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Erich Köhler: Vorlesungen zur Geschichte der Französischen Literatur Herausgegeben von Henning Krauß und Dietmar Rieger Band 3,2
Erich Köhler
Klassik II Herausgegeben von Henning Krauß
Freiburg i. Br. 2006
Zweite Auflage Digitale Bearbeitung: Universitätsbibliothek Freiburg im Breisgau
© Universitätsbibliothek Freiburg i. Br. 2006
Inhalt
Molière ...................................................................................................7 Molière und die Polemik gegen das Theater........................................................ 7 Geschichte der Molière-Kritik............................................................................... 8 Molières Biographie ........................................................................................... 13 Die frühen Stücke Molières und die Tradition der Commedia dell'arte .............. 16 Die »Précieuses ridicules«: Farce und Gesellschaftssatire ............................... 21 »Sganarelle ou le Cocu imaginaire « : von der Farce zur Charakterkomödie .... 26 »Dom Garcie de Navarre«: eine Tragikomödie der Eifersucht........................... 27 »L'École des maris« und die Weltanschauung des aufgeklärten Bürgertums ... 28 »Les Fâcheux«: ein gesellschaftliches Kuriositätenkabinett .............................. 31 » L'École des femmes«: grande comédie und Literaturskandal......................... 32 Molières Replik in der » Critique de l'École des femmes« ................................. 35 »Le Tartuffe«: der fast vollkommene Triumph des Heuchlers............................ 43 »Dom Juan ou le Festin de Pierre«: Libertinage als Surrogat des funktionslos gewordenen Feudaladels............................................................... 58 Das Problem des »dénouement« bei Molière .................................................... 74 »Le Misanthrope« und die Doppeltradition tragischer und komischer Interpretation...................................................................................................... 79 » Amphitryon « und das Labyrinth der biographischen Molière-Forschung ....... 94 »L'Avare« und die Balance zwischen Scherz und Bedrohlichkeit ...................... 95 »Monsieur de Pourceaugnac« und der »Bourgeois gentilhomme«: zwei Ballettkomödien ............................................................................................... 102 »Les femmes savantes« und das Ideal der unpreziösen »honnêteté« ............ 109 »Le Malade imaginaire« als Ärztesatire ........................................................... 116
Nicolas Boileau, der bürgerlichste Repräsentant der Hochklassik ...123 Madame de Sévigné..........................................................................134 Der Lebensweg einer Adeligen........................................................................ 134 Freundschaftswelt und Neugier ....................................................................... 139 Kontrollierte Spontaneität als ästhetisches Prinzip .......................................... 141 Die Rezeptionsgeschichte der Sévigné-Briefe................................................. 149
Bibliographie ......................................................................................156 I Molière ........................................................................................................... 156 II Madame de Sévigné ..................................................................................... 158 III Boileau und die Querelle des Anciens et des Modernes.............................. 158 5
Molière
Molière und die Polemik gegen das Theater Mit seiner Phèdre hat Racine seine Lehrer und Freunde von Port-Royal versöhnt. Ja, er hat ihrer Theaterfeindlichkkeit seinen dichterischen Ehrgeiz geopfert, indem er zwölf Jahre überhaupt auf die Bühne verzichtete und dann nur noch zwei religiöse Stücke schrieb. War für die Jansenisten schon die Tragödie ein sündhaftes Mittel, die Menschen durch ein verführerisches Divertissement von ihrem wahren Heil abzuhalten, um wieviel mehr mußte die Komödie ihnen zum Ärgernis werden. Nicole hatte Desmarets de Saint-Sorlins Komödie Les visionnaires zum Anlaß genommen, um gegen das Theater und die Romanliteratur zu wettern. Als der Stern Molières aufging, waren die rigoristischen Gegner des Theaters zunächst wenn nicht zum Schweigen, so doch zur Zurückhaltung verurteilt. Zu offensichtlich leuchtete die Gnade des jungen, lebenslustigen Königs über dem Dichter, der ihn nicht nur amüsierte, sondern – wenn nicht alles trügt – für ihn auch ein innenpolitischer Bundesgenosse war. Die Anfeindung Molières mußte sich der Mittel des offenen Angriffs begeben und zur Kabale greifen. Molière blieb es erspart, die Wendung Ludwigs XIV. zur Bigotterie noch mitzuerleben, vielleicht wäre sein Leben sonst wirklich zu der Tragödie geworden, für die es Ansätze zeigt. Ein Jahr vor seinem Tod wurde er freilich von dem italienischen Komponisten Lully aus der Gunst des Königs verdrängt. Was die jansenistische Doktrin bei kleinen Geistern für Folgen zeitigen konnte, läßt sich am Beispiel des Prince de Conti zeigen, des uns bekannten Frondeurs und Bruders des großen Condé. Ich nenne ihn in diesem Zusammenhang nicht zufällig. Conti war tatkräftiger Gönner Molières, als dieser mit seiner Truppe in der Provinz umherzog. Einige Jahre später wurde Conti, bisher notorischer Libertin, ziemlich unvermittelt fromm, schrieb im jansenistischen Geist ein Traktat gegen das Theater – Traité de la comédie et du spectacle – und gehörte fortan zu Molières schlimmsten Feinden. Das jansenistische Urteil über Molière finden wir am besten formuliert bei einem gelehrten Kritiker aus dem Kreis von Port-Royal, Adrien Baillet. Baillet veröffentlichte 1686 – dreizehn Jahre nach dem Tode Molières – eine Schrift mit dem Titel: Jugements savants sur les principaux ouvrages du temps. Darin heißt es: M. de Molière est un des plus dangereux ennemis que le siècle ou le monde ait suscités à l'Eglise de Jésus-Christ, et il est d'autant plus redóutable qu'il fait encore après sa mort le même ravage dans le cœur de ses lecteurs qu'il avait fait de son vivant dans celui de ses spectateurs. 1
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Adrien Baillet, Jugemens des savans sur les principaux ouvrages des auteurs, Bd. V, Paris 1722, S. 306. 7
Den gleichen Vorwurf, Religion und Kirche schwer geschädigt zu haben, erhob Bossuet in seinen Maximes sur la comédie. Dem berühmten Kanzelredner war es vorbehalten, in dem Umstand, daß Molière bei einer Aufführung des Malade imaginaire einen schweren Anfall seiner Krankheit erlitt, dem er wenige Stunden später erlag, eine gerechte Strafe Gottes zu erblicken: ( ...) ce poète comédien (...) en jouant son Malade imaginaire (...) reçut la dernière atteinte de la maladie dont il mourut peu d'heures après, et passa des plaisanteries du théâtre, parmi lesquels il rendit presque le dernier soupir, au tribunal de celui qui dit: >Malheur à vous qui riez, car vous pleurerezMisanthrope-, in: Renate Baader (Hrsg.), Molière, Darmstadt 1980, S. 384-405. Werner Krauss, »Molière und das Problem des Verstehens in der Welt des 17. Jahrhunderts«, in: W. Krauss, Gesammelte Aufsätze zur Literatur- und Sprachwissenschaft, Frankfurt a. M. 1949, S. 340. Ich habe bereits eine ganze Reihe wichtiger Titel der Sekundärliteratur genannt. Für die deutschsprachige Molière-Kritik verweise ich noch auf Max J. Wolff, Molière. Der Dichter und sein Werk, München 1910; ferner auf Curt S. Gutkind, Molière und das komische Drama, Halle 1928; eine umfangreiche Aufsatzsammlung bietet Renate Baader (Hrsg.), Molière, Darmstadt 1980. Eine ergiebige Bibliographie der französischsprachigen Molière-Kritik findet sich in der Molière-Ausgabe von Robert Jouanny (Hrsg.), Théâtre complet de Molière, 2 Bde., Paris 1960. Daneben sind zu nennen die 13-bändige Ausgabe der Grands Ecrivains de la France von Despois-Mesnard, Paris 1873-1900, und die 8-bändige Ausgabe von René Bray, Paris 1935-1952.
Man hat gesagt, daß das Leben Molières sein bestes Stück gewesen sei. Das ist sehr geistreich und vielleicht sogar tiefsinnig. Es läßt an das Wort denken, das Rabelais vor seinem letzten Seufzer gesagt haben soll: »Tirez le rideau, la farce est jouée.«
Molières Biographie Wenn es stimmt, daß Molières Leben sein bestes Stück gewesen ist, dann sind wir freilich ebenso nahe bei der Tragödie wie bei der Farce. Und dabei ist sogleich zu sagen, daß sein privates Unglück Armande Béjart hieß – und seine eigene Frau war. Armande Béjart, 20 Jahre jünger als Molière, hat ihren Gatten offenbar am laufenden Band betrogen. Molière hat sie geliebt, litt unter ihrer Untreue, kannte die Schrecken der Eifersucht und mußte es erleben, daß seine Feinde aus seinem ehelichen Unglück rücksichtslos Kapital schlugen. Einer seiner Gegner verkündete offen, daß Armande sich keinem Mann verweigere, außer ihrem eigenen. Auch der Umstand, daß Molière sich mit Cathérine de Brie, einer Schauspielerin seiner Truppe, über die häusliche Misere hinwegtröstete, lieferte seinen Widersachern dankbaren Stoff. Es nimmt nicht Wunder, daß manche Molière-Interpreten in den cocus seines Theaters den Dichter selber erkennen wollen. Nichts läßt darauf schließen, daß Molière die Liebe zum Theater geerbt hätte. Die Familie Poquelin – so Molières bürgerlicher Name – war eine Handwerkerfamilie. Man war in ihr Tapezierer. Molières Vater hatte von seinem Bruder freilich eine höhere Charge übernommen: diejenige eines Hoftapeziers: tapissier ordinaire du roi. Jean-Baptiste Poquelin wurde am 15. Januar 1622 als ältestes von sechs Kindern in Paris geboren. Sein Vater ließ ihm eine vorzügliche Erziehung angedeihen, und zwar in dem von Jesuiten geleiteten Collège de Clermont, dem späteren Collège Louis-le-Grand. Sechs Jahre verbrachte Molière dort, mit Freunden, die wie Cyrano de Bergerac Gassendisten oder wie La Mothe le Vayer Atheisten waren. 1639 verläßt Molière das Collège de Clermont und nimmt in Orléans das Jurastudium auf, das er vermutlich 1642 mit einer Advokatenprüfung abschließt. Ganz sicher sind die Nachrichten über diese Jahre nicht. Jedenfalls überraschte Jean-Baptiste seinen Vater im Jahre 1643 mit einem Entschluß, den die ganze Familie als Schande empfand: er wurde Schauspieler. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Molière schon 1640 den bedeutenden italienischen Schauspieler Tiberio Fiorelli, genannt Scaramouche, kennengelernt und bei ihm Unterricht genommen hatte. Kein Zweifel: Molière folgte einer echten Berufung, sein ganzes Leben wird es beweisen. Aber die Berufung erfolgte durch das Medium einer Frau: der vier Jahre älteren Madeleine Béjart. Madeleine, eine rotblonde Schönheit, war Mittelpunkt einer Familie von Schauspielern und hatte, bevor sie mit Molière ein langjähriges Konkubinat einging, schon einige Aventuren hinter sich. 1638, also sicher vor der Bekanntschaft mit Molière, genas Madeleine eines Töchterchens, das den Namen Armande erhielt. In der Taufurkunde erscheint als Vater der Baron de Modène, ein bekannter Lebemann und Verseschmied aus dem Kreise von Gaston d'Orléans. Daß sein Name genannt wird, ist deshalb merkwürdig, 13
weil er verheiratet war und seine Frau sich durchaus noch ihres Lebens erfreute. Die ganze Angelegenheit ist für die Molière-Forschung deshalb von Bedeutung, weil Molière Armande Béjart später ehelichte und seine Feinde nicht vor der Verdächtigung zurückschreckten, Molière habe seine eigene Tochter geheiratet. Die Heirat mit Armande Béjart fand 1662 statt, als Molière 40 Jahre alt war. Zwei Jahre später, inmitten der ersten Kabalen gegen den Dichter im Anschluß an die École des femmes, wird Molière ein Sohn geboren, der allerdings wenige Monate später stirbt. Ludwig XIV. übernimmt die Patenschaft, offenbar um seinen Dichter mit seiner höchsten Autorität gegen die Verdächtigungen in Schutz zu nehmen. Doch kehren wir ins Jahr 1643 zurück. Im Juni dieses Jahres schloß sich Molière mit den Béjarts und neun anderen Schauspielern vertraglich zu einer Truppe zusammen, die den Namen Illustre Théâtre erhielt. Noch unterzeichnete Molière mit seinem bürgerlichen Namen Poquelin. Ein Jahr später, 1644, erscheint erstmals der Name Molière, über dessen Herkunft nichts auszumachen ist. Von Anfang an scheint Molières Autorität sich durchgesetzt zu haben, obwohl gerade er noch keine Bühnenerfahrung besaß. Bis zur Einrichtung eines in der heutigen Rue Mazarin gelegenen Saals spielte die Truppe in Rouen. Molière – oder vielmehr Madeleine Béjart – war nicht ohne vornehme Gönner: Gaston d'Orléans verlieh dem Illustre Théâtre das Recht, den Zusatz zu führen: entretenu par son Altesse Royale. Der Herzog von Guise spendierte Kostüme. Kindsvater Baron von Modène half durch seine verzweigten Beziehungen. Molière hatte jedoch noch nicht gelernt, sich kulante Geldgeber auszusuchen. Zweimal wanderte er ins Schuldgefängnis, und Ende 1645 war das Illustre Théâtre bankrott. Seine Mitglieder, einschließlich Molières und der Béjarts, schlossen sich mit einer anderen Truppe zusammen und verließen Paris. Daß es zu dieser Fusion mit einer anderen Truppe kam, war offensichtlich dem Eindruck zu verdanken, den Madeleine Béjart auf den Herzog von Epernon machte. Dieser hochmögende Theaterfreund unterhielt eine eigene Truppe, deren Hauptaktionsgebiet Bordeaux war. Dreizehn Jahre lang zieht Molière nun mit seiner Wanderbühne durch die Provinzen Frankreichs. Erst der Forschung der letzten Jahrzehnte ist es gelungen, einzelne Stationen dieses Wanderlebens nachzuweisen, das wir uns etwa so vorstellen müssen, wie es im Roman comique von Scarron beschrieben ist. 1647 ist Molière in Albi und Carcassonne, 1648 in Nantes, 1649 in Toulouse, Montpellier und Narbonne, 1650 in Agen. In diesem Jahr wechselt der Gönner. An die Stelle des Duc d'Epernon tritt der Prince de Conti. Molière wird Chef der Truppe, die von nun an den Titel Comédiens de Monsieur le prince de Conti trägt. Die Memoiren eines Zeitgenossen namens Cosnac geben eine nicht uninteressante Erklärung für diese neue Gunst: zwei Theatergruppen waren in Contis Schloß La Grange bei Pézénas aufgekreuzt: diejenige eines gewissen Cormier und diejenige Molières. Die damalige Mätresse Contis war für Cormier, aber Contis Sekretär und Vertrauter, der Dichter Sarazin, hatte einer Schauspielerin aus der Truppe Molières zu tief in die Augen gesehen, und damit war die Sache entschieden. Die besagte Dame hieß Thérèse du Parc: die spätere Lieblingsdarstellerin und Geliebte Racines. Von Conti subventioniert, zieht Molières Truppe durch das Languedoc, 1652 ist sie in Grenoble nachweisbar, 1653 erscheint als Hauptsitz Lyon, 1657 kommt es erneut zur Krise. Der Prince de Conti ist zum Jansenismus konvertiert, entzieht Mo-
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lière seine Unterstützung und der Truppe das Recht, seinen Namen zu tragen. Inzwischen haben aber die einzelnen Mitglieder der Truppe ein gewisses Vermögen erworben. Molière bleibt weiterhin im Süden, bis zum Frühjahr 1658. Dann zieht er – die Rückkehr nach Paris vorbereitend – für ein halbes Jahr nach Rouen, wo Corneille sein Theater frequentiert und glühende Verse für die du Parc dichtet. Im Herbst 1658 gelingt der Sprung in die Hauptstadt. Madeleine Béjart mietet für einige Monate das Marais-Theater. Der Bruder des Königs wird als Gönner gewonnen. Am 24. Oktober 1658 führt Molière vor Ludwig XIV. Corneilles Nicoméde auf. Der junge König langweilt sich und gibt nach dem Abschluß der Tragödie seine Zustimmung, als Molière sich erbietet, ihn durch ein Stück aus eigener Werkstatt, durch die Farce Le docteur amoureux, zu erheitern. Ludwig XIV. amüsiert sich köstlich und ordnet an, daß Molière das Recht erhält, zusammen mit der italienischen Theatergruppe den Saal des Petit-Bourbon zu benutzen. Damit ist viel, aber noch nicht alles gewonnen. Die alten Gläubiger sind Molière auf den Fersen. Die Konkurrenten des Hôtel de Bourgogne und des Marais tun, was sie können, um Molière wieder loszuwerden. Die Aufführungen von Corneilleschen Werken – Héraclius, Cinna, Rodogune – sind Mißerfolge. Da entschließt sich Molière, eigene Stücke auf die Bühne zu bringen. Sein Etourdi und sein Dépit amoureux bringen Geld in die Kasse. Am 18. November 1659 erfolgt der Durchbruch: Die Précieuses ridicules rufen die helle Begeisterung des Publikums hervor, obwohl sie nur als petit divertissement gedacht waren, aufgeführt im Anschluß an Corneilles Cinna – als heitere Dreingabe. Die Neider formieren sich zu einem Gegenschlag, der vernichtend sein soll. Sie gewinnen den Intendanten für das Bauwesen, Ratabon, für sich. Dieser läßt das Petit-Bourbon niederreißen, angeblich um den Louvre vergrößern zu können. Molière, plötzlich ohne Bühne, wendet sich an den König. Ludwig gewährt ihm eine Gratifikation von 6000 Livres und stellt ihm die Bühne des PalaisRoyal zur Verfügung. Mit dieser Demonstration der königlichen Huld ist auch der ganze Hof gewonnen. Molière hat sich definitiv in Paris etabliert. Im Februar 1664 hält Ludwig XIV. Molières Sohn, Kind eines angeblichen Inzests, über das Taufbecken, um die Solidarität mit seinem Dichter zu bekunden. Als Molière mit den Précieuses ricidules seinen ersten großen Triumph erlebte, war er 37 Jahre alt. Vielleicht hat ihn nicht der Erfolg dieses Stückes als solcher überrascht, wohl aber die Ursache dieses Erfolgs, der ihm selber erst richtig klarmachte, daß er in ein akutes Gesellschaftsproblem eingegriffen hatte. Das Vorwort, das er seinem Stück später beigab, läßt erkennen, daß er sich zunächst gar nicht in der Rolle eines gedruckten Autors wohlfühlte. Wir dürfen annehmen, daß Molière bis zur Mitte seines Lebens zwar sehr wohl vom Ernst seiner Theaterbesessenheit überzeugt war, jedoch noch nichts von seiner Berufung als Theaterdichter wußte. Bisher hatte er Farcen und Komödien ausschließlich für seine Truppe geschrieben, ohne literarischen Ehrgeiz. Jetzt wurde er plötzlich mit dem Bewußtsein eines dichterischen Auftrags, mit dem Eintritt in die Reihe der Literaten konfrontiert. Noch die Précieuses ridicules waren, wie erwähnt, als petit divertissement gedacht, welches das Publikum nach einer Tragödie aufheitern sollte. Molière hatte diesen Usus aus der Provinz mitgebracht; er war neu und überraschend für die Pariser Theatergänger.
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Von den Stücken dieser Art, die Molière während seines Wanderlebens aufführte, hat La Grange, der schon erwähnte Kollege und Biograph Molières, ein Register von Titeln angelegt. Es ist jedoch nicht auszumachen, welche von diesen Stücken von der Hand Molières selbst stammen.
Die frühen Stücke Molières und die Tradition der Commedia dell'arte Zu Beginn unseres Jahrhunderts erst wurden zwei solcher petits divertissements aufgefunden, die mit größter Wahrscheinlichkeit Molière zum Verfasser haben: Le Médecin volant und La Jalousie du Barbouillé. Beide Stücke sind Einakter. Das erste folgt, wie schon die Zeitgenossen monierten, einem von den Italienern aufgeführten Medico volante, das zweite entnimmt sein Thema dem Decamerone des Boccaccio, siebter Tag, vierte Novelle. Das letztere Thema ist folgendes: ein Ehemann wird gewahr, daß seine Frau sich außer Hause mit ihrem Liebhaber trifft. Er verschließt die Haustür und zetert aus dem Fenster gegen die einlaßbegehrende Gattin. Diese fingiert einen Selbstmord; der besorgte Ehemann verläßt das Haus, die Frau schlüpft durch die offene Tür, verschließt sie ihrerseits und gibt den draußen jammernden Ehemann dem Gespött ihrer Verwandtschaft preis. Molière hat die gleiche Situation im 3. Akt seines Georges Dandin wiederverwendet. Man darf bezweifeln, ob der vorliegende Text dieser beiden Einakter wirklich von Molière selbst und nicht vielmehr von einem Unbekannten stammt, der nur ein von Molière entworfenes Szenario ausgefüllt hat. Es steht außer Frage, daß Molière in seiner Frühzeit häufig nach dem Vorbild der Commedia dell'arte verfahren ist, d. h. daß er nur das Schema der Handlung mit festen Figuren erstellte, wozu dann die Schauspieler bei der Aufführung selbst den Text und die Mimik improvisierten. Die Commedia dell'arte, Produkt einer italienischen Theatertradition aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, verfügte über eine Serie von immer wiederkehrenden Verwicklungen und vor allem über konstantes Personal: in Rolle und Kleidung fest fixierte Personen mit Masken, darunter: Arlecchino (Harlekin), Vertreter eines gesunden Gefühls, spontan, naiv, aber oft auch Prügel beziehend; der Capitano, der bramarbasierende Soldat, Nachkomme des miles gloriosus, aus dem sich Scaramuccio entwickelte; Pantalone, Venezianer, dämlicher Vater und geprellter Ehemann mit Fehltrittneigungen; der Dottore, geschwätziger Pedant; Pulcinella = Polichinelle, der Bauerntölpel, manchmal auch geriebener Bursche; usw. Die Commedia dell'arte, die sich in Molières Werk mit der französischen Farcentradition verbindet, lebte von der Bouffonnerie, vom drastischen Scherz für Auge und Ohr, vom überraschenden Trick, vom derben Spaß, ja vom Klamauk. Zu ihren wichtigsten Mitteln gehören die sogenannten lazzi. Lazzo ist eine mundartliche Form von l'atto = die Handlung. Jeder Schauspieler der Commedia dell'arte verfügte über ein festes Repertoire solcher lazzi. Ich gebe drei Beispiele: - Ein Schauspieler macht eine Handbewegung, so als habe er eine Fliege gefangen. Durch Gestik und Mimik täuscht er vor, er reiße der Fliege langsam Beine und Flügel aus und verspeise sie dann mit größtem Behagen.
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- Ein Herr wird von seinem Diener ständig unterbrochen; er gebietet ihm daher dreimal Schweigen. Als er dann den Diener etwas fragt, bleibt dieser stumm, und er muß wieder dreimal ersucht werden zu antworten. - Ein ältlicher Mann mit amourösen Neigungen – etwa Pantalone – weint bittere Tränen bei der Abreise des Sohnes und lacht zugleich darüber, weil damit das Mädchen, das der Sohn liebt und der Alte gleichfalls verfolgt, frei wird. Effekt durch abwechselndes Weinen und Lachen, Jammern und Jubeln. Molière hat sich nicht gescheut, mit Gestalten der Commedia dell'arte auch eine ganze Kollektion ihrer, lazzi in sein Theater zu übernehmen. Sie finden sich in den beiden genannten Einaktern und desgleichen in den beiden Stücken, die Molière vor den Précieuses ridicules mit Erfolg in Paris aufführte: L'Etourdi und Le dépit amoureux. Beide Komödien sind: freie Nachahmungen italienischer Lustspiele, und beide sind Fünfakter. Der Etourdi, der Unbesonnene, der Leichtsinnige, ist ein junger Mann aus Messina namens Lélie, der sich in Célie, die Sklavin des reichen Kaufmanns Trufaldin, verliebt hat. Hätte er Geld, so könnte er Célie freikaufen, aber sein Vater ist geizig. Außerdem tauchen noch zwei Nebenbuhler auf, von denen einer reich genug ist, die Sklavin zu kaufen. Zu allem Unglück soll Lélie selbst gezwungen werden, ein ungeliebtes Mädchen zu heiraten. So vielen Hindernissen ist sein liebenswerter, aber bescheiden instrumentierter Geist nicht gewachsen. In dieser Not verläßt er sich auf seinen listenreichen, in allen Geldangelegenheiten bewährten Diener Mascarille, der auch nicht weniger als zehn Intrigen in Szene setzt, von denen jede zum Erfolg geführt hätte, wenn nicht sein Herr jedesmal durch eine unbesonnene Intervention sein eigenes Glück vereitelt hätte. Endlich greift der Zufall ein: der erste Nebenbuhler heiratet die von Lélie Verschmähte, der zweite erweist sich als Célies Bruder, der reiche Trufaldin als Vater seiner schönen Sklavin, und so kann Lélie seine Célie selig in die Arme schließen. Molière ist in dieser romanesken, an ganz und gar unwahrscheinlichen Verwicklungen überreichen Komödie noch sehr unselbständig. In allen wesentlichen Zügen folgt er seiner Vorlage, dem Inavvertito von Niccolò Barbieri. Was wir hier über den Etourdi sagen, gilt auch für Le dépit amoureux. Beide Stücke sind Intrigenkomödien, mit unglaublichen Mißverständnissen, Kindesraub, Entführungsplänen, Wiedererkennen und willkürlicher, an den Haaren herbeigezogener Lösung. Diese Elemente finden wir auch in späteren Werken Molières wieder, aber als Einzelsituationen, die vom Kontext der Fabel her glaubwürdig werden. Nur eines ist noch hervorzuheben: die Gestalt des listenreichen Dieners Mascarille. Er erscheint sowohl im Etourdi wie im Dépit amoureux. In der italienischen Vorlage hieß er Scapino unter diesem Namen wird er in den Fourberies de Scapin wiedererscheinen. Molière spielte ihn selbst, und trotz der italienischen Vorbilder, die man namhaft machen kann, ist Mascarille eine Schöpfung Molières. Er steht im Etourdi ganz im Vordergrund, während sein Herr Lélie blasse traditionelle Liebhaberfigur bleibt. Mascarille ist der an Einfällen unerschöpfliche Diener, der die von der Herrschaft heillos verworrene Situation wieder in Ordnung bringt. In veränderter Gestalt finden wir ihn in den Précieuses ridicules wieder. Eine Inhaltsangabe des Dépit amoureux können wir uns ersparen. Berücksichtigung verdienen indessen diejenigen Szenen, die dem Stück den Namen gaben.
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Ein dépit amoureux ist eine Komödiensituation bestimmter Art, ein Liebeszwist mit folgender Struktur: zwei Liebende sind nach einer Reihe von Mißverständnissen entschlossen, miteinander für immer zu brechen. Dabei wird die Geschichte ihrer Liebe gleichsam umgekehrt abgespult. Man wirft sich gegenseitig vor, daß alle Schwüre und Beteuerungen Lüge waren; man gibt sich die Geschenke zurück, man zerreißt schließlich die empfangenen Briefe. Jedes Wort ruft beim Gegenüber eine noch bitterere Replik hervor, im Trotz steigert sich der Disput bis zu dem Augenblick, da die völlige Auflösung aller Bindungen erreicht scheint, da man sich gegenseitig so weh getan hat, daß die Tränen kommen – und damit plötzlich die Erkenntnis, daß man sich noch nie so nahe gestanden hat wie gerade jetzt. Der Zuschauer merkt freilich sofort, daß jedes böse Wort eigentlich eine Liebeserklärung ist. In dieser Diskrepanz von Sinn und Wortlaut und im Vorwissen des harmonischen Ausgangs liegen die Komik und die versöhnliche Heiterkeit des dépit amoureux begründet. Was in der Tragödie zur Katastrophe führt – das Mißverstehen unter den Menschen, die scheinbar unaufhebbare Divergenz von Individualitäten, die unter verschiedenen Umweltgesetzen stehen und doch zueinander gehören – das ist in der Komödie spielerisch, lächelnd, wenn auch manchmal unter Tränen lächelnd, ausgeglichen und überwunden. Molières dépit amoureux in der gleichnamigen Komödie ist ein glänzendes Kabinettstück, das er selber – und auch keiner seiner Nachahmer – nie wieder erreicht hat. Es handelt sich um die zweite und die dritte Szene des vierten Akts. Beide sind parallel konstruiert: die erste bringt den dépit amoureux von Eraste und Lucile, die zweite denjenigen ihrer Diener Gros-René und Marinette. Eraste ist entschlossen, mit Lucile zu brechen und sie dadurch zu bestrafen, daß er sich eine neue »Flamme« sucht: Je veux mettre en mon cœur une nouvelle flamme. (IV, 2) 14
Der Diener Gros-René, so solidarisch mit seinem Herrn wie seine geliebte Marinette mit ihrer Herrin Lucile, gibt freilich den Rat, mit den Weibern überhaupt ein für allemal Schluß zu machen: Car, voyez-vous, la femme est, comme on dit, mon maître, Un certain animal difficile à connaître, Et de qui la nature est fort encline au mal; Et comme un animal est toujours animal, Et ne sera jamais qu'animal, quand sa vie Durerait cent mille ans, aussi, sans repartie, La femme est toujours femme, et jamais ne sera Que femme (...) (IV, 2)
und dann mit schwerem Geschütz: La tête d'une femme est comme la girouette Au haut d'une maison, qui tourne au premier vent. C'est pourquoi le cousin Aristote souvent 14
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Molière, Œuvres complètes, in zwei Bänden (hrsg. Georges Couton), Paris 1971. Die folgenden Akt- und Szenenangaben zu Molière beziehen sich auf diese Ausgabe.
La compare à la mer; d'où vient qu'on dit qu'au monde On ne peut rien trouver de si stable que l'onde. (IV, 2)
Mit solcher Lakaienphilosophie frei nach Vetter Aristoteles gewappnet ziehen Herr und Diener entschlossen zur Liquidation ihrer Liebe. Eraste und Lucile fauchen sich an, so gut sie können. Diener und Dienerin hetzen auf beiden Seiten. Um zu zeigen, daß es ihm ernst ist, gibt Eraste Lucile deren Porträt zurück: Voici votre portrait: il présente à la vue Cent charmes merveilleux dont vous êtes pourvue; Mais il cache sous eux cent défauts aussi grands, Et c'est un imposteur enfin que je vous rends. (IV, 3)
Der Diener Gros-René brummt Billigung: Bon.
Lucile: Et moi, pour vous suivre au dessein de tout rendre, Voilà le diamant que vous m'aviez fait prendre. (IV, 3)
Kommentar der Dienerin Marinette: Fort bien.
Dann halten Eraste und Lucile sich einschlägige Briefstellen vor. Die Diener haben Angst, daß die Erinnerung den Widerstand aufweichen könnte: »Poussez« – rät Gros-René »Ferme« – mahnt Marinette. Der Abschied für immer scheint nahe. Eraste: Adieu donc.
Lucile: Adieu donc.
Marinette: Voilà qui va des mieux.
Gros-René: Vous triomphez. (IV, 3 )
Eraste und Lucile können sich indessen nicht trennen. Also beschimpfen sie sich weiter. Die nächste Krise ist jedoch schon mit Fragezeichen versehen. Eraste:
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Nous rompons?
Lucile: Oui, vraiment: quoi? n'en est-ce pas fait? (IV, 3)
Dann geht es logisch weiter: Du hast's ja gewollt Nein, Du hast's gewollt.
Jetzt stellen sie fest: keiner hat's gewollt. Die Szene schließt mit den Worten Luciles: Remenez-moi chez nous.
Sie ziehen einträchtig von dannen. Das gleiche spielt sich nun auch unter den Dienern ab. Aber mehrere Stiletagen tiefer. Statt des vous das tu. Statt des Portraits mit den hundert charmes und hundert défauts eine chienne de face. Statt ausgetauschter Juwelen, Armbänder und Briefe gibt man sich jetzt billige Bänder, Nadeln, ein Messer und ein Stück Käse zurück. Aber bei den Dienern geht alles schneller als bei den delikaten Herren. Während sie sich noch mit Schimpfworten bekleckern, blinzeln sie schon wieder mit verliebten Augen: Gros-René: Ne fais point les doux yeux: je veux être fâché. (IV, 4)
Marinette: Ne nie lorgne point, toi: j'ai l'esprit trop touché. (IV, 4)
Wir müssen uns vorstellen, daß die beiden sich Rücken an Rücken gestellt haben und sich über die Schultern ansehen. Molière hat den dépit amoureux in der vierten Szene des zweiten Akts von Tartuffe und in der zehnten Szene des dritten Akts des Bourgeois Gentilhomme wiederholt, ohne jedoch den Schwung des Dialogs, die Unmittelbarkeit der Repliken und die innere Bewegung in der Struktur jenes frühen Stücks wieder zu erreichen. Im 18. Jahrhundert löste ein Schauspieler namens Valville die Dépit-Szenen heraus und machte sie zum Kern eines Zweiakters. In dieser Gestalt wird Molières Dépit amoureux noch heute auf französischen Bühnen gespielt.
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Die »Précieuses ridicules«: Farce und Gesellschaftssatire L'Etourdi und Le dépit amoureux sind Fünfakter, in Alexandrinern geschrieben. Die Précieuses ridicules dagegen bestehen aus sechzehn Szenen: ein Einakter in Prosa. Die Handlung ist rasch erzählt; sie enthält keine Komplikationen. Gorgibus, ein biederer und wohlhabender Bürger aus der Provinz, ist nach Paris gezogen. Er hat seine Tochter Magdelon und seine Nichte Cathos mitgebracht, zwei Landpomeranzen, die in ihrer Provinz von der Mode der Preziosität angesteckt worden sind und die jetzt glauben, in der Hauptstadt das gelobte Land der Galanterie gefunden zu haben, in dem alles so zugeht wie in den Romanen der Mlle de Scudéry. Vater Gorgibus hat in Paris zwei solide Freier für Magdelon und Cathos ausgesucht. Die beiden jungen Damen aber haben die Bewerber hinausgeworfen, weil diese so unanständig waren, gleich heiraten zu wollen, anstatt erst sämtliche Stationen der Romanliebhaber, der Carte du Tendre durchzumachen und ohne sich zuvor in den zehn verschiedenen Arten von Seufzern geübt und bewährt zu haben. Die beiden Freier, La Grange und Du Croisy, beschließen, sich für die Abfuhr zu rächen – damit setzt die Handlung ein. Während Vater Gorgibus, empört über das Verhalten von Tochter und Nichte, sich fassungslos deren verblasenes Kauderwelsch anhört und mit der festen Überzeugung abtritt, daß beide nicht mehr alle Tassen im Schrank haben, veranlassen die beiden abgewiesenen Freier ihre Diener Mascarille und Jodelet, in vornehmer Kleidung die beiden Damen heimzusuchen. So kreuzt denn vor den entzückten Provinzpreziösen zuerst der Marquis de Mascarille und wenig später der Vicomte de Jodelet auf. Der Witz liegt nun darin, daß beide Diener die Herrenrolle ernst nehmen. Mascarille ist ein Imitationsgenie, der die Rolle, von welcher er träumte, mit Lust spielt. Natürlich bricht immer wieder der Lakaienjargon durch, die gedrechselte Diktion des galanten Alcovisten, und noch mehr geschieht dies bei Jodelet, der mit sagenhaften Heldentaten prahlt. Beide lassen sich schließlich von Magdelon und Cathos ihre Kriegsnarben befühlen, die natürlich in Wahrheit die Spuren von reichlich bezogenen Prügeln sind. Die beiden Damen, hingerissen von dem Erlebnis, daß die vornehme Welt bereits zu ihnen kommt, bejauchzen jedes Wort der beiden adligen Herren, bewundern ihre Kleidung Stück für Stück, bejubeln um die Wette einen läppischen Vierzeiler, den Mascarille ihnen vorträgt. Sie sind vollends begeistert, als ihre neuen Verehrer von ihren engen Beziehungen zum Hof und zu den vornehmsten Salons sprechen. In dem Augenblick, da die beiden Besucher einen kleinen Ball improvisieren wollen, tauchen ihre Herren auf. Es setzt Prügel. Mascarille und Jodelet müssen ein Kleidungsstück nach dem anderen ausziehen, bis ihre Lakaienmontur zum Vorschein kommt. Zurück bleiben die blamierten Preziösen und Vater Gorgibus, der mit der Verfluchung aller galanten Gedichte und Romane die Handlung beschließt. Die Précieuses ridicules enthalten eine Vielzahl von Elementen der Farce: die Verkleidung der Diener als Herren, der improvisierte Ball, die Prügelszenen, das Ausziehen der Kleider. Dazu kommt, daß Molière sein Stück ganz betont als Posse inszenierte. Die mit Molière befreundete Schriftstellerin Cathérine Desjardins hat über die Erstaufführung einen Bericht niedergeschrieben, dem wir entnehmen, daß Molière in einem die damalige Mode ins Groteske übersteigernden Anzug als Mas21
carille auf die Bühne kam. Die Perücke reichte bis zum Boden, der Hut war so klein, daß er kaum auf dem Kopf hielt, am ganzen Körper flatterten Bänder, und die Stiefel waren so überdimensional, daß man, wie Mine Desjardins meint, etliche Kinder darin hätte unterbringen können. Noch eine weitere Eigentümlichkeit sei erwähnt. Die Personen des Stücks tragen die Namen der Schauspieler: La Grange – wir kennen ihn als Biographen seines Chefs -und du Croisy hießen wirklich so. Desgleichen Jodelet. Magdelon war Madeleine Béjart, Cathos Cathérine de Brie. Mascarille war seit dem Etourdi die Spezialrolle Molières selbst. Gorgibus kannte man schon aus dem Médecin volant. Nichts lag Molière demnach ferner, als der Fiktion einen Anschein von Realität zu geben. Die stehenden Figuren aus der Tradition der Farce und der Commedia dell'arte, als solche noch betont durch die Beibehaltung der gleichen Schauspieler und deren Namen, unterstrich den Charakter der Posse. Nur in einem unterschied sich das neue Stück ganz grundlegend von seinen Vorgängern: hatten diese eine Handlung, die sich irgendwo abspielte und irgendwann, so war das Thema der Précieuses ridicules zum ersten Mal der Gegenwartsgesellschaft entnommen und konkret im Paris der Zeit lokalisiert. Struktur und Stil der traditionellen Farce standen im direkten Gegensatz zu dem der Wirklichkeit entlehnten Gegenstand. Die peinliche Aktualität des Themas wurde durch ihre Einsenkung in die Farce zugleich unmißverständlich gemacht und entschärft. Die Satire wird von der grotesken Übertreibung ebenso getragen wie von dem unmittelbaren Bezug auf die realen Verhältnisse. Sie lebt vom Spiel zwischen diesen beiden Polen. Das war das Neue an den Précieuses ridicules. In diesem Spielraum entfaltet sich ein hinreißender Spott, der zwischen den Extremen die Urteilsbasis des gesunden Menschenverstandes bezieht und auch den Zuschauer auf denselben Standpunkt zwingt. Hierauf beruht der überwältigende Erfolg der Précieuses ridicules. Die echten Preziösen brauchten sich in der Übertreibung, und schon gar in ihrer provinziellen Verzerrung, nicht wiederzuerkennen. Die Marquise de Rambouillet, die Großmutter des Preziösentums, die sich freilich bereits aus der mondänen Gesellschaft zurückgezogen hatte, zollte standhaft Beifall. Ménage, gelehrtes Requisit aller preziösen Salons, war tief beeindruckt und gelobte reuig Umkehr. Die Preziösen mußten wohl oder übel gute Miene zum bösen Spiel machen. Molière half ihnen dabei, indem er im Vorwort versicherte, daß er keineswegs die echten und ernstzunehmenden Preziösen, sondern nur deren mauvais singes gemeint habe. Gleichwohl fühlten sich einige der Angegriffenen veranlaßt, ein Verbot des Stückes durchzusetzen. Aber der König, der während der Erstaufführung in der Provinz geweilt hatte, gab es wieder frei. Die Preziosität hatte schon vorher empfindliche Schläge hinnehmen müssen. Desmarets de Saint-Sorlin in seinen Visionnaires, Scarron in einer Versepistel, der Abbé de Pure in seiner Komödie La précieuse ou le mystère de la ruelle hatten sie mit bissigem Spott verfolgt. Molières Précieuses ridicules gaben ihr den Rest. Sie bezogen gegenüber der zur Modekrankheit gewordenen Preziosität – wie der Abbé d'Aubignac Molière ausdrücklich bescheinigte – den Standpunkt der honnêtes gens. Molières Attacke zielt viel tiefer als die farcenhafte Einkleidung vermuten läßt: Wenn ein Dienstmädchen ankündigt:
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»Voilà un laquais qui demande si vous êtes au logis«, (Sz. 6)
so wird ihm von der Herrin – Magdelon – bedeutet, es müsse heißen: »Voilà un nécessaire qui demande si vous êtes en commodité d'être visibles.« (Sz. 6) Die Sprachüberhöhung der preziösen Diktion bemächtigt sich der ganzen Umwelt. Als nécessaire ist der Diener seiner Partikularität enthoben und damit derjenige selbst, dem er dient. Die commodité d'être visible anstelle des schlichten être au logis ignoriert den trivialen Sachverhalt des bloßen Da-Seins, sie entbanalisiert es. Zugleich setzt sie an die Stelle des unleugbaren Zu-Hause-Seins die Möglichkeit, gleichwohl unsichtbar zu bleiben, d. h. sich dem Besucher zu entziehen. Sie spiegelt daher eine Autonomie vor, eine Entscheidungsfreiheit, die ganz den Emanzipationsgelüsten der weiblichen Preziosität entspricht. Die sprachliche Distanzierung von der Alltagswirklichkeit entkonkretisiert das Gegenständliche, bis zum Verbum: Stühle herbeischaffen heißt in der Sprache Magdelons: voiturez nous ici les commodités de la conversation. (Sz. 9) Ein simpler Spiegel wird zum conseiller des grâces, worauf die Dienerin Marotte, die diesen Ratgeber der Grazien herbeibringen soll, verständlicherweise antwortet: il faut parler chrétien, si vous voulez que je vous entende. (Sz. 6) Die Sprache ist für die Preziösen nicht mehr Kommunikationsmittel, dessen erstes Gesetz Unmißverständlichkeit wäre, sondern Ausdrucksmittel einer sich selbst erwählenden Elite. Das preziöse Sprechen ist ein uneigentliches Sprechen, das die schmutzigen Schlacken der Realität von sich abwirft und sich eine eigene, geistige Welt zu konstruieren sucht. Bei solcher Haltung muß der spießige Vater Gorgibus schlecht abschneiden, lebt er doch ganz in der höchst realen Welt bürgerlicher Vorurteile. So fällt denn auch seine Nichte Cathos das Verdammungsurteil über ihn in Worten, die sich eine falsch verstandene aristotelische Formel zu eigen machen: »Mon Dieu! ma chère, que ton père a la forme enfoncée dans la matière!» (Sz. 5) Die Seele des armen Gorgibus ist freilich nicht aus der Materie zu erlösen, will er doch nicht einmal begreifen, warum Tochter und Nichte ihre Taufnamen Magdelon und Cathos zugunsten der poetischen Namen Polyxène und Aminte aufgegeben haben, um aller Kreatürlichkeit zu entrinnen. Die unkeusche Berührung mit der Welt wird also durch eine besondere Sprache entsündigt. Kein Wunder, daß die Preziosität als Gesinnung die Prüderie in schlimmster Form nach sich zieht. Ninon de Lenclos hat von den Preziösen mit vollem Recht behauptet, sie seien die Jansenisten der Liebe. Magdelon und Cathos packt der Schauder bei dem Gedanken, ihre Begegnung mit der Welt der Männer könnte mit der Hochzeit und d. h. mit der Begegnung des Fleisches beginnen. So muß sich denn Gorgibus von Cathos sagen lassen: »Pour moi, mon oncle, tout ce que je vous puis dire, c'est que je trouve le mariage une chose tout à fait vraiment choquante. Comment est-ce qu'on peut souffrir la pensée de coucher contre un homme vraiment nu? « (Sz. 4) Die Preziösen haben etwas gegen die Ehe; sie ist ihnen zu banal und zu fleischlich. Die goldene Zeit zwischen erster Begegnung und endgültiger Vereinigung, die Zeit also der Zweifel, der Spannungen, der Hindernisse, der Kämpfe, des Wiederfindens usw. ist für sie das Entscheidende. Diese Theorie hat durchaus etwas für sich, denn sie birgt eine unwiederbringliche Überhöhung des Alltags in sich, eine
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Mobilisierung der Seelenkräfte, und sie entspricht alter höfischer Tradition. Wie aber sieht sie bei den Preziösen aus?! Hören wir die Magdelon der Précieuses ridicules. Wären alle Menschen so wie Vater Gorgibus, un roman serait bientôt fini! (Sz. 4). Das Leben soll wie ein Roman ablaufen. Sie bezieht sich auf den Roman der Scudéry. Undenkbar, daß Cyrus seine Mandane gleich geheiratet hätte! Nein: »le mariage ne doit jamais arriver qu'après les autres aventures» (Sz. 4). Damit wird nicht etwa einer Promiskuität vor der Ehe das Wort geredet. Diese Aventuren haben ihre vorgeschriebene Reihenfolge und Machart. Ein Liebhaber muß, soll er gefallen, verstehen, seine beaux sentiments wohl in Worte zu kleiden, die süße, zärtliche und leidenschaftliche Stimmung zu erzeugen; und seine Werbung muß nach den Regeln erfolgen – »que sa recherche soit dans les formes« (Sz. 4). Die erste Begegnung mit der Frau, die er liebt, muß in der Kirche, bei einer Promenade oder bei einer öffentlichen Festlichkeit stattfinden. Magdelon räumt noch eine andere Möglichkeit ein. Der Liebhaber wird bei seiner Zukünftigen schicksalhaft – fatalement- durch einen Verwandten oder Freund eingeführt; die Folge: er muß »sortir de là tout rêveur et mélancolique« (Sz. 4). Die Stimmung ist also für jede einzelne Phase vorgeschrieben. Mag seine seelische Drangsal noch so groß sein – bei seinen folgenden Besuchen hat er zu zeigen, daß er es versteht, galante Alternativfragen aus dem Bereich der Liebe zu stellen, zu diskutieren und dadurch den Geist aller Anwesenden zu entzücken. Wenn dann der Tag der Liebeserklärung heranrückt, kann sich diese normalerweise nur in einer Gartenallee vollziehen, während die übrige Gesellschaft etwas entfernt weilt. Die Erkorene reagiert mit einem prompt courroux, was wir als eine spontane Reaktion der beleidigten Schamhaftigkeit verstehen müssen. Selbige verbannt den Liebenden eine Zeitlang aus der begehrten Nähe. Nach einer gewissen Zeit aber besänftigt er die Empörte, gewöhnt sie insensiblement an die Offenbarungen seiner passion, bis es ihm schließlich gelingt, der Angebeteten das peinliche Geständnis ihrer Gegenliebe zu entlokken. Jetzt geht es aber erst richtig los mit den Hindernissen: »Après cela viennent les aventures, les rivaux qui se jettent à la traverse d'une inclination établie, les persécutions des pères, les jalousies conçues sur de fausses apparences, les plaintes, les désespoirs, les enlèvements, et ce qui s'ensuit.« (Sz. 4) Hier ist daran zu erinnern, daß bei Mlle de Scudéry die Heldin ihrem Helden ein rundes Dutzendmal mit Gewalt entführt wird, bevor er sie endlich heimführen kann. » Voilà comme les choses se traitent dans les belles manières, et ce sont des règles dont, en bonne galanterie, on ne saurait se dispenser.« (Sz. 4) Wer lieben will, der muß bereit sein, alle Strapazen der Scudéryschen Romanhelden auf sich zu nehmen. Wenn jemand aber gleich heiraten will, »ne faire l'amour qu'en faisant le contrat du mariage« (Sz. 4), so heißt das: »prendre justement le roman par la queue« (Sz. 4). Entsetzlich die Vorstellung, mit dem anzufangen, womit ein Roman schließt! Wir sehen leicht, wo hier berechtigte Romantik, natürliches Schwärmen, aufhört und die Spinnerei anfängt. Das Ideal wird überhaupt nicht mehr am Leben, sondern nur noch an einer überspannten Romanliteratur gemessen. Dabei stellt sich für uns die Frage, wie es zu einem solchen Maß an Verdrängung der Wirklichkeit durch die Fiktion kommen kann. Molière selbst gibt einen Hinweis, Magdelon erklärt, immer
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noch von der Ehe sprechend: »encore un coup, mon père, il ne se peut rien de plus marchand que ce procédé; « (Sz. 4) Die Ehe ist ein Kaufvertrag. Das ist eine deutliche Wendung gegen die bürgerliche Alltags- und Arbeitswelt, die vom Geld bestimmt wird. Dabei erinnern wir uns daran, daß Magdelon und Cathos ja bürgerliche Provinzgänse sind, materiell unabhängig, fasziniert von den Ideen, die für sie ein Leben jenseits aller Banalität verkörpern. War der Protest gegen die Ehe bei den adligen Preziösen ein Aufbegehren gegen Verbindungen, die nur aus Rücksicht auf Stand, Familie, Rang und Politik erfolgten, so richtet sich bei ihren bürgerlichen Adepten das Aufbegehren gegen das Verschachertwerden. Daß dies in Form einer Übernahme der Ideale des heroisch-galanten Romans erfolgt, läßt erkennen, daß sich der Emanzipationsdrang der bourgeoisen Töchter mit der Tendenz zur Klassenflucht verbindet. Daraus ergibt sich wiederum ein anderes komisches Motiv: der Generationsgegensatz zwischen Gorgibus und seinen Pflegebefohlenen. Er ist nicht eine Frage des Alters allein, sondern der Widerspruch zwischen einer bürgerlichen Arbeitsund Handelswelt einerseits und der durch sie materiell freigesetzten, aber noch richtungslosen und daher jeder modischen Attraktion preisgegebenen geistigen Kräfte. Wir wären auf einem völlig falschen Wege, wenn wir annehmen wollten, die Verspottung der Preziösen impliziere bei Molière eine Stellungnahme für die Haltung des Gorgibus. Dieser Vater und Onkel steht seiner Erziehungsaufgabe völlig hilflos gegenüber. Er repräsentiert nicht etwa eine Haltung des gesunden Menschenverstandes gegenüber krankhaften Narreteien, sondern die Ohnmacht des bornierten Spießers gegenüber einer veränderten Welt – im Sinne Molières: eine Haltung, die nicht mehr natürlich ist, gegenüber einer Haltung, die es noch nicht ist. Wir werden diesen Generationsgegensatz, zum festen Motiv geworden, aus den angedeuteten Gründen in vielen weiteren Stücken Molières wiederfinden. Gorgibus wird mit Sganarelle eine Personalunion eingehen. Die perfekte Banalität des Vaters erzeugt die Exzentrizität von Tochter und Mündel. In Molières Komödienmotiv des Generationenwiderspruchs entdecken wir also die literarische Konkretisierung eines besonderen Aspekts jener sozialen und ökonomischen Antagonismen, die Problematik und Ziel, Wirklichkeit und Ideal der klassischen Gesellschaft und ihrer Literatur bestimmen. Aus dieser Perspektive bedürfte das genannte Motiv einer neuen Untersuchung. Ganz kurz sei noch auf einen besonderen Zug der Précieuses ridicules hingewiesen: Der Marquis de Mascarille ist zwar ein aristokratisch verkleideter Diener, aber Molières satirische Hinterhältigkeit liegt gerade darin, daß dieser falsche Marquis für echt gehalten werden kann, trotz seiner grotesken Übertreibung. Molière hat damit den marquis ridicule kreiert. Die Reaktion der Betroffenen war süß-sauer. Es war offenbar, daß ehrgeizige Lakaien die Stelle eines bindungslos gewordenen Adels einnehmen können. Und kaum kann man sich eine bissigere, ja höhnischere Kritik ausdenken als diejenige, die der verkleidete Diener Mascarille in die Worte faßt: »Les gens de qualité savent tout sans avoir jamais rien appris«. (Sz. 9)
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»Sganarelle ou le Cocu imaginaire « : von der Farce zur Charakterkomödie Ein Jahr nach den Précieuses ridicules bringt Molière ein neues Stück zur Aufführung: Sganarelle ou le Cocu imaginaire. Sganarelle wurde ein beträchtlicher Erfolg und war, wenn wir Rückschlüsse aus der Zahl der Aufführungen am Hofe ziehen dürfen, das Lieblingsstück Ludwigs XIV. Sganarelle ist ein Einakter, eine Eifersuchtskomödie mit einem höchst beliebten Thema: dem cocuage, d. h. diesmal in der Form eines cocuage imaginaire. Das Thema verbindet sich mit einem zweiten: den fausses apparences. Der Verdacht der Hahnreischaft gründet sich nur auf einen trügerischen Schein, auf falsche Vermutung. Auch das ist nicht neu: Scarron hatte kurz zuvor eine Komödie aufführen lassen mit dem Titel Les fausses apparences, ein anderer Theaterschriftsteller, Boisrobert, ein Stück mit dem Titel Les apparences trompeuses. Bei Molière sehen die fausses apparences so aus: Fräulein Célie fällt in Ohnmacht, und dabei entgleitet ihrer blassen Hand ein Medaillon mit dem Bildnis ihres Liebhabers Lélie. Die Frau von Sganarelle hebt das Bildnis auf, betrachtet es aufmerksam und wird dabei von ihrem Ehegespons, Sganarelle, überrascht. Sganarelle ist überzeugt, der Porträtierte sei der Geliebte seiner Frau, und auch Célie, inzwischen wieder zum Bewußtsein zurückgekehrt, läßt sich von dieser Mutmaßung betören. Aus dieser Anfangssituation ergeben sich nun viele Verwicklungen, deren Nacherzählung wir uns ersparen wollen. Wir finden in diesem Stück, das noch wesentlich Farce ist, wieder: das Liebespaar Lélie und Célie, aus dem Etourdi, den bornierten Vater Gorgibus, schon bekannt aus dem Médecin volant, der Jalousie du Barbouillé und den Précieuses ridicules, Gros-René, den Diener, den wir aus dem Dépit amoureux kennen, und schließlich Sganarelle. Im Médecin volant war er noch Diener, ganz in der Farcentradition; jetzt übernimmt er die Rolle des Pantalone, eines dümmlichen Ehemanns. Molière hat ihm jedoch eine neue charakterologische Komplexität verliehen, und das ist es, was diese Komödie besonders auszeichnet: Sganarelle ist der egozentrische Einzelgänger, griesgrämig, eingebildet auf seine vermeintlichen Qualitäten, mißtrauisch, mit Schwächen, die man nicht mehr ernst nehmen kann, mit Niederlagen, die kein Mitleid hervorrufen. Molière hat mit ihm einen neuen Typus geschaffen, den wir in verwandelter Gestalt in dem Arnolphe der École des femmes wiederfinden werden. Von einem Stück zum anderen gewinnen die Typen Molières an Konsistenz und Komplexität, werden reicher an gesellschaftsbezogener Substanz. An der Person Sganarelles kristallisiert sich auch ein weiterer Vorzug dieses Stücks, der für die Entwicklung der Molièreschen Bühnenkunst bedeutsam ist: die Farce wird, wenigstens in der tragenden Rolle, zur Charakterkomödie; die bisher beherrschende Pantomime geht eine organische Verbindung mit dem den Charakter selbst offenbarenden Wort ein; die Gestik wird Ausdruck von seelischen Zuständen, die nicht mehr Folgen, sondern Ursachen der Handlung sind.
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»Dom Garcie de Navarre«: eine Tragikomödie der Eifersucht Molières nächstes Stück ist ein glatter Reinfall: Dom Garcie de Navarre (1661). Der geniale Farceur und Satiriker wagte sich zu früh an eine Tragikomödie. Und der gleiche Dichter, der die Preziösen dem vernichtenden Gelächter preisgegeben hatte, konzipierte eine ernste Heldin, Doña Elvire, die alle Züge der Preziösen zeigt. Der Mißerfolg, der diesem Werk zuteil wurde, ist von der späteren Kritik durchaus gebilligt worden – bis heute. Wir schließen uns diesem Urteil an unter dem Vorbehalt, daß das Hauptthema des Dom Garcie doch einer näheren Betrachtung wert wäre: die Eifersucht- von Molière oft behandelt und teilweise mit dem Wortlaut des Dom Garcie im Misanthrope wieder aufgenommen. Alle Schwierigkeiten, auf welche der Held Dom Garcie bei seiner Doña Elvire stößt, beruhen auf seiner Eifersucht. Diese Eifersucht wird von Doña Elvire als eine Art von Majestätsverbrechen angesehen, als strafwürdiger Zweifel an ihrer Person. Sie behandelt das Problem wie eine Salonlöwin aus dem Romanpanoptikum der Mlle de Scudéry. Kalten Blutes hält sie schon in der ersten Szene des ersten Aktes ihrer Vertrauten und Dienerin Elise einen Vortrag über das kasuistische Liebesproblem: » Darf ein wahrer und ehrbarer Liebhaber eifersüchtig sein oder nicht?« Nach Doña Elvire darf er es nicht. Für sie scheint der Konflikt zwischen raison und passion von vorneherein entschieden. Alles Fleischlich-Sinnliche in der Liebe gehört zur partie animale und ist daher verwerflich. Eifersucht ist für sie purer Besitztrieb und Besitzanspruch, der sie in ihrer Würde beleidigt. Als echte Preziöse ist Doña Elvire der Auffassung, daß Dom Garcie ihr treu und voller Vertrauen dienen muß, auch ohne daß sie ihm ein Zeichen ihrer Zuneigung gibt. Der arme Dom Garcie soll ihrem beharrlichen Schweigen nicht Gründe für eine gemeine Eifersucht, sondern den Beweis ihrer Gegenliebe entnehmen. Blicke, Seufzer und Erröten sollen einem Mann genügen, der – begreiflicherweise – in seinem Zweifel diese Anzeichen auch anders deutet und die Seufzer, wenn vorhanden, auf das Konto eines anderen Mannes bucht: Non, non, de cette sombre et lâche jalousie Rien ne peut excuser l'étrange frénésie; Et par mes actions je l'ai trop informé Qu'il peut bien se flatter du bonheur d'être aimé. Sans employer la langue, il est des interprètes Qui parlent clairement des atteintes secrètes: Un soupir, un regard, une simple rougeur, Un silence est assez pour expliquer un cœur; (I, 1)
Für Dom Garcie schweigt sie zuviel. Daher wächst seine Eifersucht ins Unermeßliche. Vergeblich stellt Elise die These auf, daß die Eifersucht eines Mannes ihn umso liebenswerter mache: C'est par-là que son feu se peut mieux exprimer; Et plus il est jaloux, plus nous devons l'aimer. (I, 1)
Die Antwort Doña Elvires lautet:
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Partout la jalousie est un monstre odieux: (I, 1)
Wir wollen der Sache nicht weiter nachgehen. Elvire ist preziös und prüde; man kann ihrer Person nicht viel abgewinnen. Menschlich wird sie erst im letzten Akt, als sie sich bereit erklärt, ihren Dom Garcie zu akzeptieren, nachdem dieser alle seine Fehler – Fehler im Sinne Elvires – unterwürfig eingestanden hat: Vos plaintes, vos respects, vos douleurs m'ont touchée: J'y vois partout briller un excès d'amitié, Et votre maladie est digne de pitié. ................ Et pour tout dire enfin, jaloux ou non jaloux, Mon roi, sans me gêner, peut me donner à vous. (V, 6)
Dom Garcie bleibt jetzt nur noch übrig, sich zu wundern, daß sein Herz die Freude über diese Erklärung noch erträgt.
»L'École des maris« und die Weltanschauung des aufgeklärten Bürgertums Molière hat sich beeilt, den Mißerfolg des Dom Garcie wettzumachen. Noch im gleichen Jahre 1661, im Juni, brachte er die École des maris zur Aufführung, das erste Stück, das man – mit Vorbehalten – als ein Thesenstück bezeichnen darf. Wir stoßen wieder auf Sganarelle, abermals mit den Zügen seiner bisherigen Erscheinung, und doch wieder verwandelt. In Parenthese sei gesagt, daß es sich wohl lohnen würde, solche konstanten Figuren des Molièreschen Theaters einmal nicht nur, wie bisher fast immer geschehen, rein deskriptiv oder phänomenologisch zu untersuchen, sondern nachzuforschen, wieweit ihr Funktions- und Charakterwandel sich aus einer veränderten Thematik und Entwicklung der Molièreschen Problematik selbst, konkret gesellschaftsgeschichtlich bezogen, herleiten läßt. Nichts war für einen auf Erfolg bedachten Komödienschriftsteller verführerischer, als konstante, dem Publikum vertraute Figuren beizubehalten und sie nur in immer neue komische Situationen zu verwickeln. Aber gerade davon hat Molière sich freigemacht. Im Dom Juan wird Sganarelle wieder Diener sein, aber ein ganz anderer als im Médecin volant. Die Quellen Molières für die École des maris sind klar. Die erste ist die Komödie Adelphoi von Terenz. Ein Brüderpaar hat sich hier in die Aufgaben der Erziehung der beiden Söhne des jüngeren Bruders geteilt. Beide huldigen konträren pädagogischen Methoden. Der eine behandelt sein Erziehungsobjekt mit größter Nachsicht, ja fast Fahrlässigkeit, der andere das seinige mit äußerster Strenge. Das Ergebnis ist, daß der eine Sohn die zahlreichen Dummheiten, die er macht, offen eingesteht, der andere aber gezwungen ist, dauernd zur List zu greifen und seinen Vater übers Ohr zu hauen. Terenz' Stück wurde in der Renaissance mehrfach nachgeahmt und erfuhr eine interessante thematische Variation bei dem spanischen Dramatiker Hurtado de Mendoza in dessen Komödie El marido hace mujer o el trato muda costumbre (Der Ehemann macht die Frau, oder Die Behandlung än28
dert die Sitte). An die Stelle der Terenzschen Söhne treten hier zwei Frauen. Ein Brüderpaar hat ein Schwesternpaar geheiratet. Der eine Mann behandelt seine Frau wie eine selbständige und selbstverantwortliche Persönlichkeit, d. h. er läßt ihr jede Freiheit und erntet dafür ihre Liebe und Treue; der andere sperrt seine Frau ein oder läßt sie bewachen – mit dem Erfolg, daß sie ihn betrügt. Diese These ist eindeutig: wer seine Frau behandelt wie eine Sklavin, der wird mit Recht von ihr betrogen. Freiheit und Anerkennung der Menschenwürde ist eine stärkere Bindung als Zwang, Mißtrauen und Kontrolle. Molière hat Terenz und Mendoza kombiniert: er behält das Brüderpaar bei, ebenso das Schwesternpaar, aber die Schwestern sind bei ihm noch unverheiratet. Ein Freund hat sie – Isabelle und Léonor – vor seinem Tode den Brüdern Ariste und Sganarelle als Mündel anvertraut. Die beiden haben die Absicht, ihre Pflegebefohlenen nicht nur zu erwachsenen Menschen heranzuziehen, sondern sie auch selber zu heiraten. Damit ist das Motiv der Hahnreischaft ausgeschieden, das Thema der Erziehung (École) aber mit voller Schärfe beibehalten. Ich weise noch auf eine weitere Quelle Molières hin. Isabelle, von ihrem Vormund Sganarelle dauernd eingesperrt und umlauert, sucht nach Wegen, sich ihrem Liebhaber Valère zu erklären. Sie erzählt daher Sganarelle, ein junger Mann steige ihr nach, was der Wahrheit entspricht, und er, Sganarelle, möge dem Betreffenden doch bedeuten, daß sie dies als Belästigung empfinde, was nun wiederum keineswegs der Wahrheit gemäß ist. Der junge Mann, Valère, begreift, wie es gemeint ist: er möge in seinen Absichten nicht nachlassen. Sganarelle ist entzückt über soviel Tugend und Vertrauen seines Mündels, er übernimmt deshalb auch gerne den Auftrag Isabelles, einen angeblich von Valère stammenden und von Isabelle aus purer Züchtigkeit nicht geöffneten Brief Valère zurückzugeben und ihm klarzumachen, daß alle Annäherungsversuche hoffnungslos seien. In Wahrheit überbringt er seinem Konkurrenten einen Brief, in dem Isabelle Valère ihre Zuneigung eingesteht. Ein drittes Mal wird Sganarelle sogar zum Vermittler eines von Isabelle ausgeheckten Entführungsplans. Das Motiv stammt aus Boccaccios Decamerone, wo in der dritten Novelle des dritten Tags eine verheiratete Frau ihren Beichtvater dazu mißbraucht, in gleicher Weise als Briefträger für den anders nicht zu erreichenden Geliebten zu dienen. Sganarelle läßt sich bis zur völligen Verblendung nasführen. Isabelle bringt ihn dahin, daß er noch Mitleid mit dem scheinbar so grausam zurückgewiesenen Valère empfindet. Er ist von dem Gehorsam Isabelles so enthusiasmiert, daß er beschließt, die Hochzeit mit ihr vorzuverlegen. Soweit sollte die Strategie der Täuschung nicht führen. Sie zwingt jetzt Isabelle zu einer neuen List. Sie behauptet, ihre Schwester Léonor sei in Valère verliebt, und Sganarelle, schadenfroh und glücklich, seinem Bruder Ariste eins auszuwischen, leiht seine Hilfe für einen Trick, der Valère und Léonor miteinander verbinden soll. Ein Blankoehekontrakt wird in Anwesenheit von Standesbeamtem und Notar unterschrieben; als aber die Braut erscheint, ist es nicht Léonor, sondern Isabelle, die nun mit Valère getraut worden ist. Sganarelle ist der Angeschmierte, und er hat selber dazu beigetragen, während sein Bruder Ariste, obwohl zwanzig Jahre älter, d. h. etwa sechzig, sein Mündel Léonor heiraten kann. Das Problem der Erziehung junger Mädchen ist damit ent-
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schieden. Es hatte schon in der ersten Szene des ersten Akts mit einer Diskussion zwischen den beiden ungleichen Brüdern begonnen. Sganarelle gibt sich – obwohl der jüngere – als Moralist von altbürgerlicher Sittenstrenge. Er trägt die Kleider seiner Großväter, er ist ein Gesellschaftsfeind aus Egoismus, er bekennt sich zur »sévérité qui composait si bien l'ancienne honnêteté« (I, 3); er ist der Auffassung, daß gerade bei der Frau das Fleisch schwach ist; sein Erziehungsprinzip ist es daher, aus Isabelle ein völlig ungebildetes, dummes, braves und treues Hausmütterchen zu machen, das glücklich ist, wenn es für den Alten warme Strümpfe stricken darf. Ganz anders sein Bruder Ariste. Er ist der erste raisonneur im Theater Molières, und er vertritt ganz zweifellos die These des Autors. Ariste ist vorurteilslos im Sinne des fortschrittlichen Bürgertums, das sich der Gesellschaft als einer natürlichen anpaßt. Die Frau ist für ihn ein selbstverantwortliches Wesen; Erziehung beruht auf dem Prinzip der Freiheit. Das anachronistische Weltbild seines Bruders Sganarelle ersetzt er durch eine Theorie des juste milieu: Die gegebene Welt ist die gültige. Die Wahrheit, die keine Tragödie und keine Lächerlichkeit will, liegt im Kompromiß: Toujours au plus grand nombre on doit s'accommoder, Et jamais il ne faut se faire regarder. L'un et l'autre excès choque, et tout homme bien sage Doit faire des habits ainsi que du langage, N'y rien trop affecter, et sans empressement Suivre ce que l'usage y fait de changement. ……….. ...je tiens qu'il est mal, sur quoi que l'on se fonde, De fuir obstinément ce que suit tout le monde, Et qu'il vaut mieux souffrir d'être au nombre des fous, Que du sage parti se voir seul contre tous. (I, 1)
In diesen Versen, die bereits auf die Problematik des Misanthrope vorausdeuten, mag die Theorie des Kompromisses mit der Welt auf den ersten Blick hin sehr billig erscheinen. Sie ist gleichwohl diejenige Molières und der honnêteté. Sie ist zugleich diejenige eines – fast möchte man sagen: aufgeklärten – Bürgertums, die den ökonomisch und politisch errungenen Platz auch gesellschaftlich und moralisch behaupten will, unter Aufgabe antiquierter Ideale, die jetzt zu puren Vorurteilen erstarrt sind. Aristes Anpassung an die Mode und an die Sprache seiner Zeit ist die Anpassung an den geltenden usage, an das Gesetz der neuformierten Gesellschaft, und dieses Gesetz impliziert eine Stellung der Frau, die es nicht mehr erlaubt, über sie als einen reinen Besitzgegenstand zu verfügen. Aus diesem Grund läßt Ariste der seiner Fürsorge anempfohlenen Léonor jede Freiheit, erlaubt ihr jeden Umgang, genehmigt jede Lektüre, preist als beste Schule des Lebens die école du monde, läßt Léonor die volle Entscheidungsfreiheit über ihre Person und erreicht damit, daß sie, die vielleicht achzehnjährige, ihn, den sechzigjährigen, allen anderen vorzieht. Das ist vielleicht etwas stark – um der These willen. Und auch wenn Molière hier in eigener Sache sprach – er war ja dabei, die zwanzig Jahre jüngere Armande Béjart zu ehelichen – wäre dieser Altersunterschied für die These nicht nötig gewesen. Die Konstellation ist in ihrer Zuspitzung eindeutig: der Spießer Sganarelle gegen den honnête homme Ariste. Isabelle, ihrem Vormund ausgeliefert, ist gezwungen, sich zu einer Intrigantin mit etwas bedenklichen Vorzeichen zu entwickeln. Sie ist 30
züchtig, raffiniert, anmutig und durchtrieben zugleich. Eine moralische Verurteilung ist nicht möglich, obwohl sie ihrem Vormund übel mitspielt. Unter den obwaltenden Umständen ist der Betrug das einzige Mittel, ihre eigene Persönlichkeit zu behaupten. Molière hat nicht versäumt, für Isabelle an das Verständnis des Publikums zu appellieren. Er läßt sie sagen: Je fais, pour une fille, un projet bien hardi; Mais l'injuste rigueur dont envers moi l'on use, Dans tout esprit bien fait me servira d'excuse. (II, 1)
Manche Interpreten wollen in der École des maris ein Plädoyer Molières pro domo sehen, ja, einige gehen soweit zu erklären, in Sganarelle und Ariste habe Molière die beiden Seelen in seiner eigenen Brust verkörpert. Wir wollen auf diese unlösbare Frage nicht weiter eingehen. Daß das Thema einen Mann auch persönlich nahe berührte, der im Begriff war, ein wesentlich jüngeres, unter seinen Augen herangewachsenes Mädchen zu heiraten, kann wohl nicht bestritten werden. Wir finden es, erheblich vertieft, in der École des femmes wieder – zwei Jahre später.
»Les Fâcheux«: ein gesellschaftliches Kuriositätenkabinett Im gleichen Jahr 1661, das die Erstaufführung der École des maris brachte, verfaßte Molière einen weiteren Drei-Akter in Versen, die Ballettkomödie Les Fâcheux. Im August lud der Generalintendant Fouquet den König, die Königinmutter und Henriette d'Orléans, die Schwägerin des Königs, zu einem glänzenden Fest in seinem Schloß in Vaux-le-Vicomte. Wir wissen, daß Ludwig Fouquet vierzehn Tage später verhaften und auf Lebenszeit einkerkern ließ. Dem Fest selber tat dies noch keinen Abbruch. Zwei Wochen vorher war es Fouquet eingefallen, Molière mit einem Stück zu beauftragen, das dieses Fest verschönern sollte. Molière schrieb in dieser kurzen Frist die Fâcheux und probte sie ein. Die Musik komponierte Lulli, die Dekorationen stammten von dem berühmten Maler Lebrun. Die Aufführung fand im Freien statt. In einer mythologischen Landschaft mit Grotten, Bäumen und Springbrunnen präsentierte sich Madeleine Béjart als reife Najade – damals immerhin 43 Jahre alt –, rezitierte eine von Pellison, dem Hausdichter Fouquets neben Lafontaine, verfaßte Apotheose auf den König und rief dann die übrigen Najaden, Dryaden und Satyrn, die flugs aus den Bäumen traten und einen Tanz aufführten. Dann erst begann die eigentliche Handlung, d. h. eine Handlung, die ganz und gar nebensächlich ist, die nur den Rahmen darstellt: ein junger Edelmann namens Eraste hat ein Stelldichein mit der von ihm geliebten Orphise. Er brennt begreiflicherweise vor Ungeduld, aber eine ganze Serie von lästigen Besuchern – die fâcheux – halten ihn immer wieder auf. Auf diese fâcheux kommt es jedoch an. Das Stück ist eine pièce à tiroirs: aus jeder Schublade kommt ein Mensch heraus, den man – nachsichtig – als Original und – satirisch – als eine extravagante Type einer funktionslosen Gesellschaftsschicht bezeichnen kann – auf alle Fälle als Auswuchs. Es ist eine Galerie von lebendigen Porträts, eine Revue von sozialen Mon-
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struositäten, die es in ähnlicher oder verwandelter Gestalt zu allen Zeiten gibt: Schwachmacher, Angeber, Spinner, kurz, die Nervensägen, die jede Gesellschaft zur Tortur machen können. Um wieviel mehr erst einem Mann, der auf sein Rendez-vous brennt? Zuerst erscheint vor Eraste ein Marquis, einer von jener Sorte, die Molière sicherlich gefressen hatte, der dröhnend ins Theater stürzt, nachdem das Schauspiel schon begonnen hat, der während der Aufführung laut redet, weil seine Geistesblitze ja viel bedeutender sind als das auf der Bühne Vorgeführte, der sich so setzt, daß er dem übrigen Publikum die Sicht versperrt, und der natürlich den Saal vor Schluß verläßt, weil er eh schon weiß, wie's ausgeht. Der nächste fâcheux ist ein Komponist von Ungnaden, der jedem seine neueste Genietat vorträllert; dann folgt ein duellwütiger Edelmann, der überall seine Ehre bedroht sieht, danach ein Spieler, der seinen Ärger über eine verlorene Partie loswerden will. Eine bestimmte Sorte von Humanisten repräsentiert Caritides, der Anhänger wirbt, um seinen Plan durchzusetzen, der eine Änderung in der Schreibweise der öffentlichen Inschriften vorsieht. Dann folgt ein merkantilistischer Projektemacher, der auf dem Papier Millionen hin- und herschiebt und selber keinen Pfennig im Beutel hat. Den Sonntagsjäger, der Eraste mit seiner Jagdtollheit belästigt, hat Molière auf Anregung des Königs nach dem Vorbild eines Höflings, des Marquis de Soyecourt, eingeführt. Auch zwei preziöse Damen kreuzen auf und rufen Eraste als Schiedsrichter an in der Streitfrage: wer liebt besser, ein Eifersüchtiger oder ein NichtEifersüchtiger? Man kann sich die Stimmung Erastes vorstellen, der hier theoretisieren soll wie im Salon der Scudéry, während er auf die Praxis seines Stelldicheins wartet. Schließlich hat die Qual ein Ende: auch ein widerspenstiger Onkel wird noch gezähmt, und Eraste kann in die Arme seiner Orphise eilen. Die Fâcheux sind ein glänzender Scherz, beschwingt, leicht, von heiterer und doch zielsicherer Ironie. Molière ist von nun an der Mann, der für die Gestaltung der großen Feste am Hof unentbehrlich ist und der es sich erlauben kann, alle diejenigen Typen lächerlich zu machen, die der König selbst nicht mehr ernstzunehmen vermag. Die Fâcheux fanden die volle Zustimmung Ludwigs XIV. Molière hatte sich indessen dadurch neue Feinde zugezogen, was er bei seinem nächsten Stück zu spüren bekam.
» L'École des femmes«: grande comédie und Literaturskandal Im Dezember 1662 brachte er die École des femmes heraus, und zwar mit glänzendem Erfolg. Der Titel verrät, daß es sich um eine Fortführung der Problematik der École des maris handelt. Die École des femmes ist eine fünfaktige Verskomödie. Das Thema stammt indirekt aus einer Novelle von Straparola, direkt aus Scarrons Précaution inutile, der Übersetzung einer Novelle der spanischen Schriftstellerin Maria de Zayas (EI marido prevenido, Der gewarnte Ehemann). In der École des femmes ist die Farce überwunden, ist das erreicht, was die Franzosen die grande comédie nennen – die Charakterkomödie. Erziehungsobjekt ist hier nur ein einziges Mädchen: Agnès. An die Stelle Sganarelles tritt Arnolphe. Die Gegenposition ist nicht mehr, wie in der École des maris, an einem zweiten Paar veranschaulicht, sondern in den einen Konflikt hereingenommen. Als raisonneur 32
hat jedoch der Ariste der École des maris einen Nachfolger in Arnolphes Freund Chrysalde. Der Verzicht auf die Darstellung der Gegenposition, d. h. des zweiten, des positiven Paares, hat nun eine wichtige Konsequenz: sie erzwingt die Hereinnahme des Konflikts in den einen Erziehungsfall; Arnolphes Charakter eignet also eine ungleich größere Komplexität als Sganarelles. Arnolphe ist kein geiziger bürgerlicher Spießer mit altväterlicher Moral, sondern ein honnête homme. Dem Sohn seines Freundes, Horace, pumpt er großzügig Geld, und der angenommene Gestus des Mannes von Welt zwingt ihn, auch dann noch dafür einzustehen, als er von Horace hören muß, daß dieser das geliehene Geld dazu benutzt, Fortschritte in seiner Liebe zu Agnès, also bei der von Arnolphe Auserkorenen und Bewachten, zu erzielen. Arnolphes Charakter ist bewußtseinsmäßig doppelt strukturiert: reich gewordener Bürger in seinem eifersüchtigen Besitztrieb und seiner Angst vor dem Cocuage, und andererseits völlig affiziert von der vornehmen Gesellschaft; er hat denn auch seinen bürgerlichen Namen aufgegeben und sich den Titel eines Seigneur de la So che gekauft. Als Mann von Welt glaubt er, Zyniker sein zu müssen, und ist es auch. Er ist frivol wie die galante Gesellschaft und fördert daher willig die Verführungsstrategie des jungen Horace, und er muß es wider Willen auch noch tun, als er erfährt, daß diese Strategie seinem eigenen Mündel gilt und er selbst also der Ausgeschmierte sein soll. Der soziale Zwang, dem er sich aus Ehrgeiz und Prestigesucht unterworfen hat, ist unaufhebbar. Aus der bürgerlichen Vorstellungswelt vermag er sich indessen nicht zu lösen. So wird er selber zum Opfer seiner ideologischen Zerrissenheit, und das trotz einer intellektuellen Einsicht in den Selbstwiderspruch. Wenn ein Sganarelle noch so ehrlich wie dumm an die moralische Richtigkeit seiner Erziehungsprinzipien geglaubt hat, so ist sich Arnolphe völlig klar darüber, daß die seinigen ausschließlich auf seinem Egoismus gründen. Er hat Agnès im Alter von vier Jahren praktisch von deren im Elend lebender Mutter gekauft. Er sperrt sie ein, um sie in absoluter Unwissenheit an Geist und Herz zu halten, unterwiesen nur in den weiblichen Handarbeiten, die seinem eigenen Wohle dienlich sind: En un mot, qu'elle soit d'une ignorance extrême; Et c'est assez pour elle, à vous en bien parler, De savoir prier Dieu, m'aimer, coudre et filer. (I, 1)
Agnès ist für ihn ein besseres Haustier – une bête, wie Chrysalde ihm vorwirft. Antrieb ist die Angst vor dem Cocuage, vor der damit verbundenen Lächerlichkeit: » Epouser une sotte est pour n'être point sot. « (I, 1) Agnès ist für ihn ein Objekt, das er allein und ganz in seinem Sinne formen will wie Wachs: Comme un morceau de cire entre mes mains elle est, Et je lui puis donner la forme qui me plaît. (III, 3)
Aber die zum Objekt eines andern degradierte Menschenwürde rächt sich. In Agnès' sorgsam verdummter Natürlichkeit regt sich das Gefühl der Liebe, das Arnolphe auf seine Person lenken will und das er deshalb bislang als unschuldig hat-
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te hinstellen müssen. Aber das je ne sais quoi, das im Herzen der Agnès erwacht, gilt Horace. Agnès pocht jetzt – Arnolphe mit dessen eigenen Waffen schlagend – auf die Unschuld ihres Gefühls. Solchermaßen bedrängt, greift Arnolphe zu den Heilmitteln der Religion. Er bemüht die Sanktion des Himmels und malt Agnès sämtliche Schrecken der Hölle vor, welche auf Mädchen warten, die sich mit einem jungen Luftikus einlassen: (...) il est aux enfers des chaudières bouillantes Où l'on plonge à jamais les femmes mal vivantes. Et vous irez un jour, vrai partage du diable, Bouillir dans les enfers à toute éternité: (III, 2)
Dabei erinnert er an die biblisch verankerte Gehorsamspflicht des Weibes und an dessen kirchlich beglaubigte Minderwertigkeit: Votre sexe n'est là que pour la dépendance: Du côté de la barbe est la toute-puissance. Bien qu'on soit deux moitiés de la société, Ces deux moitiés pourtant n'ont point d'égalité: L'une est moitié suprême et l'autre subalterne; L'une en tout est soumise à l'autre qui gouverne; (III, 2)
Nach solch ersprießlichen Reden über das Verhältnis der Geschlechter zwingt er Agnès, den Ehekatechismus auswendig zu lernen. Gleichzeitig geriert er sich als Beichtvater. Aber auch dieser Rückgriff auf die Religion bleibt ohne Wirkung, denn Agnès überträgt diese Maximen in aller Unschuld auf ihre zukünftigen Pflichten gegenüber dem Mann, den sie heiraten will und der eben nicht Arnolphe, sondern Horace heißt. Die egoistisch mißbrauchte Moral rächt sich bitter. Nun, da Arnolphe sieht, wie Agnès ihm entgleitet, beginnt er sie wirklich zu lieben, aber jetzt ist es zu spät. Er muß sie freigeben und sich von seinem Freund Chrysalde spöttisch sagen lassen: Si n'être point cocu vous semble un si grand bien, Ne vous point marier en est le vrai moyen. (V, 9)
Wer Angst hat, betrogen zu werden, tut besser daran, überhaupt nicht zu heiraten. Sprachlos in seiner Demütigung entweicht Arnolphe der abschließenden Szene eines perfekten Familienglücks. Ein schmerzliches »Oh!« ist alles, was er noch zustandebringt. Mit der École des femmes hat Molière in ein Wespennest gestochen. Die Katechismusszene, die den schamlosen Mißbrauch der Religion zum Gewissens- und Seelenzwang aufdeckte, wurde zum Ärgernis für viele Zeitgenossen, die nach dem Kadi schrien, weil Molière angeblich heilige christliche Werte dem Gelächter preisgegeben habe. Hätten die Zeitgenossen schon gewußt, was erst Gustave Lanson Ende des vorigen Jahrhunderts entdeckte, daß nämlich Molière seinen Ehekatechismus nicht erfunden, sondern mit ihm ein frommes Lehrbuch des Heiligen Gregor auf die Komödienbühne gebracht hatte, dann wäre das bigotte Gezeter noch viel lauter geworden.
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Es reichte auch so schon aus. Die galanten Taugenichtse und Schönschwätzer, die Molière in den Fâcheux hergenommen hatte, formierten sich zusammen mit den Devoten aller Richtungen und mit den Konkurrenten im Theater zu einer gemeinsamen Front. Sie klagen Molière nicht nur der Unchristlichkeit und Verächtlichmachung der Religion an, sondern zerren sein Privatleben, vor Verleumdungen nicht zurückschreckend, an die Öffentlichkeit. Molière verteidigt sich überaus geschickt, indem er ein halbes Jahr später in dem Einakter La critique de L'École de femmes seine Gegner in geistvoller Weise lächerlich macht. Als seine Feinde erneut eine Kabale inszenieren, antwortet Molière auf Veranlassung des Königs abermals mit einem Einakter, dem Impromptu de Versailles. In diesem kleinen Stück bringt Molière sich selbst und seine Schauspieler als Personen der Handlung auf die Bühne. Länger als ein Jahr dauerte der Streit, den man in Analogie zur Auseinandersetzung um den Cid die Querelle de l'École des femmes nennen möchte. Molière war der Gunst des jungen Königs sicher, und er hatte sich nicht nur viele Feinde geschaffen, sondern auch Freunde gewonnen, unter ihnen Boileau. Hinzukam, daß die scharf attackierte École des femmes ein Riesenerfolg war, an dem der Neid der Literaten und Schauspielerkollegen vom Hôtel de Bourgogne wie die gehässige falsche Prüderie der Devoten zuschanden wurde.
Molières Replik in der » Critique de l'École des femmes« Ludwig XIV. bekundete sein Wohlwollen, indem er Molière auf die Liste der vom Staat mit einer Pension bedachten Autoren setzen ließ. Molière bedankte sich für die königliche Huld mit einem Gedicht – Remerciment au Roi –, das seine Dankbarkeit, aber auch das Bewußtsein der eigenen Würde zeigt. Inzwischen hatte ein noch junger, kochbegabter Literat und glänzender Journalist namens Donneau de Visé im Februar 1663 eine scharfe Attacke gegen die École des femmes geritten, die mit der Ankündigung schloß, er wolle diesen Streit demnächst auf die Bühne bringen. Molière entschloß sich, diesem neuen Anschlag zuvorzukommen durch einen Einakter, den er auch aufführte, obwohl man ihm brieflich für diesen Fall Schläge angedroht hatte. Am 1. Juni 1663 präsentierte er eine Szenenfolge mit dem Titel La Critique de l'École des femmes. Molière war raffiniert genug, das kleine Werk der Königin-Mutter Anna von Österreich zu dedizieren, die als eine Repräsentantin der Gruppe der rigoristischen dévots galt, aber eine leidenschaftliche Theaterfreundin war. Die Handlung des Einakters, soweit von einer solchen überhaupt gesprochen werden kann, ist die folgende: Nach einer Aufführung der École des femmes treffen sich im Salon der hochgebildeten Uranie sechs Personen, die gegensätzliche Meinungen über das Stück Molières vertreten. Bei Uranie, die sich in Gesellschaft ihrer Kusine Elise befindet, trifft zunächst die preziöse Climène ein, außer Rand und Band und vollgepropft mit Empörung über die École des femmes. Die Entgegnung Uranies, daß sie und Elise sich nach der Aufführung von Molières Stück bester Gesundheit und Heiterkeit erfreuen, bringt Climène erst recht in Zustände und sittliche Krämpfe. Diese Dame»la plus sotte bête qui se soit jamais mêlée de raisonner« (Sz. 2) nach dem Urteil 35
Elises – ist in jeder Hinsicht schockiert. Das muß man verstehen. Arnolphe hatte schon im ersten Akt, erste Szene, hochbefriedigt über den Erfolg seiner bisherigen Erziehung, bekundet, sein Mündel Agnès sei noch so unschuldig, daß sie glaube, die Kinder würden durch's Ohr gezeugt: Elle (...) me vint demander, Avec une innocence à nulle autre pareille, Si les enfants qu'on fait se faisaient par l'oreille.
Was Molière hier persiflierte, war nicht bloß eine mittelalterliche Erklärung für die Empfängnis der Gottesmutter, sondern auch die fromme christliche Pädagogik seiner Zeit. Nicht weniger Anstoß nehmen Molières Gegner an der Verwendung des Wortes Crèmetorte – tarte à la crème – in einem Zusammenhang, der wiederum die planmäßige Verdummung der Mädchen zwecks Abrichtung zum braven Hausmütterchen meint. Arnolphe behauptet, Agnès wisse nicht einmal, was ein Reim sei – sei also gegen die Verführung der Dichtkunst gefeit: Je prétends que la mienne, [nämlich seine zu künftige Frau] en clartés peu sublime, Même ne sache pas ce que c'est qu'une rime; Et s'il faut qu'avec elle on joue au corbillon Et qu'on vienne à lui dire à son tour: »Qu'y met-on?« Je veux qu'elle réponde: »Une tarte à la crème«; En un mot, qu'elle soit d'une ignorance extrême; Et c'est assez pour elle, à vous en bien parler, De savoir prier Dieu, m'aimer, coudre et filer. (I, 1)
Das Corbillon-Spiel, von dem die Rede ist, war ein Gesellschaftsspiel, bei dem man auf die Frage: »Qu'y met-on?« einen Reim auf -on bringen mußte. Climène ist, wie gesagt, eine Preziöse. Daß auf der Bühne von Frauen die Rede ist, die »tarte à la crème« auf -on reimen und wo die prüde Umschreibung des Zeugungsvorgangs durch den Kakao gezogen wird, ist ihr höchst zuwider. Noch stärker ist sie betroffen von den Versen, in welchen der Diener Alain der Dienerin Georgette beizubringen versucht, was die Eifersucht ist – auf seine Weise, mit Hilfe der Suppe als tertium comparationis: Je m'en vais te bailler une comparaison, Afin de concevoir la chose davantage. Dis-moi, n'est-il pas vrai, quand tu tiens ton potage, Que si quelque affamé venait pour en manger, Tu serais en colère, et voudrais le charger? (II, 3)
Georgette: Oui, je comprends cela.
Alain:
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C'est justement tout comme: La femme est en effet le potage de l'homme; Et quand un homme voit d'autres hommes parfois Qui veulent dans sa soupe aller tremper leurs doigts, Il en montre aussitôt une colère extrême. (II, 3)
Man kann sich vorstellen, daß solch drastische Beschreibung der Eifersucht die scheinzüchtige Climène auf die Palme bringt. So gipfelt ihre erste Suada in einer Klimax, die den Eindruck wiedergibt, den Molières Vulgarität auf ihren zarten Organismus ausgeübt hat: »Les enfants par l'oreille m'ont paru d'un goût détestable; la tarte à la crème m'a affadi le cœur; et j'ai pensé vomir au potage.« (Sz. 3) Uranie gibt ihr wenig später eine zwar indirekte, darum aber nicht weniger treffsichere Antwort, indem sie Climène unter jene Damen einreiht, die nur ins Theater gehen, um sich sittlich zu entrüsten. Und sie gibt zu verstehen, daß jener Lakai recht hatte, der, angewidert von dem prüden Getue, ihnen im Theater laut zurief, daß ihre Ohren keuscher seien als der ganze Rest ihres Körpers. Während Uranie Climène Zug um Zug Kontra gibt, tut Elise so, als bewundere sie das Urteil und den Geschmack der Besucherin, worauf diese auch noch das famose le zur Sprache bringt. In diesem le gipfeln die saletés und ordures Molières. Um zu wissen, worum es geht, müssen wir uns die Szene vergegenwärtigen, in welcher der ominöse Artikel auftaucht. Arnolphe ist dahinter gekommen, daß sein Mündel sich des öfteren mit dem jungen Horace getroffen hat. In der Unschuld, ja Dummheit, in welcher er sie gehalten hat, erzählt sie ihm von dem Rendez-vous. Natürlich will er herausbekommen, ob dabei über die Süßholz-Raspelei hinaus noch etwas anderes passiert ist. Es ist eine schlimme Stunde für Arnolphe: Outre tous ces discours, toutes ces gentillesses, Ne vous faisait-il point aussi quelques caresses?
Agnès: Oh tant! Il me prenait et les mains et les bras, Et de me les baiser il n'était jamais las.
Arnolphe: Ne vous a-t-il point pris, Agnès, quelque autre chose? La voyant interdite. Ouf!
Agnès: Hé! il m'a ...
Arnolphe: Quoi?
Agnès:
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Pris...
Arnolphe: Euh!
Agnès: Le...
Arnolphe: Plaît-il?
Agnès: Je n'ose, Et vous vous fâcherez peut-être contre moi.
Arnolphe: Non.
Agnès: Si fait.
Arnolphe: Mon Dieu, non!
Agnès: Jurez donc votre foi.
Arnolphe: Ma foi, soit.
Agnès: Il m'a pris ... Vous serez en colère.
Arnolphe: Non.
Agnès: Si.
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Arnolphe: Non, non, non, non. Diantre, que de mystère! Qu'est-ce qu'il vous a pris?
Agnès: Il...
Arnolphe, à part. Je souffre en damné.
Agnès: Il m'a pris le ruban que vous m'aviez donné. A vous dire le vrai, je n'ai pu m'en défendre. (II, 5)
Mit dem Hinweis Uranies, das le beziehe sich ja doch auf den ruban, und somit sei nicht das Stück schmutzig, sondern die Gedanken Climènes beim Anhören der Szene, gibt sich Climène nicht zufrieden: »Ah! ruban tant qu'il vous plaira; mais ce le, où elle [Agnès] s'arrête, n'est pas mis pour des prunes. Il vient sur ce le d'étranges pensées. Ce le scandalise furieusement; et, quoi que vous puissiez dire, vous ne sauriez défendre l'insolence de ce le.« (Sz. 3) Um der Wahrheit die Ehre zu geben: so ganz Unrecht hat Climène hier nicht. Es ist gar keine Frage, daß Molière an dieser Stelle der École des femmes einen Sexualwitz untergebracht hat. Warum sollte er auch nicht! Freilich mußte er bei der Verteidigung vorsichtig sein. Die Kabale der Devoten war stark im Verein mit den Preziösen, die seit den Précieuses ridicules nur darauf warteten, es dem Dichter heimzuzahlen; ihnen zu Hilfe kommt ein neues Wort, aufgekommen zweifellos im Sprachschatz der Preziösen, das dem moralischen Anathem eine gewisse Wucht zu verleihen schien. Climène setzt es ein, Molière nimmt ihm die Spitze: Climène: Il [ce le] a une obscénité qui n'est pas supportable. (Sz. 3)
Elise: Comment dites-vous ce mot-là, Madame. (Sz. 3)
Climène: Obscénité, Madame.
Elise: Ah! mon Dieu! obscénité. Je ne sais ce que ce mot veut dire; mais je le trouve le plus joli du monde. (Sz. 3) 39
Von der fünften Szene an erhält Climène Unterstützung durch einen Marquis, Prototyp des Marquis ridicule, eine Figur, die Molière nur kreieren konnte, weil er den König auf seiner Seite wußte. Man muß dabei wissen, daß mit dem Marquis ridicule nicht bloß ein parasitärer Adel Zielscheibe des Spottes wurde, sondern auch Söhne reichgewordener Angehöriger der noblesse de robe, denen der Vater einen Adelstitel gekauft hat und die nun das väterliche Geld damit verplempern, daß sie alles tun, um noch adliger zu scheinen als der alte Adel. Ihr Kennzeichen ist Müßiggang und Affektiertheit. Das Bedürfnis, sich vom gemeinen Volk zu distanzieren, ist bei ihnen sehr viel ausgeprägter als beim alten Adel, der dieser Distanzierung nicht bedurfte. Man kann verstehen, daß die alte Schwertaristokratie es gar nicht so ungern sah, daß Molière diese Parvenus dem öffentlichen Spott preisgab. Das Bedürfnis, sich einen Marquis-Titel zu kaufen, war so groß, daß der Titel in Verruf kam. Paul Scarron nahm diesen Tatbestand zum Anlaß für einen Neologismus: Depuis que dans Paris on s'est emmarquisé, On trouve à chaque pas un marquis supposé. 15
Ein anderer Dramatiker, Boursault, sogar ein Feind Molières, schrieb 1670: »C'est en France une espèce d'injure pour un honnête homme que de l'appeler simplement marquis. « 16 So wird verständlich, daß Mme de Sévigné, als adelsstolze Marquise persönlich betroffen, 1675 schrieb: »Quand un homme veut usurper un titre, ce n'est point celui de comte, c'est celui de marquis, qui est tellement gâté qu'en vérité je pardonne à ceux qui l'ont abandonné. « 17 Der Diener Galopin in Molières Critique de l'École des femmes behandelt den Marquis bei seiner Ankunft wie den letzten -Dreck und wird keineswegs zurechtgewiesen. Die Hausherrin Uranie und ihre Cousine Elise haben ihn bereits als das gekennzeichnet, was er ist: als einen turlupin, d. h. einen Schwachmacher, eine notorische Salon-Nervensäge. Befragt, was er wirklich gegen die École des femmes einzuwenden habe, ist seine Antwort: »Elle est détestable, parce qu'elle est détestable. « (Sz. 5) Zu weiteren Begründungen reicht sein Verstand nicht aus. Wenn die Unterhaltung mit ihm trotzdem Substanz gewinnt, so deshalb, weil sie jetzt von dem Chevalier Dorante geführt wird, der die Verteidigung Molières übernimmt. Nun zeigt sich, wie geschickt Molière pariert, geradezu mit publikumssoziologischer Instinktsicherheit. Molière weiß, daß seine Freunde sowohl im Parterre sitzen wie in den Logen des Adels. Es gilt also zu demonstrieren, daß hier, wenn auch soziologisch differenziert, doch eine Einheit des literarischen Geschmacks vorliegt, die diejenige des sens commun, des bon sens und des naturel ist. Natürlich will der Marquis mit dem Publikum des Parterre nichts zu tun haben, muß sich aber von Dorante sagen las15
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Zit. nach Antoine Adam, Histoire de la littérature française au XVIIe siècle in fünf Bänden, Bd. III, S. 289. Zit. nach ebd., S. 290, Anm. 3. Zit. nach ebd., S. 289f.
sen, »que le bon sens n'a point de place déterminée à la comédie; que la différence du demi-louis d'or et de la pièce de quinze sols ne fait rien du tout au bon goût; que debout et assis, on peut donner un mauvais jugement« (Sz. 5). Wer einen vornehmen Sitzplatz bezahlt, hat damit noch nicht das Privileg des richtigen ästhetischen Urteils mitgekauft. Im Gegenteil: gerade dort machen sich die complaisance affectée und die délicatesse ridicule breit. Es gilt indessen nicht bloß zu zeigen, daß das Publikum des Parterre durchaus ebenso zu X einem Qualitätsurteil fähig ist wie der Adel, die ville ebenso wie die cour, sondern auch darum, das Publikum von la cour zu differenzieren in solche von ästhetischem Verstand und solche, die sich diesen nur anmaßen. Daher wettert Dorante gegen Leute, die von allem reden, ohne Kenntnis des Gegenstands, und umso mehr, je weniger die Natur ihnen an Verstand mitgegeben hat. Sie aber sind es, welche die cour in den Augen der Öffentlichkeit diskreditieren: »C'est à une douzaine de messieurs qui déshonorent les gens de cour par leurs manières extravagantes, et font croire parmi le peuple que nous nous ressemblons tous.« (Sz. 5) Dorante ist Angehöriger des Hofes, der sich von denen distanziert, die den Hof diskreditieren. Man sieht, mit welcher Geschicklichkeit Molière die Gruppen bzw. Untergruppen der Gesellschaft gegeneinander ausspielt. Er geht indessen noch weiter und unternimmt, was er bisher noch nicht getan hat und überhaupt selten tun wird: eine ästhetische Rechtfertigung seiner Dramaturgie. Ihm, der ein Mann der Theaterpraxis war, lag es nicht sehr zu theoretisieren. Doch seine Gegner zwangen ihn dazu, weil sie den herrschenden Maßstab der aristotelischen, normativ gewordenen Poetik auch an seine Stücke anlegten. Molière befand sich indessen in einer verhältnismäßig günstigen Position, die er gar nicht genügend ausnutzte. Aristoteles hatte die Komödie nur am Rande erwähnt, und es wäre ein Leichtes gewesen, daraus zu folgern, daß für die Komödie ganz andere Gesetze gelten als für die Tragödie. Molière stellt sich den Kritikern, indem er in der Gestalt des Lysidas einen von ihnen in die Critique de l'École des femmes einführt. Er wagt es sogar, durch seinen Sprecher Dorante den Primat der Tragödie in Frage zu stellen. Erhabene Gefühle darstellen und auf der Bühne verbal den Göttern trotzen, ist leichter »que d'entrer comme il faut dans le ridicule des hommes« (Sz. 6). In der Komödie »(...) peindre d'après nature« und doch dabei die Leute zum Lachen zu bringen, »c'est une étrange entreprise que celle de faire rire les honnêtes gens« (Sz. 6). Dorante stützt sich noch stärker als zuvor auf den Geschmack des Hofes, in geschickter Wendung gegen Lysidas, dessen Meinung er so interpretiert, als ob Lysidas dem Publikum von la cour das ästhetische Urteilsvermögen abspreche: (...) la grande épreuve de toutes vos comédies, c'est le jugement de la cour; ... c'est son goût qu'il faut étudier pour trouver l'art de réussir (...). (Sz. 6)
Der bon sens naturel wird aufgerufen gegen die Pedanten von der Art des Lysidas, die sich – schäbige Konkurrenten und Nörgler – ständig auf die aristotelischen Regeln und auf Horaz berufen. Dorante mokiert sich über jene Poeten, die immer nur Schlechtes von jenen Stücken sagen, die großen Zulauf haben, und Gutes nur von jenen, nach denen kein Hahn kräht. Der Erfolg eines Stückes, seine Wirkung ist 41
entscheidend und nicht die Befolgung von Regeln: »Je dis bien que le grand art est de plaire, et que cette comédie ayant plu à ceux pour qui elle est faite, je trouve que c'est assez pour elle et qu'elle doit peu se soucier du reste. « (Sz. 6) Zweifellos hat Molière Lope de Vegas Schrift Arte nuevo de hacer comedias gekannt. Und wie dem spanischen Dramatiker, den schon die Zeitgenossen eire monstruo de naturaleza nannten, waren ihm die dramaturgischen Regeln der aristotelischen Doktrin völlig gleichgültig, solange das Publikum seinen Stücken Beifall zollte. Gleichwohl bemühte sich Molière, auch Einwände von dieser Seite zu entkräften. Sein Dorante behauptet unmittelbar im Anschluß an die vorhin zitierte Aussage: »Mais, avec cela, je soutiens qu'elle (= cette comédie) ne pèche contre aucune des règles dont vous parlez.« (Sz. 6) Schließlich geht es Dorante vor allem darum, den von Lysidas erhobenen Vorwurf zu widerlegen, die Gestalt des Arnolphe sei inkonsequent insofern, als sie einmal schlechthin lächerlich, zum andernmal aber durchaus im Sinne eines honnête homme konzipiert sei. Die Widerlegung beruft sich auf die Wahrheit des Lebens selbst: »Il n'est pas incompatible qu'une personne soit ridicule en de certaines choses et honnête homme en d'autres.« (Sz. 6) Molière hat damit die Antwort vorweggenommen, die vielen seiner Kritiker bis heute vorzuhalten ist. Arnolphe ist der personifizierte Selbstwiderspruch seines Standes. Die Critique de l'École des femmes traf ins Schwarze. Die Gegner gaben indessen nicht auf, ja sie reagierten mit wütenden und zum Teil gemeinen Gegenzügen. Ein vornehmer Aristokrat, der Duc de la Feuillade, der öffentlich gegen die tarte à la crème protestiert hatte, glaubte sich persönlich angegriffen und verging sich tätlich an Molière, indem er ihm die Perücke umdrehte. Donneau de Visé schrieb gegen die Critique de l'École des femmes ein böses Stück: Zélinde ou la Véritable critique de l'École des femmes. Der schon genannte Boursault ließ sich einreden, mit dem Lysidas habe Molière ihn gemeint, und schrieb ein Theaterstück gegen Molière: Portrait du peintre, das im Hôtel de Bourgogne aufgeführt wurde. Molière hatte Nerven genug, der Aufführung beizuwohnen. In wenigen Tagen schrieb er die Antwort: das Impromptu de Versailles, das im Oktober des gleichen Jahres vor dem König aufgeführt wurde. Der Hieb saß. Aber Molières Gegner resignierten noch nicht. Noch im gleichen Jahr brachte der Schauspieler Montfleury die Verdächtigung vor, Molière habe seine eigene Tochter geheiratet und werde für diesen Inzest rechtens dadurch bestraft, daß seine junge Frau ihn bereits munter betrüge. Donneau de Visé rüstete zur dritten Attacke mit einem Stück: Les vengeances des Marquis, in dem Molière des Plagiats, des Schmarotzertums und der Gotteslästerung bezichtigt wurde. König Ludwig und seine Schwägerin, die Herzogin von Orléans, übernahmen die Patenschaft für den neugeborenen Sohn Molières. Der Dichter fühlte sich in sicherer Hut und Manns genug, es gegen alle seine Feinde aufzunehmen. Für den festfreudigen und lebenslustigen jungen König schrieb er 1664 zwei Ballettkomödien: Le mariage forcé und La princesse d'Elide. Im gleichen Jahre noch wagte er das kühnste, gefährlichste Unternehmen, von dem er wissen mußte, daß er damit seine Feinde erneut auf den Plan rief, von dem er jedoch wohl kaum ahnte, wie ernst es diesmal wurde. Molière schrieb den Tartuffe.
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»Le Tartuffe«: der fast vollkommene Triumph des Heuchlers Die Handlung ist als bekannt vorauszusetzen. Außerordentlich wichtig ist in diesem Fall die Geschichte der Entstehung des endgültigen Textes. Ihre Kenntnis ist unentbehrlich für das Verständnis des Werks. Zum Abschluß der Hoffestlichkeiten, die im Mai 1664 in Versailles unter dem Motto Les plaisirs de l'Ile enchantée stattfanden, führte Molière einen Drei-Akter mit dem Titel Tartuffe auf. Der König war begeistert, aber der Erzbischof von Paris brachte die Königinmutter gegen Molière auf. Ludwig konnte nicht umhin, die öffentliche Aufführung zu verbieten. Er tat es und ermunterte zugleich den Dichter, geduldig durchzuhalten. Noch im gleichen Jahr führte Molière das Stück dem päpstlichen Legaten Kardinal Chigi vor und fand dessen Billigung. Die hohen Aristokraten bestellten Privataufführungen oder Lesungen, was wiederum die Partei der Devoten erst recht in Rage versetzte. Ein Geistlicher namens Pierre Roullé verbreitete eine Streitschrift, in welcher Molière bezeichnet wurde als »un homme ou plutôt un démon de chair habillé en homme, et le plus signalé impie et libertin. « Molière konnte darin lesen, welche Zukunft ihm von der Nächstenliebe seiner frommen Gegner zugedacht war: der Scheiterhaufen als Abschluß seiner diesseitigen und die Hölle als ewige Strafe in seiner jenseitigen Karriere. Molière war durch die Cabale des dévots gezwungen, sich zurückzuhalten. Er tat es jedoch nur in dieser einen Richtung und prellte dafür nach der anderen Seite vor, indem er 1665 seinen Dom Juan schrieb und auf die Bühne brachte. Dieses Werk war nicht dazu angetan, die Gemüter zu besänftigen. Inzwischen hatte der König die Alleinregierung angetreten. Molière wagte es daher im August 1667, eine zweite Fassung des Tartuffe, diesmal in fünf Akten, öffentlich aufzuführen. Er hatte den Titel umgeändert in L'Imposteur und Tartuffe den Namen Panulphe gegeben. Aber schon einen Tag darauf verbot der Président de Lamoignon, der die oberste Polizeigewalt ausübte, das Stück. Der Erzbischof von Paris drohte mit Exkommunikation für alle, die ihre Hand für eine weitere Aufführung leihen würden. Der König befand sich auf dem flandrischen Kriegsschauplatz und versprach Molières Abgesandten Hilfe zum Zeitpunkt seiner Rückkehr. Er hielt sein Versprechen: im Februar 1669 inszenierte Molière eine dritte, gleichfalls fünfaktige Fassung: Tartuffe ou l'Imposteur und errang einen durchschlagenden Erfolg, ja Triumph. Leider ist uns nur diese dritte und letzte Fassung erhalten. Wir können jedoch heute folgendes mit Sicherheit sagen: der Tartuffe der ersten Fassung trug noch eine Soutane, war also Geistlicher. Das Stück endete mit dem kompletten Sieg Tartuffes, des falschen Frömmlers, mit einem Sieg des hinter der Devotion verkappten Lasters also, möglicherweise sogar mit der Verführung Elmires, und d. h. mit dem Cocuage Orgons. Man versteht, daß diese Fassung wie ein Skandalon wirkte auf alle Devoten, ob echte oder falsche. Auch die zweite Fassung scheint, obgleich in milderer Form, mit dem Triumph des Heuchlers geendet zu haben. Erst die dritte Fassung, die uns allein überlieferte, beseitigt das Ärgernis des unversöhnlichen Ausgangs. Der neue Abschluß ist bis heute heftig umstritten in seinem ästhetischen Wert: im letzten Augenblick greift, wie ein Deus ex machina, der König ein, läßt Tartuffe verhaften und bringt die von dem heuchlerischen Devoten zerstörte Welt wieder in Ordnung. 43
Tartuffe ist der perfekte moralische Falschmünzer. Und er ist, was er spielt: Nassauer mit triefenden Bibelzitaten, gefräßig, macht- und geldgierig, lüstern mit frommem Augenaufschlag – er preßt in den Verführungsszenen die Hand der Elmire und seine Bibel mit gleicher Inbrunst an sich – und mächtig durch die Konsequenz seiner Perfidie. Alle seine Gegenspieler sind gespalten durch widerstreitende Familieninteressen oder strategische Rücksichten – allein Tartuffe ist eine innerlich geschlossene Figur. Er ist individualisierter Typus, der in sich die Möglichkeiten der parasitären Existenz in einer entpolitisierten Gesellschaft zusammenfaßt, in einer Gesellschaft, deren religiöses Leben sich zudem in mehrere Glaubensrichtungen zerklüftet hatte. Tartuffes Überlegenheit beruht auf der Virtuosität, mit welcher dieser Heuchler ein mit Frömmigkeitsbedürfnissen aufgefülltes ideologisches Vakuum für sich ausbeutet. Prototyp jener falschen Sektenhäuptlinge, die skrupellos und zynisch sich des falschen Bewußtseins bemächtigen, mit dem zeitgenössische Gruppen die eigene soziale Zwangslage oder auch Insuffizienz zu rechtfertigen suchen – dadurch anfällig für die Parolen von demagogischen Rattenfängern. Tartuffe tritt auf mit dem Vorsatz, Kapital zu schlagen aus dem verbreiteten Bedürfnis nach trostreichem Ideologieersatz. Daran ist gar kein Zweifel möglich, wenn man die Figur des Orgon analysiert. Neben Orgon ist dessen Mutter Pernelle die einzige Anhängerin Tartuffes: ein Familiendrachen, die den Mangel an Herz durch devote Bedürfnisse kompensiert. Orgon selbst, der Familienchef, steht ganz im Banne des Dämons. Ihn kümmert nur das Wohlergehen des Mannes, in dem er einen Spezialabgesandten Gottes sieht, eigens für ihn ausgewählt, um ihn auszuzeichnen. Orgon läßt das schlechte Befinden seiner Frau kalt, während er auf die Nachricht, Tartuffe sei zufrieden und vollgefressen wie immer, reagiert: »le pauvre homme«. Ungerührt verschachert er die Tochter nach dem Willen seines Seelentrösters, überschreibt ihm, Frau und Kinder enterbend, sein ganzes Vermögen und läßt es fast noch zu, daß ihn Tartuffe zum Cocu macht. Während Tartuffe mit Elmire handgreiflich zu balzen anhebt, ist der unter dem Tisch versteckte Ehemann Orgon so ohnmächtig wie eh und je, sich von der Behexung durch den Heuchler frei zu machen. Zwar ist über Tartuffes Charakter nun kein Zweifel mehr möglich, – Orgon weist Tartuffe aus dem Haus – aber es verhält sich doch so, wie er für diesen Fall vorausgesagt hatte, es kann eigentlich nicht sein, was nicht sein darf: En ce cas, je dirais que (...) Je ne dirais rien, Car cela ne se peut (...) (IV, 3)
Orgon vertritt – darüber kann auch diese farcenhafte Szene nicht hinwegtäuschen – einen tiefen Lebensernst, der in der Fronde gescheitert ist. Seine unkritische Anfälligkeit für die dévotion ist Surrogat für eine gescheiterte gesellschaftliche Aktivität. Und diese Devotion »übt«, wie Werner Krauss formuliert, »nicht die Macht der inneren Wandlung, sondern die entmündigende Wirkung der Hypnose «. 18 Orgon will ein anderer sein, als er ist. Und Tartuffe bewirkt die Illusion der Verwandlung: »je deviens tout autre avec son entretien«. Hierauf beruht die behexende Wirkung Tartuffes. (I, 5) 18
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Werner Krauss, op.cit., S. 348.
Ich möchte fast sagen: Orgon begreift die falsche Himmelsbotschaft Tartuffes als ein Zeichen positiver Gnadenwahl und ist begreiflicherweise schwer von solch tröstlicher Gewißheit abzubringen. Es ist vorauszusehen, daß die Austreibung dieses Dämons nicht ohne die Intervention einer höheren Macht gelingen kann. Noch ein anderes, damit durchaus zusammenhängendes Motiv für die Haltung Orgons wird sichtbar. Orgon hat sich politisch kompromittiert, indem er einen behördlich verfolgten Frondeur deckte. Tartuffe, der davon weiß, hat somit ein Mittel politischer Erpressung in der Hand, und er hätte es gegen Schluß der Handlung auch mit Erfolg eingesetzt durch eine Anzeige, wenn nicht der König in liberaler Weise anders entschieden hätte. Wie immer man diesen Schluß ästhetisch beurteilen mag – ich komme darauf zurück -: es ist ein genialer Fund. Molière nimmt seinen Gegnern den Wind aus den Segeln. Die direkten Emissäre des Königs, die Tartuffe abführen, sind der Arm der Gerechtigkeit, welcher einen Betrüger unschädlich macht, dem sonst niemand gewachsen wäre. Und der gleiche König verzeiht Orgon das politische Vergehen. So verkörpert der König die letzte ordnende Instanz, die Grundkraft der Vernunft, die Garantie für die Wiederherstellung der durch Hypokrisie gestörten Familien- und Gesellschaftsordnung. Zu den Hauptproblemen der Molière-Forschung gehört die Frage: wen wollte der Dichter mit Tartuffe treffen? Vier mögliche Antworten sind erörtert worden. Meinte Molière die Jansenisten? Einige Textstellen könnten darauf hindeuten. Es ist jedoch ausgeschlossen, daß sie die einzige oder hauptsächliche Zielscheibe sind, denn der Grundvorwurf der Hypokrisie konnte die Jansenisten nicht betreffen. Sie standen offen für ihre Überzeugungen ein. Meinte Molière die Jesuiten? Einige Stellen aus der Verführungsszene des vierten Akts, für die sich Parallelen in den Lettres provinciales Pascals finden lassen, weisen darauf hin, daß die Jesuiten zumindest am Rande mit anvisiert wurden. So z. B. jene Stelle, an der Tartuffe die religiösen Skrupel, die Elmire zu seinen eindeutigen Vorschlägen äußert, mit den Worten zu widerlegen sucht: Si ce n'est que le Ciel qu'à mes voeux on oppose, Lever un tel obstacle est à moi peu de chose, Et cela ne doit pas retenir votre cœur (...) Le Ciel défend, de vrai, certains contentements; Mais on trouve avec lui des accommodements; (IV, 5)
Er macht sich anheischig: (...) de rectifier le mal de l'action Avec la pureté de notre intention. (IV, 5)
Und: Et ce n'est pas pécher que pécher en silence.
Das sieht freilich sehr nach jesuitischer Moralkasuistik aus, und doch kann der Orden allein mit der Gestalt Tartuffes nicht gemeint sein.
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Weiter kommen in Betracht die korrupten Ableger des Humanisme dévot. Sie sind mit ihrem von Franz von Sales eingeführten platonischen Schönheitsbegriff offenbar gemeint, wenn Tartuffe in der Schönheit Elmires das Sichtbarwerden der Herrlichkeit der Schöpfungstat Gottes preist. Tartuffe zu Elmire in der Verführungsszene: L'amour qui nous attache aux beautés éternelles N'étouffe pas en nous l'amour des temporelles; Nos sens facilement peuvent être charmés Des ouvrages parfaits que le Ciel a formés. Ses attraits réfléchis brillent dans vos pareilles; Mais il étale en vous ses plus rares merveilles: Il a sur votre face épanché des beautés Dont les yeux sont surpris, et les cœurs transportés, Et je n'ai pu vous voir, parfaite créature, Sans admirer en vous l'auteur de la nature, Et d'une ardente amour sentir mon cœur atteint, Au plus beau des portraits où lui-même il s'est peint. (III, 3)
Tartuffe begegnet dem Vorwurf, daß ein so frommer Mann wie er doch nicht in sündiger Liebe für die Ehefrau eines anderen entbrennen dürfe, mit dem Argument, in der Schönheit der begehrten Frau offenbare sich der Schöpfer der Welt selber, und der ineffable douceur jener regards divins könne niemand widerstehen, der außer dévot auch noch Mensch sei. Als ein Mann, den ob seiner perfekten Frömmigkeit niemand verdächtigt, kann er sich bestens für heimliche Liebeslustbarkeiten empfehlen – »De l'amour sans scandale et du plaisir sans peur« (III, 3). Der liebe Gott gibt seinen Segen für die Schwäche des ansonsten so gehorsamen Fleisches. Liebe ohne Furcht! Der Hauptangriff Molières ist jedoch zweifellos gegen die Mitglieder der Compagnie du Saint-Sacrement gerichtet; aus ihren Reihen kommen auch die wütendsten Streitschriften und die wirksamsten Maßnahmen gegen Molière. Der Erzbischof von Paris ist mit der Compagnie liiert. Der Président de Lamoignon ist Sacramentaire, desgleichen der Abbé Roullé – um nur einige der wichtigsten zu erwähnen. Die Compagnie du Saint Sacrement war eine geheime Laiengesellschaft mit vorwiegend adligen Mitgliedern, 1627 gegründet zu dem Zweck, karitative Werke zu verrichten und für die Restaurierung der öffentlichen Moral zu sorgen. Dagegen hätte niemand etwas einzuwenden gehabt, wenn dies nicht mit recht unöffentlichen Mitteln geschehen wäre. Die Geheimgesellschaft der Sacramentaires bekam mehr und mehr den Charakter einer Organisation von Spitzeln, die bis in die Intimsphäre und in die Familien hinein nach Verstößen gegen die christliche Sitte schnüffelten. Mit Recht erhielt die Compagnie daher den Namen Cabale des dévots. Ludwig XIV., damals noch jung, weltoffen, amüsierfreudig, aber politisch wach, witterte in der Compagnie nicht ganz zu Unrecht konspirative Tendenzen, den Versuch, einen Staat im Staate zu bilden. Man versteht hier leicht das Bündnis von König und Dichter. Die Tatsache, daß sich vor allem die Sacramentaires gegen Molières Stück empörten, macht klar, daß gerade sie sich durch die Figur Tartuffes, von der Heuchelei bis zum Denunziantentum, zutiefst getroffen fühlten.
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Im Falle des Tartuffe stand für Molière alles auf dem Spiel, nicht nur sein Ruf und sein Beruf, sondern seine menschliche und physische Existenz. Ein Sieg der Cabale des dévots wäre möglicherweise sogar lebensgefährlich gewesen, hatte doch einer der ihren, Pierre Roullé, in einem Pamphlet die öffentliche Verbrennung Molières wegen Ketzerei gefordert. Die Placets, die Molière an den König richtet, um die Annullierung des Aufführungsverbots zu erreichen, lassen keinen Zweifel daran, daß der Autor sehr wohl wußte, worum es ging. Stellte er im ersten Placet klar, daß seine Komödie nicht gegen die echte Devotion gerichtet war, sondern gegen die faux monnayeurs en dévotion, so drückt er im zweiten unmißverständlich aus, daß mit dem Triumph seiner Gegner die Heuchelei auch die unschuldigste Äußerung des Theaters ersticken würde und seine eigene Arbeit zu Ende wäre: J'attends avec respect l'arrêt que Votre Majesté daignera prononcer sur cette matière; mais il est très assuré, Sire, qu'il ne faut plus que je songe à faire des comédies, si les tartuffes ont l'avantage, qu'ils prendront droit par-là de me persécuter plus que jamais, et voudront trouver à redire aux choses les plus innocentes qui pourront sortir de ma plume. Daignent vos bontés, Sire, me donner une protection contre leur rage envenimée; et puissé-je, au retour d'une campagne si glorieuse, délasser Votre Majesté des fatigues de ses conquêtes, lui donner d'innocents plaisirs après de si nobles travaux, et faire rire le monarque qui fait trembler toute l'Europe? 19
Der König ließ den Dichter nicht im Stich. Es dauerte indessen lange, bis das Verbot aufgehoben wurde, und die dritte und endgültige Fassung des Stückes ist zweifellos von den vorausgehenden Kämpfen geprägt. Wenn Molière den guten Ausgang des Tartuffe, der wie die Erlösung von einem Alptraum wirkt, der Intervention des Königs und seiner fast überirdischen Gerechtigkeit zuschreibt, so spiegeln sich darin zweifellos Erfahrung und Hoffnung des Dichters selbst. In der Tat wäre Molière der Cabale des dévots ohne die Hilfe des Königs ebenso unterlegen wie Orgon und die Seinen Tartuffe ohne das Eingreifen der königlichen Beamten. Damit rückt das vieldiskutierte Problem des Deus ex machina-Schlusses auf eine Ebene, die – wie es scheint – eine rein immanentästhetische Beurteilung nicht zuläßt. Tartuffe ist nicht nur ein seines Inhalts wegen bedeutendes Theaterstück, sondern auch ein herausragendes Werk der Bühnenkunst. Der Protagonist- Tartuffe – tritt erst im dritten Akt auf die Bühne. Und doch beherrscht er die Szene von dem Augenblick an, da der Vorhang sich gehoben hat. Sogleich wird klar, daß er die Familie Orgons in zwei Parteien gespalten hat, daß sich für jeden die Zukunft daran entscheidet, wie er sich zu Tartuffe verhält. In der vierten Szene des ersten Akts kehrt Orgon von einer zweitägigen Reise zurück. Er trifft zuerst auf seinen Schwager Cléanthe und auf Dorine, die Freundin seiner Tochter Mariane. Nichts ist natürlicher, als daß Familienvater Orgon sich erkundigt, ob sich alles im Hause wohl befinde: Tout s'est-il, ces deux jours, passé de bonne sorte? Qu'est-ce qu'on fait céans? comme est-ce qu'on s'y porte? 19
Molière, op.cit., Bd. I, S. 892f. 47
Und nichts ist natürlicher, als daß die Antwort auf die Frage nach dem Wohlergehen der Familie an erster Stelle sich auf das Befinden der Ehefrau bezieht. Dementsprechend beginnt auch der Dialog zwischen Dorine und Orgon. Orgon Ah! mon frère, bonjour.
Cléante Je sortais, et j'ai joie à vous voir de retour. La campagne à présent n'est pas beaucoup fleurie.
Orgon Dorine ... Mon beau-frère, attendez, je vous prie: Vous voulez bien souffrir, pour m'ôter de souci, Que je m'informe un peu des nouvelles d'ici. Tout s'est-il, ces deux jours, passé de bonne sorte? Qu'est-ce qu'on fait céans? comme est-ce qu'on s'y porte?
Dorine Madame eut avant-hier la fièvre jusqu'au soir, Avec un mal de tête étrange à concevoir.
Orgon Et Tartuffe?
Dorine Tartuffe? Il se porte à merveille. Gros et gras, le teint frais, et la bouche vermeille.
Orgon Le pauvre homme
Dorine Le soir, elle eut un grand dégoût, Et ne put au souper toucher à rien du tout, Tant sa douleur de tête était encor cruelle!
Orgon Et Tartuffe?
Dorine
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Il soupa, lui tout seul, devant elle, Et fort dévotement il mangea deux perdrix, Avec une moitié de gigot en hachis.
Orgon Le pauvre homme!
Dorine La nuit se passa tout entière Sans qu'elle pût fermer un moment la paupière; Des chaleurs l'empêchaient de pouvoir sommeiller, Et jusqu'au jour près d'elle il nous fallut veiller.
Orgon Et Tartuffe?
Dorine Pressé d'un sommeil agréable, Il passa dans sa chambre au sortir de la table, Et dans son lit bien chaud il se mit tout soudain, Où sans trouble il dormit jusques au lendemain.
Orgon Le pauvre homme!
Dorine À la fin, par nos raisons gagnée, Elle se résolut à souffrir la saignée, Et le soulagement suivit tout aussitôt.
Orgon Et Tartuffe?
Dorine Il reprit courage comme il faut, Et contre tous les maux fortifiant son âme, Pour réparer le sang qu'avait perdu Madame, But à son déjeuner quatre grands coups de vin.
Orgon Le pauvre homme!
Dorine 49
Tous deux se portent bien enfin Et je vais à Madame annoncer par avance La part que vous prenez à sa convalescence. (I, 4)
Sie haben die Technik des Aufbaus erkannt. Ich präzisiere: Dorine spricht von Madame Elmire, betont ihren schlechten Gesundheitszustand. Orgons Reaktion ist: Et Tartuffe?
Worauf Dorine das animalische Wohlbefinden und die Gefräßigkeit Tartuffes schildert und Orgon darauf repliziert: Le pauvre homme!
Auf die Wiederaufnahme von Elmires Unwohlsein durch Dorine folgt abermals die Frage Orgons: Et Tartuffe?
Und so weiter. Mit der sarkastischen Bemerkung, sie werde der Dame des Hauses davon berichten, welche Teilnahme Orgon für ihre Krankheit hegt, tritt Dorine ab. Der Effekt dieser Szene ist evident. Orgon ist allein besessen von dem Gedanken an Tartuffe, verblendet, behext. Der fatale Ernst dieses Umstands aber ist hinübergespielt auf die Ebene der Komik mittels der stereotypen Wiederholung – Et Tartuffe? – Le pauvre homme! –, in der sich die Besessenheit äußert. Der Philosoph Henri Bergson ging in seinem berühmten Buch Le Rire u. a. von dieser Szene aus, um zu demonstrieren, daß das befreiende Lachen der Komödie darauf beruhe, daß sich das Lächerliche in der mechanischen Wiederholung des Exzentrischen, Unnatürlichen entlarvt. Daß Orgon hier auf diese Weise ridicule wird, ist umso schlimmer, als sein bisheriges Leben durchaus dasjenige eines Ehrenmannes, eines Mannes von unbestreitbaren Verdiensten war. Daß Molière mit dieser Technik keinen billigen Farcenklamauk anstrebte, erweist sich spätestens in der siebten Szene des dritten Akts. Der großangelegte Versuch der Anti-Tartuffe-Fronde, den Schuft zu entlarven, scheitert. an der Perfektion, mit der Tartuffe seinen heuchlerischen Part spielt, und an der Verblendung Orgons, die durch die vermeintliche Kabale gegen Tartuffe noch bestärkt wird. Orgon enterbt Frau und Kinder zugunsten Tartuffes. Orgon zu Tartuffe: (...) pour les mieux braver tous, Je ne veux point avoir d'autre héritier que vous, Et je vais de ce pas, en fort bonne manière, vous faire de mon bien donation entière. (III, 7)
Orgon bestätigt seine Absicht, den frommen Heilsbringer an sich zu binden, indem er ihm die Hand seiner Tochter zusagt: Un bon et franc ami, que pour gendre je prends, M'est bien plus cher que fils, que femme, et que parents. N'accepterez-vous pas ce que je vous propose? (III, 7)
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Tartuffe: La volonté du Ciel soit faite en toute chose. (III, 7)
Orgon: Le pauvre homme! (III, 7)
Und noch ein weiteres Mal stoßen wir auf diese Formel, in der dritten Szene des fünften Akts. Tartuffe ist entlarvt, hat das Haus unter Drohungen verlassen. Die Familie ist versammelt und vernimmt die unerhörte Neuigkeit. Mme Pernelle, die überhaupt nichts begriffen hat, wird von dem endgültig kurierten Orgon aufgeklärt, der die lange Litanei der Wohltaten abspult, die er Tartuffe erwiesen hat, und sich darüber empört, wie Tartuffe sie vergolten hat: De bienfaits chaque jour il est par moi chargé; Je lui donne ma fille et tout le bien que j'ai; Et, dans le même temps, le perfide, l'infâme, Tente le noir dessein de suborner ma femme, (V, 3)
Die Liste der Klage über Tartuffes Untaten geht noch weiter. Orgon muß dafür nun noch offenen Hohn einstecken, denn Dorine reagiert auf die Jeremiade mit Orgons eigener Formel: »Le pauvre homme« (V, 3). Man muß diese Stelle mit »Le pauvre homme« im Zusammenhang mit der vorhin zitierten Szene des ersten Akts sehen, um zu ermessen, wie weit es mit Orgon gekommen war und in welchem Maße Tartuffe zu einer Figur geworden ist, in welcher eine frömmlerische Heuchelei die natürlichen Bande der Gesellschaft zerstört – demonstriert am Fall der einen Familie. Orgons stereotype Formel: »Le pauvre homme« – angewandt zuerst auf Tartuffes physisch-kreatürliches Wohlbefinden und dann – zuletzt – auf sein Diktum »mir geschehe nach dem Willen des Himmels« (indem ich Schenkung und Enterbung der Familie annehme) – offenbart, daß Orgon in Tartuffe einen Mann sieht, der willig die schwere Last auf sich nimmt, ein Gesandter Gottes zu sein. Das Pathos und die blinde Willfährigkeit Orgons rühren daher, daß er diesen göttlichen Auftrag auf sein eigenes, privates Seelenheil bezieht. Schon die Unterhaltung mit seinem Schwager Cléanthe, die sich unmittelbar an den Dialog Dorine – Orgon anschließt, läßt darüber keinen Zweifel: C'est un homme ... qui, ... ha! un homme ... un homme enfin. Qui suit bien ses leçons goûte une paix profonde, Et comme du fumier regarde tout le monde. Oui, je deviens tout autre avec son entretien; Il m'enseigne à n'avoir affection pour rien, De toutes amitiés il détache mon âme; Et je verrais mourir frère, enfants, mère et femme, Que je m'en soucierais autant que de cela. (I, 5)
Diesen Versen ist zu entnehmen, was Tartuffe für Orgon bedeutet: Seelenfrieden, Lösung vom mühseligen Getriebe des Lebens und der Gesellschaft, Verwandlung
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des eigenen, erbärmlichen Ich in ein anderes, höheres Ich, Ablösung der Seele von allen irdischen Banden, Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen Familie zugunsten jenseitiger Werte. Orgon lebt in der Illusion, Gott habe ihm, speziell ihm, Tartuffe gesandt, als Zeichen besonderer Gnadenwahl; lebt in der Illusion, mit Hilfe dieses Abgesandten frei zu werden von allen Bindungen, schon jetzt erlöst zu sein aus einer tiefen Insuffizienz, aus einem Ungenügen, das jeden Sinn des Lebens zuschanden macht. Orgons Fall rückt damit in auffällige Nähe zu jansenistischen Vorstellungen. Ob Molière daran gedacht hat, muß zweifelhaft bleiben. Sicher aber ist, daß wir in Orgon einen Prototyp jener bürgerlichen Elite sehen dürfen, die, um hochgespannte Erwartungen für ihre sozialen und politischen Verdienste betrogen, sich in die Hoffnungen individuell-jenseitiger Begnadung und Auszeichnung flüchtet. Nicht Zweckideologie wird hier von Molière entlarvt, sondern falsches Bewußtsein, an dem sich Parasiten mästen. Orgon hat, so wird uns gesagt, dereinst der Monarchie treu gedient, jedoch einen Frondeur gedeckt. Molière gibt somit selbst einen Hinweis, wie wir – sozialpsychologisch – jenes falsche Bewußtsein als ein zerrissenes zu verstehen haben. Orgons Illusion des Erwähltseins ist Surrogat einer zutiefst frustrierten gesellschaftlichen Ambition eines ganzen Standes, ist Evasion aus dem der Verfügung entzogenen sozialen Bereich, Evasion, die sich in ihrem Umschlag in totale Verblendung gegen die eigene Familie als spezifischen Kern der Gesellschaftsorganisation wendet. Aufrechtzuerhalten ist eine solche Illusion nur in der Verabsolutierung des Surrogats, die im Falle Orgons zur absoluten Hörigkeit gegenüber dem frommen Falschmünzer Tartuffe gedeiht. Es fällt dem heutigen Betrachter nicht leicht, das Ausmaß solcher Verblendung zu verstehen. Hier nachzuhelfen ist zweifellos eine der wichtigsten Aufgaben moderner Inszenierungen. Eine der besten war, wie es scheint, die von Roger Planchon und seinem »Théâtre National Populaire« im Jahre 1975, in der Planchon Orgons Verblendung und Hörigkeit gegenüber Tartuffe auf eine latent homoerotische Neigung gründet, die zwar nicht die Verblendung als solche – für die auch bei ihm sozialpsychologische Motive entscheidend sind – erklärt, wohl aber den individuellen Extremfall. Eine solche Deutung ist geeignet, auch die absolute Hilflosigkeit Orgons, die Unfähigkeit zu einer Umkehr, zu erklären. Geheilt werden kann der also Besessene von der selbstgezeugten Krankheit auf der Ebene der Handlung nicht mehr aus eigener Kraft, sondern nur noch durch das Eingreifen einer höheren Macht. Auf der Ebene des Lebens der klassischen Gesellschaft aber scheint es nur noch eine Chance zu geben, um den Dämon auszutreiben: den Urteilsspruch, der die Unterwerfung unter den Dämon ridikülisiert. Lächerlich ist der Exzentriker, der Extravagante, der sich vereinzelt, eine Deformation dessen, was als natürlich gilt. Indem Molières Komödie ein falsches Bewußtsein wie dasjenige Orgons der Lächerlichkeit preisgibt – und damit der schlimmsten Strafe, welche die klassische Gesellschaft über den Menschen verhängen kann –, exorzisiert sie den Selbstwiderspruch, den ihre eigene Entstehung historisch erzeugt hatte. Vielleicht ist darin einer der tiefsten Impulse des Molièreschen Theaters zu sehen und vielleicht auch die allgemeinste und umgreifende Begründung für das Bündnis zwischen König und Komödiendichter. In diesem Sinne, konkret gesellschaftsgeschichtlich festgemacht, können wir einer vielzitierten Definition Bergsons zustim-
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men: »Toujours un peu humiliant pour celui qui en est l'objet, le rire est véritablement une espèce de brimade sociale.« 20 In der Tat, Lachen – oder genauer, Verlachen – ist eine Art von gesellschaftlicher Schikane, deren die Gesellschaft bedarf, um mit ihrem Selbstwiderspruch fertigzuwerden. Lächerlich – ridicule – ist in den Augen einer Gesellschaft, was dem widerspricht, was diese Gesellschaft – mit Recht oder mit Unrecht – für natürlich – naturel hält. In Molières Orgon ist in diesem Sinne unnatürlich und ridicule eine Haltung, die – wie immer gesellschaftlich bedingt – ins Antisoziale umschlägt. Orgon wird ridicule und unnatürlich allein schon dadurch, daß er seine eigene Familie preisgibt. Diese Familie ist nicht allein Teil eines wenn auch kleinen, so doch umgreifenden sozialen Verbands, sondern – von der Mutter Pernelle abgesehen – Repräsentant einer Vernunft, durch welche sich die klassische Gesellschaft legitimiert und die sie als natürlich statuiert. Für Molière ist sie als natürliche auch die spezifisch menschliche. Nicht zufällig antwortet Orgons Schwager Cléanthe auf Orgons Bekundung, er würde, um seines von Tartuffe garantierten Seelenheils willen leichten Herzens Bruder, Kinder, Mutter und Frau sterben sehen, mit der ironischen Bemerkung: Les sentiments humains, mon frère, que voilà! (I, 5)
Der fromme Egoismus – so wird hier bedeutet – ist zutiefst inhuman. Cléanthe ist sicherlich nicht eine der lebendigsten Figuren der Bühne Molières. Er gehört indessen zu dem ausgereisten Typus des raisonneur, den wir schon kennen: Vertreter einer sich ihrer Grenzen und Möglichkeiten stets bewußten bürgerlichen »honnêteté«, allen Exzessen abhold und entschlossen, sich einer Gesellschaftsordnung zu fügen, die insofern als natürlich gelten kann, als sie dem, der sich unterwirft, genügend staatsfreien Raum zur sinnvollen Entfaltung der eigenen Individualität läßt. Cléanthe, ein homme de bien, verkörpert die Rationalität gegenüber der Verblendung, die Selbstbehauptung einer ernüchterten Vernunft gegenüber den Surrogaten, denen frustrierte Ambitionen anheimfallen. Sein Vertrauen in die Richtigkeit und Vernünftigkeit der absolutistischen Ordnung spricht er deutlich aus. Als Damis, Orgons Sohn, im fünften Akt, da die Drohung des aus dem Hause gejagten Tartuffe noch über der ganzen Familie hängt, aufbrechen will, um in einem Akt der Privatjustiz den Schurken ins Jenseits zu befördern, da ihm ja offenbar niemand und nichts gewachsen ist, hält ihm Cléanthe entgegen:
Voilà tout justement parler en vrai jeune homme. Modérez, s'il vous plaît, ces transports éclatants: Nous vivons sous un règne et sommes dans un temps Où par la violence on fait mal ses affaires. (V, 2)
Diese Verse weisen voraus auf das dénouement: das Eingreifen des Königs. Es darf als sicher gelten, daß ebenso wie dieses dénouement auch die Rolle
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Henri Bergson, »Le Rire«, in: Œuvres complètes (hrsg. André Robinet), Paris 1970, S. 451. 53
Cléanthes von Molière erst in der letzten Fassung des Tartuffe ausgearbeitet bzw. vertieft wurde. Zu den profilierteren Personen des Stücks gehört Dorine: intelligent, schlagfertig, listenreich, unverfroren. Im Personenverzeichnis erscheint sie als suivante, doch ist sie der Dienerinnenrolle längst entwachsen. Auf eigene Faust versucht sie einmal, Tartuffe zu entlarven, doch der Schurke ist wachsam und mißtrauisch. Aggressiv attackiert sie Orgons Verblendung; sie vermag ihn in einem zweiten Dialog zwar zu erschüttern, aber nicht zu überzeugen. Ihre Begegnung mit Tartuffe in der zweiten Szene des dritten Akts mag als kleines Beispiel dafür dienen, wie Molière in kurzen, kräftigen Strichen Charaktere zeichnet:
Tartuffe: (Il tire un mouchoir de sa poche.) Ah! mon Dieu, je vous prie, Avant que de parler prenez-moi ce mouchoir.
Dorine: Comment?
Tartuffe: Couvrez ce sein que je ne saurais voir: Par de pareils objets les âmes sont blessées, Et cela fait venir de coupables pensées.
Dorine: Vous êtes donc bien tendre à la tentation, Et la chair sur vos sens fait grande impression? Certes je ne sais pas quelle chaleur vous monte: Mais à convoiter, moi, je ne suis point si prompte, Et je vous verrais nu du haut jusques en bas, Que toute votre peau ne me tenterait pas. (III, 2)
Bei anderer Gelegenheit hätte Dorines Busen Tartuffe wohl kaum so kalt gelassen, ist er doch ein ausgesprochener, wenn auch verkappter Lustmolch. Aber er wittert eine andere Beute: Dorine ist gekommen, um von Tartuffe eine Unterredung für Elmire, die Frau des Hauses, zu erbitten, Orgons zweite, noch junge Frau. Orgon hat bestimmt, daß seine Tochter Mariane Tartuffe heiraten soll. Um das Unheil von ihrer Stieftochter abzuwenden, hat Elmire Tartuffe um eine vertrauliche Unterredung gebeten. Das Gespräch nimmt eine für Elmire unerwartete Wendung: ihr Anliegen interessiert Tartuffe wenig, sehr dagegen ihre appetitliche Weiblichkeit. Der Zuschauer beginnt zu ahnen, was dem Schurken als Ziel vorschwebt: Orgons Frau als Geliebte und Orgons Tochter als Ehefrau. Salbungsvoll läßt Tartuffe sich in Andeutungen ergehen, daß seine unablässige Fürsprache im Himmel, d. h. seine Gebete, die Rekonvaleszenz Elmires gefördert hätten. Die vertrauliche Unterredung unter vier Augen selbst erscheint als eine Gnade, welche die Vorsehung auf
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Bitten Tartuffes gespendet hat. Man sieht, wohin der Hase laufen soll. Elmire bleibt nichts weiter übrig, als hinhaltende Reserve. Doch Tartuffe ist inzwischen heiß gelaufen. Auf Elmires Bitte, er möge ganz ehrlich auf ihre Fragen eingehen, antwortet er: Tartuffe: Et je ne veux aussi pour grâce singulière Que montrer à vos yeux mon âme tout entière, Et vous faire serment que les bruits que j'ai faits Des visites qu'ici reçoivent vos attraits Ne sont pas envers vous l'effet d'aucune haine, Mais plutôt d'un transport de zèle qui m'entraîne, Et d'un pur mouvement ...
Elmire Je le prends bien aussi, Et crois que mon salut vous donne ce souci.
Tartuffe. Il lui serre le bout des doigts. Oui, Madame, sans doute, et ma ferveur est telle ...
Elmire Ouf! vous me serrez trop.
Tartuffe C'est par excès de zèle. De vous faire aucun mal je n'eus jamais dessein, Et j'aurais bien plutôt ... Il lui met la main sur le genou.
Elmire Que fait là votre main?
Tartuffe Je tâte votre habit: l'étoffe en est moelleuse.
Elmire Ah! de grâce, laissez, je suis fort chatouilleuse. Elle recule sa chaise, et Tartuffe rapproche la sienne.
Tartuffe
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Mon Dieu! que de ce point l'ouvrage est merveilleux! On travaille aujourd'hui d'un air miraculeux; Jamais, en toute chose, on n'a vu si bien faire.
Elmire Il est vrai. Mais parlons un peu de notre affaire. On tient que mon mari veut dégager sa foi, Et vous donner sa fille. Est-il vrai, dites-moi?
Tartuffe Il m'en a dit deux mots; mais, Madame, à vrai dire, Ce n'est pas le bonheur après quoi je soupire; Et je vois autre part les merveilleux attraits De la félicité qui fait tous mes souhaits.
Elmire C'est que vous n'aimez rien des choses de la terre.
Tartuffe Mon sein n'enferme pas un cœur qui soit de pierre.
Elmire Pour moi, je crois qu'au Ciel tendent tous vos soupirs, Et que rien ici-bas n'arrête vos désirs. (III, 3)
Es folgt jene lange Tirade, in welcher Tartuffe unter heuchlerischer, abgefeimter Verwendung religiöser Ergriffenheit und neuplatonischer Schönheitstheorie sich darstellt als einen Mann besonderer Art, als den außergewöhnlichen Fall, in dem der Himmel Geilheit und Ehebruch verzeiht, ja fördert, weil alles, was geschieht, mit frommem Augenaufschlag geschieht. Das Gespräch wird unterbrochen: Damis, der Sohn Orgons, der alles mitangehört hat, tritt aus seinem Versteck hervor. Elmire möchte Tartuffes Verführungsversuch verschweigen in der Hoffnung, doch noch ihr Ziel, nämlich den Verzicht Tartuffes auf die Heirat mit Mariane, zu erreichen. Damis jedoch glaubt, der Heuchler habe sich genugsam entlarvt, um Vater Orgon von seinem wirklichen Charakter zu überzeugen. Doch er täuscht sich gewaltig. Tartuffe ist – in Gegenwart von Elmire und Damis – viel zu klug, um einfach alles abzustreiten. Er kennt seinen Orgon. Er spielt den reuigen Sünder, den die Schwäche des Fleisches übermannt hat, der darüber jetzt untröstlich ist und entschlossen, den Schauplatz seiner Tat zu verlassen, d. h. aus dem Hause zu gehen. Die Wirkung ist genau diejenige, die er berechnet hat: in den Augen Orgons erscheint Tartuffe jetzt erst recht als ein Heiliger, der sich zu seiner Versuchung bekennt. Nicht Tartuffe wird davongejagt, sondern der Sohn, Damis. Orgon enterbt ihn und ist entschlossener als je zuvor, seine Tochter Mariane mit Tartuffe zu verheiraten. Die erste Peripetie bewirkt nur, daß
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Tartuffes Machtstellung gefestigter erscheint als sie es je war. Salbungsvoll billigt er die Entschlüsse Orgons: »La volonté du Ciel soit faite en toute chose.« (III, 7) Die Katastrophe scheint unabwendbar. Da entschließt sich Elmire, die letzte Chance zu nutzen, die sich noch bietet. Sie hat erkannt, daß die einzige Schwäche Tartuffes dessen Lüsternheit ist, daß diese Lüsternheit auf sie, Elmire, gerichtet ist und daß es demnach gilt, in einem Verführungsversuch Tartuffe in eine so eindeutige Situation zu bringen, daß auch Orgon die Schuppen von den Augen fallen müssen. Orgon soll in einem Versteck alles miterleben und rechtzeitig hervortreten. Orgon sträubt sich gegen das Experiment, er will gar nicht wahrhaben, daß Tartuffe so sein könnte: En ce cas, je dirais que (...) Je ne dirais rien, Car cela ne se peut. (IV, 3)
Er kann sich jedoch der zwingenden Forderung Elmires nicht verweigern. Elmire ist sich klar darüber, daß Tartuffes Schlauheit durch das Vorangegangene erst recht mit Mißtrauen gewappnet ist. Sie weiß aber auch, wo sie den Schuft packen kann: (...) on est aisément dupé par ce qu'on aime. Et l'amour-propre engage à se tromper soi-même. (IV, 3)
So kommt es zu der berühmten Szene, einem Glanzstück aller MolièreAufführungen, da der Ehemann, unter dem Tisch verborgen, mitanhört, wie Tartuffe, von Elmires scheinbarem Entgegenkommen verführt, seine geile Schlitzohrigkeit offenbart und seine vorgetäuschte Devotion selber entlarvt. Orgon sollte aus seinem Versteck emportauchen, wenn Elmire das vereinbarte Zeichen gibt: ein künstliches Husten. Aber Elmire hustet vergeblich. Orgon kommt nicht, obwohl er über die Absichten Tartuffes und über seine wahre Natur nun nicht mehr im Zweifel sein kann. Erst als Tartuffe unmißverständlich erklärt, daß er ihn, Orgon, mit Leichtigkeit an der Nase herumführe, verläßt Orgon seine Tauchstation. Der Tartuffe ist eine Komödie. Und doch sind viele Szenen, in denen die komischen Elemente gipfeln, beklemmend. Tartuffe ist – unter normalen Verhältnissen – letztlich unbesiegbar. Die nunmehr vereinte Anstrengung aller Familienmitglieder, die Gefahr zu bannen, wäre ebenso zum Scheitern verurteilt wie die vorausgehenden Einzelaktionen der Cléanthe, Dorine, Damis und Elmire, gäbe es nicht jene höhere Macht eines allzeit gerechten und rechtzeitig eingreifenden Königtums, das allein in der Lage ist, den Tartuffes das schändliche Handwerk zu legen. Molière hat in Tartuffe ein Maximum an dramaturgischer Kunst verwirklicht. Aus jeder Szene entfaltet sich mit zwingender Logik die folgende. Die beklemmenden Szenen, in denen die Komik den Lebensernst nicht los wird, sind abgelöst durch die versöhnende Heiterkeit etwa des dépit amoureux zwischen Mariane und Valère. 21 21
Ich will darauf nicht näher eingehen. Hans Heiss hatte – in seiner Monographie über Molière, Leipzig 1929 – Recht mit der Feststellung, daß Molière im >Tartuffe< eine außergewöhnliche Intensität dramatischer und theatralischer Wirkung erzielt: »Die Kunst, ein ausgeglichenes Schaukeln zwischen Komik und Ernst durchzuführen, bewährt er wohl überall mit derselben Überlegenheit. Aber der >Tartuffe< ist darin reicher als die 57
»Dom Juan ou le Festin de Pierre«: Libertinage als Surrogat des funktionslos gewordenen Feudaladels Wie wir schon sahen, hatte Molière sich durch die Kampagne seiner Gegner anläßlich des Tartuffe keineswegs entmutigen lassen. Ja, er schürte das Feuer, indem er inmitten dieser Auseinandersetzung 1665 seinen Dom Juan ou le Festin de Pierre zur Aufführung brachte. Mit der Literatur über den Don Juan-Stoff könnte man eine Bibliothek füllen. Das Thema ist in der europäischen Literatur mehr als hundertmal bearbeitet worden. Don Juan als Schürzenjäger, Don Juan als unersättlicher Erotiker, Don Juan als Sünder, der seine Reue solange immer wieder hinausschiebt, bis es zu spät ist, Don Juan als Rebell gegen die Moral, Don Juan als Atheist und Rebell gegen Gott, Don Juan als Mensch, der, ohne es zu wissen, die Wahrheit sucht, und schließlich noch erlöst wird. Albert Camus deutet ihn schließlich in einem Essai als eine der Gestalten der Absurdität, als einen Sisyphus der Sexualität. In der Geschichte der Oper hat sich der Stoff früh zu einer wohl unüberbietbaren Gipfelleistung angeboten: Mozarts Don Giovanni. Ich kann auf die Geschichte des Themas nicht näher eingehen: 22 nur von den Vorgängern Molières ist kurz zu sprechen. Don Juan ist eine Erfindung des Spaniers Tirso de Molina, der 1613 ein Stück zur Aufführung brachte, das den Titel trägt: El Burlador de Sevilla y convivado de piedra, Der Verführer von Sevilla und der steinerne Gast. Es scheint, daß Tirso de Molina zwei ursprünglich selbständige Motive miteinander verbunden hat: die Geschichte eines adligen Liebesabenteurers und die übernatürliche Bestrafung eines Frevlers durch ein steinernes Monument. Über die Herkunft dieser Motive gibt es der Hypothesen viele, bis zur Annahme ferner mythischer Ursprünge ... Der Burlador de Sevilla erschien 1630 im Druck. Einige Jahre später taucht das Thema auf der italienischen Bühne auf in einer Bearbeitung von Cicognini: Il convitato di pietra. Sein Landsmann Giliberto tat es ihm 1652 nach mit einem Drama gleichen Titels. Italienische Theatertruppen machten diese Werke in Frankreich bekannt, wo zwei Dichter kurz hintereinander sich des Stoffes annehmen: Dorimon 1658 und de Villiers 1659. Zweifellos hatte sich auch die Commedia dell'arte des Themas bemächtigt, in Frankreich wie in Italien. Ein nicht unerheblicher Teil der Molière-Forschung betrifft die Frage, von welchem seiner Vorgänger Molière was entlehnt hat. Natürlich ist die Beantwortung dieser Frage von Bedeutung, will man genau bestimmen, was er selber hinzugetan hat. Wir können uns indessen hierauf nicht im einzelnen einlassen. Unverkennbar ist, daß Molière Don Juan die Züge seiner eigenen Zeit und seiner Erfahrung im Umgang mit seinen Zeitgenossen eingeprägt hat, und diesem Sachverhalt soll unsere Aufmerksamkeit gelten.
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zu 21: meisten übrigen Stücke (...)«. Von der Exposition hat bereits Goethe im »Gespräch mit Eckermann, 26. Juli 1826«, in: J. W. v. G., Werke (Gedenkausgabe hrsg. Ernst Beutler), Bd. 24, Zürich 1948, gesagt: »Sie ist nur einmal in der Welt da; sie ist das Größte und Beste, was in dieser Art vorhanden ist.« Vgl. auch Elisabeth Frenzel, Stoffe der Weltliteratur und Birgitt Wittmann (Hrsg.), Don Juan, Darmstadt 1976.
Souverän hat Molière diesmal die Regeln des klassischen Theaters ignoriert. Keine Spur von den berühmten drei Einheiten. Jeder der fünf Akte hat einen anderen Handlungsort. Schon an der Zahl der auftretenden Personen – insgesamt siebzehn – läßt sich ablesen, daß von einer Echtheit der Handlung keine Rede sein kann. An vraisemblance scheint der Dichter kaum gedacht zu haben. Was für ein Mensch ist der Don Juan Molières? Wir sehen ihn zuerst in der Perspektive seines Dieners Sganarelle, gleich zu Beginn des Stücks, im Verlauf von Sganarelles Gespräch mit Gusman, dem Diener der Doña Elvire, die Don Juan aus dem Kloster entführt und geheiratet hat: je t'apprends, inter nos, que tu vois en Dom Juan, mon maître, le plus grand scélérat que la terre ait jamais porté, un enragé, un chien, un Diable, un Turc, un Hérétique, qui ne croit ni Ciel, [ni saint, ni Dieu], ni loup-garou, qui passe cette vie en véritable bête brute, en pourceau d'Epicure, en vrai Sardanapale, qui ferme l'oreille à toutes les remontrances [chrétiennes] qu'on lui peut faire, et traite de billevesées tout ce que nous croyons. Tu me dis qu'il a épousé ta maîtresse: crois qu'il aurait plus fait pour contenter sa passion`, et qu'avec elle il aurait encore épousé toi, son chien et son chat. Un mariage ne lui coûte rien à contracter; il ne se sert point d'autres pièges pour attraper les belles, et c'est un épouseur à toutes mains. Dame, damoiselle, bourgeoise, paysanne, il ne trouve rien de trop chaud ni de trop froid pour lui; et si je te disais le nom de toutes celles qu'il a épousées en divers lieux, ce serait un chapitre à durer jusques au soir. Tu demeures surpris et changes de couleur à ce discours; ce n'est là qu'une ébauche du personnage, et pour en achever le portrait, il faudrait bien d'autres coups de pinceau. Suffit qu'il faut que le courroux du Ciel l'accable quelque jour; qu'il me vaudrait bien mieux d'être au diable que d'être à lui, et qu'il me fait voir tant d'horreurs, que je souhaiterais qu'il fût déjà je ne sais où. Mais un grand seigneur méchant homme est une terrible chose (...) Dieses erbauliche Porträt ist komisch und wahr zugleich. Die skurrile Wirrköpfigkeit Sganarelles enthält nicht nur treffende Beobachtungen; der Wortsalat schließt auch bereits diejenigen Elemente ein, worauf es Molière ganz konkret ankommt: die gefährliche Größe der Schurkerei, die Schrecklichkeit, die das Böse annimmt, wenn es von einem Grandseigneur Besitz ergriffen hat, die totale Skrupellosigkeit, die Wahllosigkeit im Aussuchen der Opfer – dame, damoiselle, bourgeoise, paysanne –, die Gefährlichkeit einer Perfektion des Verbrechens, mit welcher schließlich nur noch der Himmel selber fertig wird. Sganarelles Porträt seines Herrn enthält auch bereits den Entwurf der folgenden Handlung. Bereits in der zweiten Szene gibt Don Juan uns sein Selbstporträt, herausgefordert von Sganarelle, dem die von Frau zu Frau eilende Gier seines Herrn unbegreiflich ist. Treue einer Einzigen gegenüber ist für Don Juan, als wolle man sich lebendig begraben: Non, non: la constance n'est bonne que pour des ridicules; toutes les belles ont droit de nous charmer, et l'avantage d'être rencontrée la première ne doit point dérober aux autres les justes prétentions qu'elles ont toutes sur nos cœurs. Pour moi, la beauté me ravit partout où je la trouve, et je cède facilement à cette douce violence dont elle nous entraîne. J'ai beau être engagé, l'amour que j'ai pour une belle n'engage point mon âme à faire injustice aux autres; je conserve des yeux pour voir le mérite de toutes, et rends à chacune les hommages et les tributs
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où la nature nous oblige. Quoi qu'il en soit, je ne puis refuser mon cœur à tout ce que je vois d'aimable; et dès qu'un beau visage me le demande, si j'en avais dix mille, je les donnerais tous. Les inclinations naissantes, après tout, ont des charmes inexplicables, et tout le plaisir de l'amour est dans le changement. On goûte une douceur extrême à réduire, par cent hommages, le cœur d'une jeune beauté, à voir de jour en jour les petits progrès qu'on y fait, à combattre par des transports, par des larmes et des soupirs, l'innocente pudeur d'une âme qui a peine à rendre les armes, à forcer pied à pied toutes les petites résistances qu'elle nous oppose, à vaincre les scrupules dont elle se fait un honneur et la mener doucement où nous avons envie de la faire venir. Diese Passage läßt sich leicht in zwei Abschnitte teilen: erstens in die Begründung des ständigen Wechsels im Liebesobjekt, die impliziert, daß Don Juan von der maßlos egoistischen Auffassung ausgeht, daß alle schönen Frauen dieser Welt ihm eine potentielle Beute sind, eigentlich für ihn da sind, daß er sich also sputen muß, um die Unendlichkeit der Objekte maximal zu bewältigen; zweitens in die Beschreibung des Genusses, den die erfolgreiche Strategie kunstvoller Verführung verheißt. Diese Zerebralisierung der erotischen Verführung, die, zu höchster Kunst entwickelt, ins Unmenschliche umschlägt, weil sie das Liebesobjekt zum bloßen Gebrauchsgegenstand degradiert und es dem Nichts preisgibt, sobald es sich ergeben hat, nimmt vorweg, was Choderlos de Laclos hundert Jahre später in den Liaisons dangereuses zum Hauptthema eines ganzen Romans machen wird. Für Don Juan ist die Leidenschaft in dem Augenblick auch schon erloschen, da sie ihr Ziel, die Hingabe der Frau, erreicht hat: » (...) lorsqu'on en est maître une fois, il n'y a plus rien à dire ni rien à souhaiter; tout le beau de la passion est fini (...). « (I, 2) Jede Frau ist für ihn une conquête à faire: Enfin, il n'est rien de si doux que de triompher de la résistance d'une belle personne, et j'ai sur ce sujet l'ambition des conquérants, qui volent perpétuellement de victoire en victoire, et ne peuvent se résoudre à borner leurs souhaits. Il n'est rien qui puisse arrêter l'impétuosité de mes désirs: je me sens un cœur à aimer toute la terre; et comme Alexandre, je souhaiterais qu'il y eût d'autres mondes, pour y pouvoir étendre mes conquêtes amoureuses. (I, 2) Ich halte diese Stelle für eine der wichtigsten im Hinblick auf das Verständnis des Werks. Don Juans vermessene, unendliche Begierde ist nicht bloß diejenige einer individuellen Erotomanie. Sie steht vielmehr für die Nostalgie eines ganzen Standes. Der Schicht des feudalen Hochadels wird in dem Augenblick, da der Glanz einstiger territorialer Macht endgültig zur bloßen Erinnerung verblaßt, die Entgrenzung des Sexualtriebs zur einzigen Möglichkeit, den alten Herrschaftsanspruch zu erneuern, von Eroberung zu Eroberung. Die Unersättlichkeit ist Folge der täglich erfahrenen politischen Frustration unter dem Absolutismus: Boudoirsiege als Surrogat für die verlorene feudale Selbstherrlichkeit. Wer diese Interpretation, die im individuellen Fall Don Juans die Strukturen der Gesellschaft des 17. Jahrhunderts unter dem Aspekt der Betroffenheit des Hochadels erkennt und in der Liebesthematik, im individuellen Triebapparat, die personale »Schaltstation« für die Psychologie einer ganzen sozialen Gruppe – wer diese Interpretation anzweifelt, möge die
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Replik Sganarelles beachten. Des Dieners Reaktion auf die zitierten Worte Don Juans kennzeichnen diese als Ausdruck einer Ideologie. Il semble que vous avez appris cela par cœur, et vous parlez tout comme un livre. (I, 2)
Nichts anderes ist damit ausgesagt, als daß der Inhalt von Don Juans Rede in einer Theorie besteht, in der eine ständische Gruppenerfahrung sich zur extremen Ideologie verfestigt hat. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch die Freigeisterei Don Juans zu sehen, sein libertinage. Auch hierin ist die Rede Sganarelles revelatorisch, wenn er von jener Gruppe vornehmer Herren spricht, für welche der libertinage zur Mode geworden ist, zur atheistischen, moralischen, zynischen Attitüde als einziger Lebenshaltung, die weiterhin Exklusivität verheißt. Sganarelle muß freilich anerkennen, daß sein Herr weit über jenen »petits impertinents« steht, »qui sont libertins sans savoir pourquoi, qui font les esprits forts, parce qu'ils croient que cela leur sied bien« (I, 2). Bei Don Juan ist die ideologische Kompensation qualitativ in die Revolte gegen alle, auch die heiligsten Institutionen umgeschlagen. Sganarelles Vorwurf, er spiele, indem er jeden Monat eine andere Frau heirate, um sie dann sogleich zu verlassen, vermessen mit dem heiligen Sakrament der Ehe, läßt Don Juan kalt: Va, va c'est une affaire entre le Ciel et moi (...). ).(I,2)
Die Erinnerung daran, daß Don Juan vor einem halben Jahr einen Kommandeur getötet hat, als dieser die Entehrung seiner Tochter durch Don Juan verhindern wollte, rührt den Protagonisten ebenso wenig. Sganarelle: Et n'y craignez-vous rien, Monsieur, de la mort de ce commandeur que vous tuâtes il y a six mois? (I, 2)
Dom Juan: Et pourquoi craindre? Ne l'ai-je pas bien tué?
Sganarelle hatte richtig vermutet: Don Juan ist entschlossen, die soeben aus dem Kloster entführte und geheiratete Doña Elvire sitzenzulassen. Er plant ein neues Abenteuer. Seit Tagen beobachtet er ein junges Brautpaar, dessen Glück für ihn unerträglich ist. Das Glück anderer erregt seine Eifersucht. Zynisch bekennt er dieses Gefühl und die Gier, dieses Glück zu zerstören: »(...) je me figurai un plaisir extrême à pouvoir troubler leur intelligence, et rompre cet attachement, dont la délicatesse de mon cœur se tenait offensée.« (I, 2) Sein Bedarf an plaisir kann nur noch gedeckt werden, indem er glückliche Menschen ins Unglück stürzt. Es scheint, als könne nur noch auf diese Weise der verlorene Abstand des hohen Herrn vom Volk, die einstige Macht, restituiert werden gegen den Anspruch aller auf Glück. Wir sind angesichts dieser extremen Position des feudalen libertinage in der Nähe einer Konsequenz, die erst die schrecklichen
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Protagonisten des Marquis de Sade radikal ziehen werden: Glück kann allein empfunden werden durch den Vergleich mit dem Unglück anderer! Die verlassene Doña Elvire stellt den Gatten zur Rede, der dem Diener den Auftrag gibt, die neue Situation zu begründen. Doch Sganarelle versagt, er stammelt: Madame, les conquérants, Alexandre et les autres mondes sont causes de notre départ. (I,3)
Don Juan muß sich also selbst erklären, und er tut es mit zynischer Selbstoffenbarung und nacktem Hohn, indem er seiner Gattin bedeutet, es sei eine Sünde gewesen, sie aus dem Kloster zu holen und somit Gott wegzunehmen: Le repentir m'a pris, et j'ai craint le courroux céleste; j'ai cru que notre mariage n'était qu'un adultère déguisé, qu'il nous attirerait quelque disgrâce d'en haut (...) (I,3)
Der Himmel, so meint er, sei nur zu versöhnen, wenn sie, seine Frau, wieder ins Kloster zurückkehre. Doña Elvire kann sich keiner Illusion über den Schurken mehr hingeben. Sie ruft den gleichen Himmel an um Vergeltung für die Schmach. Darauf Don Juan: »Sganarelle, le Ciel!« (I, 3) Sganarelle: Vraiment oui, nous nous moquons bien de cela, nous autres. (I, 3)
Von nun an wird jedes der Opfer die Strafe des Himmels auf das Haupt Don Juans herabbeschwören und ihn verfluchen. Doch ungerührt geht er seinen Weg, Schuld um Schuld auf sich nehmend und der irdischen wie der überirdischen Gerechtigkeit trotzend, die erstere verachtend, die letztere provozierend. Allerdings: die geplante Entführung der glücklichen Braut schlägt fehl, durch einen Zufall. Und als Don Juan gerade mit zwei Bauernmädchen soweit ist, daß er sie in die Liste seiner amourösen Erfolge einreihen könnte, trifft die Nachricht ein, .daß er von einer Gruppe von Bewaffneten verfolgt wird. Wir sind am Ende des zweiten Akts. Vorsicht ist geboten. Don Juan verkleidet sich als Mann vom Lande, Sganarelle als Arzt. Kleider machen Leute; Sganarelle wird von seiner neuen Montur inspiriert: (...) cet habit me donne de l'esprit, et je me sens en humeur de disputer contre vous (...). (III, 1)
Er beginnt ein Religionsgespräch, das mit einer Persiflage auf die Vorstellung von der Größe des Menschen endet. Indessen sieht Don Juan, wie ein einzelner Mann von drei Räubern überfallen und tödlich bedroht wird. Der ritterliche Ehrenkodex des Edelmanns hat für ihn seine Geltung noch nicht verloren: La partie est trop inégale, et je ne dois pas souffrir cette lâcheté. (III, 2)
Die folgende Bemerkung reduziert das Verdienst dieser spontanen Hilfeleistung freilich wieder auf den ständischen Egoismus: 62
Notre propre honneur est intéressé dans de pareilles aventures (...) (III, 3)
Der fremde Edelmann, dem Don Juan durch sein Eingreifen das Leben gerettet hat, ist Don Carlos, Bruder der verlassenen Elvire, der mit seinen Angehörigen und Freunden ausgezogen ist, den Schwager für seine Perfidie zur Verantwortung zu ziehen. Noch weiß er nicht, daß sein Retter der Gesuchte ist. Nach dem Zweck seines Hierseins befragt, gibt er die Auskunft, daß er und sein Bruder gezwungen seien, einem Gebot der Ehre ihres Standes zu folgen, das, wie immer es ausgehen möge, im Verhängnis ende. Verletzte Ehre kann nur mit Blut wiederhergestellt werden; wer dabei mit dem Leben davonkommt, muß gemäß den Gesetzen des Staates Land und Heimat verlassen, und dies alles nur, weil es irgend jemandem eingefallen ist, die Ehre der Familie zu schänden. Don Carlos findet diese condition d'un gentilhomme (...) malheureuse. Mit gutem Grund: bezeichnet sie doch nichts anderes als die Selbstzerstörung und Selbstdezimierung eines Adels, der in seinem selbstmörderischen Ehrenkodex von der verlorenen Macht nur noch den Schein konserviert und dessen Tatendrang sich nur noch gegen Angehörige des eigenen Standes richtet. Als der zweite Bruder Elvires, Don Alonse, mit seiner Schar eintrifft, wird Don Juan erkannt. Doch Don Carlos ist ein honnête homme, wie Don Juan anerkennen muß. Ihm verdankt der Wüstling, daß er mit heiler Haut davonkommt. Sganarelle hatte sich angesichts der Gefährlichkeit der Situation verdrückt. Jetzt wagt er sich wieder hervor. Sie stoßen auf einen Friedhof, und im Friedhof auf das Grab des von Don Juan getöteten Kommandeurs. Vermessen gibt Don Juan Sganarelle den Auftrag, das steinerne Denkmal des Kommandeurs zum Souper einzuladen. Widerstrebend folgt Sganarelle dem, wie ihm scheint, absurden und blasphemischen Befehl. Die Statue nickt mit dem Kopf ein »Ja«. Ungläubig wiederholt Don Juan selber die Frage. Wieder nickt die Statue bejahend. Don Juan, der von sich gesagt hat, daß er nichts glaube, außer daß zwei mal zwei vier ist, versucht zu Beginn des vierten Akts das soeben Erlebte als Sinnestäuschung zu erklären. Dieser Akt demonstriert zunächst, wie Don Juan mit seinen Gläubigern fertig wird. Höhnisch weist er danach den eigenen Vater zurück, der ein letztes Mal kommt, den Sohn zur Ordnung zu rufen: qu'avez-vous fait dans le monde pour être gentilhomme? (IV, 4)
Sätze wie diese beweisen, daß Molière keineswegs auf der Seite seines Protagonisten steht. Don Louis, der Vater, erklärt den Sohn zu einem monstre dans la nature. Auch er ruft den Himmel an um Vergeltung. Eine verschleierte Frau tritt vor Don Juan. Es ist Doña Elvire, die verlassene Gattin. Noch einmal hat die Liebe sie getrieben, nicht in der Hoffnung auf eigenes Glück, sondern um Don Juan zur Umkehr, zur Reue zu mahnen. Sie will seine Seele vor der ewigen Verdammnis retten; unter Tränen beschwört sie ihn, ihr diese dernière faveur, diese douce consolation zu gewähren. Don Juan bleibt kalt, versucht jedoch, sie zum Bleiben zu bewegen. Das geschieht keineswegs aus dem Grunde, daß Doña Elvires Flehen ihn beeindruckt hätte. Aber der Auftritt seiner Frau bringt ihm einen neuen Reiz, den er noch nicht gekannt hat, eine nouveauté bizarre: die
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Mischung von Trauer, Leid, habit négligé und Tränen. Eine neue sexuelle Attraktion! Don Juan und Sganarelle setzen sich zu Tisch. Es klopft. Die Statue des Kommandeurs folgt der Einladung zum Souper. Don Juan befiehlt dem zitternden Sganarelle, einen Stuhl und ein drittes Gedeck herbeizuschaffen. Bei dem Befehl, auch mehr Licht beizubringen, öffnet die Statue die Lippen: On n'as pas besoin de lumière quand on est conduit par le Ciel. (IV, 8)
Damit schließt der vierte Akt. In der ersten Szene des fünften Akts sehen wir Don Juan und seinen Vater Don Louis. Der Boden scheint Don Juan nun doch zu heiß geworden zu sein. Der überglückliche Vater schließt einen reuigen Sohn in die Arme, doch die Reue ist nur gemimt. Don Juan hat die Maske Tartuffes gewählt, um ungestört weiter sein Unwesen zu treiben: (...) c'est un dessein que j'ai formé par pure politique, un stratagème utile, une grimace nécessaire où je veux me contraindre, pour ménager un père dont j'ai besoin, et me mettre à couvert, du côté des hommes, de cent fâcheuses aventures qui pourraient m'arriver. (V, 2)
Fromme Heuchelei ist die sicherste Garantie für Straflosigkeit in einer Gesellschaft, in welcher sie zum modischen Laster geworden ist: Sganarelle: Quoi? vous ne croyez rien du tout, et vous voulez cependant vous ériger en homme de bien? Dom Juan: Et pourquoi non? Il y en a tant d'autres comme moi, que se mêlent de ce métier, et qui se servent du même masque pour abuser le monde! Sganarelle: Ah! quel homme! quel homme! Dom Juan: Il n'y a plus de honte maintenant à cela: l'hypocrisie est un vice à la mode, et tous les vices à la mode passent pour vertus. Le personnage d'homme de bien est le meilleur de tous les personnages qu'on puisse jouer aujourd'hui, et la profession d'hypocrite a de merveilleux avantages. C'est un art de qui l'imposture est toujours respectée; et quoiqu'on la découvre, on n'ose rien dire contre elle. Tous les autres vices des hommes sont exposés à la censure, et chacun a la liberté de les attaquer hautement; mais l'hypocrisie est un vice privilégié, qui, de sa main, ferme la bouche à tout le monde, et jouit en repos d'une impunité souveraine. (V, 2)
Im Schutze der Hypokrisie wähnt Don Juan sich sicher. Eine Begegnung mit Don Carlos macht die Probe aufs Exempel. Don Juan entzieht sich der Verantwortung, indem er seine Reue als sichtbaren Willen des Himmels ausspricht, als »intérêts du Ciel«, auf die sich auch Tartuffe berief: »J'obéis à la voix du Ciel.«, »C'est le Ciel qui le veut ainsi.«, »Le Ciel l'ordonne de la sorte. «, »Le Ciel le souhaite comme cela. « (V, 3) – so lauten die Antworten, die Don Juan dem Schwager gibt. Es scheint, daß die Maske ihn unangreifbar macht von Seiten der Menschen. Sganarelle ist entsetzt von der Blasphemie. Don Juans Hybris steigert sich: »Si le Ciel me donne un avis, il faut qu'il parle un peu plus clairement, s'il veut que je l'entende.« (V, 4)
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Das Maß ist voll. Der beleidigte Himmel sendet eine letzte Warnung: die Erscheinung einer verhüllten Frau. Ist es noch einmal Doña Elvire, ihr Schatten? Oder ist es, worauf einiges schließen läßt, die Gnade, als letzte Chance? Die weibliche Erscheinung verwandelt sich zum Sinnbild der Zeit, die todbringende Sichel in der Hand. Als Don Juan mit dem Schwert auf sie zustürzt, löst sie sich auf. Die Statue des Kommandeurs stellt sich Don Juan in den Weg, fordert ihn auf, ihr die Hand zu reichen. Don Juan ergreift die Hand des steinernen Gastes, Feuer erfaßt ihn: »Ô Ciel! que sens-je? Un feu invisible me brûle, je n'en puis plus et tout mon corps devient ...« (V, 6) Unter Donnern und Feuerstößen öffnet sich die Erde – der gepuderte Unhold fährt zur Hölle. Übrig bleibt Sganarelle, der Diener, den der Tod seines Herrn noch um den Lohn geprellt hat: Sganarelle: [Ah! mes gages, mes gages!] voilà par sa mort un chacun satisfait: Ciel offensé, lois violées, filles séduites, familles déshonorées, parents outragés, femmes mises à mal, maris poussés à bout, tout le monde est content. Il n'y a que moi seul de malheureux. [Mes gages, mes gages, mes gages!] (V, 4) Der Diener allein bleibt ausgenommen von der Wiederherstellung des Rechts. An ihn hat der Himmel nicht gedacht. Das ist der Abschluß der Komödie, die Molière schrieb und aufführte, während der Kampf um den Tartuffe noch tobte. Komödie? Tragikomödie? Auch hier wird, wie im Tartuffe, Komik, ja Farce aufgerufen, um die beunruhigende, beklemmende Wahrheit und Gefährlichkeit der Heuchelei zu neutralisieren. Die Neutralisierung aber erfolgt als Ridikulisierung. Don Juan selbst ist nicht betroffen. Ihm scheint nichts gewachsen als der beleidigte und verhöhnte Himmel selbst. Der Angehörige des Hochadels, im Besitz seiner Privilegien und der in jahrhundertelanger Machtausübung erwachsenen Sicherheit des Verhaltens, der sich der Laster der Gesellschaft perfekt zu bedienen weiß, scheint sogar vor der strafenden Gerechtigkeit des Königs sicher. Gott selber muß intervenieren durch das Mirakel der Statue des Kommandeurs. Natürlich war diese abschließende Szene vom Stoff vorgezeichnet. Sie ist bei Molière jedoch dem Gesamtzusammenhang seiner Interpretation des Stoffes integriert. Der Don Juan Molières ist – nach den Worten von Werner Krauss – ein adeliger Libertin, »der den Geltungswillen und auch die innere Solidarität seines Standes hochhält, freilich in einer veränderten Welt, die den feudalen Raubritter zum Hochstapler sinken und den Widerstand aller Gewalten über sein unentwegtes Treiben kommen ließ, so daß der Verfolgte schließlich hinter der devoten Maske Schutz sucht. In der frommen Gesellschaft würde Don Juan so sicher seinen Häschern entgehen wie Tartuffe«. 23 Don Juan ist Atheist, libertin, esprit fort. Die Erinnerung an die militärische Existenzform seiner Kaste hat den esprit de conquête pervertiert in die Unersättlichkeit eines Erotomanen. Jede Frau ist eine conquête à faire. Von Schlachtfeld zu Schlachtfeld eilend, hinterläßt dieser eingebildete Nachfahre Alexanders nur gebrochene Herzen, getötete Nebenbuhler und Väter. Jeder Sieg ist sogleich wieder wertlos, wenn ihm nicht ein neuer folgt. Unablässige Wiederholung ersetzt eine 23
Werner Krauss, op.cit., S. 350. 65
Substanz, die von der Gegenwart nicht mehr anerkannt wird. Der Triumph des Augenblicks muß die verlorene Geschichtsmächtigkeit kompensieren. Er kann es nur in der maßlosen Häufung, die jeden Augenblick sogleich wieder als wesenlos dem Vergessen anheimgibt. Nur der Reiz des Neuen vermag über die Öde der Wiederholung hinwegzutäuschen und ihr den Anschein zu geben, als sei die neue Verführung, der neue Sieg, die neue Unterwerfung des erkorenen Opfers eine Bereicherung. Der Herausgeber von Molières Werken in der Reihe der Classiques Garnier, Robert Jouanny, hat Don Juan als einen » Sammler seltener Emotionen« charakterisiert. Mit Recht, denn nur die Steigerung des zerebralisierten erotischen Kitzels vermag eine Erlebnisfülle zu suggerieren, wo das konkrete Leben sich dem Sinn einer sozialen Existenz versagt. Freilich: der Widerstand einer Welt, die sich den alten geschichtlichen Ansprüchen verschließt, kann die universalistischen Ambitionen nur pervertieren, aber nicht vernichten: je me sens un cœur à aimer toute la terre; et comme Alexandre, je souhaiterais qu'il y eût d'autres mondes, pour y pouvoir étendre mes conquêtes amoureuses. (I,2)
Diese Worte Don Juans verraten die Tendenz der Entgrenzung, die, im sozialen und politischen Raum total frustriert, sich des Aktionsraums im Privaten bemächtigt und in seiner Monstruosität sich gegen jede sittliche Ordnung kehrt. Nicht nur gegen die sittliche Ordnung, sondern gegen die Grundvoraussetzungen menschlichen Zusammenlebens überhaupt. War Don Juan vor Molière ein spontan handelnder Übeltäter gewesen, so ist er jetzt ein Mensch, der kalt, überlegt, im Bewußtsein seiner Möglichkeiten, Böses tut, berechnend und in der Fähigkeit zur Berechnung seine Überlegenheit sieht, absolut egoistisch. Indes, was in der Ambition, die gesamte, zu kleine Welt als Liebeseroberer zu durcheilen und Hekatomben von Opfern zu hinterlassen, was sich somit als Drang zur Unendlichkeit kundtut, erscheint im Bereich der Sitte und des Glaubens als Hybris, als Herausforderung nicht nur der Welt, sondern des Himmels. Molière hat beides bewußt thematisiert. Don Juan weiß, daß er Böses tut. Seine Treulosigkeit in der Liebe ist vorsätzlich. Vieles weist auf das 18. Jahrhundert voraus, auf den Marquis de Sade. Glück wird nur noch greifbar im Vergleich mit dem Unglück der anderen. Damit es wirklich erfahrbar werde, müssen die anderen schließlich absichtlich ins Unglück gestürzt werden. Molière hat diese entsetzliche Entdeckung des Marquis de Sade, die alle euphorischen Gesellschaftsutopien widerlegt, vorweggenommen. Don Juan empfindet ein sadistisches Vergnügen daran, die innige Harmonie eines verlobten Paares zu zerstören und dessen Glück zu vernichten, um sich selbst das plaisir zu verschaffen, ohne das er nicht leben kann. Ein monstre dans la nature nennt ihn der eigene Vater, mit Recht, denn er weist Züge auf, die Racines Nero eigen sind. Die verführte und schmählich verlassene Elvire, die gekommen ist, um wenigstens Don Juans Seele im letzten Augenblick zu retten, übt ganz unerwartet noch einmal einen sexuellen Reiz auf ihn aus, wegen des sichtbaren Schmerzes, den er selbst ihr zugefügt hat:
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(...) j'ai encore senti quelque peu d'émotion pour elle, que j'ai trouvé de l'agrément dans cette nouveauté bizarre, et que son habit négligé, son air languissant et ses larmes ont réveillé en moi quelques petits restes d'un feu éteint? (IV, 7)
Der Anblick des schönen Jammers läßt neue Reize finden. Es fehlt nicht viel und Don Juan hätte die seelische Qual des Liebesopfers als neue Quelle der Lust entdeckt. Don Juans rastloses Eilen von Frau zu Frau ist eine permanente Empörung gegen eine vom Christengott gesetzte Weltordnung, metaphysische Revolte also. Im dritten Akt will er einem Bettler nur unter der Bedingung ein Almosen geben, daß dieser Flüche ausstößt. Sogar Sganarelle, der Diener, der die religiösen Bräuche nur aus Angst um sein kostbares Seelenheil einhält, ermuntert den Bettler dazu: Va, va, jure un peu, il n'y a pas de mal. (III, 2)
Der Bettler weigert sich, diese Sünde zu begehen; lieber will er Hungers sterben. Diese mit Recht berühmte Szene, ganz und gar Molières Eigentum und lange Zeit hindurch von der Zensur gestrichen, ist ambivalent. Sie bekräftigt einerseits im frommen Skrupel des Bettlers die christliche Sittenordnung der Welt, und sie sieht andererseits den Libertin Don Juan doch noch als den Überlegenen. Er wirft dem Bettler das Geldstück zu mit den Worten: Va, va, je te le donne pour l'amour de l'humanité.
Es ist einer der frühesten Belege für das Wort humanité. Humanité tritt an die Stelle der charité, die Liebe zur Menschlichkeit an die Stelle der Liebe zu Gott. Es ist eine hintergründige Szene. Was ist die wahre Meinung Molières? Man möchte vermuten, der Aufstand Don Juans gegen Gott und gegen die im Namen Gottes auftretende Weltordnung verberge eine tiefe Solidarität mit dem in dieser Ordnung keineswegs glücklichen Menschen – repräsentiert im Bettler. Einer der letzten großen Gedanken des Adels? Wohl doch nicht! Eher doch ein Gedanke Molières! Sganarelle, der Diener, ist eine in den Augen von Molières Kritikern durchaus bedenkliche Figur, und zwar deshalb, weil mit ihm Molière das christliche und sittliche Prinzip durch einen ganz und gar bornierten Geist vertreten läßt. Sganarelle stellt seinem Herrn die möglichen Folgen seines unaufhörlichen Sakrilegs vor Augen. Don Juans Antwort lautet: Va, va, c'est une affaire entre le Ciel et moi, et nous la démêlerons bien ensemble, sans que tu t'en mettes en peine. (I, 2)
Er wartet nicht auf die Vergeltung des Himmels, sondern provoziert sie. Die Taten des Unholds schreien wirklich zum Himmel, und Don Juan muß sich irgendwie in Sicherheit bringen. Jetzt wird Molière wieder böse und hinterhältig. Er läßt Don Juan die Maske Tartuffes annehmen. Reue und Devotion sind unverdächtig, ja unantastbar, und Devotion ist herrschende Mode. Don Juan bekennt sich zu seiner Maske:
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Il y en a tant d'autres comme moi, que se mêlent de ce métier, et qui se servent du même masque pour abuser le monde! (...) l'hypocrisie est un vice à la mode, et tous les vices à la mode passent pour vertus. (V, 2)
Das ist ein harter Brocken für die Gegner des Tartuffe. Der Teufel selbst findet Unterschlupf bei den Frömmlern. Die Devotion kaschiert den Libertinismus. Es gibt bis heute viele Forscher, die glauben, Don Juan sei nach dem Modell des Prince de Conti geschaffen, mit dem Molière ein Hühnchen zu rupfen hatte. Der ehemalige Gönner war inzwischen zu einem der schlimmsten Feinde geworden. Eine Analyse und Interpretation von Molières Don Juan bliebe sträflich einseitig, wenn sie sich fast ausschließlich auf den Titelhelden beschränken würde. Das Stück hat insgesamt siebenundzwanzig Szenen, in dreiundzwanzig davon sehen wir Don Juan auftreten; noch öfter aber, nämlich in sechsundzwanzig Szenen, seinen Diener Sganarelle. Dieses quantitative Verhältnis läßt bereits Rückschlüsse auf qualitative Sachverhalte zu. Die Gestalt Sganarelles bedarf daher einer gesonderten Betrachtung. Ich gehe bei den folgenden Bemerkungen aus von Beobachtungen, die ich zwei modernen Molière-Forschern entnehme: Jacques Guicharnaud: Molière, une aventure théâtrale 24 , und zwei Aufsätze von Jules Brody: Esthétique et société chez Molière und Dom Juan and Le Misanthrope, or the Esthetics of Individualism in Molière. 25 Molières Dienergestalten sind es durchaus wert, genauer analysiert zu werden. Im allgemeinen läßt sich über sie sagen, daß sie, obgleich zuweilen durchaus komisch, doch nie wirklich lächerlich sind. Meist stehen sie auf Seiten der jüngeren Generation, der Söhne und Töchter, die sich gegen Verschrobenheit, Egoismus und Laster ihrer Väter oder Vormünder zur Wehr setzen müssen, Vertreter des bon sens, listig bis zur Verschlagenheit, vorwitzig bis frech – und unentbehrlich; unentbehrlich nicht bloß aus dramaturgischen Gründen, sondern weil man in der ständehierarchischen Gesellschaft nicht Herr sein kann ohne die Diener. Wenn ich sagte, die Diener seien im allgemeinen zwar oft Träger des Komischen, aber nicht des Lächerlichen, so gibt es mit Sicherheit eine große Ausnahme, eben der Sganarelle in Dom Juan. Ja, er hat dort ganz allein die Last des ridicule zu tragen. Keine der übrigen Figuren dieses Stückes erscheint jemals lächerlich, weder der Protagonist noch seine Opfer. Die Sonderstellung, die Dom Juan im Theater Molières einnimmt, ist also nicht allein im Libertin als Protagonist begründet, sondern ebenso in der außergewöhnlichen Rolle des Dieners. Er ist – auf seine Weise – eine ebenso komplexe Gestalt wie sein Herr. Der Schlüssel für diese Komplexität ist in seinem Verhältnis zu eben diesem Herrn zu suchen, also nicht allein in der Beziehung zweier Individuen zueinander, sondern im problematischen sozialen Verhältnis. 24 25
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Jacques Guicharnaud, Molière, une aventure théâtrale, Paris 1963. Jules Brody, »Esthétique et société chez Molière«, in: Dramaturgie et société. Rapports entre l'œuvre théâtrale, son interpretation et son public aux XVIe et XVIIe siècles (Colloque de Nancy, 14-21 avr. 1967), Paris 1968, S. 307-326; J. B., »Don Juan and le Misanthrope, or the Esthetics of Individualism in Molière«, in: Publications of the Modern Language Association 84 (1969), S. 559-576.
Mozart oder vielmehr sein Textdichter Lorenzo da Ponte hatten offenbar ein besonderes Gespür für den Gehalt dieser Dienerfigur, wozu wohl bereits die kritische Bewußtseinshelle der Aufklärung notwendig war. Lorenzo da Pontes Text setzt ein mit den Worten: » Voglio far il gentiluomo, e non voglio più servir« = » ich will den Edelmann spielen, und ich will nicht mehr Diener sein«. Der so spricht, ist Leporello – so heißt Sganarelle bei Mozart. So klar drückt er sich bei Molière nicht aus, kann es auch nicht. Was Lorenzo da Ponte im Jahre 1787, kurz vor der französischen Revolution, formuliert, ist das Resultat einer bewußtseinsdialektischen Entwicklung, die zur Zeit des Dom Juan theoretisch noch unentfaltet war, in der dichterischen Praxis aber zu einer erstaunlichen Antizipation gediehen scheint. Wir wollen einige wichtige Stellen etwas näher in Augenschein nehmen. Die erste Szene des ersten Akts führt uns Sganarelle im Gespräch mit Gusman vor, dem Diener der Doña Elvire. Sganarelle hält eine Schnupftabaksdose in der Hand und beginnt seine Rede wie folgt: »Quoi que puisse dire Aristote et toute la Philosophie, il n'est rien d'égal au tabac: c'est la passion des honnêtes gens, et qui vit sans tabac n'est pas digne de vivre. Non seulement il réjouit et purge les cerveaux humains, mais encore il instruit les âmes à la vertu, et l'on apprend avec lui à devenir honnête homme (...) il est vrai que le tabac inspire des sentiments d'honneur et de vertu à tous ceux qui en prennent. « Tabakschnupfen als Mittel, zu Tugend und Ansehen zu gelangen, mit anderen Worten: Tabaksgenuß verleiht das Prestige eines honnête homme. Sganarelle huldigt der Auffassung, daß wer sich in den Rang der honnêtes gens erheben will, sich zunächst einmal deren Gewohnheiten zulegen müsse. Die Äußerlichkeit, das entliehene Benehmen, verwandelt den Menschen und erhöht seinen Wert bis zum legitimen Anspruch auf höheren sozialen Rang. Wir ahnen, daß diese Ambition sich für den Diener weitgehend darauf beschränkt, der Affe seines Herrn zu sein. Paul Bénichou hat daher in seinem bekannten Buch Morales du grand siècle Sganarelle nicht zu Unrecht ein »double inférieur et grossier« 26 Don Juans nennen können. Wenn die feine Mode des Schnupfens den Diener nach dessen Ansicht über seinen Status erhebt, wie sehr muß er dann auch das alte Diktum »Kleider machen Leute« in diesem Sinne verstehen. Die Chance dazu bietet sich bald, in der fünften Szene des zweiten Akts. Don Juan, von den Angehörigen der Doña Elvire verfolgt, will mit seinem Diener die Kleider tauschen. Darauf Sganarelle: Monsieur, vous vous moquez. M'exposer à être tué sous vos habits, et (...)
Dom Juan: Allons vite, c'est trop d'honneur que je vous fais, et bien heureux est le valet qui peut avoir la gloire de mourir pour son maître.
Sganarelle:
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Paul Benichou, Morales du Grand Siècle, Paris 1948, S. 167. 69
Je vous remercie d'un tel honneur. Ô Ciel, puisqu'il s'agit de mort, fais-moi la grâce de n'être point pris pour un autre!
Sganarelle ist ein Feigling, wie sich auch in einer späteren Szene bestätigt. Freilich hat er durchaus Gründe, sich nicht für die Schandtaten seines Herrn an dessen Stelle umbringen zu lassen. Auch dieser Umstand kann sehr wohl auf alle Herren und alle Diener hin geschichtlich verallgemeinert werden. Das gilt indessen vor allem für die Feigheit des Dieners als Motiv. Folgen wir einen Augenblick den Gedanken, die Hegel im Kapitel Herr und Knecht in seiner Phänomenologie des Geistes vorträgt. Der Herr wurde ursprünglich Herr, weil er stark war und bereit, sein Leben einzusetzen. Wer schwach war und nicht bereit zum Einsatz seines Lebens, begab sich unter den Schutz des Herrn und bearbeitete für den Herrn das Ding, damit es von dem Herrn genossen werden konnte. In dem Maße, als der Knecht sich dessen bewußt wurde, daß er durch seine Arbeit am Ding zu dessen eigentlichem Inhaber wurde, und der Herr, ein rein Genießender, sich in Wahrheit dem Ding entfremdete, trat beim Diener das Bewußtsein der Ungleichheit auf und damit auch die Vorstellung der Gleichheit als Antithese zur Ungleichheit. Das ist sozusagen der Stand, den Sganarelle repräsentiert. Doch in einer Gesellschaft, in welcher der feudale Gedanke noch lebendig ist – und sei er lebendig nur noch aus verfestigter Tradition –, daß Herrsein Bereitschaft zum Einsatz des Lebens voraussetzt, wäre der Anspruch des Knechts auf Gleichheit allenfalls vertretbar, wenn der Knecht nicht nur fähig, sondern auch willens wäre, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Bei Sganarelle liegt weder das eine noch das andere vor. Ist sein Leben gefährdet, will er plötzlich nicht mehr, was er so gerne gehabt hätte, nämlich für einen anderen gehalten werden als er ist: Ô Ciel, puisqu'il s'agit de mort, fais-moi la grâce de n'être point pris pour un autre! (II, 5)
Nun, das Schicksal, in den Kleidern seines Herrn an dessen Statt für dessen Sünden zu büßen, bleibt ihm erspart. In der darauf folgenden Szene sehen wir Don Juan als Landmann und Sganarelle als Arzt verkleidet. Diese Montur sagt dem Diener zu. Sogleich mit der anderen Kleidung fühlt er sich auch als ein anderer. Diese Szene enthält eine der vielen Ärztesatiren Molières. Doch nicht darauf kommt es uns jetzt an. Für Sganarelle ist wichtig, daß er in der Achtung der Leute steigt: (...) cet habit me met déjà en considération, que je suis salué des gens que je rencontre (...) (III, 1)
Mit der neuen Kleidung geht es ihm ähnlich wie mit dem Schnupftabak: »cet habit me donne de l'esprit, et je me sens en humeur de disputer contre vous (...)« (III, 1) Die Kleider des Arztes suggerieren Sganarelle die Vorstellung, er sei nun auch so gelehrt, daß er eine theologisch-philosophische Diskussion gegen seinen Herrn bestehen könne. Er begibt sich somit nun, da keine Lebensgefahr zu befürchten ist, auf die Ebene der Gleichheit, in der immerhin angedeuteten Hoffnung, in dem Disput, den er provoziert, den Sieg davonzutragen. Mit anderen Worten: der Diener macht sich auf einem Teilgebiet zum Rivalen. Das Verhör, das er mit seinem 70
Herrn über dessen Glauben bzw. Unglauben anstellt, veranlaßt diesen schließlich zu dem Bekenntnis: Je crois que deux et deux sont quatre, Sganarelle, et que quatre et quatre sont huit. (III, 1)
Doch Sganarelle ist in Fahrt. Er ist der Überzeugung, daß sein unbeleckter Verstand, der nicht weiß, daß er voller Aberglauben steckt, besser als sein studierter Herr wisse, daß der Mensch und die Welt nicht aus nichts entstanden sein können. Er steigert sich: Mon raisonnement est qu'il y a quelque chose d'admirable dans l'homme, quoi que vous puissiez dire, que tous les savants ne sauraient expliquer. (III, 1)
Schließlich führt er die eigene Person als Beleg für das Schöpfungswunder an: Cela n'est-il pas merveilleux que me voilà ici, et que j'aie quelque chose dans la tête qui pense cent choses différentes en un moment, et fait de mon corps tout ce qu'elle veut? Je veux frapper des mains, hausser le bras, lever les yeux au ciel, baisser la tête, remuer les pieds, aller à droit, à gauche, en avant, en arrière, tourner (...) (III, 1)
Sganarelles Ekstase, eine Karikatur mystischer Verzückung, wird jäh unterbrochen. Die Szenenanweisung Molières – »Il se laisse tomber en tournant« – läßt erkennen, daß Sganarelle wie in einem Anfall zu Boden stürzt. Sarkastisch reagiert Don Juan: Bon ! voilà ton raisonnement qui a le nez cassé.
Wir können auch sagen: die Ambition des Dieners, mit dem Herrn zu rivalisieren, ist hier auf die Nase gefallen. Sganarelles mißglückter Aufschwung zur Metaphysik findet eine Art Fortsetzung in der zweiten Szene des fünften Akts. Don Juan hat soeben offenbart, weshalb er scheinheilig eine Konversion heuchle, nämlich um im Schutze des modischen Lasters der Devotion weiterhin ungestraft sein schamloses Treiben fortzuführen. Sganarelle ist einiges gewohnt von seinem Herrn. Der Mißbrauch der Religion aber ist für ihn der Gipfel der Scheußlichkeit. Es sprudelt aus ihm heraus: Sganarelle: Ô Ciel! qu'entends-je ici? Il ne vous manquait plus que d'être hypocrite pour vous achever de tout point, et voilà le comble des abominations. Monsieur, cette dernière-ci m'emporte et je ne puis m'empêcher de parler. Faites-moi tout ce qu'il vous plaira, battez-moi, assommez-moi de coups, tuez-moi, si vous voulez: il faut que je décharge mon cœur, et qu'en valet fidèle je vous dise ce que je dois. Sachez, Monsieur, que tant va la cruche à l'eau qu'enfin elle se brise; et comme dit fort bien cet auteur que je ne connais pas, l'homme est en ce monde ainsi que l'oiseau sur la branche; la branche est attachée à l'arbre; qui s'attache à l'arbre suit de bons préceptes; les bons préceptes valent mieux que les belles paroles; les belles paroles se trouvent à la cour; à la cour sont les courtisans; les courtisans suivent la mode; la mode vient de la fantaisie; la fantaisie est une faculté de l'âme; l'âme est ce qui nous donne la vie; la vie finit par la mort; la mort nous fait penser au Ciel; le
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Ciel est au-dessus de la terre; la terre n'est point la mer; la mer est sujette aux orages; les orages tourmentent les vaisseaux; les vaisseaux ont besoin d'un bon pilote; un bon pilote a de la prudence; la prudence n'est point dans les jeunes gens; les jeunes gens doivent obéissance aux vieux; les vieux aiment les richesses; les richesses font les riches; les riches ne sont pas pauvres; les pauvres ont de la nécessité, nécessité n'a point de loi; qui n'a point de loi vit en bête brute; et par conséquent, vous serez damné à tous les diables. (V, 2) Diese Rede ist ein sogenannter coq-à-l'âme: eine Rede ohne Sinn und Verstand, verworren, ohne Logik noch Zusammenhang, ohne jede andere Ordnung als die Unordnung zufälliger Assoziationen. Sie charakterisiert den Wirrkopf, der noch einmal sich vermißt, im Bereich der Argumentation es mit seinem Herrn aufzunehmen. Ironisch kommentiert Don Juan: » O beau raisonnement. « Natürlich hat der Unsinn einen Sinn. Moralisch ist Sganarelle im Recht. Und seine Ankündigung, sein Herr sei zu allen Teufeln verdammt, ruft die Rache der beleidigten Gottheit im Namen der Gesellschaft auf den Übeltäter herab. Mit Sganarelle als Anwalt der Interessen der Gesellschaft aber diskreditiert sich auch der Gleichheitsanspruch des Dieners. Durch ihn jedenfalls kann sie von skrupellosen Herren wie Don Juan nicht erlöst werden. Ein weiterer Aspekt muß noch einmal zur Sprache gebracht werden. Sganarelles moralischer Einspruch, der Angst vor der Strafe des Himmels und vor den Sanktionen der Gesellschaft ebenso gehorchend wie der unselbständigen Hinnahme religiöser und ethischer Normen, entläßt ihn nicht aus einer Abhängigkeit, die nicht bloß eine soziale, sondern auch eine geistige ist. Sein Bestreben, den Status des Dieners hinter sich zu lassen, sieht nur den einen Weg, sich dem Herrn anzugleichen. Nicht anders will er sein, sondern möglichst ebenso wie dieser. Das fesselt ihn erst recht an ihn. Ihm gleich zu werden heißt, ihn nachzuahmen, zu reden und zu handeln wie der Herr. Er übt sich sogar in dessen Zynismus, nicht nur aus Feigheit vor dem Herrn. Als Doña Elvire mit der Vergeltung des Himmels droht und Don Juan ausruft: »Sganarelle, le Ciel«, beeilt der Diener sich zu versichern: » Vraiment oui, nous nous moquons bien de cela, nous autres«. (I, 3) Am deutlichsten ist wohl jene Szene des vierten Akts, in der nacheinander die Personen erscheinen, die eine Schuld bei Don Juan einzuklagen haben, die Gläubiger: zuerst ein Kaufmann namens Dimanche, dann Doña Elvire, die verlassene Gemahlin, darauf Don Louis, der Vater, und schließlich die Statue des Kommandeurs. Als ziemlich ausgefallen, weil gar nicht in den Zusammenhang der dramatischen Fabel gehörig, muß die Szene mit dem Kaufmann Dimanche angesehen werden. Ihr gilt unsere Aufmerksamkeit, zumal sie bei Molières Vorgängern keinerlei Parallele hat. Monsieur Dimanche ist gekommen, daß Don Juan ihm endlich seine Rechnung bezahlt. Sganarelle will, daß sein Herr sich verleugne. Doch Don Juan befiehlt, den Gläubiger vorzulassen. Er deckt ihn mit Höflichkeiten ein, versichert ihn seiner Freundschaft und seiner Dienste. Dimanche sieht sich von Don Juan als » meilleur de ses amis« behandelt, als Ebenbürtiger – » je ne veux point qu'on mette de différence entre nous deux«. Die elegante Suada des Aristokraten, der seinen Gläubiger behandelt wie seinesgleichen und jeden Ansatz zur Geldforderung durch eine neue Freundschaftsbekundung erstickt, bewirkt in dem Kaufmann schließlich das Gefühl, daß es unanständig sei, auf der Bezahlung seiner
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Rechnungen zu bestehen. Mühelos läßt er sich hinauskomplimentieren und gesteht ein: Il est vrai; il me fait tant de civilités et tant de compliments que je ne saurais jamais lui demander de l'argent. (IV, 3 ) Doch nicht nur der Herr, sondern auch der Diener schuldet ihm Geld. Sganarelle glaubt indessen, ebensowenig zur Zahlung verpflichtet zu sein wie sein Herr. Wieder einmal will er diesem gleich sein, indem er sich zum Herrn aufspielt gegenüber dem Kaufmann. Doch abermals versagt er. Unfähig der entwaffnenden Höflichkeit Don Juans, kann er den Herrn nur dadurch herauskehren, daß er den armen Monsieur Dimanche mit Brachialgewalt aus dem Hause wirft. Erneut scheitert der Versuch, es dem Herrn gleichzutun. Die Diener sind nicht reif, das Erbe der Herren anzutreten, solange ihr Anspruch sich nur darauf gründet, die Herren nachzuahmen. Das wird ihnen nie gelingen. Herr-Sein ist längst zur besonderen ästhetischen Lebensform geworden, die unnachahmlich ist. Wer es dennoch versucht, verfällt dem ridicule – so ergeht es nicht bloß dem Diener Sganarelle, sondern – mehr noch – dem reichen Monsieur Jourdain, dem Bourgeois gentilhomme. Fassen wir zusammen: Sganarelle ist nicht nur feige, sondern auch kleinmütig, abergläubisch, erbärmlichen materialistischen Instinkten gehorchend und allen konventionellen Vorurteilen untertan. Mit Recht sagt Jules Brody von ihm: His impulse to social eminence, intellectual power, and spiritual elevation is undermined by an innate materiality, an enslavement to objects and mechanisms. 27
Sganarelle schwankt zwischen Protest und Unterwürfigkeit. Sein Protest richtet sich nicht gegen den sozialen Status des Herrn, den er nicht in Frage stellt, dem er vielmehr sich anzugleichen sucht, sondern nur gegen dessen zynische Moral, an welcher er doch wiederum, im Zuge der Angleichung, partizipiert. Sganarelle als Repräsentant der Diener, d. h. jener Schicht des Volkes, die infolge ihres direkten Verkehrs mit den Herrn allein erst literaturwürdig ist, spiegelt in Charakter wie Schicksal einen noch nicht zum selbständigen Bewußtsein und zur historischen Täterschaft herangereiften Moment in der geschichtlichen Dialektik von Herr und Knecht wider. Diese Dialektik scheint in unserem Falle in zwei selbständige Positionen zerfallen. Don Juan könnte, abstrakt, noch einmal Herr sein ohne Diener, freilich nur auf Grund eines ungebrochenen, ja hybriden Herrenbewußtseins, in Wahrheit aber bedarf er des Dieners. Der Diener aber weiß noch nichts davon, daß der Herr von ihm abhängig ist – das wird erst Diderots Jacques le Fataliste genau wissen und aussprechen. Für Sganarelle erschöpft sich der Impetus, der aus dem halben Bewußtsein der sozialen Insuffizienz erwächst, in einem hilflosen Imitieren der Lebensformen des Herrn – und verurteilt sich zur Lächerlichkeit. Die historische Stunde der Diener ist noch fern. Sganarelle geht leer aus. Wir ahnen, welche hintergründige Ambivalenz in den letzten Minuten der Handlung des Stücks verborgen ist. Der Diener wird um seinen Lohn geprellt durch das Eingreifen der göttlichen Gerechtigkeit. »Mes gages, mes gages!« – so verhallt die komische Verzweiflung Sganarelles hinter dem fallenden Vorhang!
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Jules Brody, op.cit., S. 561. 73
Das Problem des »dénouement« bei Molière Bevor wir den Dom Juan und den Tartuffe endgültig verlassen, sind noch ein paar Worte über das Problem des dénouement bei Molière zu verlieren. Molière greift, um seine intrigue zu einem befriedigenden Abschluß zu bringen, häufig, auffällig häufig, auf einen Theatercoup zurück, auf die Lösung des Deus ex machina. Über diese letzte Ausflucht der dramaturgischen Technik hat sich schon einer der ältesten und einflußreichsten ästhetischen Gesetzgeber ausgesprochen. Horaz bestimmt in seiner Ars poetica: Nec deus intersit nisi dignus vindice nodus 28 Auch erscheine kein Gott, sofern nicht der Knoten der Handlung seiner bedarf.
Molière hat diese ihm selbstverständlich bekannte Vorschrift in sehr großzügiger Weise ausgelegt. Seine Kritiker haben ihm dies – jedenfalls in Bezug auf die anspruchsvolleren Stücke – verübelt. Liegt hier – wie man häufig liest – eine tadelnswerte Schwäche vor, eine dramaturgische Unfähigkeit, oder haben wir es mit Notlösungen zu tun, die erwachsen sind aus der Eile, mit der Molière seine Stücke konzipieren und niederschreiben mußte? Der modernen Molière-Forschung fällt es schwerer als den älteren Interpreten, sich mit dieser Erklärung zu begnügen. Zur Verdeutlichung dieser Frage greife ich zunächst noch einmal zurück auf die École des femmes. Arnolphe hat sein Mündel Agnès in völliger Ignoranz aufwachsen lassen, in der Absicht, sie zum primitiv-frommen und fleißigen Hausmütterchen heranzuziehen und dann selber zu heiraten. Ohnmächtig muß er indessen mitansehen, daß das Naturkind Agnès in Liebe zu dem jungen Horace entbrennt. Gleichwohl wäre Arnolphe in der Lage, die Erfüllung der Liebe der beiden jungen Menschen zu verhindern, weil das geltende Gesetz dem Vormund alle Rechte einräumt. Arnolphe ist bis zuletzt entschlossen, diese Rechte wahrzunehmen. Sie könnten nur dann außer Kraft treten, wenn der wirkliche Vater des Mündels erschiene, dessen Recht natürlich über dasjenige des Vormunds geht. Die Situation ist nun auf Grund der Uneinsichtigkeit und Unnachgiebigkeit Arnolphes so heillos, daß nur das Wiederauftauchen des Vaters sie noch zu retten vermag. Und so geschieht es auch. Dabei gibt es noch einige Verwicklungen und Mißverständnisse. Oronte, der Vater des in Agnès verliebten und von ihr wiedergeliebten Horace, hat seinerzeit mit seinem Freund Enrique das Abkommen getroffen, daß sein Sohn – Horace – mit Enriques Tochter vermählt werden soll. Jetzt, da Enrique nach langjähriger Abwesenheit und nachdem man ihn längst totgeglaubt hat, wieder zurückgekehrt ist, wollen die beiden Freunde ihren einstigen Plan realisieren. Horace, der Sohn Orontes, sträubt sich verzweifelt gegen dieses Projekt, denn er liebt ja Agnès, das Mündel des Arnolphe. Arnolphe aber sieht die Chance gekommen, den Rivalen loszuwerden. Er bestärkt Oronte und Enrique in ihrem Willen, ihre Kinder miteinander zu vermählen. Jetzt erst wird offenbar, daß die Tochter des so lange
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Horaz, Sämtliche Werke (hrsg. Hans Färber), München 1967, S. 240.
verschollenen Enrique niemand anders ist als – Agnès. Horace jubelt, Arnolphe schleicht geschlagen von hinnen. Max Wolff hat in seiner immer noch sehr lesenswerten Molière-Monographie von 1910 darauf aufmerksam gemacht, daß den Zeitgenossen dieser coup de théâtre keineswegs so unwahrscheinlich erschienen sein mag wie dem modernen Betrachter. Daß Totgeglaubte plötzlich wieder auftauchten, war in der Zeit fehlender Nachrichtenübermittlung bei gleichzeitigem Ausschwärmen in überseeische Länder und noch existierendem Sklavenhandel keineswegs außergewöhnlich. Molière hatte dies selber bezeugt, als er in, seinem Etourdi eine der Personen sagen ließ: C'est qu'en fait d'aventure il est très ordinaire De voir gens pris sur mer par quelque Turc corsaire, Puis être à leur famille à point nommé rendus, Après quinze ou vingt ans qu'on les a crus perdus. Pour moi, j'ai vu déjà cent contes de la sorte (...) (IV, 1)
Max Wolff, der diese Verse zitiert, meint gleichwohl, Molière hätte sich solcher Vorkommnisse, obwohl keineswegs selten, nicht zur Lösung eines dramatischen Konflikts bedienen dürfen und fährt fort: »Die Lösungen sind immer die schwächste Seite unseres Dichters, sei es, daß er zu rasch dem Ende zustrebte, daß er über neuen Plänen die Lust an dem alten verlor, oder sei es, daß hier wirklich ein Mangel an Begabung vorliegt.« 29 Ein ganz ähnliches dénouement wird Molière in seinem Avare verwenden. Auch dort wäre für das junge Liebespaar wie für alle Familienangehörigen das Leben hoffnungslos vergiftet durch den krankhaften Geiz Harpagons, wenn nicht am Schluß Rückkehr und Wiedererkennung Totgeglaubter den Jammer in eitel Glück verwandeln würde. Mit den ironischen Worten Wolffs: »Die Familie ist vor sechzehn Jahren durch Sturm und Schiffbruch auseinandergerissen worden, jedes Mitglied hielt sich für das einzig überlebende, doch alle entkamen und weilten unbekannt und unter falschem Namen in Paris bis zu dem Tage, da der Dichter sie zur Lösung seines Lustspiels brauchte.« 30 Darin steckt in der Tat ein gravierender Vorwurf, der nur dann seine Gültigkeit verlöre, wenn man der Komödie zubilligte, daß sie – anders als ihre tragische Schwestergattung – nicht oder nur in sehr viel geringerem Maße an das Prinzip der inneren Notwendigkeit der Entwicklung der Handlung gebunden sei. Die hiermit angeschnittene Frage ist nichts weniger als müßig, und wir tun gut daran, sie nicht zu verharmlosen. Gibt uns Molières Text selber Hinweise dafür, in welcher Richtung wir die Antwort suchen müssen? Am Schluß der École des femmes wundert sich Oronte, weshalb Arnolphe mit einem kläglichen Oh von der Bildfläche verschwindet: D'où vient qu'il s'enfuit sans rien dire?
Sein Sohn Horace gibt die Antwort:
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Max J. Wolff, op.cit., S. 262. Ebd., S. 495. 75
Ah! mon père, Vous saurez pleinement ce surprenant mystère. Le hasard en ces lieux avoit exécuté Ce que votre sagesse avoit prémédité: (V, 9)
Was die Väter dereinst beschlossen hatten, nämlich die Vereinigung ihrer Kinder, erweist sich a posteriori als sagesse infolge des Zufalls, der Horace und Agnès sich ineinander verlieben ließ. Damit wird der Zufall auch insofern, als er jetzt den Vater Enrique zurückkehren ließ, zum Stifter des Glücks und zum Erlöser aus dem Konflikt. Chrysalde, der Räsonneur, dem Molière das letzte Wort gibt, deutet – im allerletzten Vers des Stücks – diesen Zufall auf fromme Weise: Allons (...) rendre grâce au Ciel qui fait tout pour le mieux.
In diesen Worten wird der Zufall also als glückliche und wohlweisliche Fügung der Vorsehung interpretiert. Ob Arnolphe, hätte man ihn befragt, der gleichen Ansicht gewesen wäre, muß bezweifelt werden. Folgerichtig wäre allerdings, so scheint es, daß er eingesehen hätte, daß für ihn dieser Zufall die gerechte Strafe für sein Verhalten ist – also abermals eine Schicksalsbegründung höherer Art. Ist, was hier von den Personen des Stücks ausgedrückt wird, auch die Auffassung Molières? Prinzipiell ist dies nicht ausgeschlossen, denn für den rigorosen Christen gibt es keinen Zufall, den nicht die göttliche Vorsehung irgendwie eingeplant hätte. Doch Molière ist kein in diesem Sinne gläubiger Christ. Selbst bei den Jansenisten hat der Christengott für diejenigen, die er nicht mit seiner Gnade versehen hat – und das sind die meisten – aus der Vorsehung das unermeßliche Reich der Kontingenz ausgespart, indem sie sich schlecht und recht behaupten müssen ohne die Hilfe der Vorsehung. Freilich drängt sich eine andere Antwort auf, eine Antwort, die in der Molière-Forschung daher häufig geäußert wird: sie läuft darauf hinaus, daß Molières Weltbild letztlich ein optimistisches gewesen sei in dem Sinne, daß er glaubte, wer sich natürlich und vernünftig und gemäß den Gesetzen der Welt verhalte, empfange letztlich auch den Lohn des individuellen Glücks – von einer Ordnung, die man sowohl als die Ordnung der obsiegenden gesellschaftlichen Vernunft, als Ordnung, die von der Monarchie gewährleistet wird, oder auch als Ordnung von Gnaden der Vorsehung interpretieren kann. Der Zufall, der die scheinbar unlösbaren Konflikte löst, wäre demnach erklärbar aus dem Vertrauen des Dichters in eine letztlich doch sinnvolle Welt- und Gesellschaftsordnung, die denjenigen nicht im Stich läßt, der sich ihr anvertraut. Mit dieser Antwort kann man sich einverstanden erklären, wenn man nur an die École des femmes denkt. Und trotzdem kommen schon hier Bedenken auf: wie ist es bestellt mit einer Welt, in der es eines zwar keineswegs unmöglichen, aber rebus sic stantibus immerhin recht unwahrscheinlichen Zufalls bedarf, um eine total verfahrene Situation zur glücklichen Lösung zu bringen? Spricht die Tatsache, daß der individuelle, partikuläre Zufall aufgeboten werden muß, nicht dieser Welt ein vernichtendes Urteil? Solcherart Zufall gerät fast zwangsläufig zum Wunder, allein schon deshalb, weil er nicht alltäglich ist. Oder sollte Molière doch irgendwie daran glauben, daß dem so sein könne, und daraus das Gattungsgesetz der Komödie ableiten?
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Der wunderbare Zufall konnte sich in der École des femmes immerhin darauf berufen, daß Fälle unerwarteter Heimkehr von Verschollenen durchaus der Erfahrung des Lebens zu entnehmen waren. Erinnern wir uns daran, daß auch ein Theseus – in Racines Phèdre – als Verschollener und Totgeglaubter unerwartet heimkehrte gerade in dem Augenblick, da für Phèdre alles auf dem Spiele stand. In der Phèdre wird der Zufall akzeptiert als Ausdruck der Notwendigkeit. Soll man Ähnliches – mutatis mutandis – nicht auch der Komödie Molières zubilligen? Was sich als Komödie ankündigt auf dem Theater, verheißt von vornherein die beruhigende Zuversicht, daß sich alles, was aufregt und erregt und ängstigt, versöhnlich löst, und sei es mit Hilfe jenes Zufalls, der in der Tragödie nur die eine Funktion haben kann, das Unglück des Helden, sein Schicksal, zu besiegeln. Das Problem wird indessen auf eine andere Ebene gestellt in dem Augenblick, da sich der mögliche Zufall zum unwahrscheinlichen verengt, da, was noch allgemein optimistisch-providentiell gedeutet werden kann, sich zum Wunder steigert, da der Deus ex machina – alias Zufall- in einem höheren Wesen personifiziert wird. Das ist, wie wir wissen, der Fall im Tartuffe. Hier ist nun gar kein Zweifel darüber möglich, daß der Schluß des Tartuffe die Erfahrung des bedrängten Molière wiedergibt. Es war der Schutz, das Eingreifen des Königs, das den Dichter davor bewahrte, der Cabale des dévots zu unterliegen. Molière hatte den König in seinen Placets darum gebeten. Niemand wird sich darüber wundern dürfen, daß der Dichter den ihm persönlich zuteil gewordenen Glücksfall der königlichen Gerechtigkeit zu einer Apotheose des Monarchen verallgemeinert. Die Rede, in welcher der königliche Beamte, der am Schluß des Tartuffe den gefährlichen Heuchler verhaftet, die Allwissenheit und Gerechtigkeit des Herrschers preist, wiederholt teilweise wörtlich den Appell, den Molière in seinen Placets an Ludwig XIV. gerichtet hat. Was Molière hier als Lösung, als dénouement, auf die Bühne bringt, hat demnach seine Rechtfertigung darin, daß es tatsächlich so bzw. so ähnlich oder analog geschehen ist. Es liegt hier also ein » Zusammentreffen von Unwahrscheinlichkeit und Realität« vor, wie Peter Bürger formuliert. 31 Doch das Wirkliche ist unwahrscheinlich, wenn es ein Ausnahmefall bleibt und daher ästhetisch fragwürdig. War Molière sich darüber im klaren? Diese letztere Frage werden wir vielleicht niemals beantworten können. Und doch führt sie uns zwangsläufig zu einem weiteren Aspekt unseres Problems. Wenn im dénouement des Tartuffe das Unwahrscheinliche mit dem RealGeschehenen zusammenfällt, dann wird dieses Zusammenfallen zum absoluten Einzelfall, zum außer-ordentlichen Glücksfall, der keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen darf. Tartuffe mag durch die gemeinsamen Anstrengungen der Familie Orgons zwar entlarvt werden – ihn unschädlich zu machen aber wäre nicht möglich ohne die Intervention des Königs. Mit anderen Worten: die Unwahrscheinlichkeit der Auflösung, die in diesem einzelnen Fall die Situation bereinigte, demonstriert, daß in der allgemeinen empirischen Wirklichkeit das Böse triumphiert. 32 Gewiß preist Molière den König als allwissend und gerecht: 31
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Peter Bürger, »Le Tartuffe«, in: J. von Stackelberg (Hrsg.), Das französische Theater vom Barock bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1968, S. 245. Wir befinden uns hier in weitgehender Übereinstimmung mit der Deutung, die Georges May, Le dilemme du roman au XVIIIe siècle, New Haven/Paris 1963, S. 255, vorge77
Nous vivons sous un Prince ennemi de la fraude, Un Prince dont les yeux se font jour dans les cœurs, Et que ne peut tromper tout l'art des imposteurs.
Dazu ist indessen zu sagen, daß - dieser König keineswegs immer so gerecht war wie im Falle Molières, - er natürlich nicht so allwissend war, als daß er in jedes verbrecherische Geschehen hätte eingreifen können, und - die Gesellschaft, in welcher die Tartuffes ihr Unwesen treiben konnten, eben die Gesellschaft war, die jenem Königtum zugehörte, durch es bedingt war wie jenes durch sie, und - Ludwig, selbst wenn er – wie es in der Perspektive Molières scheint – der König gewesen wäre, der die vollkommene Korrektur seiner eigenen Gesellschaft dargestellt hätte, also wiederum einen einmaligen Glücksfall, daß von diesem Glücksfall her nicht das Gesetz dieser Gesellschaft und somit eine optimistische Erwartung herzuleiten gewesen wäre. Natürlich dürfen wir nicht erwarten, daß solche Sachverhalte sich in expliziter Form bei Molière niedergeschlagen hätten. Die Macht der realen Verhältnisse aber setzte sich in der Werkstruktur eines großen Dichters durch, obwohl dieser Dichter Grund genug hatte, sich ob seiner persönlich-glücklichen Situation den Blick für diese Realität trüben zu lassen. Verfolgen wir diesen Gedanken weiter, dann erscheint uns auch das dritte der hier zu behandelnden dénouements in einem anderen Licht: dasjenige des Dom Juan. Tartuffe war ein raffinierter Schurke von obskurer Herkunft, ohne wirklichen sozialen bzw. ständischen Rückhalt. Gleichwohl konnte er nur durch die fast übernatürlich eingreifende Gerechtigkeit des Monarchen zur Strecke gebracht werden. Don Juan ist Angehöriger des privilegierten Adels, in gewisser Weise sogar noch elitär durch Geist und Haltung inmitten des Adels. Als er die glanzvollen Laster seines Standes auf die Spitze eines Skandals treibt, der die weltliche Vergeltung dermaßen provoziert, daß auch ihn diese Vergeltung ereilen würde, da sucht er sein Heil in der falschen dévotion, d. h. in der Tartufferie. Skrupellos ausgenutztes ständisches Privileg plus Tartufferie machen ihn schlechthin unverletzlich und unangreifbar. Selbst der königliche Fluch kann ihn nicht erreichen, selbst die im Tartuffe gepriesene Gerechtigkeit und Allwissenheit des Monarchen scheint hier zu versagen. Der Himmel selber muß aufgeboten werden, um über die gemeingefährliche Kombination von privilegiertem Laster und frömmlerischer Heuchelei zu obsiegen, denen diese Gesellschaft offenbar keine wirksame Abwehr entgegenzustellen hätte. Das ist – implizit – ein höchst kritisches Urteil über diese Gesellschaft. Der Theatercoup, dessen sich allzu ausgiebig bedient zu haben Molière immer wieder vorgeworfen wird, muß aus solcher Perspektive eine ganz neue, auch ästhetisch neue Beurteilung erfahren.
schlagen hat. Gerade durch die Unglaubwürdigkeit des Schlusses, so meint Georges May, werde demonstriert, daß in der Realität das Böse triumphiert. Molière hätte demnach insgeheim auf Umwegen den gleichen Sachverhalt demonstriert wie schon in der ersten Fassung des »Tartuffe«. Es scheint, daß der bereits von mir erwähnten Inszenierung von Roger Planchon eine solche Konzeption zugrundeliegt. 78
Die Erörterung der wunderbaren Auflösungen im Theater Molières impliziert das Problem einer tieferen Begründung von Wert und Wirkung des Molièreschen Werkes. Unabhängig von der Frage, wieweit sich Molière selbst der Tragweite der von ihm in Angriff genommenen Probleme und ihrer dramaturgischen Lösungen bewußt war, stellt sich für uns nun die weitere Frage: welches ist der Standpunkt, von dem aus Molière die seiner Komödie immanente kritische und satirische Haltung bezog? Welche Position sollte derjenige beziehen, der in dieser gesellschaftlichen Welt sich behaupten will mit seinem Anspruch auf individuelles Glück und soziale Geltung? Gewiß hat Molière schon in seinen bisherigen Stücken eine bestimmte Position bezogen. Es konnte jedoch nicht ausbleiben, daß diese Position immer wieder und grundlegend in Frage gestellt wurde durch die Wirklichkeit selbst. Molière hat sich dieser Infragestellung nicht entzogen, er hat sie vielmehr polarisiert in einem Werk, das zu seinen größten Ruhmestiteln gehört, in einem Stück, in dem weder Gott noch König noch der Zufall eingreifen: Le Misanthrope.
»Le Misanthrope« und die Doppeltradition tragischer und komischer Interpretation Der Misanthrope wurde am 4. Juni 1666, im Palais-Royal uraufgeführt. Der Erfolg war sehr dürftig. Molière war schließlich gezwungen, weitere Aufführungen dadurch zu sichern, daß er nach dem Misanthrope jedesmal noch ein zweites Stück präsentierte, über das seine Zuschauer wirklich lachen konnten: den Mèdecin malgré lui. Wie ist es zu erklären, daß dieses Stück, in dem die Nachwelt Molières vielleicht nicht am besten gebautes, so doch unstreitig tiefstes Werk erblickt, so wenig Anklang fand? Und dies, obwohl die hellhörigsten Kritiker der Zeit seinen Wert durchaus erkannten: für Boileau war Molière stets vor allem der Dichter des Misanthrope! Eine Antwort auf diese Frage wird erst möglich sein, wenn wir einige Grundzüge des Werks herausgearbeitet haben. Vorwegzunehmen ist folgendes: es scheint, daß Molière diesmal vom Parterre-Publikum im Stich gelassen wurde, d. h. von der zahlenmäßig stärksten Schicht von la ville, während das aristokratische Publikum, la cour, das Stück schätzte. Auffällig ist allerdings, daß Ludwig XIV. den Misanthrope niemals am Hof aufführen ließ. Lassen sich aus diesen Umständen Folgerungen ziehen? Man muß wissen, daß es im Misanthrope nicht viel zu lachen gab und daß die Personen des Stücks samt und sonders dem höheren Adel angehören, daß ihre Welt allein diejenige der sich ihrer glanzvollen Sterilität geistreich und kultiviert erfreuenden parasitären Elite ist. Daraus mag sich einerseits die Gleichgültigkeit des Parterre und andererseits das Interesse von la cour erklären. Daß dem formalisierten Leerlauf adligen Lebens bei aller Wahrung seiner faszinierenden Geselligkeitsriten in diesem Werk der Prozeß gemacht wird, insbesondere seiner Heuchelei, Schmeichelei und seinem Intrigantentum, dieser Umstand mag für la cour eine Art von masochistischem Nervenkitzel gewesen sein, entlarvend zwar, aber doch ungefährlich, denn die einzig denkmögliche Alternative, eben die Position des Alceste, war im Stück selbst zu einem Scheitern bestimmt, das sie selber verurteilen mußte. 79
Wie erklärt sich die Haltung des Königs? Gewiß, der König wollte sich in diesen Jahren vor allem amüsieren. Und sein bevorzugter Komödienschreiber und Theaterdirektor sollte in erster Linie den Glanz höfischer Feste erhöhen und bereichern. Die ätzenden Wahrheiten des Alceste und der bittere Abschluß des Stücks konnten diesen Zweck nicht erfüllen. Doch mag diese Erklärung unzureichend sein. Ludwigs politischer Instinkt mochte erkannt haben, daß hinter der Bloßstellung des höfischen Adels diesmal, obwohl ganz unausgesprochen, auch derjenige sichtbar wurde, der die Schuld trug an der Domestizierung des Hofadels zu einer Schicht von Schmeichlern, Heuchlern und Intriganten. Ein Wort noch zu den biographischen Aspekten. Molière hat die Kämpfe um den Tartuffe hinter sich: die Wunden sind kaum vernarbt. Von ernster Krankheit gerade genesen, sieht er seine Ehe in einer nicht mehr endenden Krise. Er kommt nicht los von der Liebe zu seiner leichtfertigen und herzlosen Frau Armande Béjart. So wäre es kein Wunder, wenn die Summe der Enttäuschungen sich bei Molière zu dem Gedanken verdichtet hätte, alle anderen außer ihm selbst seien abgrundtief schlecht, und Menschenfeindlichkeit sei die einzige adäquate Haltung, wenn sich mit einer solchen Haltung überhaupt leben ließe. Diese persönliche Erfahrung, so lautet eine der durchaus ernsten Thesen zur Interpretation des Stücks, hätte sich im Misanthrope niedergeschlagen, ja dessen Abfassung überhaupt erst veranlaßt. Wir hätten dann in Alceste Molière selbst und in der charmanten und geistreichen, aber oberflächlichen Célimène Armande Béjart zu sehen. Diese These gewinnt noch an Reiz, wenn man weiß, daß Molière selbst den Alceste, Armande die Célimène darstellten, und Cathérine de Brie, die Molière getröstet haben soll, die Eliante, die in dem Stück den Helden verteidigt und – obgleich vergebens – liebt. Es wäre ein Wunder, wenn Molières persönliche Erfahrungen nicht in die Bearbeitung eines Stoffes wie des Misanthrope eingegangen wären. Es scheint mir jedoch falsch, dieses Werk nur oder vorwiegend biographisch zu erklären. Wir sind noch nicht im Zeitalter romantischer Herzensergießungen. Nur soweit werden wir gehen dürfen, daß wir in Molières Schicksal in diesen Jahren den Filter sehen, durch den seine allgemeine Lebenserfahrung hindurchgeht. Es ist freilich diesmal eine ganz besondere, in wesentlichen Punkten sich von bisherigen Stücken in ihrem Niederschlag unterscheidende. Ich gebe eine knappe Skizze des Handlungsgerüsts: das Stück beginnt mit einem Streitgespräch zwischen Alceste und dessen Freund Philinte. Recht fassungslos zeigt sich Philinte angesichts der Intransigenz des Freundes, der meint, man müsse die ganze Menschheit verdammen, bloß weil sie es nicht erträgt, daß man in jedem Augenblick und an jedem Ort sagt, was man denkt. Philinte ist keineswegs ein blinder Apologet dieses Zustands; die gerügten Mängel gehören für ihn jedoch zur Natur des Menschen, gegen die anzurennen lächerlich ist. Wir erfahren, daß Alceste die kokette Célimène liebt und hofft, sie noch zu seinen eigenen Überzeugungen bekehren zu können, ferner, daß er einen Prozeß führt und im Bewußtsein, recht zu haben, nichts tut, um dieses Recht durchzusetzen, sogar darauf verzichtet, sich um einen Anwalt zu bemühen. Das Gespräch wird unterbrochen durch die Ankunft eines anderen Verehrers von Célimène, Oronte. Oronte bietet Alceste seine Freundschaft an. Alceste sagt ihm deutlich, daß ihm an solcher Freundschaft nichts liegt. Oronte liest ihm daraufhin ein selbstverfertigtes Sonett vor. Philinte tut, was man in solchen Fällen tut; er lobt
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das poetische Produkt des Besuchers. Alceste dagegen erklärt es rücksichtslos für ein jämmerliches Machwerk. Das ist schlimmer als die Zurückweisung der angebotenen Freundschaft. Alceste hat sich damit einen grimmigen Feind geschaffen. Im zweiten Akt sehen wir Célimène und Alceste im Gespräch. Bittere Vorwürfe macht Alceste der von ihm geliebten jungen Frau: wie kann sie alle die Laffen und Hohlköpfe, die sich beflissen um sie drängen, so liebenswürdig behandeln, anstatt sich endlich klar für ihn Alceste zu entscheiden. Sie werden unterbrochen; ein weiterer Verehrer Célimènes wird angekündigt: der Marquis Acaste. Alceste wünscht ihn zum Teufel, doch Célimène empfängt ihn. Acaste ist angesehen am Hof, ihn abzuweisen, könnte mißliche Folgen haben. Ihm auf dem Fuße folgt, gleichfalls vom süßen Drang beflügelt, der Marquis Clitandre. Mit ihm erscheinen Philinte und Célimènes Kusine Eliante. Zwischen Célimène und den beiden Marquis spielt sich nun ab, was als beliebtestes geselliges Festesser gelten darf: die abwesenden Bekannten werden der Reihe nach durchgehechelt, schmutzige Wäsche gehobener Art! Célimène brilliert in Witz und Bosheit. Als sie einen gewissen Damis porträtiert, dessen Charakteristik ziemlich genau auch auf Alceste paßt, da tritt dieser aus seinem angewiderten Schweigen hervor. Empört wendet er sich gegen die beiden Marquis, die den Vorwurf jedoch nicht zu Unrecht an Célimène weitergeben. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als nun ihrerseits Alceste als einen Mann zu beschreiben, der grundsätzlich immer eine andere Meinung äußere als alle anderen, der seine einzige Ehre darin sehe zu widersprechen und sogar an den Menschen, die er liebt, stets nur die Fehler tadele. So herausgefordert, versteigt sich Alceste zu der Behauptung: Plus on aime quelqu'un, moins il faut qu'on le flatte; A ne rien pardonner le pur amour éclate;
Célimène selbst erläutert diese Auffassung, mit der sich freilich jeder Liebhaber ins Unrecht setzt: On doit, pour bien aimer, renoncer aux douceurs, Et du parfait amour mettre l'honneur suprême A bien injurier les personnes qu'on aime. (II, 4)
Alceste ist in der Tat ein seltsamer Liebhaber: für ihn beweist sich authentische Liebe darin, daß man am geliebten Gegenstand sorgfältig und gnadenlos alle Fehler und Mängel registriert und sie ihm zwecks Besserung vorhält. Spätestens jetzt offenbart Alceste, daß ihm psychologische Einfühlungsgabe und insbesondere der Einblick in die Seele der Frau vollständig abgehen. Es ist Eliante, ausgerechnet diejenige Person also, die für den Aufrichtigkeitsfanatismus Alcestes am meisten Verständnis aufbringt und die ihn liebt, die erläutert, welches in Wahrheit die Gesetze der Liebe sind. Das geschieht in Versen, die, gut gesprochen, vom weiblichen Publikum meist Sonderapplaus auf offener Szene erhalten. Dem Liebenden ist alles liebenswert an der geliebten Person: Jamais leur passion n'y voit rien de blâmable, Et dans l'objet aimé tout leur devient aimable: Ils comptent les défauts pour des perfections, 81
Et savent y donner de favorables noms. La pâle est aux jasmins en blancheur comparable; La noire à faire peur, une brune adorable; La maigre a de la taille et de la liberté; La grasse est dans son port pleine de majesté; La malpropre sur soi, de peu d'attraits chargée, Est mise sous le nom de beauté négligée; La géante paraît une déesse aux yeux; La naine, un abrégé des merveilles des cieux; L'orgueilleuse a le cœur digne d'une couronne; La fourbe a de l'esprit; la sotte est toute bonne; La trop grande parleuse est d'agréable humeur; Et la muette garde une honnête pudeur. C'est ainsi qu'un amant dont l'ardeur est extrême Aime jusqu'aux défauts des personnes qu'il aime. (II, 4)
Weitere Auseinandersetzungen werden durch die Ankunft eines Boten abgeschnitten. Alceste soll vor dem Ehrengericht der Marschälle erscheinen: Oronte hat ihn wegen der Sonettaffäre angeklagt. Dieses Ehrengericht hatte damals die Aufgabe, Beleidigungsaffären zwischen Angehörigen des Adels zu schlichten – mit dem Erfolg, daß die selbstmörderischen Duelle zwischen Edelleuten fast vollständig aufhörten. Alceste muß die Szene verlassen, nicht ohne zu versichern, daß nichts auf der Welt außer einem direkten Befehl des Königs ihn davon abhalten könne zu sagen, das Sonett Orontes sei das Machwerk eines Stümpers, den man eigentlich dafür aufhängen müßte. Zu Beginn des dritten Akts kommen die beiden Marquis. Acaste und Clitandre auf den durchaus vernünftigen Gedanken, sich nicht weiterhin in kräftezehrender Konkurrenz um die Gunst Célimènes zu bemühen, sondern sich Klarheit darüber zu schaffen, welchen von beiden sie vorzieht. Der andere würde dann widerspruchslos das Feld räumen. Dabei gibt Acaste ein Selbstporträt, das man gelesen haben muß, um die Verblasenheit und Eitelkeit dieser Sorte Mensch kennenzulernen. Es gipfelt in den Versen: Pour de l'esprit, j'en ai sans doute, et du bon goût A juger sans étude et raisonner de tout, A faire aux nouveautés, dont je suis idolâtre, Figure de savant sur les bancs du théâtre, Y décider en chef, et faire du fracas A tous les beaux endroits qui méritent des has. (III, 1)
Man spürt förmlich, wie wohl es Molière tut, diesen Gecken eines auszuwischen. Der Diener meldet Arsinoé, eine gefürchtete fausse dévote und Intrigantin. Sie ist gekommen, um Célimène unter dem Vorwand, freundschaftliche Gefühle führten sie her, davor zu warnen, daß neulich in Salonkreisen schlecht von ihrem Lebenswandel gesprochen worden sei. Célimène kontert, indem sie die Besucherin darauf aufmerksam macht, daß jüngst in einem anderen Salon die Rede davon gewesen sei, wie sehr die fromme Scheinheiligkeit der Arsinoé anderen Leuten auf die Nerven gehe. Es ist ein wahres Florettgefecht in Worten: Hieb um Hieb und Stich um
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Stich. Zwei Frauen, die unter höflichem Lächeln Gift aufeinander spritzen, soviel der Vorrat hergibt. Man merkt, daß beide sich am liebsten die Augen auskratzen würden. Célimène gelingt es, den Neid der Arsinoé zum Haß zu steigern. Der zurückkehrende Alceste tut in seiner brutalen Aufrichtigkeit ein übriges. Arsinoé hat es auf ihn abgesehen. Doch er weist ihr Anerbieten, ihm zu hohen Ehren am Hof zu verhelfen, mit wohlgesetzter Brutalität zurück. Höfische Funktionen sind das letzte, was ihn reizen könnte: Le Ciel ne m'a point fait, en me donnant le jour, Une âme compatible avec l'air de la cour (...) (III, 5)
Arsinoé, doppelt abgeblitzt, ist entschlossen, Alceste über den perfiden Charakter der Rivalin Célimène aufzuklären. In der ersten Szene des vierten Akts unterhalten sich Philinte und Eliante über Alceste. Beide schätzen und lieben ihn und sind besorgt über die Folgen seiner allesverletzenden sincérité. Unbeantwortet bleibt die von beiden ventilierte Frage, ob Célimène den Alceste liebt oder ob er für sie nur einer von vielen Verehrern ist, die ihrem weiblichen und gesellschaftlichen Ehrgeiz schmeicheln. Célimène ist eine Vielgeliebte; wird sie darauf je verzichten können? Alceste betritt die Szene voller Empörung und finster entschlossen, mit Célimène zu brechen. Arsinoé hat ihm Kenntnis von einem kompromittierenden Brief gegeben. Alceste ist undelikat genug, in dieser Situation sein Herz der Kusine Eliante zu Füßen zu legen, und aufrichtig genug zu sagen, es geschehe dies aus Rache für die Treulosigkeit Célimènes. In der folgenden Aussprache bewähren sich die weibliche Rabulistik Célimènes, die aus dem Elefanten eine harmlose Mücke zu machen versteht, und der unverlorene Zauber, den sie, die unaufrichtige Kokette, auf den Wahrheitsfanatiker Alceste ausübt. Noch einmal unterwirft er sich: Ah! traîtresse, mon faible est étrange pour vous! Vous me trompez sans doute avec des mots si doux; Mais il n'importe, il faut suivre ma destinée; A votre foi mon âme est toute abandonnée; Je veux voir, jusqu'au bout, quel sera votre cœur, Et si de me trahir il aura la noirceur. (IV, 3)
Häßlich soll sie sein, arm, ohne gesellschaftlichen Rang, »réduite en un sort misérable«, damit sie endlich alle eitlen Beschäftigungen aufgebe und dankbar seine Liebe entgegennehme. Darauf Célimène: C'est me vouloir du bien d'une étrange manière! Me préserve le Ciel que vous ayez matière ... ! (IV, 3 )
Ein Bedienter bringt die Nachricht, daß Alceste seinen Prozeß verloren hat, ja, daß ihm die Gefahr droht, verhaftet zu werden. Doch diese Niederlage wird für Alceste zu einem Triumph. Sie bestätigt ihn in seiner Menschenfeindschaft. Er versteigt sich zu der Hoffnung, daß dieser Sieg der Ungerechtigkeit bei der Nachwelt Zeugnis ablege -
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(...) une marque insigne, un fameux témoignage De la méchanceté des hommes de notre âge. (V, 1)
Gerne opfert er die 20 000 Francs, die ihn der verlorene Prozeß kostet, gibt ihm dies doch das Recht (...) de pester Contre l'iniquité de la nature humaine, Et de nourrir pour elle une immortelle haine. (V, 1)
Die Welt hat Alceste somit den Wunsch erfüllt, sich in eklatanter Weise als falsch, böse und ungerecht zu erweisen. Die geliebte Célimène wird ein übriges tun. Wir sind bereits im fünten Akt. Oronte tritt auf. Célimène hat sein Liebeswerben zwar nicht erhört, aber auch keineswegs entmutigt. Er ist gekommen, um Klarheit zu haben, Célimène soll sich entscheiden. Alceste kann, wie wir wissen, diesen hohlköpfigen Rivalen nicht ausstehen, aber er ist mit ihm der Ansicht, Célimène müsse jetzt und hier Farbe bekennen. Célimène gerät in Bedrängnis. Vergeblich spielt sie das Verlangen der beiden Prätendenten auf ein caprice herunter, und ebenso vergeblich ruft sie diesmal ihre Kusine Eliante zu Hilfe, die entschieden erklärt: (...) je suis pour les gens qui disent leur pensée. (V, 3)
Célimène wird der Antwort enthoben. In Begleitung der racheschnaubenden Arsinoé betreten die beiden Marquis die Szene. Jeder von ihnen präsentiert einen Brief, in welchem Célimène den jeweiligen Adressaten ihrer Zuneigung versichert und zugleich alle Rivalen lächerlich macht – einschließlich Alceste. Célimène erlebt die bitterste Stunde ihres Lebens. Ihre Doppelzüngigkeit ist öffentlich entlarvt, und deren wutentbrannte, in ihrer Eitelkeit zutiefst getroffenen Opfer werden dafür sorgen, daß die ganze Gesellschaft gebührend Kenntnis davon erhält. Alle verlassen sie, nur Alceste, der bis jetzt geschwiegen hat, bietet ihr, obwohl tief verletzt, noch einmal sein Herz an und seine Hand, unter der Bedingung, daß sie ihm in die Einsamkeit folge, in die ihn der Ekel vor der Welt und vor den Menschen unwiderstehlich treibt. Doch Célimène hat nicht die Kraft, ihre blühende, Bewunderung heischende Jugend einem Leben fern der Gesellschaft zu opfern: Moi, renoncer au monde avant que de vieillir, Et dans votre désert aller m'ensevelir! (...) La solitude effraye une âme de vingt ans. (V, 4)
Alceste weiß, daß er auch die Liebe der ihm wirklich seelenverwandten Eliante verwirkt hat. Er vertraut sie dem Freunde Philinte an, der sie liebt, und nimmt Abschied von einer Welt, die ihm fremd ist und von der er sich verraten glaubt: Trahi de toutes parts, accablé d'injustices, Je vais sortir d'un gouffre où triomphent les vices, Et chercher sur la terre un endroit écarté Où d'être homme d'honneur on ait la liberté. (V, 4)
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Mit der vagen Hoffnung Philintes, den Freund vielleicht doch noch von seinem Vorhaben abzubringen, endet das Stück. Wer vermöchte an diese Hoffnung zu glauben? Alceste ist für die Gesellschaft und diese für ihn verloren. Versuche späterer Dramatiker wie Fabre d'Eglantine, Marmontel oder Courteline, dem Stück einen versöhnlichen Ausgang zu geben, verfehlen seinen Sinn. Das gilt auch für eine 1762 in Hamburg erschienene deutsche Ausgabe, deren Übersetzer den Schluß in einem, wie er meinte, befriedigenden Sinne korrigiert hat: Célimène gelobt Besserung, Alceste läßt sich überzeugen, daß seine Misanthropie nicht für alle Menschen gelten kann; die beiden finden sich: happy end. Rousseau sah in Alceste eine tragische Gestalt, Goethe im Misanthrope ein tragisches Stück. Der moderne Betrachter ist geneigt, ihnen darin zu folgen, obwohl gewarnt dadurch, daß es Molières Absicht kaum gewesen sein dürfte, hinter einer Komödie eine Tragödie zu verbergen. Verständlich aber ist, daß sich schon sehr früh, bereits bei Molières unmittelbaren Nachfolgern in der Geschichte der Aufführungen des Misanthrope, zwei Traditionen herausbildeten: eine ernste bzw. tragische und eine komische Interpretation. Beide sind möglich, und dieser Umstand ist nicht dazu angetan, das Stück einem völlig eindeutigen Verständnis zu öffnen. Wenn jemals schlüssig nachgewiesen werden kann, daß ein literarisches Kunstwerk seinen Gehalt nur im Verlauf einer langen Deutungsgeschichte wirklich offenbart, so kann dies exemplarisch am Misanthrope geschehen. Wir können die Analyse einer so orientierten Rezeptionsgeschichte hier nicht leisten, müssen aber den Text selber noch näher in Augenschein nehmen und versuchen zu erkunden, was er den Bedingungen der konkreten Lebenserfahrung Molières verdankt und den Voraussetzungen einer Thematik, die gewiß nicht im geschichtslosen Raum sich entfaltet. Die Expositionsszene demonstriert zwei, wie es scheint, unversöhnliche Einstellungen zur Welt. Und doch sind ihre Träger Freunde, nicht nur dem Lippenbekenntnis nach. Alceste kündigt Philinte die Freundschaft auf, weil dieser höflich und liebenswürdig zu Leuten ist, die er doch verachtet. Für Philinte ist solche Haltung bizarrerie. Doch Alceste ist fest entschlossen, sich zu ärgern: »Moi, je veux me fâcher«. Befragt, was er nun eigentlich verlange, antwortet Alceste: Je veux qu'on soit sincère, et qu'en homme d'honneur, On ne lâche aucun mot qui ne parte du cœur. (I, 1)
Der Zuschauer ahnt, daß das nicht gut gehen kann. Aufrichtigkeit ist selbst dann, wenn der Aufrichtige überzeugt ist, daß das, was er sagt, auch wahr ist, von Übel, wenn sie verletzt. Ja, stets und an jedem Ort aussprechen, was man denkt, ist lächerlich, weil es gegen die Konventionen verstößt, die der gesellschaftliche Umgang nun einmal verlangt. Philinte spricht es klar und deutlich aus: (...) il faut bien que l'on rende Quelques dehors civils que l'usage demande.
Und:
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Il est bien des endroits où la pleine franchise Deviendrait ridicule et serait peu permise; Et parfois, n'en déplaise à votre austère honneur, Il est bon de cacher ce qu'on a dans le cœur. Serait-il à propos et de la bienséance De dire à mille gens tout ce que d'eux on pense? (I, 1)
Alceste ist indessen nicht davon zu überzeugen, daß menschliches Zusammenleben erfordert, mit der Kundgabe eigener Überzeugungen behutsam umzugehen. Was scheren ihn Konvention und bienséance? Seine empfindsame Seele leidet unter dem Anblick der allgemeinen Korruption: Mes yeux sont trop blessés, et la cour et la ville Ne m'offrent rien qu'objets à m'échauffer la bile (...) Je ne trouve partout que lâche flatterie, Qu'injustice, intérêt, trahison, fourberie; Je n'y puis plus tenir, j'enrage, et mon dessein Est de rompre en visière à tout le genre humain. (I, 1)
Sein Haß gegen die Gesellschaft wird zum Haß gegen die menschliche Natur: »j'ai conçu pour elle une effroyable haine (...) et je hais tous les hommes«. (I, 1) Philintes Philosophie hingegen ist es, die menschliche Natur so zu nehmen wie sie ist: Je prends tout doucement les hommes comme ils sont.
Er kennt die Schwächen der nature humaine genauso wie Alceste, doch zieht er daraus andere Konsequenzen. Die Schwäche der menschlichen Natur und das Gebot der Gesetze des Zusammenlebens verlangen Konzilianz und vernünftige Anpassung, verlangen Soziabilität: La parfaite raison fuit toute extrémité, Et veut que l'on soit sage avec sobriété. (I, 1)
Wie bizarr und individualistisch die Position Alcestes sich auch darstellen mag, sie ist nicht ohne Orientierungspunkt. Philinte vergleicht Alceste und sich selbst mit den beiden Brüdern der École des maris, Sganarelle und Ariste. Die Erinnerung daran, der Vergleich seiner eigenen Einstellung mit derjenigen des Sganarelle der École des maris ist Alceste peinlich, und doch ist sie zutreffend. Tugenden hochzuhalten, so ehrwürdig-altväterlich sie sein mögen, die in einer veränderten Welt obsolet geworden sind, bedeutet, sich selbst zu einem Fremden erklären in dieser Welt: Cette grande roideur des vertus des vieux âges Heurte trop notre siècle et les communs usages (...) (I, 1)
Die Welt wird nicht dadurch im Sinne althergebrachter Tugendvorstellungen geändert, daß man sich ihr als Einzelner entgegenstellt: Le monde par vos soins ne se changera pas (...) (I, 1)
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Eine franchise/sincérité, wie Alceste sie behauptet, ist – die École des maris dient als Zeugnis – in der Gegenwart eine Krankheit, ein quasi-pathologischer Fall, den die Umwelt nur als lächerlich empfinden kann. Philinte spricht es deutlich aus: Et puisque la franchise a pour vous tant d'appas, Jes vous dirai tout franc que cette maladie, Partout où vous allez, donne la comédie, Et qu'un si grand courroux contre les moeurs du temps Vous tourne en ridicule auprès de bien des gens. (I, 1)
Für Alceste freilich wird das Verdikt der Lächerlichkeit zum Ausweis der eigenen Besonderheit: Tant mieux, morbleu! tant mieux, c'est ce que je demande, Ce m'est un fort bon signe, et ma joie en est grande (...) (I, 1)
Es wird für ihn ein Genuß sein, den eigenen Prozeß zu verlieren, bloß um sich in seiner Misanthropie bestätigt zu wissen: J'aurai le plaisir de perdre mon procès (...) Je verrai, dans cette plaiderie, Si les hommes auront assez d'effronterie, Seront assez méchants, scélérats et pervers, Pour me fair injustice aux yeux de l'univers. (I, 1)
Dieser Mann fordert gleichsam sein Jahrhundert in die Schranken. Seine Freunde respektieren diese Haltung, bewundern sie und können sie doch nicht billigen. Célimènes Scharfsinn erkennt die Hybris, die in Alcestes maßlosen Forderungen liegt: Mais de tout l'univers vous devenez jaloux. (II, 1)
Sie erkennt die Schwäche, die darin liegt, daß für Alceste der Widerspruch zum Selbstzweck wird, daß er glaubt, sich schuldig zu sein, sich niemals mit der Meinung der anderen einverstanden zu erklären: Il prend toujours en main l'opinion contraire, Et penserait paraître un homme du commun, Si l'on voyoit qu'il fût de l'avis de quelqu'un. (II, 4)
In der Tat hat Alceste ein fatales Bedürfnis, in jeder Hinsicht anders zu sein. Ja, er will sich gerade dadurch auszeichnen: Je veux qu'on me distingue. (I, 1)
Darin liegt eine Anmaßung, die ihn letztlich verurteilt, wie sehr er auch moralisch im Recht sein mag. Die Sonettszene mit Oronte ist charakteristisch für die Manie, sich partout über Kleinigkeiten zu ärgern, sich Feinde zu schaffen, bloß um total anders zu sein. Er baut seinen kleinen Ärger zur Staatsaffäre auf, schießt, wie Max Wolff griffig formuliert, mit Kanonen auf Spatzen. Größe und Unbedingtheit seiner Hal87
tung stehen im Mißverhältnis zu den Anlässen. Daran kann auch Eliantes Auffassung nichts ändern, die Alceste bescheinigt: (...) la sincérité dont son âme se pique, A quelque chose, en soi, de noble et d'héroïque. C'est une vertu rare au siècle d'aujourd'hui, Et je la voudrais voir partout comme chez lui. (IV, 1)
Eliantes Bewunderung gilt einer moralischen Haltung, die heroisch die Tugenden einer vergangenen Zeit gegen die Korruption der Gegenwart hochhält. Vor Tisch, und d. h. in früheren Stücken Molières, las man's anders: die Tugenden, auf die ein Sganarelle und andere Vertreter der älteren Generation sich beriefen, erscheinen als Negation einer der Natürlichkeit und Vernunft verschriebenen jüngeren Generation. Vor der Interpretation, daß hier zwei ganz verschiedene Ebenen vorliegen, hat Molière selbst eine Schranke aufgerichtet, indem er zwischen dem Misanthrope und der École des maris eine unmittelbare Beziehung herstellte. Folgt man dieser Spur weiter, dann springen zwei Umstände unübersehbar ins Auge: - Sganarelle und Arnolphe sind reiche Bürger, die sich für ihren egoistischen Anspruch auf jene Tugenden berufen, die sie reich gemacht und sozial aufgewertet haben. Alceste dagegen ist Angehöriger des Hochadels. - Sganarelle und Arnolphe sind ältere Männer, die mit ihrer eigenen Familie, vor allem mit den Söhnen, Töchtern und Mündeln, einen Generationskonflikt austragen. Alceste dagegen haben wir uns als einen sehr jungen Mann vorzustellen. Daraus ergibt sich für uns die Notwendigkeit, angesichts der von Molière selbst hergestellten Beziehung zwischen dem Misanthrope und der École des maris sowohl die Gleichheit wie die Ungleichheit dieser thematischen Beziehung zu untersuchen. Alcestes Haltung ist derjenigen eines Sganarelle insofern gleich, als sie die rigorosere Gesittung einer vergangenen Epoche als Norm für die Beurteilung der Gegenwart setzt. Und sie ist ungleich insofern, als diese Norm das eine Mal von einem jungen Mann promulgiert wird. Der Widerspruch löst sich, wenigstens teilweise, wenn wir in Betracht ziehen, daß es in dem einen Fall um das reichgewordene Bürgertum geht, in dem anderen um denn politisch entmachteten und an die monarchisch-höfische Kandare gelegten 'Schwertadel geht. Ist diese Prämisse richtig, dann hat Molière diese beiden Fälle durchaus verschieden gesehen und beurteilt; diese Hypothese würde zwar kompliziert, aber nicht beeinträchtigt, wenn wir zu der Auffassung kämen, daß gleichwohl eine partielle Identität besteht. Mit anderen Worten: was ungleich ist infolge der sozialen Verschiedenheit ;und der historischen Entwicklung, ist teilweise gleich infolge der historischen Zeitgleichheit und der gesellschaftlichen Totalität. Die Gleichheit, genauer: die partielle Gleichheit des Verschiedenen, wäre dann darin zu sehen, daß die neue Gesittung für alle sozial relevanten Schichten gültig ist. Von der Lächerlichkeit, welche das Schicksal des bornierten Sganarelle ist, bleibt daher auch Alceste nicht völlig verschont. Die Vorgeschichte der absolutistischen Gesellschaft kann nicht aufgerufen werden als moralisches Muster, ohne peinlich zu berühren, ja, ohne lächerlich zu wirken. Darin liegt die Gemeinsamkeit. Wir dürfen jedoch den Unterschied nicht aus den Augen verlieren: die Borniertheit der 88
Sganarelles, die sich auf die bürgerlichen Tugenden von einst beruft, wird dem weiteren Aufstieg eben dieses Bürgertums eher zur Fessel als zum Impuls. Die Rückkehr Alcestes zu den alten Tugenden des Adels aber evoziert die heroische geschichtliche Zeit eben dieses Adels, die endgültig vergangen ist. Sie zu evozieren heißt, diesen Adel an eine Autonomie zu erinnern, vor der seine jetzigen Lebensinhalte zum bloßen Surrogat verblassen. Solche Erinnerung aber, brutal vorgetragen als Infragestellung aller neuen Lebenswerte, ist inakzeptabel für eine soziale Schicht, die sich mit ihrer neuen Rolle abgefunden hat und aus der historischen Not dieser Rolle längst eine Tugend gemacht hat, die noch einmal, und allein, ihre privilegierte Stellung legitimiert. Ich glaube, daß sich die Ambivalenz des Misanthrope und das noch immer verborgene Geheimnis dieses Werks am ehesten erschließen ließe auf dem Wege, den ich angedeutet habe. Ich möchte jetzt nur noch einige Feststellungen treffen, die zu einem allgemeinen Verständnis des Misanthrope notwendig sind. Sie sind vorwiegend charakterologischer Natur und tragen dem Umstand Rechnung, daß Molières Stück eine Charakterkomödie ist. Das geschieht mit dem Vorbehalt, daß die Darstellung von Charakteren für uns nicht ein Apriori darstellt, sondern literarische Charaktere unseres Erachtens Resultat und Funktion gesellschaftlicher Verhältnisse sind, individualisierte Typen im besten Sinne der Repräsentation konkreter Lebensverhältnisse, Individualitätsformen bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse. Wir dürfen von einer unbezweifelbaren Grundtatsache ausgehen: Molières Komödie ist hier – mehr noch als sonst – Satire, Gesellschaftssatire, diesmal eingeschränkt auf den höfischen bzw. vom Hof völlig affizierten Adel. Diese Satire bliebe unvollständig, ja unglaubwürdig, wenn sie sich allein auf die sture, kohlhasig verbohrte Rechthaberei und Menschenfeindlichkeit des Alceste stützte. Das hat bereits ein scharfsinniger zeitgenössischer Kritiker erkannt: der Schriftsteller und Journalist Donneau de Visé. Wir kennen ihn u.a. als einen der hartnäckigsten Feinde Molières. Doch Donneau de Visé hat sich – wer weiß aus welchen Gründen – nach dem Dom Juan zu dessen Dichter bekehrt und eine Kritik des Misanthrope geschrieben, in der es heißt: »Je vous laisse à penser si ces deux personnes (gemeint sind Alceste und Célimène) ne peuvent pas naturellement parler contre toute la terre, puisque l'un hait les hommes, et que l'autre se plaît à en dire tout le mal qu'elle en sait. En vérité, l'adresse de cet auteur est admirable: ce sont là de ces choses que tout le monde ne remarque pas, et qui sont faites avec beaucoup de jugement. Le Misanthrope seul n'aurait pu parler contre tous les hommes; mais en trouvant le moyen de le faire aider d'une médisante, c'est avoir trouvé, en même temps, celui de mettre, dans une seule pièce, la dernière main au portrait du siècle. Il y est tout entier, puisque nous voyons encore une femme qui veut paraître prude opposée à une coquette, et des marquis qui représentent la cour: tellement qu'on peut assurer que, dans cette comédie, l'on voit tout ce qu'on peut dire contre les moeurs du siècle.« 33 Diese Beschreibung ist völlig zutreffend. Célimènes Sicht der Gesellschaft ist ebenso illusionslos wie diejenige Alcestes, ja sie ist illusionsloser insofern, als sie eben nicht glaubt, daran etwas ändern zu können. Schärfer als sie es in der be33
Molière, op.cit., S. 132. 89
rühmten Porträtszene tut, könnte auch Alceste die prätentiöse Hohlköpfigkeit ihrer adligen Zeitgenossen nicht entlarven. Auch die prüde Arsinoé ist, wie Donneau de Visé ebenfalls gesehen hat, keineswegs blind. Molière hat ihr nicht allein die Aufgabe gestellt, sich selber als Produkt dieser Gesellschaft zu offenbaren, sondern hat ihr genug Scharfsinn mitgegeben, die anderen bloßzustellen. Donneau de Visé hat auch die Gestalt des Philinte in seine Betrachtung einbezogen: L'ami du Misanthrope est si raisonnable que tout le monde devrait l'imiter: il n'est ni trop, ni trop peu critique (...) sa conduite doit être approuvé de tout le monde. 34
Antoine Adam kommentiert dieses Zitat mit den Worten: Telle est très certainement la vérité. Philinte est raisonnable. Molière l'approuve et sans doute lui porte envie. Il n'est ni lâche, ni complaisant. 35
In der Tat, Philinte ist ebenso illusionslos wie Alceste, aber der Standpunkt der Illusionslosigkeit bezieht bei ihm denjenigen des Alceste mit ein. Nach Antoine Adam vertritt Philinte die Philosophie Gassendis gegen den cartesianischen Rigorismus. Jedenfalls ist Philinte von tiefer Skepsis erfüllt gegenüber dem penetranten Weltverbesserer, der die menschliche Natur verkennt. Er setzt taktvolle Verstellung als Voraussetzung menschlichen Zusammenlebens gegen die rücksichtslose Offenheit. Die Welt wird dadurch nicht besser, daß jeder meint, er sei im Besitz der Wahrheit und müsse daher seine Mitmenschen dazu zwingen, sich zu dieser Wahrheit zu bekennen, oder aber sie im Weigerungsfall in die Pfanne hauen. Philinte erkennt, daß seinem Freund etwas fehlt, wofür die französische Sprache allerdings den adäquaten Ausdruck damals noch nicht gefunden hat, nämlich: Toleranz. Es geht nicht um ein primitiv simplifizierendes Entweder-Oder, Recht oder Unrecht, Wahrheit oder Lüge. Alceste ist ebenso im Recht wie Philinte, denn an der Lauterkeit seiner Gefühle ist kein Zweifel möglich. Man kann daher nicht über ihn lachen wie über Sganarelle und andere. Weshalb ist er trotzdem ridicule – ridicule in den Augen seines Freundes Philinte wie auch in den Augen Molières? Um diese Frage zu beantworten, wollen wir uns der Definition des ridicule bedienen, welche der Chevalier de Jaucourt in dem Artikel Ridicule der Encyclopédie française gegeben hat. Wir lesen dort: La difformité qui constitue le ridicule, sera (...) une contradiction des pensées de quelque homme, de ses sentiments, de ses moeurs, de son air, de sa façon de faire, avec la nature, avec les lois reçues, avec les usages, avec ce que semble exiger la situation présente de celui en qui est la difformité. 36
Man möchte fast meinen, der Verfasser dieses Enzyklopädieartikels hätte sich an der Handlung des Misanthrope orientiert für seine Definition. Dem ist vermutlich nicht so gewesen. Trotzdem ist diese Definition aufschlußreich. Difformité ist sehr 34 35 36
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Zit. nach Antoine Adam, op.cit., Bd. III, S. 352. Ebd., S. 352. Encyclopédie ou dictionnaire universel raisonné des connoissances humaines, Tome XXXVII, Yverdon 1774, S. 31.
schnell zu bestimmen als Gegensatz von conformité. In der Tat wäre Alcestes Haltung fixierbar auf einen prinzipiellen Antikonformismus. Wir würden es uns indessen zu leicht machen, blieben wir dabei stehen. Die difformité ist für den Chevalier de Jaucourt essentiell die Unangemessenheit von Denken und Handeln an die reale Situation. Darin und deshalb wird sie ridicule und somit auch Gegenstand des Komischen, der Komödie. Mit der Komik der Farce hat dieses ridicule freilich nur noch wenig gemeinsam. Alceste ist nicht in erster Linie ein outsider, ein Sonderling, ein Protestler, ein Rebell, sondern er will es sein. Seine Niederlagen werden ihm nicht auferlegt, sondern er provoziert sie selbst, um sich zu bestätigen in der erhabenen Einsamkeit seines unermeßlichen und alles Maß verachtenden Geltungsanspruchs. Und gerade in diesem Anspruch ist er, ohne es zu wissen, der Sklave dieser verhaßten Gesellschaft: »je veux qu'on me .distingue « – damit will er eigentlich nichts anderes, als was alle wollen – nur mit anderen Mitteln. Indem er seinen persönlichen Fall als exemplarisch hinstellt und als exemplarisch-universell kultiviert, wird er zum Fetischisten seines eigenen Falls, zum Fetischisten einer Selbstachtung, die sich darauf stützen muß, daß er vorgibt, die Wahrheit der eigenen Meinung begründe sich bereits daraus, daß sie der Meinung seiner Umwelt grundsätzlich widerspricht. Der Fanatismus der sincérité erschöpft sich schließlich im Widerspruch um seiner selbst willen – obwohl er moralisch im Recht ist gegen die gesellschaftliche Lüge und Konvention, gegen das Cliché, gegen den heuchlerischen Konformismus. Ehre und Ehrenhaftigkeit, die sich auf nichts stützt als auf den Mechanismus des Widerspruchs, unterwirft sich selbst und seinen ursprünglichen sittlichen Impuls einem bloßen automatischen Reagieren, einer Selbstgefälligkeit, die meint, sie dürfe den anderen Menschen nichts mehr verdanken, weil alle anderen schlecht sind. Die Hybris der Vorstellung, daß man selbst ein Ausnahmemensch sei, allein im Recht gegen eine Welt von Schurken, Heuchlern, Feiglingen und Opportunisten, verwandelt das Pathos des sittlichen Protests in den pathologischen Fall des Rechthabers, der außer der eigenen absoluten Wahrheit keine anerkennt und den nur die Gesellschaft daran hindert, sich tyrannisch diese Gesellschaft zu unterwerfen. Eliante nennt die Haltung Alcestes »noble et héroïque», wohl wissend, daß sie obsolet ist, und ahnend, daß sie unter völlig veränderten sozialgeschichtlichen Verhältnissen einmal eine revolutionäre Kraft entbinden wird – freilich nicht mehr im Sinne des Adels. In der Welt der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wird das Pathos des Helden zur maladie, sein Bedürfnis nach sincérité pathologisch. An der skeptischen Sympathie Molières für seinen Helden ist sowenig Zweifel möglich wie an der Sympathie und Freundschaft Philintes und Eliantes, ja der Neigung Célimènes für Alceste. Trotzdem sind der Dichter und seine Personen gezwungen, ihren Helden scheitern zu lassen. Man könnte es auch umgekehrt sagen: der Held selbst zwingt seinen Autor und seine Freunde, sich von ihm – trotz aller Sympathie – loszusagen! Das gilt in einem ganz spezifischen Sinn auch von Célimène. Célimène verkörpert den Typus der Koketten; der Text bescheinigt es explizit. Zwanzig Jahre alt, lebenslustig, mit scharfem, ätzendem Esprit ebenso ausgestattet wie mit Charme, spielt sie mit ihren zahllosen Anbetern. Allzu sicher geworden, verliert sie das Maß,
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das dem Gesellschaftsspiel der médisance gesetzt ist. Sie wird jedoch aus der Niederlage nicht gedemütigt und reuevoll hervorgehen, wie Alceste hofft, sondern gestärkt. Ihre Natur kann sich nur dort entfalten, wo sie wirklich zu Hause ist, nämlich in der mondänen Gesellschaft. Célimène ist ein Teil von ihr, verkörpert deren Schwächen und Stärken. Alceste müßte sie mehr hassen als die Gesellschaft selbst, finden sich in ihr doch alle Momente vereinigt, um deretwillen er diese Gesellschaft verabscheut. Und doch muß er eingestehen: »sa grâce est la plus forte« (I, 1). Er erkennt nicht, daß eben diese grâce, die ihn so fasziniert, daß er erst am Schluß und unter Schmerzen von ihr loskommt, von jenen Fehlern der Gesellschaft bedingt ist. Alceste begehrt von Célimène Unmögliches, denn er verlangt den Verzicht auf ihren Lebensgrund. Es ist falsch, ihr Herzlosigkeit vorzuwerfen, ebenso wie es falsch ist, sie als eine Gedemütigte von der Bühne abtreten zu lassen. Madeleine Renaud dürfte in einer berühmt gewordenen Inszenierung das Richtige getroffen haben, indem sie eine Célimène darstellte, die in beherrschtem Trotz die Szene verläßt, traurig berührt zwar von der Trennung von Alceste, der ihr doch der Liebste gewesen war, aber sichtlich entschlossen, aus der Erfahrung zu lernen und sich erneut die Stellung einer Fürstjn im Leben der Gesellschaft zu erobern. Kehren wir noch einmal zum Protagonisten des Stückes zurück. Sein Ideal ist die sincérité. Er will sie im Alleingang verwirklichen ohne jede Rücksicht auf die Umwelt, stößt alle Menschen, selbst seine Freunde, vor den Kopf. Vergeblich warnt ihn sein Freund Philinte, daß es sich nicht leben ließe unter Menschen, wenn man immer sage, was man denkt. Alceste ist bereit, die Konsequenzen zu ziehen, nachdem er erkannt hat, daß er zwar dieser Gesellschaft den Prozeß machen, sie aber nicht ändern kann. Sein quijoteskes Ideal der unbedingten sincérité ist der absolute Gegenpol zu der fundamentalen Unaufrichtigkeit, die das Lebensgesetz der höfischen Gesellschaft unter dem Absolutismus ist. Unaufrichtigkeit ist ihre Basis, Voraussetzung ihres Funktionierens, Bedingung eines Zusammenlebens, Unaufrichtigkeit allein bewahrt die Mitglieder dieser Schicht vor der Erkenntnis der Nichtigkeit, der sie ausgeliefert wäre ohne die geschäftige Affirmation ihrer höfischkultivierten und ästhetisierten Statistenrolle. Ich habe Alcestes Wahrheitsfanatismus »quijotesk« genannt. In der Tat kämpft er mit Windmühlen, ja, wie Don Quijote wird ihm in der Gesellschaft eine Art von Narrenfreiheit eingeräumt. Ganz Ähnliches meint Werner Krauss, wenn er schreibt: » [Alceste] steigert sich allerdings derart in seine Rolle hinein, daß er zu einem Musterbild der Species humana wird. Ein exemplarisches Dasein aber ist schon an sich höchste Wirksamkeit! Alceste verfällt also in den Irrtum all derer, die mit der Heiligung oder ideologischen Verklärung ihrer Existenz sich selbst und die Welt zu verändern wähnen. In dem ganzen Stück bleibt er untätig in der Erwartung, daß die Menschen sich unter der läuternden Einwirkung seines Wesens bessern. In Wahrheit vermag er sie nicht einmal zu verscheuchen. Er wird zu einem Schaustück, ja, er macht sich mit seiner Misanthropie beliebt und unentbehrlich, denn sie bestärkt den Hang der zersetzenden Kritik, die zu nichts verpflichtet und in der ohnmächtigen Tugend noch einen Lebensgrund findet. « 37 Alcestes Moral der sin37
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Werner Krauss, op.cit., S. 364.
cérité ist der genaue Gegensatz zu jeder fundamentalen Unaufrichtigkeit. Nicht dieser Umstand als solcher macht seine allzu ausschließliche Haltung ridicule, sondern die Berufung dieser Haltung auf die Ethik einer vergangenen Zeit. So jedenfalls verstehen es Philinte, Eliante und der Autor. Diese Haltung hat freilich auch noch einen anderen Aspekt, denjenigen der Zukunft. Er war für die Zeitgenossen, einschließlich Molières selbst, sehr viel schwerer erkennbar, wenn nicht überhaupt in seiner Tragweite verborgen. Alcestes bedingungs- und rücksichtslose sincérité ist der von der höfischaristokratischen Gesellschaft produzierte Selbstwiderspruch, die selbsterzeugte Antithese zu der Unaufrichtigkeit, die das Wesen dieser Gesellschaft ausmacht. Die radikale Absage an diese Gesellschaft, die sich in dem extremen Charakter des Misanthrope zu Wort meldet, ist genial antizipiertes Resultat einer Dialektik, die erst bei Rousseau ins Bewußtsein tritt. Für Rousseau ist Alceste der natürliche Mensch, und Rousseau konnte es Molière nicht verzeihen, diesen Menschen zum Gegenstand einer Komödie gemacht zu haben. Das Mißverständnis ist evident: Molière mußte seinen Helden und dessen Wahrheit im Stich lassen. Die Zeit war nicht reif, ihn und seine Moral als allein sittliche zu konzipieren. Doch die Lächerlichkeit, der Molière seinen Helden überantwortet, ist lediglich demjenigen bestimmt, der sich im hypertrophem Bedürfnis nach Selbstachtung freiwillig, unnötig und in masochistischer Selbstbemitleidung isoliert und vereinsamt. In der totalen Misanthropie, im Menschenhaß, wird die erstrebte individuelle Freiheit von der korrupten sozialen Norm zur Intoleranz und schlägt damit um in ein menschenfeindliches Prinzip. Alceste will der authentische Mensch sein, den seine Zeit als Vorstellung, als Antithese ihrer selbst produziert, jedoch nicht akzeptieren kann. Ja, sie muß seine Wahrheit exorzisieren vermittels einer Ridikulisierung. Die an der Gestalt Alcestes aufgezeigte Sterilität des Anspruchs auf totale Verwirklichung absoluter Lebenswerte im Sinne der individuellen Authentizität ist vielleicht die tiefste Kritik, die Molière an der Gesellschaft seiner Zeit geübt hat, gerade auch deshalb, weil er eben dieser Gesellschaft zugestehen mußte, daß sie ihrerseits – noch – im Recht war, sich gegen eine Infragestellung zu wehren, die ihre Existenz bedrohte. Diese Existenz war nun einmal an die Lebensform gebunden, die ihr der Absolutismus aufgezwungen hatte. Die konkrete historische Situation mit den ihr immanenten dialektischen Widersprüchen hat hier eine Problematik entbunden, deren unverlorene Aktualität- wie ich hoffe – deutlich geworden ist. Diese Aktualität – d. h. jene einmal gefundene menschliche Wahrheit und Problematik – ist das, was allzu idealistische Literaturwissenschaft gerne als » Zeitlosigkeit« des großen Kunstwerks verbrämt. Ich hoffe, wenigstens andeutungsweise gezeigt zu haben, wie zeitbedingt die Entdeckung solcher »zeitlosen« künstlerischen Problematik und Wahrheit über den Menschen ist. Das Problem des Misanthrope ist auch das Problem des Rechts, der Pflicht oder der Verweigerung des Kompromisses. Nicht nur Philinte, sondern auch der Autor entscheiden sich für Notwendigkeit und Berechtigung des Kompromisses, ohne den Respekt vor demjenigen zu verlieren, der sich ihm verweigert und sich somit zur Einsamkeit – und Wirkungslosigkeit -verurteilt. Es wäre für das Verständnis des Misanthrope vielleicht nicht unnütz, die von Goldmann für die Deutung Racines verwendete komplexe Kategorie des Kompromisses mutatis mutandis auch auf
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Molière zu applizieren. Die Rezeptionsgeschichte beweist es: Tragödie und Komödie standen sich noch nie so nahe wie im Misanthrópe. Das Lachen erstickt, kaum daß es aufgebrochen ist. Das Stück kann komisch und tragisch inszeniert werden. Liest man es, so wird man gewahr, daß weder das eine noch das andere ausschließlich gelten kann. Es war weniger meine Absicht, den vielen Interpretationen des Misanthrope eine neue hinzuzugesellen. Es ging mir vielmehr darum zu zeigen und deutlich zu machen, daß und warum Molières Werk in diesem Stück gipfelt, dessen Gehalt an Wahrheit noch weit davon entfernt ist, erschöpft oder gar verbraucht zu sein. Ich habe bereits erwähnt, daß der Misanthrope nur ein mäßiger Theatererfolg war. Der Médecin malgré lui (1666) mußte den finanziellen Schaden ausgleichen. Wenig später schrieb Molière für die höfischen Festlichkeiten von Saint-Germain die Ballettkomödien Le Sicilien ou l'Amour peintre (1667) und Mélicerte (1666), eine Pastoralkomödie.
» Amphitryon « und das Labyrinth der biographischen MolièreForschung Amphitryon wurde uraufgeführt am 13. Januar 1668. Wer Molières Amphitryon würdigen will, muß imstande sein, die literarische Geschichte des Stoffs von Plautus bis Kleist, Giraudoux und Peter Hacks zu verfolgen. Molière verdankt am meisten seinem unmittelbaren Vorgänger Rotrou (Les deux Sosies). Vom ursprünglichen mythischaitiologischen Gehalt der Geschichte – nämlich der wunderbaren Zeugung des Herakles, zu deren Behuf Jupiter in Gestalt des Amphitryon dessen Gemahlin Alkmene göttlich beischläft – ist bei Molière nichts übriggeblieben. Seinen Amphitryon, für den der Dichter aus der Scherzdichtung und aus den Contes von Lafontaine erstmals die Form des vers libre entlehnt, muß man sich als aufwendig-pompöse Theaterbelustigung vorstellen, mit einer Inszenierung, in welcher die damalige Technik alles, was sie beherrscht, nutzt, um Jupiter und Merkur unter Donner und Blitz zu den Irdischen herniederfahren zu lassen. Die Göttin der Nacht folgt – sie hat puritanische Anwandlungen – nur widerstrebend dem Befehl des olympischen Herrschers, noch solange zu verweilen, bis er sein erschlichenes Schäferstündchen mit Alkmene unter Dach und Fach hat. So ganz zufrieden ist der Göttervater nicht mit seinem Erfolg, hatte er doch den Ehrgeiz entwickelt, nicht als Gott, sondern als Mann geliebt zu werden. Darin können die Himmlischen mit den Sterblichen offenbar nicht konkurrieren. Jupiter muß resigniert feststellen: Et c'est moi, dans cette aventure, Qui, tout dieu que je suis,, dois être le jaloux. (III, 10)
Die frohe Nacht mit dem Olympier hat zum Ergebnis, daß Alkmene ihren Amphitryon mehr liebt als je zuvor. Selbiger ist nicht so ganz überzeugt vom tieferen Sinn des Geschehens, auch wenn die ihm aufgesetzten Hörner so göttlich vergoldet sind, wie Jupiter ihm tröstlich bedeutet.
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Dem Diener Sosie/Sosias, der mehr Glück hatte, weil Merkur in seiner Maske das Schäferstündchen mit der Frau des Sosias zu deren höchstem Mißvergnügen verschmäht hat, ist es vorbehalten, das Werk mit dem vernünftigen Fazit zu beschließen: Sur telles affaires, toujours Le meilleur est de ne rien dire. (III, 10)
Der Amphitryon ist bis heute ein gefundenes Fressen für Historiker und Biographen des 17. Jahrhunderts. Als Molière den Amphitryon schrieb, wußte jeder am Hof, daß das Verhältnis Ludwigs XIV. mit Louise de la Vallière zu Ende ging. Die zarte Lavallière hatte ihm etliche Kinder geboren und nährte mehr und mehr religiöse Skrupel. Ludwig hatte ohnehin Ärger in diesen Tagen. Die sittenstrenge Herzogin von Navailles hatte es gewagt, die Zugänge zu den Hofdamen zu verbarrikadieren, bei denen der König sich während der amourösen Durststrecken Trost zu holen pflegte. Natürlich bekam ihr das schlecht: sie wurde vom Hof verbannt und erhielt eine großzügigere Nachfolgerin in der Person der Tochter der berühmten Marquise de Rambouillet, der Duchesse de Montausier. Wichtiger in unserem Zusammenhang aber ist der Umstand, daß Ludwig sich in dieser Zeit intensiv um die Marquise de Montespan bemühte, die zwar entschlossen war, den Rang einer königlichen Mätresse zu akzeptieren, sich aber einigermaßen zierte, um sich kostbar zu machen. Der Ehemann, der Marquis de Montespan, besaß die Kühnheit, sich gegen seinen cocuage zu sträuben, was in Hofkreisen allgemein als höchst ungebührlich empfunden wurde und als überaus unklug, hatten doch Ehemänner von Frauen, über denen die königliche Gunst strahlte, entweder Ungnade oder – wenn sie beide Augen zudrückten – lukrative Ämter zu erwarten. Amphitryon – so meinen nun viele Forscher – ist der Marquis de Montespan, Alkníene seine Frau und Jupiter natürlich Ludwig XIV. Der abschließende Ratschlag des Sosias, den ich zitiert habe, hätte neben seiner allgemeinen Gültigkeit dann auch eine Empfehlung für den aufmüpfigen Ehemann zum Inhalt. In der Tat hat sich dieser schließlich abgefunden mit der Sentenz, die bei Molière lautet: Un partage avec Jupiter N'a rien du tout qui déshonore (...) (III, 10)
Ich will auf die Kontroversen, die sich in der Molière-Forschung an diese immerhin sehr auffällige historische Parallelität knüpfen, nicht eingehen. Um Ehebruch geht es auch in der im Juli 1668 aufgeführten Komödie Georges Dandin. Ich habe sie im Zusammenhang mit dem Thema der Eifersucht kurz behandelt und will es dabei belassen.
»L'Avare« und die Balance zwischen Scherz und Bedrohlichkeit Mehr Aufmerksamkeit verdient das Werk, das Molière im September des gleichen Jahres 1668 dem Publikum vorstellte: L'Avare, ein Fünfakter in Prosa. Das Stück 95
gehört zu den großen und umstrittenen Komödien Molières, wie der Misanthrope. Mit dem Misanthrope hat es gemein, daß das zeitgenössische Publikum es ziemlich kühl aufnahm. Der Uraufführung folgten nur zwölf weitere Aufführungen, und es stellt sich wie im Falle des Misanthrope die Frage, ob und weshalb hier einer Zuschauerschaft, die gekommen war, um zu lachen, das Lachen vergangen ist. Es mag zunächst daran liegen, daß der Geiz Harpagons unheilbar ist. Ein Vergleich mit dem Orgon des Tartuffe drängt sich auf. In beiden Stücken hat eine ganze Familie unter einem Vater zu leiden, dessen Monomanie alle menschlichen Bindungen zu untergraben und das Unglück aller heraufzubeschwören droht. Anders als Orgon ist jedoch Harpagon nicht zu heilen und schlechthin gefährlich. Der Tyrann, zu dem ihn das Laster des Geizes und der Raffgier macht, demoralisiert nicht nur seine ganze Umgebung, sondern zwingt diese, selber zu geradezu kriminellen Mitteln zu greifen. Orgon wird geliebt, obwohl seine devote Hörigkeit gegenüber Tartuffe die Familie an den Rand des Abgrunds treibt; Harpagon erntet Haß. Dieser Umstand dürfte es vor allem gewesen sein, der Goethe zu seinem vielzitierten Urteil über den Avare veranlaßte. In einem Gespräch mit Eckermann heißt es über Molière: Sein Geiziger, wo das Laster zwischen Vater und Sohn alle Pietät aufhebt, ist besonders groß und in hohem Sinne tragisch. 38
Bei allem Respekt können wir diesem Urteil nicht ohne Einschränkung beipflichten. Andererseits erscheint er uns völlig unzulässig, den Avare als reines Lustspiel zu deuten und Harpagon als bloß komische Figur aufzufassen, wie dies Antoine Adam tut: Ce vieillard (...) est un bouffon (...) Ce tyran est seulement ridicule. Il est au plus haut point comique (...). 39
Zu dieser letzteren Auffassung kann man nur kommen, wenn man diejenigen Elemente als maßgebend und bestimmend ansieht, die dazu dienen, eine Figur wie Harpagon für den zu einer Komödie geladenen Zuschauer überhaupt noch erträglich zu machen. Für Harpagon ist jeder Mensch ein potentieller Dieb. Das geht in dem berühmten Monolog, auf den ich noch zu sprechen komme, soweit, daß er sich selber verdächtigt! Er untersucht die Taschen seiner Diener. Dem Diener La Flèche gebietet er, nachdem er ihn einer Leibesvisitation unterzogen hat, seine Hände vorzuzeigen: Montre-moi tes mains. La Flèche: Les voilà. Harpagon: Les autres. La Flèche: Les autres? Harpagon: Oui. La Flèche: Les voilà. (I, 3) Harpagons Stellung in der Welt verpflichtet ihn, dann und wann Gäste zum Essen einzuladen. Seine größte Sorge ist, daß die Gäste nicht zuviel verzehren. Die Diener müssen die Löcher in ihren abgewetzten Livreen mit Händen oder Hüten bedecken. Die Pferde, die er seines Ansehens wegen halten muß, sind seiner Sparsamkeit wegen so ausgehungert, daß sie vor Schwäche nicht mehr aus dem Stall 38
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Johann Wolfgang von Goethe, »Gespräche mit Eckermann, 12. Mai 1825«, in: op.cit., S. 158. Antoine Adam, op.cit., Bd. III, S. 374.
treten können. Harpagon stellt den jungen Valère als Verwalter ein, weil er keinen Lohn verlangt, nicht ahnend, daß Valère sich in seine Tochter Elise verliebt hat, die Harpagon an einen alten, aber reichen Mann verschachern will, der vor allem eines nicht fordert: eine Mitgift. Unvergeßlich ist die Szene, in welcher das Leitmotiv sans dot wie eine magische Beschwörung der Geizbefriedigung sich im Munde Harpagons mehrfach wiederholt. Valère steigt im Ansehen Harpagons, als er ihm ein geeignetes Sprichwort als antike Weisheit verkauft: (...) il faut manger pour vivre, et non pas vivre pour manger. (III, 1)
Das ist so ganz nach dem Herzen Harpagons: Voilà la plus belle sentence que j'aie entendue de ma vie. (III, 1)
Valère muß ihm das schriftlich geben. Jede Ausgabe ist für Harpagon ein Greuel. Daher hat er eine Abscheu vor dem Wort donner. Ein Diener bescheinigt es ihm: Donner est un mot pour qui il a tant d'aversion, qu'il ne dit jamais: Je vous donne, mais: je vous prête le bonjour. (II, 4)
Selbst der Gruß wird nur geliehen. Von Maître Jacques, der im Haushalt Harpagons die Dienste eines Kochs und eines Kutschers zugleich versehen muß, um einen Bedienten zu sparen, verlangt er einmal Auskunft darüber, was die anderen Leute von ihm denken. Nach einigem Zögern gibt Maître Jacques wieder, was öffentlich von seinem Herrn gesagt wird: daß er besondere Kalender drucken lasse, in denen doppelt so viele Fastentage verzeichnet seien als sonst, damit er in seinem Haushalt Mahlzeiten einsparen kann; daß er kurz vor Neujahr einen Streit mit seinen Dienern vom Zaun breche, um ihnen die üblichen Geschenke vorenthalten zu können; daß der Kutscher ihn einmal dabei überrascht hat, wie er seinen eigenen Pferden den Hafer wegstehlen wollte; daß er einmal einer Katze eine gerichtliche Vorladung zuschicken ließ, weil sie ihm den Rest einer Mahlzeit weggefressen hatte. Maître Jacques beschließt das erbauliche Porträt seines Herrn mit den Worten: (...) vous êtes la fable et la risée de tout le monde; et jamais on ne parle de vous, que sous les noms d'avare, de ladre, de vilain et de fesse-mathieu. (III, 1)
Maître Jacques bezieht Prügel für die Wahrheit, die zu sagen ihm befohlen worden war. Für den Zuschauer, der gekommen ist, um zu lachen, verbergen die soeben erwähnten Züge nur vorübergehend die Gefährlichkeit Harpagons, indem sie die Grenze zwischen Scherz und Ernst dadurch verwischen, daß sie die Äußerungen des krankhaften Geizes ins Groteske verzerren. Molière hat sich in diesen, den beklemmenden Eindruck der finsteren Hauptfigur etwas neutralisierenden Szenen aller Mittel seiner Kunst bedient, der Farce, des Quiproquo (d. h. der komischen Personenverwechslung), der lazzi der Commedia dell'arte; vor allem aber eines Verfahrens, das Robert Garapon als fantaisie verba-
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le bezeichnet hat. 40 Gemeint sind damit Dialoge aus symmetrisch und parallelistisch aufgebauten Sätzen, deren Wiederholungen Antithesen entfalten, begleitet von entsprechenden Gesten und Schritten. Ein Beispiel liefert die Szene der unerwarteten Begegnung zwischen Harpagon, als Wucherer, und Cléanthe, als kreditsuchendem Sohn, eine Szene, auf die ich noch zu sprechen komme. Ein anderes diejenige Szene, in welcher Harpagon seiner Tochter Elise erklärt, sie müsse den »seigneur Anselme«, jenen alten Herrn, der keine Mitgift verlangt, heiraten: Élise: Au seigneur Anselme? Harpagon: Oui, un homme mûr, prudent et sage, qui n'a pas plus de cinquante ans, et dont on vante les grands biens. Élise. Elle fait une révérence: Je ne veux point me marier, mon père, s'il vous plaît. Harpagon. Il contrefait la révérence: Et moi, ma petite fille ma mie, je veux que vous vous mariiez, s'il vous plaît. Elise: Je vous demande pardon, mon père. Harpagon: Je vous demande pardon, ma fille. Elise: Je suis très humble servante au seigneur Anselme; mais avec votre permission, je ne l'épouserai point. Harpagon: Je suis votre très humble valet; mais, avec votre permission, vous l'épouserez dès ce soir. Élise: Dès ce soir? Harpagon: Dès ce soir. Elise: Cela ne sera pas, mon père. Harpagon: Cela sera, ma fille. Elise: Non. Harpagon: Si. Elise: Non, vous dis-je. Harpagon: Si, vous dis-je. Elise: C'est une chose où vous ne me réduirez point. Harpagon: C'est une chose où je te réduirai. Elise: Je me tuerai plutôt que d'épouser un tel mari. Harpagon: Tu ne te tueras point, et tu l'épouseras. Mais voyez quelle audace! A-t-on jamais vu une fille parler de la sorte à son père? Élise: Mais a-t-on jamais vu un père marier sa fille de la sorte? Harpagon: C'est un parti où il n'y a rien à redire; et je gage que tout le monde approuvera mon choix. Élise: Et moi, je gage qu'il ne saurait être approuvé d'aucune personne raisonnable. (I, 4)
Die »Fantaisie verbale« wird hier, mit Garapon zu sprechen: zum »ballet des paroles«. Doch die Komik, die sich dabei aus der stilistischen Technik ergibt, ist ambivalent: die witzige Konfrontation der Figuren schließt die wachsende, ja unwiderrufliche Entfremdung zwischen Vater und Kindern ein. Wer lacht, der ahnt doch schon, daß dieses Lachen keine versöhnliche Auflösung des Konflikts verheißt. Molières Hauptquelle ist die Komödie Aulularia von Plautus. Dort findet ein armer Mann namens Euclio einen Goldtopf, lebt von da an in ständiger Angst, seinen Schatz wieder zu verlieren, wird tatsächlich auch von einem Diener bestohlen, erhält ihn aber wieder zurück von dem Mann, der seine Tochter verführt hat. Für Eu40
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Vgl. Robert Garapon, La fantaisie verbale et le comique dans le théâtre français, Paris 1957.
clio bringt man ein gewisses Verständnis auf; er ist ein armer Hund, der den zufälligen Fund nicht wieder verlieren möchte. Harpagon dagegen ist ein reicher Bürger, dessen Geiz durch nichts entschuldigt werden kann. Der Diener La Flèche ist durchaus im Recht, wenn er mit ironischem Wortspiel sagt: Le seigneur Harpagon est de tous les humains l'humain le moins humain. (II, 4)
Hans Robert Jauß hat darauf insistiert, daß über den plautinischen Euclio gelacht werden kann, »weil der Wahn seines Verhaltens niemand weiter schädigt« 41 , allenfalls ihm selbst, während derjenige Harpagons gemeingefährlich ist. Den Menschen, die mit ihm zu tun haben, vergeht das Lachen – und auch dem Zuschauer fällt es schwer, sich der schadenfrohen Heiterkeit des Unbeteiligten hinzugeben. Man hat noch viele andere Quellen für einzelne Elemente und Szenen namhaft machen können: Ariost, einige ältere französische Dramatiker, die Commedia dell'arte, Molières eigene frühere Stücke. Molière hat diese Anleihen souverän integriert und ihnen eine andere Dimension gegeben. Als Beispiel führe ich die zweite Szene des zweiten Akts an, zu der sich Molière durch eine Stelle aus der Komödie La belle plaideuse des älteren zeitgenössischen Dramatikers Boisrobert inspirieren ließ. Harpagons Sohn Cléanthe ist ein liebenswürdiger Leichtfuß, der infolge großzügiger Lebensführung und des Geizes seines Vaters in Schulden geraten ist. Ohne sich zu erkennen zu geben, hat er den Finanzmakler Maître Simon beauftragt, für ihn bei einem reichen Mann eine größere Summe Geldes zu hohen Zinsen zu beschaffen. Maître Simon wendet sich ausgerechnet an Harpagon. Dieser offenbart die ganze Niedertracht des Wucherers. Die Zinsen hat natürlich der bedrängte Bittsteller zu bezahlen. Statt der fünfzehntausend Livres soll er nur zwölftausend erhalten und sich bereit erklären, anstelle der fehlenden dreitausend allen möglichen Plunder abzunehmen, ein Damebrett, einen Ziegelofen und eine ausgestopfte Eidechse, wertloser Trödelkram. Harpagon ist vorsichtig, verzichtet jedoch darauf, den Namen des Geldbedürftigen zu erfahren, nachdem ihm Maître Simon versichert hat, dieser komme aus einer reichen Familie, seine Mutter sei schon tot, und er garantiere, daß sein Vater binnen acht Monaten das Zeitliche segnen werde. Darauf Harpagon zufrieden: C'est quelque chose que cela. La charité, maître Simon, nous oblige à faire plaisir aux personnes, lorsque nous le pouvons. (II, 2)
Cléanthe tritt hinzu, und zur Überraschung von Vater und Sohn stellt Maître Simon ihn als seinen Auftraggeber vor: Maître Simon: Monsieur est la personne qui veut vous emprunter les quinze mille livres dont je vous ai parlé. Harpagon: Comment, pendard? c'est toi qui t'abandonnes à ces coupables extrémités? Cléanthe: Comment, mon père? c'est vous qui vous portez à ces honteuses actions? Harpagon: C'est toi qui te veux ruiner par des emprunts si condamnables?
41
Hans Robert Jauss, »L'Avare«, in: J. von Stackelberg, op.cit., S. 297. 99
Cléanthe: C'est vous qui cherchez à vous enrichir par des usures si criminelles? (II, 2)
Keiner von beiden sieht eine Veranlassung, sich zu schämen. Für Harpagon ist das soeben Erlebte nur ein Grund, noch sorgfältiger als bisher über sein Geld zu wachen. Er tut gut daran, wenn auch ohne Erfolg. Vor kurzem hat er unerwartet eine große Summe Geldes erhalten, dieses Geld in einer Kassette untergebracht und die Kassette vergraben. La Flèche, der Diener Cléanthes, stiehlt sie. Harpagon ist dem Wahnsinn nahe, buchstäblich außer sich. Sein Monolog ist Höhepunkt und Glanzstück jeder Aufführung des Avare: Au voleur! au voleur! à l'assassin! au meurtrier! Justice, juste Ciel! je suis perdu, je suis assassiné, on m'a coupé la gorge, on m'a dérobé mon argent. Qui peut-ce être? Qu'est-il devenu? Où est-il? Où se cache-t-il? Que ferai-je pour le trouver? Où courir? Où ne pas courir? N'est-il point là? N'est-il point ici? Qui est-ce? Arrête. Rends-moi mon argent, coquin ... (Il se prend lui-même le bras.) Ah! c'est moi. Mon esprit est troublé, et j'ignore où je suis, qui je suis, et ce que je fais. Hélas! mon pauvre argent, mon pauvre argent, mon cher ami! on m'a privé de toi; et puisque tu m'es enlevé, j'ai perdu mon support, ma consolation, ma joie; tout est fini pour moi, et je n'ai plus que faire au monde: sans toi, il m'est impossible de vivre. C'en est fait, je n'en puis plus; je me meurs, je suis mort, je suis enterré. N'y a-t-il personne qui veuille me ressusciter, en me rendant mon cher argent, ou en m'apprenant qui l'a pris? Euh? que dites-vous? Ce n'est personne. Il faut, qui que ce soit qui ait fait le coup, qu'avec beaucoup de soin on ait épié l'heure; et l'on a choisi justement le temps que je parlais à mon traître de fils. Sortons. Je veux aller querir la justice, et faire donner la question à toute la maison: à servantes, à valets, à fils, à fille, et à moi aussi. Que de gens assemblés! Je ne jette mes regards sur personne qui ne me donne des soupçons, et tout me semble mon voleur. Eh! de quoi est-ce qu'on parle là? De celui qui m'a dérobé? Quel bruit fait-on là-haut? Est-ce mon voleur qui y est? De grâce, si l'on sait des nouvelles de mon voleur, je supplie que l'on m'en dise. N'est-il point caché là parmi vous? Ils me regardent tous, et se mettent à rire. Vous verrez qu'ils ont part sans doute au vol que l'on m'a fait. Allons vite, des commissaires, des archers, des prévôts, des juges, des gênes, des potences et des bourreaux. Je veux faire pendre tout le monde; et si je ne retrouve mon argent, je me pendrai moi-même après. (IV, 7) Dem herbeigerufenen Polizeikommissar ruft Harpagon zu: (...) je veux que vous arrêtiez prisonniers la ville et les faubourgs. (V, 1)
Der Monolog wäre eine genaue stilistische Analyse wert. Ich will nur auf einige wenige Punkte aufmerksam machen. Zunächst auf die Verwendung der Klimax: logisch korrekt im Zentrum des Monologs: »je me meurs, je suis mort, je suis enterré.« In grotesker Steigerung nimmt Harpagon vorweg, was er ohne Geld wäre: tot, begraben, ein Nichts. Zu Anfang bietet die Klimax einen scheinbaren Bruch mit dem Prinzip der Steigerung: »je suis perdu, je suis assassiné, on m'a coupé la gorge, on m'a dérobé mon argent«. Zu erwarten wäre, daß das letzte Glied voransteht. Doch der Diebstahl des Geldes ist eben schlimmer, als hätte man ihm die 100
Gurgel durchschnitten. Die Identifizierung seiner Person mit dem Besitz ist ganz folgerichtig im Sinne des Wahns. Alle will Harpagon dem Untersuchungsrichter vorführen: »servantes, valets, fils, fille«, sich selbst – à moi aussi. Alles, was die Justiz aufzubieten hat, soll anmarschieren, vom Polizeikommissar bis zum Henker. Alle will er hängen, und, wenn er sein Geld nicht wiederbekommt, sogar sich selbst: »Je veux faire pendre tout le monde; et si je ne retrouve mon argent, je me pendrai moi-même après.« Ein alter Bühnengag erhält hier eine verblüffend wirksame neue Funktion: die Bühnenfigur bezieht das Publikum in die Handlung mit ein. Der Verdacht Harpagons weitet sich universell aus: die Zuschauer selber sind verdächtig. Warum sollte der Dieb nicht unter ihnen sein! Die Zuschauer sind freilich bereits zu der Auffassung gelangt, daß es nur recht und billig wäre, wenn Harpagon sich tatsächlich den Strick um den Hals legen würde. Wo alle Welt verdächtig ist, ist auch jener Teil des Ich, welcher der Welt angehört, betroffen. Das Bild, das Harpagon jetzt als Bestohlener, als von seinem eigentlichen Ich, dem Geld, Getrennter, bietet, ist das Bild eines gespaltenen Bewußtseins. Harpagon greift, wie Werner Krauss feststellt, »nach sich selbst als dem ersten, was des Diebstahls verdächtig ist«, und die Angst, vor dem Selbstverlust durch den Verlust des Geldes »verbirgt eine Schuld, und zwar eben das, was man mit seinem ganzen Wesen schuldig bleibt«. 42 Die andere Hälfte des gespaltenen Ich – die gestohlene Kassette – wird bedacht mit Worten aus dem sakralen Bereich: »mon support, ma consolation, ma joie«. H. R. Jauß sieht darin, und in der Hereinnahme des Todesmotivs, »Analogien des religiösen Gefühls zur paradoxen Gleichsetzung mit der Situation der christlichen Seele«, mit dem »christlichen Zwiespalt der gefallenen menschlichen Natur«. 43 Ich weiß nicht, ob diese Parallele richtig ist. Sicher scheint mir indes, daß im gespaltenen Bewußtsein Harpagons sich eine totale Verdinglichung der Lebenswerte in paradoxer Verkehrung offenbart. Jede Art von Delikt ist für Harpagon ein Eigentumsdelikt, dieses aber ein Mord an seiner Person: grotesk personifizierte Tragödie des hemmungs- und skrupellosen Geldstrebens in einer Zeit, die noch glaubt, den asozialen Charakter solcher Haltung im Gelächter auffangen zu können, und doch dazu bereits nicht mehr in der Lage ist. 44 Einer der ersten Aufführungen des Avare wohnten auch Molières Freunde Boileau und Racine bei. Es scheint, als sei Boileau einer der wenigen, wenn nicht der einzige gewesen, der über den Avare vorbehaltlos lachen konnte. Den anderen, einschließlich Racine, scheint das Lachen vergangen zu sein angesichts einer Figur, die sich in furchtbarer Weise gegen das ridiculum durchsetzt. Ihre Gefährlichkeit kann nicht mehr durch Lächerlichmachen entschärft werden. Harpagons Machtposition ist nicht zu erschüttern. Sein Geld und seine Rechte als Familienvater ermächtigen ihn, über die von ihm Abhängigen zu verfügen. Die Tochter Elise will er dem alten Anselme vermählen, den Sohn Cléanthe mit einer reichen Frau verkuppeln. Er selber will die blutjunge und blutarme Mariane an sei42 43 44
Werner Krauss, op.cit., S. 356. Hans Robert Jauss, op.cit., S. 300. Michael Nerlich, »Notizen zum politischen Theater von Molière«, in: Lendemains 6 (1977), S.27-62. 101
nen welken Busen drücken. Natürlich haben die Genannten samt und sonders andere Vorstellungen von ihrer Zukunft, aber wenig Aussicht, sie durchzusetzen. Nur in einer Hinsicht ist Harpagon verwundbar, in seinem Laster selbst. Aus purer Notwehr greift der Sohn schließlich zum Mittel der Erpressung: entweder der Vater verzichtet auf Mariane, oder er sieht seine Kassette niemals wieder. Die Entscheidung fällt so, wie sie zu erwarten war: Harpagon verzichtet auf die Liebe bzw. auf das, was er darunter versteht, zugunsten seines Geldes. Doch ist damit das Problem noch nicht gelöst, was aus der Liebe seiner Tochter Elise zu Valère wird. Molière läßt jetzt den uns schon bekannten Zufall walten: der von Harpagon ausersehene ältliche Schwiegersohn Anselme entpuppt sich als jahrelang verschollener Vater Marianes und Valères. Mariane kann Cléanthe und Valère Elise heiraten. Harpagon gibt seinen fragwürdigen Segen, als er hört, daß Anselme steinreich ist, ihm alle Kosten für Hochzeit und Aussteuer abnimmt und sogar noch die Gebühren für den Polizeikommissar bezahlt. Hat er doch seine »chère cassette« wieder und damit seine Identität. Ohne jeden Zufall hätte das Laster obsiegt, nicht nur in der Person Harpagons, sondern im Zerfall der Familie. Und jener Zufall ist nicht mehr einer ordnenden und fürsorgenden Instanz zu verdanken, auf die man bauen kann – wie noch der Tartuffe vorgab –, sondern er ist reiner Zufall, an sich sinn-lose Kontingenz. Und somit ist es wiederum kein Zufall, daß das Böse straflos bleibt. Harpagon erfreut sich weiterhin seines Geldes, und er bleibt derselbe wie zuvor. H. R. Jauß hat recht, wenn er formuliert: Molières Komödie des Geizigen bleibt ohne Lösung, weil sich die Ordnung und Moral der Gesellschaft, die ihr zugrunde liegt, und damit die Welt im Ganzen, ändern müßte, um eine solche Lösung zu finden. Während die plautinische Komödie eine Befreiung des Gemüts zu versprechen scheint und uns in versöhnlichem Optimismus entläßt, endigt ihr modernes Seitenstück in kaum verhülltem Pessimismus. 45
»Monsieur de Pourceaugnac« und der »Bourgeois gentilhomme«: zwei Ballettkomödien Im Herbst 1669 geruhte der König in Chambord zu residieren, in den umliegenden Wäldern zu jagen und Feste zu feiern. Molière und seine Truppe wurden gebraucht. Im September führte er vor Ludwig und dem Hof ein neues Stück auf: Monsieur de Pourceaugnac, comédie-ballet, faite à Chambord, pour le divertissement du Roi. Die Musik schrieb Lully, der Komponist, dessen Stern im Steigen war. Die Tänze waren splendid. In welchem Geist das Stück bestellt war und von Molière ausgeführt wurde, dafür mögen die abschließenden, gesungenen Verse zeugen. Ein Zigeuner singt:
Tout n'est rien, si l'amour n'y mêle ses ardeurs.
Eine Zigeunerin antwortet: 45
Hans Robert Jauss, op.cit., S. 309.
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Il n'est point, sans l'amour, de plaisir dans la vie.
Dann singen sie gemeinsam: Soyons toujours amoureux: C'est le moyen d'être heureux.
Darauf der Chor: Sus, sus, chantons tous ensemble, Dansons, sautons, jouons-nous.
Ein Musikus: Lorsque pour rire on s'assemble, Les plus sages, ce me semble, Sont ceux qui sont les plus fous.
Daraufhin, zum Abschlug, alle gemeinsam: Ne songeons qu'à nous réjouir: La grande affaire est le plaisir. (III, 8 )
Wir dürfen diesen Versen entnehmen, daß die höfische Gesellschaft ihre Tage damals nicht gerade vertrauert hat und daß der Sonnenkönig wieder einmal auf der Balz war und – wie immer in solchen Fällen – die herrscherliche Liebesaventüre als Staatsaktion feiern und ihr poetische Ehren angedeihen ließ. Ein guter Stern muß für Molière inmitten seiner häuslichen Misere einige Stunden unbeschwerter und zündender Heiterkeit ausgespart haben. Monsieur de Pourceaugnac ist von einer Verve, von einer Ausgelassenheit, von einem hinreißenden Schwung beseelt, den keine literaturwissenschaftliche Interpretation, sondern allein eine vollkommene Inszenierung auf der Bühne wiederzugeben vermag. Ich kann nur ein paar inadäquate Andeutungen machen. Zunächst zum Titel. Monsieur de Pourceaugnac wäre sinngemäß zu übersetzen mit »Herr von Schweinichen« oder mit »Herr von Ferkelhausen«. Der Herr von Schweinichen kommt aus Limoges, einer Provinzstadt, die im 17. Jahrhundert offenbar in dem Geruch stand, eine Art von Hintertupfingen zu sein mit Bewohnern, deren provinzielle Borniertheit dem Zustand der Deppenhaftigkeit nahekam. Und dann der Name des Herrn! Nérine, eine Gestalt, die der Autor dazu ausersehen hat, dem Titelhelden die Lust auf eine hauptstädtische Heirat zu vergällen, kriegt Zustände, wenn sie diesen Namen in den Mund nimmt: Le seul nom de Monsieur de Pourceaugnac m'a mis dans une colère effroyable. J'enrage de Monsieur de Pourceaugnac (...) Pourceaugnac! cela se peut-il souffrir? Non, Pourceaugnac est une chose que je ne saurais supporter; et nous lui jouerons tant de pièces, nous lui ferons tant de niches sur niches (= Schabernack), que nous renvoyerons à Limoges Monsieur de Pourceaugnac. (I, 1)
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Wie kann ein Limousiner überhaupt auf die Idee kommen, eine Pariserin heiraten zu wollen: S'il a envie de se marier, que ne prend-il une Limosine et ne laisse-t-il en repos les chrétiens? (I, 1)
Hätte Monsieur de Pourceaugnac geahnt, was ihm blüht, er wäre dem Rat mit Sicherheit gefolgt. Sein Schicksal sei im folgenden knapp umrissen: Der reiche Bürger Oronte will endlich blaues Blut in seine Familie träufeln. Seine Tochter Julie soll sich deshalb mit dem grobschlächtigen Krautjunker Pourceaugnac aus Limoges vermählen. Julie aber hat andere Vorstellungen über ihren Zukünftigen, und deshalb heckt sie mit Freunden und Dienern allerlei Pläne aus, um den aus der Provinz angereisten Bewerber lächerlich und schlicht fertig zu machen. Sie hetzen ihm zwei Ärzte auf den Hals, die den schnell Verzweifelnden auf sämtliche erdenklichen Geisteskrankheiten untersuchen. Dann erscheint plötzlich ein in languedokischem Dialekt keifendes Weib, das behauptet, sie sei die schmählich verlassene Ehefrau von Monsieur de Pourceaugnac. Kurz darauf ein zweites Weib, das, diesmal auf Pikardisch, die gleichen Ansprüche geltend macht. Nicht genug damit: die beiden armen verlassenen Frauen schleppen eine ganze Schar von Kindern heran, die den entsetzten Pourceaugnac sozusagen mit der »Stimme des Blutes« als ihren Vater begrüßen. Der Limousiner nähert sich zusehends dem Wahnsinn. Er ist gekommen, um zu heiraten. Nun muß er, der Bigamie verdächtigt, die Justiz fürchten. Auf den Rat eines Dieners hin verkleidet er sich als eine femme de qualité, um unerkannt Leine zu ziehen. Dabei muß er in seinem Versteck ein Gespräch anhören, in dem lustvoll seine bevorstehende Hinrichtung geschildert wird. Bevor er, endgültig von seiner Heiratslust geheilt und unter erheblichen finanziellen Opfern, wieder in die schützende Provinz entweicht, muß er noch ein letztes erschreckliches Abenteuer überstehen: zwei Soldaten wollen – wie Soldaten halt so sind – sich an der vermeintlichen »femme de qualité« vergreifen. Schweißtriefend entfleucht der beinahe Vergewaltigte. Molières nächstes größeres Werk ist der Bourgeois gentilhomme. Um ihn richtig einzuschätzen, muß man die Entstehungsbedingungen dieser Ballett-Komödie, die zum großen Teil mehr Posse als Komödie ist, kennen. König Ludwig befahl wieder einmal Festlichkeiten mit großem Aufwand. Der Hof befand sich – im Herbst 1670 – wieder einmal in Chambord. Ludwig wollte von seinem Lustspieldichter diesmal Türken geliefert bekommen. Molière mußte sie auf die Bühne bringen. Aber wie?! Der Wunsch des Monarchen hatte mehrere Gründe. Einmal herrschte schon seit einigen Jahren eine gewisse Türken- und Orientmode, von der auch das Theater nicht unberührt geblieben war. Dann war in dieser Zeit am Hof der Chevalier d'Arvieux aufgetaucht, der viele Jahre im Orient zugebracht hatte und dem es gelang, mit seinen Erzählungen den König und die Marquise de Montespan zu erheitern. Die Montespan amüsierte sich köstlich, und das war dem König einiges wert. Hinzu kam noch ein drittes: kurz zuvor war ein Gesandter der Türkei am Hof erschienen, der auf die ihm gezeigte Pracht des Monarchen hochnäsig reagiert und damit Eitelkeit und Würdebewußtsein des Königs empfindlich gereizt zu haben scheint. Kurz und gut: Ludwig wollte Türken sehen in komischen Rollen. Echte Türken wa-
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ren schwer zu haben, Molière hätte mit ihnen auch kaum viel anfangen können, und so mußte das Ganze auf einen ungeheuren Mummenschanz hinauslaufen. Die Lösung des von der königlichen Huld auferlegten Problems bestand für Molière darin, eine belanglose amüsante Handlung zu erfinden, die es erlaubte, in den abschließenden Höhepunkt einer karnevalesken Maskerade von aufwendigem Gepränge einzumünden. Vorgeschrieben waren also Türken, Musik, Lieder, Tanz und eine vergnügliche Handlung. Der Bourgeois gentilhomme wurde somit zu einem Gemeinschaftswerk des Theaterdichters Molière, des Komponisten Lully, des Tanzmeisters und Choreographen Beauchamps und des Chevalier d'Arvieux, der als technischer Berater fungierte und für die Echtheit des orientalischen Dekors zu sorgen hatte. Molière löste die ihm zugefallene Aufgabe auf folgende Weise: ein schwerreicher Bürger namens Jourdain ist vom Adelstick befallen. Er tut alles, um sich in den Sitten der Aristokraten zu üben, verweigert die Hand seiner Tochter deren bürgerlichem Bewerber, läßt sich von einem Adligen, der auf dem letzten Loch pfeift, schröpfen, ist entzückt, als schließlich ein Bote auftaucht, der ihm verkündet, der Sohn des Großtürken sei gekommen, sich mit seiner, Jourdains, Tochter zu vermählen und zuvor seinen künftigen Schwiegervater in die höchste Ehre und den höchsten Stand eines türkischen Mamamouchi zu erheben. Der Sohn des Großtürken und sein Hofstaat folgen dem Boten auf dem Fuße. In einer phantastischen Initiations- und Einkleidungszeremonie mit Türken, Derwischen, einem Mufti, unter Gesängen und Tänzen wird Monsieur Jourdain die Würde eines Mamamouchi verliehen. Die Krönung des Rituals ist eine Tracht Prügel, die Jourdain zwar als schmerzlich, aber durchaus zugehörig empfindet. Natürlich gibt er gern sein Jawort zur Vermählung seiner Tochter mit dem Sohn des Großtürken. Der Sohn des Großtürken aber ist in Wahrheit der verkleidete bürgerliche Liebhaber seiner Tochter Lucile. Wie Jourdain auf die Entdeckung dieser von Angehörigen und Freunden seiner Familie angezettelten Intrige reagiert, wird nicht mehr berichtet. Das Stück sollte amüsieren und tat es. Der Hof scheute dafür keine Kosten. Molière spielte den Titelhelden, der Komponist Lully glänzte in der Rolle des Mufti. Ludwig XIV. sah sich das Werk viermal hintereinander an. Ist es unter diesen Umständen überhaupt berechtigt, nach tiefschürfenden Interpretationen Ausschau zu halten? Ist Jourdain nicht zu sehr bloß Karikatur eines Parvenus, um Gegenstand ernstlicher Analyse zu werden? Molières Absicht war zweifellos zuallererst, dem Auftrag des Königs Genüge zu tun. Dieser Umstand enthob ihn der Sorge um eine zwingende, logische Handlungsführung, um die Sorge um Wahrscheinlichkeit und Lebensechtheit. Sie ließ ihm andererseits auch freien Raum für eine im Spiel neutralisierte Satire, die ihm gleichsam von vorneherein Straffreiheit zusicherte. Es gilt, beide Aspekte richtig einzuschätzen. In den ersten beiden Akten verzichtet der Dichter auf jede Handlungsführung. Sie bieten eine lose Aneinanderreihung komischer Szenen und lazzi. Auch später bleibt der rote Faden überaus dünn. Zum dritten Mal wiederholt Molière den doppelten dépit amoureux, so als sei ihm in der Eile nichts anderes eingefallen als die Variation eines erfolgreichen Gags. Der musikalische und tänzerische Prunk und der Mummenschanz des Bourgeois gentilhomme können heute nur noch diejenigen Zuschauer beeindrucken, die ein
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kultiviertes historisches Interesse für die höfische Lebensart im 17. Jahrhundert aufbringen. Wenn das Stück heute trotzdem noch in einem höheren Maß anspricht, so liegt dies zweifellos daran, daß dem Dichter in der Gestalt des Monsieur Jourdain doch eine problematischere Dimension gleichsam unterlaufen ist, als der Anlaß und der Zweck es vorschrieben. Mehrere der Komödien Molières, die wir bisher behandelt haben, gestatten die Feststellung, ja drängen sie auf, daß die ältere Generation des wohlhabenden Bürgertums sich in einer Desorientiertheit präsentiert, die Resultat einer Entwicklung ist, die die alten Lebensgrundsätze obsolet machte und die Anerkennung neuer nicht zuließ. Daher einerseits der permanente Konflikt mit der jüngeren Generation und andererseits das oft krankhafte Bedürfnis nach einer Stütze nach einem Surrogat für den verlorenen Tebensgrúnd. Der Sganarelle der École des maris beharrt in lächerlicher Weise auf einer antiquierten patriarchalischen Sittenstrenge; der Arnolphe der École des femmes scheitert am Zwiespalt zwischen eben dieser Sittenstrenge und eigenem Egoismus, der die neue Lebensart nur für die eigene Person, nicht aber für die anderen akzeptiert. Harpagon identifiziert Ich und Besitz bis zum Identitätsverlust, der dem eigenen Gebrechen unbedenklich Leben und Glück seiner Kinder und der ganzen Familie zum Opfer zu bringen bereit ist. Was für Harpagon der Mammon, das ist für den Orgon des Tartuffe die fromme Heuchelei des vermeintlich eigens für ihn abgesandten Heilsbringers. Argan, der malade imaginaire der letzten großen Komödie Molières, wird den Sinn seines Lebens in paradoxaler Verkehrung in der Kultivierung einer eingebildeten Krankheit hypostasieren, um sich auf diese Weise des Bewußtseins der eigenen Würde und Besonderheit zu versichern. In diese stattliche Reihe der mit Fluchtideologien behafteten reichen Bürger gehört auch Monsieur Jourdain, der Bourgeois gentilhomme. Nicht nur der Titel des Stücks, auch seine ganze Struktur sind ein Oxymoron. Im Gegensatz zur Realität, in der so mancher reiche Bourgeois durch Ämterkauf sich einen Adelstitel ergattert und seine Familie schließlich definitiv dem führenden Stand integriert, bleibt Jourdain trotz aller Anstrengung der Plebejer, der er nicht mehr sein will. Seine Familie, Frau, Tochter, präsumtiver Schwiegersohn, persistieren in der vernünftigen Vorstellung, das, was man ist, ganz zu sein, während Monsieur Jourdain glaubt, die Schranken seines Standes durch die äußerliche Aneignung von Bildungsfragmenten zu überwinden. Molière demonstriert diese Ambition in Szenen von unwiderstehlicher Komik. Nacheinander nimmt M. Jourdain Unterricht in Musik, Tanz, Fechtkunst und Philosophie. Einen dämlicheren Schüler kann man sich kaum vorstellen. Mit den Ergebnissen ist er höchst zufrieden, erntet er doch das Lob seiner Lehrer, die ihre Unterrichtstätigkeit nicht ohne Grund als fette Pfründe betrachten. Der Schneidermeister und seine Gehilfen, die Monsieur Jourdain ein hochnobles Prachtkostüm anpassen, behandeln den Kunden mit vornehmen Titulaturen und ernten dafür die höchsten Trinkgelder ihres Lebens. Die Freundschaft, die ihm ein echter Graf bezeugt, ist für Jourdain das höchste der Gefühle. Daher läßt er sich von diesem auch widerspruchslos anpumpen. Da er gehört hat, daß feine Leute eine Mätresse haben, ist er hingerissen, als der Graf ihm eine elegante Marquise zuführt, deren Verhalten für die Zukunft einiges verspricht. Sogleich schenkt er ihr einen kostbaren Ring und veranstaltet ein kostspieliges Diner mit Musik für seine hochmögenden Freunde, das allerdings in brutaler Weise von der verfrüht heimkehrenden
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Madame Jourdain unterbrochen wird, die inzwischen überzeugt ist, daß im Kopf ihres Ehegatten eine ausgewachsene Meise zwitschert. Diese Szenen sind gelungene Karikaturen. Und doch scheint es, als würden nicht bloß deshalb einige von ihnen im Gedächtnis haften. Monsieur Joúrdain nimmt bei seinem Philosophielehrer Unterricht in französischer Phonetik, nachdem ihm Logik und Moral zu unverdaulich erscheinen. Maître de Philosophie: Il y a cinq voyelles ou voix: A, E, I, 0, U. M. Jourdain: J'entends tout cela. Maître: La voix A se forme en ouvrant la bouche: A. M. Jourdain: A. A. Oui. Maître: La voix E se forme en rapprochant la mâchoire d'en bas de celle d'en haut: A, E. M. Jourdain: A, E, A, E. Ma foi! oui. Ah! que cela est beau! (II, 4)
So geht es weiter, und auch die Konsonanten kommen dran. Man sieht: Jourdain erlebt die Wunder der Wissenschaft. Die Wahrheit wird zu einer solchen erst, wenn sie ins Bewußtsein tritt. Für Jourdain bedeutet dies ein neues Lebensgefühl. Noch deutlicher ist eine sich unmittelbar anschließende, unvergeßliche Szene. M. Jourdain unterbricht die phonetische Lektion. Er möchte der vornehmen Marquise ein amoureuses Billett senden und, etwas unsicher über den feinen Stil, vor der Abfassung den Maître de Philosophie konsultieren. Der Lehrer fragt ihn, ob es Vers sein soll oder Prosa. M. Jourdain will keines von beiden, beide sind ihm unheimlich. Fassungslos reagiert er auf die Erklärung des Maître, es gäbe nur das eine oder das andere und kein drittes: M. Jourdain: Il n'y a que la prose ou les vers? Maître: Non, Monsieur: tout ce qui n'est point prose est vers; et tout ce qui n'est point vers est prose. M. Jourdain: Et comme l'on parle qu'est-ce que c'est donc que cela? Maître: De la prose. M. Jourdain: Quoi? quand je dis: »Nicole, apportez-moi mes pantoufles, et me donnez mon bonnet de nuit«, c'est de la prose? Maître: Qui, Monsieur. M. Jourdain: Par ma foi! il y a plus de quarante ans que je dis de la prose sans que j'en susse rien, et je vous suis le plus obligé du monde de m'avoir appris cela. (II, 4)
Die Wissenschaft leistet, was Jourdain von ihr verlangt: sie verklärt sein Leben, indem sie das Selbstverständliche in den Rang einer Entdeckung erhebt. Wer schon immer Prosa gesprochen hat, auch ohne es zu wissen, den versetzt die Aufdekkung dieses Sachverhalts in die Lage, den Anspruch auf eine privilegierte soziale Stellung rechtens zu erheben. Karikatur hin, Karikatur her! Daß Molière nicht nur nach einer Seite zielt, ergibt sich aus dem, was folgt. Monsieur Jourdain möchte seiner Marquise schriftlich erklären: »Belle Marquise, vos beaux yeux me font mourir d'amour« (II, 4). Er meint jedoch, daß diese Formulierung noch nicht ganz nach Art des feinen Mannes sei, noch nicht galant genug! Der um Rat befragte Maître de Philosophie macht denn auch ein paar Vorschläge, wie man diese Liebeserklärung elegant verdrechseln könnte: 107
D'amour mourir me font, belle Marquise, vos beaux yeux. Ou bien: Vos yeux beaux d'amour me font, belle Marquise, mourir. Ou bien: Mourir vos beaux yeux, belle Marquise, d'amour me font. Ou bien: Me font vos yeux beaux mourir, belle Marquise, d'amour.
Darauf fragt Jourdain: Mais de toutes ces façons-là, laquelle est la meilleure?
Der Maître de Philosophie muß gestehen: Celle que vous avez dite: Belle Marquise, vos beaux yeux me font mourir d'amour. (II, 4)
Er sagt es nicht des Kompliments wegen, sondern weil dem in der Tat so ist. Und diesmal steckt Ernst in der Komik der Antwort Jourdains: Cependant je n'ai point étudié, et j'ai fait cela tout du premier coup. (II, 4)
Die Unbelecktheit von Bildung triumphiert hier über die Verbildung. Der Witz beruht jetzt doppelbödig darauf, daß Jourdain durch das Zeugnis der Wissenschaft bestätigt erhält, daß am besten ist, was er ohne Wissenschaft bereits richtig gemacht hat. Wie im Falle der Prosa gerät diese Erfahrung zur Verklärung und Legitimation der eigenen hypertrophen Ansprüche, zeugt aber zugleich für die Unnatur jener Welt, der Jourdain partout die Natürlichkeit seiner eigenen Herkunft zum Opfer bringen will. Molière ließ die satirische Substanz dieser Komödie unentfaltet, weil, wie erwähnt, seine Aufgabe primär eine andere war. Der Ansatz zur kritischen Charakterkomödie wird abgebrochen zugunsten des pittoresken orientalischen Karnevals, der als Haupteffekt vorgegeben war. Von diesem Bruch in der Struktur des Stücks ist nicht nur die Gestalt des Bourgeois gentilhomme selbst betroffen, sondern auch eine andere Figur, die literarhistorisches Interesse heischt. In dem Grafen Dorante, der Jourdain mit seiner Freundschaft beehrt, um ihm Geld abzuzapfen, liegt der Entwurf für die Figur des adligen Glücksritters vor, der als skrupelloser und intriganter Parasit den Drang des wohlhabenden Bürgertums zur Klassenflucht und zum Parvenütum ausnutzt und darauf seine fragwürdige Existenz aufbaut. Es ist, wie gesagt, beim Entwurf geblieben. Dorante und seine Marquise, die Jourdain – ohne es selbst zu wissen, da er glaubt, die Geschenke stammten von Dorante – kostbare Geschenke abluchst, werden unversehens ihrer gesellschaftlichen Gefährlichkeit enthoben und verwandeln sich aus wappenverzierten Gaunern in sympathische Gestalten. Aus wirklichem Verständnis, so sollen wir glauben, unterstützen sie das Vorhaben des abgewiesenen bürgerlichen Schwiegersohns, Jourdain die verweigerte Tochter abzulisten. Noch eine letzte Bemerkung zum Bourgeois gentilhomme. Molière hat in seinem Titelhelden möglicherweise nicht bloß einen sozialen Typus personifiziert, sondern ein bestimmtes Modell im Auge gehabt. In der Molière-Forschung gibt es dazu mancherlei Spekulation. Die reizvollste ist zweifellos die Annahme, Molière habe mit dem Bourgeois gentilhomme den berühmten Finanzminister Colbert aufs Korn
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genommen, von dem alle Welt wußte, daß er sich verzweifelt bemühte, seine bürgerliche Herkunft vergessen zu machen, und dem anonyme Flugschriften ähnlich komische Anstrengungen zur Imitation adliger Eleganz nachsagten wie sie Molière schildert. Ausführlich verbreitet sich Antoine Adam über diese Hypothese, die einige Wahrscheinlichkeit für sich hat. Ich übergehe die Ballettragödie Psyché von 1671, auch die geniale Farce Les fourberies de Scapin, die zu Lebzeiten des Dichters seltsamerweise keinen großen Erfolg hatte. Es scheint, daß Molière den anspruchsvolleren Teil seines Publikums so sehr verwöhnt hatte, daß die Fourberies de Scapin von vielen als ein Rückfall in die vulgäre Posse empfunden wurde. Charakteristisch ist dafür das Urteil Boileaus: Dans ce sac ridicule où Scapin s'enveloppe, Je ne reconnois plus l'Auteur du Misanthrope. 46
Der König brauchte seinen Dichter wieder im Dezember 1671. Er wollte seine neue Schwägerin aus den germanischen Wäldern, Liselotte von der Pfalz, mit allem Glanz und aller Pracht seines Hofes willkommen heißen. Molière schrieb dafür seine Comtesse d'Escabargnas. Sinnigerweise karikiert das Stück die mangelnde Bildung des Provinzadels.
»Les femmes savantes« und das Ideal der unpreziösen »honnêteté« Am 11. März des folgenden Jahres präsentierte Molière seinem Publikum im Palais-Royal ein Werk, an dem er mehrere Jahre hindurch gearbeitet hatte und mit dem er das Thema seines ersten Pariser Erfolgs, der Précieuses ridicules wieder aufnahm: Les Femmes savantes. Für eine kurze Beschreibung gehe ich aus von der dritten Szene des dritten Aktes. Wir befinden uns im Salon einer bürgerlichen Preziösen: Philaminte. Bei ihr halten sich auf ihre Schwägerin Bélise, ihre beiden Töchter Armande und Henriette, sowie der Schöngeist Trissotin. Der Diener meldet die Ankunft eines Besuchers, des gelehrten Herrn Vadius, den Trissotin ermuntert hat, dem Kreis der bildungsbeflissenen Damen seine Aufwartung zu machen: L'Épine Monsieur, un homme est là qui veut parler a vous; Il est vêtu de noir, et parle d'un ton doux.
Trissotin C'est cet ami savant qui m'a fait tant d'instance De lui donner l'honneur de votre connaissance.
Philaminte 46
Nicolas Boileau, op.cit., S. 178. 109
Pour le faire venir vous avez tout crédit. Faisons bien les honneurs au moins de notre esprit. Holà! Je vous ai dit en paroles bien claires, Que j'ai besoin de vous.
Henriette Mais pour quelles affaires?
Philaminte Venez, on va dans peu vous les faire savoir.
Trissotin Voici l'homme qui meurt du désir de vous voir. En vous le produisant, je ne crains point le blâme D'avoir admis chez vous un profane, Madame: Il peut tenir son coin parmi de beaux esprits.
Philaminte La main qui le présente en dit assez le prix.
Trissotin Il a des vieux auteurs la pleine intelligence, Et sait du grec, Madame, autant qu'homme de France.
Philaminte Du grec, ô Ciel; du grec! Il sait du grec, ma sueur!
Bélise Ah! ma nièce, du grec!
Armande Du grec! quelle douceur!
Philaminte Quoi? Monsieur sait du grec? Ah! permettez, de grâce, Que pour l'amour du grec, Monsieur, on vous embrasse. Il les baise toutes, jusques à Henriette, qui le refuse.
Henriette Excusez-moi, Monsieur, je n'entends pas le grec.
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Philaminte, Bélise, Armande – sie sind die Femmes savantes – geraten in einen Begeisterungstaumel angesichts eines Mannes, der Griechisch kann. Nur die jüngere Tochter Philamintes, Henriette, bleibt kühl. Sie hat es denn auch schwer mit ihren närrischen Verwandten, die schon kurz zuvor beim Anhören von Gedichten, die ihnen Trissotin vortrug, in Zustände totaler Verzückung gefallen waren. Betrachten wir zuerst die drei Damen etwas näher, die dem Stück den Titel geben: Philaminte, Armande, Bélise. Die harmloseste ist Bélise, die Schwägerin der Hausherrin. Wie die beiden anderen beschäftigt sie sich mit Physik, Grammatik, Geschichte, Dichtung, Moral und Politik. In der Astronomie ist sie nicht völlig einig mit Philaminte: während diese im Mond Menschen gesehen haben will, hat Bélise dort nur Kirchtürme entdeckt. Im übrigen hält sie es mit Descartes und mit den galant-heroischen Romanen. Sie ist völlig davon überzeugt und durch nichts davon abzubringen, daß sämtliche Männer, die ihr begegnen, in sie verliebt sind und sich nur deswegen nicht erklären, weil sie ihr Schamgefühl nicht verletzen wollen. Der junge Clitandre, der sich um Henriette bewirbt, tut alles, um Bélise klarzumachen, daß nicht sie das Objekt seiner sehnlichsten Wünsche ist, sondern Henriette. Bélise hält diese Erklärung für einen besonders feinen Trick, die Liebe zu ihrer eigenen Person zu kaschieren, einen Trick, auf den nicht einmal die Verfasser ihrer geliebten Romane gekommen waren. Wie gesagt: Bélise ist eine harmlose Närrin, sie tut niemandem weh. Ihre altjüngferliche Phantasie ist mit Verehrern angefüllt, die nichts davon wissen. Ganz anders verhält es sich mit Armande. Molière hat mit ihr eine ausgesprochen böse und gefährliche Frauengestalt geschaffen. Armande ist schön. Clitandre hat sie verehrt, sich aber der Schwester Henriette zugewandt, weil Armande Liebe nur als eine rein spirituelle Angelegenheit akzeptiert. Als echte preziöse Prüde sieht sie in der Heirat nur ein vulgaire dessein, eine widerliche Berührung der fleischlichen Materie; und ihrer Schwester Henriette rät sie: Mariez-vous, ma sœur, à la philosophie! (I, 1)
Armande ist Anhängerin der Philosophie Epikurs, paradoxerweise aber eines völlig vergeistigten Epikur. Das wäre nicht schlimm. Doch Armande erträgt es nicht, daß Clitandre zu ihrer Schwester abwandert. Sie erklärt sich bereit, ihren heiligsten Überzeugungen zum Trotz sich der Berührung mit der widerlichen Materie des Fleisches hinzugeben, doch es ist zu spät. Jetzt versucht sie mit allen Mitteln der Verleumdung, die Verbindung zwischen Clitandre und Henriette zu hintertreiben. Daß ihr preziöser Keuschheitsfimmel in Wahrheit die Projektion einer erotischen Besessenheit ist, erweist sich daran, daß sie sich besonders stark macht für die Aufgabe, die französische Sprache von allen Silben zu reinigen, die unanständige Assoziationen hervorrufen könnten. Sie hat dafür offenbar ein besonderes Gespür. An Armande wird noch deutlicher als an ihren beiden Schwestern im Geiste, daß hier das Phänomen einer durch Frustration verursachten extremen Libidoverdrängung vorliegt. Das trifft, obgleich weniger deutlich, auch für die profilierteste der drei Femmes savantes zu, für die Herrin des Hauses, Philaminte. Sie ist wahrhaftig die Herrin des Hauses, weil sie ein starker Charakter, ihr Mann Chrysale dagegen ein Waschlappen ist. Immerhin verlangt sie von ihrem Mann, daß er sie liebevoll mon cœur und 111
ma mie nennt. Chrysale gehorcht, denn jeder Widerspruch hat eine Woche häuslichen Gewitters zur Folge. Was soll man machen gegen eine Frau, » [qui] est un vrai dragon«. (II, 9) Nun, dieser Hausdrache hält es mit Plato. Philaminte arbeitet am Entwurf für eine platonische Akademie. Das Werk des griechischen Philosophen ist Fragment geblieben, sie will es vollenden. Ihr Salon soll die Keimzelle einer spirituellen Erneuerung der Menschheit sein aus dem Geiste einer durch gelehrte Bildung emanzipierten Weiblichkeit. Dazu muß erst einmal die eigene Familie unterworfen werden. Mit Schwägerin und Tochter Armande ist es ihr bereits gelungen. Die jüngere Tochter Henriette will sie gewaltsam dem Schöngeist Trissotin zur Frau geben. Den Ehemann Chrysale hat sie längst fertiggemacht; er protestiert nur, solange sein Gespons außer Sichtweite ist. Den Bediensteten ist der Respekt vor der Bildung beigebracht worden. Der Diener, der stolpert und hinfällt, hat sich gefälligst mit dem physikalischen Problem des Gravitationszentrums zu beschäftigen. Nur eine Dienstmagd widersetzt sich: Martine. Martine hat schon dreißig Lektionen über sich ergehen lassen müssen. Trotzdem benutzt sie, abgesehen von ihrem Dialekt, immer noch Wörter, die der berühmte Grammatiker Vaugelas verboten hat und die das empfindsame Ohr der Hausherrin beleidigen. Martine wird entlassen. Sie setzt sich zur Wehr, als ihr Herr, Chrysale, seinen Mut für einen Augenblick zusammennimmt und seiner Frau widerspricht. Doch was sie zu ihrer Rechtfertigung vorbringt, gereicht ihr nur zu neuem Tadel. Wagt sie es doch, die vornehme Sprache ihrer Herrschaft als »Jargon« zu bezeichnen. Bélise korrigiert ihre Syntax. Darauf Martine in schönstem Patois: Mon Dieu! je n'avons pas étugué comme vous, Et je parlons tout droit comme on parle cheux nous. (II, 6)
Die Damen sind entsetzt. Bélise: Ton esprit, je l'avoue, est bien matériel. Je n'est qu'un singulier, avons est pluriel. Veux-tu toute ta vie offenser la grammaire?
Darauf Martine: Qui parle d'offenser grand-mère ni grand-père? (II, 6)
Philaminte und Bélise sind einer Ohnmacht nahe. Der Widerstand des Pantoffelhelden Chrysale ist erschöpft; Martine muß gehen. Gewiß: Philaminte ist diejenige, deren Bildungsdünkel die Familie in unerträglicher Weise tyrannisiert. Sie ist darum weder so lächerlich-harmlos wie ihre Schwägerin Bélise noch so bösartig wie ihre Tochter Armande. Sie ist eine überkandidelte, aber rechtschaffene Natur. Als Trissotin, den sie zum Ehemann ihrer Tochter Henriette ausersehen hat, durch einen anonymen Brief angeschwärzt wird, verachtet sie die Verleumdung und besteht erst recht auf der Ehe. Als Trissotin sich dann doch als übler Mitgiftjäger entlarvt, zieht sie, obwohl in ihren Überzeugungen nicht irre geworden, die Konsequenz. Werner Krauss hat sie treffend charakterisiert: »Der Bildungsglaube hat sich hier in einer starken Persönlichkeit, in Philaminte, 112
verkörpert, und wenn sie am Schluß von der Niedrigkeit ihrer literarischen Hausgötzen überzeugt wird, so siegt nicht der hausbackene Verstand des unterworfenen Gatten, sondern ihr eigenes spirituelles Wesen, das als ein ethisches auch bis zur Vernichtung seiner unzulänglichen Repräsentanten gehen kann. Philaminte tritt gleichsam heraus aus der modischen Ideologie, in der sie gefangen war, ohne daß sie ihre Grundüberzeugung aufgibt.« 47 Philamintes starrsinniges Beharren auf dem Primat gelehrter weiblicher Bildung und dem darauf sich berufenden Herrschaftsanspruch würden ihre Tochter Henriette, die einzig normal und vernünftig gebliebene, ins Elend bringen, wenn nicht ein entschlossener Schwager, Ariste, zu einer List greifen würde. Er fingiert, die Familie habe ihr ganzes Vermögen verloren. Trissotin macht daraufhin einen schäbigen Rückzieher, denn Henriette interessiert ihn nur als eine gute Partie. Clitandre liebt die arme Henriette genau so wie die reiche. Daher willigt auch Philaminte in die Liebesheirat ein und bedeutet ihrer anderen Tochter Armande, sie möge sich weiterhin mit der geliebten Philosophie trösten. Wo die weiblichen Mitglieder einer Familie sich nur noch der Wissenschaft und der Schöngeisterei widmen, steht es mit dem Haushalt nicht zum besten. Kein Wunder, daß sich Chrysale angesichts der allgemeinen Spinnerei nach einer Zeit zurücksehnt, in welcher das Studium der Frauen sich darauf beschränkte, gut zu kochen und geschickt mit Zwirn, Fingerhut und Nadel umzugehen. Man kann den armen Familienvater verstehen. Jede Mahlzeit wird ihm verdorben. Statt guter Suppen werden ihm lediglich die Vorschriften für einen gepflegten Sprachstil aufgetischt: Je vis de bonne soupe, et non de beau langage. Vaugelas n'apprend point à bien faire un potage; Et Malherbe et Balzac, si savants en beaux mots, En cuisine peut-être auraient été des sots. (II, 7)
Gegen diese banausische Logik ist schwerlich etwas einzuwenden, solange die Überspanntheit der preziösen Damen die Familie zu ruinieren droht. Chrysale ist ein zu bornierter Geist, um sich mit der Frage nach den möglichen Ursachen dieser Überspanntheit zu beschäftigen. Wie hypertroph und krankhaft exaltiert die Bildungsmode auch ist, die Molière hier sarkastisch geißelt – der Dichter hat doch einige Hinweise gegeben, wie wir sie zu verstehen haben. Philaminte und ihre Adepten begreifen ihre Eruditionsbeflissenheit als Impuls und Hebel für eine längst fällige Emanzipation ihres Geschlechts. Philaminte: Car enfin je me sens un étrange dépit Du tort que l'on nous fait du côté de l'esprit, Et je veux nous venger, toutes tant que nous sommes, De cette indigne classe où nous rangent les hommes, De borner nos talents à des futilités, Et nous fermer la porte aux sublimes clartés. (III, 2) 47
Werner Krauss, op.cit., S. 357f. 113
Lebhaft assistieren Armande und Bélise diesem Glaubensbekenntnis, das einer Kriegserklärung an die Welt der Männer gleichkommt. Der Akt der Rache an den Männern kann freilich auf den Beifall einzelner Vertreter der verhaßten Spezies nicht ganz verzichten. Daß die femmes savantes dazu der heuchlerischen Schmeichelei eines Salonparasiten wie Trissotin und eines eingebildeten Gelehrten wie Vadius bedürfen, ist eine bittere Ironie. Und kein aufmerksamer moderner Beobachter kann den Verdacht unterdrücken, daß bei allen drei emanzipationslüsternen Damen der Fall einer frustrationsbedingten Libidoverdrängung vorliegt. Damit wird der Casus der Femmes savantes freilich wieder an den Bereich des Ernstes zurückverwiesen. Molières Haltung gegenüber den Femmes savantes ist nicht mehr dieselbe wie in den Précieuses ridicules. Daß er das Thema überhaupt als ein zentrales wieder aufnahm und darauf so viel Zeit und Sorgfalt verwendete, zeigt, daß die Preziosität in neuer Gestalt fröhliche Urständ feiert. Die bildungsbeflissene Damenwelt fühlt sich nicht mehr allein als Stoßtrupp der Sprach- und Seelenkultivierung, sondern macht der Welt der Männer Konkurrenz auf dem Gebiet der Wissenschaft. Auf diese Idee wäre eine Marquise de Rambouillet noch nicht gekommen. Wir dürfen annehmen-und es gibt eine ganze Reihe von Indizien dafür, daß die neue Richtung weiblichen Ehrgeizes in einigen Salons ähnliche Blüten trieb wie zuvor die ältere Preziosität. Wir kennen Molière als einen Dichter, der stets gegen die planmäßige Verdummung der Frauen durch die Männer und ihre Degradierung zu gehorsam gebärenden, kochenden und strickenden Hausmütterchen eingetreten ist. Daran hat sich nichts geändert. Wenn die Henriette der Femmes savantes als ihre Lebenswerte Ehe, Mutterschaft und Haushalt angibt, so liegt hier nur scheinbar ein Rückfall in alte Vorstellungen vor, wie sie eher der Vater, Chrysale, vertritt. In Wahrheit ergibt sich Henriettes Haltung aus der Notwendigkeit, gegen die Spinnereien der femmes savantes und namentlich diejenige der Schwester Armande eine Gegenposition zu beziehen, deren Grundlagen Vernunft und Natürlichkeit sind. Es ist andererseits nicht zu verkennen, daß in der Gestalt der Philaminte sich ein wie auch immer irregeleiteter echter Anspruch der Frau auf Gleichstellung mit dem Mann zu Wort meldet. Molière bezieht, wie es scheint, den Standpunkt der Mitte, des gesunden Menschenverstandes, des sens commun, insofern, als er weiß, daß unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen die Frau sich nur unter besonders privilegierten Umständen so verhalten kann, als hätte sie die gleichen Chancen wie der Mann und könne es ihm tatsächlich gleichtun, daß dieser Anspruch aber dort lächerlich werden muß, wo die Prätention in keinem Verhältnis zu den wirklichen Möglichkeiten steht. Man geht kaum fehl in der Annahme, daß Molière die Auffassung teilt, die er in den Femmes savantes Clitandre vertreten läßt. Clitandre repräsentiert jene gereifte bürgerliche honnêteté, in welcher Molière die substantielle Ergänzung zu derjenigen des Hofes sieht. Aus diesem Grunde legt er Clitandre ein Plädoyer für den Geschmack des Hofes in den Mund, gegen Trissotin, den Schöngeist, der den Hof nur deswegen kritisiert, weil ihm dort der Zugang verweigert wird. Clitandre beschreibt seine Stellungnahme in der Frage der Bildung der Frauen wie folgt:
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(...) les femmes docteurs ne sont point de mon goût. Je consens qu'une femme ait des clartés de tout; Mais je ne lui veux point la passion choquante De se rendre savante afin d'être savante; Et j'aime que souvent, aux questions qu'on fait, Elle sache ignorer les choses qu'elle sait; De son étude enfin je veux qu'elle se cache, Et qu'elle ait du savoir sans vouloir qu'on le sache, Sans citer les auteurs, sans dire de grands mots, Et clouer de l'esprit à ses moindres propos. (I, 3)
Diese Verse geben ein recht klares Bild. Die Frau soll gebildet sein, ohne ihre Bildung permanent zu plakatieren, sie soll sich Kenntnisse aneignen, aber daraus keinen Selbstzweck machen, sie soll Geist haben, aber nicht ständig geistreich sein wollen. Das ist im Grunde nichts anderes als was die Theorie des Gesellschaftsideals vom honnête homme auch vom Mann fordert. Molière führt uns daher auch Männer vor, die, ähnlich wie Philaminte und ihre Adepten, sich gerade gegen dieses Gebot der honnêteté vergehen: einen eingebildeten und charakterlosen Schöngeist: Trissotin, und einen pedantischen Gelehrten: Vadius. Diese beiden Figuren haben schon viele Liter Tinte fließen lassen, obwohl längst, und schon unter den Zeitgenossen, klar war, wen Molière dabei aufs Korn genommen hat. Molière hat, daran ist gar kein Zweifel möglich, hier zwei Zeitgenossen auf die Bühne verpflanzt und mit vernichtendem Spott übergossen, mit denen er persönlich ein Hühnchen zu rupfen hatte. Einigermaßen glimpflich kommt Vadius weg, den unsere Damen so stürmisch umhalsen, weil er Griechisch kann. Gemeint ist niemand anders als der hochgelehrte Philologe Ménage, der als Pedant und zugleich Hansdampf in allen preziösen Salongassen gar manchen Spott erdulden mußte, auch schon deshalb, weil er sich in seine feinen Schülerinnen immer zu verlieben pflegte. Im übrigen war Ménage, Verfasser des ersten etymologischen Wörterbuchs der französischen Sprache, ein durchaus ehrenwerter Mann. Warum Molière ihn so schlecht behandelt, ist nicht ganz klar. Anders verhält es sich mit Trissotin, den man mit Recht einen »literarischen Tartuffe« (M. Wolff) genannt hat, Trissotin ist der Abbé Charles Cotin, eitles und streitsüchtiges Mitglied der Académie Française, bornierter, aber geschickter Prediger, vertraut mit alten Sprachen und galant-zierlichen Versen, die er in Damenzirkeln vortrug. Unter seinen Werken ist jenes Gedicht überliefert, das Trissotin von den femmes savantes als unerreichten Gipfel der Dichtkunst bejubeln läßt. Der Abbé Cotin hatte Molière im Streit um die École des femmes der Immoralität bezichtigt und in einer späteren Schrift in fanatischer Weise die Schauspieler und das Theater verteufelt. Molière zahlte heim – und das mit geradezu bösartiger Wucht. Cotin-Trissotin erscheint in den Femmes savantes gar als erbärmlicher Mitgiftjäger. Vadius-Ménage dagegen zeigt immerhin Charakter: er hält ein Gedicht von Trissotin für miserabel und bleibt dabei, woraus sich eine Szene heftiger gegenseitiger Beschimpfungen ergibt, vor den Augen und Ohren der etwas pikierten Damen. Diese Szene soll sich tatsächlich in dem vornehmen Salon der Duchesse de Montpensier ereignet haben. Kurz zuvor hatte Boileau in einer seiner Satiren den Abbé Cotin arg durch den Kakao gezogen. Molière macht sich dies zunutze. Vadius verweist in seinem Streit mit Trissotin spöttisch auf die Angriffe Boileaus gegen Cotin, der freilich ihn selbst 115
– Ménage – auch nicht ganz verschont hatte. So erlebt man das Schauspiel, daß der eine stolz darauf verweist, von Boileau nur am Rande satirisch traktiert worden zu sein, während der andere behauptet, ihm werde von dem Satiriker nur deshalb so übel mitgespielt, weil dieser ihn für eine bedeutende Figur halte. Die Meinungen über den ästhetischen Wert der Femmes savantes sind geteilt. Molière selber hielt sie für eines seiner gelungensten Werke und hat in sie mehr Zeit investiert als in jedes andere. Es ist denn auch vorzüglich konstruiert und ausgewogen, fast möchte man sagen zu sehr; der erste Impetus ist, anders als sonst, zu sehr durch nachträgliche Reflexion gefiltert und geglättet. Antoine Adam hat zweifellos Recht, wenn er tadelt, daß jede Person in diesem Werk partout über ihr weltanschauliches Programm räsonnieren müsse. Seinem Urteil, die Femmes savantes seien eines der schlechtesten Stücke Molières, wird man gleichwohl kaum beipflichten können. Noch einmal greift Molière auf die Form der Ballettkomödie zurück, bei welcher er stets eine glückliche Hand bewiesen hatte, in seinem Malade imaginaire.
»Le Malade imaginaire« als Ärztesatire
Es scheint, als habe der Dichter noch einmal alle Register ziehen wollen im Kampf um die sich zunehmend versagende Gunst des Königs. Der Malade imaginaire war für eine Aufführung am Hof gedacht. Elemente der Posse, Tanzeinlagen, karnevaleske Einlagen und vor allem ein erster Prolog, der in Form einer Ekloge eine Apotheose Ludwigs enthielt, lassen daran keinen Zweifel. Vorausgegangen war jedoch der endgültige Bruch mit Lully. Dem intriganten Komponisten war es gelungen, Molière aus der Gunst des Königs zu verdrängen und sich ein Monopol für jegliches Musiktheater am Hof zu sichern. Molière ließ sein letztes Werk also vor seinem Publikum aufführen, im Palais-Royal, und ersetzte die den König preisende einleitende Ekloge durch einen kurzen Prolog. Die Musik ließ er von seinem Freund Charpentier komponieren. Der Malade imaginaire ist in seiner Struktur besonders dem Bourgeois gentilhomme verwandt. Dem virtuos-komischen Ritual der Erhebung Monsieur Jourdains zum türkischen Mamamouchi entspricht die Zeremonie, in welcher Argan, der malade imaginaire, zum Doktor der Medizin promoviert wird: Ehrenpromotion eines Mannes, welcher durch seine eingebildete Krankheit sich größte Verdienste um das Ansehen und das finanzielle Wohlergehen der ärztlichen Zunft erworben hat und für den es der Gipfel der selbstgenießerischen Hypochondrie sein muß, sich selber, ausgestattet mit der Autorität des Arztes, so kurieren zu können, daß er die liebgewordene – nur vermeintliche – Krankheit, auf keinen Fall los wird. Unschwer ist in der Handlung ein bewährtes Grundschema zu erkennen. Ein wohlhabender bürgerlicher Familienvater – Argan – will seine Tochter nach seinem eigenen Willen und Interesse verheiraten. Diesmal soll es ein Arzt sein, der Sohn des Dr. Diafoirus, denn Argan will einen Arzt in der Familie. Die Tochter – Angélique – aber liebt Cléanthe, und wieder einmal sehen wir, daß ein vernünftiger Bruder des Protagonisten, der raisonneur Béralde, das junge Liebespaar und eine wit116
zig-freche Dienstmagd sich verbünden, um das Recht der Jugend auf autonome Lebensgestaltung gegen die engstirnige Autorität des Vaters durchzusetzen. Auch eine Stiefmutter ist wieder von der Partie, wie im Tartuffe. Doch anders als dort ergreift sie – Béline – nicht die Partei der Jungen gegen den aufgezwungenen Bräutigam, sondern ist eine üble Erbschleicherin, die es zu entlarven gilt. Béline, die zweite Frau Argans, spielt perfekt das Theater aufopfernder Liebe zu ihrem Mann, pflegt vor allem dessen eingebildete Krankheit in einer Weise, die Argan veranlaßt, ihr sein ganzes Vermögen überschreiben und seine eigenen Kinder enterben zu wollen. Die listige Dienerin Toinette und der Bruder Béralde bringen indessen Argan trotz dessen Widerstreben dazu, sich totzustellen, mit dem Erfolg, daß die vermeintliche Witwe angesichts des Toten in Jubel ausbricht und sich sogleich daran macht, sämtliche Schränke zu durchsuchen und sich aller Habe zu versichern. Die Überführung der Béline ist so eindeutig und drastisch wie diejenige Tartuffes. Argan kann sich der Wahrheit so wenig mehr verschließen wie Orgon. Als er sich ein zweitesmal totstellt auf den Rat Toinettes hin, kann er sich der Bekundung echter Liebe und Trauer von seiten seiner Tochter Angélique und des Respekts von seiten des Liebhabers Cléanthe nicht verschließen. Er ist bereit, der Verbindung der beiden zuzustimmen. Cléanthe seinerseits erklärt, er wolle Arzt werden, wenn sein Schwiegervater unbedingt einen Mediziner in der Familie haben will. In dieser Situation macht Béralde den Vorschlag, Bruder Argan möge, als berühmter Kranker mit der Medizin bestens vertraut, selber sich als Kandidat zum Doktor der Medizin präsentieren. Und es beginnt die Promotion, das Ballett der Klistiere. Die Schlußszenerie übertrifft die Türkenzeremonie des Bourgeois gentilhomme ganz beträchtlich. Die Promotion Argans zum Doktor der Medizin ist eine geniale Karikatur des Promotionsrituals der Sorbonne. Die Fakultät tritt auf, repräsentiert durch acht Klistierspritzenträger, zweiundzwanzig Doktoren, sechs Apotheker, zehn tanzende und singende Chirurgen. Das Rigorosum erfolgt in schönstem Makkaronilatein. Der Dekan wünscht den Versammelten »Sçavantissimi doctores« erst einmal »Salus, honor, et argentum, Atque bonum appetitum«. Dann wird der Kandidat Argan befragt, weshalb Opium Schlaf erzeuge. Weil es eine einschläfernde Kraft besitze, lautet die Antwort. Der Chor der Fakultät jubelt: Intermède III Bene, bene, bene, bene respondere: Dignus, dignus est entrare In nostro docto corpore.
Was verschreibt der Arzt bei Hydropsie? Clysterium donare, Postea seignare, Ensuitta purgare.
Die gleiche Antwort gibt der Kandidat im Falle von Lungenerkrankung, Fieber, Rückenschmerzen, Asthma. Das Entzücken der Fakultät steigert sich zusehends. Jedem
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Clysterium donare, Postea seignare, Ensuitta purgare
folgt der jubelnde Chor der Äskulapjünger: Bene, bene, bene, bene respondere: Dignus, dignus est entrare In nostro docto corpore.
Der Kandidat wird durch Eid darauf verpflichtet, sich streng an die Theorien der Alten zu halten, auch für den Fall, daß der Kranke daran krepiert: Praeses:
Essere, in omnibus Consultationibus, Ancieni aviso, Aut bono, Aut mauvaiso? Bachelierus: Juro. Praeses: De non jamais te servire De remediis aucunis Quam de ceux seulement doctae Facultatis, Maladus dust-il crevare, Et mori de suo malo? Bachelierus: Juro. Der Kandidat hat glanzvoll bestanden und erhält feierlich die Facultas: Medicandi, Purgandi, Seignandi, Perçandi, Taillandi, Coupandi
Et occidendi Impune per totam terram. Der neue Doktor hält die Dankrede, und der Chor jubiliert: Vivat, vivat, vivat, vivat, cent fois vivat, Novus Doctor, qui tain bene parlat! Mille, mille annis et manget et bibat, Et seignat et tuat!
Der Malade imaginaire ist, wie man sieht, vor allem Ärztesatire. Molière hatte damit begonnen im Dom Juan. Heftige Ausfälle gegen Scharlatane und Fanatiker der Heilkunst enthalten Monsieur de Pourceaugnac und Le médecin malgré lui. Im Médecin malgré lui läßt er eine seiner Figuren sagen:
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Sganarelle: (...) il y a parmi les morts une honnêteté, une discrétion la plus grande du monde; et jamais an n'en voit se plaindre du médecin qui l'a tué. (III, 1)
Härte und Bitterkeit der Molièreschen Ärztesatire haben ihren Ursprung zweifellos in persönlichen Erfahrungen des Dichters. Die Satire selbst ist jedoch nicht nur ihm allein eigen. Man muß wissen, daß kaum ein Berufsstand durch gelehrtes Getue, lächerliche Aufmachung, Anmaßung und borniertes Festhalten an alten Lehrmeinungen soviel Ärgernis erregte wie die Ärzte der Zeit. Blindlings folgte man den antiken Autoritäten Hippokrates, Aristoteles und Galenus. Jede Krankheit wurde auf unreine Säfte im Körper zurückgeführt, und das heißt, daß man – um sie abzuführen – vor allem zwei Hilfsmittel anwandte: Aderlaß und Klistier. Den Patienten wurde soviel Blut abgezapft, daß sie von selber ruhig wurden. Der König ließ sich lange Zeit fast täglich ein Klistier verpassen, worüber die königliche Verwaltung und der Hof sorgfältig Buch führten. Das Klistier wurde Anlaß für unzählige skatologische und obszöne Witze. Zu den Höhepunkten aller Malade imaginaireAufführungen gehört die Szene, in welcher Argan seinen Allerwertesten mehrfach der Klistierspritze des Apothekers Fleurant präsentiert, aber jedesmal von seinem Bruder Béralde am Empfang des Inhalts gehindert wird. Eine Medizin, die für jeden Kasus ein Klistier in den Hintern parat hat, ist in der Tat und buchstäblich eine Afterwissenschaft, die ihre Adepten zu Heuchlern oder zu Fanatikern macht. Man muß sehr gesund sein, um ihre Therapie zu überstehen. Béralde ist überzeugt, daß seinem Bruder Argan überhaupt nichts fehlt, ja, daß er kerngesund ist, sonst hätte er infolge der vielen Aderlässe und Klistiere das Zeitliche längst gesegnet, während er selber bloß deshalb noch lebt, weil er auf die Segnungen der Heilkunst von vornherein verzichtet. Zu fürchten ist weniger der Scharlatan, den man durchschauen kann, als vielmehr der Arzt, der von seinen Meinungen fest überzeugt ist: C'est de la meilleure foi du monde qu'il vous expédiera, et il ne fera, en vous tuant, que ce qu'il a fait à sa femme et à ses enfants, et ce qu'en un besoin il ferait à luimême. (III,3)
Béraldes Skeptizismus, der auch derjenige Molières ist, beruht auf der Feststellung, daß der menschliche Körper- notre machine- bis jetzt noch zu wenig bekannt ist, um Ärzten überantwortet zu werden, die über ihn nicht mehr wissen als die Heilkundigen der Antike: (...) les ressorts de notre machine sont des mystères, jusques ici, où les hommes ne voient goutte, et que la nature nous a mis au-devant des yeux des voiles trop épais pour y connaître quelque chose. (III, 3)
Molière wollte von den Einsichtigen nicht mißverstanden werden. Er läßt daher Béralde das Gespräch auf seine eigenen Komödien bringen und – gegen Argan – über sich selbst sagen: Ce ne sont point les médecins qu'il joue, mais le ridicule de la médicine. (III, 3)
Diese Differenzierung bliebe angesichts der Arztkarikaturen des Malade imaginaire unglaubwürdig, hätte Molière nicht verdeutlicht, daß er an einen Fortschritt der
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medizinischen Wissenschaft glaubt entgegen der hemmenden und herrschenden Scholastik der Sorbonnemedizin und der meisten Ärzte. Er bricht eine Lanze für die Entdeckung des Blutkreislaufs, gegen welche sich die offizielle Medizin noch lange mit Händen und Füßen sträubte. Der von Argan als Schwiegersohn ausersehene Thomas Diafoirus überreicht Angélique bei der ersten Begegnung seine Doktorarbeit, in welcher er die Entdeckung des Blutkreislaufs widerlegt zu haben meint, und lädt die Braut geschmackvollerweise ein, der Sezierung einer weiblichen Leiche beizuwohnen. Dr. Diafoirus-Vater ist stolz auf diesen Sprößling, der perfekt auswendig Gelerntes produziert: Mais sur toute chose ce qui me plaît en lui, et en quoi il suit mon exemple, c'est qu'il s'attache aveuglément aux opinions de nos anciens, et que jamais il n'a voulu comprendre ni écouter les raisons et les expériences des prétendues découvertes de notre siècle, touchant la circulation du sang, et autres opinions de même farine. (II, 5)
Dieses Prachtstück eines angehenden Mediziners beschränkt den engen Horizont seines Weltbilds nicht nur auf den Beruf. Angélique sucht ihm begreiflich zu machen, daß er sie nicht heiraten solle, ohne daß beide einander kennen und lieben gelernt hätten. Der widerwärtige Prätendent bedeutet ihr, er werde sie auch gegen ihren Willen heiraten. Zur Begründung gibt er an, es stände bei den Alten zu lesen, (...) »que leur coutume était d'enlever par force de la maison des pères les filles qu'on menait marier«. (II, 6) Molières Ärztesatire tritt damit ein in den größeren Kreis einer umfassenden Kritik an der Geltung, durch die ein erstarrtes humanistisches Weltbild zum Hemmnis für den Fortschritt, ja für die Befreiung einer empirischen Wissenschaft wurde. In seinem ergiebigen Aufsatz Molière und die Anciens hat Franz Walter Müller diesen Sachverhalt folgendermaßen formuliert: »Das grundsätzlich Neue an Molières Angriff war vor allem die Weigerung, in humanistischer Wissenschaft echte Wissenschaft zu sehen. Studium der Alten war noch den Humanisten des 17. Jahrhunderts nicht weniger als Petrarca die Garantie nicht nur richtigen Denkens, vorbildlichen Schreibens, sondern auch wissenschaftlicher Methode und humaner Weisheit. Indem er dies alles als Illusion erklärte, vertrat Molière, knapp zwanzig Jahre, bevor der eigentliche Kampf der Moderne gegen die Anciens in Frankreich begann, bereits eine neue Wissenschaftsauffassung, für die es vor ihm in Frankreich nur vereinzelte Vorläufer gegeben hatte. Es war die antihumanistische Gesinnung der modernen Naturwissenschaft, die jenseits des humanistischen Literaturgetriebes bei vereinzelten Philosophen und Mathematikern in der Stille die Grundlagen eines neuen Weltbildes vorbereitete, in dem kein Platz mehr für den Humanismus und seine antiken Götter war. « 48 Angélique gibt dem hartnäckigen Bewerber eine wahrhaft klassische Antwort: Les anciens, Monsieur, sont les anciens, et nous sommes les gens de maintenant. (II, 6)
Franz Walter Müller kommentiert: » Mit diesem Satz, dessen Präzision nicht zu übertreffen ist, bekennt sich Molière am Ende seines Lebens als vorzeitiger Spre48
Franz Walter Müller, »Molière und die Anciens«, in Romanistisches Jahrbuch 10 (1959), S.130.
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cher der Generation, die bald darauf ein neues Weltbild im Kampf gegen den zum leeren Formalismus erstarrten Humanismus erobern wird. « 49 Ein paar Worte noch zum Protagonisten des Stückes. Argan ist physisch gesund, aber psychisch krank. Er genießt sein vermeintliches Kranksein, das ihm erlaubt, die gesamte Umwelt dazu aufzurufen, daß sie sich um ihn kümmert. Die Krankheit macht ihn zum Mittelpunkt eines privaten Universums, gibt ihm eine fiktive, konstruierte, mit allen Mitteln bis zur Selbstbelügung durchgesetzte Bedeutung, mit der offenbar in Wahrheit die Bedeutungslosigkeit dieses Daseins kompensiert werden soll. Wollüstig erschauert er beim Anhören all der Krankheiten, die er angeblich hat oder noch bekommen soll. Sich einreden, daß das Leben ständig bedroht ist, macht dieses Leben so kostbar, daß entsprechend ideologisiertes Bewußtsein über die Nichtigkeit dieses Lebens hinweghilft. Sich so lange einreden, bis das falsche Bewußtsein nicht mehr als falsch erkannt zu werden braucht, daß das eigene Leben stets gefährdet ist, man dieser Gefährdung aber auch stets Herr wird, ist so etwas wie das Wunder der Bedeutung, die kalkulierte Sinngebung der sinnentleerten Existenz zu verleihen vermag. Kein Zufall, daß Argan böse wird, wenn jemand an seiner Krankheit Zweifel hegt, denn jeder Zweifel erschüttert das Gebäude einer imaginären Persönlichkeit. Die Eingangsszene zeigt Argan, wie er die Rechnungen seines Apothekers nachprüft. Argan ist knickrig, doch gerade deshalb wird jeder Sou, den er ausgibt, zum Zeugnis für die Wichtigkeit der eigenen Person. Wenn er betrübt feststellt, daß er diesen Monat noch nicht soviele Klistiere bekommen hat wie im Monat zuvor und daraus schließt, daß er sich kränker fühle als vorher, so verrät sich daran die kalkulierte Lust am Mitleid mit sich selbst, dessen er bedarf, weil die Umwelt ihm die Achtung versagt, nach der er giert. Argans Hypochondrie ist Ersatzbefriedigung. Aber wofür? Molière hat sich darüber nicht ausgesprochen. Doch wir gehen kaum fehl, wenn wir Argan in die Nähe Orgons und Harpagons rücken. Diese drei Personen leben in der Angst vor dem Verlust ihrer eigenen Lebenssubstanz. Sie können ihr wohlbehütetes und sorgenfreies, offenbar aber unproduktiv gewordenes Leben nur noch sinnvoll begründen, indem sie sich Autoritäten unterwerfen, an denen sie selber unter keinen Umständen rütteln noch rütteln lassen wollen: bei Orgon ist es die Religion in Gestalt der dévotion, bei Harpagon der Mammon, das Geld als Götze, bei Argan die sanktionierte Autorität der Schulmedizin. Es scheint, daß wir es bei diesen Gestalten mit Vertretern einer Gruppe des Bürgertums zu tun haben, die, vom Absolutismus ihrer alten Hoffnungen beraubt, den Anschluß an die neue Etappe des historischen Aufstiegs ihrer Klasse nicht finden kann. Den Malade imaginaire schrieb ein Dichter, der genau wußte, daß seine eigene Krankheit keine eingebildete war. Die Erstaufführung fand am 10. Februar 1673 statt. Molière spielte den Argan. Bei der vierten Aufführung erlitt er in der Schlußszene einen heftigen Anfall, den er nicht völlig überspielen konnte. Wenige Stunden später brachte ein Blutsturz den Tod. Der herbeigerufene Priester kam zu spät. Der zuständige Gemeindepfarrer untersagte ein christliches Begräbnis. Armande Béjart ersuchte den König um eine Audienz. Es scheint, daß der Erzbischof von Paris erst auf den Druck des Monarchen hin sich bereit erklärte, das Begräbnis 49
Ebd., S. 131. 121
zu gestatten, und auch dies nur mit bestimmten Auflagen. Molière wurde am 13. Februar 1673, abends um 9.00 Uhr, bei Dunkelheit, begraben. Der Haß seiner Gegner verfolgte ihn über den Tod hinaus, zu ihrer eigenen Schande und zum Ruhme des Dichters. Den Lehnstuhl, in dem Molière den Malade imaginaire noch an seinem Todestage gespielt hat, hütet die Comédie Française bis heute als ein kostbares Kleinod.
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Nicolas Boileau, der bürgerlichste Repräsentant der Hochklassik Wie schon bei der Behandlung der Werke Racines, so haben wir auch in unserer Betrachtung Molières des öfteren einen Namen nennen müssen, an dem kein Historiker der französischen Literatur vorbeigehen kann: Nicolas Boileau-Despréaux. Spontane Bewunderung bekundete Boileau für das Genie Molières in einer seiner aufsehenerregenden Satiren. Sie stammt aus dem Jahre 1665. Rare et fameux Esprit, dont la fertile veine Ignore en écrivant le travail et la peine; Pour qui tient Apollon tous ses trésors ouverts, Et qui sçais à quel coin se marquent les bons vers. Dans les combats d'esprit sçavant Maistre d'escrime, Enseigne-moi, Molière, où tu trouves la rime. On diroit, quand tu veux, qu'elle te vient chercher. 50
Neidlos preist Boileau Molière als ein Genie der Leichtigkeit, als den Fechtmeister des Geistes, der es nicht nötig hat, mühselig nach Reimen zu suchen, denn die Reime suchen ihn. Boileau hat Molière durch alle Kämpfe hindurch die gleiche Freundestreue bewahrt wie er sie auch Racine gegenüber bewies. Dieser Umstand zeugt nicht bloß für seine menschlichen Qualitäten, sondern auch für die Sicherheit seines ästhetischen Instinkts: Boileau behandelte Molière und Racine, und nicht nur diese beiden, so, als sei es schon sicher und stünde schon in allen Literaturgeschichten, daß sie die Klassiker der französischen Literatur sein würden. Dieser außergewöhnliche, unbeirrbar persistierende kritische Instinkt würde es allein schon rechtfertigen, Boileau jenen besonderen Platz einzuräumen, an dem ihn die Nachwelt als den größten » législateur du Parnasse français« inthronisierte. Der antiklassizistische Affekt der Romantik und die skeptischkritische moderne Forschung haben manche Abstriche gemacht, derart, daß von Boileaus Originalität kaum etwas übrigblieb. Gleichwohl lernen französische Schüler und Studenten noch heute die Kernverse und Kernsätze Boileaus auswendig, was ihnen nicht unbedingt zum Schaden gereichen muß. Kritische Funktion und Wirkung dieses Mannes und seines Werkes erfordern eine Beachtung, die auch im Rahmen dieser Vorlesung zur Geltung kommen muß. Boileau gilt als der »bürgerlichste« unter den bürgerlichen Repräsentanten der hochklassischen Zeit. Diese Feststellung wäre ohne Belang, träfe sie lediglich auf seine Herkunft zu. In Wahrheit beruht sie auf dem Umstand, daß Boileaus literaturund moralkritische Tätigkeit sich ganz offensichtlich von einem Standpunkt aus 50
Nicolas Boileau, »Satires«, in: Œuvres complètes (hrsg. Françoise Escal), Paris 1966, S. 17. 123
entfaltete, auf dem er durch alle Wechselfälle seines Lebens hindurch beharrte und den man vielleicht dahingehend bestimmen kann, daß sich ein von Natur kritischer und selbständiger Geist der Rolle bewußt war, welche das Bürgertum in der Wende von der ersten Phase seines Aufstiegs zur zweiten zu spielen hatte. Nachdem wir die Werke Racines und Molières kennengelernt und uns um eine gewisse Erkenntnis der literatur-, geistes- und sozialgeschichtlichen Bedingungen bemüht haben, unter denen sie entstanden, wird deutlich, was es heißt, daß sich eine kritische Autorität wie Boileau so eindeutig und wirkungsvoll für diese Schriftsteller einsetzte. Diese Autorität war nicht von heute auf morgen und nicht leicht erworben. Boileau wurde 1636 in Paris geboren; er hat diese Stadt nur ganz selten und nur für kurze Reisen verlassen. Sein Vater, Beamter bei der Großen Kammer des Parlaments, gehörte zur petite robe. Nicolas Boileau, unser Kritiker, sollte Geistlicher werden, studierte aber dann Jura, ohne jedoch diesen Beruf wirklich auszuüben. Er blieb eingefleischter Junggeselle, stand nicht immer zum besten mit seinen sage und schreibe fünfzehn Geschwistern, insbesondere mit seinem älteren Bruder Gilles. Die beiden Brüder, beide durchaus nüchterne Bürger, waren doch zugleich leidenschaftliche Literaten. Sie benahmen sich daher zu Beginn ihrer literarischen Karriere wie Hechte im Karpfenteich, oder nach dem Motto: »viel Feind, viel Ehr«. Nicolas' satirische Begabung übte sich daran, eine ganze Reihe von zeitgenössischen Literaturgrößen polemisch zu zerzausen, was ihm viele Feinde, aber auch Respekt und vor allem Renommée einbrachte. Sein Mut ist so beachtlich wie es seine Bosheiten sind. Er wagt es, eine Satire sogar gegen die Sorbonne zu richten und versteckte, aber jedem verständliche Attacken gegen den mächtigen Minister Colbert zu reiten. Seine Kunst, sich Feinde zu schaffen auch dort, wo es völlig unnötig ist, beweist sich insbesondere in der sogenannten Affaire des gratifications. Colbert hatte den Ehrgeiz, sich zum Mäzen der Schriftsteller aufzuwerfen. Der König, seinerseits der Rolle eines neuen Augustus nicht abgeneigt, gab seine Zustimmung. Der ehrenwerte Chapelain, den wir als Redaktor der Sentiments de l'Académie Française sur le Cid, also aus der Querelle du Cid kennen, wurde von Colbert beauftragt, regelmäßig die Liste der Gratifikationswürdigen Schriftsteller aufzustellen. Er selber erhielt für sich erst einmal 3000 Francs aus der königlichen Schatulle und ließ sich von diesem Segen dazu verleiten, ein byzantinisches Huldigungsgedicht für den gnädigen Monarchen zu verfassen. Alle, die bei der ersten Gratifikationsverteilung leer ausgegangen waren, nahmen den armen Chapelain unter Beschuß, unter ihnen Boileau. Chapelain hatte u. a. ein episches Gedicht verfaßt, La Pucelle, von dem die Kenner längst wußten, daß es miserabel war, obwohl der Verfasser jahrzehntelang daran gehäkelt hatte. Chapelains Jeanne d'Arc nimmt es niemand ab, daß sie jemals ausgezogen sein könnte, um Frankreich zu retten, ausgezogen aus dem preziösen Salon, deren Sprache sie spricht. Boileau tut, was bisher niemand zu tun sich erdreistete: er macht Chapelains Werk lächerlich, am grausamsten in seinem Dialog Les Héros de Roman. Ich habe von dieser Parodie schon anläßlich der Behandlung von Mlle de Scudéry gesprochen, deren Romanhelden in erster Linie Gegenstand von Boileaus grimmigem Spott sind. Ich kann es mir jedoch nicht versagen, den Auftritt von Chapelains Jungfrau von Orléans in Boileaus Dialog zu zitieren. Die Szene spielt in der Unterwelt, vor
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deren Herrscher Pluto, in Anwesenheit von Diogenes. Jeanne d'Arc erscheint vor dem Thron des Beherrschers der abgeschiedenen Seelen. Pluton (...) Qui est-elle?
Diogene Pouvés vous ne pas reconnoistre la Pucelle d'Orleans?
Pluton C'est donc là cette vaillante fille qui délivra la France du joug des Anglois?
Diogene C'est elle mesme.
Pluton Je lui trouve la physionomie bien platte et bien peu digne de tout ce qu'on dit d'elle.
Diogene Elle tousse et s'approche de la balustrade. Ecoutons. C'est seurement une harengue qu'Elle vous vient faire et une harangue en vers car Elle ne parle plus qu'en vers.
Pluton A t'elle en effect du talent pour la poésie?
Diogene Vous l'allés voir.
La Pucelle O grand Prince, que grand dés cette heure j'appelle, Il est vrai le respect sert de bride à mon zele: Mais ton illustre aspect me redouble le cœur, Et me le redoublant, me redouble la peur. A ton illustre aspect mon cœur se sollicite, Et grimpant contre mont la dure Terre quitte. O! que n'ay je le ton desormais assés fort, Pour aspirer à toy sans te faire de tort! Pour toy puissai je avoir une mortelle pointe, Vers ou l'epaule gauche a la gorge est conjointe! Que le coup brisast l'os et fist pleuvoir le sang De la temple, du dos, de l'epaule et du flanc.
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Pluton Quelle langue vient elle de parler la?
Diogene Belle demande! françoise.
Pluton Quoy? c'est du françois qu'elle a dit? Je croiois que ce fust du bas Breton ou de l'Alleman. Qui est ce qui lui a appris cet estrange François là?
Diogene C'est un Poete chés qui elle a esté en pension quarente ans durant.
Pluton Voilà un Poete qui l'a bien mal eslevée.
Diogene Ce n'est pas manque d'avoir esté bien payé et d'avoir exactement touché ses pensions.
Pluton Voila de l'argent bien mal emploié. Hé, Pucelle d'Orleans. Pourquoy vous estes vous chargé la mémoire de tous ces grands vilains mots là vous qui ne songiés autrefois qu'a delivrer vostre patrie et qui n'aviés d'objet que la gloire.
La Pucelle La gloire. Un seul endroit y mene, et de ce seul endroit Droite et roide ...
Pluton Ah! elle m'ecorche les oreilles.
La Pucelle Droite et roide est la coste, et le sentier estroit.
Pluton Quels vers juste Ciel. Je ne puis pas en entendre prononcer un mot que ma teste ne soit preste à se fendre.
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Gedruckt wurde der Dialog Les Héros de roman erst im Jahre 1713, geschrieben aber bereits 1665. Er kursierte in allen literarisch interessierten Zirkeln. Auf die Vorwürfe, die ihm seine Angriffe gegen Chapelain einbrachten, antwortete Boileau 1668 in seiner neunten Satire: Il a tort, dira l'un, Pourquoi faut-il qu'il nomme? Attaquer Chapelain! ah! c'est un si bon Homme! (...) Il se tüe à rimer. Que n'écrit-il en prose? Voilà ce que l'on dit. Et que dis-je autre chose? En blâmant ses écrits, ai-je, d'un stile affreux, Distilé sur sa vie un venin dangereux? Ma Muse, en l'attaquant, charitable et discrete, Sçait de l'Homme d'honneur distinguer la Poëte. 51
Boileaus Rechtfertigung ist unangreifbar: bei aller Schärfe der Polemik hat er doch stets die persönlich-private Sphäre geschont, hat er niemals die menschliche Würde verletzt. Es war ihm in seinen Satiren durchaus Ernst mit der Absicht, die er in einer Art von Definition dieser Gattung formulierte: La Satire en leçons, en nouveautez fertile, Sçait seule assaisonner le plaisant et l'utile, Et d'un vers qu'elle épure aux rayons du bon sens, Détrompe les Esprits des erreurs de leur temps. 52 (Sat. IX)
Moralische Lektionen, geläutert im Lichte des bon sens, das dulce und das utile vereinigend, soll die Satire enthalten und dadurch den Leser über die Irrtümer der Zeit aufklären. Diese Aufklärung begreift Boileau als Kritik, und er nimmt, wie sein großes Vorbild Horaz, gelassen den Vorwurf der Anmaßung auf sich. Boileaus Freundeskreis in diesen Jahren bildet so etwas wie eine Opposition zu dem Ministeriat Colberts. Er verkehrt mit Gassendisten und Libertins, andererseits wird bereits jetzt seine Sympathie für die Jansenisten sichtbar. Es scheint, daß ihn der Ehrgeiz, der Horaz und der Juvenal seines Jahrhunderts zu sein, dazu verführte, etwas wahllos nach allen Seiten auszuschlagen. Unbestritten sind indes auch jetzt schon sein Nonkonformismus und seine geistige Selbständigkeit. Ende 1665 erschien eine Sammlung der bisher nur handschriftlich und durch Lesungen bekannten Satiren Boileaus im Druck. Es wurde ein Skandalerfolg. Die Opfer seiner virtuosen médisance, unter ihnen der Abbé Cotin, der Trissotin der Femmes savantes, reagieren mit wütenden Gegenangriffen. Nach dem Abklingen des Streits besinnt Boileau sich offenbar auf eine seriösere Lebensform. Er findet Zugang zu einigen vornehmen und hofnahen Salons, besonders zu dem Kreis um den ersten Parlamentspräsidenten Lamoignon, in dessen Diskussionen der Gedanke heranreift, die idealen Normen der zeitgenössischen Dichtung in einem Art poétique gültig zu formulieren. Boileau gewinnt die Protektion des Prince de Condé. Der erwünschte Zugang zum Hof jedoch war schwieriger zu erreichen. Schon 1664 hatte Boileau einen Discours au Roy verfaßt, der jedoch die Aufmerksamkeit des Königs noch nicht erregt zu haben scheint. Doch es gelingt dem Weiberfeind 51 52
Ebd., S. 54. Ebd., S. 55. 127
Boileau, Eindruck auf die Marquise de Montespan und deren Schwester Mme de Thianges zu machen. Alsbald läßt Ludwig seinen Minister Colbert wissen, er möge Boileau eine Pension zuweisen und die Druckerlaubnis für seine gesammelten Werke erteilen. 1676 wurde Boileau, zusammen mit Racine, auf die Fürsprache der Montespan hin zum historiographe du Roi ernannt. Das bedeutete: ein ansehnliches Gehalt und das Recht, täglich am Hof zu erscheinen. Ersteres nahm Boileau bereitwillig an, von letzterem machte er nur selten Gebrauch. Er war, anders als sein Freund Racine, kein Höfling. Die Gunst des Königs – via Montespan – verschaffte ihm auch den Eintritt in die Académie Française, die ihn sonst wohl kaum in ihre Reihen aufgenommen hätte – saßen dort doch zahlreich gerade jene Personen, die Boileau in seinen Satiren zum Gespött gemacht hatte. Ich habe die Rolle betont, welche die Königsmätresse Montespan in der Karriere Boileaus spielte. Wir dürfen darüber nicht vergessen, daß Boileau inzwischen nicht nur die Satiren, sondern auch moralische Episteln, das komische Epos Le Lutrin und vor allem – 1674 – den Art poétique veröffentlicht hatte. Wie in den Satiren und den Episteln folgt Boileau in seinem Art poétique dem großen Vorbild-Horaz. Man hat rund 150 unmittelbare Entlehnungen aus der Ars poetica des Horaz gezählt. 53 Boileau tat damit nur, was er seinen Zeitgenossen unablässig empfahl: die Alten zu imitieren. In Boileaus Theorie gipfelt die mehr als zweihundertjährige Theorie der Imitatio. Boileau ist ein bedingungsloser Verehrer der antiken Dichter; in der Querelle des Anciens et des modernes wirft er sich daher zum Wortführer der Partei der Anciens auf. Es erhebt sich die Frage, welches die tieferen Gründe sind, die ihn auf diese Haltung festlegen, lebte er doch in einer Zeit, die Werke hervorbrachte, die er selber allen anderen voran als Meisterwerke erkannte. Werfen wir einen Blick in den Art poétique. Zum Dichter muß man geboren sein, mit diesem Topos, der längst so gemeinplätzig wie unentbehrlich ist, beginnt das Werk. Sogleich schließt sich der Aufruf zur kritischen Selbstprüfung an. Wie viele verkennen ihre Begabung und versuchen sich an Gattungen, die ihnen nicht liegen. Etwas überraschend bringt Boileau dann den bon sens mit dem Reim zusammen: Quelque sujet qu'on traite, ou plaisant, ou sublime, Que toûjours le Bon sens s'accorde avec la Rime.
Der Reim ist ein Sklave und muß gehorchen, doch vernachlässigt man ihn, so rächt er sich. Widerspruchslos aber gehorcht er der raison: Aimez donc la Raison. Que toûjours vos écrits Empruntent d'elle seule et leur lustre et leur prix.
Und einige Verse später lesen wir: Tout doit tendre au Bon sens: mais pour y parvenir Le chemin est glissant et pénible à tenir.
53
Vgl. Nicolas Boileau, L'Art poétique (hrsg. August Buck), München 1970.
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Pour peu qu'on s'en écarte, aussi-tost l'on se noye. La Raison, pour marcher, n'a souvent qu'une voye. 54
Hier fallen die Stichwörter, von denen jede Betrachtung ausgehen muß. Hinzuzufügen sind: vérité und nature. Die genannten Grundbegriffe lassen sich mühelos zu einem kohärenten ästhetischen und poetologischen Wertsystem zusammenfügen, in dem wir den geschlossensten und konsequentesten Ausdruck der klassischen Doktrin sehen dürfen. Bon sens ist für den Einzelnen jenes diskursive Denk- und Urteilsvermögen, das jenen Gesetzen folgt, die sich aus der raison herleiten. Raison aber ist erkenntnistheoretisches Prinzip von umfassender Geltung, weil es der Nature entspricht. »La Nature est vraye« 55 – was sollte in der Tat wahrer sein als die Natur? Die Dichtung, die sich der raison unterwirft, ist daher vraie und naturelle. Und daraus folgert eine weitere Maxime: » Rien n'est beau que le Vrai«. 56 Der Kreis schließt sich: Raison, Nature, Vérité gehören zusammen, sind letztlich identisch. Aus dieser Identität läßt sich eine Gesetzlichkeit deduzieren, die sich in der Ästhetik zwangsläufig als ein Komplex von Regeln, als ein normatives System niederschlägt. Dichten heißt demzufolge: »imiter la nature«, »Jamais de la Nature il ne faut s'écarter«, »la Nature donc soit vostre étude unique« 57 – so liest man an anderen Stellen. Wie verträgt sich diese Forderung mit jener anderen, die besagt, der Dichter müsse die Anciens nachahmen? Der Widerspruch löst sich nur dann, wenn unter nature eine immer, zu allen Zeiten und überall gleiche Natur verstanden wird. Unter dieser Voraussetzung wird es möglich, die antiken Schriftsteller als stets gültige Modelle zu verstehen, als Muster, die zu imitieren sind und von denen her alles spätere zu bewerten ist, weil diese großen antiken Dichter als erste und in vollkommener Weise jene immergleiche Natur nachgeahmt haben. Man sieht leicht, daß Boileau – und mit ihm die klassische Ästhetik – überzeugt und durchdrungen ist von der Vorstellung, die Natur, und letztlich auch der zu ihr gehörende Mensch, seien immer dieselben und alles darauf ankomme, den Menschen davor zu bewahren, daß er sich von jener Natur und damit auch von seinem eigenen Lebensgesetz entfernt. Daher gilt es, den Schriftsteller an die Gesetze zu binden, die allein jener Natur entsprechen, d. h. an Regeln, die im wesentlichen schon von jenen antiken Schriftstellern gefunden worden waren, die sich auf die imitatio naturae am besten verstanden hatten. Die Schriftsteller des Mittelalters und der Renaissance hatten sich von der Natur abgekehrt, doch: »enfin Malherbe vint«! Jetzt erst, im Namen der raison und des bon sens, erfolgt die Besinnung auf die Natur und die Pflicht, sich in deren Namen an den Alten, an ihrem Stil und an ihren Gattungen zu orientieren. Kein Zweifel: der bon sens und die raison, die Boileau in unübertroffener Mustergültigkeit in den Werken der Anciens zu finden meint, entsprechen in Wahrheit dem Menschen- und Gesellschaftsbild Boileaus selbst und der Träger des klassi54
55 56 57
Nicolas Boileau, »L'Art poétique«, in: Œuvres complètes (hrsg. Françoise Escal), Paris 1966, S.157-162. Nicolas Boileau, »Epistres«, in: N. B., op.cit., S. 135. Ebd., S. 134. Nicolas Boileau, »L'Art poétique«, in: N. B., op.cit., S. 177, S. 179. 129
schen Geistes. Naturel, der nature gemäß, damit auch vrai und beau, ist nur, was dem eigenen Lebensgesetz, der eigenen Idealvorstellung adäquat ist. Aus der nature wird als universell gültig und gleichsam ewig bezogen, was Ideologie zuvor hineingelegt hat. Daß klassische Formstrenge und Regelkodex als naturel gelten können, ist nur so zu erklären, daß der Mensch selber strenge Form und Regel als seine Natur begreift. Ästhetisch wird die Natürlichkeit in der strengsten Form nur dann und in den Fällen erreicht, da die Künstlichkeit der Form sich in ihrer optimalen Erfüllung selber aufhebt. Daß dies in den großen Meisterwerken der Zeit erreicht ist, legitimiert einen ästhetischen Natur- und Wahrheitsbegriff, dem man allenfalls eines wird ernstlich vorwerfen können: daß er sich selber nicht historisch zu relativieren vermag. Es scheint indes, daß gerade Klassik, wo und wann immer sie in Erscheinung treten mag, ohne diesen Mangel sich nicht entfalten kann, der sich somit – als Voraussetzung – zum Positivum kehrt. Die französische Klassik und mit ihr Boileaus berühmte Forderung: Aimez donc la Raison sind schwer verständlich ohne den Cartesianismus. Stets galten daher Descartes' Discours de la méthode und Boileaus Art poétique als profilierteste Äußerungen des gleichen Zeitgeistes. Gustave Lanson formuliert die communis opinio der Literarhistoriker, wenn er in seiner Histoire de la litérature française schreibt: » (Boileau) était passionnément raisonnable, raisonneur, et rationaliste. Aussi le système de Descartes le satisfit-il parfaitement. Et ce qu'il y goûta, ce fut vraiment l'essentiel du cartésianisme, le principe et la méthode. Il fut plus cartésien que chrétien, chrétien seulement d'occasion, par respect des puissances, et parce que la méthode, entre les mains de Descartes, avait fait sortir des conclusions qui autorisaient en somme la foi.« 58 In der jüngeren und jüngsten Forschung hat die Auffassung, Boileau sei intransigenter Rationalist gewesen und geblieben, eine Einschränkung erfahren, die, wenn sie sich bestätigte, das Bild Boileaus zweifellos weniger prägnant und schwerer klassifizierbar, dafür aber komplexer und interessanter erscheinen ließe. Grundlage dieser neuen Blickrichtung sind vor allem Boileaus Réflexions sur Longin. Im Jahre 1674, im Jahre der Veröffentlichung des Art poétique also, hatte Boileau den spätantiken Traktat über das Erhabene, der irrtümlich dem Longinus zugeschrieben wurde, übersetzt. Doch erst 1694, während der Querelle des Anciens et des Modernes, verfaßte Boileau seine Réflexions sur Longin. Bei Pseudo-Longinus hatte Boileau eine Auffassung des erhabenen Stils, des stylus sublimis, angetroffen, die seiner eigenen Vorstellung von Dichtung entsprach. Er wiederholt das hervorragendste Beispiel, das Longinus für den erhabenen Stil gibt, die berühmte Stelle aus der Genesis: Dieu dit: Que la lumière se fasse; et la lumière se fit. 59
Und er steuert als modernes Beispiel die Replik des alten Horace aus der Tragödie Corneilles bei:
58
59
Gustave Lanson, Histoire illustré de la littérature française in zwei Bänden, Bd. 1, Paris 1923, S.370. Nicolas Boileau, »Traité du sublime«, in: N. B., op.cit., S. 338.
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Que vouliez-vous qu'il fit contre trois? – Qu'il mourût. (III, 6) 60
Den modernen Interpreten zufolge wäre Boileau im Verlauf seiner Beschäftigung mit dem Traktat Über das Erhabene allmählich zu der Überzeugung gekommen, daß große Dichtung nicht allein aus strenger Befolgung von Regeln entstehe, sondern noch anderer, rational nicht begründbarer Impulse bedürfe, daß das génie eines Schriftstellers sich nicht darin erschöpfe, ein Genie der Imitatio zu sein, sondern daß auch ein gewisses Maß an Inspiration vonnöten sei, deren Anteil dem Verstand nicht zugänglich sei, kurz: ein Irrationales. Die Befürworter dieser These können immerhin auf ein paar auffällige Indizien verweisen. So überrascht es zu sehen, daß Boileau im Art poétique bei der Behandlung der einzelnen Gattungen der Ode insofern eine Sonderstellung einräumt als er von diesem Genre sagt: Son stile impétueux souvent marche au hazard. Chez elle un beau désordre est un effet de l'art. 61
Darauf konnte der Leser kaum gefaßt sein: Willkür des Stils – au hazard – anstelle der Befolgung der Regeln, und désordre als eine Möglichkeit des Kunstschönen unter Einschränkung des beau absolu, d. h. der exklusiven Geltung einer Schönheit, die sich auf ordre stützt. In seinem Discours sur l'Ode ergänzt Boileau diese Verse: Ce precepte effectivement qui donne pour règle de ne point garder quelquefois de règles, est un mystère de l'Art (...) 62
Das ist in der Tat ein völlig unerwarteter Ton. Man wird ihn auch nicht überschätzen dürfen. Immerhin finden wir ihn wieder im Vorwort, das Boileau im Jahre 1701 einer Ausgabe seiner Werke vorangestellt hat. Dieses Vorwort beginnt mit einer captatio benevolentiae insofern, als der Verfasser seinem Publikum versichert, daß er stets Sorge getragen habe, sich den Erwartungen und dem Geschmack dieses Publikums anzupassen. Dann heißt es weiter: »Comme c'est icy vraisemblablement la derniere Edition de mes Ouvrages que je reverray; et qu'il n'y a pas d'apparence, qu'âgé, comme je suis, de plus de soixante et trois ans, et accablé de beaucoup d'infirmités, ma course puisse estre encore fort longue, le Public trouvera bon, que je prenne congé de luy dans les formes, et que je le remercie de la bonté qu'il a euë d'acheter tant de fois des ouvrages si peu dignes de son admiration. Je ne sçaurois attribuer un si heureux succez qu'au soin que j'ay pris de me conformer toûjours à ses sentimens, et d'attraper, autant qu'il m'a esté possible, son goust en toutes choses. C'est effectivement à quoy il me semble que les Ecrivains ne sçauroient trop s'étudier. Un ouvrage a beau estre approuvé d'un petit nombre de Connoisseurs, s'il n'est plein d'un certain agrément et d'un certain sel propre à piquer le goust general des Hommes, il ne passera jamais pour un bon 60
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Pierre Corneille, »Horace«, in: Théâtre complet in zwei Bänden (hrsg. Roger Caillois), Paris 1966/1968. Nicolas Boileau, »L'Art poétique«, in: N. B., op.cit., S. 164. Nicolas Boileau, »Discours sur l'Ode«, in N. B., op.cit., S. 227. 131
ouvrage, et il faudra à la fin que les Connoisseurs eux mesmes avoüent qu'ils se sont trompés en luy donnant leur approbation. Que si on me demande ce que c'est que cet agrément et ce sel, Je répondray que c'est un je ne scay quoy qu'on peut beaucoup mieux sentir, que dire. A mon avis neanmoins, il consiste principalement à ne jamais presenter au Lecteur que des pensées vraies et des expressions justes. L'Esprit de l'Homme est naturellement plein d'un nombre infini d'idées confuses du Vrai, que souvent il n'entrevoit qu'à demi; et rien ne lui est plus agreable que lors qu'on luy offre quelqu'une de ces idées bien éclaircie, et mise dans un beau jour. Qu'est-ce qu'une pensée neuve, brillante, extraordinaire? Ce n'est point, comme se le persuadent les Ignorans, une pensée que personne n'a jamais eue, ni dû avoir. C'est au contraire une pensée qui a dû venir à tout le monde, et que quelqu'un s'avise le premier d'exprimer. Un bon mot n'est bon mot qu'en ce qu'il dit une chose que chacun pensoit, et qu'il la dit d'une maniere vive, fine et nouvelle. 63 Boileau faßt in diesen Zeilen noch einmal sein ästhetisches Credo zusammen. Ein dichterisches Kunstwerk erweist sich als solches nicht schon durch den Beifall der Kenner, sondern durch das Gefallen, welches ein größeres Publikum an ihm hat. Nicht an der Zustimmung der wenigen Experten, sondern an der allgemeineren Geltung bei vielen legt das Werk die Probe ab auf die Frage, ob es gemäß der allgemeinen Gesetzlichkeit des richtigen, der raison entsprechenden Denkens und somit der Wahrheit geschaffen ist. Das Kunstwerk bringt nicht schlechthin Neues, Unerhörtes, es drückt vielmehr bloß auf eine besondere, präzise und gültige Weise aus, was alle vernünftigen Leute schon dachten oder empfanden. Damit ist noch einmal ganz entschieden die klassische Position bezogen, die für natürlich, wahr und schön das hält, was den Bedürfnissen und Intentionen eines gebildeten Publikums entspricht – la cour et la ville –, wie wir wissen. Das Prinzip des plaire ist hier – obwohl nur implizit – maßgebend. Auffallen muß aber nun, daß Boileau sich veranlaßt sieht, den letzten Grund für dieses »Gefallen« zu einem Geheimnis zu erklären. Erstmals gesteht er ein, daß das Kunstwerk, um den goût général des hommes anzusprechen, ein certain agrément – einen gewissen Reiz – und certain sel enthalten müsse. Und dann folgt das erstaunliche, wenn auch zurückhaltende Bekenntnis, daß dieser Reiz ein gewisses Etwas, ein Ich-weiß-nichtwas am Kunstwerk sei, das man zwar fühlen, aber nicht erklären könne: (...) c'est un je ne scay quoy qu'on peut beaucoup mieux sentir, que dire. 64
Freilich, die rationalistische Einschränkung folgt auf dem Fuße: A mon avis neanmoins, il [d. h. jenes »je ne sais quoi«] consiste principalement à ne jamais presenter au Lecteur que des pensées vraies et des expressions justes. 65
Ziehen wir ein behutsames Fazit: der ältere oder alte Boileau hat sich gewiß nicht vom Vertreter der strengen klassischen Regelästhetik zum Initiator der Rokokoästhetik oder gar zum Vertreter einer Inspirationstheorie gemausert. Andererseits wird man ihn nicht mehr wie bisher als einen starren Repräsentanten des Rationa63 64 65
Nicolas Boileau, »Préface pour l'édition de 1701 «, in: N. B., op.cit., S. 1 f. Ebd., S. 1. Ebd., S. 1.
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lismus ansehen dürfen, der, im Bedürfnis, die Grundsätze der Dichtkunst seiner Zeit für alle Zeiten zum Gesetz zu erheben, keinerlei Organ für neue Tendenzen, kein Gespür für die sich ankündigende Zeitenwende gehabt habe. Ich habe darauf hingewiesen, daß unter den Literarhistorikern ein Konsensus darüber besteht, Boileau sei der bürgerlichste Repräsentant der zu einem großen Teil ja von Schriftstellern bürgerlicher Herkunft getragenen französischen Klassik. Es liegt mir fern, diese Einschätzung in Frage zu stellen. Boileaus Lebensstil ist so bürgerlich wie seine Herkunft, mit Lanson zu sprechen: Dans son ascendance, dans son alliance, des magistrats, des procureurs, des marchands: rien que de franchement bourgeois. Il l'est lui-même au plus haut point. 66
Fröhlicher Zecher mit Freunden, sparsam, nicht ohne Familiensinn, ohne Ehrgeiz, am Hofe zu glänzen, tolerant, skeptisch ist er, ohne ein wirkliches künstlerisches Genie zu sein, doch ein Genie der Korrektheit, mit einer zuweilen erschreckenden Nüchternheit, die ihn in Stand setzt, in kühler Leidenschaft mit allen Auswüchsen, Extravaganzen und Aufgeblasenheiten ins Gericht zu gehen. Unbeirrbar hielt er nicht bloß an seinen eigenen Überzeugungen und seinem Recht auf Kritik fest, sondern auch an der Treue für die Autoren, in deren Werken er die Gipfelleistungen seiner Zeit und ihres spezifischen Geistes erkannte. Unschwer läßt sich für ihn ein Standort bestimmen, den er mit dem sehr viel subtileren und sensibleren Racine und mit dem genialeren und anfälligeren Molière teilte. Daniel Mornet hat Boileau einmal als »la conscience du classicisme« bezeichnet. Boileau besaß eine Ahnung davon, in welchem Ausmaß der Stand, dem er selber zugehörte, an den geistigen Hervorbringungen seiner Zeit beteiligt war, und er war von dem Gedanken durchdrungen, daß aus dieser Leistung sich gleichsam »natürliche« Normen herleiten ließen, die verbindlich auch für die Zukunft sein müßten. Ich möchte ihn daher, Mornet modifizierend, das »bürgerliche Gewissen der französischen Klassik« nennen. Gewiß ist er dieser Klassik ideologisch so sehr verhaftet, daß es ihm schwer fallen mußte, über sie hinauszudenken. Er ließ sich indessen trotz dieser zwangsläufig in einen gewissen Konservativismus einmündenden Haltung durch die Entwicklung um 1700 nicht in die Position eines Reaktionärs drängen. Die Zeitenwende zu der neuen Phase in der Geschichte der Emanzipation des bürgerlichen Denkens unter dem Ancien Régime entschieden mitzuvollziehen, untersagten ihm freilich die eigenen, fixierten ästhetischen Überzeugungen und die begrenzte Dauer des Lebens. Der Streit zwischen den Anciens und den Modernes zwingt ihn, den Apologeten der Antike, in eine Position, in der er sich alsbald nicht mehr wohlfühlt. Seine Epître sur l'amour de Dieu, in welcher er ziemlich offen seine übrigens nie verheimlichten Sympathien für die Jansenisten bekundet, trägt ihm erbitterte Angriffe von Seiten der Jesuiten ein. Seine letzten Lebensjahre sind überschattet von Asthma, Taubheit und Wassersucht. Er stirbt am 13. März 1711, im Alter von immerhin fast 75 Jahren.
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Gustave Lanson, op.cit., Bd. I, S. 369. 133
Madame de Sévigné
Der Lebensweg einer Adeligen Zum Abschluß unserer Betrachtungen der Klassik wollen wir uns der grande épistolière widmen, der Marquise de Sévigné. Marie de Rabutin-Chantal – so war ihr Mädchenname, wurde 1626 geboren. Sie stammte väterlicherseits aus dem hohen burgundischen Adel der Grafen de Rabutin, mütterlicherseits – Chantal – aus der noblesse de robe. In der Familie gab es einige Persönlichkeiten von profilierter Unruhe verschiedenster Art. Ihr Großvater, ein tüchtiger Mitstreiter Heinrichs IV., war ein gefürchteter adliger Raufbold, der es auf achtzehn Duelle brachte. Sein Sohn, der Vater unserer Marquise, war aus gleichen Gründen renommiert, fiel indessen jung bei den Kämpfen um La Rochelle. Ihre Großmutter mütterlicherseits, Jeanne de Chantal, war früh Witwe geworden, ins Kloster eingetreten, hatte sich Saint François de Sales anvertraut, gründete den Orden der Visitantinnen und wurde später heiliggesprochen. Zu den wichtigsten Korrespondenzpartnern der Mme de Sévigné gehörte ihr Vetter Roger, Comte de Bussy-Rabutin, Kavallerieoffizier und begabter Literat, der es wagte, in seiner romanesken Histoire amoureuse des Gaules ziemlich unverfroren das Liebesleben des Königs und seines Hofes zu persiflieren; er wurde dafür zunächst in die Bastille gesteckt und dann für sechszehn Jahre auf seine Ländereien verbannt. Bussy-Rabutin hat auch die erste Sammlung von Briefen seiner Kusine publiziert, nicht ohne sie vorher stilistisch etwas zurechtzufrisieren. Marie de Rabutin-Chantal wurde mit sieben Jahren Vollwaise. Ein Onkel, der Abbé de Coulanges, ließ ihr eine exzellente Erziehung zuteil werden. Sie lernte Latein, Italienisch und Spanisch. Ihre namhaftesten Lehrer waren Chapelain und Ménage. Ménage war ein hochgelehrter Pedant, den der Umstand, daß er in Mme de Sévigné ebenso verliebt war wie in seine anderen illustren Schülerinnen, nicht daran hinderte, ihre Sprache zu korrigieren. So in dem folgenden Fall: nach seiner Gesundheit befragt, antwortete Ménage, er sei erkältet. Darauf Mme de Sévigné: >je la suis aussi « . Ménage bedeutete ihr, es müsse heißen: »je le suis aussi«. Worauf ihm seine Gesprächspartnerin erklärt: Vous direz comme il vous plaira, (...) mais pour moi je ne dirai jamais autrement que je n'aye de la barbe. 67
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Es handelt sich hierbei um eine in der Sévigné-Korrespondenz mit Ménage nicht nachgewiesene Anekdote. Die entsprechende Passage findet sich in: M. Ménage, Ménagiana, ou bon mots,rencontres agréables, pensées judicieuses, et observations curieuses, Amsterdam 1893, S. 31.
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Dieses kleine Geplänkel läßt immerhin erkennen, daß die künftige Epistolière nicht bereit ist, ihre eigene Auffassung vom Stil völlig den Normen der Grammatiker zu unterwerfen. 1644, mit achtzehn Jahren also, heiratet sie den Marquis Henri de Sévigné. Sieben Jahre später, 1651, ist sie Witwe. Henri de Sevigné war ein unsteter Leichtfuß, der in der Fronde mehrere Male die Fronten wechselte – und ein notorischer Schürzenjäger dazu. Eine Liaison war die Ursache für das Duell, an dem er starb. Die fünfundzwanzigjährige Witwe hatte die Nase voll vom Ehestand. Sie widmete sich den beiden Kindern, die sie von dem Hallodri von Ehemann hatte, und wies beharrlich alle Bewerber, darunter höchst ansehnliche, ab, sowohl diejenigen, die ernstlich sich um ihre Hand bewarben, wie auch solche, die die gutaussehende und geistreiche Witwe gerne zu ihrer Mätresse gemacht hätten. Madame de Sévigné war gewiß keine leidenschaftliche, sondern eher eine kühle Natur. Trotzdem müssen wir ernst nehmen, was sie einmal an ihre Tochter schrieb: Si je suis restée une honnête femme, c'est à cause de ma passion pour vous. 68
Früh schon war sie am Hof vorgestellt worden, doch selten ließ sie sich dort sehen und wohl nur aus dem Grunde, des Königs Wohlwollen für ihre Kinder und für ihre Verwandtschaft, die immerhin durch die Fronde und durch Opposition von der Art Bussy-Rabutins kompromittiert war, nicht zu verscherzen. Ludwig XIV. hat sie stets mit Reserve, aber auch mit sichtlichem Respekt behandelt. Ihre Einstellung zu ihm war dieselbe. Unter den Berichten, die sie von den Ereignissen am Hof erstattet, ist der folgende nicht ohne Interesse. Die Stelle, die ich zitiere, ist enthalten in einem Brief, den Madame de Sévigné am 1. Dezember 1664 an den Marquis de Pomponne, den französischen Botschafter in Schweden, richtet, der wenig später wegen seiner Freundschaft für Foucquet in Ungnade fallen wird. Dort heißt es: Il faut que je vous conte une petite historiette, qui est très vraie et qui vous divertira. Le Roi se mêle depuis peu de faire des vers; MM. de Saint-Aignan et Dangeau lui apprennent comme il s'y faut prendre. Il fit l'autre jour un petit madrigal, que luimême ne trouva pas trop joli. Un matin, il dit au maréchal de Gramont: »Monsieur le maréchal, je vous prie, lisez ce petit madrigal, et voyez si vous en avez jamais vu un si impertinent. Parce qu'on sait que depuis peu j'aime les vers, on m'en apporte de toutes les façons.« Le maréchal, après avoir lu, dit au Roi: »Sire, Votre Majesté juge divinement bien de toutes choses; il est vrai que voilà le plus sot et le plus ridicule madrigal que j'aie jamais lu. « Le Roi se mit à rire, et lui dit: « N'est-il pas vrai que celui qui l'a fait est bien fat? – Sire, il n'y a pas moyen de lui donner un autre nom. – Oh bien! dit le Roi, je suis ravi que vous m'en ayez parlé si bonnement; c'est moi qui l'ai fait. – Ah! Sire, quelle trahison! Que Votre Majesté me le rende; je l'ai lu brusquement. – Non, monsieur le maréchal; les premiers sentiments sont toujours les plus naturels. « Le Roi a fort ri de cette folie, et tout le monde trouve que voilà la plus cruelle petite chose que l'on puisse faire à un vieux courtisan. Mme de Sévigné fügt hinzu:
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Mme de Sévigné, Lettres in drei Bänden (hrsg. Gérard Gailly), Paris 1953-1963, Bd. I, S. 42. 135
Pour moi, qui aime toujours à faire des réflexions, je voudrais que le Roi en fit làdessus, et qu'il jugeât par là combien il est loin de connaître jamais la vérité. 69
Diese Stelle verrät ihre Skepsis gegenüber einem Hof, an dem Schmeichelei wie ein Netz der Falschheit die Wahrheit überzieht und verdeckt. Es scheint, als bedaure Mme de Sévigné den König, weil er nie oder fast nie erfährt, was sein Hof über ihn denkt. Vielleicht hat sie ihn unterschätzt, trotz seiner Anfälligkeit gegenüber der Schmeichelei und Liebedienerei. Der zitierte Passus ist noch aus zwei anderen Gründen interessant. Mme de Sévigné nennt das Ereignis, von dem sie berichtet, une petite historiette. Sie gibt ihm damit den Namen, der eine neu aufgekommene literarische Kleingattung bezeichnet, historiette, die sich vor allem in den anzüglichen Historiettes des Tallemant des Réaux konstituiert. 70 Zum zweiten erweckt der Zusatz Aufmerksamkeit: »et qui vous divertira«. Hier fällt ein Schlüsselwort für die enge, genetische Gesellschaftsverbundenheit der Gattung des literarischen Briefs und ihres Stils. In den jungen Jahren ihrer Ehe war Mme de Sévigné Stammgast im Hôtel de Rambouillet. Die Preziosität dieses berühmten Salons hinterließ kaum Spuren bei ihr, wohl aber die Freundschaften, die sie dort schloß. Ähnliches gilt für die Frequentierung des Hauses Scarron, einer Keimzelle der Opposition gegen Mazarin, wo damals noch Mme Scarron, spätere Marquise de Maintenon und heimlich angetraute Gattin Ludwigs XIV., Hausherrin war. Innige Freundschaft verband sie später mit der berühmtesten Onkelehe der Zeit, mit Mine de Lafayette und dem Herzog de La Rochefoucauld. Madame de Lafayette, von Ehe und Leben enttäuscht und immer kränkelnd, La Rochefoucauld, seit der Fronde, in der er eine bedeutende Rolle gespielt hatte, desillusioniert, dem Hof entfremdet und ständig vom Zipperlein geplagt, diese beiden lebten in einer Resignation zusammen, über welche nur die Übereinstimmung der Gemüter und die Literatur und wenige echte Freunde hinwegtrösteten. Wie vernichtend es für Menschen dieser Art gewesen sein muß, dem öffentlichen Leben entfremdet und zugleich von der Geschäftigkeit des Hofes ausgeschlossen zu sein, darüber gibt eine Bemerkung Mme de Sévignés Auskunft, in einem Brief an ihre Tochter vom 30. Mai 1672: Mme de La Fayette est toujours languissante; M. de La Rochefoucauld toujours éclopé. Nous faisons quelquefois des conversations d'une tristesse qu'il semble qu'il n'y ait plus qu'à nous enterrer. 71
Für solche Stimmungen, in denen die Enttäuschungen des Lebens sich zum Gefühl der Todesseligkeit verdichten, hatte Mme de Sévigné viel Verständnis. Und doch war ihre eigene Natur, wie sie selbst bekennt und wie die Zeitgenossen bezeugen, eher von Heiterkeit und Zuversicht beherrscht. Ihre Briefe sind, trotz gelegentlicher Anfälle von Melancholie, ein unwiderlegbares Zeugnis dafür. Diese Heiterkeit hilft ihr über die Angst um das Leben ihres Sohnes Charles hinweg, der in 69
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Mme de Sévigné, Correspondance in drei Bänden (hrsg. Roger Duchêne), Paris 19721978, Bd. I, S. 67. Fritz Nies, »Das Ärgernis Historiette. Für eine Semiotik der literarischen Gattungen«, in: Zeitschr. f. roman. Phil. 89 (1973), S. 421-439. Mme de Sévigné, op.cit., Bd. I, S. 523.
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der Armee des eroberungslüsternen Königs dient, und über den Schmerz der Trennung von ihrer Tochter. Diese Tochter, Françoise-Marguerite, abgöttisch geliebt von der Mutter, wird zum Zentrum von deren Existenz. Sie heiratet 1669 den wesentlich älteren Comte de Grignan. Die Hoffnung Mme de Sévignés, daß ihr Schwiegersohn ein Amt am Hofe erhalte, erfüllt sich nicht. Grignan wird zum Lieutenantgénéral der Provence, d. h. praktisch zum Gouverneur der Provence ernannt. 1671 folgt die Tochter ihrem Gatten nach dem Süden, und von diesem Augenblick an setzt der ununterbrochene briefliche Dialog zwischen Mutter und Tochter ein. Am 8. April 1671, kurz nach der Abreise von Mme de Grignan, schreibt Madame de Sévigné an die Tochter: »Vous me baisez et vous m'embrassez si tendrement! (...) Pensez vous que je ne baise point aussi de tout mon cœur vos belles joues et votre belle gorge? « 72 Diese Zeilen, im Verein mit einigen ähnlich lautenden, haben in neuerer Zeit eine etwas übertriebene tiefenpsychologische Schnüffelei hervorgerufen. Mme de Sévigné sei, so heißt es, nur deshalb gleichgültig gegenüber den Männern gewesen, weil sie von einer inzestuös-lesbischen Liebe für ihre Tochter besessen gewesen sei. Diese Interpretation verkennt, daß das gewählte Vokabular durchaus dem affektiven Stil der Zeit entspricht. Er spricht bei Mme de Sévigné zuweilen die unverwechselbare Sprache der wundersamen Lebensmacht Liebe: »Vous m'êtes toutes chose; je ne connais que vous. Hélas! c'est ma folie de vous voir, de vous parler, de vous entendre. Je me dévore de cette envie, et du déplaisir de ne vous avoir pas assez écoutée, pas assez regardée. Il me semble pourtant que je n'en perdais guère les moments, mais enfin je n'en suis pas contente. Je suis folle, il n'y a rien de plus vrai, mais vous êtes obligée d'aimer ma folie. Je ne comprends pas comme on peut tant penser à une personne.« 73 Und wenig später: »(...) mais quoique j'en parle beaucoup, j'y pense encore mille fois davantage, et jour et nuit (...) (...) et à toute heure, et à tous propos, (...) et enfin comme on devrait penser à Dieu, si l'on était véritablement touché de son amour.« 74 An der Idolatrie der Marquise für Mme de Grignan hegten auch die Zeitgenossen keinen Zweifel. Mme de Sévigné gestand sie auch willig ein, ja, sie amüsierte sich darüber, daß ihr Beichtvater ihr einmal die Absolution verweigerte mit der Begründung, sie liebe ihre Tochter mehr als Gott. Ihr Leben spielt sich von nun an zwischen Paris und Les Rochers in der Bretagne ab, wo sie die Güter ihres Seligen verwaltet. Gelegentlich reist sie in die Provence zu ihrer Tochter und ihren Enkeln. Dort erkrankt und stirbt sie an den Blattern im Jahre 1696, im Alter von 70 Jahren. Sie stirbt gottergeben, aber keineswegs völlig überzeugt von ihrem jenseitigen Schicksal. Mme de Sévigné wollte, wie sie oft bekundet, gerne so richtig fromm sein. Das ist ihr nie ganz gelungen. Um die Ängste und die Widerfahrnisse des Lebens zu bestehen, sucht sie immer wieder Zuflucht im Glauben an die Vorsehung. Das Leben ist für sie »ce mélange continuel de maux et de biens que la Providence nous prépare«. 75 Ihre Sorge, ob ihr Leben Gott 72 73 74 75
Ebd., S. 215. Ebd., S. 191 f. Ebd., S. 276. Ebd., Bd. II, S. 908. 137
wohlgefällig sei, ist durchaus ernst. So heißt es einmal (16. März 1672): »Comment serai-je avec Dieu? Qu'aurai-je à lui présenter? La crainte, la nécessité feront-elles mon retour vers lui? N'aurai-je aucun autre sentiment que celui de la peur? Que puis-je espérer? Suis-je digne du paradis? Suis-je digne de l'enfer? Quelle alternative! Quel embarras! Rien n'est si fou que de mettre son salut dans l'incertitude, mais rien n'est si naturel, et la sotte vie que je mène est la chose du monde la plus aisée à comprendre (...) si on m'avait demandé mon avis, j'aurais bien aimé à mourir entre les bras de ma nourrice; cela m'aurait ôté bien des ennuis et m'aurait donné le ciel bien sûrement et bien aisément.« 76 Sie ist eine enthusiastische Verehrerin Pascals. Aus dem berühmten Essai de morale des Jansenisten Nicole möchte sie, wie sie sagt, am liebsten eine Bouillon machen, um ihn leicht verdaulich schlürfen zu können. Ihre Neigung für das rigorose Christentum der Jansenisten ist unverkennbar. Doch regelmäßig besucht sie die Messen, in denen die glänzenden Kanzelredner der Zeit, Bossuet, Fléchier, Mascaron und der Jesuit Bourdaloue dem weltlichen Geist um die Wette ins Gewissen reden. Mme de Sévigné ist ein Weltkind, trotz aller Frömmigkeit und trotz der Freundschaft mit den namhaften Jansenisten. Sie geht fast ebenso oft ins Theater wie in die Kirche. Gescheit kommentiert sie das literarische Leben ihrer Zeit. Man hat viel Aufhebens davon gemacht, daß Mme de Sévigné Corneille über alles stellte und für Racine kein rechtes Verständnis hatte. Beleg ist ein Brief vom 16. März 1672. Bei dem Verleger Barbin-Mme de Sévigné nennt ihn: » ce chien de Barbin« 77 -ist soeben Racines Bajazet erschienen. Mme de Sévigné urteilt darüber: »Le personnage de Bajazet est glacé. Les moeurs des Turcs y sont mal observées; ils ne font point tant de façons pour se marier. Le dénouement n'est point bien préparé; on n'entre point dans les raisons de cette grande tuerie. Il y a pourtant des choses agréables; et rien de parfaitement' beau, rien qui enlève, point de ces tirades de Corneille qui font frissonner. Ma fille, gardonsnous bien de lui comparer Racine; sentons-en la différence. Il y a des endroits froids et faibles, et jamais il n'ira plus loin (qu' Alexandre et) qu' Andromaque. Bajazet est audessous, au sentiment de bien des gens, et au mien si j'ose me citer. Racine fait des comédies pour la Champmeslé; ce n'est pas pour les siècles à venir. Si jamais il n'est plus jeune et qu'il cesse d'être amoureux, ce ne sera plus la même chose. Vive donc' notre vieil ami Corneille! Pardonnons-lui de méchants vers, en faveur des divines et sublimes beautés qui nous transportent; ce sont des traits' de maître qui sont inimitables. Despréaux en dit encore plus que moi, et en un mot, c'est le bon goût; tenez-vousy.« Man könnte lange darüber rätseln, was die kluge, belesene und urteilssichere Marquise veranlaßt haben mag, Racine gegenüber Corneille in so dezidierter Weise abzuwerten. War es nur die Treue für den alten Freund oder Beharren im Geschmack vor der Fronde? Revelatorisch sind vielleicht die Wörter enlever und transporter. Corneilles sublimes beautés erheben, reißen hin. Es scheint, daß die Wahrheiten des Racineschen Theaters peinlich sind, die Niederlagen seiner Men-
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Ebd., Bd. I, S. 458 f. Dies und das folgende Zitat ebd., S. 459.
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schen – während das Theater Corneilles die Möglichkeit beschwört, das Leben in heroischer Selbstüberwindung zu bestehen. Wir dürfen annehmen, daß diese Einstellung Mme de Sévignés mit ihrem ausgeprägten Standesbewußtsein zu tun hat. In diesem Zusammenhang ist nicht uninteressant, daß sie sich indigniert zeigt über die Ernennung Boileaus und Racines zu offiziellen Historiographen des Königs. Sie schreibt dazu an ihren Vetter BussyRabutin (3. November 1677): Ah! que je sais un homme de qualité à qui j'aurais bien plutôt fait écrire mon histoire, si j'étais son maître! C'est cela qui serait digne de la postérité! 78 Man spürt, wie empört sie darüber ist, daß die Geschichte des großen Königs, für den sie Ludwig hält, von zwei Bourgeois geschrieben werden soll anstatt von einem homme de qualité, mit dem sie ihren Vetter, den Grafen Bussy-Rabutin meint. In einem späteren Brief (18. März 1678) malt sie sich mit sichtlichem Vergnügen aus, wie die beiden dichtenden Hofhistoriographen sich der ungewohnten Mühsal des flandrischen Kriegs unterziehen, bis zu den Ohren im Dreck und im Freien schlafend: »Ces deux poètes historiens suivent donc la cour, plus ébaubis que vous ne sauriez penser, à pied, à cheval, dans la boue jusqu'aux oreilles, couchant poétiquement aux rayons de la belle maîtresse d'Endymion.« 79
Freundschaftswelt und Neugier
Sie wird den Dünkel nicht los und die Wehmut über die Entmachtung des Adels, wie sehr sie dies auch immer verschleiert in der Attitüde des Spotts und des Scherzes. Von dieser Attitüde des Scherzes als einer stilbestimmenden Ideologie der Selbstbehauptung wird noch zu sprechen sein. Jetzt schon mag die Hypothese geäußert sein, daß auch der Freundschaftskult der Mme de Sévigné hierhergehört. Einer der hartnäckigsten Bewerber um ihre Gunst war der mächtige, reiche und elegante Finanzminister Foucquet; sie hat ihn jedesmal kühl abblitzen lassen. Doch nach seinem Sturz, nach Verhaftung und Gefangensetzung hat sie ihm eine rührende Freundschaft bewahrt und sich für ihn eingesetzt, wo sie konnte. Zahlreiche Briefe zeugen von dieser Bindung. Das gleiche gilt für ihre Beziehungen zu dem verbannten einstigen Führer der Fronde, dem Kardinal de Retz. Nehmen wir noch La Rochefoucauld hinzu und ihren eigenen Vetter BussyRabutin – und es wären noch viele andere zu nennen wie die Jansenisten Arnauld und andere –, dann zeigt sich ein gemeinsamer Nenner: die Menschen, denen Mme de Sévignés Freundschaft, ja Liebe galt, sind fast durchweg Existenzen, welche an der Opposition zum Absolutismus gescheitert sind. Niemand wird bestreiten können, daß Freundestreue und Anhänglichkeit eine der hervorragenden persönlichen Eigenschaften Mme de Sévignés waren. Und doch wurde ihr die Freundestreue selber als ein Problem bewußt, das der Analyse be78 79
Ebd., Bd. II, S. 584. Ebd., S. 601. 139
durfte und generelles Interesse heischte. Anders wäre es wohl kaum zu erklären, daß sie plante, eine Abhandlung über die Freundschaft zu schreiben. Sie spricht davon in einem Brief an ihre Tochter, Mme de Grignan, vom 2. November 1679: »Je crois que je ferai un traité sur l'amitié. Je trouve qu'il y a tant de choses qui en dépendent, tant de conduites et tant de choses à éviter pour empêcher que ceux que nous aimons n'en sentent le contrecoup (...)« 80 Es geht hier sichtlich nicht darum, ein subjektives Gefühl, eine ganz persönliche Einstellung zu reflektieren, sondern um die Kultivierung der Freundschaft zur Etablierung einer Art von Schutzgemeinschaft gegen die bedrohlichen Wechselfälle des Lebens, wobei die Gefahren ganz eindeutig diejenigen sind, die aus der Gesellschaft des Absolutismus und aus der Politik des Königs resultieren. Freundschaft trägt hier, in einer quasi programmierten Gestalt, den Charakter einer Solidarität des monarchiegeschädigten Adels, rückt ein in eine Ideologie des Widerstands, der zwar keine Rückkehr an die Macht mehr winkt, der aber die Hoffnung bleibt, die menschliche Dignität der Standespersönlichkeit zu bewahren. Mit dieser Interpretation des Pathos, mit dem Mme de Sévigné die Freundschaft ausstattet und sie lebt, schaffen wir uns einen wichtigen Zugang zum Verständnis dieses Lebens und dieses Werks. Madame de Sévigné besaß eine weitere Eigenschaft, die man als typisch für ihr Geschlecht zu bezeichnen pflegt: sie war neugierig im höchsten Grade. Und zwar ganz wörtlich genommen: gierig auf jede Neuigkeit. Und so könnte man auch etwas despektierlich sagen, daß ihre Korrespondenz angefüllt ist mit Klatsch und Tratsch, freilich Klatsch und Tratsch gehobener Art, fast immer verbunden mit scharfsinnigen und geistreichen Reflexionen. Diesem Umstand verdanken wir, daß ihre Briefe zu einer kostbaren Chronik der Regierungszeit Ludwigs XIV. wurden, in durchaus subjektiver Spiegelung der Ereignisse gesellschaftlicher, politischer, militärischer und literarischer Natur. Wenn sie Dinge berichtet, die sie selber nur aus zweiter Hand kennt, so ersetzt eine lebhafte Phantasie die fehlende Augenzeugenschaft. Ganz zu Recht rühmt Lanson diese Fähigkeit: »(...) sa qualité essentielle et dominante, c'est l'imagination (...) une imagination puissante, une riche faculté d'invention verbale ... Cette force d'imagination dans un tempérament froid fait la valeur de la peinture que Mme de Sévigné a tracée de la société de son temps.« 81 In der Tat, das gilt für die Schilderung der höfischen Feste von Versailles wie für diejenige des adligen Landlebens in der Bretagne, für die Beschreibung des Prozesses gegen Foucquet wie für diejenige der Feldzüge Condés und Turennes. Für das tempérament froid, von dem Lanson spricht, lassen sich viele Beispiele finden. Eines davon ist der Bericht über die Exekution der Giftmischerin La Voisin, die einige Jahre nach der Hinrichtung jener Marquise de Brinvilliers erfolgte, die reihenweise ihre Verwandtschaft einschließlich des Ehegatten beseitigt hatte, um in den Alleinbesitz des Vermögens zu gelangen. Die Voisin dürfte nicht nur ihr jenes Gift besorgt haben, das die Zeitgenossen anzüglich poudre de succession, »Erbfolgepulver« nannten.
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Ebd., S. 727. Gustave Lanson, Histoire illustrée de la littérature française in zwei Bänden, Paris 1923, S. 363 f.
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Der Bericht, den Mme de Sévigné ihrer Tochter von den letzten Stunden der La Voisin gibt, am 23. Februar 1680, ermangelt nicht eines gewissen Respekts vor der Nervenstärke dieser Giftmischerin, die im Gefängnis wenige Stunden vor ihrer Verbrennung bei lebendigem Leibe noch ausgiebig zechte, fröhliche Lieder sang und, als man sie aufforderte, lieber an Gott zu denken, Marienhymnen parodierte. Mme de Sévigné fährt fort» Elle vint en carrosse de Vincennes à Paris; elle étouffa un peu et fut embarrassée. On la voulut faire confesser, point de nouvelles. A cinq heures on la lia et, avec une torche à la main, elle parut dans le tombereau, habillée de blanc; c'est une sorte d'habit pour être brûlée. Elle était fort rouge, et l'on voyait qu'elle repoussait le confesseur et le crucifix avec violence. Nous la vîmes passer à l'hôtel de Sully, Mme de Chaulnes et Mme de Sully, la Comtesse, et bien d'autres. A Notre-Dame, elle ne voulut jamais prononcer l'amende honorable et, à la Grève, elle se défendit autant qu'elle put de sortir du tombereau. On l'en tira de force. On la mit sur le bûcher, assise et liée avec du fer. On la couvrit de paille. Elle jura beaucoup, elle repoussa la paille cinq ou six fois, mais enfin le feu s'augmenta et on l'a perdue de vue, et ses cendres sont en l'air présentement. Voilà la mort de Mme Voisin, célèbre par ses crimes et par son impiété. On croit qu'il y aura de grandes suites qui nous surprendront. « 82 Sogleich fällt Mme de Sévigné noch ein weiteres Beispiel für die Nervenstärke einer Verbrecherin ein, die standhaft der Folterung widerstand: »Une de ces misérables, qui fut pendue l'autre jour, avait demandé la vie à M. de Louvois et qu'en ce cas, elle dirait des choses étranges; elle fut refusée. »Eh bien! dit-elle, soyez persuadé que nulle douleur ne me fera dire une seule parole. « On lui donna la question ordinaire, extraordinaire, et si extraordinairement extraordinaire qu'elle pensa y mourir, comme une autre qui expira, le médecin lui tenant le pouls, cela soit dit en passant. Cette femme donc souffrit tout l'excès de ce martyre sans parler. On la mène à la Grève. Avant que d'être jetée, elle dit qu'elle voulait parler. Elle se présente héroïquement: »Messieurs, dit-elle, assurez M. de Louvois que je suis sa servante, et que je lui ai tenu ma parole; allons, qu'on achève. « Elle fut expédiée à l'instant. Que dites-vous de cette sorte de courage? « 83 Mme de Sévigné beschließt diesen Bericht mit einer Wendung, die nun doch einigermaßen überrascht, auch den überrascht, der bereits wahrgenommen hat, daß es hier nicht das menschliche Schicksal ist, das interessiert, sondern der außergewöhnliche Fall, die Neuigkeit, die Sensation. Fast zynisch mutet es an, wenn die Schreiberin fortfährt: »Je sais encore mille petits contes agréables comme celui-là, mais le moyen de tout dire? « 84
Kontrollierte Spontaneität als ästhetisches Prinzip Kommunikation als gehobener Zeitvertreib – geradezu unter dem Signum einer Ausschweifung betrieben. Mme de Sévigné spricht einmal vom libertinage de nos 82 83 84
Mme de Sévigné, op.cit., Bd. II, S. 846. Ebd., S. 847. Ebd., S. 847. 141
conversations 85 , eine ebenso entwaffnende wie verräterische Formulierung. Für sie verlängert sich diese »Ausschweifung der Konversation« zur Korrespondenz als einer Konversation in schriftlicher Gestalt. Das hat Konsequenzen für den Stil der Briefe. Man könnte diesen Stil bestimmen als einen Stil der kontrollierten Spontaneität. Diese Spontaneität verrät sich in abrupten Übergängen von scheinbar rein assoziativer Art, in plötzlicher Einsprengung familiärer Wendungen und Neologismen, in sprunghaftem, jeder logischen Ordnung Hohn sprechendem Themenwechsel. Die Schreiberin ist sich dieses Umstands sehr wohl bewußt. Nicht zu Unrecht hat man von einer »Inszenierung der Unordnung« gesprochen. Unmittelbarkeit, Spontaneität, Einfälle, Affekt sind literarisiertes naturel, künstlerisches Mittel. Die Marquise weiß genau, daß ein Brief, der sich ganz und gar allein der Stimmung des Augenblicks überläßt, die Essenz dieser Stimmung nur unvollkommen wiedergibt. Sie dem Adressaten erlebbar zu machen, bedarf es eines Mindestmaßes an literarischer Formulierung, an sprachlicher Überwindung der unausgegorenen Empfindung, die sich nicht mitteilen kann ohne eine gewisse Reflexion, sich nicht artikulieren kann ohne die Kunstmittel der Sprache. Wenn Mme de Sévigné bekundet, sie schreibe »tant qu'il plaît à ma plume«, ohne zu wissen, »où cela ira, si ma lettre sera longue ou si elle sera courte« 86 , daß sie ihrer Feder stets die Zügel locker halte, so wäre es zweifellos falsch, dieses Selbstzeugnis in Frage zu stellen. Es enthält jedoch nur die halbe Wahrheit. Gewiß kann man unter der Vielzahl ihrer Briefe auch solche namhaft machen, die an Kunst nichts weiter aufzuweisen haben als die stilistische Begabung, die sich auch ohne besondere Bemühung einstellt und ausdrückt. Meistens aber sind die Briefe bewußt stilisiert und komponiert. Die assoziative Unordnung ist kalkuliert, ist artifiziell im besten Sinne. Demonstriert werden kann dies nur an den Briefen selber. Ich wähle zunächst einen Brief vom 26. April 1671 an die Tochter, Mme de Grignan. Thema ist ein aufsehenerregender Selbstmord. Der König besucht mit seinem Gefolge den Prince de Condé, den Grand Condé, in dessen Familienstammsitz Chantilly nördlich von Paris. Der Verwalter des Prinzen von Condé, Vatel, dem die Verantwortung für die Bewirtung der hohen Gäste obliegt, ist verzweifelt, als er feststellt, daß der Braten nicht ausreicht. Als auch die bestellten frischen Seefische nicht rechtzeitig eintreffen, sieht er seine Ehre verwirkt und begeht Selbstmord. Madame de Sévigné berichtet von diesem Ereignis wie folgt: Il est dimanche 26 avril; cette lettre ne partira que mercredi, mais ce n'est pas une lettre, c'est une relation que vient de me faire Moreuil, à votre intention, de ce qui s'est passé à Chantilly touchant Vatel. Je vous écrivis vendredi qu'il s'était poignardé; voici l'affaire en détail. Le Roi arriva jeudi au soir. La chasse, les lanternes, le clair de la lune, la promenade, la collation dans un lieu tapissé de jonquilles, tout cela fut à souhait. On soupa. Il y eut quelques tables où le rôti manqua, à cause de plusieurs dîners où l'on ne s'était point attendu. Cela saisit Vatel. Il dit plusieurs fois: »Je suis perdu d'honneur; voici un affront que je ne supporterai pas.« Il dit à Gourville: »La tête me tourne, il y a douze nuits que je n'ai dormi. Aidez-moi à donner des ordres. «
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Ebd., S. 947. Ebd., S. 506.
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Gourville le soulagea en ce qu'il put. Ce rôti qui avait manqué, non pas à la table du Roi, mais aux vingt-cinquièmes, lui revenait toujours à la tête. Gourville le dit à Monsieur le Prince. Monsieur le Prince alla jusque dans sa chambre et lui dit: »Vatel, tout va bien; rien n'était si beau que le souper du Roi. »Il lui dit: »Monseigneur, votre bonté m'achève; je sais que le rôti a manqué à deux tables. – Point du tout, dit Monsieur le Prince; ne vous fâchez point: tout va bien.« La nuit vient. Le feu d'artifice ne réussit pas; il fut couvert d'un nuage. Il coûtait seize mille francs. A quatre heures du matin, Vatel s'en va partout; il trouve tout endormi. Il rencontre un petit pourvoyeur qui lui apportait seulement deux charges de marée; il lui demanda: »Est-ce là tout?« Il lui dit: »Oui, monsieur.« Il ne savait pas que Vatel avait envoyé à tous les ports de mer. Il attend quelque temps; les autres pourvoyeurs ne viennent point. Sa tête s'échauffait; il croit qu'il n'aura point d'autre marée. Il trouve Gourville et lui dit: »Monsieur, je ne survivrai pas à cet affront-ci; j'ai de l'honneur et de la réputation à perdre.« Gourville se moqua de lui. Vatel monte à sa chambre, met son épée contre la porte, et se la passe au travers du cœur, mais ce ne fut qu'au troisième coup, car il s'en donna deux qui n'étaient pas mortels; il tombe mort. La marée cependant arrive de tous côtés. On cherche Vatel pour la distribuer. On va à sa chambre. On heurte, on enfonce la porte, on le trouve noyé dans son sang. On court à Monsieur le Prince, qui fut au désespoir. Monsieur le Duc pleura; c'était sur Vatel que roulait tout son voyage de Bourgogne. Monsieur le Prince le dit au Roi fort tristement. On dit que c'était à force d'avoir de l'honneur en sa manière; on le loua fort. On loua et blâma son courage. Le Roi dit qu'il y avait cinq ans qu'il retardait de venir à Chantilly, parce qu'il comprenait l'excès de cet embarras. Il dit à Monsieur le Prince qu'il ne devait avoir que deux tables et ne se point charger de tout le reste; il jura qu'il ne souffrirait plus que Monsieur le Prince en usât ainsi. Mais c'était trop tard pour le pauvre Vatel. Cependant Gourville tâche de réparer la perte de Vatel; elle le fut. On dîna très bien, on fit collation, on soupa, on se promena, on joua, on fut à la chasse. Tout était parfumé de jonquilles, tout était enchanté. Hier, qui était samedi, on fit encore de même. Et le soir, le Roi alla à Liancourt, où il avait commandé un medianoche; il y doit demeurer aujourd'hui. 87 Was ist an diesem Brief bemerkenswert? Zuerst der Charakter der Neuigkeit, des Unerhörten: nicht Brief, sondern relation. Dann natürlich der Fall an sich: der Intendant, der glaubt, die Verantwortung, die er hat, mit dem Leben bezahlen zu müssen, obwohl er unschuldig ist an dem Mißgeschick, das niemand, weder der Gast noch der Gastgeber so tragisch nimmt. Was Mme de Sévigné daran interessiert, ist offensichtlich das Faktum, daß Vatel »de l'honneur en sa manière« hat, d. h. die Tatsache, daß selbst eine unverschuldete Panne im Bannkreis des königlichen Glanzes zu einem Kasus der Ehre wird, der nur mit der Auslöschung der eigenen Existenz gelöst werden kann. Und dies bei einem Mann, den kein adliger Ehrenkodex zu solcher Tat verpflichtet hätte. Man errät, daß Mme de Sévigné diesem Phänomen etwas fassungslos gegenübersteht. Ihr Bericht verzichtet, anders als sonst, auf jeden Kommentar. Der Stil ist Ereignisstil, dramatisiert, sowohl in der schnellen Abfolge der Schilderung wie in der Knappheit der Sätze, in der Einführung kurzer Dialoge, wie vor allem im Wechsel der Tempora: 87
Ebd., Bd. I, S. 235 f. 143
La nuit vient. Le feu d'artifice ne réussit pas; il fut couvert d'un nuage. Il coûtait seize mille francs. A quatre heures du matin, Vatel s'en va partout (...) Il rencontre un petit pourvoyeur qui lui apportait seulement deux charges de marée (...) Vatel monte à sa chambre, met son épée contre la porte, et se la passe au travers du cœur, mais ce ne fut qu'au troisième coup, car il s'en donna deux qui n'étaient pas mortels; il tombe mort. Dieser Wechsel zwischen Passé simple, Präsens und Imperfekt, der eine eingehendere Analyse verdiente, ist nicht willkürlich, sondern folgt einem bewußten Prinzip der Stilisierung, die ganz auf Wirkung abgestellt ist, aber auch – wie schon angedeutet – in der Vergegegenwärtigung des Ereignisses das Staunen über dieses Ereignis offenbart und dem Leser mitteilt. Das zweite Beispiel bzw. Demonstrationsobjekt bezieht sich auf eine Begebenheit, die wochenlang den Hof in größte Erregung versetzte: die unglückliche Liebesromanze der Grande Mademoiselle. Mademoiselle, auch Grande Mademoiselle genannt, war keine Geringere als die Duchesse de Montpensier, Altesse Royale – königliche Hoheit, denn sie war die Tochter von Monsieur, Gaston d'Orléans, dem Bruder Ludwigs XIII., somit Kusine Ludwigs XIV. So wie ihr Vater gegen Richelieu, so konspirierte sie gegen Mazarin. Sie war eine der Heroinen der Fonde, die zusammen mit der Herzogin von Longueville, der Schwester Condés, eigenhändig die Kanonen gegen die königlichen Truppen gerichtet hatte. In solcher Stellung ist es schwer, einen ebenbürtigen Gatten zu finden. Mademoiselle verliebte sich in den Comte de Lauzun, Dragonergeneral und Höfling. Der König schien die geplante Heirat zu billigen, entschied sich jedoch plötzlich, sie zu untersagen, offenbar aus Gründen, die Familienraison und Staatsraison identifizierten. Das Heiratsprojekt war eine Sensation, für Mme de Sévigné Anlaß zu einem der kunstvollsten, auf Effekt kalkuliertesten Briefe, die sie je geschrieben hat. Der Brief, vom 15. Dezember 1670, ist an einen Vetter, Emanuel de Coulanges adressiert: »Je m'en vais vous mander la chose la plus étonnante, la plus surprenante, la plus merveilleuse, la plus miraculeuse, la plus triomphante, la plus étourdissante, la plus inouïe, la plus singulière, la plus extraordinaire, la plus incroyable, la plus imprévue, la plus grande, la plus petite, la plus rare, la plus commune, la plus éclatante, la plus secrète jusqu'aujourd'hui, la plus brillante, la plus digne d'envie; enfin une chose dont on ne trouve qu'un exemple dans les siècles passés, encore cet exemple n'est-il pas juste; une chose que nous ne saurions croire à Paris (comment la pourrait-on-croire à Lyon?); une chose qui fait crier miséricorde à tout le monde; une chose qui comble de joie Mme de Rohan et Mme de Hauterive; une chose enfin qui se fera dimanche, où ceux qui la verront croiront avoir la berlue; une chose qui se fera dimanche, et qui ne sera peut-être pas faite lundi. Je ne puis me résoudre à la dire. Devinez-la; je vous le donne en trois. Jetez-vous votre langue aux chiens? Eh bien! il faut donc vous la dire: M. de Lauzun épouse dimanche au Louvre, devinez qui? Je vous le donne en quatre, je vous le donne en dix; je vous le donne en cent. Mme de Coulanges dit: Voilà qui est bien difficile à deviner; c'est Mlle de La Vallière – Point du tout, Madame. – C'est donc Mlle de Retz? – Point du tout, vous êtes bien provinciale. – Vraiment nous sommes bien bêtes, dites-vous, c'est Mlle Colbert? – Encore moins. – C'est assurément Mlle de Créquy? – Vous n'y êtes pas. Il faut donc à la fin vous le dire: il épouse, dimanche, au Louvre, avec la permission du Roi, Mademoiselle, Made-
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moiselle de ... Mademoiselle ... devinez le nom: il épouse Mademoiselle, ma foi! par ma foi! ma foi jurée! Mademoiselle, la Grande Mademoiselle; Mademoiselle, fille de feu Monsieur; Mademoiselle, petite-fille de Henri IV; mademoiselle d'Eu, mademoiselle de Dombes, mademoiselle de Montpensier, mademoiselle d'Orléans; Mademoiselle, cousine germaine du Roi; Mademoiselle, destinée au trône; Mademoiselle, le seul parti de France qui fût digne de Monsieur. Voilà un beau sujet de discourir. Si vous criez, si vous êtes hors de vous-même, si vous dites que nous avons menti, que cela est faux, qu'on se moque de vous, que voila une belle raillerie, que cela est bien fade à imaginer; si enfin vous nous dites des injures, nous trouverons que vous avez raison; nous en avons fait autant que vous. Adieu; les lettres qui seront portées par cet ordinaire vous feront voir si nous disons vrai ou non. « 88 Der Brief setzt ein mit einer exzessiven Aneinanderreihung von Superlativen, die ein singuläres Ereignis ankündigen und den Bericht dieses Ereignisses selbst, seine Beschreibung, fast quälend und aufreizend hinausschieben. Erstes Stilmittel ist die Klimax: »la chose la plus étonnante, la plus surprenante, la plus merveilleuse, la plus miraculeuse ...«; weitere Steigerung scheint nicht möglich, also setzt die Schreiberin noch einmal ein, diesmal die Klimax gleichsam umkehrend, von oben nach unten: »la plus triomphante, la plus étourdissante, la plus moule, la plus singulière, la plus extraordinaire la plus incroyable, la plus imprévue ...«. Für Mme de Sévigné sind die stilistischen Möglichkeiten des Superlativs damit noch nicht erschöpft; sie fügt ihnen die Antithese hinzu, gleich dreifach: »la plus grande, la plus petite – la plus rare, la plus commune-la plus éclatante, la plus secrète«. Auf die Rhetorik der variierten Superlative folgt, nach kurzem Übergang, diejenige des Vergleichs: »une chose qui comble de joie Mme de Rohan et Mme d'Hauterive« – zwei hochgeborene Damen, die Männer geheiratet hatten, deren Adelsrang sehr viel niedriger als der ihrige war, vergleichbar also dem Standesunterschied zwischen der Grande Mademoiselle und dem Comte de Lauzun. Als wollte sie ihren Vetter, den Adressaten des Briefes, in unlösbare Spannung versetzen, spielt sie mit Fragen, die durchweg besagen, daß er nie erraten würde, worum es geht. Noch hat sie die Grande Mademoiselle nicht genannt, sagt aber, daß der Comte de Lauzun am nächsten Sonntag heiraten wird. Aber wen? An dieser Stelle fingiert die Schreiberin einen Dialog mit der Frau des Adressaten, Mme de Coulanges, die, durch das Außerordentliche der Ankündigung vorgewarnt, sich zu Vermutungen ungewöhnlichster Art erkühnt, natürlich ohne die Einzigartigkeit des Falles zu erahnen: »Voilà qui est bien difficile à deviner; c'est Mme de La Vallière«. Das ist in der Tat gar nicht übel. Es wäre schon eine Sensation, wenn der Comte de Launzun die Frau heiraten würde, die zu dieser Zeit noch ganz die Privilegien einer königlichen Mätresse genoß. Jedenfalls war der Gedanke, daß Ludwig seine Geliebte einem folgsamen Höfling zur Frau geben könnte, zwar gewagt, aber keineswegs absurd. Doch die Vermutung wird verneint: »C'est donc Mlle de Retz?« Das aufsehenerregende Ereignis wäre in diesem Fall darin begründet, daß der gehorsame Höfling Lauzun sich ausgerechnet die Nichte des exilierten Frondeführers, des Cardinal de Retz, zur Frau auserkoren hätte. Wieder wird die Mutmaßung verneint, 88
Ebd., S. 139f. 145
worauf sogleich die nächste folgt: »C'est Mademoiselle Colbert«. Natürlich wäre es eine Sensation, wenn der Comte de Lauzun die Tochter des zwar mächtigen und einflußreichen, aber bürgerlichen Finanzministers Colbert heiraten würde. Aber auch dies trifft nicht zu, ebensowenig wie die Mutmaßung, die sich – abschließend – auf die bisher höchstrangige Partie, die Tochter des Herzogs von Créguy, bezieht. Der fingierte Dialog endet in fingierter Ratlosigkeit. Die Schreiberin entschließt sich zu sagen, was niemand zu erraten imstande wäre – in einem stilistischen Staccato, die Adelstitel der Grande Mademoiselle zu einer Serie atemloser Steigerungen, von Wiederholungen und Superlativen verwendend: » (...) il épouse, dimanche, au Louvre, avec la permission du Roi, Mademoiselle, Mademoiselle de ... Mademoiselle ... devinez le nom: il épouse Mademoiselle, ma foi! par ma foi! ma foi jurée! Mademoiselle (...) fille de feu Monsieur; Mademoiselle, petite-fille de Henri IV; mademoiselle d'Eu, mademoiselle de Dombes, mademoiselle de Montpensier, mademoiselle d'Orléans; Mademoiselle, cousine germaine du Roi; Mademoiselle, destinée au trône; Mademoiselle, le seul parti de France qui fût digne de Monsieur. « Monsieur ist der Bruder des Königs; damit ist der absolute Gipfel der Steigerung erreicht. Allein ebenbürtig wäre dieser Bruder des Königs im Rang der Grande Mademoiselle. Am Schluß des Briefes versetzt sich die Schreiberin in die von ihr selbst erzeugte Situation des planmäßig in Spannung versetzten, neugierig gemachten, verschreckten und völlig desorientierten Adressaten, der mit ungläubigem Staunen die sensationellen Ereignisse des Hofes vernimmt und versucht ist, die Vermittlerin dieser unerhörten Novität der Schwindelei oder extravaganter Phantasien zu zeihen. Die knappe Strukturanalyse dieses Briefes ist geeignet, folgende Feststellungen zu treffen: Mme de Sévignés Spontaneität ist artifiziell. Ich meine damit nicht eine Künstlichkeit oder Unnatürlichkeit im modernen Sinne, sondern den hochkultivierten Stil der Spontaneität, der literarischen Herstellung der Unmittelbarkeit der Situation des Gesprächs in der Form des Briefs. Mme de Sévigné wußte längst, daß ihre Briefe nicht nur von deren unmittelbaren Adressaten gelesen, sondern in deren ganzem Freundes- und Bekanntenkreis herumgereicht wurden. Dieses Interesse galt keineswegs nur dem Inhalt, der Neuheit, sondern auch der Form, in welcher dieser Inhalt präsentiert wurde. Die Briefe wurden ästhetisch gemessen und goutiert, daher kopiert und weitergegeben. Unsere Marquise reiht sich deshalb ganz bewußt in eine Tradition des literarischen Briefes ein, die ihre frühklassische Blüte in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts durch Louis Guez de Balzac und Vincent Voiture erfahren hatte. Dieses Sich-Einreihen in eine literarische Tradition, in eine literarische Gattung, ist keineswegs naiv-unreflektiert und schon gar nicht ohne den Willen, der eigenen literarischen Tätigkeit auch ein persönliches Markenzeichen einzuprägen, dessen überindividuelle, sozialpsychologische Hintergründe wir noch bestimmen müssen. Zunächst aber erscheint es uns angebracht zu fragen, welche Vorstellung unsere Epistolière selbst von dem Verhältnis zwischen den in ihren Briefen berichteten Ereignissen und der literarischen Formgebung und Vermittlung dieser Ereignisse hat. Wir wollen diese Frage präzisieren, indem wir uns kurz noch den Fortgang der Af-
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faire Grande Mademoiselle – Comte de Lauzun in der Spiegelung der Korrespondenz der Mme de Sévigné ansehen. Der Brief, den wir analysierten, stammt vom 15. Dezember 1670. Vier Tage später berichtet Mme de Sévigné dem gleichen Briefpartner, Coulanges, von der Peripetie der Affäre: Ce qui s'appelle tomber du haut des nues, c'est ce qui arriva hier au soir aux Tuileries; mais il faut reprendre les choses de plus loin. 89
Die épistolière gibt sich als Chronistin: das Glück der Verlobten, das Heiratsprojekt, bekanntgemacht am Montag; am Dienstag allgemeines Getriebe, Inhalt aller Gespräche, Lauffeuer; am Mittwoch überträgt Mademoiselle ihrem Verlobten vier Herzogtümer, Einkünfte und Titel, Lauzun nimmt den Namen Duc de Montpensier an; am Donnerstag sollte der König den Heiratsvertrag unterzeichnen, aber Ludwig ist zu der Ansicht gekommen, daß die unstandesgemäße Ehe einer Altesse Royale und eines einfachen Grafen für das Prestige der königlichen Familie von Schaden sei. Er verbietet die Hochzeit. Die Grande Mademoiselle bricht für einige Tage völlig zusammen, der Comte de Lauzun erträgt mannhaft und folgsam den Sturz aus den erträumten Höhen: »Voilà un beau songe, voilà un beau sujet de roman ou de tragédie, mais surtout un beau sujet de raisonner et de parler éternellement. C'est ce que nous faisons jour et nuit, soir et matin, sans fin, sans cesse (...)«90 Mme de Sévigné literarisiert die Ereignisse, nicht bloß durch die Darstellung, die sie ihnen zuteil werden läßt, sondern durch ihre Interpretation: was hier geschieht, tatsächlich, im Leben, erscheint so unwahrscheinlich wie ein Roman oder wie eine Tragödie. Ich habe vorhin nicht zufällig von Peripetie gesprochen. Mme de Sévigné führt den Vergleich fünf Tage später noch weiter aus: »Vous savez présentement l'histoire romanesque de Mademoiselle et de M. de Lauzun. C'est le juste sujet d'une tragédie dans toutes les règles du théâtre. Nous en réglions les actes et les scènes l'autre jour; nous prenions quatre jours au lieu de vingt-quatre heures, et c'était une pièce parfaite. Jamais il ne s'est vu de si grands changements en si peu de temps; jamais vous n'avez vu une émotion si générale; jamais vous n'avez ouï une si extraordinaire nouvelle. M. de Lauzun a joué son personnage en perfection. Il a soutenu ce malheur avec une fermeté, un courage, et pourtant une douleur mêlée d'un profond respect, qui l'ont fait admirer de tout le monde. (...) Mademoiselle a fort bien fait aussi. Elle a bien pleuré. Elle a recommencé aujourd'hui à rendre ses devoirs au Louvre (...)« 91 Dieser Brief ist in mehrfacher Hinsicht von Interesse. Die geplante und gescheiterte Liebesheirat erscheint einmal als sujet de roman, dann als sujet de tragédie, dann als histoire romanesque. Kennt man die Bedeutungsgeschichte des Wortes romanesque, so wie Werner Krauss sie nachzeichnet 92 , so wird man annehmen, daß Mme de Sévigné hier einen negativen Aspekt angedeutet hat. Histoire roma89 90 91 92
Ebd., S. 140. Ebd., S. 141. Ebd., S. 143f. Werner Krauss, »Zur Bedeutungsgeschichte von >romanesque< im 17. Jahrhundert«, in: W. Krauss, Gesammelte Aufsätze zur Literatur- und Sprachwissenschaft, Frankfurt/a. M. 1949, S. 400-429. 147
nesque, das ist das Unwahrscheinliche, Außergewöhnliche in dem Sinne, daß es nicht dem Gesetz des konkreten Lebens entspricht, daß es eigentlich, wie die galant-heroischen Romane, illusionäre Vorstellungen über das Leben erweckt, so als sei dieses Leben wie die Romanwelt dafür geschaffen, daß es dem Helden Material für wunderbare Aventüren bietet. Das Wort aventure selbst fällt zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wohl aber fast zwanzig Jahre später. Am 14. Januar 1689 schreibt Mme de Sévigné an ihre Tochter: L'étoile de M. de Lauzun repâlit. Il n'a point de logement, il n'a point ses anciennes entrées. On lui a ôté le romanesque et le merveilleux de son aventure (...) 93 Die Aura des Wunderbaren, mit der ein singuläres, romanhaftes Ereignis dieses Leben ausgestattet hatte, hält der Probe des Lebens so wenig Stand wie jene Romane selbst, denen es nur kurze Zeit beschieden war, dem Adel das Gefühl vorzuzaubern, noch immer stünde die Welt zu seiner Verfügung. Der Graf von Lauzun freilich war ein zu wendiger Höfling, um die königliche Ungnade, auf die Mme de Sévigné anspielt, nicht zu überstehen. Drei Jahre später ergatterte er sich doch noch den Rang eines Herzogs. Stand der Vergleich mit den Romanen im Zeichen einer pejorativen Bedeutung von romanesque, so ist der Vergleich mit einer Tragödie anders, und d. h. auch als Korrektur jenes ersten Vergleichs zu werten. Aufstieg und Sturz Lauzuns, aber auch autonome Gattenwahl und Scheitern der Grande Mademoiselle binnen weniger Tage offenbaren doch ein Geschehen, in dem sich der Lebensernst und die engen Grenzen des Freiheitsspielraums unter dem Absolutismus unübersehbar manifestieren. Wenn die adlige Salongesellschaft – wie Mine de Sévigné berichtet – die Geschichte Lauzuns und der Duchesse de Montpensier in unablässigen Gesprächen umsetzt in die Handlung einer Tragödie, die gleichsam inszeniert, so gibt sie dem singulären Ereignis die höheren Weihen einer Dichtung, in welcher das Allgemeine, das Gesetzliche, die Wahrheit sich kristallisiert. Zur Tragödie verwandelt, wird die aventure der beiden Zeitgenossen zum exemplarischen Schicksal, in dem sich Anfälligkeit und Bedrohung eines ganzen Standes spiegeln. Die Theatralisierung des sensationellen Ereignisses im Rahmen endloser Salonkonversation sublimiert und neutralisiert zugleich dieses Ereignis. In Literatur verwandelt, hat es Anteil am Glanz des Allgemeinen, der Tragödie ästhetischen Untergangs und mit demselben Transformationsvorgang liefert es auch die Möglichkeit, sich zu distanzieren. Was literarisch ist an diesem Leben, romanesk oder tragisch im Sinne des Theatralischen, ist mit der Ästhetisierung auch schon abgewehrt – abgewehrt nicht für alle Zeiten, aber erst einmal für den konkreten Fall. Bitteres Ernstnehmen und leise Ironie sind hier bei Mme de Sévigné untrennbar verquickt. Nur subtile Stilanalyse, die keine Nuance unberücksichtigt läßt, wird den Implikationen dieses Stils und seiner Voraussetzungen gerecht werden können.
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Mme de Sévigné, op.cit., Bd. III, S. 473.
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Die Rezeptionsgeschichte der Sévigné-Briefe Die Zeugniskraft der ausgewählten Briefstellen ist durch die bisherigen Beobachtungen noch keineswegs erschöpft. Zunächst aber gilt es, das Werk der Marquise de Sévigné in der Geschichte der Epistolarliteratur zu situieren und ihre Rezeptionsgeschichte zu skizzieren, die Rezeptionsgeschichte einer Klassikerin, die nicht weniger symptomatisch und aufschlußreich ist als diejenige Racines oder Molières. Ich befinde mich dabei in der vorteilhaften Situation, die Resultate von Fritz Nies' gewichtigen Buch Gattungspoetik und Publikumsstruktur. Zur Geschichte der Sévigné-Briefe, verwenden zu können. 94 Ich benutze die Gelegenheit, anhand dieser Arbeit, auch die Möglichkeiten anzudeuten, die einer Synthese traditioneller philologischer Tugenden und moderner Methoden offenstehen. Fritz Nies postuliert eine stärkere Verklammerung poetologischer, literarhistorischer und publikumssoziologischer Forschung. Er kann für sich in Anspruch nehmen, dieses methologische Postulat nicht nur als ein notwendiges erwiesen, sondern es auch für seinen Gegenstand erfüllt zu haben. Er kommt zu der Feststellung, daß die Briefe der Mme de Sévigné, die im 19. und 20. Jahrhundert gelesen wurden, nicht mehr viel mit denen des 17. Jahrhunderts, d. h. mit denen, welche die Marquise schrieb, zu tun haben. Er gelangt zu diesem paradoxalen Resultat, nachdem er Schritt für Schritt den Gründen für eine ununterbrochene Kette von unbewußten und absichtlichen Umdeutungen nachgespürt hat. Dabei werden alle Mittel der stilgeschichtlichen, textgeschichtlichen, lexikographischen und historisch-soziologischen Forschung eingesetzt. Aus der Geschichte des Sévigné-Verständnisses ergibt sich dabei die Einsicht in die Subjektivität und historische Bedingtheit des Einzelurteils und damit zwangsläufig die Notwendigkeit, nach neuen Möglichkeiten für eine Objektivierung des Urteils über das Werk selbst zu suchen. Eine so verstandene Rezeptionsgeschichte bedeutet nun auch, sich philologischer Kärrnerarbeit zu unterziehen, neue Quellenarten zu erschließen und die der Forschung bereits bekannten unter veränderten Gesichtspunkten neu zu sichten. Um die Annahme zu erhärten, daß auch für das am Rande der großen, kanonisierten Literaturgattungen liegende Briefgenre ein intensives Gattungsbewußtsein vorhanden gewesen sei, und um die Briefe der Marquise de Sévigné gattungsgeschichtlich genau zu situieren, hat Nies rund 330 Briefsammlungen allein aus dem 17. Jahrhundert herangezogen. Die Auswertung ergab nicht nur klar eine mehr und mehr ästhetische Einstellung dem Brief gegenüber, sondern auch das Zurücktreten der Berufssekretäre und der Grammatiker als Briefverfasser zugunsten der gens du monde. Die These, daß die Kategorien der nouveauté und des divertissement an die Stelle des bloßen Informationswertes in den Mittelpunkt treten, wird unwiderlegbar abgestützt durch 1200 Erstbelege. Gegenüber den einschlägigen Wörterbüchern konnte Nies ein Drittel dieser Erstbelege vordatieren und dadurch den Nachweis erbringen, daß Madame de Sévigné in noch viel größerem Ausmaß als bisher angenommen als eine der großen sprach- und stilschöpferischen Potenzen 94
Fritz Nies, Gattungspoetik und Publikumsstruktur. Zur Geschichte der Sévigné-Briefe, München 1972. 149
in ihrer doch so neologismenfeindlichen Zeit zu gelten hat. Um die besonders dunkle erste Phase der Editionsgeschichte der Sévigné-Briefe von 1725 bis 1760 zu erhellen und die Zusammensetzung des Leserpublikums zu bestimmen, hat Nies mehr als vierhundert Privatbibliotheken dieses Zeitraums durchforstet und dabei zwanzig noch unbekannte Ausgaben und Nachdrucke entdeckt. So gerüstet, kann der Verfasser sich daran machen, die Leserschaft der SévignéBriefe in den verschiedenen Rezeptionsphasen sowie die erwartungsdeterminierenden Merkmale der Rezipientenkreise zu erschließen. Die variable Doppeldeterminante von Publikumsstruktur und Publikumserwartung, die zusammen mit dem Werk selbst das Koordinatensystem für die Rezeptionsgeschichte ergibt, verheißt auch entscheidende Aufschlüsse für Entstehung und Interpretation des Werkes selbst. Bei dem unmittelbaren, d. h. zeitgenössischen Publikum der SévignéBriefe ist zu unterscheiden zwischen einer primären Rezipientengruppe – den direkten Adressaten der Briefe – und einer sekundären Rezipientengruppe, d. h. dem vertrauten Personenkreis, dem die Briefe vorgelesen oder in Kopien weitergereicht wurden. Diese beiden Gruppen sind soziologisch genau bestimmbar: zwei Drittel Angehörige des alten Adels, davon die Hälfte Mitglieder der Hocharistokratie. Der Anteil des Adels vermehrt sich auf vier Fünftel, wenn man den hohen Klerus hinzunimmt. Im 18. Jahrhundert bietet sich ein anderes Bild der Publikumsstruktur, das erklärt, welches Selektionsprinzip maßgebend wird für die Anthologien von SévignéBriefen. Die Auswertung von Privatbibliotheken, ergibt – bei gebührender Vorsicht gegenüber der Gleichsetzung von Buchbesitzer und Buchleser –, daß der Anteil des Hochadels von um 1725 ohnehin um 14 Prozent bis zum Jahre 1760 auf zehn Prozent absinkt, derjenige des Bürgertums jedoch von bereits vierzig Prozent auf 50 Prozent ansteigt. Dieser Umstand erklärt das schwindende Verständnis für Mme de Sévignés Stilprinzip des bewußten Unernstes, das für den ursprünglichen Rezipientenkreis charakteristisch war. Ihr spezifisches Ideal des naturel wird jetzt interpretiert als programmatische Natürlichkeit inmitten einer gekünstelten höfischen Welt. Damit setzt bereits ein Mißverständnis ein, dem entsprechende Verstümmelungen des Textes, begünstigt durch den Verlust der meisten Autographen, den Weg bereiten. Die Mißverständnisse sind mannigfacher Art. Ich hebe nur eines hervor: die Briefe der Sévigné werden als spontaner Ausdruck einer sich naturhaft aussprechenden Frauenseele hingestellt. Damit wird ein Mythos kreiert, der über die Romantik bis zur erbaulichen Pädagogik der Neuzeit kultiviert wird. Das 18. Jahrhundert mit seinem gewandelten Geschichtsbild läßt ein bürgerliches Publikum in den Details und Anekdoten der Sévigné-Briefe den Reiz entdecken, den der Blick hinter die aristokratischen und höfischen Kulissen des historischen Geschehens verspricht. Das 19. Jahrhundert wird diesen Aspekt vertiefen und die Briefe als ein historisches Dokument von höchstem Informationswert schätzen und würdigen. Mag hierin und selbst in kulturgeschichtlichen Spezialauswertungen durch Disziplinen wie Geschichte der Medizin, Regionalgeschichte, Geschichte der Mode, des Spiels usw. noch ein durchaus fruchtbares Mißverständnis der Intentionen der Autorin selbst vorliegen, so sind andere Auslegungen ungleich bedenklicher, für die neuen Rezipientenkreise und ihre Interessen jedoch umso bezeichnender.
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Die Nachkommen Mine de Sévignés haben die Briefe ihrer Ahnin aus schwer verständlichen Skrupeln zum größten Teil vernichtet. Die Forschung hat somit einiges zu tun, um anhand der zahlreichen und oft willkürlichen Editionen die ursprüngliche Textgestalt zu sichern. Es scheint indessen, als hätte sich interessierte Legendenbildung auch der Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden philologischen Bemühung um die Restituierung der authentischen Texte mit einigem Erfolg widersetzt. In völliger Verkennung der Absichten der Marquise, die ihre Briefe stets als einen Dialog, als antwortheischende Kommunikation begriff, wurden ihre Briefe als »Geschichte einer Seele« interpretiert. Noch der verdienstliche Manuel des Etudes littéraires françaises von Castex und Surer 95 , gliedert die Darstellung in eine Histoire d'une âme und eine Histoire d'un temps. »Geschichte einer Seele« – die spürbare Verletzbarkeit der Autorin, repräsentativ für die Verletzbarkeit ihres Standes in seiner prekären geschichtlichen Situation, bot Anlaß, ihr badinage, d. h. ihren scherzhaften Stil, als Frivolität einerseits zu disqualifizieren und andererseits das Gesamtwerk als eine Selbstdarstellung, als endlosen Monolog zu interpretieren oder schließlich die unablässige Sorge um das Wohlbefinden ihrer Tochter als unüberbietbaren Modellfall der Mutterliebe zu deuten. Die klassische épistolière konnte somit gar zum Idol der bürgerlichen Vorstellung von der treusorgenden Familienmutter avancieren. So falsch oder zumindest einseitig es ist, Mme de Sévigné zum Demonstrationsobjekt von psychopathologischen Studien zu machen, an denen es nicht fehlt, so falsch ist es auch, der Legende von der einzig ihrem großen Gefühl lebenden und dieses Gefühl unaufhörlich expektorierenden Mutter zu huldigen. Natürlich empfiehlt sich ein so verstandenes klassisches Werk, eine gewisse Auswahl und Zubereitung vorausgesetzt, als Briefstilmuster in der Erziehung besserer und höherer Töchter. Das in zahlreichen Auswahl-Editionen, zurechtgemachten und zurechtgekürzten Paradetexten, Schulanthologien und gemütsstärkenden Kommentaren propagierte Idealbild der aufopfernden Mutter wird ergänzt durch das klerikale, allerdings bald auf laizistischen Widerstand stoßende Idealbild einer grande chrétienne, deren zunehmend pessimistisch-fatalistisches Weltbild sich mittels entsprechender Textpräparierung in ein Zeugnis unerschütterlicher Providenzgläubigkeit ummünzen ließ. Fritz Nies hat, ohne die fraglosen Mutterqualitäten der Marquise de Sévigné anzutasten, solchen Legenden mit den Mitteln einer historischen Philologie den Garaus gemacht. Er hat jedoch auch zeigen können, daß der Beschlagnahme der grande épistolière als exemplarischer Mutter und ihres Werks als einer riesigen leçon de morale ein wichtiger Grundzug dieses Werks Vorschub geleistet hat. Während ihre Standesgenossen ostentativ ihre Verachtung für jede Äußerung bürgerlichen Sparund Erwerbssinnes bekunden, hat die Marquise de Sévigné einen durch die ökonomische Bedrohung geweckten und wachgehaltenen Sinn für die Bedeutung des Geldes entwickelt. Damit stößt sie bei der eigenen Tochter, die sie unablässig zur Nachahmung aufruft, wie bei ihrem adligen Rezipientenkreis auf völliges Desinteresse. Gerade diese Eigentümlichkeit des Sévignéschen Œuvres kann aber dann im 19. Jahrhundert in idealisierender Verkleidung des Gewinnstrebens im Sinne 95
P.-G. Castex/P. Surer, Manuel des études littéraires françaises XVIIe siècle, Paris 1966. 151
der bürgerlichen Ideologie ausgebeutet werden. Mme de Sévigné wird zur Kronzeugin einer vom staatstragenden Bündnis von Krone und Altar vollzogenen Sakralisierung bürgerlicher Profantugenden. Ihr ökonomisch orientierter »klassischer« bon sens präsentiert sich jetzt als Qualität der für die Familie alles treu besorgenden häuslichen Wirtschafterin, und so steht die épistolière plötzlich als Muster der bürgerlichen Erztugenden vor unseren Augen: Prototyp des ethisch sanktionierten Utilitätsdenkens in der idealen Einheit von zärtlicher Mutter, fürsorglich-sparsamer Hausfrau, Familienzentrum und épouse fidèle. Was Wunder, daß die also durch Auswahl, Weglassungen und Kommentare präparierten Briefe der Sévigné zu traités de vertu avancieren und sich – wie Nies es ausdrückt – als » Sortiment von Lebenshilfen « gebrauchen lassen müssen. Der Verfasserin freilich ist dadurch schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts ein unverlierbarer Platz im offiziellen Bildungskanon der pädagogischen Klassiker gesichert. Die Untersuchung von Fritz Nies 96 , deren Ergebnisse ich hier verwerte, orientiert sich an der unter dem Eindruck von Formalismus und Strukturalismus neuerdings mehrfach, in jüngster Zeit insbesondere von Hans Robert Jauss und Harald Weinrich 97 vorgetragenen Forderung nach einer Literaturgeschichte des Lesers und nach einer Rezeptionsästhetik, welche Qualität und Rang des Kunstwerks als Resultat einer »ästhetischen Distanz« bestimmt. Diese »ästhetische Distanz« soll sich an Übererfüllung bzw. Enttäuschung des »Erwartungshorizonts« ermessen lassen, mit dem ein auf die seitherige literarische Tradition fixiertes Publikum an das Werk herantritt. Nies hat sich der dogmatischen Implikationen dieser Rezeptionsästhetik in dem Maße entledigt, als es für ihn galt, das Publikum soziologisch zu differenzieren und mithin auch dessen »Erwartungen«, was zur Folge hat, daß die formalistisch verstandene »literarische Reihe« ihrer vermeintlichen Autonomie gründlich verlustig geht. Es zeigt sich, daß eine publikumssoziologisch ausgerichtete Rezeptionsgeschichte in dem Augenblick, da sie methodisch konsequent auf das zeitgenössische Publikum des Autors angewandt wird, die Rezeptionsästhetik in eine literatursoziologisch orientierte Produktionsästhetik umzuwandeln gezwungen ist. Der »Erwartungshorizont« einer zeitgenössischen Publikumsschicht, welcher der Autor sich selber zugehörig weiß und als deren Sprecher er sich fühlt, ist essentiell verschieden von demjenigen späterer Publikumsgenerationen. Das zeitgenössische Publikum nämlich tritt auf als determinierende genetische Kraft, die das Werk nach seinen Denkstrukturen formt – produktiv nicht im deutenden Nachhinein, sondern in prägendem Vorhinein. Das zentrale Kapitel der Niesschen Untersuchung wird daher zum Zeugnis nicht einer Rezeptionsästhetik, sondern einer neuartigen Produktionsästhetik auf einer jede vulgärsoziologische Widerspiegelungstheorie weit hinter sich lassenden literatursoziologischen Basis. Wir wollen abschließend diese Feststellungen noch konkretisieren. Ich komme zu diesem Zweck erneut auf die zuletzt zitierten Briefe zurück und ergänze das schon darüber Gesagte durch ein paar weitere Beobachtungen zum Stil. Ich beschränke 96 97
Fritz Nies, op.cit. Hans Robert Jauss, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, Konstanz 1967; vgl. auch Harald Weinrich, »Für eine Literaturgeschichte des Lesers«, in: Merkur 21, Nov. 1967, S. 1026-1038, wiederabgedruckt in: H. Weinrich, Literaturgeschichte für Leser, Stuttgart 1971.
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mich auf einen einzigen kleinen Abschnitt, den wir schon kennen: ( ...) une chose enfin qui se fera dimanche, où ceux qui la verront croiront avoir la berlue; une chose qui se fera dimanche, et qui ne sera peut-être pas faite lundi. Je ne puis me résoudre à la dire. Devinez-la; je vous le donne en trois. Jetez-vous votre langue aux chiens? Eh bien! il faut donc vous la dire: M. de Lauzun épouse dimanche au Louvre, devinez qui? Je vous le donne en quatre, je vous le donne en dix; je vous le donne en cent. »Je vous le donne en trois, je vous le donne en quatre, je vous le donne en dix ... « usw. Diese Formel, die besagt: »Das erraten Sie nicht, darauf kommen Sie nie« usw. ist ausgesprochen familiär, umgangssprachlich, unliterarisch sozusagen. Das gilt in verstärktem Maße von dem Ausdruck »avoir la berlue», mit der Bedeutung: »Männchen sehen, mit Blindheit geschlagen sein«. Dasselbe ist zu sagen von »jeter aux chiens« – »etwas zum Fenster hinauswerfen«. Unsere Beispiele zeigen, daß Mme de Sévigné die familiären Ausdrücke geradezu kultiviert. Im folgenden noch eine kleine Auswahl aus den von Fritz Nies zusammengestellten Belegen: graisser la patte 98 = »jemand schmieren, bestechen«; il ne fera pas vieux os 99 ; jeter son bonnet par-dessus les moulins 100 = »aufhören«; prendre la lune avec les dents 101 = »etwas Unmögliches unternehmen«; avoir la langue bien pendue 102 = »nicht auf den Schnabel gefallen sein«. Bei Mme de Sévigné begegnen erstmals Diminutiv-Suffix-Bildungen wie chosette 103 , poulette 104 , maigrelette. 105 Von ihr selber dürften stammen Neologismen wie fronderie 106 zu fronde, ganelonnerie 107 im Anschluß an die bekannte Verrätergestalt aus dem Rolandslied: Ganelon; misanthroperie 108 , pantouflerie 109 , bavardinage. 110 Ihren verliebten Schwiegersohn nennt sie matou 111 = »Kater«; von einer Amme
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»Je ne saurais changer d'avis, et d'autant plus que son souvenir continuel, et de Grignan et de Toulon et de Rome, d'où il m'écrit du 4e, fait sur mon cœur comme s'il me graissait la patte (...)«, vgl. Fritz Nies, op.cit., S. 53, Anm. 119. »Je crois que notre pauvre M. Treuvé ne fera pas vieux os à l'hôtel de Lesdiguières. «, vgl. Fritz Nies, op.cit., S. 53. »Je jette mon bonnet par-dessus les moulins (...)«, vgl. Fritz Nies, op.cit., S. 53. »Vous savez que c'est un des plus honnêtes garçons qu'on puisse voir, et propre aux galères comme à prendre la lune avec les dents.«, vgl. Fritz Nies, op.cit., S. 54. »Il arrive tant d'accidents aux femmes en couche, et vous avez la langue si bien pendue, à ce que me dit M. de Grignan, qu'il me faut pour le moins neuf jours de bonne santé pour me faire partir joyeusement.«, vgl. Fritz Nies, op.cit., S. 54. Mme de Sévigné, op.cit., Bd. I, S. 675, vgl. auch Fritz Nies, op.cit., S. 55, S. 320. Ebd., Bd. II, S. 780, vgl. Fritz Nies, op.cit., S. 55, S. 350. Ebd., Bd. III, S. 715, vgl. Fritz Nies, op.cit., S. 55, S. 337. Ebd., Bd. I, S. 336, vgl. Fritz Nies, op.cit., S. 56 Anm. 127, S. 330. Mme de Sévigné, Lettres, Bd. I, S. 511; vgl. auch Mme de Sévigné, Correspondance, Bd. I, S. 473 (Duchêne schreibt (irrtümlich?) »galonetonnerie« unter Hinweis auf dieselbe Etymologie) und Fritz Nies, op.cit., S. 56 Anm. 127, S. 330. Mme de Sévigné, Correspondance, Bd. I, S. 280, vgl. Fritz Nies, op.cit., S. 341. Ebd., Bd. II, S. 1029, vgl. Fritz Nies, op.cit., S. 56 Anm. 127, S. 345. Ebd., Bd. I, S. 209, vgl. Fritz Nies, op.cit., S. 316. Ebd., Bd. II, S. 104, vgl. Fritz Nies, op.cit., S. 98, S. 339. 153
sagt sie, sie habe soviel Milch wie eine Kuh. 112 Das ist nicht die Art des hohen klassischen Stils, wie man sieht. Die wenigen Beispiele genügen, um zu zeigen, daß Mme de Sévigné sich nicht scheut, gegen die Regeln des hohen Stils zu verstoßen im Rückgriff auf familiäre, ja als vulgär geltende Wendungen, auf Anleihen aus den Dialekten, aus der Sprache der Bauern, aus den verpönten Fachsprachen, und daß sie Neologismen kreiert, die Verballhornungen geläufiger Wörter und Namen gleichkommen. Sie mokiert sich über die Kompositionsregeln des Briefstils und erhebt den Anspruch, an deren Stelle die offene Form der assoziativen Themenreihung zu setzen, weil sie den Brief als andere Form, als literarische Gestaltung der Konversation versteht. Unverkennbar ist, daß es diesem Stil, um die Kultivierung der Lässigkeit, der Nachlässigkeit, der non-chalance, der négligence geht. Die ernsten Dinge werden mit Schmerz, manchmal mit makabrem Humor umkleidet und ihre Bedrohlichkeit dadurch neutralisiert. Das vielgerühmte naturel dieses Stils, seine hochgeschätzte naïveté, sind Kunstprodukte, die als solche und nicht als spontaner Aufbruch einer Frauenseele erklärt werden müssen. Woher kommen die entscheidenden Impulse für diese Stilgesinnung, die, ohne sich derjenigen der klassischen Poetik zu widersetzen, von dieser doch nicht unerheblich abweichen? Die Antwort auf diese Frage gibt uns die glänzend instrumentierte Arbeit von Fritz Nies. Ich habe schon darauf hingewiesen, wie groß der Anteil der Hocharistokratie an dem primären Rezipientenkreis der Briefadressaten ist. Dieser alten gesellschaftlichen Oberschicht fühlt sich die standesbewußte Marquise selber zugehörig. Die von der Epistolartradition determinierte literarische Erwartung des Publikums und die Orientierung der Briefschreiberin selbst an dieser Tradition werden durchbrochen von jenen Erwartungen, die sich für die mondäne Elite aus der politischen und ökonomischen Gefährdung seit dem Scheitern der Fronde ergeben. Die verlorenen Funktionen werden ästhetisch kompensiert. Eine auch bei Mme de Sévigné viele Male zum Ausdruck kommende Resignation erzeugt den Zwang, diese Resignation selbst in ein neues Ideal des Verhaltens umzustilisieren, aus der Not eine Tugend zu machen. Beide Momente schlagen sich nieder in der Konzeption eines Ideals der négligence 113 , im übermächtigen Bedürfnis nach dem allein den ennui des Lebensleerlaufs überwindenden »divertissement« und in der elitär-exklusiven Defensiv-Haltung des Nichts-mehr-ganz-Ernstnehmens, des Scherzes, des badinage. Négligence, divertissement und badinage sind Schlüsselwörter und Schlüsselbegriffe des Sévignéschen Œuvres. Nies zeigt unwiderleglich und unwiderruflich, daß und in welcher Weise die genannten drei Hauptelemente des neuen elitären Verhaltensmusters der ihren Rückzug absichernden Hocharistokratie zu den beherrschenden Stilprinzipien der Sévigné-Briefe werden und die Praxis dieses Schreibens bestimmen. Im Lichte der zur négligence gewandelten klassischen Forderung nach dem naturel wird der Stellenwert der auffälligen Stillizenzen der Sévigné-Briefe sichtbar, die Aufnahme »niederer« Redensarten, Wörter, Ausdrükke aus den von der klassischen Ästhetik in Acht und Bann getanen Sprachschich112 113
Ebd., Bd. I, S. 212, vgl. Fritz Nies, op.cit., S. 98, S. 366. Vgl. Erich Köhler, »>Belle négligence