem trug, wie es auch auf Ragnars eigener grauer Rüstung prangte. »Los! Stich zu!«, sagte der Zauberer. »Nimm deine Rache. Die Seelen deiner Vorfahren schreien danach. Stich zu, und die Rache ist dein.« Ragnars Hand zitterte, so groß war der Drang zuzustechen. In seinem ganzen Leben hatte er sich noch nichts sehnlicher gewünscht. Obwohl er wusste, dass seine Seele im gleichen Augenblick dem Gott des Zauberers gehören würde, war der Drang, den Dolch niedersausen zu lassen, fast zu stark für ihn. Obwohl er wusste, dass es Verrat an seiner Rüstung und an seinen Kameraden war, erfüllte ihn dieses Verlangen. Subtiles Wissen flutete in seinen Verstand. Wenn er jetzt zustieß, würde er zu einem Verräter an seinem ganzen Volk werden, in den Fang zurückkehren und die Diener Russ' an ihre Feinde verraten. Wenn er zustieß, würde ganz Fenris und sein Volk der Vernichtung und der Sklaverei anheimfallen. Einen Moment stand er da wie auf einer Messerklinge, mit seinem Hass auf der einen und seinem Pflichtgefühl auf der anderen Seite. Das Schicksal der Welt hing in der Schwebe. In der einen Waagschale lag sein allesverzehrender Hass. In der anderen lag das Wissen, dass sein Name auf ewig verflucht sein würde.
Was spielte das für eine Rolle?, sagte eine ruhige, leise Stimme. Was bedeuteten ihm die Bewohner von Fenris? Alle seine Blutsverwandten waren tot, erschlagen von diesem Mann und seinen Leuten. Und was hatten die Bewohner des Fangs je für ihn getan, außer ihn zu zwingen, Schmerzen, Demütigungen und Entbehrungen zu ertragen? Wenn er dadurch, dass er Strybjörn tötete, die Zerstörung seiner Welt verursachte, was machte das schon? In dem allgemeinen Sterben würden die Grimmschädel in einer Woge von Blut hinweggeschwemmt werden, und dann war die endgültige Rache sein. Eine Rache, die so vollständig war, dass sie nie übertroffen werden konnte. Seine Hand zitterte, und die Klinge senkte sich langsam. Er kämpfte gegen den Drang an. Dies war nicht die Art von Rache, die er gewollt hatte. Dies war nicht das Kräftemessen in der hitzigen Erregung eines tödlichen Zweikampfs. Dies war das Abschlachten eines gebundenen Feindes, dessen Seele von einer dunklen Macht verschlungen würde. Dies war keine würdige Art der Rache. »Nimm deine Rache, wie es dir gefällt«, sagte der Zauberer. »Aber nimm sie!« Er gestikulierte, und die Ketten fielen von Strybjörn ab. Der Grimmschädel sprang auf. »Verräter!«, kreischte er und warf sich auf Ragnar. Der fällte ihn mit einem Faustschlag und hätte seinem Feind beinahe das Messer in die Brust gestoßen. Wieder konnte er sich gerade noch zurückhalten. Und wieder wurde er sich der Tatsache bewusst, dass er der Spielball von Mächten größer als er war. Erneut sah er jene furchtbaren alten Männer vor sich, die hinter Morkais Tor lauerten. Er wusste, dass sie irgendwo dort draußen waren, mit ihm spielten, die innersten Geheimnisse seines Wesens ergründeten, seine Gedanken lasen und beurteilten, ob er
würdig war. Die Vorstellung erfüllte ihn mit einem Zorn brennender als sein Hass. Wer waren sie, über ihn zu urteilen? Wer waren sie, seinen Verstand ihrem Willen zu unterwerfen? Er wollte nichts mehr davon wissen. Er biss sich auf die Zunge, bis Schmerzen ihn durchzuckten. Er nahm das Messer und stieß es sich in den eigenen Leib. »Keines von diesen Spielen mehr!«, rief er, indem er auf die Knie fiel und zusah, wie sich sein Blut vor seinen Füßen in einer Lache sammelte. Schmerzen brannten sich durch seine Adern. Seine Lippen verzogen sich zu einem Knurren der Wut und der Schmerzen. Die Welt erzitterte. Felsen fielen von der Decke. Alles schien sich zu bewegen, zu tanzen, zu zerfließen. »Ich bin Ragnar, und ich trotze euch!«, tobte er, als ihn zum letzten Mal vollständige Dunkelheit verschlang.
10
DER WOLFENKELCH Ragnar erwachte langsam und unter Schmerzen. Er fühlte sich so müde, als sei er gerade von den Toten auferstanden. All seine Energie, all seine Lebenskraft schien verbraucht zu sein. Er konnte sich nur noch an sehr wenig von seiner Feuerprobe erinnern. Sie war ein endlos erscheinender Albtraum der Gewalt und des Todes, in dem jede Schwäche seiner Psyche entblößt worden war. Als er an sich herabschaute, nahm er zu seiner Überraschung zur Kenntnis, dass er keine Wunden oder Schrammen davongetragen hatte. Er hatte das Gefühl, als sollten dort welche sein. Er war nackt und lag auf einer kalten Steinplatte in einer Höhle. Das Licht stammte aus einer der seltsamen Zauberkugeln. Auf anderen Steinplatten lagen andere Anwärter. Er erkannte Sven, Strybjörn und Kjel. Kalter Atem drang aus ihrem Mund und verband sich zu kleinen Wolken, wo er auf die Kälte der Höhle stieß. Ragnar schauderte und bemerkte erst jetzt, wie kalt ihm war. Er richtete sich mühsam auf, glitt von der Steinplatte und trat an den anderen. Einer von ihnen, ein Anwärter, den er nicht kannte, schien nicht mehr zu atmen. Ragnar ging weiter, während die eisige Kälte ihm das Gefühl in den Füßen raubte, und untersuchte den Jungen. Er legte dem Anwärter eine Hand auf die Brust. Sie war kalt und ohne Herzschlag. Die Leichenstarre hatte die Glieder bereits steif werden lassen. Also stimmte es, dachte Ragnar. Man konnte sterben, wenn man durch Morkais Tor schritt. Ihm schauderte wieder, und diesmal wusste er nicht, ob aus Kälte oder vor Furcht. Er war nur knapp demselben Verhängnis entgangen, das diese arme Seele ereilt hatte. Er spürte, wie in ihm eine ruhige, eisige Wut Gestalt
annahm. Er war wütend darüber, dass jemand seine Gedanken und Erinnerungen durchwühlt hatte wie ein Plünderer ein Haus. Was gab diesen Leuten das Recht, so etwas zu tun? Oder vielmehr, was vermittelte ihnen den Eindruck, sie hätten das Recht dazu? Etwas ließ ihn innehalten und nachdenken. Wer sie auch waren, sie mussten es aus einem ganz bestimmten Grund tun. Hinter all diesen gnadenlosen Prüfungen und Aussonderungen, hinter diesem endlosen Ausmerzen der Schwachen und Unwürdigen musste ein großer Plan stecken. Anders machte es keinen Sinn. Es konnte nicht einfach nur eine Form grausamer Belustigung für die Götter sein, oder? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er fror und müde und hungrig war und von diesem schrecklichen Ort fort wollte. Er ging zur Einmündung der Höhle und sah, dass dahinter noch eine Höhle lag. Darin gab es noch mehr Steinplatten, die aber leer waren. Eines der seltsamen Wesen, halb Mensch, halb Maschine, stand da und beobachtete ihn. Ein Auge war menschlich und blau. Das andere war aus Glas und Stahl und reflektierte das Licht wie eine winzige Sonne. Es drehte sich in seine Richtung, und als es den Kopf bewegte, ertönte ein seltsames Surren. Der Hals war zum Teil mit Metall bedeckt und ein stählerner Kragen in die Metallplatte eingepasst, die seine Brust bedeckte. »Komm mit mir«, sagte er mit einer seltsam gleichgültigen Stimme und einem Akzent, den Ragnar nicht kannte. Er folgte ihm durch mehrere Metalltüren. Nach jeder Tür wurde es wärmer. In der letzten Kammer gab es Gewänder aus demselben dehnbaren Material wie die Tuniken, welche man den Anwärtern in Russvik gegeben hatte. Diese wiesen jedoch außer dem Wolfskopf-Emblem noch krallenartige Streifen auf der Brust auf. Ragnar blieb stehen und zog eines an, ohne dass man ihn aufgefordert hätte. Dann folgte er der MenschMaschine in eine große Kammer, wo Ranek mit den drei
schrecklichen alten Männern wartete, die jenseits von Morkais Tor alles beobachtet hatten. Er musterte Ragnar seltsam und lächelte dann kalt, wobei er jene gewaltigen Eckzähne zeigte. »Du hast uns vor ein Rätsel gestellt, Junge.« Ragnar sah ihn nur an und ließ dann den Blick über die alten Männer in ihren Rüstungen und Wolfsfellen wandern. Sie schienen nur unwesentlich weniger ergraut als Ranek und waren von einer Aura der Macht und Absonderlichkeit umgeben. Die drei hatten eine Spur des Unheimlichen an sich, dachte Ragnar, und daran konnte kein Zweifel bestehen. Er hatte schon oft Ranek in Verdacht gehabt, ein Zauberer zu sein, aber er erkannte jetzt, dass er sich geirrt harte. Diese drei waren die wahren Magier, die Runenweber, die Seher, die in die Gedanken der Menschen schauen konnten. Er spürte, wie sich seine Wut und Furcht auf sie richtete. Wenn sie dies spürten, gaben sie es nicht zu erkennen. Sie sahen ihn an, wie ein Mann einen Hund ansehen mochte, dessen Kauf er erwog. Ragnar richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Ranek. »Niemand war je näher daran, bei dieser Prüfung durchzufallen«, sagte Ranek. »Du hast einen Makel in dir, Junge, und der könnte einmal dein Verderben sein.« »Einen Makel?« »Hass. Du besitzt ein unglaubliches Vermögen zu hassen.« »Seit wann ist Hass ein Makel in einem Krieger? Seine Feinde zu hassen macht einen Mann stark.« »Gewiss, aber seine Kameraden zu hassen ist ein Luxus, den ein Krieger sich nicht leisten kann. »Ach?« »Du hasst den Grimmschädel und willst dich an ihm rächen.«
Ragnar sah keinen Sinn darin, das zu bestreiten. »Ja.« »Du bist nicht der Erste, der auf diese Weise hierher kommt, Junge. Oft wählen wir Krieger von beiden Parteien einer Schlacht aus. Mitunter schließen sich uns alte Feinde zur gleichen Zeit an. Sie lernen, Seite an Seite zu kämpfen.« »Das überrascht mich.« »Das sollte es nicht. Die Ausbildung der Anwärter knüpft starke Bande. Nur in deinem Fall war das Verfahren nicht von Erfolg gekrönt.« »Man kann nicht von mir erwarten, dass ich meinen Feind am Leben lasse.« »Du musst dich entscheiden, was dir wichtiger ist. Deinen Feind zu töten oder dein Leben im Dienst einer großen Sache zu führen. Glaub mir, falls du überlebst, wirst du in Zukunft Feinde genug haben, um deine Kampfeslust zu befriedigen.« »Also muss ich Strybjörn verschonen, sonst falle ich durch eure Prüfungen?« »Nein, du musst Strybjörn verschonen, sonst wirst du sterben.« »Warum erzählt ihr mir das?« »Weil du das Zeug hast, ein großer Krieger zu werden, Junge. Und wir brauchen dringend große Krieger. Aber diese Krieger müssen ihren Kameraden gegenüber loyal und aufrichtig sein, sonst sind sie nutzlos, sowohl für uns als auch für sich selbst. Sei auf der Hut, Junge, dein Weg in die Dunkelheit führt durch deinen Hass. Vergiss das niemals.« Ragnar sah den alten Mann nachdenklich an. Ihm fiel darauf keine Antwort ein, also schwieg er. Er warf einen Blick auf die anderen, aber deren Mienen waren unergründlich. »Geh ins Vorzimmer und warte dort«, sagte Ranek zu ihm. »Du wirst sehr bald erfahren, was das alles zu bedeuten hat.«
*** Ragnar stand am Rande eines riesigen Amphitheaters an der Seite des Fangs. Es war so groß, dass es Platz für Zehntausende bot, nicht nur für die wenigen Dutzend Anwärter, die dort warteten. Vereinzelt brachen Sonnenstrahlen durch die aufgewühlten Wolken. Es war kalt, und kleine Schneeflocken trieben im Wind. In der Mitte der Arena stand ein riesiges Podest, das mit dem Wolfskopfsymbol versehen war. Große wolfsköpfige Statuen bewachten den Eingang. Ranek stand in der Mitte und sah sie an. Unter seinem kalten Blick fühlte Ragnar sich klein. »Ihr habt euch sehr gut geschlagen, da ihr es bis hierher geschafft habt«, sagte der Wolfpriester. Seine gelassene, schroffe Stimme erfüllte mühelos die gesamte Arena. Er war ein guter Redner, und die Akustik war perfekt, erkannte Ragnar. Seine Worte hatten eine merkwürdige Wirkung auf Ragnar. Er spürte Stolz in seiner Brust aufwallen. Dies war das erste Lob, das die Anwärter jemals von ihm oder einem der anderen Meister bekommen hatten. »Ihr seid aus Russvik, Grimnir und Valksberg gekommen, alles Orte, wo Anwärter ausgebildet werden. Ihr habt überlebt, wo andere gestorben sind. Ihr habt euch als würdig erwiesen, dass man erwägt, euch in unsere Reihen aufzunehmen.« Er hielt einen Augenblick inne, um seine Worte wirken zu lassen. Ragnar konnte das Grinsen auf den Gesichtern der anderen sehen. Raneks Worte hatten dieselbe Wirkung auf sie wie auf ihn. Was auch so beabsichtigt war, dachte er verdrossen. »Ja. Aber das ist alles, was ihr bewiesen habt. Alles, was ihr bisher erlebt habt, war nur ein Kinderspiel verglichen mit dem, was euch noch bevorsteht. Die wahre Prüfung fängt gerade erst an.«
Ein Ächzen entwich den Lippen aller Anwärter. Ranek lächelte gemein, bevor er fortfuhr. »Jammert nicht. Wenn ihr erst begreift, warum es getan werden muss, werdet ihr auch unsere Absicht erkennen. Ihr werdet erfahren was ihr ertragen müsst, und ihr werdet erfahren, warum ihr es ertragen müsst. Ihr seid bis hierher gekommen und habt es verdient, zumindest dies zu erfahren.« Alle waren jetzt still. Sie spürten, dass sie kurz davor standen, in ein großes Geheimnis eingeweiht zu werden. Ragnar stellte fest, dass er sich vorgebeugt und die Ohren gespitzt hatte, auf dass ihm kein einziges Wort des Wolfpriesters entgehen möge. Wie alle anderen wollte er unbedingt wissen, was all das sollte. »Wofür haltet ihr uns?«, fragte Ranek. »Wer, glaubt ihr, lebt in diesem riesigen Berg?« »Russ' Krieger!«, bellte Strybjörn. Ranek lachte, und sein Gelächter ließ Ragnar frösteln. »Aye, das sind wir. Wir sind in der Tat die Auserwählten. Wie auch unsere Vorgänger auserwählt waren und deren Vorgänger. Und so weiter bis zum Anbeginn der Zeit, als Russ unter den Menschen wandelte und der Allvater, der Kaiser, seine großen Kriege gegen die Mächte der Finsternis führte. Ihr steht in der Tat vor der Heimat der Auserwählten. Dies ist der Fang. Der Fang ist eine mächtige Festung in einem gewaltigen und endlosen Ringen zwischen der Menschheit und jenen Kräften, welche die Menschheit vernichten wollen. Es ist ein Ort, von dem große Krieger aufbrechen, um zwischen den Sternen zu fahren und Missionen auszuführen, die das Schicksal von Millionen beeinflussen. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie bedeutsam diese Missionen sind. Wie solltet ihr auch? Wenn ihr überlebt, wird es viele Jahre, vielleicht sogar viele Lebensalter dauern, wie Menschen diese Dinge messen, bis ihr auch nur die leiseste
Ahnung habt. Ihr glaubt, man hätte euch auserwählt, euch den Reihen der Unsterblichen anzuschließen, um am Tag des Zorns neben Russ zu kämpfen. Das ist nichts weniger als die Wahrheit. Der Fang ist die Heimat einer Bruderschaft von Kriegern, eines Ordens, wie wir sie nennen. Wir sind die Söhne von Russ und entstammen seinem Volk. Wir nennen uns die Space Wolves Raumwölfe -, und eines Tages werdet ihr verstehen, warum. Ich will euch von Russ erzählen. Manche von euch stellen sich ihn als mächtigen Geist vor, als Gott, der über euch wacht. Das war er nicht. Wenigstens nicht in dem Sinn, in dem ihr es glaubt. Er war ein Mensch. Aye, und auch mehr als ein Mensch. Er war ein Primarch, ein Supermensch, der durch die Kraft und Technologie des Allvaters über all die anderen Sterblichen gehoben wurde. Er war stärker, schneller, zäher, widerstandsfähiger und mächtiger als alles, was ihr euch vorstellen könnt. Er hat unseren Orden gegründet, auf dass er ihm in die Schlacht folgen möge. Er hat unser Volk, die Bewohner von Fenris, als seine Krieger auserwählt. Er hat nur die zähesten und die besten unserer Vorfahren auserwählt, denn nur diese waren dieser letzten Auszeichnung würdig. Dies ist eine Tradition, die wir auch in diesen dunkleren Zeiten bewahrt haben.« Er hielt einen Augenblick inne und sah sie an. Ein Sonnenstrahl fiel auf seine Augen, und plötzlich schienen sie wie Feuer zu brennen. Keiner von ihnen konnte seinem Blick standhalten. »Ich trage Russ' Zeichen in mir. Alle Mitglieder der Wölfe, denen ihr in dieser Festung begegnen werdet, tun das. Das ist etwas, das mich verändert hat. Etwas, worin ich mich von sterblichen Menschen unterscheide. Es hat mein Leben um Jahrhunderte verlängert und mich schneller, stärker und mächtiger gemacht als jeden Sterblichen, dem ihr je begegnet seid und je begegnen werdet. Es kann dasselbe für euch tun.«
Er hielt erneut inne. Alle Anwärter sahen einander fragend an. Ragnars Gedanken überschlugen sich nach allem, was er gehört hatte. Wie konnte dieser alte Mann wissen, wie Russ war? Wie konnte er mit solcher Gewissheit über uralte Zeiten sprechen? Er war nicht verrückt, soweit Ragnar dies beurteilen konnte. Er klang so, als sei er von der Richtigkeit seiner Worte überzeugt. Und natürlich unterschied er sich von allen Sterblichen, denen Ragnar je begegnet war. Er war größer, stärker, schneller. Er besaß jene furchtbaren Reißzähne und jene seltsamen Wolfsaugen. »Ich sage >kann