TANTRA DIE HÖCHSTE EINSICHT
OSHO
4. Auflage, 1995 Herausgeber: Swami Ananda Siddhartha Übersetzung: Swami Prem Nirvan...
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TANTRA DIE HÖCHSTE EINSICHT
OSHO
4. Auflage, 1995 Herausgeber: Swami Ananda Siddhartha Übersetzung: Swami Prem Nirvano © Copyright 1975 OSHO International Foundation Titel der Originalausgabe »Tantra: The Supreme Understanding« © Copyright1980 der deutschen Ausgabe OSHO International Foundation© Fotocopyright 1980, 1982 OSHO International Foundation Alle Rechte der deutschen Ausgabe bezüglich der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe und Vervielfältigung, Tonträger jeder Art, Nachdruck, auch auszugsweise, liegen beim Sannyas-Verlag und bedürfen der schriftlichen Genehmigung. ISBN 3-922458-04-1 Sannyas-Verlag
INHALT: ÜBER OSHO I DIE ERFAHRUNG DES HÖCHSTEN II DIE WURZEL ALLER PROBLEME III DAS WESEN VON FINSTERNIS UND LICHT IV WIE EIN HOHLER BAMBUS V DIE EINGEBORENE WAHRHEIT VI DIE GROSSE LEHRE VII DER WEGLOSE WEG VIII WAHL IST KNECHTSCHAFT IX WEITER UND IMMER WEITER X DIE HÖCHSTE EINSICHT BÜCHER + ZENTRUM LISTE
ÜBER OSHO Osho wurde am 11. Dezember 1931 in Kuchwada, Madhya Pradesh, Indien, geboren. Seit seiner frühesten Kindheit war er rebellisch und unabhängig und bestand darauf, die Wahrheit selber zu erfahren und nicht Wissen und Glauben von andern anzunehmen. Nach seiner Erleuchtung im Alter von einundzwanzig Jahren beendete er seine akademischen Studien und lehrte als Professor einige Jahre Philosophie an der Universität von Jabalpur. Währenddessen reiste er in ganz Indien herum, hielt Vorträge vor Zehntausenden von Zuhörern. Er forderte die orthodoxen religiösen Führer in öffentlichen Debatten heraus und stellte traditionelle Glaubenssysteme in Frage. Ende der sechziger Jahre entwickelte Osho seine berühmten dynamischen Meditationstechniken. Fünf Jahre später entstand um ihn herum eine Kommune in Poona. Nach und nach strömten Tausende von Besuchern aus dem Westen zu ihm. 1981 reiste Osho nach Amerika, nach Oregon. In einem abgelegenen Tal in der Wüste wurde die Stadt Rajneeshpuram gegründet. Von Anfang an war dies der Reagan-Regierung ein Dorn im Auge. An die fünftausend Sannyasins nahmen an diesem Experiment teil. Zu den Festivals, die einmal im Jahr stattfanden, kamen bis zu zwanzigtausend Besucher. Vier Jahre später wurde Osho gezwungen, Amerika zu verlassen, und seine abenteuerliche Odyssee durch die ganze Welt begann. Über zwanzig Länder verweigerten ihm die Einreise. 1986 traf er in Bombay ein, um kurze Zeit später wieder nach Poona überzusiedeln. Der Ashram wurde modernisiert, und bald strömten die Suchenden aus allen Kontinenten der Welt herbei. Osho hat als Folge einer Vergiftung, die ihm während der Untersuchungshaft durch Agenten der amerikanischen Regierung zugefügt wurde, seinen Körper am 19. Januar 1991 verlassen. Seine große Kommune in Indien ist weiterhin das größte Zentrum für spirituelles Wachstum. Tausende von Besuchern aus der ganzen Welt nehmen dort an Meditationen teil, machen bei kreativen Programmen mit oder erfahren sich einfach in einem »Buddhafeld«. Der Ashram vergrößert sich laufend. Heute gehören auch Tennisplätze und ein Swimmungpool dazu. ÜBER TANTRA Tantra ist eine Meditationstechnik, die vor mehr als zweitausend Jahren von buddhistischen Mönchen in Tibet entwickelt wurde. Die Tantriker haben entdeckt, daß Sexualität und Spiritualität die »beiden Seiten derselben Energie« sind, daß mithin die sexuelle Kraft des Menschen für den inneren Transformationsprozeß genutzt werden kann. Der Transformator dieses Energieverfeinerungsprozesses ist der Geschlechtsakt. Das Konzept der Tantriker war damals genauso revolutionär wie heute. Alle Religionen und alle Gesellschaften haben die Sexenergie als eine gefährliche Kraft gefürchtet und deshalb versucht, sie zu unterdrücken. Die Folge: fast alle Neurosen - so wissen wir seit Freud entstehen aus einem gestörten Verhältnis des Menschen zu seiner Sexualität. Swami Satyananda
Diese zehn Vorträge wurden zwischen dem 11. und 20. Februar 1975 in der OSHO International Foundation in Poona, Indien, gehalten.
In seinem Gesang vom Mahamudra sagt Tilopa: Mahamudra ist jenseits aller Worte und Symbole Aber dir, Naropa, aufrichtig und treu, Sei dennoch so viel gesagt: Die Leere braucht keine Stützen, Mahamudra ruht auf Nichts, Ohne jede Anstrengung, Einfach nur, indem du gelöst und natürlich bleibst, Kannst du das Joch zerbrechen Und Befreiung erlangen.
1. DIE ERFAHRUNG DES HÖCHSTEN 11. Februar 1975 Die Erfahrung des Höchsten ist überhaupt keine Erfahrung - weil der Erfahrende dabei verlorengeht. Und wenn es keinen Erfahrenden gibt, was läßt sich dann darüber sagen? Wer soll es sagen? Wer soll von der Erfahrung berichten? Wenn es kein Subjekt mehr gibt, verschwindet auch das Objekt - beide Ufer verschwinden, und nur der Fluß der reinen Erfahrung bleibt. Das Wissen ist da, aber der Wissende nicht. Das war schon immer das Problem aller Mystiker. Sie erreichen das Höchste, aber sie können denen, die nachfolgen, nichts darüber berichten. Sie können es den anderen nicht mitteilen, die es gern intellektuell nachvollziehen möchten. Sie sind eins damit geworden. Ihr ganzes Wesen drückt es aus, aber intellektuell können sie es nicht ausdrücken. Sie können es euch geben, wenn ihr bereit seid, es in Empfang zu nehmen; sie können euch auch dazu verhelfen, wenn ihr es zulassen könnt, wenn ihr empfänglich und offen seid. Aber Worte nützen nichts, Symbole nützen nichts. Theorien und philosophische Lehrmeinungen nützen nicht das Geringste. Diese Erfahrung ist so beschaffen, daß man es eher ein »Erfahren« als eine »Erfahrung« nennen muß. Es ist ein Vorgang - und er beginnt, ohne je zu enden. Du trittst in ihn ein, aber du bestimmst nie seinen Lauf. Es ist, als ob ein Tropfen in den Ozean fällt, oder vielmehr der ganze Ozean in den Tropfen. Es ist ein tiefes Verschmelzen, es ist Einheit, du verlierst dich einfach darin. Nichts bleibt zurück, keine Spur - wer also soll darüber berichten? Wer soll in die Welt des Tals zurückkehren? Wer soll in diese dunkle Nacht zurückkehren, um euch davon zu berichten? Alle Mystiker der Welt haben sich jedesmal außerstande gefühlt, ihre Erfahrung mitzuteilen. Kommunion ist möglich, aber Kommunikation - nein! Das müßt ihr von grundauf verstehen. Eine Kommunion ist eine vollkommen andere Dimension: zwei Herzen treffen sich, es ist eine Liebesgeschichte. Kommunikation geht von Kopf zu Kopf; Kommunion geht von Herz zu Herz. Kommunion ist ein Gefühl. Kommunikation ist Wissen: man gibt nur Wörter und man nimmt nur Wörter, nur Wörter werden verstanden. Und Wörter sind ihrer wahren Natur nach so leblos, daß sie nichts Lebendiges vermitteln können. Das lehrt uns schon das gewöhnliche Leben - ganz zu schweigen also von der höchsten Erfahrung. Schon wenn du unter gewöhnlichen Umständen irgendeinen Höhepunkt erlebst, einen ekstatischen Augenblick, in dem du wirklich etwas fühlst, in dem du wie umgewandelt bist, dann wird es unmöglich, das in Worten auszudrücken. In meiner Kindheit ging ich oft früh am Morgen zum Fluß. Es ist ein kleines Dorf. Der Fluß ist sehr, sehr träge, fast fließt er überhaupt nicht. Und am frühen Morgen, wenn die Sonne noch nicht aufgegangen ist, kann man nicht erkennen, ob er überhaupt fließt, so träge und still ist er. Am Morgen, wenn niemand da ist, wenn noch kein Mensch zum Baden gekommen ist, herrscht eine ungeheuere Stille. Selbst die Vögel haben noch nicht ihr Morgenlied angestimmt - so früh, daß noch kein Laut die Lautlosigkeit stört, die alles durchdringt. Und der Duft der Mango-Bäume hängt über dem ganzen Fluß. Dort ging ich oft hin, an die entfernteste Biegung des Flusses, nur um dort zu sitzen, nur um dort zu sein. Es gab nichts zu tun, einfach da zu sein war genug, es wir ein so herrliches Erlebnis. Dann stieg ich jedesmal in den Fluß, schwamm eine Zeitlang, und wenn dann die Sonne aufging, stieg ich ans andere Ufer, legte mich dort auf den breiten Sandstrand und ließ mich von der Sonne trocknen. Dann blieb ich dort liegen, und manchmal schlief ich sogar ein. Wenn ich zurückkam, fragte meine Mutter jedesmal: »Was hast du den ganzen Morgen getrieben?« Und ich antwortete: »Nichts«, denn wirklich, ich hatte nichts getan. Und sie sagte dann: »Wie ist das nur möglich? Vier Stunden warst du fort, und du willst gar nichts getan haben? Irgendetwas mußt du doch getan haben.« Und natürlich hatte sie recht, aber ich hatte darum nicht unrecht. Ich hatte nichts Besonderes getan. Ich war nur am Fluß gewesen, in seiner Gesellschaft, ohne etwas zu tun, und hatte die Dinge geschehen lassen. Wenn es sich nach Schwimmen anfühlte - wohlgemerkt, wenn es sich danach anfühlte dann schwamm ich, aber das war kein eigentliches Tun meinerseits, ich brauchte nicht meinen Willen einzuschalten. Wenn ich mich nach Schlaf fühlte, schlief ich. Dinge geschahen, aber ich war nicht der, der sie tat. Und mein erstes Satori-Erlebnis begann an diesem Fluß. Ohne daß ich etwas tat, nur indem ich da war, geschahen tausend Dinge. Aber meine Mutter bestand darauf, daß ich irgendetwas getan haben mußte. Und so sagte ich: »Okay, ich war baden und hinterher habe ich mich in der Sonne trocknen lassen.« Und damit war sie zufrieden. Aber ich war es nicht: denn das, was da am Fluß geschehen war, ließ sich nicht mit den Worten ausdrücken: »Ich war baden.« Das machte es so arm und blaß! Das Spielen im Wasser, das Treiben mit der Strömung, das Schwimmen im Fluß war eine so tiefe Erfahrung gewesen, daß die Worte »ich war baden« barer Unsinn waren. Oder wenn ich gesagt hätte: »Ich bin am Fluß entlang gegangen, bin spazierengegangen und hab am Ufer gesessen,« - dann wäre damit genausowenig gesagt gewesen. Selbst im gewöhnlichen Leben spürst du die Sinnlosigkeit von Wörtern. Und wenn du die Sinnlosigkeit von Wörtern nicht spüren kannst, dann beweist das nur, daß du noch gar nicht gelebt hast, daß du nur sehr oberflächlich gelebt hast. Wenn alles, was du erlebt hast, in Worten ausgedrückt werden kann, dann bedeutet das, daß du gar nichts erlebt hast. Erst wenn etwas geschieht, das sich nicht in Worte fassen läßt, erst dann hat sich das Leben bemerkbar gemacht, erst dann hat das Leben an deine Tür geklopft. Und wenn das Höchste an deine Tür klopft, gehst du einfach über Worte hinaus - dann wirst du stumm, dann kannst du nicht sprechen, kein einziges Wort wird sich dann in dir bilden. Alles, was du sagen könntest, sieht so blaß, so tot, so sinnlos, so völlig bedeutungslos aus, daß es dir wie eine Verletzung der Erfahrung vorkommen muß, die dir zugestoßen ist. Das vergeßt nicht, denn Mahamudra ist die letzte, die höchste
Erfahrung. Mahamudra bedeutet: der totale Orgasmus mit dem Universum. Wenn du einmal einen anderen geliebt hast und manchmal das Verschmelzen und die gemeinsame Auflösung erfahren hast - wo zwei nicht mehr zwei sind; wo zwar die Körper getrennt bleiben - aber sich zwischen beiden Körpern eine Brücke bildet, eine goldene Brücke, und die innere Zweiheit verschwindet, und eine einzige Lebensenergie vibriert an beiden Polen - wenn dir das schon einmal widerfahren ist, dann kannst du verstehen, was Mahamudra ist. Millionen- und millionfach tiefer, millionen- und abermillionenfach höher ist Mahamudra. Es ist der totale Orgasmus mit dem All, mit dem Universum. Es ist ein Verschmelzen mit der Quelle des Seins. Und dies ist ein Gesang von Mahamudra. Es ist schön, daß Tilopa es einen Gesang genannt hat. Man kann es nur singen, nicht sagen. Man kann es tanzen, nicht sagen. Es ist eine so ungeheure Erscheinung, daß nur im Gesang ein winzig kleines Fünkchen davon aufleuchten kann - nicht in dem, was du singst, sondern wie du singst. Viele Mystiker haben nach ihrer höchsten Erfahrung nichts getan als getanzt, sie konnten nichts anderes tun. Mit ihrem ganzen Wesen und Körper brachten sie so zum Ausdruck, was geschehen war; alles war beteiligt: Körper, Sinn, Seele, alles. Sie haben getanzt, und ihr Tanz war kein gewöhnlicher Tanz. Ja, alles Tanzen überhaupt geht nur auf diese Mystiker zurück - es war eine Möglichkeit, die Ekstase, die Glückseligkeit, die Freude mitzuteilen. Etwas ist vom Unbekannten zum Bekannten durchgedrungen, etwas aus dem Jenseits ist auf die Erde gelangt - was kann man anderes tun als tanzen? Man kann es tanzen, man kann es singen. Dies ist ein Gesang von Mahamudra. Und wer soll singen? Tilopa ist nicht mehr. Es ist das orgiastische Gefühl selber, das singt. Dieser Gesang wird nicht von Tilopa gesungen: Tilopa ist nicht mehr. Die Erfahrung selber vibriert und singt. Und so ist es der Gesang des Mahamudra, der Ekstase selbst - der Ekstase, die sich selber singt. Tilopa hat nichts damit zu tun. Tilopa ist überhaupt nicht da. Tilopa hat sich aufgelöst. Erst wenn der Suchende verlorengegangen ist, ist das Ziel erreicht. Erst, wenn der Erfahrende nicht ist, ist die Erfahrung da. Suche, und du gehst am Ziel vorbei, denn durch dein Suchen wird der Suchende nur noch gestärkt. Suche nicht, und du wirst es finden. Das bloße Suchen, die bloße Anstrengung, wird zur Schranke, denn je mehr du suchst, desto mehr wird das Ego, der Sucher, gestärkt. Suche nicht. Das ist die tiefste Botschaft dieses ganzen Gesangs vom Mahamudra: suche nicht, bleibe einfach wo du bist, du brauchst nirgendwo hinzugehen. Niemand kommt je bei Gott an; niemand kann das, denn niemand kennt die Adresse. Wo willst du hingehen? Wo willst du das Göttliche finden? Es gibt keine Straßenkarte, und es gibt keinen Weg, und niemanden, der weiß, wo es langgeht. Nein, niemand kommt je bei Gott an. Es vollzieht sich immer umgekehrt: Gott kommt zu dir. Sobald du bereit bist, klopft er an deine Tür. Er sucht dich auf, sobald du bereit bist. Und deine Bereitschaft ist nichts als deine Empfänglichkeit: wenn du vollkommen aufnahmebereit bist, hört das Ego auf zu sein. Jetzt bist du ein leerer Tempel, in dem niemand wohnt. Tilopa sagt irgendwo in dem Gesang: werde zu einem hohlen Bambus - innen leer. Und plötzlich, im selben Augenblick, wo du zu einem hohlen Bambus wirst, spürst du die Lippen des Göttlichen auf dir, das hohle Bambusrohr wird zur Flöte, und der Gesang beginnt - der Gesang vom Mahamudra. Tilopa wurde zu einem hohlen Bambus, das Göttliche kam und spielte sein Lied darauf. Es ist nicht der Gesang Tilopas, sondern der höchsten Erfahrung selbst. Noch ein paar Worte über Tilopa, bevor wir in dieses herrliche Gebilde eindringen. Nicht viel ist über Tilopa bekannt, weil überhaupt nur wenig über Menschen wie ihn bekannt sein kann. Sie hinterlassen keine Spuren, sie werden nicht Teil der Geschichte. Sie existieren am Rande, sie fügen sich nicht in den Hauptstrom, mit dem sich der Verkehr der Menschheit vorwärts bewegt. Dahin gehören sie nicht. Die gesamte Menschheit wird von Begierden vorwärts getrieben, und Menschen wie Tilopa sinken immer tiefer in die Begierdelosigkeit hinein. Sie bewegen sich einfach fort vom Hauptverkehr der Menschheit, wo allein Geschichte stattfindet. Und je weiter weg sie sich vom Verkehr der Geschichte bewegen, desto sagenumwobener werden sie. Sie leben wie Mythen fort, nicht wie historische Ereignisse. Und so sollte es auch sein, denn sie gehen über die Zeit hinaus - sie leben in der Ewigkeit. Aus unserer gewöhnlichen Dimension des Menschlichen verschwinden sie einfach, verflüchtigen sie sich einfach. Den Augenblick, in dem sie sich verflüchtigen, allein diesen Augenblick behalten wir in Erinnerung soviel haben sie mit uns gemein. Und so kommt es, daß nicht viel über Tilopa bekannt ist, daß wir nicht wissen, wer er war. Dieser Gesang ist alles, was existiert. Er ist Tilopas Geschenk, und das Geschenk galt Naropa, Tilopas Jünger. Solche Geschenke werden nur Menschen gemacht, mit denen man in einer tiefen Liebesbeziehung steht. Man muß fähig sein, solche Gaben in Empfang zu nehmen, und dieser Gesang wurde Naropa zum Geschenk gemacht, seinem Jünger. Bevor er dieses Geschenk erhielt, wurde er auf tausenderlei Weise geprüft: seine Zuverlässigkeit, seine Liebe, sein Vertrauen. Als es Tilopa klar war, daß kein Zweifel mehr in Naropa war, nicht der geringste Schatten eines Zweifels, daß sein Herz randvoll war mit Vertrauen und Liebe, da wurde ihm dieser Gesang geschenkt. Auch ich bin hier, um ein Lied zu singen, aber es kann euch erst gegeben werden, wenn ihr bereit seid. Und Bereitschaft heißt, daß alle Zweifel einfach aus euch verschwunden sein müssen. Ihr dürft sie nicht unterdrücken, ihr dürft sie nicht zu bekämpfen suchen, denn wenn ihr sie >besiegtAnatmaIch bin< gibt. Es gibt mich nicht mehr.« Der Bote war verwirrt, wenn es Nagasen nicht mehr gab, wer sollte dann kommen? Auch Milinda war verwirrt und sagte: »Dieser Mann spricht in Rätseln. Aber lasse ihn nur kommen.« Er war ein Grieche, dieser Milinda, und der griechische Geist ist grundsätzlich logisch. Es gibt im Grunde nur zwei Geistesrichtungen auf der Welt, die indische und die griechische. Die indische ist unlogisch, und die griechische ist logisch. Der indische Geist steigt in die dunklen Tiefen hinunter, wo es keine Grenzen gibt, wo alles verschwommen und neblig wird. Der griechische Geist folgt der logischen Linie, ist geradeaus, und alles kann definiert und kategorisiert werden. Der griechische Sinn ist auf das Bekannte gerichtet. Der indische Sinn geht nach dem Unbekannten, und darüber hinaus: nach dem Unwißbaren. Der griechische Sinn ist absolut rational; der indische Sinn absolut widersprüchlich. Macht euch also nichts draus, wenn ihr in mir zu viele Widersprüche findet. Es geht nicht anders: Im Orient muß man sich durch Widersprüche verständlich machen. Milinda sagte: »Dieser Mann scheint mir völlig unberechenbar, vermutlich ist er verrückt. Und wenn es ihn nicht gibt, wie kann er dann herkommen? Aber laß ihn kommen, wir werden sehen. Ich werde ihn schon überführen: Allein dadurch, daß er kommt, ist bewiesen, daß es ihn gibt.« Und Nagasen kam. Milinda empfing ihn am Tor und sagte als erstes: »Ich wundere mich: Du bist gekommen, obwohl du gesagt hast, daß es dich nicht gibt«. Nagasen antwortete: »Das sage ich immer noch. Laßt uns die Sache also hier und jetzt klären.« Eine Menge hatte sich angesammelt, der ganze Hof war zusammengeströmt und Nagasen sagte: »Frag nur.« Milinda fragte: »Sag mir als erstes: Wenn etwas nicht da ist, wie kann es dann kommen? Wenn es erst gar nicht vorhanden ist, dann kann es auch unmöglich kommen - du aber bist gekommen. Daraus folgt, mit einfacher Logik, daß es dich gibt.« Nagasen lachte und sagte: »Schau dir diese ratha an« - der Wagen, auf dem er gekommen war - »schau sie dir an. Ihr nennt es ratha, nicht wahr?« Milinda sagte: »Ja.« Dann forderte Nagasen die Umstehenden auf, die Pferde auszuspannen. Die Pferde wurden fortgeführt und Nagasen fragte: »Sind diese Pferde der Wagen?« Milinda sagte: »Natürlich nicht.« Und nach und nach wurde Stück für Stück vom Wagen fortgenommen, jedes einzelne Teil. Als die Räder fortgenommen wurden, fragte er: »Sind diese Räder der Wagen?« und Milinda sagte: »Natürlich nicht«. Als alles fort war und nichts übrig blieb, fragte Nagasen: »Wo ist nun der Wagen, in dem ich gekommen bin? ... Und wir haben den
Wagen nie fortgebracht, und alles, was wir fortgebracht haben, war nicht der Wagen, das hast du mir selbst bestätigt. Wo ist also jetzt der Wagen?« Nagasen sagte: »Auf diese Weise existiert auch Nagasen. Nimm seine Teile fort und er wird verschwinden.« Nichts als Energielinien, die sich gegenseitig kreuzen: Entferne die Linien, und der Kreuzungspunkt verschwindet. Der Wagen war nichts anderes als eine Verbindung von Teilen. Ihr seid auch nur eine Verbindung von Teilen, das »Ich« ist nichts als eine Verbindung von Teilen. Nehmt die Einzelteile fort, und das »Ich« wird verschwinden. So kommt es, daß du, wenn alle Gedanken aus dem Bewußtsein verschwinden, nicht mehr »Ich« sagen kannst, denn es gibt kein »Ich«: was bleibt, ist ein Vakuum. Wenn alle Gefühle verschwinden, verschwindet auch das Selbst vollkommen. Du bist und bist doch nicht: Nur eine Abwesenheit, ohne Grenzen - Leere. Das ist die höchste Stufe, dieser Zustand ist Mahamudra - denn nur in diesem Zustand kannst du zum Orgasmus mit dem All gelangen - jetzt gibt es keine Grenzen mehr, kein Selbst; keine Grenze trennt dich mehr von allem übrigen ab. Das Ganze hat keine Grenzen. Du mußt zum Ganzen werden, nur so kann es zu einem Verschmelzen, zu einem Zusammentreffen kommen. Wenn du leer bist, dann bist du ohne Grenzen, und plötzlich wirst du das Ganze. Wenn es dich nicht gibt, wirst du zum Ganzen. Solange es dich gibt, bist du ein häßliches Ego. Wenn es dich nicht mehr gibt, steht die gesamte Ausdehnung des Daseins deinem Sein zur Verfügung. Aber das sind Widersprüche. Ihr müßt euch etwas anstrengen, das zu verstehen: Werdet ein wenig wie Naropa, sonst bleiben diese Wörter und Symbole ohne jeden Sinn für euch. Ihr müßt mir mit Vertrauen zuhören. Und wenn ich das sage, daß ihr mir mit Vertrauen zuhören sollt, dann meine ich damit, daß ich diese Erfahrung kenne, daß es wirklich so ist. Ich bin ein Zeuge und ich trage Zeugnis dafür, daß es so ist. Es mag nicht möglich sein, es zu sagen, aber das bedeutet nicht, daß es nicht so ist. Anderes mag sagbar sein, aber das bedeutet nicht, daß es auch stimmt. Man kann etwas sagen, das nicht ist, und man kann unfähig sein, etwas zu sagen, das wirklich so ist. Ich bin Zeuge, daß es so ist, aber ihr werdet mich nur verstehen, wenn ihr sein könnt wie Naropa, wenn ihr voll Vertrauen zuhören könnt. Ich lehre keine Ideologie; ich hätte mich nicht einen Augenblick mit Tilopa abgegeben, wenn es nicht auch meine Erfahrung wäre; und Tilopa hat es sehr gut zum Ausdruck gebracht. Die Leere braucht keine Stützen, Mahamudra ruht auf Nichts. Auf Nichts ruht Mahamudra. Mahamudra bedeutet wörtlich: »Die große Geste oder die höchste Geste, die letzte, die dir möglich ist« - danach gibt es keine mehr. Mahamudra ruht auf Nichts. Sei ein Nichts, und alles ist erreicht. Stirb und du wirst zum Gott. Verschwinde und du wirst zum All. Hier verschwindet der Tropfen, und dort kommt der Ozean zum Vorschein. Klammere dich nicht an dich selbst - all deine vergangenen Leben hast du nichts anderes getan: hast dich geklammert in der Angst, daß du, wenn du dich nicht am Ego festhältst, den Boden unter den Füßen verlieren und in einen bodenlosen Abgrund fallen müßtest ... Und so klammern wir uns an winzige Dinge, völlig bedeutungslos, wir klammern uns aus Panik fest. Dieses Klammern zeigt, daß auch du in dir eine grenzenlose Leere wahrnimmst. Das Nächstbeste, was es auch sei, ist dir recht, um dich daran festzuklammern, aber genau dieses Klammern ist dein Elend, ist dein Samsara. Laß dich in den Abgrund fallen. Und hast du dich erst einmal in den Abgrund fallen lassen, dann wirst du selbst zum Abgrund. Dann gibt es keinen Tod, denn wie kann ein Abgrund sterben? Dann gibt es kein Ende mehr, denn wie kann ein Nichts enden? Etwas kann enden, muß sogar enden - nur Nichts kann ewig sein, Mahamudra ruht auf Nichts. Laßt es mich euch mit einer Erfahrung erklären, die ihr alle kennt. Wenn du jemanden liebst, dann mußt du zu Nichts werden. Wenn du einen Menschen liebst, mußt du ein Nicht-Selbst werden. Deshalb ist die Liebe so schwierig, und deshalb sagt Jesus, daß Gott die Liebe ist. Er weiß etwas über Mahamudra - und bevor er anfing in Jerusalem zu lehren, hatte er Indien besucht. Er war auch in Tibet gewesen und war Menschen wie Tilopa und Naropa begegnet. Er hatte sich in buddhistischen Klöstern aufgehalten, er hatte gelernt, was diese Menschen unter dem >Nichts< verstehen. Danach versuchte er alles, was er gelernt hatte, in jüdische Terminologie zu übertragen. Und an dieser Stelle ging alles schief. Man kann buddhistische Einsichten nicht in jüdische Terminologie umsetzen. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit, weil die gesamte jüdische Terminologie von positiven Ausdrücken abhängt, während die buddhistische Terminologie nur mit absolut nihilistischen Ausdrücken arbeitet: »Das Nichts«, »die Leere«. Aber ab und zu scheint etwas in Jesus Worten durch. Wenn er sagt: »Gott ist Liebe«, dann deutet er etwas Bestimmtes an. Was ist das für ein Fingerzeig? Wenn du liebst, mußt du zu einem Niemand werden. Wenn du ein Jemand bleibst, wird dir die Liebe nie geschehen. Wenn du jemanden liebst, wenn auch nur für einen einzigen Augenblick lang die Liebe eintritt und zwischen zwei Menschen fließt, dann begegnen sich zwei Nichtheiten, nicht zwei Menschen. Wer je erfahren hat was Liebe ist, der wird dies verstehen. Zwei Liebende sitzen Seite an Seite, oder besser gesagt: zwei Nichtheiten sitzen Seite an Seite - so ist ein Zusammentreffen möglich, denn Schranken fallen und Grenzen verschwinden. Die Energie kann sich vom einen zum anderen beugen, nichts hindert sie. Und nur in so einem Augenblick tiefer Liebe kann es zum Orgasmus kommen. Wenn zwei Liebende sich umschlungen halten und wenn beide ihr Selbst verloren haben, zu Nichts geworden sind, dann geschieht ein Orgasmus. Dann verliert ihre Körperenergie, ihr ganzes Dasein, jegliche Identität; sie sind nicht mehr sie selbst - sie sind in den Abgrund gefallen. Aber dies kann nur für einen Augenblick geschehen: dann fangen sie
sich wieder, dann fangen sie wieder an, sich ans Ego zu klammern. Daran liegt es, daß die Menschen auch vor der Liebe Angst haben. Je tiefer die Liebe geht, desto stärker wird die Angst verrückt zu werden, oder sterben zu müssen, die Angst vor dem Unbekannten, vor dem, was geschehen kann. Der Abgrund öffnet seinen Schlund, die ganze Schöpfung gähnt einem entgegen, und plötzlich stehst du davor und siehst, daß du da hineinfallen kannst. Also haben die Leute Angst vor der Liebe und geben sich lieber mit Sex zufrieden, und nennen dann ihren Sex »Liebe«. Liebe ist nicht Sex. Sex kann in der Liebe vorkommen, er kann dazu gehören, wesentlich dazu gehören, aber Sex an sich ist nicht Liebe - er ist Liebes-Ersatz. Ihr versucht, die Liebe durch den Sex zu vermeiden. Ihr wiegt euch in einem Liebes-Gefühl, ohne euch auf die Liebe wirklich einzulassen. Sex ist genau wie geborgtes Wissen: man fühlt sich wissend, ohne zu wissen; man fühlt sich liebend und kann ohne Liebe lieben. Wo Liebe ist, bist du nicht vorhanden, und der andere auch nicht: dann plötzlich, und nur dann, verschwinden beide. Das gleiche geschieht in Mahamudra. Mahamudra ist ein totaler Orgasmus mit der gesamten Schöpfung. Im Tantra heißt die tiefe sexuelle Vereinigung, die orgasmische Vereinigung zwischen zwei Liebenden daher ebenfalls »Mahamudra«. Auch Tilopa ist ein tantrischer Meister; und in tantrischen Büchern, in tantrischen Tempeln werden zwei Liebende in inniger orgasmischer Umschlingung dargestellt. Das ist das tantrische Symbol für die letzte orgasmische Vereinigung mit dem All. Mahamudra ruht auf Nichts. Ohne jede Anstrengung, Einfach, indem du gelöst und natürlich bleibst. Und das ist Tilopas Methode und die einzige Methode im Tantra: ohne jede Anstrengung zu sein; denn wenn du dich anstrengst, wird dadurch das Ego gestärkt. Wenn du dich anstrengst, drängelst du dich vor. Liebe hat also nichts mit Anstrengung zu tun, du kannst dich nicht »anstrengen zu lieben«. Wenn es Mühe macht, kann keine Liebe aufkommen. Du fließt in sie ein, ohne dich anzustrengen; du läßt es einfach zu, du machst dir keine Mühe. Es ist kein Tun, sondern ein Geschehen: »Ohne jede Anstrengung ...« und dasselbe gilt für das Ganze, das Endgültige: du gibst dir keine Mühe, du läßt dich einfach treiben ... »einfach, indem du gelöst und natürlich bleibst«. Das ist die ganze Methode, das ist die ganze Grundlage für Tantra. Yoga sagt: »Streng dich an«, und Tantra sagt, »Streng dich nicht an«. Yoga ist Ego-orientiert und macht erst am Ende den Sprung, aber Tantra ist von vornherein nicht Ego-orientiert. Yoga erreicht am Ende so tiefe Bedeutung, soviel Sinn, solche Fülle, daß es seinen Schülern sagt, »Und jetzt laßt das Ego fallen«, - aber erst ganz am Ende. Tantra dagegen sagt dies von Anfang an, vom ersten Schritt an. Ich will es einmal so sagen: Tantra fängt da an, wo Yoga aufhört. Der höchste Gipfel beim Yoga ist der erste Schritt beim Tantra - Tantra führt dich zum äußersten Ziel. Yoga kann dich auf Tantra vorbereiten, das ist alles, denn letzten Endes kommt es beiden darauf an, mühelos zu werden, »gelöst und natürlich«. Was meint Tilopa mit »gelöst und natürlich«? Kämpfe nicht mit dir selbst, sei gelassen. Zwänge dich nicht in eine Charakterstruktur, in einen Panzer aus Moral. Diszipliniere dich nicht zu sehr, sonst wird gerade aus deiner Disziplin eine Fessel. Schaff dir kein eigenes Gefängnis. Bleibe locker, bleibe im Fluß, passe dich der Situation an, geh auf die Situation ein. Geh nicht mit einer Zwangsjacke aus Charakter herum, schleppe keine fixen Einstellungen mit dir herum. Bleibe flüssig wie Wasser, laß dich nicht zu Eis gefrieren. Bleibe beweglich und im Fluß, gehe hin, wo dich die Natur hinschickt. Sträube dich nicht, bürde dir nichts auf, laß dich sein, wie du bist. Aber die gesamte Gesellschaft bringt dir bei, dich irgendwelchen Zwängen zu beugen: sei gut, sei moralisch, sei dies, sei das. Tantra dagegen liegt jenseits aller Gesellschaft, Kultur und Zivilisation. Tantra sagt, daß du mit zuviel Kultur alles Natürliche verlierst und zu einem Mechanismus wirst, der weder treiben noch fließen kann. Zwinge dir also keine Struktur auf - lebe von Augenblick zu Augenblick, sei wach. Und das ist ein Punkt, der tief verstanden werden muß. Warum liegt den Leuten so viel daran, sich eine Struktur zu verschaffen? Damit sie nicht wach zu sein brauchen - denn ohne einen Charakter, der dich zusammenhält mußt du sehr, sehr scharf aufpassen: jeden Augenblick muß eine neue Entscheidung gefällt werden. Denn jetzt hast du keine vorfabrizierten Verhaltensmuster, du hast keine festen Einstellungen. Du mußt dich ganz auf die gegebene Situation einlassen: etwas Bestimmtes liegt an, und du bist vollkommen unvorbereitet. Du mußt also ungeheuer scharf aufpassen. Und weil sie sich um diese Wachsamkeit drücken wollen, haben sich die Leute einen Trick ausgedacht; und dieser Trick nennt sich »Charakter«. Zwinge dich zu einer bestimmten Disziplin, dann kannst du alles dieser Disziplin überlassen, ob deine Sinne wach sind oder nicht. Mach es dir zur Gewohnheit, immer die Wahrheit zu sagen, und wenn es eine Gewohnheit ist, brauchst du dir keine Gedanken mehr darüber zu machen. Jemand fragt dich etwas, du sagst die Wahrheit - aus Gewohnheit, versteht sich - und damit ist die Wahrheit abgestorben. Das Leben ist nicht so einfach. Das Leben ist eine sehr, sehr komplexe Angelegenheit. Manchmal ist eine Lüge notwendig, und manchmal kann eine Wahrheit gefährlich sein - man muß also aufpassen. Zum Beispiel, wenn du mit deiner Lüge jemanden das Leben retten kannst, wenn durch deine Lüge niemand zu Schaden kommt, und vielmehr ein Leben gerettet werden kann - was machst du dann mit deiner Disziplin? Wenn du dich ganz auf sie festgelegt hast und einfach wahr sein mußt, dann wirst du damit zum Mörder. Nichts ist wertvoller als Leben, auch keine Wahrheit: nichts ist wertvoller als Leben. Und es kann vorkommen, daß deine Wahrheit jemanden das Leben kostet. Was willst du also tun? Nur um dein altes Verhaltensmuster, deine alte
Gewohnheit zu retten, dein eigenes Ego, das gern als ein wahrheitsgetreuer Mensch gelten will, opferst du ein Leben. Für nichts anderes als deinen guten Namen? Das geht zu weit, das heißt, daß du wahnsinnig bist. Wenn ein Leben auf dem Spiel steht, was spielt es dann für eine Rolle, ob die Leute dich für einen Lügner halten? Warum sich zu viele Gedanken darüber machen, was andere von dir denken? Es ist nicht leicht! Es ist schwierig, sich ein festes Muster herzustellen, denn das Leben geht immer weiter und ändert sich ständig, jeden Augenblick kommt eine neue Situation auf, und du mußt dich auf sie einstellen. Gehe mit völlig wachen Sinnen auf sie ein - das ist alles. Und laß die Entscheidung aus der Situation selber erwachsen. Laß sie nicht vorfabriziert und aufgesetzt sein. Trage keine Programme im Hirn herum, sondern bleib einfach gelöst und wach und natürlich. Das ist es, was den religiösen Menschen ausmacht; diejenigen, die man so im allgemeinen für religiös hält, sind nichts als Leichen. Sie handeln aus ihren Gewohnheiten heraus, immer nur aus ihren Gewohnheiten heraus ... Das ist Prägung, aber keine Freiheit. Zur Bewußtheit gehört Freiheit. Sei gelöst: Erinnere dich an dieses Wort so tief wie möglich. Sei durchdrungen von ihm: »Sei gelöst«, damit du mit jeder Situation mitfließen kannst, beweglich wie Wasser, das die Gestalt des Glases annimmt, wenn es in ein Glas gegossen wird. Das Wasser sträubt sich nicht, es sagt nicht, »das ist aber nicht meine Form«. Und wenn Wasser in einen Krug gegossen wird, dann nimmt es eben diese Form an. Es sträubt sich nicht, es bleibt beweglich. Bleibe beweglich wie Wasser. Manchmal mußt du dich nach Süden wenden und manchmal nach Norden; du mußt deine Richtung ändern können. Du mußt dich nach der Situation richten, während du fließt. Es genügt, wenn du weißt, wie man das macht: fließen. Das Meer ist nicht weit, wenn du zu fließen verstehst. Verstricke dich also nicht in feste Verhaltensmuster. Auch wenn dich die gesamte Gesellschaft dazu anhält, auch wenn alle Religionen dir solche Muster aufzwingen wollen. Nur sehr wenige Menschen - Erleuchtete - haben den Mut gefunden, die Wahrheit zu sagen, und die Wahrheit ist: sei gelöst und natürlich! Wenn du gelöst bist, dann bist du von allein natürlich. Tilopa sagt nicht: sei moralisch - er sagt: sei natürlich. Und diese beiden Dimensionen sind denkbar weit voneinander entfernt. Ein moralischer Mensch ist niemals natürlich. Das kann er nicht sein. Wenn er sich wütend fühlt, kann er seine Wut nicht zeigen, denn keine Moral gestattet das. Wenn er sich liebend fühlt, kann er nicht liebend sein, weil ihm die Moral im Wege steht. Was immer er tut, geschieht gemäß der Moral, nie gemäß seiner Natur. Aber ich sage euch, wer sich nach moralischen Verhaltensmustern ausrichtet und nicht lernt, gemäß seiner Natur zu handeln, wird nie und nimmer zum Zustand des Mahamudra gelangen, denn das ist ein natürlicher Zustand, der Gipfelpunkt natürlichen Seins. Ich sage dir: Wenn du dich wütend fühlst, dann sei wütend - nur lasse es mit völliger Wachsamkeit geschehen. Die Wut darf eines nicht: dein Bewußtsein ersticken - das ist alles. Laß die Wut zu, laß sie geschehen, aber sei dir völlig bewußt, was geschieht. Bleibe entspannnt, natürlich, bewußt; beobachte, was geschieht. Nach und nach wirst du sehen, daß vieles einfach verschwunden ist, daß vieles einfach nicht mehr geschieht - und das, ohne daß du dich deinerseits im geringsten anstrengen mußtest. Du hast dich nie direkt angestrengt, diese Dinge loszuwerden, und doch sind sie ganz einfach fortgefallen. Wenn man bewußt ist, verschwindet nach und nach die Wut. Es wird dir einfach zu dumm - nicht zu »schlecht«, denk daran, denn »schlecht« ist ein moralisch aufgeladenes Wort. Wut ist einfach dumm geworden. Du meidest sie nicht, weil sie schlecht ist, sondern weil sie lächerlich geworden ist; sie ist keine Sünde, sondern einfach eine Dummheit. Und das gleiche passiert mit der Gier: sie wird dumm und verschwindet. Die Eifersucht verschwindet, sie ist einfach dumm. Denkt an diese Wertung. Für die Moral gibt es etwas >Gutes< und etwas >SchlechtesWeises< und etwas >DummesTugend< nennen wollt, dann nennt sie Tugend. Und andererseits gibt es die Dummheit. Wenn ihr sie >Sünde< nennen wollt, dann ist das die einzige Sünde im Leben. Wie also kannst du deine Dummheit in Weisheit umwandeln? - denn das ist die einzige Umwandlung, auf die es ankommt; nur erzwingen kannst du sie nicht. Sie geschieht nur, wenn du locker und natürlich bist. Einfach, indem du gelöst und natürlich bleibst, Kannst du das Joch zerbrechen Und Befreiung erlangen. Und man wird vollkommen frei. Anfangs wird es schwierig sein, weil dich die alten Gewohnheiten zwingen werden, bestimmte Dinge zu tun: zum Beispiel möchtest du gerne wütend werden - aber die alte Gewohnheit setzt dir unwillkürlich ein Lächeln aufs Gesicht. Es gibt Menschen, bei denen kannst du sicher sein, daß sich hinter jedem Lächeln, das sie zeigen, Wut verbirgt. Sie zeigen selbst in ihrem Lächeln ihre Wut. Sobald sie sich verstecken wollen, breiten sie ein Lächeln über ihr ganzes Gesicht. Das sind die Heuchler. Ein Heuchler ist ein unnatürlicher Mensch: sobald er Wut fühlt, lächelt er; sobald er Haß fühlt, zeigt er Liebe; sobald er sich mörderisch fühlt, zeigt er sich sehr mitleidig. Ein Heuchler ist ein perfekter Moralist - durch und durch künstlich, eine Plastikblume, häßlich, nutzlos; nichts ist natürlich, alles ist falsch. Tantra ist der Weg des Natürlichen: sei gelöst und natürlich. Leicht wird es nicht werden, weil die alten Gewohnheiten gebrochen werden müssen. Es ist schwierig, weil du in einer Gesellschaft von Heuchlern lebst. Es ist schwierig, weil du
dich überall in Konflikt mit diesen Heuchlern befinden wirst. Aber da muß man durch. Es wird viel Mühe kosten, denn du hast vieles in deine falsche künstliche Maske investiert. Du magst dir vollkommen isoliert vorkommen, aber diese Zeit wird vorübergehen. Es werden andere Dinge kommen, die deine Natürlichkeit zu schätzen wissen. Und denkt daran, authentische Wut ist weit besser als ein vorgetäuschtes Lächeln; denn sie ist wenigstens echt. Und jemand, der nicht authentisch böse werden kann, kann überhaupt nicht authentisch sein. Er ist wenigstens authentisch und wahr, seinem wirklichen Wesen treu. Was immer er sonst tut - ihr könnt euch drauf verlassen, daß es echt ist. Und meiner Beobachtung nach ist echte Wut schön und ein falsches Lächeln häßlich: und ein wahrer Haß hat ebenso große Schönheit wie wahre Liebe - denn Schönheit ist ein Merkmal der Echtheit. Sie hat weder mit Haß noch mit Liebe etwas zu tun, sondern Schönheit ist deshalb schön, weil sie wahr ist. Wahrheit ist schön - in allen ihren Formen. Ein wahrhaft toter Mann ist schöner als ein Scheinlebendiger. Wenigstens erfüllt er die Grundvoraussetzung, daß er wahr ist. Mulla Nasrudins Frau war gestorben. Die Nachbarn kamen zusammen, aber Mulla Nasrudin stand da, als ginge ihn das alles nichts an, als sei nichts geschehen. Die Nachbarn fingen zu weinen und zu trauern an und sagten: »Und was ist mit dir, Nasrudin? Sie ist tot!« Nasrudin sagte: »Wartet nur, sie ist eine solche Lügnerin! Ich muß mindestens drei Tage abwarten, ob es wirklich stimmt.« Merkt es euch also: die Schönheit läßt sich an der Wahrheit ermessen, an der Echtheit. Werde wahrhaftiger, und du wirst zu blühen beginnen. Und je echter du wirst, desto mehr alte Dinge werden nach und nach von dir abfallen und zwar ganz von allein. Und wenn du es erst einmal heraus hast, dann wirst du immer gelöster werden und immer natürlicher, echter. Und dann, sagt Tilopa: Kannst du das Joch zerbrechen Und Befreiung erlangen. Die Befreiung ist nicht weit entfernt, sie versteckt sich gleich hinter deinem Rücken. Sobald du authentisch bist, steht die Tür offen - aber du bist ein solcher Lügner, ein solcher Heuchler, ein solcher Hochstapler, daß keine Faser an dir echt ist. Darum scheint es dir, daß die Befreiung so unendlich weit entfernt ist. Das ist sie nicht! Für jemanden, der authentisch ist, kommt die Befreiung ganz natürlich. Nichts ist natürlicher! So wie Wasser zum Meer fließt, so wie Dampf zum Himmel steigt, so wie die Sonne heiß und der Mond kühl ist, so kommt die Befreiung für den der wahr ist. Es ist nichts, womit man sich brüsten kann. Es ist nichts, wovon du anderen berichten kannst, du hättest es erreicht. Als Lin Chi gefragt wurde: »Was ist mit dir geschehen, die Leute sagen, du seist erleuchtet?«, da zuckte er nur mit den Schultern und sagte: »Geschehen? Nichts ist geschehen. Ich haue Holz im Wald und trage Wasser zum Ashram. Ich bringe Wasser vom Brunnen und hacke Holz, denn der Winter rückt heran«. Er zuckte mit den Schultern, eine sehr bedeutsame Geste. Er sagt damit: nichts ist geschehen. Welchen Unsinn fragst du da! Es ist das Natürlichste von der Welt. Wasser vom Brunnen holen und Holzhacken im Wald. Das Leben ist völlig natürlich. Und sonst sagt Lin Chi noch: »Wenn ich müde bin, gehe ich schlafen, und wenn ich mich hungrig fühle, esse ich. Das Leben ist absolut natürlich geworden.« Befreiung heißt, daß du völlig natürlich geworden bist. Diese Befreiung läßt sich nicht an die große Glocke hängen, als ob du etwas Ungeheures erreicht hättest. Es ist nichts Großes, es ist nichts Ungewöhnliches, du bist lediglich natürlich, du bist lediglich du selbst geworden. Was ist also zu tun? Laß alle Spannungen fallen, laß alle Heuchelei fallen, laß alles fallen, was du um dein natürliches Wesen her gezüchtet hast. - Werde natürlich. Am Anfang wird es eine sehr, sehr mühselige Sache sein, aber auch nur am Anfang. Wenn du dich erst einmal eingestimmt hast, werden bald andere zu spüren beginnen, daß sich in dir etwas abspielt, denn dein authentisches Wesen hat eine große Ausstrahlung, hat eine magnetische Kraft. Sie werden spüren, daß etwas geschehen ist: dieser bewegt sich nicht länger nach unseren Gesetzmäßigkeiten, er hat sich durch und durch geändert. Und verlieren kannst du dich nicht, denn nur das, was künstlich ist, wird von dir abfallen. Und wenn du erst einmal die Leere hergestellt hast, indem du alles Künstliche hinausgeworfen hast, alle Masken und Vortäuschungen, dann beginnt dein natürliches Wesen von allein zu fließen. Alles was es dazu braucht, ist offener Raum. Sei leer, sei gelöst und natürlich. Laß das zum Grundprinzip deines Lebens werden.
Der Gesang geht weiter: Wenn du vor dir im Raume nichts mehr siehst, Und dann mit deinem eigenen Geist den eigenen Geist betrachtest, Verschwinden alle Unterscheidungen, Und du gelangst zur Buddhaschaft. Die Wolken wandern durch den Himmel, Sie haben weder Wurzeln noch Heimat; Wie Wolken sind die einzelnen Gedanken, Die deinen Geist durchziehen. Sobald der Geist sich selbst erkannt hat, Hört jede Unterscheidung auf. Formen und Farben bilden sich im Raum, Aber weder Schwarz noch Weiß Hinterlassen in ihm Spuren. Aus diesem Geist des Geistes entstehen alle Dinge. Weder Tugend noch Laster beflecken ihn.
II. DIE WURZEL ALLER PROBLEME 12. Februar 1975 Die Wurzel aller Probleme ist der Geist selbst. Also gibt es nichts Wichtigeres, als zu verstehen, was dieser Geist ist, aus welchem Stoff er gemacht ist; ob er ein festes Ganzes ist oder nur ein Vorgang; ob er Substanz hat oder aus dem Stoff gemacht ist, aus dem die Träume sind. Denn bevor du nicht die Natur des Geistes verstanden hast, kannst du keines deiner Lebensprobleme lösen. Du kannst dich noch so sehr anstrengen: wenn du immer nur einzelne, losgelöste Probleme bekämpfen willst, muß dir das notgedrungen mißlingen - das ist absolut sicher. Denn in Wirklichkeit gibt es keine individuellen Probleme: das Problem ist der Geist selbst. Wenn du dieses oder jenes Problem zu lösen versuchst, hilft dir das nicht weiter, weil die Wurzel des Problems davon unberührt bleibt. Es ist so, als ob du die Äste eines Baumes beschneidest, alle Blätter trimmst, aber nicht an die Wurzeln gehst. Neue Blätter werden treiben, neue Aste werden sprießen - und zwar mehr als zuvor. Wenn du einen Baum beschneidest, wird er nur umso dichter. Wenn du nicht weißt, wie du ihn mit der Wurzel ausreißen kannst, hat dein Kampf keinen Sinn, ist er töricht. Du zerstörst nur dich selbst, nicht den Baum. Wenn du so kämpfst, vergeudest du deine Energie, deine Zeit, dein Leben - und der Baum wird immer nur stärker, dichter und üppiger. Und du kannst nicht begreifen, wie es dazu kommt: du strengst dich doch wirklich an, versuchst ein Problem nach dem anderen zu lösen, und es werden immer noch mehr. Du löst ein Problem, und zehn neue setzen sich an seine Stelle. Versuch gar nicht erst einzelne, losgelöste Probleme zu lösen - denn es gibt keine: der Geist selbst ist das Problem. Aber der Geist hält sich im Untergrund versteckt. Darum nenne ich ihn die Wurzel. Er ist bei Tageslicht nicht sichtbar. Wenn du auf ein Problem stößt, ist das Problem über dem Boden, du kannst es sehen - und davon läßt du dich täuschen. Denk immer daran, das Sichtbare ist niemals die Wurzel; die Wurzel bleibt immer unsichtbar, die Wurzel ist immer versteckt. Kämpfe nie mit dem Sichtbaren, sonst kämpfst du immer nur mit Schatten. Du magst dich völlig dabei erschöpfen, aber zu einer Umwandlung deines Lebens kann es nicht kommen. Die gleichen Probleme werden immer von neuem sprießen. Wirf einen Blick in dein eigenes Leben, und du wirst sehen, was ich meine. Ich rede nicht von irgendeiner Theorie des Geistes, sondern ganz einfach davon, wie er tatsächlich ist. Und die Tatsache ist: der Geist selbst muß >gelöst< werden. Die Leute kommen zu mir und fragen, wie sie ihren geistigen Frieden erreichen können. Und darauf antworte ich: »So etwas gibt es gar nicht: geistiger Frieden. Davon habe ich ja noch nie gehört!« Der Geist ist niemals friedvoll - nur ein Geist, der nicht ist, hat Frieden. Der Geist selbst kann niemals still und friedlich sein, der Geist ist von Natur aus verspannt, voller Verwirrung. Der Geist kann nie klar sein, er kann keine Klarheit besitzen, denn der Geist ist von Natur aus neblig und verworren. Klarheit ist nur möglich, wenn das Denken aufhört; Friede ist nur ohne Denken möglich, Stille ist nur ohne Denken möglich - versucht also nicht, zu »geistigem Frieden« zu gelangen. Wenn du es dennoch versuchst, dann versuchst du von vornherein das Unmögliche. Als allererstes muß man also das Wesen des Geistes erkennen. Erst dann kann etwas geschehen. Wenn du genau hinschaust, wird dir nie eine Seinsform namens >Geist< begegnen. Er ist kein Ding, er ist einfach ein Vorgang; er ist nicht wie ein Ding beschaffen, sondern wie eine Menschenmenge. Individuelle Gedanken existieren zwar, aber sie bewegen sich so schnell, daß du die Lücken zwischen ihnen nicht sehen kannst. Die Intervalle sind nicht sichtbar, weil du nicht sehr scharfsichtig und wachsam bist; dafür brauchst du eine genauere Blickschärfe. Wenn deine Augen tief genug blicken können, kannst du plötzlich erst einen Gedanken ausmachen, dann einen anderen, dann wieder einen aber niemals >den Geist< selbst. Alle Gedanken zusammengenommen, Millionen von Gedanken, geben dir die Illusion, daß es >den Geist< gibt. Es ist wie bei einer Menschenmasse: Tausende von Einzelnen, die in einer Menge zusammenstehen: gibt es deswegen aber schon so etwas wie eine >Menge