STUDIEREN AN MITTELALTERLICHEN UNIVERSITÄTEN
EDUCATION AND SOCIETY IN THE MIDDLE AGES AND RENAISSANCE Editors
Jürgen...
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STUDIEREN AN MITTELALTERLICHEN UNIVERSITÄTEN
EDUCATION AND SOCIETY IN THE MIDDLE AGES AND RENAISSANCE Editors
Jürgen Miethke (Heidelberg) William J. Courtenay (Madison) Jeremy Catto (Oxford) Jacques Verger (Paris)
VOLUME 19
STUDIEREN AN MITTELALTERLICHEN UNIVERSITÄTEN Chancen und Risiken
GESAMMELTE AUFSÄTZE VON
JÜRGEN MIETHKE
BRILL LEIDEN • BOSTON 2004
This book is printed on acid-free paper.
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A C.I.P. record for this book is available from the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
ISSN 0926-6070 ISBN 90 04 13833 1 © Copyright 2004 by Koninklijke Brill NV, Leiden, The Netherlands All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, translated, stored in a retrieval system, or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, recording or otherwise, without prior written permission from the publisher. Authorization to photocopy items for internal or personal use is granted by Brill provided that the appropriate fees are paid directly to The Copyright Clearance Center, 222 Rosewood Drive, Suite 910 Danvers MA 01923, USA. Fees are subject to change. printed in the netherlands
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort ...................................................................................... Kapitel 1 Päpstliche Universitätsgründungsprivilegien und der Begriff eines Studium generale im RömischDeutschen Reich des 14. Jahrhunderts ................................ Kapitel 2 Universitas und studium. Zu den Verfassungsstrukturen mittelalterlicher Universitäten .......... Kapitel 3 Der Eid an der mittelalterlichen Universität, Formen seines Gebrauchs, Funktionen einer Institution .... Kapitel 4 Bildungsstand und Freiheitsforderung (12.–14. Jahrhundert) .............................................................. Kapitel 5 Karrierechancen eines Theologiestudiums im Späteren Mittelalter .......................................................... Kapitel 6 Die Studenten unterwegs ........................................ Kapitel 7 Kirche und Universitäten, Zur wirtschaftlichen Fundierung der deutschen Hochschulen im Spätmittelalter ........................................................................ Kapitel 8 Die Welt der Professoren und Studenten an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit .............................. Kapitel 9 Die Kirche und die Universitäten im 13. Jahrhundert ............................................................................ Kapitel 10 Zur sozialen Situation der Naturphilosophie im späteren Mittelalter .......................................................... Kapitel 11 Die Verfahren gegen Abaelard und Gilbert von Poitiers ............................................................................ Kapitel 12 Papst, Ortsbischof und Universität in den Pariser Theologenprozessen des 13. Jahrhunderts .............. Kapitel 13 Gelehrte Ketzerei und kirchliche Disziplinierung, Die Verfahren gegen theologische Irrlehren im Zeitalter der scholastischen Wissenschaft ........ Kapitel 14 Die Anfänge der Universitäten Prag und Heidelberg in ihrem gegenseitigen Verhältnis ...................... Kapitel 15 Marsilius von Inghen als Rektor der Universität Heidelberg ............................................................
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1 13 39 63 97 133
157 175 207 253 275 313
361 407 429
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inhaltsverzeichnis
Kapitel 16 Die mittelalterlichen Universitäten und das gesprochene Wort .................................................................. 453 Bibliographische Nachweise der Erstpublikationen .................. 493 Register der Personen- und Ortsnamen sowie wichtiger Sachbetreffe ............................................................................ 495
VORWORT
Die Wissenschaft hat bei der Behandlung der Geschichte der mittelalterlichen Universitäten in den vergangenen vier Jahrzehnten, schon länger wirksame Tendenzen aufgreifend und verstärkend, jene in der älteren Forschung vorherrschende Frage nach den institutionellen Gemeinsamkeiten und den differentia specifica der jeweils eigenen alma mater sowie der Universitätslandschaften weithin verlassen, um sich auf die Suche nach der sozialen Realität des in diesen Verfassungsgehäusen gelebten Lebens zu machen. Nichts kann dies schlagender belegen als ein Blick in die beiden einschlägigen Standardwerke: 1936 erschienen ist die von Frederick Maurice Powicke und Alfred Brotherstone Emden überarbeitete und auf den damals maßgebenden Forschungsstand gebrachte dreibändige Darstellung der europäischen Universitätsgeschichte des Mittelalters von Hastings Rashdall. 1992 auf englisch und 1993 auch auf deutsch ist die von einer internationalen Forschergruppe unter der Leitung von Walther Rüegg erarbeitete „History of the University of Europe“ herausgekommen, deren erster, der Mittelalterband, von Hilde de Ridder-Symoens verantwortet worden ist. Das Rashdall’sche Buch lieferte nicht allein eine um Exaktheit deutlich und erfolgreich bemühte genaue zeitliche Fixierung der verschiedenen europäischen Hochschulen, sondern auch eine präzise Darstellung ihrer jeweiligen Verfassungsorgane und Institutionen. Es verfolgte deren Entwicklung durch die Zeiten, wobei die drei Bände geographisch gegliedert sind und sich der Reihe nach Universität für Universität vornehmen. So entstand ein Nachschlagewerk universalen Anspruchs, in dem jede Hochschule sich wiederfinden konnte. Dagegen gewährt das neue europäische Handbuch, das im Titel nicht umsonst den Singular „University/Universität“ gebraucht, einen Überblick über einen gewissermaßen einheitlichen Gegenstand, schildert fast einen Weberschen Idealtypus. Dabei ist das Buch so gegliedert, daß es in verschiedenen von jeweils unterschiedlichen Spezialisten verfaßten Großkapiteln geschlossen verschiedene Aspekte universitären Lebens vorstellt: „Themes and Patterns/Themen und Grundlagen“ (Gründungslegenden; Erwartungen der Umwelt; Erwartungen der Mitglieder; Reformen); „Stuctures/Strukturen“ (Verhältnis zu den Autoritäten in Kirche und Staat; Management und Finanzierung; Lehrkörper),
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„Students/Die Studenten“ (Immatrikulation, Studentisches Leben; Graduierung und Karrieren, Mobilität) und „Learning/Wissenschaft “ (nach den einzelnen Fakultäten aufgeteilt). Der hier nur grob wiederholte Aufriß kann zeigen, daß in diesem Buch vor allem exemplarisch individualisiert werden kann und soll. Viel stärker kommt es auf die Rahmenstrukturen an, auf das Gemeinsame, das allem Einzelnen in seiner Buntheit zugrunde liegt: die überraschende Gleichförmigkeit europäischer Universitätsentwicklung vom 12. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts kann damit verständlicher werden. Die in diesem Band erneut vorgelegten Arbeiten, die in den letzten drei Jahrzehnten zur europäischen Universitätsgeschichte veröffentlicht worden sind, wollen sich in diesen generellen Trend einfügen. Sie versuchen, das an den Hochschulen des Mittelalters gelebte Leben der Studenten und ihrer Lehrer sichtbar zu machen. Daß ein Totalgemälde des gesamten Panoramas nicht entrollt werden kann, versteht sich von selbst. Leben und Studieren an mittelalterlichen Universitäten wird hier gleichwohl in charakteristischen Aspekten und Ausschnitten zur Sprache kommen. Ist dies das Ziel, so konnte es nicht ohne Rücksicht auf die rechtlichen Rahmenbedingungen und die institutionellen Formen abgehen, in denen das damals gelebte Leben anschaulich, ja teilweise allein greifbar wird. Gleichwohl stehen und standen diese Formen nicht im Zentrum meines Interesses. Es sollte nicht um die Rechts- und Verfassungsgeschichte der europäischen Universität gehen, sondern um das Leben der Menschen, die sich an den Hohen Schulen damals aufgehalten haben, um ihr Verhalten, ihre Ziele und ihren jeweiligen Weg. Das versucht der hier gewählte Titel zu verdeutlichen: „Studieren“ wollten an den mittelalterlichen Hochschulen sowohl die Scholaren, als auch ihre Lehrer. Ich habe mich bemüht, die Aufsätze in einer von mir getroffenen Auswahl nach thematischen Gesichtspunkten zu ordnen und in einer sinnvollen Reihung, nicht in der chronologisch bedingten Folge ihrer ursprünglichen Publikation vorzulegen. Daß dabei die unvermeidlichen Zeugnisse ihrer Entstehungszeit, daß Hinweise auf ihren mündlichen Vortrag und insbesondere daß die jeweils auf den Zeitpunkt ihrer Erarbeitung bezogene Literaturauswahl nicht mehr geändert wurden, hat Gründe. Ich wollte die Arbeiten durchaus an ihrem „historischen Ort“ belassen. Es schien mir nicht angemessen, die eigenen Texte gleichsam als überzeitliche Wahrheiten zu kostümieren, indem ich sie von den Schlacken ihrer Entstehungssituation zu reini-
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gen versuchte und sie mit den seither erschienenen Studien zu jeweils verwandten Problemen fortlaufend konfrontierte. Das bedeutet freilich, daß ich auch spätere Forschungen zum selben Aspekt nicht anführe und also die Suche nach derartigen Titeln bewußt dem Leser überlasse. Die Kapitel dieses Buches präsentieren darum unverändert die ursprünglichen Aufsätze. Das erschien mir gerechtfertigt, da sie perspektivisch jeweils eigene Aspekte des universitären Lebens in den Blick nehmen. Wenn es vor allem darum gehen soll, Rahmenbedingungen des universitären Lebens vorzustellen, so muß doch zunächst einmal eine Universität überhaupt existieren. Die komplexen Voraussetzungen einer Universitätsgründung freilich, die bisweilen auch im weiteren Verlauf der Kapitel zur Sprache kommen, konnten nicht allesamt in voller Ausführlichkeit untersucht werden. Die – oft mißverstandenen – päpstlichen Universitätsgründungsprivilegien eröffnen die Reihe der Studien, denen dann eine Betrachtung der wichtigsten institutionellen Binnendifferenzierungen einer Universität, vorwiegend am Beispiel der Fakultäten und Nationen folgt. Eine weitere Untersuchung widmet sich dem Eid, der die Zugehörigkeit eines Universitätsbesuchers und eines Universitätsdozenten zu dem besonderen Rechtskreis einer „Freien Schule“ allererst begründete und zugleich mit der Immatrikulation die Verpflichtung des Universitätsverwandten auf dieses genossenschaftliche Recht festhielt. Zugleich kommen die anderen Eide in den Blick, mit denen die genossenschaftlich verfaßte universitas die Verpflichtung und die Disziplin ihrer Angehörigen sicherstellen wollte. Ein anderer Abschnitt nimmt dann die Freiheitsforderungen in den Blick, welche im Bildungsstand galten und von den Universitätsangehörigen beansprucht worden sind. Sodann werden weitere Rahmenbedingungen des Studierens vorgestellt. Jede Entscheidung für ein bestimmtes Studium war – damals wie heute – von Motiven und Hoffnungen, von Vorstellungen und Voraussetzungen abhängig, die nicht allein in der Verfügungsmacht der einzelnen Universitätsbesucher lagen: Die Chancen, die sich Universitätsangehörige ausrechneten, wie auch die spezifischen Risiken einer universitären Existenz, sollten darum beleuchtet werden. Hoffnungen und Chancen, die ein einzelner Student oder Gelehrter hegen oder sich ausrechnen mochte, lassen sich in aller Regel nicht unmittelbar in den Quellen ausgedrückt finden, der schließliche Lebenserfolg der Universitätsbesucher kann jedoch umgekehrt auch einigen Aufschluß über ihre realistischen Erwartungen geben. Daher ist hier von den
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Karrieren der Universitätsabgänger die Rede, von Karriereerwartungen und Karrieremustern, freilich nicht nach einer statistischen Auszählung einer Personengruppe. Allererst an einer wirtschaftlich stabilisierten Einrichtung war ein Studieren auf die Dauer überhaupt möglich. Nicht dem späteren Lebensweg und seinen ökonomischen Erfolgen, sondern den wirtschaftlichen Grundlagen der Hohen Schulen selbst sowie dem Wandel, dem diese im späteren Mittelalter unterworfen waren, gilt die Aufmerksamkeit, war das doch das Fundament jeglichen Lebens an den Universitäten. Ein wesentlicher Faktor der Außenwelt mittelalterlicher Universitäten war und blieb die Kirche. In Gestalt einer päpstlichen Gründungserlaubnis für ein „Generalstudium“ stand die Kirche bereits an der Wiege der meisten europäischen Hochschulen. Daneben jedoch verknüpften noch viele weitere Bande die Hohen Schulen mit der jeweiligen Landeskirche und mit der römischen Kurie als der Zentrale der Amtskirche. Die Kirche ermöglichte damals in verschiedener Hinsicht die Existenz der Universitäten, freilich suchte sie, da die Schulen nicht selber Teil der kirchlichen Verfassung waren, sich auch in ein bestimmtes Verhältnis zu ihnen zu setzen. Diese Bemühungen betrafen das universitäre Leben sowie die an den Hohen Schulen betriebenen Studien. Am Beispiel der ganz „unkirchlichen“ Bemühungen um ein Verständnis der Natur wird das zunächst verfolgt. Im Zentrum der amtskirchlichen Aufmerksamkeit stand aber nicht die mittelalterliche Naturphilosophie, auch die Medizin nicht oder die Rechtswissenschaften, wenngleich bisweilen auch hier mit Verboten gearbeitet worden ist. Es war vielmehr naheliegend, daß sich die kirchlichen Amtsträger ihrer eigensten Aufgabe entsprechend vor allem für die Entwicklung der theologischen Lehrinhalte der Scholastik interessierten und interessieren mußten. Damit jedoch wurden Kirche und ihre Amtsträger zu einer ernstlichen Bedrohung der so schwer errungenen genossenschaftlichen Autonomie und akademischen Freiheit der Universitäten. In der Anwendung ihrer eigenen Erfahrungen im Umgang mit Dissens und Abweichung lag es für die Kirche nahe, auf die jeweils entwickelten Instrumente der Häresieausgrenzung und Ketzerverfolgung zurückzugreifen. Das Ergebnis war, daß der Ketzereivorwurf gewissermaßen zum „Berufsrisiko“ eines mittelalterlichen Gelehrten werden konnte (Hartmut Boockmann). In den Versuchen der Amtskirche, welche die zunächst ungewohnte und neuartige Einrichtung der mittelalterlichen Wissensverwaltung und Wissensgewinnung unter ihre
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Kontrolle zu bringen versuchte, begegnen die Menschen an den Hohen Schulen einer Gefahr, die sie bis ins Mark ihrer Existenz bedrohen konnte. Diese Gefährdung ging über die allgemeinen Risiken des mittelalterlichen Lebens weit hinaus, an denen auch die Universitätsbesucher ihren selbstverständlichen Anteil hatten: von den Reisen über weite Entfernungen oder dem Leben im „Exil“ der Fremde konnten sie sich nicht allgemein dispensieren. Gegenüber dieser neuen Bedrohung mußten sie ein Verhältnis finden. Diesem Aspekt spätmittelalterlicher Universitätsgeschichte wird hier in mehreren Arbeiten zu jenen Rechtsverfahren nachgegangen, die von kirchlichen Amtsträgern gegen Universitätsangehörige angstrengt worden sind. Schon vor der eigentlichen und definitiven Entstehung der ersten Universitäten lassen sich die ersten Konflikte frühscholastischer Theologen mit Bischöfen und päpstlicher Kurie beobachten. Peter Abaelard, Bernhard von Clairvaux und Gilbert von Poitiers sind die Namen, die bereits im 12. Jahrhundert repräsentativ für ein weites Feld von Konflikten und Regulierungen, von gelungenen und gescheiterten Versuchen der Kanalisierung freier Entfaltung und wilden Wuchses stehen können. Mit der Entwicklung der Universitäten seit dem 13. Jahrhundert weitet sich der Kreis der Betroffenen, konkretisieren sich auch die üblichen Prozeduren, setzen sich die beteiligten Kräfte und Personengruppen zu einander in ein bewußtes und damit auch dauerhaft institutionelles Verhältnis, wie es an den sich herausbildenden Verfahrensformen ablesbar wird. Dieser Phase und der reifen Gestalt solcher „Lehrzuchtverfahren“ sind darum eigene Untersuchungsgänge gewidmet. Daß sich universitäres Leben und Studieren paradigmatisch in einer konkreten einzelnen Universität allein vollständig fassen läßt, das hat sich seit dem Mittelalter nicht eigentlich geändert. Wenn ich daher auch jener Universität einige Beachtung geschenkt habe, an der ich zwanzig Jahre lang, von 1983/84 bis 2003 tätig sein durfte, so soll das über den schuldigen Dank hinaus auch der Tatsache Rechnung tragen, daß Konkretion historischer Zustände für die Anschaulichkeit der Ergebnisse historischer Forschung unverzichtbar bleibt. Mit Heidelberg steht hier zugleich die älteste Universität Deutschlands in seiner gegenwärtigen Gestalt zur Diskussion, die somit spätmittelalterliche deutsche Zustände in besonderer Intensität spiegelt. Zwei Untersuchungsgänge gelten den Außenbeziehungen der Universität Heidelberg, ihrem Verhältnis zu der älteren Schwester Prag und den Leistungen, Absichten, und Lebensumständen des ersten
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Heidelberger Rektors und kurfürstlichen Gründungsbeauftragten, des Niederländers Marsilius von Inghen. Ein letzter Blick gilt dem vorwiegenden Medium universitärer Kommunikation im Mittelalter, dem gesprochenen Wort, das uns heute freilich allein noch in der schriftlichen Hinterlassenschaft der Universitäten greifbar ist. Diese paradoxe Voraussetzung darf uns nicht hindern, die Frage nach dem mündlichen Umgang der Universitätsbesucher zu stellen, wenngleich eine wirklich befriedigende Antwort nicht zu erwarten ist, die über die Analyse von Textsorten und literarischen Gattungen der schriftlichen Hinterlassenschaft der mittelalterlichen Universitäten hinaus für ein volles Verständnis auch des damaligen Studierens unerläßlich bleibt. Darum soll hier zum Abschluß nach den Kommunikationsformen gefragt werden, in denen an mittelalterlichen Universitäten ein Austausch von und über Vorstellungen, Gedanken, Theorien erfolgt ist. Wenn es weder allein um die äußeren Umstände vergangenen Lebens, um die toten Gehäuse abgelebter Wirklichkeit gehen soll, noch auch allein um die Ideen und Gedanken, die Menschen sich von der Welt und ihrer eigenen Wirklichkeit machten, sondern wenn gerade die Verbindung dieser beiden Stücke zur Debatte steht, wenn der Konnex zwischen der geschichtlichen Situation und der Vorstellungswelt der Menschen erhoben werden soll, die sich in ihrer Situation orientieren mußten, dann besteht zumindest die Chance, sich gleichsam der Weltinnenansicht vergangener Zeiten zu nähern, nicht in irrationaler Einfühlung, sondern in rationaler Rekonstruktion. Als Geisteswissenschaft sollte die Geschichte dieses Ziel anstreben. Ohne daß hier eine Debatte darüber geführt werden kann, wie das im einzelnen zu erreichen sein könnte, ist deutlich, daß zu einer Realisierung solch doppelter Fragerichtung eine Kenntnis der Formen des menschlichen Umgangs miteinander unerläßlich ist. Verbreitung und Rezeption von Ideen und Meinungen, traditionelle Vorstellungskomplexe, neu geformte Stichworte, die in die Diskussionen der Zeitgenossen hinein gesagt werden, all das trägt zu dem Meinungsklima bei, das nicht allein über die Stimmung, sondern auch über die Befindlichkeit der Zeitgenossen entscheidet. Kommunikation und Kommunikationsbedingungen der Vergangenheit gehören damit unmittelbar zu einer Vorstellungsgeschichte, die diesen Namen verdient. Die sechzehn Kapitel dieses Buches entlasse ich auch jetzt in dem Bewußtsein, daß ich vielen Menschen zu Dank verpflichtet bleibe, den akademischen Lehrern, die mich zuerst in die Geschichte einge-
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führt haben, Freunden und Kollegen, denen ich die Probleme zum Teil auf eine Einladung hin vortragen durfte und mit denen ich sie diskutieren konnte, Studenten, die mit mir im akademischen Unterricht in Berlin und Heidelberg die Quellen und die Literatur zum historischen Feld der mittelalterlichen Universitäten durchpflügten, Mitarbeitern und Helfern, die bei der technischen Realisierung der Publikationen mit Eifer geholfen haben, den verantwortlichen Hütern der Bibliotheken und Archive, die mir ihre Schätze bereitwillig öffneten, dem Verlag und seinen Mitarbeitern, die mich durch freundliche und zügig kompetente Zuvorkommenheit dankenswert unterstützt haben. Sie alle namentlich zu nennen, würde viele Zeilen füllen und bliebe gleichwohl im wesentlichen abstrakt und unanschaulich. Ich will es hier mit meinem aufrichtigem Dank bewenden lassen. Daß sich die mittelalterliche Universität nicht unerheblich von der Lebenswirklichkeit heutiger Hochschulen unterscheidet, versteht sich von selbst. Gleichwohl besteht in einer grundsätzlichen Voraussetzung eine starke Kontinuität. Auch im Mittelalter stellte das Leben an einer Universität immer wieder vor neue Entscheidungen und stellte Fragen, die nicht ausschließlich in der gedankenlosen Wiederholung des Trotts einer ehrwürdigen Tradition zu beantworten waren. Das soll mit den hier erneut vorgelegten Arbeiten sichtbar werden. Heidelberg, im März 2004
Jürgen Miethke
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KAPITEL 1
PÄPSTLICHE UNIVERSITÄTSGRÜNDUNGSPRIVILEGIEN UND DER BEGRIFF EINES STUDIUM GENERALE IM RÖMISCH-DEUTSCHEN REICH DES 14. JAHRHUNDERTS . . . AD LAUDEM DIVINI NOMINIS et fidei propugnationem orthodoxe auctoritate apostolica statuimus et etiam ordinamus, ut in dicta villa decetero sit studium generale ad instar Parisiensis illudque perpetuis temporibus inibi vigeat tam in theologia et iuris canonici quam alia qualibet licita facultate. Mit diesem Satz leitet das päpstliche Gründungsprivileg Papst Urbans VI. die rechtserheblichen Verfügungen ein, die die Universitätsgründung in Heidelberg ermöglichen sollten1. Heidelberg ist heute zwar die älteste Universität der Bundesrepublik Deutschland, als Universitätsgründungen im Römischen Reich nördlich der Alpen gingen ihr aber Prag (1347) und Wien (1365) voraus2. Außer dieser „Einrichtung“ eines „Generalstudiums“ setzt der Papst in seiner Rechtsverfügung weiter fest, daß die in Heidelberg Lehrenden und Lernenden „sich aller Vorrechte, Freiheiten und Privilegien erfreuen und diese brauchen sollen, welche den Magistern der Theologie und den Doktoren (des Kanonischen Rechts) sowie den Studierenden der Universität Paris verliehen worden sind“3. Schließlich folgen drittens noch ausführliche Bestimmungen über die Graduierungen an der neuen Einrichtung, die sich auch hier deutlich, aber diesmal unausgesprochen, nach dem Pariser Graduierungsprofil richten: Auch in der künftigen
1 Urkundenbuch der Universität Heidelberg, hg. v. E. Winkelmann, Bd. 1, Heidelberg 1886, S. 3 f. (Nr. 2); auch (nach Kollation mit dem im Universitätsarchiv verwahrten Original durch J. Miethke) in: Charters of Foundation and Early Documents of the Universities of the Coimbra-Group, hg. v. J. M. M. Hermans u. M. Nelissen, Groningen 1994, S. 99b–100b. Zusammenfassend zur Heidelberger Gründung vor allem E. Wolgast, Die Universität Heidelberg, 1386–1986, Berlin u.a. 1986, S. 1–23. 2 Vgl. dazu etwa J. Miethke, Ruprecht I., der Gründer der Universität Heidelberg, in: Die Sechshundertjahrfeier der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Eine Dokumentation, hg. v. E. Wolgast, Heidelberg 1987, S. 147–156, bes. 148–150. 3 A.a.O.: quodque legentes et studentes ibidem omnibus privilegiis, libertalibus et immunitatibus concessis magistris in magistris in theologia ac doctoribus legentibus et studentibus commorantibus in studio generali Parisiensi gaudeant et utantur.
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kapitel 1
Universität Heidelberg sollte es danach am Ende der Studien eine Graduierung durch die licentia docendi geben (was heute in etwa der „Habilitation“ entspräche, damals aber eine Vorstufe der Graduierung zum Magister oder Doktor war). Dieses Recht auf Verleihung der Lehrlizenz war mit dem Grad eines „Magisters“ (der Theologie und der Artes) beziehungsweise eines Doktors (des Kanonischen Rechts) also noch nicht identisch, denn die Verleihung dieser Titel wird der Neugründung eigens noch zugestanden, allerdings sollte der Grad 2 nur denjenigen erteilt werden, die | sich der examinatio ihrer Fakultät gestellt hatten. Diese licentia docendi soll (wie in Paris vom Kanzler des Bischofs) vom Dompropst von Worms verliehen werden4, der freilich hier nicht namentlich genannt wird, sondern nur gewissermaßen als Amtsperson auftaucht, und dessen Vertretung bei der Lizenzvergabe vom Papst umständlich auch für den Fall einer Vakanz des Amtes ausdrücklich geregelt wird. Schließlich wird im letzten Teil der Verfügungen zur Verleihung der licentia docendi festgehalten, daß die dergestalt geregelten Heidelberger Graduierungen wirklich ubique gelten sollten: Illi vero qui in eodem studio licentiam et honorem huiusmodi obtinuerint, ut est dictum, extunc absque examine et approbatione alia legendi et docendi tam in villa predicta quam in singulis aliis generalibus studiis, in quibus voluerint legere et docere, statutis et consuetudinibus contrariis apostolica vel quacumque firmitate alia roboratis nequaquam obstantibus, plenam et liberam habeant facultatem5. Dies ist schon der gesamte als rechtsverbindlich gedachte Inhalt dieses Privilegs. Die Universität war damit, wie man sieht, noch keineswegs „gegründet“. Dazu bedurfte es, wie wir es bei Heidelberg zufällig genau wissen, noch eines eigenen Beschlusses der Pfalzgrafen, denen das päpstliche Privileg durch einen „Auditor“ (das heißt einen Richter) der Kurie Papst Urbans VI. namens Petrus de Coppa6 ein 4 Bekanntlich war Amtsträger damals Konrad von Geinhausen († 1390); zusammenfassend zu ihm vgl. K. Colberg, in: Lex MA 5 (1991) 1358. Seine (recht erhebliche) Hinterlassenschaft an sermones hat identifiziert und behandelt D. Walz, Konrad von Gelnhausen, Dompropst von Worms und erster Kanzler der Universität Heidelberg (ca. 1320–1390), Neuentdeckte Autographe und Predigten, Phil. Habil.-Schrift Heidelberg 1996 [masch., Druck in Vorbereitung]. 5 Muß betont werden, daß solche Bestimmung auch in Heidelberg eher theoretischen als praktischen Wert hatte? Sie unterstrich die Gleichberechtigung mit allen anderen Universitäten, ohne doch die feierliche receptio eines Heidelberger Magisters durch eine fremde Fakultät überflüssig zu machen, die der heutigen „Umhabilitation“ entspricht. 6 F. Rexroth, Deutsche Universitätsstiftungen von Prag bis Köln (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, 34) Köln/Weimar/Wien 1992, S. 174 mit Anm. 6,
päpstliche universitätsgründungsprivilegien
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halbes Jahr später eigens überbracht worden war. Am 24. Juni 1386 war das Pergament am pfälzischen Hof eingetroffen. Am übernächsten Tag bereits, am 26. Juni 1386, wurde bei Hofe in einer offenbar eilig einberufenen Sitzung in Anwesenheit der drei Kurfürsten und des gesamten Rates aller drei Pfalzgrafen auf Schloß Wersau (bei Mannheim, heute nicht mehr existierend) der Beschluß gefaßt, die Universität Heidelberg jetzt wirklich zu gründen7. Das stand also zuvor noch keineswegs fest, auch wenn die Ausfertigung der päpstlichen Bulle nach Ausweis der Kanzleivermerke auf dem noch heute vorhandenen Pergament eine nicht gerade niedrige Schreibertaxe von nicht weniger als 100 Groschen von Tours gekostet hatte8 und gewiß in Genua | auch die Trinkgelder, die üblichen Handsalben und 3 Türöffner für die kurialen Bediensteten einen weiteren sicherlich erklecklichen Betrag ausgemacht haben müssen. Berichtet hat über die zeitliche Folge der Ereignisse später der Beauftragte des Pfalzgrafen, der für alle mit der Universitätsgründung zusammenhängenden Fragen verantwortlich war und später der erste Rektor der Universität werden sollte, Marsilius von Inghen9, der dementsprechend auch drei Tage nach diesem Beschluß, am 29. Juni 1386, in den pfalzgräflichen Rat „eingeschworen“ und mit entsprechenden Einkünften versehen
und S. 189, hat aus einem Kopialbuch (GLA Karlsruhe, Abt. 67 Nr. 807) den Namen des kurialen Auditors ermittelt. 7 Acta Universitatis Heidelbergensis, Bd. l, hg. v. J. Miethke, bearb. v. H. Weisert, H. Lutzmann u.a., Heidelberg 1986–1999, S. 146–148 (Nr. 72), hier Zl. 21–24. 8 Rexroth, Universitätsstiftungen (wie Anm. 6), etwa S. 187. Vgl. auch Charters of Foundation (wie Anm. 1), S. 100b, die Notizen auf der inneren Plica, links: C<entum> com. Der Betrag wird in grossi Turonenses („Groschen“), nicht in livres Tournois („Pfund“) vermerkt (wie Rexroth durchgängig irrig liest), vgl. Th. Frenz, Papsturkunden des Mittelalters und der Neuzeit, Stuttgart 1986, S. 76. Demnach belief sich die Bullentaxe auf 5, nicht 100 Pfund; das war aber immer noch doppelt soviel, wie die 50 Groschen, die Rudolf IV. für das Wiener Universitätsprivileg (1364) hatte zahlen müssen! 9 Rexroth, Universitätsstiftungen (wie Anm. 6), S. 195, weist zu Recht darauf hin, daß Marsilius dabei dem Rat nicht aller drei Kurfürsten, sondern in besonders enger Weise dem ( jedenfalls verbal unterschiedenen) Rat Ruprechts I. zugeordnet worden ist. Zu Marsilius und seiner Tätigkeit ebenda, S. 189 ff., vgl. auch J. Miethke, Marsilius von Inghen als Rektor der Universität Heidelberg, in: Marsilius of Inghen, Acts of the International Marsilius von Inghen Symposium, hg. v. H. A. G. Braakhuis u. M. J. M. Hoenen (Artistarium, Supplementa 7), Nijmegen 1992, S. 13–37 (zuvor in: Ruperto Carola 76, 1987, 110–120). Zum „Rat“ als Hofinstitution und zu dem Titel eines consiliarius in der Kurpfalz vgl. bes. P. Moraw, Beamtentum und Rat König Ruprechts, in: ZGO 116 (1968), S. 59–126; allgemein zusammenfassend D. Willoweit, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, hg. v. K. G. A. Jeserich, H. Pohl, G.-Chr. von Unruh, Bd. 1, Stuttgart 1983, S. 109–112.
kapitel 1
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wurde10. Anscheinend hatte er an der Sitzung, die über die Universitätsgründung zu entscheiden hatte, teilgenommen und berichtet somit aus eigener Anschauung, wenn er auch leider keinerlei Aussagen über die Motive macht, die damals in der Diskussion und für den Kurfürsten den Ausschlag zugunsten der Universitätsgründung gegeben haben. Die päpstliche Urkunde, die sozusagen grünes Licht für den Gründungsplan gegeben hatte, war unter schwierigen Umständen in Genua an der Kurie impetriert worden11. Der Heidelberger Plan beschäftigte gewiß Papst Urban VI. nicht vordinglich, der vielmehr damals mit seinem erbitterten Konflikt mit seinem Kardinalskollegium vollauf zu tun hatte. Urban VI. hat in etwa derselben Zeit, als er in Genua die Heidelberger Urkunde durch seine Signatur eine Supplik des Pfalzgrafen (die nicht erhalten blieb12) genehmigte, sein gerade 1384 erst erneut von ihm kreiertes Kardinalskolleg voller Mißtrauen verfolgt, die Kardinäle ins Gefängnis werfen, foltern, ja teilweise hinrichten lassen – eine schaurige Begleitmusik zur Heidelberger Gründungserlaubnis. Die von der päpstlichen Kanzlei ausgefertigte Urkunde war dann freilich Routinesache: Ein Textvergleich mit der Bulle, die sich der 1346 zum rex Roma-norum gewählte Karl IV. 1347 in Avignon von Papst Clemens VI. vor der Gründung des Prager Studiums 4 geholt hatte13, und auch mit den Gründungs-privilegien, welche | sich der polnische König Kasimir der Große 1364 für seine geplante Universität Krakau oder die Habsburger Herzöge Rudolf IV. (1365) und Albrecht III. (1384) für ihre jeweiligen Wiener Pläne besorgt hatten14, zeigt, daß diese Texte gerade in den dispositiven Teilen fast wörtlich mit der Heidelberger Urkunde identisch sind. Das könnte einen Hinweis darauf geben, daß jene Flucht der Kardinäle, die 10
Urkundenbuch (wie Anm. 1), S. 4 f. (Nr. 3). Vgl. A. Esch, Zeitalter und Menschenalter, München 1994, S. 159 f. 12 Bezeugt wiederum im Bericht des Marsilius von Inghen, in: Acta (wie Anm. 7) S. 147 (Nr. 72), Zl. 15–18. 13 (26. 1. 1347): Monumenta Historica Universitatis Pragensis, Bd. II.2: Codex diplomaticus, Prag o.J., 219 f. Zur Vorgeschichte des für die Prager Urkunde benutzten Formulars vgl. Rexroth, Universitätsgründungen (wie Anm. 6), S. 60–66, der die Formularzusammenhänge bis 1289 (Gründungsprivileg für Lissabon) zurück verfolgt hat. (S. 64–66 auch ein durch diakritische Zeichen erschlossener Text der päpstlichen Bulle für Prag). 14 Krakau (1364): University Cracow, Documents Concerning its Origins, hg. v. L. Koczy, Dundee 1966, S. 42 f. (Nr. 5). Wien (1365): R. Kink, Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien, Wien 1854 [Neudruck Frankfurt a.M. 1969], Bd. 2, Nr. 3 (S. 26–28); Wien (1384): ebd., Nr. 8 (S. 47 f.). 11
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zusammen mit fast der gesamten Kurie 1378 zu Beginn des Großen Schismas Urban VI. verlassen hatten, um sich zu Clemens VII. zu begeben, keineswegs sämtliche Kanzleibehelfe dem späteren „avignonesischen Papst“ zugespielt hatte, so schmerzlich der Verlust gerade der Finanzunterlagen auch für die „römische Oboedienz“ bleiben mochte15, wenn nicht die andere Vermutung bei der Erklärung dieser text-lichen Übereinstimmung den Vorzug verdient, daß nämlich der österreichische Supplikant Albrecht III. den Urkundentext der Prager Gründung durch den verwandtschaftlich mit ihm verbundenen Luxemburger Karl IV. von 1447 etwa vorsorglich an die Kurie mitgeschickt haben sollte, so daß die päpstliche Kanzlei sich fortan daran orientieren konnte16. Wie immer sich das verhalten haben mag, wie ein päpstliches Gründungsprivileg aussehen mußte und was es rechtlich bestimmen konnte, das wußte man jedenfalls auch noch in der durch Italien wandernden Kurie Urbans VI. im Genua des Jahres 1385. Die päpstliche Kanzlei hat dann noch Jahrzehnte hindurch das nämliche Urkundenformular auch etwa für Köln (1388), Erfurt (1389), Würzburg (1409), Leipzig (1409), Rostock (1419), Löwen (1425), Basel (1459), Tübingen (1476) benutzt und mit wenigen Varianten17 den gleichsam gestanzten Text immer wieder verwen5 det, also weit über das Ende der Schismazeit hinaus. | Welche rechtliche Bedeutung hatte die päpstliche Gründungsbulle? Ohne Zweifel wurde damit nicht die Gründung selbst vollzogen. Das
15 J. Favier, Les finances pontificales à l’époque du grand schisme d’Occident, 1378–1409 (Bibliothèque de l’Ecole Française d’Athènes et de Rome, 211), Paris 1966, S. 136 f. 16 Diese dramatisierende Erklärung kann freilich nicht leicht plausibel machen, daß die Kurie Papst Clemens’ VII. sich bei der Privilegierung des Erfurter Gründungswunsches in dem Privileg vom 18. September 1379 eines sehr ähnlichen Formulars bediente: Acten der Erfurter Universität, bearb. v. J. C. H. Weissenborn, Bd. l (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete, 8.1), Halle 1881, S. 1–3 (Nr. I.1). 17 So ist etwa in Heidelberg die Betonung des Pariser Vorbilds (wie oben bei Anm. 1) etwas Besonderes. Sie geht wohl auf die Initiative des Pariser Magisters Marsilius von Inghen zurück. Später wird es dann oft nur heißen, die der Neugründung Angehörenden sollten sich aller Vorrechte derer erfreuen, die „an anderen studia generalia weilen“ (omnibus privilegiis, libertatibus et immunitatibus concessis docentibus et studentibus in eisdem facultatibus in aliis studiis generalibus ac commorantibus quibuscumque gaudeant et utantur, so heißt es – leicht verwirrt – etwa im Privileg Urbans VI. für Erfurt 1389). Die Urkunde für Kulm (wie folgende Anm., d.h. fast gleichzeitig mit der Heidelberger Urkunde) wird demgegenüber das Vorbild Bolognas monopolisieren. Später (z.B. 1459 für Basel) wird der Papst auch die Kompetenz der künftigen Universität zum Erlaß eigener Statuten bestätigen.
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kann man im Heidelberger Fall allein schon an dem auch nach dem Eintreffen der päpstlichen Bulle immer noch nötigen (oder doch vom pfalzgräflichen Hof für nötig gehaltenen) Entschluß des pfalzgräflichen Rates auf Schloß Wersau ersehen, nun mit der Gründung einer Universität auch wirklich Ernst zu machen. Das wird auch andernorts klar, wenn wir die päpstlichen Privilegierungen für später nicht ins Leben getretene Gründungen berücksichtigen. Am 9. Februar 1386, nur ein gutes Vierteljahr nach der Signatur der Supplik des Pfalzgrafen, ist eine mit der Heidelberger Urkunde „nahezu textidentische“ Bulle Urbans VI. datiert, in der der Papst ein „Generalstudium“ in Kulm im Deutschordensland anerkennt18. Doch eine Universität ist in Kulm niemals entstanden19. Schon 1295 hatte Bonifaz VIII. für Pamiers ein fernerhin fruchtloses Gründungsprivileg erteilt20. Auch später, im 15. Jahrhundert noch, wird es solche im Ansatz bereits gescheiterten Gründungsversuche geben, bei denen ein 2 päpstliches Privileg vor allem die ursprüngliche Ernsthaftigkeit der Absichten bezeugt, so etwa in Pforzheim (1459), Mainz (1469), Lüneburg (1479) und in Regensburg (1487)21. Auch die Gründung einer Universität in Nantes22 ist durch Privilegien von nicht weniger als drei Päpsten vorbereitet worden (1414, 1423, 1449), bevor die Hochschule dann 1461 wirklich ins Leben trat. Man wird kaum davon sprechen können, daß diese lange Frist in der ursprünglichen Absicht des Herzogs der Bretagne, des Impetranten der Papsturkunden, gelegen haben könnte. In Barcelona ist trotz mancher Versuche zwischen 1377 und 1450 eine Universitätsgründung nicht etwa an dem Fehlen eines päpstlichen Gründungsprivilegs gescheitert23, ihre Univer18
Urkundenbuch des Bistums Culm, hg. v. C. P. Woelky (Neues Preussisches Urkundenbuch, West-preussischer Theil, Abth. II,1.1) Danzig 1884–1887, S. 289 f. (Nr. 369). 19 Vgl. zusammenfassend Rexroth, Universitätsstiftungen (wie Anm. 6), S. 147–172. 20 (18. Dez. 1295): Les Registres de Boniface VIII, hg. v. G. Digard, M. Faucon u. A. Thomas, Bd. 1, Paris 1884, Nr. 658 (S. 227a); gedruckt in: Les statuts et privilèges des universités Françaises depuis leur fondation jusqu’en 1789, hg. v. M. Fournier, Bd. 2, Paris 1891, S. 743. Vgl. H. Denifle, Die Entstehung der Universitäten des Mittelalters bis 1400, Berlin 1885 [Neudruck Graz 1956], S. 638f. 21 Vgl. die Einzelnachweise bei J. Miethke, Die mittelalterliche Universität und die Gesellschaft, in: Erfurt, Geschichte und Gegenwart, hg. v. U. Weiss (Schriften des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt, 2), Weimar 1995, S. 169–188, hier S. 174. 22 H. Diener, Zur Geschichte der Universitätsgründungen in Alt-Ofen (1395) und Nantes (1423), in: QFIAB 42/43 (1963), S. 265–285. 23 C. Carriere, Refus d’une création universitaire et niveaux de culture de Barcelone, Hypothèse d’explication, in: Moyen Âge 85 (1979), S. 245–273.
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sität erhielt die Stadt dann tatsächlich jedoch erst ein Jahrhundert später im Jahre 1533. Man konnte sich offensichtlich die für | ein 6 kuriales Privileg nötigen Auslagen24 eben leisten, auch wenn dann schließlich die übrigen Kosten oder andere Umstände insgesamt einer Realisierung am Ort doch auf die Dauer oder zunächst noch im Wege standen. Wenn aber das päpstliche Privileg keine Gründungsurkunde war, was hatte es sonst zu bewirken? Schließlich hat sich seit der Mitte des 13. Jahrhunderts bis weit in die Neuzeit hinein fast jeder Gründungsversuch einer „Universität“ mit einer solchen päpstlichen Urkunde ausgestattet. Es gehörte gewissermaßen zum guten Ton, eine päpstliche Privilegierung vorweisen zu können25. Der Inhalt der Privilegien selbst muß uns eine Antwort auf die Frage geben, warum diese Urkunden so fleißig nachgesucht wurden. Es geht ersichtlich um den Charakter eines studium generale26, einer, wie zu übersetzen ist, allgemein anerkannten Einrichtung, deren Anerkennung sich darin ausdrückte, daß man an ihr „schließlich die licentia ubique docendi “ erwerben konnte27. Stets wird als erster und
24 Vgl. oben Anm. 8. Etwas genauer sind die Kosten für die Gründung Basels bekannt, vgl. E. Bonjour, Die Universität Basel von den Anfängen bis zur Gegenwart, 1460–1960, Basel 1960, S. 21–38; J. Rosen, Die Universität Basel im Staatshaushalt 1460–1530, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 72 (1972), S. 137–219. 25 Nur wenige Universitätsgründungen in Italien, die aber ausschließlich JuristenUniversitäten betrafen, gaben sich – nach dem Vorbild Bolognas und seines angeblichen Privilegs des Kaisers Theodosius II. (dazu vor allem G. Fasoli/G. B. Pighi, Il privilegio teodosiano, in: Studi e memorie per la storia dell’Università di Bologna, n.s. 2, 1961, S. 55–94; vgl. A. Borst, Barbaren, Ketzer und Artisten, Welten des Mittelalters, München/Zürich 1988, S. 187 ff.) – mit einem kaiserlichen Privileg zufrieden, vgl. dazu M. Meyhöfer, Die kaiserlichen Stiftungsprivilegien für Universitäten, in: Archiv für Urkundenforschung 4 (1912) S. 291–418. Erst die protestantischen Gründungen des 16. Jahrhunderts holten sich dann auch in Deutschland ersatzweise für die päpstliche Privilegierung kaiserliche Privilegien (des katholischen Monarchen), wie etwa Marburg (erst 1540, 13 Jahre nach der Begründung 1527), Jena (1557; nach der Gründung einer „Akademie“ 1548) oder Helmstedt (1575). Das katholische Würzburg dagegen machte es gewissermaßen doppelt und besorgte sich Privilegien von Papst Gregor XIII. (28.3.1575) und von Kaiser Maximilian II. (datiert nur sechs Wochen später unter dem 11.5.1575). 26 Zusammenfassend zur Forschungsdiskussion über diesen Begriff für die Frühzeit der Universitäten seit dem 19. Jh. O. Weijers, Terminologie des universités au XIIIe siecle (Lessico intellettuale Europeo, 39) Rom 1987, S. 34–45. 27 So definierte P. Classen, Studium und Gesellschaft im Mittelalter, hg. v. J. Fried (Schriften der MGH, 29) Hannover 1983, S. 1 f. mit Anm. 2 (den Weijers nicht berücksichtigt hat). Vgl. auch die brillante Zusammenfassung von E. Meuthen, Die Alte Universität (Kölner Universitätsgeschichte, 1), Köln 1988, S. 10 f.
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wichtigster Punkt in der Reihe der päpstlichen Dispositionen festgehalten, daß die geplante Gründung solch ein studium generale auch wirklich sein sollte und als solches vom Papst auch anerkannt werde. Der zweite Punkt leitet sich aus diesem ersten gewissermaßen nur ab: Die Privilegien der einer solchen Hochschule als Lehrende oder Lernende Angehörigen ergeben sich aus dieser ersten Anerkennung sozusagen von selbst und werden hier auch ausdrücklich zuerkannt28, 7 freilich übergeht | der päpstliche Aussteller großzügig sowohl eine auch nur annähernde Aufzählung der solcherart zugesicherten Vorrechte, als er sich auch davor hütet, seine Kompetenz zur Verleihung derartiger Rechte irgendwie zu belegen. Die Urkunde verbleibt vielmehr in dem damals in päpstlichen Urkunden seit langem schon gebräuchlichen Rahmen der vollmundigen Rechtsbestätigung, unangesehen der Frage der Herkunft der bestätigten Rechte. Das zu gründende studium generale sollte also, das wird hiermit ganz deutlich, eine Einrichtung sein, die sich mit den etablierten Hochschulen vergleichen ließ, es sollte sich nach dem mehr oder minder deutlich benannten Vorbild eines bereits existierenden Musters richten, dieses Muster mit päpstlicher Billigung abbilden und somit auch über die nötigen Freiheiten und Vorrechte für seine Angehörigen verfügen. Freilich, trotz der allgemeinen Formulierung umfaßte diese Rechtsverleihung offenbar keineswegs sämtliche Sonderrechte, auch nicht sämtliche wichtigen Sonderrechte, die die Angehörigen der bereits existierenden Hochschulen besaßen. So hat es der Papst nicht versäumt, den neuen Gründungen das sogenannte „Residenzprivileg“, das heißt eine ausdrückliche, kirchenrechtlich bindende Erlaubnis für die Klerikerstudenten, ihre Einkünfte aus ihren Pfründen zu Hause auch ohne eigene Anwesenheit am Orte für eine längere Frist (in 28 Man kann fragen, ob das 1224 von Kaiser Friedrich II. in Neapel gegründete Studium (das keine päpstliche Privilegierung erhielt, aber von einem Kaiser begründet worden war – vgl. die Gründungsurkunde, am besten gedruckt bei Richard von San Germano, Chronica, hg. v. C. A. Garufi, in: Rerum Italicarum Scriptores VII/2, Bologna 1938, S. 113–116[a] – wirklich eine „Universität“ im Vollsinne des mittelalterlichen Verständnisses war, so etwa O. G. Oexle, Alteuropäische Voraussetzungen des Bildungsbürgertums – Universitäten, Gelehrte und Studierte, in: Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, hg. v. W. Conze und J. Kocka (Industrielle Welt, 38), Stuttgart 1985, S. 29–79, bes. S. 31 f., 49. Dagegen aber bereits Classen, Studium und Gesellschaft (wie vorige Anm.), S. 194 mit Anm. 88. Allgemein zu Neapel jetzt M. Bellomo, Federico II, lo „studium“ a Napoli e il diritto comune nel „regnum“, in: Rivista internazionale di diritto comune 2 (1991), S. 135–151. Zusammenfassend: J. Verger in: LexMA VI (1993) 1075f. Unter Karl von Anjou bereits erhielt dann die Universität das übliche päpstliche Privileg (1266).
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der Regel für fünf bis zehn Jahre) während ihres Aufenthalts am päpstlich anerkannten Studienort gleichwohl entgegen allen kirchenrechtlichen Festsetzungen (die naturgemäß immer die Anwesenheit des Pfründeninhabers am Ort seiner kirchlichen Pflichten durchzusetzen bestrebt waren29) in Anspruch nehmen zu dürfen, immer eigens und gesondert zu erteilen und sich natürlich dieses Privileg auch bezahlen zu lassen30. Gar nicht zu reden ist hier von jenen | Rechten, 8 die der Papst gar nicht verleihen konnte, etwa besonderen Zollbefreiungen, verbilligten oder taxierten Mietsätzen und dergleichen, die er freilich mit seinem Privileg bei den dafür Zuständigen (die häufig mit den gründungswilligen Impetranten identisch waren) sozusagen einforderte. Auch der dritte Punkt der päpstlichen Privilegien, die (Selbst-) Ergänzung des Personalbestandes durch eine allgemein geltende Graduierung der Studenten, gehört noch zu den Minimalbedingungen der Existenz eines studium generale, das den allgemeinen Erwartungen entsprechen wollte und das deshalb auch von allen anerkannt werden konnte, sollte und wurde, weil das ja gerade das Ziel des Besuches dieser Einrichtungen war. Hier freilich war die päpstliche Verleihung in der Tat eine hochwillkommene Erwerbung, sicherte sie der neuen Gründung doch vorweg und formell die allgemeine Anerkennung, die sich die älteren europäischen Universitäten mühsam in jahrzehntelanger gleichsam osmotischer Wirkungsdurchsetzung hatten international erringen müssen31.
29 Dazu vgl. nur z.B. H. E. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, Bd. 1: Die katholische Kirche (hier zitiert nach der dritten Aufl., Weimar 1955), S. 349. 30 Für Heidelberg etwa wurde es von Urban VI. in Lucca am 2. August 1387, also mehr als anderthalb Jahre nach dem Gründungsprivileg, gesondert erteilt: Acta (wie Anm. 7), S. 107 f. und 109 f. (Nr. 54 und 55). Für beide Urkunden waren natürlich auch wieder die Taxen fällig (nach Urkundenbuch, wie Anm. l, S. 45, Nachbemerkung zu Nr. 24 – das Original ist seit 1945 verschollen. Das erste Privileg ist, wie schon das Urkundenbuch feststellte, „fast wörtlich“ identisch mit der entsprechenden Urkunde für Wien von 1365, Kink, Geschichte, wie Anm. 14, Bd. 2, Nr. 4, S. 29–32). Zur Frühgeschichte des Residenzprivilegs vgl. P. Kibre, Scholarly Privileges in the Middle Ages (Medieval Academy of America Publications, 72), London 1961, ad indicem (s.v. Benefices, S. 426b); für die deutschen Universitäten bes. K. Wriedt, Kurie, Konzil und Landeskirche als Problem der deutschen Universitäten im Spätmittelalter, in: Kyrkohistorisk Åsskrift 77 (1977), S. 203–207, hier S. 205f. 31 Weder Paris, noch Bologna oder Oxford hatten von Anfang an ein solches päpstliches Privileg erhalten, wenn sie sich dann später auch darum bemühen mochten.
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Es geht also bei den päpstlichen Universitätsgründungsprivilegien weniger um die Verleihung eines Rechts, denn die betroffene Einrichtung war ja noch gar nicht existent, sollte erst errichtet werden, war deutlich auf Zukunft gestellt, wie es in den narrationes der Urkunde auch klar mitgeteilt wird. Vielmehr sollte die künftige Bildungseinrichtung als vom Papste anerkannt sozusagen vorweg allgemeine Akzeptanz finden. Es ging demnach um die programmatische Anerkennung einer noch ins Leben zurufenden Einrichtung als in ein vorgegebenes Muster passend, als gleichberechtigt mit schon bestehenden erfolgreichen anderen Einrichtungen der gleichen Art. Der Papst verlieh in seinem Privileg der geplanten Gründung sofort die rechtliche Gleichrangigkeit mit den bestehenden Universitäten Europas. Darum konnte er auch in seinen Urkunden so blumig über Zweck und Sinn von Universitäten, über den Vorteil ihrer Vermehrung und über den Gewinn für die Gesellschaft raisonnieren, den ihre Einrichtung abwerfen würde32. Immerhin geschah dies alles eben durch die Erteilung eines Privilegs und damit in Form einer Rechtsverleihung33. Die ältesten Universitäten sind bekanntlich ohne solche Vorwegprivilegierung ausgekommen. 9 Die spätmittelal | terlichen Juristen unterschieden die Universitäten danach, ob sie ex consuetudine oder ob sie ex privilegio entstanden waren34. Doch hat diese Unterscheidung diese Beobachter keineswegs zu irgendeiner Abwertung der einen oder der anderen Art von Hochschulen veranlaßt. Noch Heinrich Denifle hat im ersten Band seiner groß geplanten europäischen Universitätsgeschichte seine Gliederung ganz nach diesem Schema vorgenommen35, wenn er auf die „Hochschulen
32 Vgl. dazu etwa – am Beispiel Erfurts – J. Miethke, Universität in der Gesellschaft (wie Anm. 17). 33 H. Krause definiert in: HRG 3 (1984) Sp. 1999–2005, hier 1999: „Man kann das Privileg in seiner ursprünglichen Gestalt in Deutschland als einen begünstigenden Herrschaftsakt für einen Einzelempfänger bezeichnen.“ Bezeichnenderweise ließ aber der Dekan der Juristenfakultät Johannes von Noet und vielleicht bereits Marsilius von Inghen das Gründungsprivileg Urbans VI. für Heidelberg nicht in sein jeweiliges Amtsbuch aufnehmen, vgl. Acta (wie Anm. 7), vgl. dort bes. die Aufstellungen von M. Nuding, S. 605f. 34 Vgl. dazu etwa G. Ermini, Concetto di „studium generale“, in: Archivio giuridico „Filippo Serafini“ 127 [ser. V.7] (1942) 3–24; auch W. Ullmann, The Medieval Interpretation of Frederick I’s Authentic „Habita“ [11954], jetzt in: Ders., Scholarship and Politics in the Middle Ages (Collected Studies Series, CS 72), London 1978, nr. xi. 35 Denifle, Entstehung der Universitäten (wie Anm. 20), etwa S. 220, oder das Inhaltsverzeichnis, S. XXXI–XLV.
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ohne Errichtungsbriefe“ dann die „Hochschulen mit nur päpstlichen Errichtungsbriefen“ und dann die „Hochschulen mit [außer päpstlichen auch] kaiserlichen oder landesherrlichen Gründungsurkunden“ folgen läßt. Die Einteilung mag als Festlegung einer Reihenfolge in der Behandlung von Universitätsgründungen brauchbar sein, eine Differenzierung der Hochschulen kann sie schon allein deshalb nicht begründen, weil die Privilegien ja gerade die Identität der künftig zu gründenden Einrichtung in ihrer Außenwirkung mit den bestehenden Einrichtungen als Rechtsverleihung bewerkstelligen wollten. Die päpstlichen Gründungsprivilegien sind demnach gewissermaßen autoritative Identifikationen, die der künftigen Einrichtung ihre grundsätzliche Eignung für den erstrebten Zweck zuerkannten. Aus dieser Sachlage ergibt sich einmal, daß sie selbst keineswegs beanspruchen, die künftige Einrichtung selber ins Leben zu rufen, so wichtig diese päpstliche Anerkennung auch real für die neue Hochschule werden mochte, auch und gerade hinsichtlich der Attraktivität auf künftige Studenten, und damit für fundamentale materielle Interessen der neuen Einrichtung. Zum anderen ergibt sich auch eine gewisse präformative Einschränkung von Neuerungen, die der eigentliche Universitätsgründer beabsichtigen mochte: er durfte sich niemals so weit von dem Grundmuster eines „herkömmlichen“ studium generale mit seinen Gründungsabsichten und seinem „Stifterwillen“36 entfernen, daß er es hätte riskieren müssen, die päpstliche Anerkennung eben nicht erteilt zu erhalten, so daß die neue | Gründung als „Uni- 10 versität“ im Kreis der bestehenden Universitäten keine sichere Anerkennung finden würde37. Die Gründung der Universität Neapel mit 36
Michael Borgolte und seine Schüler haben in der letzten Zeit mehrfach versucht, aus dem „Stifterwillen“, etwa dem des die Universität begründenden Landesherrn, spezifische Rahmenbedingungen der Gestaltung konkreter Universitäten abzuleiten und abzulesen. Vgl. etwa Rexroth, Universitätsstiftungen (wie Anm. 6), oder W. E. Wagner, Universitätsstift und Kollegium in Prag, Wien und Heidelberg, Eine vergleichende Untersuchung spätmittelalterlicher Stiftungen im Spannungsfeld von Herrschaft und Genossenschaft (Europa im Mittelalter, 2) Berlin 1999; vgl. auch die Arbeiten von M. Borgolte, aufgeführt etwa in: Stiftungen und Stiftungswirklichkeiten, Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hg. v. M. Borgolte (Stiftungsgeschichten, 1), Berlin 2000, S. 323 f. Ich halte diese Versuche für eher irreführend, zumindest für nicht weiterführend, da sie mit einem unklaren Stiftungsbegriff die Absichten der Universitätsgründer nicht klären, sondern eher verdunkeln. Vgl. dazu auch etwa J. Miethke, in: Mittellateinisches Jahrbuch 30/2 (1995) 164–166; D. Willoweit, in: ZRG germ. 113 (1196) 562 f. Ich gedenke darauf anderwärts ausführlicher zurückzukommen. 37 Einen Versuch, die Situation von Schulen ohne päpstliches Privileg systematisch durch eine Unterscheidung zu fassen, machte Konrad von Megenberg um
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ihren (in der Zukunft nicht anschlußfähigen) Sonderformen38 war eben nur durch den Idealkonkurrenten des Papstes, den Kaiser möglich. Damit wird auch die Funktion (nicht die Absicht) solcher päpstlichen Gründungsprivilegien deutlich. Sie konnten das Modell der mittelalterlichen Universtät bei seiner Proliferation gewissermaßen schützen und vor allzu starker Abwandlung bewahren39. Das mag eine fortschrittsoptimistische Bewertung enttäuschen, es macht aber erneut deutlich, daß auch im Mittelalter neue Formen auf die Dauer nur dann Erfolg verbuchen konnten, wenn sie sich allgemein durchsetzen konnten. Doch das wäre thematisch nur in einem weiteren Untersuchungsgang beträchtlichen Umfangs zu verfolgen.
1350 in seiner Yconomica, III.1.3, hg. v. S. Krüger, Bd. 3 (MGH, Staatsschriften, 3.3), Stuttgart 1984, S. 23, der von der scola autentica (der päpstlich oder kaiserlich privilegierten Universität; ausdrücklich aufezählt werden: Paris, Bologna, Padua, Oxford) eine scola levinoma unterscheidet (sicut in Teutonia scole sunt Erfordensis, Viennensis et huiusmodi ); in ihnen werde zwar auch wissenschaftlicher Unterricht erteilt, es seien aber keine allgemein anerkannten Graduierungen möglich und die Magister müßten privilegiata titulacione entbehren. Eine Gründung ohne Privilege hätte demnach nach Konrads Meinung nur zu solch einer scola levinoma führen können, „lohnte“ also für die betroffenen Dozenten und Studenten wohl kaum und wäre als „Universitätsgründung“ nicht zu werten. 38 Siehe oben Anm. 28. 39 Das erklärt, so meine ich, warum die Kurie bisweilen so eifrig nach den näheren Umständen der Gründungsabsichten fragte, wie es etwa bei der Wiener Gründung klar verfolgbar ist. Freilich hat sich die Kurie durchaus nicht immer so verhalten: durch die schlichte Verfügung, die neue Einrichtung solle „wie die bestehenden“ Studien eingerichtet werden, schien eine hinreichende Schranke vor allzu starker Abwandlung des Modells geschaffen und gesichert. Verständlich wird aber auch, daß die Privilegierung im Laufe der Zeit mehr zu einer bloßen Formalität verblaßte.
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UNIVERSITAS UND STUDIUM ZU DEN VERFASSUNGSSTRUKTUREN MITTELALTERLICHER UNIVERSITÄTEN*
Wenn von der Geschichte von Universitäten im Mittelalter gesprochen wird, muß auch von der damaligen inneren Struktur dieser Einrichtungen die Rede sein. Es muß gesprochen werden über das, was Historiker die „Verfassung“ der Universitäten nennen, und damit über die innere Ordnung des Lebensbereichs, die sich, ursprünglich geplant und gewollt oder auch gegen die unmittelbare Absicht der Beteiligten, im Laufe der Entwicklung herausgebildet hat. Nur durch eine Reflexion auf die Organisationsform der Universitäten sind Leistungsfähigkeit und Leistungsgrenzen der mittelalterlichen Universitäten voll abzuschätzen. Nur so lassen sich die Zwänge und Handlungsspielräume der an den mittelalterlichen Universitäten lebenden Menschen genauer ermessen. Mit der Frage nach der Verfassung der mittelalterlichen Universität bewegen wir uns freilich gleichsam im Windschatten der gegenwärtigen Forschungsinteressen. Während vor hundert, ja noch vor fünfzig Jahren die Verfassungsgeschichte geradezu im Zentrum des Interesses an der Geschichte der Hochschulen stand, gilt heute die Geschichte von Institutionen und den Rechtsbeziehungen ihrer Mitglieder leicht als trocken, abständig und abstrakt, da es die historische Wissenschaft gelernt hat, die Frage nach den rechtlichen Rahmenbedingungen der Beziehungen von Menschen untereinander innerhalb bestimmter Organisationen nicht mehr als letztentscheidende Voraussetzung ihrer Lebensverhältnisse anzusehen, sondern eher als Ausdruck ihrer praktischen, ihrer praktizierten Verhaltensweisen, die ihrerseits teilweise * In italienischer Sprache habe ich diese Überlegungen am 19. Mai 1998 an der Università Cattolica del Sacro Cuore in Mailand vorgetragen. Agostino Sottili hatte freundlich die Übersetzung übernommen, dem ich dafür zu herzlichem Dank verpflichtet bin. Der anschließenden Diskussion verdanke ich manche Anregung, Ich publiziere aus naheliegenden Gründen den Text in der ursprünglichen deutschen Version. Nur die nötigsten Anmerkungen und Nachweise wurden hinzugesetzt. Eine vollständige Dokumentation der Forschungslage ist nirgendwo beabsichtigt.
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aufgrund ganz andersartiger Motive und Triebkräfte Gestalt gewinnen. Eine Verfassungsgeschichte – und erst recht jene Spielart von Verfassungsgeschichte, die sich mit den einzelnen Institutionen einer Gruppe beschäftigt – wird daher leicht als Vordergrunderscheinung tiefer liegender Kräfte und Bedingungen verstanden, der gegenüber dann den eigentlichen Bestimmungsfaktoren naturgemäß die größere Aufmerksamkeit zu gelten hat, während der konkreten „Verfassung“ nurmehr ein sekundäres Interesse zugewandt werden kann. Das Schlagwort, das heutige Bemühungen konturiert, heißt: Sozialgeschichte, 494 allenfalls neuerdings Kulturgeschichte. | Prinzipiell ist daran gar nichts kritikwürdig. Nicht umsonst werden immer wieder auch die Universitätsbesucher untersucht und vorgestellt1. Und auch wir werden darauf zu achten haben, welche Interessen und Absichten die Organisationsformen mittelalterlicher Hochschulen hervorgebracht und in ihrer Entwicklung bestimmt haben. Die Frage danach wird schon allein deswegen unumgänglich sein, weil wir die Unterschiede in den verschiedenen Verfassungen (Plural! ) der verschiedenen Universitäten des Mittelalters sonst allzu rasch nur als unverständliches Nebeneinander differenter Hervorbringungen wahrnehmen könnten, die somit als rein zufällig erscheinen möchten. Es ist grundsätzlich ausgeschlossen, hier auch nur skizzenhaft einen Überblick über alle verschiedenen Institutionen der mittelalterlichen Universitätsverfassung geben zu wollen, da das Material vielgestaltig, ja schlechterdings überreich ist. Die bekannteste zusammenfassende Darstellung, die einen derartigen Versuch macht, das nüchtern seine Daten präsentierende Werk des englischen Historikers Hastings Rashdall The Universities of Europe in the Middle Ages, erschien zum ersten Male 1895, also vor nunmehr gut einem ganzen Jahrhundert. Das Buch schreitet im wesentlichen wie an einem roten Faden innerhalb einer regionalen Grobgliederung Europas chronologisch an der Entwicklung universitärer Institutionen an den einzelnen Hochschulen
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Insbesondere zu nennen sind die Arbeiten von R. C. Schwinges, Deutsche Universitätsbesucher im 14. und 15. Jahrhundert, Studien zur Sozialgeschichte des Alten Reiches (Veröff. d. Instituts f. Europäische Geschichte Mainz/Abt. Universalgeschichte, 123; Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches, 6), Stuttgart 1986; auch der von ihm herausgegebene Sammelband: Gelehrte im Reich, Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts, hg. R. C. Schwinges (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 18), Berlin 1996; zuletzt gab einen gelungenen essayartigen Überblick auch J. Verger, Les gens de savoir en Europe de la fin du moyen âge, Paris 1997.
UNIVERSITAS
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STUDIUM
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entlang voran. Es umfaßt in seiner vor zwei Menschenaltern (1936) publizierten (und seither immer wieder nachgedruckten), letztmalig durch Alfred Brotherston Emden und Frederick Maurice Powicke überarbeiteten Auflage drei dicke Bände von zusammen knapp 1500 Seiten2. Es ist wohl evident, daß es in einem kurzen Vortrag schlechterdings unmöglich ist, auch nur annähernde Vollständigkeit zu erreichen. So verzichte ich ausdrücklich und von vorneherein darauf, sie auch nur anzustreben. Wenn wir auswählen müssen, so sollen die strukturbestimmenden Elemente im Vordergrund unseres Interesses stehen, nicht die dramatischen Konflikte oder pittoresken Anekdoten, an denen natürlich auch die Universitätsgeschichte als Institutionengeschichte keinesfalls Mangel leidet3. Wir suchen bei unserem Bericht eher das in vielen – oder in allen – Universitäten Gemeinsame, weniger das der je einzelnen Universität Besondere auf. Wir werden, ausgehend von einer Reflexion auf die die Gesamtheit einer Universität begründende und tragende Personengemeinschaft und deren organisatorische Untergliederung, uns sodann der Bedeutung der Fakultäten in ihrem Verhältnis zur universitas zuwenden, um schließlich ganz grob wichtige Verfassungstypen mittelalterlicher Universitäten zu skizzieren. Betont werden soll von Anfang an, daß ich mich oft abgekürzt und exemplarisch äußern muß; ich hoffe nur, daß dabei weder die Anschaulichkeit | noch die Klarheit, mehr als nach den Umständen und 495 nach den Grenzen meiner Einsicht unvermeidlich, zu leiden haben.
I Heutige Universitäten beziehen sich auf ihre mittelalterlichen Vorläufer, nicht nur in Deutschland und Europa, sondern überall in der Welt auch dann, wenn sie erst lange nach dem Ende des Mittelalters, vielleicht erst vor wenigen Jahrzehnten oder gar Jahren begründet worden sind. Das läßt sich an Äußerlichkeiten ablesen, wie der weit verbreiteten Bezeichnung Universität selbst oder an Wörtern wie Rektor,
2 H. Rashdall, The Universities of Europe in the Middle Ages, Oxford 1895; New Edition, edd. by F. M. Powicke and A. B. Emden, Oxford 1936. 3 Davon bleibt natürlich die Tatsache unberührt, daß in Konflikten sich dem Historiker häufig allererst das Vorhandensein und die Wirksamkeit von Institutionen erkennbar zeigt.
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Dekan, Fakultät, Examen, Student, Doktor – um nur einige sehr unterschiedliche Beispiele zu nennen, die in zahlreichen modernen Sprachen als Lehnworte aus dem Lateinischen4 ihren Platz auch heute noch behaupten. Gleichwohl ist Vorsicht geboten: Wir müssen uns davor hüten zu glauben, daß mit den Worten auch der Gehalt identisch geblieben ist. Wir werden jedenfalls zu prüfen haben, ob eine solche scheinbar selbstverständliche Identität wirklich vorliegt. Die Universitäten überall auf der Welt, so sagte ich, folgen einem einzigen Modell, das im mittelalterlichen Abendland „erfunden“ worden ist. Gewiß, jede Hochkultur kennt Formen höheren Unterrichts. Manche Einrichtung höherer Bildung aus der Antike hat auf die mittelalterliche Vorstellung von dem, was eine höhere Unterrichtsstätte zu leisten habe, vermittelt über zentrale Texte eingewirkt5. Nachbarkulturen wie das Griechisch sprechende Byzanz mit seinen Hochschulen in Konstantinopel oder der Islam mit seinen Koranschulen in Bagdad oder Nordafrika, entfalteten ihre Wirkungen, ohne im Mittelalter ganz unbemerkt zu bleiben6. Die eigentlich tragenden Prinzipien ihrer 10 Organisation haben die werdenden Universitäten des christlichen Abendlandes jedoch aus ihren eigenen Voraussetzungen heraus entwickelt, sie haben das Modell einer korporativ verfaßten Lehranstalt relativer Selbständigkeit zum Zwecke wissenschaftlichen Unterrichts nicht vorgefunden oder in Nachahmung fremder Vorbilder übernommen, sondern in einem learning by doing, in Anwendung ihrer allgemeinen lebenspraktischen Erfahrungen angefangen und zur Reife gebracht7. Die beiden Namen, die für die werdenden Universitäten Europas von Anbeginn als Selbst- und Fremdbezeichnung gebraucht wurden, 4 Zur mittelalterlichen Bedeutungsentwicklung der einzelnen Worte vor allem die materialreichen, gut belegten Aufstellungen von O. Weijers, Terminologie des universités au XIII e siècle (Lessico intellettuale europeo, 39) Roma 1987, passim (nach dem Index); jetzt auch die thematisch zentrierten Sammelbände, die Olga Weijers in der Reihe Études sur le Vocabulaire intellectuel du moyen âge herausgegeben hat. 5 Hier wäre vor allem an die Rechtshochschulen von Beirut zu erinnern, die dem Mittelalter aus den – freilich geringfügigen – Bemerkungen im Corpus Iuris Civilis Justinians bekannt waren. 6 Eine m.E. allzu massive Einflußnahme des islamischen Modells hat (wie auch bereits früher gelegentlich) zuletzt noch mit erstaunlicher Bestimmtheit angenommen G. Makdisi, Baghdad, Bologna, and Scholasticism, in Centres of Learning, Learning and Location in Pre-Modern Europe and the Near East, edd. J. W. Drijvers, A. A. McDonald (Brill’s Studies in Intellectual History, 61), Leiden-New York-Köln 1995, 141–57. 7 So auch mit Energie und Klarheit P. Classen, Studium und Gesellschaft im Mittelalter, hg. von J. Fried (Schriften der Monumenta Germaniae Historica, 29), Stuttgart 1983.
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können diese These stützen: sowohl das Wort universitas (das noch heute allgemein für die Hochschulen in aller Welt als Titel maßgeblich geblieben ist) wie auch die Bezeichnung studium | oder – nur wenig 496 später – studium generale, die ebenfalls heute noch, wenn auch in abgewandelten Bedeutungsschattierungen gebräuchlich sind, sind keine Übersetzungen oder Lehnwörter, sie spezialisieren ein Wortfeld von zuvor allgemeinerer Bedeutung und wenden es auf die neu entstehenden Bildungsstätten an. Bei universitas ist das besonders schlagend deutlich. Universitas kommt bereits, wenn auch selten, im Latein der klassischen und nachklassischen Antike vor und übersetzt dort griechische Termini wie to pan oder holótes (die Ganzheit, Gesamtheit, das Universum). Auch eine universitas rerum und eine universitas von Personen, etwa im Sinne von „alle Welt“, begegnet schon in der Antike. Im Mittelalter verstärkt sich der Trend, nicht mehr die Totalität aller schlechthin sondern insgesamt alle einzelnen Glieder auch von Teilmengen und von mehr oder minder großen Gruppen von Menschen so zu bezeichnen, sofern sie als Verband, als Gesamtheit angesprochen werden. Wir brauchen hier nicht Belege zu häufen, die die Gesamtheit der Bauern eines Dorfes, die Gesamtheit einer Zunft oder einer Stadt, die Kanoniker einer Kollegiatkirche oder die Mönche einer Klostergemeinschaft mit dem Wort universitas bezeichnen8. Umso weniger erstaunt es, daß die Vokabel universitas als sie von Papst Innozenz III. zum ersten Male in einem päpstlichen Schreiben an die magistri der Pariser Schulen in einem spezifischen Sinn für eine (werdende) Universität verwendet wurde, durch einen qualifizierenden Genitiv oder ein Pronomen für diesen Zweck erst zugerichtet werden mußte: universitas magistrorum, universitas vestra9 schreibt der Papst schon allein deshalb, damit die Identität der Angesprochenen deutlich werde. Und noch in späterer Zeit hatte das Wort seine Bedeutung nicht so ausschließlich auf die höheren Bildungsanstalten eingeengt, daß spätmittelalterliche Universitäten als ihre Selbstbezeichnung in Rektorbüchern, Statuten und Siegelumschriften ausdrücklich etwa universitas studii Heydelbergensis, universitas studii Erfordensis oder universitas
8 Grundlegend die Monographie von P. Michaud-Quantin, Universitas, Expressions du mouvement communautaire dans le moyen âge latin (L’Église et l’État au Moyen Âge, 12), Paris 1970, vgl. auch Weijers, Terminologie (wie Anm. 4), 16–26. 9 Chartularium Universitatis Parisiensis, edd. H. Denifle u. É. Châtelain, vols. 1–4, Paris 1889–1897 [künftig: „CUP“], I, 67 f. (nr. 8).
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studii sancte civitatis Coloniensis wählten10. So nannten sie sich, weil offenbar die generische Bezeichnung universitas, noch immer nicht eine eindeutige Identifikation des mit dem Wort Gemeinten erlaubte. Faßt also universitas die Personen zusammen, die in ihrer Gesamtheit an einer noch unbestimmt bleibenden Einrichtung wirken, so ist dann der geographisch spezifizierte Zusatz des studium ausreichend, um Eindeutigkeit zu erzielen. Ein studium, wie es am Anfang des 13. Jahrhunderts heißt – in späterer Zeit wird dafür zunehmend studium generale gebräuchlich11 – nennt den Bereich oder Ausschnitt, dessen Gesamtheit von Personen angesprochen ist. Mit dem Wort studium ist eine Bezeichnung in einer seit dem 12. Jahrhundert bemerkbaren Bedeutungsnuance im Sinne einer „Schule“ oder einer „allgemein 497 anerkannten | Schule“ benutzt, wie sie das Altertum noch nicht kannte, da dieses ein studium im Sinne von „Eifer“ und „Bestreben“, „Neigung“, „Lieblingsbeschäftigung“ und „wissenschaftlicher Betätigung“ bzw. „Studieren“ brauchte, nicht aber den Ort oder die Einrichtung, wo all das geschehen konnte, mit diesem Wort bezeichnete12. Nun ist freilich zu hoffen, daß die Komponente der Neigung seiner Angehörigen auch dem mittelalterlichen studium in ihrem Assoziationshorizont nicht völlig gefehlt hat13, wie ja auch heute noch jedem „Studium“ Eifer und Hingabe gewünscht werden müssen. Gewiß ist aber, daß in den mittelalterlichen Quellen zur Geschichte der Universitäten studium in den allermeisten Fällen eben die Einrichtung meint, an der ein höherer Unterricht erteilt wurde, unangesehen der Frage, wie eifrig man sich dort seinen Studien widmen mochte.
10 Vgl. die Abbildungen, z.B. bei F. Rexroth, Deutsche Universitätsstiftungen von Prag bis Köln, Die Intentionen des Stifters und die Wege und Chancen ihrer Verwirklichung im spätmittelalterlichen deutschen Territorialstaat (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, 34), Köln-Weimar-Wien 1992, Abb. 1–6; die Siegel von Heidelberg und Köln abgebildet und beschrieben auch etwa in Mittelalterliche Universitätszepter, Meisterwerke europäischer Goldschmiedekunst der Gotik, hg. J. M. Fritz, Heidelberg 1986, 22 f. 11 Weijers, Terminologie (wie Anm. 4), 34 ff. 12 Belege z.B. bei K. E. Georges, Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch, II, Leipzig 1880, 2540 f. 13 Bekannt sind die Verse des Kanzlers der Domschule von Chartres Bernhard über die claves sciendi aus dem frühen 12. Jahrhundert, also in der Frühphase der Entwicklung der eigentlichen Universitäten, hier zitiert nach Johannes von Salisbury, Policraticus VII 13, ed. C. C. I. Webb, Oxford 1909, vol. 2, 145: Mens humilis, studium quaerendi, uita quieta,//scrutinium tacitum, paupertas, terra aliena,//haec reserare solent multis obscura legendo. Dazu vgl. nur etwa Classen, Studium und Gesellschaft (wie Anm. 7), 6 f.
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Ein studium konnte im Mittelalter jeder Ort und jede Art von wissenschaftlicher Beschäftigung heißen, ein studium generale galt genauer als ein allgemein anerkannter Ort, zu dem von überall her Studenten strömen konnten, vor allem aber ein Ort, dessen Graduierungen allgemeine Anerkennung genossen, so daß wer seine Studien dort abgeschlossen hatte, überall auf Anerkennung rechnen durfte. Wir können uns nicht damit aufhalten, die allmähliche Entfaltung dieser Bedeutung im einzelnen zu verfolgen14. Ebensowenig können wir hier verfolgen, wie die allgemeine Geltung der Graduierung als des Studienabschlusses zuerst faktisch in langer praktischer Bewährung gewonnen wurde, etwa bei den ältesten europäischen Universitäten Bologna, Paris, Oxford oder Cambridge: Studia generalia ex consuetudine, „anerkannte Hochschulen kraft Gewohnheitsrecht“, so werden spätmittelalterliche Juristen in ihrer Neigung zu systematisierendem Zugriff diese (alten) Hochschulen benennen. Spätestens seit dem 14. Jahrhundert aber wurde die allgemeine Geltung einer Universität durch ein Privileg einer als universal vorgestellten Instanz, durch Papst oder Kaiser, gleichsam vorweg durch ein bei der Gründung erteiltes Privileg formalisiert: Studia generalia ex privilegio nannten das konsequenterweise und spiegelbildlich zu der ersten Gruppe die spätmittelalterlichen Juristen15. Bezeichnend genug war diese Formalisierung | 498 allerdings. Die Privilegierung durch den Papst war so attraktiv, daß auch die alten gewachsenen Universitäten sich ein päpstliches Privileg
14 Die Literatur dazu ist naturgemäß umfangreich: zusammenfassend Weijers, Terminologie (wie Anm. 4), 34–45; vgl. aber auch die wichtigen Bemerkungen von Classen, Studium und Gesellschaft (wie Anm. 7), 1 f. 15 Diesen Unterschied hat Heinrich Denifle zum Hauptgesichtspunkt für die Gliederung des ersten Bandes seiner umfassend geplanten Universitätsgeschichte Europas gemacht, von der nur dieser erste Band erschienen ist: Die Entstehung der Universitäten des Mittelalters bis 1400 (Die Universitäten des Mittelalters bis 1400, Bd. 1, Berlin 1885 [Neudruck Graz 1956]), vgl. die tabellarische Übersicht 807–810; Belege für die Nomenklatur bes. 231 mit Anm. 46. Bezeichnenderweise hat die Universität Salamanca am 22. September 1255 von Alexander IV. ein Privileg erhalten, dem gemäß ein an ihr Graduierter in quolibet generali studio, Parisiensi et Bononiensi dumtaxat exceptis [!], in facultate ipsa pro qua ibi semel examen subiit, sine iterato examine ac alicuius contradictione regere valeat (Bulario de la Universidad de Salamanca, 1219–1549, ed. V. Beltran de Heredia, vol. 1, Salamanca 1966, 320 f. nr. 12), sozusagen also ein Privileg für eine Licentia fere ubique docendi, die Rechtsfigur war eben noch nicht endgültig ausgebildet; einige – nicht immer überzeugende – Überlegungen dazu bei W. Steffens, Die studentische Autonomie im mittelalterlichen Bologna, Eine Untersuchung über die Stellung der Studenten und ihrer ‚universitas‘ gegenüber Professoren und Stadtregierung im 13./14. Jahrhundert (Geist und Werk der Zeiten, 58), Bern-Frankfurt/Main-Las Vegas 1981, 159–62.
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noch am Ende des 13. oder am Anfang des 14. Jhs. erwarben, in welchem die allgemeine Geltung ihrer Graduierungen ausdrücklich bestätigt wurde. Allein Oxford freilich hat, obwohl es sich wenig später auch an diesem Spiel beteiligte, damals kein päpstliches Privileg erhalten – und es hat deshalb keinerlei erkennbare Nachteile erleiden müssen16. Paris aber machte von diesem Bestreben ebensowenig eine Ausnahme17, wie Cambridge18 oder Bologna19, denn Privilegien machten den eigenen Anspruch zumindestens formal unangreifbar und schienen gewiß sicherer als bloß faktische Geltung. Hunderte, ja Tausende von mittelalterlichen Urkunden dienen bekanntlich allein oder überwiegend einer Rechtssicherung und Anspruchsbestätigung. Auch die Universitäten haben sich problemlos in diese endlose Reihe solch mittelalterlicher Rechtssicherungsversuche durch Urkunden gestellt.
II Die mittelalterliche Universität wurde verstanden als universitas und als studium generale zugleich. Wenn die moderne Universität in Deutschland, in Italien, in Frankreich, England und überall sonst den ersten Begriff, universitas, das Wort für den genossenschaftlichen Zusammenschluß der an einem studium tätigen Menschen, schließlich als alleinigen Namen übernommen hat, so ist das gewiß auch daher zu verstehen, daß die Menschen auch bei einer Universität die erste Rolle zu spielen haben, nicht zuletzt aber auch aus den allgemeinen Bedingungen mittelalterlicher Sozialbildungen überhaupt. Schon in ihrer Entstehungszeit haben in Bologna, Paris oder Oxford um
16 Einzelheiten bei C. H. Lawrence, The University in State and Church, in The History of the University of Oxford, Bd. 1 (wie Anm. 16), 97–150, hier 114 f. 17 Die Bulle Papst Nikolaus’ IV. datiert vom 23. März 1292, vgl. „CUP“, II, 54 f. (nr. 578). 18 Der Text der Bulle Johannes’ XXII, gedruckt bei: A. B. Cobban, Edward II, Pope John XXII and the University of Cambridge, „Bulletin of the John Rylands Library“, 47 (1964/1965), 77–78; dazu M. B. Hackett, The Original Statutes of Cambridge University, Its Text and its History, Cambridge 1970, 177–79. 19 Das Privileg Papst Nikolaus’ IV. wurde am 27. August 1291 erteilt, wurde dann 1309 von Papst Clemens V. erneuert, vgl. P. Kibre, Scholarly Privileges in the Middle Ages, The Rights, Privileges, and Immunities of Scholars and Universities at Bologna, Padua, Paris, and Oxford (Medieval Academy of America Publication, 72), Cambridge, MA, 1961, 32 Anm. 68.
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die Wende zum 13. Jahrhundert die jungen Männer, die sich da, meist in einiger Entfernung von ihrer Heimat, einer Bildungsbemühung widmeten, versucht, durch gegenseitigen Zusammenschluß der Benachteiligung durch Fremdenrecht, der sie selbstverständlich unterworfen waren, zu begegnen und sie nach Kräften zu begrenzen. Durch ihre Bitte, ihre Forderung oder auch durch das Ertrotzen von ausdrücklich gewährten Sonderrechten (Privilegien) waren sie bestrebt, ihre prinzipiell gefährdete, bisweilen auch klägliche Lage allmählich zu verbessern. Wenn sich die Nichtortsansässigen in der Fremde, im Exil, wie es im 12. | Jahrhundert sowohl für die Pariser Schulen als auch für die 499 Bologneser Rechtsstudenten schon bei Zeitgenossen heißt20, wenn sich diese Studenten in der Verbannung, die sie ihrer Studien wegen auf sich genommen hatten, nun zusammenschlossen, wenn sie als universitas oder als universitates den Rechtsvorstellungen der Zeit entsprechend von der kirchlichen wie weltlichen Macht, von Kaiser und König, von Papst und Commune Anerkennung fanden, so halfen sie sich selbst aus einem wichtigen Teil ihrer Schwierigkeiten. Ihr Zusammenhalt war ihr ureigenstes Interesse, das die gegenseitige Konkurrenz bei weitem überwog21. Nicht aus Zufall, so meine ich, ist auch in
20 Für Bologna belegt das die berühmte Authentica Habita Kaiser Friedrichs I. (von 1155/1158) – in unüberhörbarer Anspielung an den Philipperbrief (2, 7) – zuletzt ed. als DF I. nr. 243, in MGH, Die Urkunden der deutschen Könige und Kaiser, Bd. X.2, ed. H. Appelt, Hannover 1979 (S. 36–40), hier 39,22: Amore scientie facti exules de divitibus pauperes semetipsos exinaniunt . . .; für Paris vgl. nur die claves sciendi Bernhards von Chartres (wie oben Anm. 13). In Abaelards Historia calamitatum, ed. J. Monfrin (Bibliothèque des textes philosophiques) Paris2 1967, Zl 1107 f. (S. 94), heißt es von Abaelards Schülern in Paraclet: . . . civiles delicias contemnentes ad solitudinis inopiam confluunt et sponte miseri fiunt. Zum „Exil“ als Entstehungsbedingung der abendländischen Universität besonders eindrücklich H. Grundmann, Vom Ursprung der Universitäten im Mittelalter (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Phil.-hist. Kl. 103/2, Berlin 1957), 31–33 und bes. 60, jetzt in Grundmann, Ausgewählte Aufsätze, Teil 3: Bildung und Sprache (MGH Schriften, 25/3, Stuttgart 1978) 292–342, hier 313–15, bes. 335 f. 21 Zur invidia, der Kehrseite dieses Konkurrenzprinzips, vgl. nur die Historia calamitatum, die geradezu eine Obsession davor zeigt, so oft wird dies Motiv genannt: ed. Monfrin (wie Anm. 20), Zll. 44, 56, 119, 223, 680, 824, 861, 933, 935, 1239, 1345, 1400. Noch der Dominikanertheologe Juan de Monzon hat im päpstlichen Konsistorium 1387 Pierre d’Ailly und der Pariser Universität vorgeworfen, der Streit um seine Thesen gegen die unbefleckte Empfängnis Mariens sei von wenigen Leuten aus invidia vom Zaun gebrochen worden: vgl. die Konsistorialrede Ailly’s, gedruckt u.a. in J. Gerson, Opera omnia, ed. L. Ellies Du Pin, Antwerpen 1706 [Neudruck Hildesheim 1987], vol. 1, 706 sq., vgl. auch in C. Duplessis d’Argentré (Hg.), Collectio judiciorum de novis erroribus, Paris 1728–1736 [Neudruck Brüssel 1963], Bd. 1.2,
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dem ersten Papstschreiben, das 1208/1209 die Magister und Scholaren in Paris als universitas anspricht, von einem schweren Konflikt in ihrer Gruppe die Rede22. Es ging vor allem um drei Punkte: Bestimmte Mitglieder hatten sich geweigert, die gemeinsam festgelegte Ordnung einzuhalten, indem sie 1.) in legerer Kleidung (habitu inhonesto) auftraten, 2.) bei Vorlesungen und Disputationen sich nicht an die formalen Vorschriften und an die Ordnung hielten, und sich 3.) auch ihrer Verpflichtung entzogen, verstorbenen Kollegen das eidlich zugesagte Grabgeleit zu geben. Das aber heißt doch, diese Konflikte zeigen an, daß diese Gruppe durch die Statuten ihr soziales Leben nach innen (Beistand in der Not und solidarische Begleitung im Sterbefall ) und nach außen (äußeres Erscheinungsbild in der Berufsübung, Auftreten und geregelter Umgang mit den Studenten und Kollegen) durch strikte Vorschriften 500 zu regulieren versuchte. | Daß sich freilich auf die Dauer zu derart intimer Verbindung die große und ihrer regionalen Herkunft nach so weitgestreute „Gesamtheit“ (universitas) aller Ankömmlinge nur schwer organisieren mochte, scheint einleuchtend. Wir wissen über die einzelnen Schritte und insbesondere über die Chronologie nur sehr ungenau Bescheid, deutlich scheint jedenfalls, daß sich überall sehr bald Gliederungen einer mittleren Ebene bildeten, sowohl in Bologna, als auch in Paris, die sich in beiden Fällen, wenn auch systematisch unterschiedlich eingeordnet, nationes nannten. Diesen „Nationen“, d.i. landsmannschaftlichen Studentengruppen, gehörte der einzelne nicht – wie beim Eintritt in die Gesamtuniversität – aufgrund seiner eigenen freien Entscheidung an, sondern wie der Name sagt, gleichsam von Geburts wegen, kraft seiner Herkunftsregion und damit zugleich kraft seiner landsmannschaftlichen Zugehörigkeit. Es war vorweg festgelegt, zu
72b–73a: . . . Sed unum est, beatissime pater, quod nulla obstante brevitate vel festinantia, cogente veritate, diucius silere nequimus, qualiter scilicet quam false, quam fallaciter prememoratus frater [d.i. Johannes de Monsoniis] etiam in vestre beatitudinis et vestri consistorii presencia affirmare non veritus est, omnia que adversus eum acta sunt, ex paucorum vel duorum aut trium hominum invidia atque odio processisse . . . Zu diesem Verfahren allgemein ausführlich D. Taber, The Theologian and the Schism, A Study of the Political Thought of Jean Gerson (1363–1429), Ph.D. – Thesis Stanford Univ. 1985 (masch.), vol. 1, pp. 10–34. Erstaunen über die Überwindung solcher Konkurrenz in den frühen Universitäten äußerte markant A. Esch, Die Anfänge der Universität im Mittelalter (Berner Universitätsreden), Bern 1985, jetzt in Esch, Zeitalter und Menschenalter, Der Historiker und die Erfahrung vergangener Gegenwart, München 1994, 93–114, hier 109. 22 „CUP“, I, 67 f. (nr. 8) [= Innocentius III, Reg. XI. 274, Migne, PL 215, col. 1585 f.].
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welcher natio ein Ankömmling gehören würde, das ist aus verschiedenen Konflikten um die Grenzen der einzelnen Einzugsgebiete ganz eindeutig zu erschließen23. In Bologna, wo sich die Verhältnisse der frühen Universität besonders undeutlich abzeichnen, hatten sich die Rechtsstudenten anfangs offenbar zu mehreren Gruppen zusammengeschlossen. Wie es scheint, spielte dabei die magische Zahl vier (wie bei den vier Himmelsrichtungen, den vier Temperamenten, den vier Kardinaltugenden) eine gewisse Rolle. In Bologna scheinen sich jedenfalls die ursprünglich vier Gruppen universitates genannt zu haben. Seit dem späteren 13. Jahrhundert bildeten schließlich die Studenten aus Italien eine gemeinsame universitas citramontanorum, die sich in drei „Nationen“ (die Studenten aus der Lombardei, der Toskana und Rom umfassend) untergliederte, während die universitas ultramontanorum 1265 vierzehn und schließlich im Spätmittelalter nicht weniger als sechzehn „Nationen“ zählte24, deren jede als Abstimmungs- und Wahlkörperschaft bei dem Turnus der Rektorenwahl nach einem komplizierten Schlüssel eine Rolle zu spielen hatte25. Zwei – nicht vier! – nationes innerhalb der einen Universität gab es in Oxford, die boreales (Northerners oder Nordmänner), zu denen aber auch die nicht sehr weit nördlich wohnenden Iren und Walliser gehörten, und die Australes (Southerners oder Südländer), denen ebenfalls die sichtlich im Norden von Oxford wohnenden Schotten zugeschlagen waren, was wohl die ererbten Rangeleien aus | eingefleischter 501
23 Bes. G. C. Boyce, The English-German Nation in the University of Paris During the Middle Ages, Brügge 1927; P. Kibre, The Nations in the Medieval Universities (Medieval Academy of America, Publication 49), Cambridge, Mass. 1948, 20 ff. Vgl. auch G. C. Boyce, The Controversy Over the Boundary Between the English and Picard Nations in the University of Paris (1356–1358), in Études d’histoire dédiées à la mémoire de Henri Pirenne, Brüssel 1937, 55–66. 24 Klassisch die Studie von A. Sorbelli, La ‚nazione‘ nelle antiche università italiane e straniere, „Studi e memorie per la storia dell’Università di Bologna“ 16 (1943), 93–232; vgl. auch Kibre, Nations (wie vorige Anm.) 29 ff., zu Bologna etwa auch S. StellingMichaud, L’Université de Bologne et la pénétration des droits Romain et canonique en Suisse aux XIII e et XIV e siècles (Travaux d’humanisme et renaissance, 17), Genf 1955, 26 ff. Wortgeschichtliches Material bei Weijers, Terminologie (wie Anm. 4), 56–62. 25 Zur Rektorwahl in Bologna vgl. etwa bereits Rashdall, Universities (wie Anm. 2), Bd. 1, 184–86; Steffens, Autonomie (wie Anm. 15), 105 f. Zur anders konstruierten Rektorwahl an den spätmittelalterlichen deutschen Universitäten vor allem jetzt R. C. Schwinges, Rektorwahlen, Ein Beitrag zur Verfassungs-, Sozial- und Universitätsgeschichte des alten Reiches im 15. Jahrhundert (Vorträge und Forschungen, Sonderband 38), Sigmaringen 1992.
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Abneigung unter regionalen Nachbarn nahegelegt hatten, d.h. die Engländer der nördlichen Regionen wollten offenbar nicht mit den Schotten zusammen in einer natio leben. In Oxford ist die Tendenz auffällig, den Nationen wichtige Entscheidungen und Funktionen innerhalb der Gesamtuniversität zuwachsen zu lassen. Die von den Nationen gewählten procuratores erscheinen sehr früh, bereits im 13. Jahrhundert, vorwiegend als Gehilfen des Rektors (und als Verantwortliche für die Rektorwahl) mit einer Zuständigkeit für die gesamte Universität; sie blieben in ihren Kompetenzen also keineswegs auf ihre jeweilige eigene Nation beschränkt26. In anderen Universitäten begegnen eine Reihe von anderen Gliederungsprinzipien, so gab es in Orléans im 16. Jahrhundert zehn Nationen27, in Perugia gruppierten sich die ultramontanen Studenten in nur drei Nationen, während die citramontanen vier Nationen zählten und alle in einer einzigen universitas unter einem Rektor organisiert waren28, wohl weil nicht genügend Fremdlinge von jenseits der Alpen herbeiströmten. Immer wieder aber begegnet – wie wohl auch im ursprünglichen System von Bologna – die symbolträchtige Vierzahl. In Salamanca entsprachen die vier Nationen den vier spanischen Kirchenprovinzen, denn ausländische Studenten waren dort kaum zu finden, im übrigen folgte diese Universität ganz dem Bologneser Beispiel29, denen auch andere oberitalienische Rechtsuniversitäten trotz einer Vierzahl von Nationes nacheiferten.
26 M. B. Hackett, The University as a Corporate Body, in The History of the University of Oxford, vol. 1 (wie Anm. 16), 37–95, bes. 64 ff. Vgl. auch A. B. Emden, Northerners and Southerners in the Organization of the University to 1509, in Oxford Studies presented to Daniel Callus (Oxford Historical Society, n.s. 16), Oxford 1964, 1–30. 27 Bis 1538 zählte die Universität Orleans zehn Nationes (Frankreich, Lothringen, Deutschland, Burgund, Champagne, Normandie, Picardie, Touraine, Schottland, Aquitanien), nach 1538 – offenbar nach dem Vorbild von Paris – nur noch vier (Frankreich, Deutschland, Picardie und Normandie); vgl. etwa die Introduction in Les livres des procurateurs de la nation germanique de l’ancienne université d’Orléans, 1444–1602, Tome 1: Premier livre des procurateurs, 1444–1546, Première partie: Texte, edd. C. M. Ridderikhoff, H. de Ridder-Symoens, Leiden 1971, p. XV; sowie ebenda, Seconde partie: Biographies des Étudiants, vol. 1, édd. C. M. Ridderikhoff, H. de RidderSymoens, D. Illmer, Leiden 1978, p. XII. 28 Kibre, Nations (wie Anm. 23) 123 f.; eine Entwicklung von ursprünglich (mindestens) zwei zu nur einer Universität nimmt an G. Ermini, Storia della Università di Perugia, Bologna 1942, hier 67 [die 2. Auflage: Storia dell’Università di Perugia, vols. 1–2 (Storia delle università italiane, 1), Firenze 1971, war mir nicht zugänglich]. Eine eingehende Studie zur Geschichte der Universität Perugia im 14. Jahrhundert ist von Helmut G. Walther zu erwarten. 29 Kibre, Nations (wie Anm. 23), 156 f.
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Paris beschritt dagegen zwar nicht, was die Zahl, wohl aber, was die Struktur und Bedeutung der Nationen betrifft, einen Sonderweg: Hier hatten sich die Magister der zahlreichen Schulen der Artes liberales an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert zu einer universitas zusammengeschlossen. In dem schon erwähnten päpstlichen Schreiben Innozenz’ III. von 1208/1209 werden sie zum ersten Male als universitas magistrorum benannt30. Wenig mehr als ein halbes Jahrzehnt später, 1215, als der päpstliche Kardinallegat Robert von Courçon31 ihnen ihre ersten Statuten verlieh, sollte dieses Dokument nach seiner Selbstaussage statum Parisiensium in melius reformare32. Als Gruppennamen taucht hier zum | ersten Mal die Bezeichnung auf, die später zur 502 formelhaften Nomenklatur erstarren sollte: universitas magistrorum et scholarium (Parisius degentium). Auch in Zukunft blieben es in Paris allein die magistri der Artes und ihre Studenten, die in den Untergliederungen dieser „Artistenuniversität“, den vier „Nationen“ (der französischen, pikardischen, normannischen und englischen) organisiert waren. Dozenten und Studenten der anderen Pariser Fakultäten gehörten unmittelbar nur dann zu diesen Gruppierungen, wenn sie sich zuvor als Artistenkandidaten oder bei ihrer Rezeption als magistri artium dem Rektor der Artistenuniversität gegenüber zu dauerndem Gehorsam verpflichtet hatten. Die vier Artistennationen hatten jeweils ihren eigenen Leiter, einen procurator, der ihre Versammlungen und Feste leitete, ihr Vermögen verwaltete, ihre Disziplin überwachte, und auch bei der Rektorwahl mitwirkte33. Jede Nation führte dann im Laufe des 13. Jahrhunderts auch ein eigenes Siegel, besaß ein Matrikelbuch, eigene Geldmittel und ein reges Gruppenleben, das der Universität Farbe und Hintergrund gab. Und doch war und blieb die Pariser Universität eigentlich eine, wie man sie präziser nennen sollte, „Artistenuniversität“, d.h. ihre Organisation basierte auf den magistri artium, umfaßte nicht alle an der (wenn wir diesen Begriff einmal im neueren Sinne verwenden), „Universität Paris“ Lehrenden und Lernenden.
30 „CUP“, I, 67 f. (nr. 8). Nur kurz zuvor (1207) hatte der Bischof von Paris in einer Urkunde von einer communitas scolarium gesprochen, „CUP“, I, 65 f. (nr. 6). 31 Zu ihm vgl. etwa Classen, Studium und Gesellschaft (wie Anm. 7), 156–60. 32 „CUP“, I, 78 f. (nr. 20). 33 Vgl. bereits Rashdall, Universities (wie Anm. 2), Bd. 1, 311–15; und vor allem Kibre, Nations, 65–115 passim.
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Oft hat man diese Pariser „Professorenuniversität“ dem Typ der Bologneser „Studentenuniversität“ schroff gegenübergestellt und zwei grundverschiedene Ausprägungen der Organisationsmöglichkeiten mittelalterlicher Hochschulen in diesen beiden Formationen erkennen wollen34. In der Tat springen ja die Unterschiede ins Auge: in Bologna schlossen sich die Studierenden der beiden Rechte, des Römischen Rechts und des Kanonischen Rechts zu „universitäten“ zusammen (Plural!), die allein auf das objektive Merkmal der landsmannschaftlichen Herkunft gegründet waren und zunächst keine gemeinsame Organisation hatten, sondern nebeneinander bestanden. Neben die beiden Universitäten der Rechtsstudenten traten dann gesondert die Professoren oder richtiger Dozenten, die sich, getrennt nach den Fakultäten der „Legisten“ und „Kanonisten“ in zwei eigenen Doktorencollegien etablierten35, welche ihre Geschäfte grundsätzlich unabhängig von den studentischen Universitäten und deren Rektoren führten. Diese unübersichtliche Vielheit wurde später noch dadurch vergrößert, daß sich die Studenten der Notariatskunst und der Artes sowie die der Medizin schließlich im 14. Jahrhundert zu einer eige503 nen Universität zusammenschlossen36, offenbar in | einem Akt der Emanzipation gegenüber den Juristenrektoren, denen sie zuvor ohne Rückhalt verpflichtet gewesen waren. Und als schließlich 1360/64 nach dem international so erfolgreichen Pariser Vorbild eine theologische „Fakultät“ in Bologna eingerichtet wurde37, war diese Fakultät wiederum organisatorisch nichts anderes als eine universitas magistrorum . . ., d.h. ein theologisches Doktorencollegium in Bologna nach dem Vorbild von Paris.
34 Vgl. statt vieler etwa Steffens, Autonomie (wie Anm. 15), der den Typ der „Studentenuniversität Bologna“ zur heuristischen Leitfigur seiner Untersuchung gemacht hat. 35 Zu den Bologneser Doktorenkollegien zuletzt die beiden Editionen zum Spätmittelalter von C. Piana, Il ‚Liber secretus iuris Caesarei‘ dell’Università di Bologna, 1451–1500 (Orbis academicus, 1), Milano 1984, sowie: Il ‚Liber secretus iuris pontificii‘ dell’Università di Bologna, 1451–1500 (Orbis academicus, 2), Milano 1989 (mit den entsprechenden Einleitungen). Vgl. auch Weijers, Terminologie (wie Anm. 4), 70–75. 36 Zu der besonderen späteren Funktion, die Zulassung zu den Sektionen der medizinischen Fakultät zu regeln, die nur zweimal im Jahre stattfanden, Kibre, Nations (wie Anm. 23) 61. 37 F. Ehrle (ed.), I più antichi Statuti della facoltà teologica dell’Università di Bologna, Bologna 1932.
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Aus diesem unübersichtlichen Nebeneinander von verschiedenen Organisationen wuchs bereits bis zum 14. Jahrhundert in der Praxis dennoch eine gemeinsame Struktur, die freilich nur ansatzweise konstitutionell geschlossen werden konnte: Die beiden Juristenuniversitäten kooperierten in der Weise, daß die Statuten dieser beiden Universitäten gemeinsam aufgestellt und auch gemeinsam verändert wurden, daß sich die jeweiligen Rektoren gegenseitig bei Abwesenheit vertraten, daß schließlich gemeinsame Versammlungen aller Studentenuniversitäten abgehalten wurden, in denen freilich die Jurastudenten ihre traditionell starke Stellung noch lange faktisch und auch institutionell zu bewahren wußten, zumal die Artisten- und Medizineruniversität, wie die theologische Fakultät niemals eine größere Bedeutung, weder quantitativ noch qualitativ, erlangen konnten. In Paris ist es entgegen dem ersten Augenschein, der die vier Fakultäten harmonisch im Rahmen der Gesamtuniversität zusammenwirken sieht, nicht grundsätzlich anders gewesen. Auch in Paris gab es keine klare Gliederung einer einheitlichen, alle Menschen des studium umfassenden Organisation. Wir haben es uns angewöhnt, hier von vier „Fakultäten“ in einer Universität zu sprechen, und sind es gewohnt, uns für diese Ansicht auf die Tatsache zu stützen, daß der Rektor der Artisten sich, wie gesagt, als Chef der gesamten Universität im Laufe des 13. Jahrhunderts durchgesetzt hatte. Innerhalb dieser vier Pariser Fakultäten ist aber organisatorisch zuerst die Artistenuniversität zu nennen, die, untergliedert in vier Nationen, jedes Vierteljahr den Rektor wählte, der dann freilich vermögensrechtliche und disziplinarische Rechte als Leiter der Gesamtkorporation beanspruchte. Daneben standen dann die drei sogenannten „Höheren Fakultäten“ Theologie, (kanonisches) Recht und (zuletzt auch) Medizin, die aber ganz anders als die Artisten organisiert waren. Diese Fakultäten waren, analog zu den Doktorencollegien Bolognas, Magister- und Doktorengremien, die die gemeinsamen Angelegenheiten (insbesondere die Verteilung der Lehraufgaben) berieten und entschieden38.
38 Diese Funktionen einer Fakultät hat deutlich für Wien nach den Fakultätsakten herausgearbeitet (am Beispiel der Artes-Fakultät) P. Uiblein, Mittelalterliches Studium an der Wiener Artistenfakultät, Kommentar zu den Acta facultatis artium universitatis Vindobonensis, 1385–1416 (Schriftenreihe des Universitätsarchivs, 4), Wien 1987, bes. 51 ff. Die Organisation der Lehre in der Pariser Artistenfakultät liegt im 15. Jahrhundert ihrem Schwerpunkt nach bei den Nationen, dazu zuletzt vor allem M. Tanaka, La nation anglo-allemande de l’Université de Paris à la fin du Moyen Âge (Mélanges de la Bibliothèque de la Sorbonne, 20), Paris 1990.
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Die gemeinsamen Versammlungen der Gesamtuniversität stimmten jedoch nach Fakultäten ab, damit nicht die übergroße Menge der Artisten die ihrer Zahl nach weitaus geringeren, aber sozial gewichtigeren und jedenfalls selbständigen anderen Fakultäten institutionell 504 überstimmen könnten. | Vielleicht läßt sich die Entwicklung am ehesten so verstehen, daß die Artistenuniversität mit ihrem Rektor die universitas in Paris organisierte, während die sogenannten höheren Fakultäten zur Organisation des studium, der Hochschule, gehörten. Jedenfalls hat in einem komplexen Prozeß während des gesamten 13. Jahrhunderts erst der Rektor seine führende Stellung als „Haupt“ der Pariser Universität durchgesetzt, dessen Ansprüche freilich nicht allein durch die sachlichen und fachlichen Interessen der Höheren Fakultäten eingeschränkt wurden (die sich ihrerseits zu festeren Organisationen dann im Laufe des 13. Jahrhunderts zusammenschlossen39), sondern der auch noch 1284 und 1292 mit dem bischöflichen Kanzler um seine Stellung an der Spitze der Korporation zu kämpfen hatte40. Die Chronologie der Entwicklungen ist uns nur bruchstückhaft bekannt: Um das Jahr 1220 scheinen die vier Nationen sich (zur Artistenuniversität) zusammengeschlossen zu haben, deren Rektor freilich erst zwei Jahrzehnte später (1237/40) in unseren Quellen auftaucht. Für die höheren Fakultäten liegen die Erstbezeugungen noch später: Statuten begegnen erst 1252, Dekane 1264, 1270 sind dann auch Siegel belegt. Die Selbständigkeit der Höheren Fakultäten war nur dadurch eingeschränkt, daß ihre
39 Zu den Anfängen der Artes-Fakultät in Paris besonders J. Verger, La Faculté des arts, Le cadre institutionel, in L’Enseignement des disciplines à la Faculté des arts (Paris et Oxford, XIII e–XVI e siècles), Actes du colloque international, édd. O. Weijers, L. Holtz (Studia artistarum, Études sur la Faculté des arts dans les universités médiévales, 4), Turnhout 1997, 17–42, bes. 37 ff.; vgl. ebenda auch die Übersicht über die Quellen von C. Vulliez, Textes statutaires et autres sources institutionelles émanés de la Faculté des arts de Paris, Esquisse d’un bilan, 71–82, bes. 72. Zur Wortgeschichte von „ facultas“ stellt Material zusammen Weijers, Terminologie (wie Anm. 4), 52–55. 40 Eine Übersicht bei A. L. Gabriel, The Conflict Between the Chancellor and the University of Masters and Students at Paris During the Middle Ages, in Die Auseinandersetzungen an der Pariser Universität im XIII. Jahrhundert, hg. A. Zimmermann (Miscellanea mediaevalia, 10), Berlin-New York 1976, 106-54; zu den vielfältigen Konflikten im 13. Jahrhundert zuletzt mit neuen Einsichten J. Verger, Les universités françaises au Moyen Âge (Education and Society in the Middle Ages and the Renaissance, 7), LeidenNew York-Köln 1995, 68–102. Noch im späten 14. Jahrhundert hatte Pierre d’Ailly mit Jean Blanchard einen erbitterten Streit auszutragen, dazu bes. A. E. Bernstein, Pierre d’Ailly and the Blanchard Affair, University and Chancellor at Paris at the Beginning of the Great Schism (Studies in Medieval and Reformation Thought 24), Leiden 1978; auch D. Taber, The Theologian and the Schism, (wie Anm. 21).
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Angehörigen, und damit auch der aus ihrer Mitte gewählte Dekan, sich in aller Regel bereits während ihres Artistenstudiums dem Rektor und seinen Nachfolgern durch einen Gehorsamseid verpflichtet hatten, der lebenslänglich gültig bleiben sollte41. So wuchs der Rektor der Artistenuniversitas zum Symbol der Einheit der Gesamtuniversität heran. Diese selbst aber war zwar in anderer Weise strukturiert, besaß jedoch ebenso wenig eine durchgängig einheitliche Organisation wie die Bologneser Hohe Schule. Von einer allzu unterscheidungsfreudigen Entgegensetzung der Universitäten des Typus Pariser „Professorenuniversitäten“ und der der Bologneser „Studentenuniversitäten“ müssen allein diese Beobachtungen warnen. Es finden sich darüber hinaus noch weitere, sehr viel unmittelbarere Gemeinsamkeiten zwischen der Pariser Artistenuniversität und den Bologneser Juristenuniversitäten, | denn auch in der Pariser 505 Gesamtuniversität wählten den Rektor, einen Artistenmagister, keineswegs alle Teilkörperschaften, sondern allein die magistri der vier „Nationen“ als Untergliederung der Artistenuniversität. Ihrem Lebensalter nach waren die Magister der Artes-Fakultät, die meist als Studenten der höheren Fakultäten (der Jura, Medizin oder Theologie) ihre Studien fortsetzten, von den Rechtsstudenten Bolognas nicht merklich unterschieden. Beide waren sie in der Regel zwischen 20 und 30 Jahre alt, wenn gewiß auch der soziale Abstand zwischen einem angehenden Juristen und einem frischgebackenen Artistenmagister zu Ungunsten des letzteren gewaltig genannt werden muß.
IV Dieses unübersichtliche Kräftefeld, wie man es eher nennen muß, als daß wir hier eine klare Universitätsverfassung erkennen könnten, hat sich nicht überall in Europa zu identischen Regelungen entwikkelt, wenn es im Prinzip auch überall maßgebend wurde. Einmal waren nicht alle Universitäten von gleicher Größe – wobei eine genauere Schätzung der Studentenzahlen selbst für Bologna und Paris im 13. und 14. Jahrhundert auf ungemein große Schwierigkeiten 41 Allgemein vgl. etwa J. Miethke, Der Eid an der mittelalterlichen Universität, Formen seines Gebrauchs, Funktionen einer Institution, in Glaube und Eid, Treueformeln, Glaubensbekenntnisse und Sozialdisziplinierung zwischen Mittelalter und Neuzeit, hg. P. Prodi (Schriften des Historischen Kollegs/Kolloquien, 28), München 1993, 49–67 (mit weiterer Literatur).
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trifft. Ist für Paris – sehr grob gerechnet – eine Frequenz von ca. 3000 bis 4000 Studenten anzunehmen42, so dürfte Bologna diese Zahl nicht ganz erreicht haben (ca. 2000 bis 3000 Studenten43). Oxford wird – grob geschätzt – etwa 1500 bis 2000 Studenten insgesamt gezählt haben und Cambridge etwa die Hälfte dieser Zahl44. Je kleiner die Universitäten waren, desto einfacher waren sie aber auch zu organisieren. In Oxford konnten sich die Höheren Fakultäten gegenüber der Artes-Fakultät und ihren beiden Nationen, die auch dort den Rektor stellten, nicht einmal die Selbständigkeit der Pariser Fakultäten sichern, da sie auf eigene Statuten und vor allem auf eigene Dekane verzichten mußten45. Umso größer war dort dann, wie erklärlich, das faktische und institutionelle Übergewicht der Artesfakultät. Eine neue Stufe in der Organisationsgeschichte wurde erst erreicht, als die eigentliche Zeit der Universitätsgründungen begann, als man also das in Bologna, Paris und an wenigen anderen Stellen in Europa so erfolgreiche Modell einer höheren Bildungsanstalt, wie es sich an den älteren Universitäten entfaltet hatte, nun durch bewußte Gründungsakte nachzuahmen und in bisher universitätslose Gebiete zu 506 verpflanzen versuchte. Bereits seit dem 13. Jahrhundert wurden in | West- und Südeuropa Universitäten „gegründet“, etwa in Neapel (1224) oder in Toulouse (1229/1233), in Palencia (1208/1209) oder in Salamanca (1227/1228). Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts sind dann auch an der Peripherie, und das heißt für die Bildungsgeschichte zunächst in Mitteleuropa, Universitäten ins Werk gesetzt worden, in Prag (1347/49), in Krakau (1364/1400), in Wien (1365/1383), in Heidelberg (1385/86), Erfurt (1379/92), Köln (1388) usw. 42 Zahlen für Paris sind nur äußerst schwer zu gewinnen. Vgl. J. Favier, Paris au XV e siècle, 1380–1500 (Nouvelle histoire de Paris, 4), Paris 1974, bes. 68–79, mit ins einzelne gehenden Ziffern für das Spätmittelalter, das doch erheblich leichter einzuschätzen ist als das 13. und 14. Jahrhundert. Vgl. auch W. J. Courtenay, Parisian Scholars in the Early Fourteenth Century, Cambridge 1999, 19–22. 43 Bolognas Frequenz ist ebenfalls nur schwer zu erfassen, da zentrale Matrikeln bekanntlich auch hier (wie in Paris) fehlen. 44 Eine methodisch beispielhafte Schätzung aufgrund einer Computeranalyse der von Alfred Brotherston Emden kompilierten Register gab T. H. Aston, Oxford’s Medieval Alumni, „Past and Present“, 74 (1977), 3–40; dazu auch T. A. R. Evans, The Number, Origins and Carreers of Scholars, in The History of the University of Oxford, vol. 2, ed. J. I. Catto and T. A. R. Evans, Oxford 1992, 485–538, hier bes. 485–90; zu Cambridge vgl. insbesondere T. H. Aston, G. D. Duncan, T. A. R. Evans, The Medieval Alumni of the University of Cambridge, „Past and Present“, 86 (1980), 9–86 (dort 9–13 auch genauere Auskunft über die methodischen Grundlagen dieser Schätzungen). 45 Hackett, Body (wie Anm. 26) 65 mit Anm. 3.
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In Prag46 etwa hielt man sich ausdrücklich an die vorhandenen Vorbilder. Das päpstliche Gründungserlaubnisprivileg hatte zwar nur topisch davon gesprochen, daß „in der Stadt Prag für alle künftigen Zeiten ein studium generale bestehen solle in jeglicher erlaubten Fakultät“, und daß alle Universitätsangehörigen sich aller Vorrechte und Freiheiten erfreuen sollten, die an Generalstudien üblich seien47. König Karl IV. legte dann in seinem Gründungsprivileg ausdrücklich fest48, daß er „alle die Privilegien und Freiheiten, deren sich in den Universitäten (studia) von Paris und Bologna Doktoren und Scholaren erfreuen“ (wie es wörtlich heißt), auch an die Prager Universitätsbesucher verleihen wolle. Das freilich war nun jedenfalls alles andere als eindeutig. Die Organisationsstruktur der neuen Universität war dementsprechend in den Anfangsjahren auch offenbar höchst unklar und war wenig später hochkomplex. Nach einem Jahrzehnt (1360) wird von dem Kanzler, dem Prager Erzbischof Ernst von Pardubitz, festgelegt: in dicto studio sit unus rector et una universitas („in der besagten Hochschule soll es nur einen Rektor und nur eine Universität geben“), d.h. aber, wie Peter Moraw zu Recht festgestellt hat, „daß in Prag bis 1360 wenigstens zeitweise nicht nur ein Rektor und nicht nur eine universitas bestanden haben“. Offenbar hatte man sich bei den Juristen an
46 Zur Prager Gründung vgl. insbesondere P. Moraw, Die Prager Universitäten des Mittelalters, in Spannungen und Widersprüche, Gedenkschrift für Franti“ek Graus, hg. von S. Burghartz, H.-J. Gilomen, G. P. Marchal, R. C. Schwinges, K. Simon-Muscheid (Sigmaringen 1992) 109–23. Vgl. auch R. Dix, Frühgeschichte der Prager Universität, Gründung, Aufbau und Organisation, 1348–1409 (Phil. Diss. Bonn 1988), zu den Gründungsvorgängen dort (wenig prägnant): S. 87–113; ein gutes Bild zeichnet Rexroth, Universitätsstiftungen (wie Anm. 10 [doch vgl. zur Stiftungseuphorie dieser Studie die Bemerkungen von J. Miethke, „Mittellateinisches Jahrbuch“ 30 (1995), 163–69, oder D. Willoweit, „Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Germanistische Abt.“, 110 (1996), 561–63]). Vgl. jetzt auch J. Miethke, Die Anfänge der Universitäten Prag und Heidelberg in ihrem gegenseitigen Verhältnis, in Festschrift für Reinhard Schneider, hg. K. U. Jäschke, Sigmaringen 1999, 299–315. 47 Edd. K. Zeumer, R. Salomon in MGH, Constitutiones et acta publica [künftig: „Const.“] Bd. VIII, Hannover 1910–1926 [Neudruck 1982], 245 f. (nr. 161), Zitat: 246,13 f.; abgedruckt auch bei Rexroth, Universitätsstiftungen (wie Anm. 10), 65: . . . ut in dicta civitate Pragensi perpetuis futuris temporibus generale studium vigeat in qualibet licita facultate et quod legentes et studentes ibidem omnibus privilegiis, libertatibus ac immunitatibus concessis doctoribus legentibus et studentibus commorantibus in studio generali gaudeant et utantur . . . 48 Const. VIII (nr. 568), 580 f., hier 581,5: quod pivilegia, immunitates et libertates omnes, quibus tam in Parisiensi quam Bononiensi studiis doctores et scolares auctoritate regia uti et gaudere sunt soliti, omnibus et singulis inviolabiliter illuc accedere volentibus liberaliter impertimur . . . vgl. – unbestimmter – das Eisenacher Privileg, hier zitiert nach dem Regest in M. Kühn (ed.), Const. IX/1, Weimar 1974 [Neudruck Hannover 1991], 84 f. (nr. 125).
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dem Bologneser Modell orientiert, bei den Artisten an Paris. Jetzt (1360) versuchte der Erzbischof, beide Vorbilder zusammenzuzwingen: Rector eligatur per universitatem, de modo autem eligendi et de electoribus deliberetur („Der Rektor soll von der [gesamten] universitas gewählt werden, über die Wahlordnung aber und über die Wahlmänner muß noch nachgedacht werden“), heißt es lakonisch. Schließlich wird 507 bestimmt, daß beide Teile der universitas sich | abwechseln sollten: wenn ein Artist Rektor werde: habeat vicarium iuristam quoad regimen iuristarum, et e converso („soll er zum Stellvertreter in der Leitung der Juristen einen Juristen bekommen, und umgekehrt“49). Das bedeutet, daß faktisch die beiden Gruppen unvermittelt (weil unvermittelbar?) nebeneinander standen und es nur durch einen Formelkompromiß mit Wirkung nach außen den erwünschten einzigen Rektor gab. Nach innen regierte der „Vizerektor“ (wie er dann in den ersten Statuten der Universität heißen wird50) über seinen je eigenen Kreis, wie der Rektor jeweils über den seinen. Was in Bologna offen gelassen war, wurde hier nur verbal geschlossen. Die Konstruktion von 1360 hielt denn auch nicht lange; schon 1372, wiederum gut ein Jahrzehnt später, trennten sich die Wege der beiden Teilkörperschaften endgültig. In diesem Jahre wurde die Wahl eines Artistenmagisters zum Rektor der Gesamtuniversität von den Juristen nicht akzeptiert. Die Juristen wählten daraufhin einen eigenen Rektor und gewannen dafür die Billigung Karls IV. Hinfort gab es in Prag an dem einen Studium (ähnlich wie in Bologna) zwei universitates mit je einem Rektor, nur waren das – anders als in Bologna – nicht zwei Juristenuniversitäten, und von einer wechselseitigen Vertretungsvollmacht der beiden Rektoren untereinander ist ebensowenig zu hören wie von gemeinsamen Statuten. Die Prager Universität hat nur noch wenige Jahrzehnte bis zu ihrem Untergang in der Hussitenzeit die Tragfähigkeit dieser unklaren Lage erproben können. Ein Vorbild für die anderen deutschen
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Text in Monumenta historica universitatis Pragensis, vol. II.2: Codex diplomaticus almae Carolo-Ferdinandeae Universitatis Pragensis, Prag 1832, 229–31 (nr. IV); dazu P. Moraw, Die Juristenuniversität in Prag (1372–1419), verfassungs- und sozialgeschichtlich betrachtet, in Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters (Vorträge und Forschungen, 30), Sigmaringen 1986, ed. J. Fried, 439–86, hier 446; vgl. bereits Rashdall, Universities (wie Anm. 2), Bd. 3, 208 A. 2. Nichts darüber bei Dix, Frühgeschichte (wie Anm. 46). 50 Text in Monumenta historica universitatis Pragensis, vol. III: Statuta universitatis Pragensis, edd. A. Dittrich und A. Spirk, Prag 1843, 1 ff.; ‚vicerector‘ etwa 5 f. (§ 6).
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Universitätsgründungen hat sie mit dieser Unentschiedenheit aber nicht abgegeben, auch nicht abgeben können, unangesehen der Frage, ab wann die Universität Prag so gefestigt war, daß sie für andere Gründungsversuche ein Vorbild überhaupt sein konnte. Heidelberg, Köln und Erfurt werden allesamt, obwohl in aller Regel von Magistern und Studenten mit Prager Erfahrungen anfänglich besucht51, nach einem vereinfachten Pariser Modell gegründet. In Heidelberg z.B., wo die Gründungsdokumente – offensichtlich auf Drängen des pfalzgräflichen Gründungsbeauftragten, des Pariser Magisters Marsilius von Inghen, mehrfach ausdrücklich und ausschließlich das Pariser Modell beschwören, an das man sich strikt anlehnen solle52, wurde zwar zunächst die | Rektorwahl aktiv wie passiv der Artesfakultät 508 vorbehalten, desgleichen wurde nach Pariser Usus das Amt des Rektors zunächst auf drei Monate beschränkt. Doch bereits sieben Jahre nach der Gründung, im Juni 1393, wurde diese Regulierung umgestoßen. In Anlehnung an die Usancen der Prager Dreifakultätenuniversität konnten künftig die Rektoren aus allen vier Fakultäten durch alle vier Fakultäten gewählt werden, die Amtsdauer des Rektors wurde auf ein halbes Jahr (und damit auf die doppelte Länge des Pariser Vorbilds) fixiert53.
51 Dazu besonders S. Schumann, Die ‚nationes‘ an den Universitäten Prag, Leipzig und Wien, Ein Beitrag zur älteren Universitätsgeschichte (Phil. Diss. FU Berlin 1974), die aus den verschiedenen Matrikeln die bisher genauesten prosopographischen Listen für die Wanderungen von Prager Scholaren erstellt hat. 52 Bereits die Gründungsurkunde des Pfalzgrafen Ruprecht I. betont das unmißverständlich, hier zitiert nach: Acta universitatis Heidelbergensis, Tomus I (simul Acta facultatis iuridicae, tomus I), fasciculus 1 = Die Rektorbücher der Universität Heidelberg, Bd. I (1386–1410), Heft 1, edidit J. Miethke curantibus H. Lutzmann, H. Weisert, adlaborantibus N. Martin, T. Pleier (Libri actorum Universitatis Heidelbergensis/Die Amtsbücher der Universität Heidelberg, A I/1–2), Heidelberg 1986, 33–36 (nr. 5), hier 34,10–14: . . . provido consilio perpetuis temporibus in illo statuimus observandum ut universitas studii Heidelbergensis regatur disponetur et reguletur modis et manieribus in universitate Parisiensi solitis observari ac ut Parisiensis studii ut pedissequa utinam digna modis convenientibus gressus imitetur . . . – dieselbe Bestimmung enthält natürlich auch die zusammenfassende jährlich in Heidelberg zur Verlesung gebrachte deutsche Urkunde des Pfalzgrafen, in der die Rechtsstellung der Universität umfassend beschrieben werden sollte, ebenda 114–17 (nr. 58), hier 115,7–11. Ebenso vgl. auch den zeitnahen normativ gemeinten Gründungsbericht des Marsilius von Inghen, zuletzt gedruckt ebenda 146–49 (nr. 72 f.), hier 147, 15–18: . . . exstitit supplicatum, quatenus in opido eorum insigni de Heydelberga Wormaciensis diocesis generale studium in omnibus facultatibus ad instar studii Parisisensis omnibus privilegiis illi Parisiensi studio concessis insignitum institui dignaretur. . . . 53 Im einzelnen etwa J. Miethke, Marsilius von Inghen als Rektor der Universität Heidelberg, in Marsilius of Inghen, Acts of the International Marsilius of Inghen Symposium Organized by
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Auch sonst wurde das Pariser Modell durchgreifend vereinfacht. Die nach diesem Vorbild ursprünglich vorgesehenen Nationen in der Artesfakultät kamen mangels Studentenzustroms in Heidelberg ebensowenig zustande, wie auch andere Pariser Einrichtungen hier nicht wiederauflebten. Das vereinfachte Modell aber, das sich – in einigen Abwandlungen – auch alsbald in Köln, Erfurt, Leipzig, Löwen (usw.) durchsetzte und das für alle späteren nordalpinen Universitäten maßgeblich werden sollte, hat die Diskrepanzen zwischen universitas und studium endlich, freilich auf einem relativ kleinen gemeinsamen Nenner, bereinigt. Die Universität hatte eine Form gefunden, die bis zum 19. Jahrhundert, letztlich bis zur Berliner Reform Wilhelms von Humboldt, ihr Leben prägen und bestimmen konnte.
V Der genossenschaftlichen universitas gegenüber setzten sich mit dem Vierfakultätenmodell die eher anstaltlichen Momente durch, dem ursprünglichen Prinzip der Selbstorganisation von Scholaren und Magistern in der Fremde gegenüber kam das Prinzip der privilegierten, nach einem funktionierenden Vorbild eingerichteten Hochschule zur Geltung und gewann auf die Dauer die Oberhand. Es erscheint kein Zufall, daß jetzt überall in Europa, parallel dazu, auch andere Momente der Stabilisierung und „Veranstaltlichung“ kräftig in den Vordergrund rückten: Um nur die auffälligsten zu nennen, entwickelte sich (auch in Paris) im Laufe des 14. Jahrhunderts die Karriere eines Magisters an der Artes-Fakultät, die bis dahin nur Durchgangsstadium zu neuen Leitersprossen einer Karriere innerhalb oder außerhalb der Hochschule gewesen war, mehr und mehr zu einem Lebensberuf. Auch in Paris, erst recht aber an den kleinen Neugründungen Mitteleuropas begegnen uns hinfort die Namen derselben Artistenmagister für Jahre und Jahrzehnte. Auch an den Artistenfakultäten entsteht, nach Vorgang und Vorbild der höheren Fakultäten, der Sozialtypus 509 des langjährig, wenn nicht lebenslang lehrenden Professors54. | the Nijmegen Center for Medieval Studies (CMS), Nijmegen, 18–20 december 1986, edd. H. A. G. Braakhuis, M. J. F. M. Hoenen (Artistarium, Supplementa 7), Nijmegen 1992, 13–37. 54 Zu diesem nicht allzu häufig behandelten Problem zuletzt insbesondere P. Moraw, Improvisation und Ausgleich, Der deutsche Professor tritt ans Licht, in Gelehrte im Reich (wie Anm. 1), 309–26.
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Damit aber war auch das Finanzierungssystem der Anfänge nicht ohne Wandlung mehr durchzuhalten55. Die Universitäten des 13. Jahrhunderts waren weitgehend ohne eine wirtschaftliche Fundierung ausgekommen. Durch ihre vertragsgemäß regelmäßigen Zahlungen, zu denen sich die Studenten „ihren“ Magistern und Doktoren gegenüber zu verpflichten hatten, durch ihre sogenannte collecta, finanzierte sich das System zunächst (zumindestens idealiter) weitgehend aus sich selbst. Da die Artistenmagister in aller Regel zugleich an den höheren Fakultäten weiterstudierten, war dadurch für eine Finanzierung einer erheblichen Zahl von Studierenden gleichsam institutionell gesorgt56. In beiden Universitätstypen dieser älteren Zeit freilich gab es frühe Ansätze zu einer gewissen supplementären Verstetigung dieses äußerst flüssigen und deshalb für die davon abhängigen Magister und Doktoren recht ungewissen Systems. Zunächst konnten für alle Fakultäten zu Hause aufgebrachte und an den Studienort transferierte Summen, die aus dem Familienvermögen oder einer heimatlichen Pfründe stammen mochten, dieses System flankierend entlasten. Fromme Stiftungen von Collegien für mittellose Artistenmagister sind als weitere Stützmaßnahmen seit den frühesten Anfängen, ja aus der Zeit vor der endgültigen Ausbildung der Universitäten, der Zeit der Schulen, bekannt. Sie erreichen in dieser frühen Zeit freilich nirgendwo eine auffällig große Zahl von Plätzen. Nach den Listen solcher Collegien für Paris sind – abgesehen von den Studienhäusern der religiösen Orden und Abteien – im 12. Jahrhundert zwei und im 13. Jahrhundert neun derartige fromme Stiftungen errichtet worden, im 14. Jahrhundert dann, zähle ich richtig, achtzehn, im 15. Jahrhundert noch zwölf 57. Selten – und 55 Vgl. zusammenfassend J. Miethke, Kirche und Universitäten, Zur wirtschaftlichen Fundierung der deutschen Hochschulen im Spätmittelalter, in Litterae Medii Aevi, Festschrift für Johanne Autenrieth zu ihrem 65. Geburtstag, hgg. von M. Borgolte und H. Spilling, Sigmaringen 1988, 265–76. 56 Das hat mit Recht herausgestellt etwa A. Seifert, Studium als soziales System, in Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters, hg. J. Fried (Vorträge und Forschungen, 30), Sigmaringen 1986, 601–19. Zur collecta in Bologna bereits die gut belegten Ausführungen von Rashdall, Universities (wie Anm. 2) Bd. 1, 210 f., auch Steffens, Autonomie (wie Anm. 15), 184–86. Für Paris vgl. die farbigen Quellenzitate von der Wende zum 13. Jahrhundert, der Anfangszeit der Universität, bei J. W. Baldwin, Masters, Princes and Merchants, The Social Views of Peter the Chanter and his Circle, Princeton, N.J., 1970, vol. 1, 124–30 (mit den Anmerkungen vol. 2, 84–88). 57 Eine Liste der Pariser Collegiumsgründungen etwa in University Records and Life in the Middle Ages, ed. L. Thorndike (Records of Civilization, Sources and Studies, 38),
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niemals vor der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts – wurde für eine einzelne Gründung eine höhere Zahl von Plätzen als zwanzig erreicht. Im 14. Jahrhundert wird dann dieser Ansatz zur Stabilisierung und Verstetigung einen zuvor ungeahnten Aufschwung nehmen, auch in Paris, besonders bemerkenswert aber in Oxford. Nicht nur steigern sich, wie wir gesehen haben, die Zahlen der einzelnen Gründungen, auch die Zahl der Plätze, die zur Verfügung gestellt werden, nimmt unerwartet steil zu, am spektakulärsten in Oxford, wo die 1379 abgeschlossene Gründung des „New College“ mit einem Schlage 510 nicht weniger als 70 Plätze schafft58. | In Bologna lassen sich, vielleicht weil es dort nicht ganz so viele pauperes scholares gab wie in Paris oder Oxford, zumindest auch noch andere Ansätze zu einer Verfestigung und Verstetigung des Finanzierungssystems erkennen. Hier nahm sich die Commune der Stabilisierung des Studiums an59. Bereits im 13. Jahrhundert beginnt die Phase, in der die Stadtgemeinde Rechtsprofessoren aus ihrem eigenen Etat besoldet. Die sogenannten doctores salariati tauchten auf, die freilich jeweils nur für eine zunächst relativ kurze Zeit eine Anstellung mit solch festem „Gehalt“ erreichten. In den Neugründungen Mitteleuropas verstärkt sich dann dieselbe Tendenz. In Prag wird 1366 für 12 Magister der Artes und Studenten der Theologie von Karl IV. das Collegium Carolinum gestiftet60. Karl IV. war es auch, der 1373, nach der Trennung der Juristen von der Dreifakultätenuniversität der Artisten, Mediziner und Theologen, ein eigenes Collegium für Juristen ins Leben rief, ein Kolleg, das ebenfalls, wie das Carolinum, für Universitätslehrer und nur für Universitätslehrer bestimmt war61. Den New York 1944 [Neudruck etwa 1975], 433–51. Vgl. jetzt auch etwa S. Lusignan, L’enseignement des arts dans les collèges parisiens au Moyen Âge, in L’enseignement des disciplines (wie Anm. 39), 43–54. 58 Zu New College in Oxford vor allem G. F. Lytle, Patronage Patterns and Oxford Colleges, c. 1300–c. 1530, in The University in Society, ed. L. Stone, Princeton, N.J. 1974, vol. I, 111–49; denselben, The Social Origins of Oxford Students in the Late Middle Ages, in Les Universités à la fin du moyen âge, édd. J. Paquet et J. IJsewijn (Université Catholique de Louvain, Publications de l’Institut d’Études Médiévales, II.2), Louvain 1978, 426–54. Jetzt auch die Übersicht bei A. B. Cobban, Colleges and Halls, 1380–1500, in The History of the University of Oxford, vol. 2 (wie Anm. 44), 581–633, bes. 581–99, sowie T. A. R. Evans, R. J. Faith, College Estates and University Finances, 1350–1500, ebenda, 635–707, bes. 643–49. 59 Etwa G. Rossi, ‚Universitas scholarium‘ e Comune (sec. XII–XIV), „Studi e memorie per la storia dell’Università di Bologna“, n.s. 1 (1956), 173–266. 60 Vgl. etwa Rashdall, Universities (wie Anm. 2) vol. 2, 220 f. 61 Vgl. etwa P. Moraw, Die Universität Prag im Mittelalter, Grundzüge ihrer Geschichte im europäischen Zusammenhang, in Die Universität zu Prag (Schriften der Sudetendeutschen
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finanziellen Bedürfnissen half bei der 1365 geplanten und 1383 erneuerten Gründung einer Universität in Wien62 wie 1385/86 in Heidelberg der fürstliche fundator, durch unmittelbare Zahlungen an bestimmte Professoren auf, die er dementsprechend in seinen fürstlichen Rat als familiares einschwören ließ63. Auf die Dauer aber war eine unmittelbare Finanzierung aus dem laufenden Etat der Stadt oder des Landesherrn angesichts der chronischen Geldknappheit des frühmodernen Fürstenstaates eine zu unsichere Grundlage. Selbst bei städtischen Gründungen war diese Form der Anschubfinanzierung nur in Ausnahmefällen, z.B. in Basel64, für eine längere Zeit wirksam. Auf die Dauer versuchten alle Universitäten, kirchliches Pfründvermögen in der einen oder | anderen Form für 511 ihre Zwecke nutzbar zu machen, wie ja seit langem die persönliche Pfründausstattung von Studenten und Dozenten ein Studium erleichtert hatte. Am Ende des 14. Jahrhunderts entsteht in Deutschland der Typus des „Universitätsstifts“65, dessen Pfründen einem gewissen Kreis von Universitätslehrern ein Auskommen und seit der Mitte des 15.
Akademie der Wissenschaften und Künste, 7), München 1986, 9–134, hier 40. Auch in Heidelberg entsteht dann, mit einiger Verspätung, das Heiliggeiststift 1406–1413, vgl. insbesondere H. Weiser, Universität und Heiliggeiststift, Teil I–II, „Ruperto Carola“, 64 (1980), 55–77, 65/66 (1981), 72–87. 62 Die erste Gründung behandelt ausführlich zuletzt etwa Rexroth, Universitätsstiftungen (wie Anm. 10) 108–46. Zum zweiten Anlauf vgl. etwa P. Uiblein, Die Wiener Universität im 14. und 15. Jahrhundert (Schriftenreihe des Universitätsarchivs, 2). Wien 1987; zuletzt ganz knapp K. Mühlberger, Die Gründung der Universität Wien, in 625 Jahre Universität Wien, Die Anfänge der Universität Wien, Sonderausstellung im Senatssaal, Wien 1990, 13 f. 63 Für Heidelberg vgl. die Verpflichtung des Marsilius von Inghen durch den Pfalzgrafen am 29. Juni 1386, gedruckt in: Urkundenbuch der Universität Heidelberg, hg. E. Winkelmann, Heidelberg 1886, Bd. 1, 4 f. (nr. 3). Diese Verpflichtung eines Gründungsbeauftragten erfolgte also unmittelbar nach dem eigentlichen Entschluß zur Universitätsgründung, der im pfalzgräflichen Rat einen Tag nach Eintreffen der päpstlichen Gründungserlaubnis am 25. Juni 1386 auf Schloß Wersau gefaßt worden war, vgl. den Gründungsbericht des Marsilius (wie Anm. 52), 25–35, 147. 64 Vor allem J. Rosen, Die Universität Basel im Staatshaushalt 1460–1535, Die Gehälter der Dozenten, „Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde“, 72 (1972), 137–219. 65 Zum Typ des Universitätsstifts in Deutschland vgl. besonders P. Moraw, Zur Typologie, Chronologie und Geographie der Stiftskirche im deutschen Mittelalter, in Untersuchungen zu Kloster und Stift (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 68), Göttingen 1980, 9–37, hier 29 f.; vgl. auch Miethke, Fundierung (wie Anm. 55), bes. 271 ff.; P. Moraw, Stiftspfründen als Elemente des Bildungswesens im spätmittelalterlichen Reich, in Studien zum weltlichen Kollegiatstift in Deutschland, hg. von I. Crusius (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 114 = Studien zur Germania Sacra, 18), Göttingen 1995, 270–97.
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Jahrhunderts sogar (in Grenzen) eine Alterspension ohne Lehrverpflichtung ermöglichten. In Prag, Wien, Leipzig und Heidelberg, in Erfurt und – mit einigen Nuancen – in Köln setzt sich dieser Typ durch, der der Universität einen organisatorischen Halt gab, zugleich aber auch die Tendenz verschärfte, vor allem oder ausschließlich als Universitätsangehörige die dauerhaft auf diese Weise dem Studium verbundenen Personen anzusehen, die bepfründeten magistri regentes, während Studenten und andere Universitätsverwandte, selbst wenn sie promoviert waren – sofern sie nicht zu diesem bevorzugten Kreis gehörten – mehr und mehr als nicht selb-ständig Stimmberechtigte, als supposita, „Untertanen“, des privilegierten Rechtsbereiches Universität bzw. ihrer Amtsträger (wie etwa des Rektors) erscheinen. Wir hatten hier die Entwicklung der Verfassung mittelalterlicher Universitäten in einigen mir wichtig erscheinenden Momenten zu verfolgen. Viele wesentliche Fragen wurden nur gestreift, eine noch größere Zahl von Problemen konnte nicht einmal berührt werden. Es kam mir vor allem darauf an, die Plastizität und Ungeklärtheit der Lage, wie sie sich dem Historiker, aber auch bereits dem Zeitgenossen darstellte, sichtbar zu machen, da allein damit die starken Konflikte verständlich werden, auf die der Historiker auch in den mittelalterlichen Universitäten auf Schrift und Tritt stößt. Von diesen einzelnen Konflikten selbst konnte in unserem knappen Bericht nicht die Rede sein. Wenn wenigstens einige der Orientierungs- und Definitionsschwierigkeiten deutlicher geworden sein sollten, um die in den verschiedenen Auseinandersetzungen so erbittert gerungen worden ist, hätte die Verfassungsgeschichte der mittelalterlichen Universitäten jenseits ihrer bunten Oberfläche an Übersichtlichkeit gewonnen. Und darauf kam es mir hier an.
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DER EID AN DER MITTELALTERLICHEN UNIVERSITÄT FORMEN SEINES GEBRAUCHS, FUNKTIONEN EINER INSTITUTION*
Daß eine Universität gegründet wird, erscheint heute selbstverständlich, so selbstverständlich, daß bei gerundeten Jahreszahlen feierliche Jubiläumsveranstaltungen stattfinden, zu denen sich, je höher das Alter der Festuniversität ist, mit um so größerer Wahrscheinlichkeit die führenden Staatsmänner des Landes mit den Vertretern der betreffenden Universität und der Universitäten überhaupt versammeln, um im festlichen Rahmen historische Rückschau zu halten. 1985/86 war es Heidelberg, das auf diese Art das 600. Jubiläum seines Bestehens feierte, 1988/89 dann Köln, und im Jahr 1988 hat auch Bologna, eine der ältesten Universitäten Europas, ihres 900 jährigen Geburtstages aufwendig gedacht. Das letzte Beispiel kann aber zugleich deutlich machen, daß es mit der Gründung einer Universität und der Feier ihres Geburtstages so ganz einfach wieder nicht ist. Das Datum 1088, auf das man für Bologna durch Zurückrechnen stößt, ist mehr oder minder willkürlich am Ende des 19. Jahrhunderts gewählt worden, um im Jahre 1888 ein schönes rundes Jubiläumsfest begehen zu können. Jetzt, 100 Jahre später, sah man sich offensichtlich unter dem Zwang, Konsequenzen zu zeigen. Hier soll dies Datum nicht diskutiert werden, das für höheren Unterricht in Bologna ohne Zweifel zu spät liegt, für eine institutionelle Universität aber ebenso unzweifelhaft zu früh1. * Der Text des Referats vom 10. Juli 1991 ist hier nur unwesentlich, insbesondere durch die Hinzufügung von Nachweisen erweitert worden. Das Manuskript wurde im September 1991 abgeschlossen, später erschienene Literatur wurde nur noch in Ausnahmefällen berücksichtigt. 1 Klassische Studien zur Universitätsentstehung (von Charles Homer Haskins, Herbert Grundmann, Giorgio Cencetti, Sven Stellin-Michaud) sind – in italienischer Übersetzung – versammelt in: Le origini dell’Università, ed. Girolamo Arnaldi (Bologna 1974); Bolognas Anfänge diskutierte neuerlich ausführlich etwa Helmut G. Walther, Die Anfänge des Rechtsstudiums und die kommunale Welt Italiens im Hochmittelalter, in: Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters, hrsg. von Johannes Fried (Vorträge und Forschungen 30, Sigmaringen 1986) 121–162.
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Das Exempel soll uns nur daran erinnern, daß die mittelalterlichen Universitäten eben gerade dann, wenn sie zu den älteren und für die späteren Gründungen vorbildlichen Einrichtungen gehören, nicht einen eigentlichen Geburtstag haben, keinem Gründungsprozeß begrenzter Dauer ihre Existenz verdanken, sondern einem langwierigen Weg, 50 der schwer zu durchschauen und schlecht dokumentiert ist. | Über ihre eigene Geschichte hatten mittelalterliche Universitäten überhaupt keine sehr genauen Vorstellungen entwickelt. In den beiden ältesten von ihnen, in Paris und Bologna, war man sich wohl nur bewußt, daß sich die Spur des eigenen Ursprungs im Dunkel verlor. Spät sorgte lokaler Eifer für eine Fixierung, bezeichnenderweise weit von den Ergebnissen der modernen historischen Kritik abweichend: Paris glaubte sich von Karl dem Großen gegründet2, in Bologna konnte man sogar seit dem 13. Jahrhundert (seit 1226/1234) den Text eines großen Privilegs des oströmischen Kaisers Theodosius II. vorweisen (das angeblich aus dem Jahre 423 stammte)3. Nur war dieses Diplom leider eine Fälschung, wie auch die Einschübe in Chroniken und andere Quellen, mittels deren sich Oxford und Cambridge dann im 16. Jahrhundert auf frühmittelalterliche und sogar spätantike Fürsten und Päpste zurückführen wollten4. Für das universitäre Leben hatte dieser Wettlauf in fiktive Wunschzeiten jedenfalls jenseits der Ausprägung lokalen Stolzes und des Ausdrucks der Empfindung, seit unvordenklichen Zeiten zu existieren und Existenzrecht zu haben, keinerlei konkrete Bedeutung. Mittelalterliche Juristen hatten bekanntlich bescheidene Anforderungen an 2 Etwa Hermann Ulrich Kantorowicz, A medieval grammarian on the sources of the law, in: Tijdschrift voor rechtsgeschiedenis 15 (1937) 25–47, jetzt in: Kantorowicz, Rechtshistorische Schriften, hrsg. von Helmut Coing und Gerhard Immel (Freiburger Rechts- und Staatswissenschaftliche Abhandlungen 30, Karlsruhe 1970) 93–110, hier bes. 47 bzw. 110; allgemein dazu jetzt Astrik L. Gabriel, „Translatio studii“, Spurious dates of foundation of some early universities, in: Fälschungen im Mittelalter, Teil I (MGH Schriften 33/1, Hannover 1988) 601–626, hier 605–610. Natürlich wurde auch Bologna mit Karl dem Großen in Verbindung gebracht, Gabriel, 612 ff. 3 Ed. Gina Fasoli und Giovanni Battista Pighi, Il privilegio teodosiano, edizione critica e commento, in: Studi e memorie per la storia dell’Università di Bologna, n.s. 2 (1961) 55–94 (Text 60–64). Vgl. dazu besonders Arno Borst, Geschichte an mittelalterlichen Universitäten (Konstanzer Universitätsreden 17, Konstanz 1969) 23 ff.; jetzt [ohne die Nachweise] in Borst, Barbaren, Ketzer und Artisten, Welten des Mittelalters (München, Zürich 1988) hier 187 ff.; auch Gabriel, (wie Anm. 2) 612–617 (das Datum der gefälschten „second charter“ ist freilich auf 423 zu berichtigen!). 4 Zuletzt dazu Gabriel, (wie Anm. 2) 618–622 (für Oxforder Bemühungen um fiktive Daten) 622–626 (für Cambridge). Noch 1882 feierte das University College in Oxford das „tausendjährige“ Bestehen der Universität mit Aplomb, vgl. Gabriel, 621.
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eine rechtsbegründete Zeitdauer. Durch die Fristen der Verjährung im Römischen Recht, die über 100 Jahre, den allgemein auch heute noch fast magisch den Zeithorizont eingrenzenden Zeitraum5, mit guten Gründen nicht hinausgehen, vielmehr sich meist schon mit wesentlich knapperen Zeitspannen, etwa der von 30 Jahren, und damit einer Frist im unmittelbaren Horizont einer Generation, zufrieden gaben6, waren sie ja nicht verwöhnt. Die gelehrten Juristen zeigten sich solch weit zurückweisenden Datierungswünschen gegenüber wenn nicht gefeit, so doch uninteressiert. Sie gaben | eine weit knap- 51 pere Auskunft, wenn sie die älteren Universitäten, wie Paris oder Bologna, Oxford oder Cambridge, nüchtern „studium generale ex consuetudine“ nannten und es damit von jedem jüngeren „studium generale ex privilegio“ unterschieden, das seine Existenz als Anstalt höheren Unterrichts in den Wissenschaften auf ein ausdrückliches Privileg zurückführte7. Diese Unterscheidung wurde zwar gemacht, für die Rechtsstellung der jeweiligen Universität wurden aber daraus keine unmittelbaren Folgerungen gezogen8. Diese Differenz war somit deskriptiv, nicht
5 Arnold Esch, Zeitalter und Menschenalter. Die Perspektiven historischer Periodisierung, in: HZ 239 (1984) 309–351. 6 Vgl. etwa Helmut G. Walther, Das gemessene Gedächtnis, Zur politisch-argumentativen Handhabung der Verjährung durch gelehrte Juristen des Mittelalters, in: Mensura – Maß – Zahl, Zahlensymbolik im Mittelalter, hrsg. von Albert Zimmermann (Miscellanea mediaevalia 16/1, Berlin [usw.] 1983) 212–233; zum technischen Verständnis der Verjährung bei Kanonisten, Theologen und Legisten etwa Noël Vilain, Préscription et bonne foi du Décret de Gratien (1140) à Jean d’André († 1348) in: Traditio 14 (1958) 121–189. 7 Vgl. schon Heinrich Denifle, Die Entstehung der Universitäten des Mittelalters bis 1400 (Berlin 1885, Neudruck Graz 1956) 231. Zu den Forschungskontroversen um die Bedeutung des Begriffs „Studium generale“ zuletzt ausführlich Olga Weijers, Terminologie des universités au XIIIe siècle (Lessico intellettuale europeo 39, Rom 1987) 34–45. Vgl. auch für das frühe Bologna Johannes Fried, Die Entstehung des Juristenstandes im 12. Jahrhundert, Zur sozialen Stellung und politischen Bedeutung gelehrter Juristen in Bologna und Modena (Forschungen zur Neueren Privatrechtsgeschichte 21, Köln, Wien 1974) 7–9. 8 Natürlich kann man aber die Universitäten von anderen „studia“ unterscheiden, vgl. z.B. Konrad von Megenberg, Yconomica, III/1, c. 3, ed. Sabine Krüger, Bd. III (MGH, Staatsschriften III,5/3, Stuttgart 1984) 23,7–13: „Alia quoque divisio scolarum dari poterit, ut dicatur, quod scolarum alia est autentica, alia vero levinoma. Et autentica est, cuius studia privilegiis apostolicis, imperialibus quoque libertatibus sunt laudabiliter fundata, sicut scole Parisiensis, Bononiensis, Padaviensis et Oxoniensis. Levinoma autem scola est, que levis nominis est carens privilegiis principum mundi, sicut in Teutonia scole sunt Erfordensis, Viennensis et huiusmodi.“ (Der Text ist ca. 1350 zu datieren, also vor den Universitätsgründungen von Wien und Erfurt entstanden!).
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normativ. Kaum jemand wäre im Mittelalter auf die Idee gekommen, aus der Beobachtung, daß für einige Universitäten ein Gründungsakt und eine Gründungsurkunde nicht aufzufinden waren, nun etwa den Schluß zu ziehen, solche Universitäten wären nicht richtige und gültige Hochschulen, waren doch gerade die ältesten und angesehendsten Universitäten, die für viele weitere als Vorbild und Muster gedient hatten und weiterhin dienten, dieser Art. Der Historiker heute sieht sich damit auf eine Tatsache verwiesen, die er bei der Beschäftigung mit jüngeren Universitäten leicht vergißt: die mittelalterliche europäische Universität definiert sich zunächst nicht primär als Stiftung aus einem Gründerwillen, so wichtig im Einzelfall dieser auch als Rückhalt und Stütze in den schwierigen Zeiten eines stürmischen Anfangs gewesen sein kann9. Ein „studium generale“ war nicht primär durch den hoheitlichen Akt begründet, der es als solches anerkannte, es bestimmte sich aus der Erfüllung seiner Funktion, wie schon sein Name (studium generale) sagt. Die mittelalterliche Hochschule verstand sich als eine Schule, die allgemeine Anerkennung genoß. Solche allgemeine Anerkennung, wie sie auch im Privileg eines Generalstudiums nur gleichsam formalisiert wurde, galt nicht allein, ja nicht einmal in erster Linie, der Existenz des Unterrichtsbetriebes, 52 sondern auch dem „Lehrerfolg“ dieses Unterrichts, | genauer gesagt den Personen, die dort unterrichteten, vor allem jenen, die dort in den Kreis der Lehrenden aufgenommen wurden, die dort ihre „gradus“ erwarben. Ohne uns hier in die komplexe Geschichte der mittelalterlichen Graduierung verlieren zu wollen10, ist doch so viel deutlich: Solche Graduierung war nicht vordringlich ein Qualifikationszertifikat (wenn auch schon früh, bereits im 12. und 13. Jahrhundert, die Gra9 Die Bedeutung des Stifterwillens scheint mir überschätzt bei Michael Borgolte, Freiburg als habsburgische Universitätsgründung, in: Zeitschrift des Breisgau-Geschichtsvereins „Schau-ins-Land“ 107 (1988) 33–50; vgl. eine abgewogene Stellungnahme zur „Weiterwirkung“ des mittelalterlichen Stiftungsgedankens bei Ernst Schubert, Motive und Probleme deutscher Universitätsgründungen des 15. Jahrhunderts, in: Beiträge zu Problemen deutscher Universitätsgründungen der frühen Neuzeit, hrsg. von Peter Baumgart und Notker Hammerstein (Wolfenbütteler Forschungen 4, Nendeln/ Liechtenstein 1978) 13–74, hier 25 ff. 10 Vgl. aber die Hinweise bei Bernd Michael, Johannes Buridan, Studien zu seinem Leben, seinen Werken und zur Rezeption seiner Theorien im Europa des späten Mittelalters (Phil. Diss. FU Berlin 1978, Berlin 1985) bes. 136–159; eine sozialgeschichtliche statistische Untersuchung der Graduierungen einer Nation der Pariser Artistenuniversität im 14 Jahrhundert legte jüngst vor Mineo Tanaka, La nation anglo-allemande de l’Université de Paris à la fin du moyen âge (Mélanges de la Bibliothèque de la Sorbonne 20, Paris 1990).
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duierten stolz ihren Grad als Titel zu führen wußten11), sondern vor allem ein Eintrittsbillet in den Kreis der Lehrberechtigten. Entscheidend kam es also für die am „studium“ Unterrichtenden darauf an, wer den Zugang zu dieser Personengruppe kontrollierte, die den Unterricht erteilte. Ein Hauptunterschied zwischen den allgemeinen „studia generalia“ und den Ordensschulen der Bettelorden, die bis ins 14. Jahrhundert hinein eine große Konkurrenz der Universitäten waren, war ja, daß die Mendikanten durch ihre Ordensorgane die Personalhoheit wahrnahmen und auf den Kapiteln oder durch die Oberen festlegten, wer wo was zu unterrichten hatte12. Die Geltung einer Schule als „studium generale“ schloß daher, zumindest im Prinzip, die Anerkennung des Lehrerfolges ein: Wer unter die Lehrer an solch einem „studium“ aufgenommen war, der sollte auch anderwärts an einem Generalstudium unterrichten können, er sollte, wie es die Pariser Magister wohl am frühesten formuliert haben, das „ius ubique docendi“ haben, das Recht, überall aner53 kannt lehren zu dürfen13. |
11 Das allein macht ja solche Untersuchungen möglich wie die von Christine Renardy, Le monde des maîtres universitaires du diocèse de Liège 1140–1350, Recherches sur sa composition et ses activités (Bibliothèque de la Faculté de Philosophie et Lettres de l’Université de Liège 227, Paris 1979); vgl. auch Jürgen Miethke, Die Kirche und die Universitäten im 13. Jahrhundert, in: Schulen und Studium (wie Anm. 1) 285–320. 12 Zu den Ordensschulen vor allem Dieter Berg, Armut und Wissenschaft, Beiträge zur Geschichte des Studienwesens der Bettelorden im 13. Jahrhundert (Geschichte und Gesellschaft: Bochumer Historische Studien 15, Düsseldorf 1977); Le scuole degli ordini mendicanti [secoli XIII–XIV], (Convegni del Centro di Studi sulla Spiritualità médiévale 17, Todi 1978); Isnard Wilhelm Frank, Die Bettelordensstudia im Gefüge des spätmittelalterlichen Universitätswesens (Institut für europäische Geschichte Mainz, Vorträge 83, Stuttgart 1988). – Für ein Land: William J. Courtenay, Schools and Scholars in Fourteenth Century England (Princeton, N.J. 1987) 56–87. – Für eine Region: Kaspar Elm, Mendikantenstudium, Laienbildung und Klerikerschulung im spätmittelalterlichen Westfalen, in: Studien zum städtischen Bildungswesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, hrsg. von Bernd Moeller, Hans Patze, Karl Stackmann (Abh. der Akad. d. Wiss. in Göttingen III 137, Göttingen 1983) 586–617; jetzt in: Elm, Mittelalterliches Ordensleben in Westfalen und am Niederrhein (Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte 27, Paderborn 1989) 184–213; William J. Courtenay, The franciscan „studia“ in southern Germany in the fourteenth century, in: Gesellschaftsgeschichte, Festschrift für Karl Bosl zum 80. Geburtstag, hrsg. von Ferdinand Seibt (München 1988) Bd. II, 81–90. 13 Zum Terminus wieder der Forschungsbericht bei Weijers, Terminologie (wie Anm. 7) 46–51, 386–391; zur Realität auch William J. Courtenay, Teaching Careers at the University of Paris in the Thirteenth and Fourteenth Centuries (Texts and Studies in the History of Medieval Education 17, Notre Dame, Indiana 1988) 17–19. Jetzt Tanaka, (wie Anm. 10) passim.
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Freilich ist dies erst eine späte Systematisierung, die nicht ohne heftigen Streit und schwere Auseinandersetzungen zwischen den Magistern und dem Vertreter des Bischofs erreicht worden ist, die aber schließlich sich so allgemein durchsetzen konnte, daß die Erringung des „ius ubique docendi“ schließlich fast synonym mit dem Status eines „studium generale“ werden konnte14: ein „studium generale“ war demnach eine Hochschule, deren Graduierungen überall Geltung hatten. Die Verleihung der Grade, die Promotion zum Magister, zum Doktor, samt den allmählich sich herauskristallisierenden Vorstufen im Bakkalareat der verschiedenen Fakultäten, kann in ihrer Entwicklung hier nicht im einzelnen verfolgt werden. Die Heftigkeit, mit der man sich in Paris etwa um die Berechtigung stritt, solche Grade zu verleihen, zeigt die Bedeutung, die das für die Organisationsgrenze der Universität besaß. Wer graduiert war, war in den Kreis der zur Lehre Berechtigten aufgenommen, durfte im Rahmen des Studiums unterrichten. Insofern war es für die Entstehung der Pariser Universität an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert entscheidend, daß sich die Magistri und Scholaren zuerst genossenschaftlich zusammenschlossen, um so durch gegenseitigen Beistand in Notfällen, durch Grabgeleit und Verbrüderung die Nachteile des Lebens in der Fremde, des „exilium“, auszugleichen15. Nicht minder wichtig aber wurde, daß es ihnen schon bald darauf gelang, die „licentia docendi“ zumindest partiell unter die eigene Kontrolle zu bekommen dergestalt, daß zumindest diejenigen, die sie für würdig befanden, auch vom bischöflichen Kanzler diese Zugangsvoraussetzung zu ihrem Kreis verliehen bekommen mußten, unangesehen der Frage, wen der Kanzler etwa
14 Besonders klar Erich Meuthen, Kölner Universitätsgeschichte, Bd. I: Die alte Universität (Köln, Wien 1988) 10–12. 15 Die Metapher des „Exils“ haben im 12. Jahrhundert mehrere Texte zur Charakteristik der Existenz an einer Universität gewählt, bekannt etwa die Authentica „Habita“ Kaiser Friedrichs I. (MGH, DF I nr. 243, ed. Heinrich Apelt in: MGH Diplomata X/2 [Hannover 1979] 39 f., hier 39,22): „Amore scientie facti exules de divitibus pauperes semetipsos exinaniunt . . .“, oder Bernhard von Chartres (bei Hugo von St. Victor, Didascalicon, III 12, ed. Charles H. Buttimer [ Washington 1939] 61, bzw. Johannes von Salisbury, Policraticus, VII 13, ed. C. C. J. Webb [Oxford 1909, Neudruck Frankfurt/Main 1965] Bd. II, 145; Lit dazu etwa bei Jürgen Miethke, Die Studenten, in: Unterwegssein im Spätmittelalter [ZHF, Beih. 1, Berlin 1985] 49–70, hier 50 f. mit Anm. 7 f.), der als „claves scientiae“ aufzählt: „Mens humilis, studium quaerendi, vita quieta/scrutinium tacitum, paupertas, terra aliena/haec reserare solent multis obscura legendi“.
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zusätzlich noch aus eigenem Entschluß lizenziieren mochte16. Ähnlich war das Ergebnis der Doktorenkollegia in Bologna gegenüber dem | Archidiaconus17, oder der Erfolg der „magistri“ in Oxford 54 gegenüber wiederum dem bischöflichen „cancellarius“18. Mit diesen frühen Erfolgen hatte die Genossenschaft, die die Schule trug, tatsächlich eine gewisse Rechtsautonomie gewonnen, konnte sie doch prinzipiell den Zugang zu sich selbst entscheidend regulieren, auf die Dauer sogar geradezu exklusiv bestimmen. Der Name, den die mittelalterliche Rechtssprache genossenschaftlichen Zusammenschlüssen, Personengesamtheiten, allgemein zuerkannte: „universitas“19, ist in allen europäischen Sprachen der Gegenwart das Grundwort für die spezifisch europäische Form höherer Bildung in mittelalterlicher Tradition geworden und erscheint heute in der Regel auch auf diese Bedeutung eingeengt. Die europäische „Universität“ hat darüber hinaus ihren Siegeszug durch die Welt schon lange genommen, so daß das nicht nur für die europäischen Sprachen gilt. In dieser Bezeichnung also lebt noch die spezifische Rechtskonstruktion mittelalterlicher Universitäten fort, und damit blieb die starke Verankerung im mittelalterlichen Genossenschaftswesen zumindest als Assoziation von Autonomie und eigener Rechtspersönlichkeit 16
Chartularium Universitatis Parisiensis, edd. Heinrich Denifle und Emile Châtelain, Bd. I–IV (Paris 1889–1899, Neudruck Brüssel 1964) [künftig „CUP“] Bd. I, nr. 16 (S. 75 f.). Dazu zuletzt etwa Stephen C. Ferruolo, The Origins of the University, The Schools of Paris and Their Critics, 1100–1215 (Stanford, California 1985) 295–299. 17 Vgl. Walter Steffen, Die studentische Autonomie im mittelalterlichen Bologna, Eine Untersuchung über die Stellung der Studenten und ihrer „universitas“ gegenüber Professoren und Stadtregierung im 13./14. Jahrhundert (Geist und Werk der Zeiten 58, Bern, Frankfurt/Main, Las Vegas 1981); neuerlich Roberta Greci, L’associazionismo degli studenti dalle origini alla fine del XIV secolo, in: Studenti e università degli studenti dal XII al XIX secolo, a cura di Gian Paolo Bizzi e Antonio Ivan Pini (Studi e memorie per la storia dell’Università di Bologna, n.s. 7, Bologna 1988) 15–44. 18 Insbesondere zuletzt die Beiträge in: The History of the University of Oxford, General editor T. H. Aston, vol. I: The Oxford Schools, ed. Jeremy I. Catto (Oxford 1984) bes. 28 ff. (Richard W. Southern); 38 ff. (M. Benedict Hackett). Im relativ spät ausgebildeten Cambridge war die Rechtsstellung des Kanzlers von vorneherein schwächer: Hier hatte er, von den Magistern aus dem eigenen Kreis gewählt, nach Auskunft der ältesten Statuten (von ca. 1250) offenbar nicht die Möglichkeit, aus eigenem Recht die Lizenz zu erteilen, vgl. den Text bei M. Benedict Hackett, The Original Statutes of Cambridge University, The Text and its History (Cambridge 1970) 197/199 (§ I 1, und II 1), dazu etwa auch 108 ff. und passim; vgl. Damian Riehl Leader, A History of the University of Cambridge, vol. I: The University to 1546 (Cambridge [usw.] 1988) 25 ff. 19 Pierre Michaud Quantin, „Universitas“, Expressions du mouvement communautaire dans le moyen âge latin (Paris 1970); vgl. auch Weijers, (wie Anm. 7) 16–26.
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mit dem Wort verbunden. Andere Bezüge freilich sind längst verloren gegangen, verschwunden oder bis zur Unkenntlichkeit von neueren Entwicklungen zugedeckt worden. Insbesondere assoziiert heute niemand mehr bei dem Wort Universität die im Mittelalter gleichsam selbstverständliche Nähe zur eidlichen Selbstverpflichtung, die der Universität ihre innere Festigkeit gab und die wir auf Schritt und Tritt in den Quellen antreffen20. Der Einfachheit halber beschränke 55 ich mich – | willkürlich und bewußt – bei meinen künftigen Belegen auf Heidelberger Zeugnisse21, aber es wäre ein leichtes, anderwärts gleiche oder zumindest ähnliche Formulierungen zu finden, denn als fundamentale Voraussetzung genossenschaftlicher Organisation ist zumindest ein förmlicher Willensakt beim Eintritt in die Korporation dann unentbehrlich, wenn man der Gruppe nicht bereits unwillkürlich, das heißt wenn man ihr nicht durch Geburt, kraft Standes oder dergleichen angehört. In eine Universität mußte man eintreten, und alle Universitäten haben Wert darauf gelegt, daß dieser Eintritt förmlich und feierlich vollzogen wurde. In Deutschland war die Immatrikulation, die Eintragung in das Matrikelbuch, durch die man der Rechtskörperschaft der „universitas“ beitrat, der wichtigste dieser Initialakte, bei der man dem Rektor nicht allein die – grob nach dem Vermögen gestaffelte – Inskriptionsgebühr zu erbringen hatte, sondern auch der Universität und ihrem obersten Amtswalter, dem Rektor, Gehorsam und Treue schwören mußte22. Auch wer als Bakkalar oder Magister bzw. Doktor
20 Zu den Universitätseiden zuletzt eingehend Paolo Prodi, Il giuramento universitario tra corporazione, ideologia e confessione religiosa, in: Sapere e/è potere, Discipline, dispute e professioni nell’università médievale e moderna, Il caso bolognese a confronto (Atti del 4° Convegno, vol. III: Dalle discipline ai ruoli sociali, a cura di Angela de Benedictis, Bologna 1990) 23–35; nicht behandelt wird der Universitätseid bei Lothar Kolmer, Promissorische Eide im Mittelalter (Regensburger Historische Forschungen 12, Kallmünz 1989), der ohnedies den Schwerpunkt seiner Untersuchungen in das frühe Mittelalter legt. 21 Insbesondere stütze ich mich auf das Rektorbuch: Acta universitatis Heidelbergensis, Tomus I (simul Acta facultatis iuridicae, tomus I) fasciculus 1–2 = Die Rektorbücher der Universität Heidelberg, Bd. I (1386–1410) Heft 1–2, hrsg. von Jürgen Miethke, bearbeitet von Heiner Lutzmann und Hermann Weisert (Libri actorum Universitatis Heidelbergensis/Die Amtsbücher der Universität Heidelberg A I/1–2, Heidelberg 1986–1990) [künftig „AUH I“]. 22 Jacques Paquet, L’immatriculation des étudiants dans les universités médiévalës, in: Pascua mediaevalia, Studies voor prof. dr. J. M. de Smet (Mediaevalia Lovaniensia I 10, Leuven 1983) 159–171. Vgl. auch die Bestimmungen in den Statuten der Artistenfakultät, in: Urkundenbuch der Universität Heidelberg, hrsg. von Eduard Winkelmann (Heidelberg 1886) Bd. I, nr. 23 (hier S. 32,17–22). Jetzt auch Jacques
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einer anderen Universität in Heidelberg rezipiert werden wollte, mußte dem Rektor einen entsprechenden Eid leisten23. Um diesen Eid bereits konnte es langwierige Streitigkeiten geben, so in den Anfangsjahren der Heidelberger Universität, als der Artistenmagister und Theologie-Bakkalar Heilmann Wunnenberg aus Worms, nachdem er sich auf seine Pfründe am Cyriacus-Stift in Neuhausen vor Worms zurückgezogen hatte, plötzlich behauptete, er sei der Universität keinen Gehorsam schuldig. Die Sache zog sich in die Länge, und mehrfach sind in den Amtsbüchern der Universität Einträge und spätere Marginalien zu finden, die auf die Notiz des Eides, auf die einzelnen Phasen des Streites, auf das schließliche Einlenken Heilmanns aufmerksam machen24. Aber auch jenseits solch dramatischer Zuspitzung konnte der einmal gegebene Eid auch später immer wieder wichtig werden: Schon damals war es offenbar schwierig, bei Gremiensitzungen und Wahlen die volle Präsenz der Stimmberechtigten zu erreichen. Es gab daher in Heidelberg eine ganze Skala von unterschiedlich verbindlichen Einberufungen, die (ganz normale) Einladung zur „congregatio“ oder auch „plena | congregatio“25, war offenbar nicht ganz so verbind- 56 lich, auch wenn der Rektor dazu vermerkt, zu ihr sei ausreichend eingeladen worden: „ad quam sufficienter vocati fuerant doctores et magistri omnes pro tunc presentes“26. Johannes de Noët [oder von der Paquet, Les matricules universitaires (Typologie des sources du moyen âge occidental, fasc. 65, Turnhout 1992) bes. 35–42. 23 Schon im Gründungsprivileg des Pfalzgrafen Ruprecht I. wird dieser Eid – gemäß dem Pariser Vorbild, also wohl auf Wunsch des Marsilius von Inghen – ausdrücklich vorgeschrieben, vgl. AUH I, nr. 5 (S. 34 f.), siehe auch die Satzungsbestimmung für alle Fakultäten AUH I, nr. 76 (S 150 f.: Eintrag des Marsilius von Inghen); vgl. die Satzungsformulierung der Juristen AUH I, nr. 15 und 31 (S. 50 f. und 65) sowie die im juristischen Dekansbuch eingetragenen Beispiele, z.B. AUH I, nr. 16,1–2 oder 452,25–26 (S. 51 f., 464) usw. 24 AUH I, nr. 77, 346, 358 (S. 151 f., 348, 358 f.). Vgl. unten bei Anm. 53. 25 Z.B. AUH I, nr. 328, 330, S. 336 f. Allgemein zur Bedeutung der „congregatio“ in den deutschen Universitäten auch Dietmar Willoweit, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, hrsg. von Kurt G. A. Jeserich, Hans Pohl, Georg-Christoph von Unruh, Bd. I: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches (Stuttgart 1983) 376 f. 26 AUH I, nr. 304, S. 320. – Es ging damals um die Verteilung von Wohnhäusern, und also war das Interesse an einer Mitbestimmung ganz gewiß groß (gleichwohl wird später auch dazu „per iuramenta“ eingeladen werden, vgl. nr. 340 [S. 344]). Ganz sicher läßt sich diese allgemeine Form aber von den beiden anderen nicht abgrenzen, da nicht feststeht, wie genau der jeweilige Rektor sich bei der Niederschrift ausgedrückt hat. Marsilius von Inghen z.B. hat relativ selten die Einberufung einer Versammlung „per iuramenta“ notiert (vgl. AUH I, nrr. 119, 123, 124, 149 [S. 182, 184, 185 f., 201]); hat er sie auch so selten vorgenommen?
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Noyt] (gest. 1432), ein Kanonist, der in den ersten Jahrzehnten der Heidelberger Universität eine große Rolle spielte und der im Rektorbuch immer besonders genau die Formalitäten festgehalten hat27, lud zu einer wichtigen Satzungsfrage „die verehrten Herren Doktoren und Magister“ unter ausdrücklichem Hinweis ein, „sicut diligitis bonum eiusdem (universitatis) et sub pena non contradicendi“28, d.h. nicht nur mit dem moralischen Appell, daß es um Wichtiges gehe, sondern auch mit der Feststellung, der Entscheidung dieser Versammlung dürfe niemand später widersprechen, der nicht zur Versammlung gekommen war. Die höchste Verbindlichkeit erreichte 57 schließlich die | Einladung „per iuramentum“29 zu einer Versammlung, 27 Zu ihm gibt es m. W. keine monographische Untersuchung. Prosopographische Daten und Literatur etwa bei Aloys Schmidt und Hermann Heimpel, Winand von Steeg (1371–1453), ein mittelrheinischer Gelehrter und Künstler, und die Bilderhandschrift über die Zollfreiheit . . . (Abh. der Bayer. Akad.d.Wiss., Philos.-hist.Kl., NF 81, München 1977) 117, zu seiner Prager Zeit auch Sabine Schumann, Die „nationes“ an den Universitäten Prag, Leipzig und Wien, Ein Beitrag zur älteren Universitätsgeschichte (Phil Diss. FU Berlin 1974) 128 mit Anm. 130. Er diente seiner Universität mehrfach als Rektor, als Vizerektor, auch als Vizekanzler; Hermann Weisert betrachtete ihn, freilich mit schwachen Belegen, auch als Dekan der juristischen (kanonistischen) Fakultät für 1386–1409; vgl. Weisert, Die Rektoren und die Dekane der Ruperto Carola zu Heidelberg (1386–1985), in: Semper apertus, Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Festschrift, hrsg. von Wilhelm Doerr (Berlin, Heidelberg, New York, Tokyo 1985) Bd. IV, 299–417, hier 343. Wenn das zutrifft, wäre er offenbar auch für die Aufnahme jener umfänglichen Auszüge aus dem ersten Rektorbuch in das Dekansbuch der Juristischen Fakultät verantwortlich zu machen (die uns diese Quelle heute allein noch überliefert und die in das erste Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts zu datieren ist), vgl. J. Miethke in: AUH I, S. 7. 28 AUH I, nr. 281 (S. 305). Vgl. auch etwa nrr. 107, 154, 281, 422 (S. 175 f., 203, 305, 411). Bei der Einladung zur Wahl von Konzilsgesandten nach Konstanz wird (am 23. März 1416) zur Versammlung „sub debito iuramenti et [!] pena non contradicendi“ eingeladen: nr. 477 (S. 515, 19 f.). Auch an der Universität Wien wurden zur gleichen Zeit die „weniger wichtigen Angelegenheiten“ auf derartigen Versammlungen entschieden, vgl. Paul Uiblein, Mittelalterliches Studium an der Wiener Artistenfakultät, Kommentar zu den „Acta Facultatis Artium Universitatis Vindobonensis 1385–1419“ (Schriftenreihe des Universitätsarchivs 4, Wien 1987) 51. In den Erfurter Statuten [von 1447], rubr. II (§ 13) heißt es ausdrücklich: „. . . semper in cedulis convocacionum pro consiliis habendis apponat penam non contradicendi, et si quis tunc vocatus absens fuerit, postea non habeat vocem contradicendi“, in: Acten der Erfurter Universität, ed. J. C. Hermann Weissenborn (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen, VIII/1, Halle 1881) 11; vgl. aber ebenda, rubr. IV (§ 7), wo die Einberufung einer Versammlung „ad minus sub pena non contradicendi“ vorgeschrieben wird. (Die Beispiele ließen sich aus anderen Universitäten vermehren). 29 Da dies später offenbar gleichsam die „Normalform“ einer verbindlichen Einladung geworden ist, sind die folgenden Belege nur als exemplarische Hinweise zu verstehen. Auch hier vgl. wiederum Uiblein (wie vorige Anm.) für Wien; in den Erfurter Statuten (rubr. II § 14, wie Anm. 28, S. 11) wird der Rektor zu einer
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auf der etwa Statuten beschlossen und eingeschärft30, auf der ein Rektor gewählt31, auf der über die Haltung der Universität in der Kirchenfrage im Großen Schisma beraten werden sollte32 oder auf der die Universität den armen Magister Hermann Poll aus Wien 1401 aus der Universität auszuschließen hatte „tamquam membrum putridum et inutile“, ihn damit auch der Gerichtsbarkeit des Hofrichters übergab, der den eines Giftanschlags auf den Rex Romanorum Ruprecht von der Pfalz Verdächtigten nach kurzem Prozeß grausam hinrichten ließ33 – denn das war eine Angelegenheit, die den privilegierten Rechtsstatus jedes Universitätsmitglieds betraf. „Per iuramentum“ wurden auch die Versammlungen einberufen, die sich mit Satzungsrecht beschäftigten, die also die Studenten etwa durch immer wieder erlassene, weil offenbar immer wieder übertretene Verbote vom Waffentragen, vom Kartenspiel, vom Lärmen und nächtlichen Umherziehen abhalten sollten34. Schuldige mußten sich ebenfalls eidlich verpflichten35 – oder wurden auf ihren schon geleisteten Immatrikulationseid hin verpflichtet36, sich künftig korrekt betragen zu wollen. Die Universität sicherte sich durch Eide, die sie von den Amtsträgern der Stadt und der Pfalzgrafen, wie etwa dem Schultheißen, entgegennahm37, ja von den | 58 maßvollen Anwendung eines solchen Befehls verpflichtet: „Item rector numquam precipiat de debito prestiti iuramenti vel obedientie, nisi necessitas evidens [!] illud exposcat vel contumacia precesserit.“ 30 Etwa AUH I, nr. 174, 200, 202, 214 (S. 225, 250, 251 f., 258 f.); ein Einladungsformular (ausgestellt und aufgeschrieben durch Johannes de Noët) in nr. 228 (S. 265 f.). 31 Etwa AUH I, nr. 205, 218, 232, 257, 287, 295, 302 f., 338 (S. 253 f., 259 f., 267, 292, 310, 314, 319, 342). Als der Heidelberger Rektor noch ausschließlich von der Artistenfakultät zu wählen war, wurde diese natürlich dazu auch „per iuramenta“ zusammengerufen: AUH I, nr. 119 (S. 182). 32 AUH I, nr. 123 (S. 184). 33 AUH I, nr. 12 und 312 (S. 49 und 324 [hier auch: „facta congregatione universitatis . . . sollempniter per iuramentum prestitum . . .“]). Auch der Ausschluß von Studenten aus der Korporation aus disziplinarischen Gründen wird auf einer derartig „per iuramenta“ einberufenen Versammlung beschlossen: nr. 175 u. 248 (S. 227 f. u. 279 f.). Vgl. auch die zahlreichen Versammlungen, die „per iuramenta“ einberufen wurden, um über das Vorgehen der Universität im Falle des in Gefangenschaft geratenen Magisters Konrad von Soltau zu beraten (seit nr. 168, S. 219: sub pena obediencie et iuramenti prestiti); vgl. auch ähnliche Fälle der Verteidigung des universitären Rechtsstandes, wie nr. 248 (S. 279–281). In allen diesen Fällen ging es ersichtlich um den rechtlichen Status der Universität und ihrer Glieder! 34 Z.B. AUH I, nrr. 107 f., 111, 389 f. (S. 175 f., 178 f., 382 f.). 35 Z.B. AUH I, nr. 138 (S. 195). 36 AUH I, nrr. 264, 267 (S. 295 f., 298), vgl. nr. 428 (S. 415). 37 Festgelegt in den Gründungsprivilegien AUH I, nr. 9 (S. 43 f., Zl. 44–48); für
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Bürgern der Stadt in einer besonders angespannten Lage38 oder von den Verwesern der inkorporierten Pfarreien, der weit entfernten Pfarrei Altdorf oder der nahen Heidelberger Peterskirche39. Auch die Mitglieder der Herrscherfamilie, des Königs Söhne selbst, leisteten – und das nicht nur einmal – in aller Öffentlichkeit feierliche Eide, die Universität nicht schädigen zu wollen, sondern sie bei ihren Rechten zu erhalten40. Solche Eide sind gleichsam institutionalisiert für bestimmte Interessen der schutzbedürftigen Universität. Wie sie auf Befehl ihres Gründers Ruprecht I. den Bürgern der Stadt Heidelberg alljährlich zum Allerheiligen-Fest von der Kanzel herab das große Gründungsprivileg in deutscher Sprache verlesen ließ, um ihre besondere Rechtsstellung immer wieder jedermann einzuschärfen und niemandem die Entschuldigung zu lassen, er habe die Privilegien der Universität nicht gekannt41, so hat sie den Eid eines neuen Schultheißen als Sicherungsmaßnahme jeweils vorsorglich mit Feierlichkeit zelebriert und bisweilen eben deshalb auch ausdrücklich im Rektorbuch festgehalten42. Das Schutzversprechen der pfälzischen Kurprinzen und der Königin erfolgte, als eben erst im „Studentenkrieg“ von 1406 Bürger der Stadt und Universitätsangehörige blutig aneinandergeraten waren und nur das besonnene Eingreifen des zufällig anwesenden Bischofs von Speyer,
den Schultheiß vgl. unten Anm. 42. Beim Kauf der Tournosen in Bacharach und Kaiserswerth wird bestimmt, daß auch die Zollschreiber dieser Hebestellen der Universität einen Eid leisten müssen: AUH I, nr. 445 (S. 447, 47–57); zu den Tournosen im einzelnen zuletzt Markus Vetter, Zur Finanzierung der Universität Heidelberg im Mittelalter, Die Einnahmen aus den Rheinzöllen in Bacharach und Kaiserswerth bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, in: Ruperto Carola 78 (1988) 59–66. 38 Im „Studentenkrieg“ von 1406: AUH I, nr. 433 (S. 423). 39 Vgl. AUH I, nr. 345 (S. 347 f. Altdorf ); nr. 413 (S. 401 f., 30–44, St. Peter, hier auch Altdorf und die weitere Pfarrkirche Lauda erwähnt). 40 AUH I, nr. 437 (S. 425–427: 1406 Juli 23/24), zuvor schon hatten Söhne des Königs (1401 August 1) sogar eine Urkunde darüber ausgestellt: AUH I, nr. 438 (S. 427–429). Schon Ruprecht II. hatte in einem Testament (von 1395) seine Nachfolger verpflichtet, die „Schule“ von Heidelberg in ihrer damals erreichten wirtschaftlichen Ausstattung zu erhalten; später hat dann Ludwig III. testamentarisch (1427) verfügt, ein Nachfolger solle nicht eher die Regierung antreten, als bis er u.a. die Erhaltung der Universität feierlich urkundlich versprochen habe; vgl. Winkelmann, Urkundenbuch (wie Anm. 22) Bd. II, nrr. 82 u. 240 (S. 10 u. 29). 41 Schon im Gründungsprivileg vorgeschrieben: AUH I, nr. 6 (S. 37, Zl. 45–50); dazu vgl. die Notizen zum Vollzug nrr. 117 und 223 (S. 181 u. 263). 42 AUH I, nrr. 141/153, 302, 388 (S. 197/202, 319, 382). Vgl. auch oben Anm. 37.
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Rhaban von Helmstedt, ein allgemeines Blutbad gerade noch hatte verhindern können43. Auch und besonders im Leben der Universität war somit der Eid, wie Bernard Guenée es vor kurzem allgemein für die mittelalterliche Gesellschaft beobachtet hat44, zur fast alltäglichen Erscheinung geworden, die Grundprinzipien des Zusammenlebens, Ein- und Unterordnung, Disziplinierung und Kooperation erwirken, ja vorweg erzwingen sollten. Gewiß hat der Eid Meinungsverschiedenheiten auch an den Universitäten nicht verhindert oder aufgehoben, er hat aber die gemeinsame Verpflichtung auf einen gemeinsamen Rechtsrahmen, die Geltung von mehrheitlichen Entscheidungen durchsetzen helfen und hat so die Selbstverständlichkeit der Institution Universität wesent59 lich getragen. | Ist es ein Wunder, daß Kräfte innerhalb und außerhalb der Universität versuchten, dieses Instrument noch weiter zu verfeinern, es nicht nur als Basisverpflichtung auf den allgemeinen Rechtsrahmen zu gebrauchen, sondern auch vielfältige Sonderverpflichtungen mit aufzunehmen. Dabei ist weniger daran zu denken, daß natürlich auch universitäre Amtsträger und Geschäftsbeauftragte, Rektor, Dekane, Pedelle, durch Eid auf die Obliegenheiten ihres Amtes verpflichtet wurden. Das unterschied die Universität nicht von ihrer Umwelt, wo der Amtseid ganz üblich war. Seine Brauchbarkeit als feierliche Verpflichtung hat ja die Ablösung der Obligation kraft Eides in der jüngeren Gegenwart am deutlichsten überlebt, so daß wir heute neben dem Zeugeneid vor Gericht eigentlich nur noch den Amtseid von Beamten, Beschäftigten im öffentlichen Dienst und politischen Amtsträgern kennen. Wir sollten uns also nicht darüber wundern, daß auch die mittelalterliche Universität sich dieses Mittels bediente, wenn sie Rotulusgesandte nach Rom schickte45 oder Gesandte auf das
43 Vgl. den ausführlichen Eintrag des damaligen Rektors Johannes von Frankfurt (in dem er in der Tat seine eigene Rolle kräftig unterstreicht) in: AUH I, nrr. 428–436 (S. 414–425). 44 B. Guenée, „Non periurabis“, Serment et parjure en France sous Charles VI, in: Journal des Savants (1988) 241–257. Allgemein vgl. jetzt die weit ausgreifende Längsschnittstudie von Paolo Prodi, Il sacramento del potere, Il giuramento politico nella storia costituzionale dell’Occidente (Annali dell’Istituto storico italo-germanico, Monografia 15, Bologna 1992). 45 AUH I, nrr. 91, 321, 381 (S. 165 f., 331, 373 f.), einen „nuncius iuratus“ der Universität allgemein nennt etwa ein Formular, nr. 243 (S. 276), vgl. auch nr. 471 (S. 515,24).
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Konstanzer Konzil abordnete46, wenn sie einen fremden Doktor oder Magister rezipierte, wenn sie einen Studenten zum Bakkalar, einen Bakkalar zum Doktor oder Magister promovierte47. Die Korporation, der man in verschiedenen Stufungen angehörte, in die man als Student eintrat, in die man als Graduierter Aufnahme fand, hat sich der Loyalität ihrer Mitglieder durch einen entsprechenden Eid, insbesondere beim Eintritt in den neuen Status, immer wieder versichert. Der Doktoreid, der seit Bologna und Paris in allen Universitäten üblich war, sorgte für ein festes Band zwischen der Universität und ihren Graduierten, die sich ihrer „alma mater“ nicht nur durch nostalgische Gefühle, sondern eben auch durch eidliche Selbstverpflichtung verbunden wußten, nichts zu deren Schaden unternehmen, die geltenden Statuten einhalten, das Beratungsgeheimnis wahren und dem jeweiligen Rektor die schuldige Achtung entgegenbringen zu wollen48. Der Eid als religiös sanktionierte Verpflichtung führte bei solch unbestimmten, allgemeinen Verhaltenszusagen einen gewissen Überschuß mit sich, der die in sich verständliche, rein funktional auf die soziale Rolle für die Zeit der Zugehörigkeit zur Korporation bezogene Verpflichtung übersteigt, galt der Schwur doch, prinzipiell zumindest, als lebenslängliche Selbstbindung49. Die Universität Erfurt setzte in ihren Statuten ausdrücklich fest, daß ein Vergehen gegen die (bei der Intitulation beschworenen) Satzungen ausschließlich in den statutarisch festgelegten Fällen als „periurium“ (als Meineid) bestraft werden dürfe und in der Regel nur durch die angedrohten Strafen sanktioniert sein solle50. Ein Konflikt der Heidelberger Universität 60 mit dem kö | niglichen Rat und Protonotar der herrschenden Kanzlei 46 Einladungsschreiben, in ein Notarinstrument inseriert, in AUH I, nr. 471 (S. 515–517, hier 515,13–20). 47 Vgl. oben Anm. 23. 48 Vgl. die Eidesformeln AUH I, nr. 15, 31, 76 (S. 51, 65, 151). Vgl. dazu den Eid bei der Immatrikulation nr. 78 (S. 153). 49 Zur juristischen Konstruktion und Begründung, die heute nicht mehr in derselben Weise wie zu Ende des 19. Jahrhunderts gewertet wird, vgl. etwa die Andeutungen von Gerhard Dilcher, Art. „Eid, Versprechenseide“ in: HRG I (1971) 866–870, bes. 868 f. 50 Vgl. Statuten, rubr. IV (§ 17), in: Acten der Erfurter Universität, bearb. v. J. C. Hermann Weissenborn, Teil I (wie Anm. 28), 14: „Item volumus et statuimus et declaramus, ut faciens contra statutum universitatis periurium non incurrat, nisi statutum violatum hoc expresse contineat, non obstante quod quilibet intitulandus statuta et statuenda pro posse et nosse iurat observare, sed eo casu solum penam in statute contentam aut, si non continet, arbitrariam incurrat.“
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Job Vener macht dasselbe Problem von einer anderen Seite ganz deutlich: 1405, als sich die Universität beim König mit allen Kräften um die Durchsetzung der zugesagten Pfründzuweisungen bemühen mußte, weil sie mit einer „Ersten Bitte“ des Herrschers konkurrierte, hat Job Vener, als Bologneser „doctor iuris utriusque“ der Universität intituliert, die Universität gebeten, ihn aus seinem Gehorsams- und Treueid zu entlassen, um möglichen Loyalitätskonflikten mit seinen Pflichten als königlicher Rat aus dem Wege zu gehen. Wohlweislich hat die Universität ihm das verweigert51. Hier ist an diesem ganzen Vorgang nur wichtig, daß er – wegen der besonderen Skrupelhaftigkeit
51 (1405 Jan. 18 u. 20) AUH I, nr. 372 f. (S. 367 f.); Job hatte wohl von 1390 an in Bologna studiert, dort 1395 die Lizenz im Römischen Recht, 1397 die im kanonischen Recht erworben. Schon vor Eintritt in die Kanzlei Ruprechts (als Protonotar seit 1400/1401 nachweisbar) hat er sich (im letzten Quartal 1397) an der Universität in Heidelberg immatrikulieren lassen, ohne freilich irgendwelche Unterrichtspflichten auf sich zu nehmen. Anläßlich des Italienzuges König Ruprechts hat er sich dann 1402 in Bologna zum „iuris utriusque doctor“ promovieren lassen: Peter Moraw, Kanzlei und Kanzleipersonal König Ruprechts, in: Archiv für Diplomatik 15 (1969) 428–531, hier 476–482 (zum ersten Auftreten als Protonotar 479); Hermann Heimpel, Die Vener von Gmünd und Straßburg (1162–1447), Studien und Texte zur Geschichte einer Familie sowie des gelehrten Beamtentums (Veröff. des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 52/1–3, Göttingen 1982) 165 f. (zum Antrag auf Entpflichtung vom Eid); 160–165, 175–181, 217 (zu Job Veners Karriere). An der Absetzung König Wenzels scheint Job Vener bereits zentral mitgewirkt zu haben, vgl. zusammenfassend Helmut G. Walther, Der gelehrte Jurist als politischer Ratgeber: Die Kölner Universität und die Absetzung König Wenzels 1400, in: Die Kölner Universität im Mittelalter, hrsg. von Albert Zimmermann (Miscellanea mediaevalia 20, Berlin [usw.] 1989) 467–487, hier 485 f. mit Anm. 61; vgl. auch die Bemerkung des Heidelberger Magisters Nikolaus Burgmann aus St. Goar (der 1400 als Zeuge im Notariatsinstrument der Absetzung Wenzels fungiert hat) über Wenzel in seiner Papst- und Kaiserchronik, in Auszügen bei Ludwig Weiland, Beschreibung einiger Handschriften der Universitätsbibliothek Giessen, in: Neues Archiv 4 (1879) 59–85, hier 79 f.: „Hie Wentzeslaus nichil boni egit sed semper potacionibus et ribalderiis deditus, propter quod et sepius per principes electores monitus et vocatus et pie correctus, sed in omnibus nichil curavit, sed in Praga et in Bohemia more porcino manens illud sollempne studium ibidem in Praga ad nichilum redegit, nullum sollempnem virum nobilem seu litteratum curavit et doctores omnes meliores quasi expulit. Quorum aliqui ad Renum Heidelbergam et alibi venerunt et ibidem se principibus coniuraverunt et ad eiusdem regis depocicionem laboraverunt.“ Deutlicher konnte der in Prag 1380 als baccalarius artium nachweisbare, 1382 zum licentiatus, 1385 zum magister artium ebenda promovierte, seit 1383 auch in die Juristenuniversität Prags immatrikulierte, 1385 zum decr. bacc. graduierte Magister, der in Heidelberg (immatr. Juni/Oct. 1388) als erster 1390 zum lic. decr. graduiert und 1393 als zweiter in Heidelberg zum decr.dr. promoviert worden war, nicht werden. Zu ihm vgl. etwa Aloys Schmidt/Hermann Heimpel, Winand von Steeg (1371–1453) (wie oben Anm. 27) 120 f.; Willoweit, Das juristische Studium (wie unten Anm. 62) 101 f. nr. l und 129 f. Anm. 91.
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Job Veners und der Achtsamkeit des damals das Rektorbuch führenden Rektors Hermann Dreine von Culenborg – schriftlich festgehalten wurde; er kann eindeutig belegen, daß die Zeitgenossen den dem Rektor und damit der Universität geleisteten Eid wirklich als 61 lebenslänglich bindend betrachteten. | Das hatte mancherlei direkte und indirekte Folgen, die hier nicht im einzelnen ausgebreitet werden sollen. Nur im Vorbeigehen sei darauf verwiesen, daß es der Eid war, der immer wieder den Papst und die Kurie für Streitigkeiten an der Universität zuständig werden ließ52. Als die Stadt Bologna um die Mitte des 13. Jahrhunderts von den gefeierten Rechtslehrern die eidliche Selbstverpflichtung auf die Statuten der Kommune und das Versprechen verlangte, nirgendwo anders Unterricht erteilen zu wollen, da konnte der Papst in den Streit deshalb vermittelnd eingreifen, weil es sich um Eide handelte. Auch im Pariser Bettelordensstreit wuchs der Kurie ihre Kompetenz nicht allein aus ihrer engen Beziehung zu den Mendikanten zu, sondern auch aus den mit dem Aufnahmeeid verbundenen Auslegungsfragen. So wuchs die institutionelle Nähe zur Kurie als letzter Rechtsinstanz in Fragen des universitären Rechts nicht zuletzt auch wegen der Häufigkeit eidlicher Bindungen und Selbstbindungen, die die Universitätsmitglieder untereinander und mit der Außenwelt eingingen. Andererseits ist die verfassungsrechtliche Konstruktion der Pariser Artistenuniversität, die den Rektor nur aus den Magistern der ArtesFakultät nahm und die Doktorenkollegien der oberen Fakultäten nicht eigens in der Verfassung berücksichtigte, aus eben dieser überschüssigen Bindekraft des Eides heraus ermöglicht worden. Auch als Studenten der höheren Fakultäten, ja als deren Graduierte, blieben die „magistri artium“ an die Eide gebunden, die sie beim Eintritt in ihre „natio“ geschworen hatten, schuldeten dem Rektor und dem Prokurator der Nation Gehorsam und waren auf die Geltung der Statuten verpflichtet. Insofern bedeutet die Exklusion der Lehrer der höheren Fakultäten in Paris nicht ihre völlige Ausgrenzung. In Bologna, wo die Studentennationen sich ebenfalls abseits der Doktorenkollegien
52 Eingehend zur Rolle des Papstes und der Kurie für die frühe europäische Universitätsentwicklung (mit einer gewissen Überzeichnung ihrer Bedeutung) Werner Maleczek, Das Papsttum und die Anfänge der Universität im Mittelalter, in: RHM 27 (1985) 85–143.
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organisierten53, war – funktional analog, aber rechtlich anders konstruiert – die Abhängigkeit der „doctores“ von den Universitäten bald weniger empfindlich als die von der Kommune, die für die „doctores salariati“ den wesentlichen Teil ihrer Einkünfte bereitstellte. Aber hier können wir uns nicht in das Funktionsgeflecht der Institutionen der verschiedenen Universitätsmodelle begeben, in denen Eide freilich als Bindemittel und Geltungsgrund der Satzungssanktionen überall eine unübersehbare Rolle spielen konnten. Die Bindekraft des Eides, die sich aus der strengen Selbstverpflichtung und Selbstkontrolle, also „innengeleitet“, und nicht primär durch die Sanktion der äußeren Strafandrohung ergibt, verlor trotz der Inflation eidlicher Zusagen im späteren Mittelalter keineswegs automatisch an Interesse, eher konnte sie auch in zusätzlichen Bereichen noch eingesetzt werden, war sie doch ein Instrument, das mit geringem Aufwand eine relativ starke Wirkung erzielte und dessen Sanktion ganz dem religiösen Gewissen überantwortet blieb: Nicht drakonische Strafen des irdischen Strafrechts warteten auf Heilmann Wunnenberg, der zunächst die eigene eidliche Verpflichtung abgestritten hatte: Er versprach schließlich dem Rektor, künftig seinen seinerzeit geleisteten Eid getreulich einhalten zu wollen: „fatebatur predictus magister Heilmannus | se prius iurasse universitati“ (das war das Eingeständnis 62 im Streitpunkt) „et promisit mihi rectori se velle iuramentum istud fideliter servare in posterum“, so schreibt der Rektor Wasmut von Homberg ins Rektorbuch54. Und damit war dann der Fall offenbar auch ausgestanden. Ist es ein Wunder, daß die Universität den Nachweis schwer belegbarer Tatbestände sozusagen routinemäßig mittels des gleichen Instruments erwartete? Die Graduierungen an auswärtigen Universitäten55, die Einkommensgrenzen für die Taxierung der Immatrikulations- und Graduierungsgebühren wurden durch Eidesleistung nachgewiesen – freilich allein die Entwicklung des berühmten „testimonium paupertatis“, des echten „Armutszeugnisses“56 beweist, daß man sich nach
53 Vgl. zu diesem Aspekt, der funktionellen Äquivalenz zwischen Paris und Bologna, etwa Arno Seifert, Studium als soziales System, in: Schulen und Studium (wie Anm. 1) 601–619, hier 617. 54 AUH I, nr. 358 (S. 358) [der Name des Rektors kann erschlossen werden]. 55 Freilich gibt es auch in Heidelberg schon früh ausdrückliche Bescheinigungen über solche Graduierungen: AUH I, nr. 59 u. 249 (S. 117 f. u. 281 f.). 56 Zum Problem der „pauperes“ seien hier nur genannt: John M. Fletcher, Wealth and poverty in the medieval German universities, with particular reference to the
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dem Erfahrungssatz „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ zumindest auf die Dauer auch in dieser Frage gerichtet hat. Auch die Ableistung der vor einer Graduierung vorgeschriebenen Vorlesungen und Zahlungen der „collecta“ sowie der Gebühren für den Pedell57, die Verpflichtung, aus der Heimat, in die man für einige Monate aufbrach, binnen kürzest-möglicher Frist zurückzukommen58, all solche schwer ohne gewaltigen bürokratischen Aufwand nachprüfbaren Verpflichtungen legte der Eid auf das Gewissen der Schwörenden und machte so die Verpflichtung damals überhaupt durchsetzbar. Daß auch weitere Fragen in dieser Weise förmlich erledigt wurden, mit offenbar unterschiedlich sicherer Verhaltenserwartung, läßt sich denken. Loyalität und Ergebenheit dem Landesherrn gegenüber war für die Mitglieder seines Haushalts, für die fürstlichen Höflinge und „familiares“ eine selbstverständliche Pflicht, was natürlich auch bei der Rezeption in die „familia“ eidlich bekräftigt wurde. Marsilius von Inghen, der Gründungsrektor der Universität Heidelberg, hatte schon einige Monate vor den einzelnen Gründungsakten, am 26. 63 Juni 1386, dem Pfalzgrafen Ruprecht I. „glopt und | gesworne“, „daz er uns getruw und holt sin sal, unsern schaden zu warnen und unser bestes zu werben und auch, daz er uns unsers studium zu Heidelberg ein anheber und regirer und dem fürderlich for sin sal“, wie es die kurfürstliche Kanzlei in einem Revers festgehalten hat59, und ähnUniversity of Freiburg, in: Europe in the Later Middle Ages, edd. John R. Hale, John R. L. Highfield, Beryl Smalley (London 1965, Neudruck London 1970) 410–436; Jacques Paquet, L’universitaire „pauvre“ au moyen âge: problèmes, documentation, questions de méthode, in: The Universities in the Late Middle Ages, edd. Jozef Ijsewijn, J. Paquet (Mediaevalia Lovaniensia I 6, Leuven 1978) 399–425; ders., Recherches sur l’universitaire „pauvre“ au moyen âge, in: RBPH 56 (1978) 301–353; Rainer Christoph Schwinges, „Pauperes“ an deutschen Universitäten des 15. Jahrhunderts, in: ZHF 8 (1981) 285–309; für Heidelberg, das am 7. Juni 1448 beschlossen hat, einen wirklichen Nachweis der Armut für die Einstufung als „pauper“ bei der Immatrikulation und damit für die Gebührenbefreiung zu verlangen (Gustav Toepke [Hrsg.], Die Matrikel der Universität Heidelberg, Bd. I [Heidelberg 1884] LIIsq. u. 258 Anm. 1) vgl. zuletzt etwa Christoph Fuchs, Pauperes und divites, Sozialgeschichtliche Untersuchungen über Heidelberger Universitätsbesucher 1386–1450, in: Ruperto Carola 81 (1990) 51–59. 57 Vgl. die Satzungen der Juristenfakultät in: AUH I, nr. 19 (S. 56), oder die Versicherungen der Bakkalare: nr. 33 (S. 75). 58 Das spielt in Heidelberg aus verständlichen Gründen keine sehr große Rolle, da es hier in solchen Fällen eher darauf angekommen zu sein scheint, dem abgereisten Magister sein Wohnhaus und seine Einkünfte zu sichern, vgl. etwa AUH I, nr. 294 (S. 314). In Paris dagegen kam es häufiger vor. 59 Winkelmann, Urkundenbuch (wie Anm. 22), Bd. I nr. 3 (S. 4 f.). Vgl. dazu etwa Jürgen Miethke, Marsilius von Inghen als Rektor der Universität Heidelberg,
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lich wurden auch die anderen Magister, die zunächst ihre Bezahlung unmittelbar aus dem Haushalt des Fürsten erhielten, als „familiares“ durch Eidesbindung dem Fürsten verpflichtet60. War es dieses besonders enge Verhältnis der Heidelberger Gründungsprofessoren, das dazu geführt hat, daß in der Neckarstadt, anders als in den älteren Universitäten Norditaliens und Frankreichs, schon von Beginn der Universität an, d.h. seit dem Ende des 14. Jahrhunderts, in der juristischen Fakultät im Doktoreid nicht allein das herkömmliche Versprechen enthalten war, an einer anderen Universität nicht erneut sich promovieren zu lassen und die Gerechtsame der Fakultät künftig strikt einzuhalten, sondern als neues Element auch ein Treueid für den Pfalzgrafen? In Heidelberg schworen jedenfalls die juristischen Kandidaten beim Lizenziat: „Item fidelitatem comitatui et comiti Palatino Reni, qui pro tempore fuerit.“61 Dietmar Willoweit hat ermittelt, daß von den 21 juristischen Promovenden, die in Heidelberg von 1386 bis 1436 (also in dem ersten halben Jahrhundert der Universität) graduiert worden sind, nur bei insgesamt 8 Personen eine spätere Wirkung eines solchen Treueides fraglich bleibt, weil sie entweder sogleich an fernen Orten ihre Karriere fortgesetzt haben oder (in 4 Fällen) vielleicht gar nicht in Heidelberg selbst die Promotion über die Lizenz hinaus auch wirklich abgeschlossen haben62. Schon bevor der Fürst die Menge der Absolventen der Hochschule in den Dienst seines Landes übernahm, sicherte er sich hier offenbar eine zumindest passive Loyalität, die
in: Ruperto Carola 76 (1987) 110–120. Jetzt auch Frank Rexroth, Deutsche Universitätsstiftungen von Prag bis Köln, Die Intentionen des Stifters und die Wege und Chancen ihrer Verwirklichung im spätmittelalterlichen deutschen Territorialstaat (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 34, Köln, Weimar, Wien 1992) bes. 189 ff. 60 Auch Matthäus von Krakau wurde als königlicher Rat eingeschworen, vgl. Winkelmann, Urkundenbuch (wie Anm. 22) Bd. I, nr. 38 (S. 60 f.), vgl. auch die Kennzeichnung der Aufnahme des Heilmann Wunnenberg und des Reginald von Aulne durch Marsilius von Inghen im Gründungsbericht („receptus“: AUH I, nr. 72 [S. 147,33 u. 39]). Allgemein etwa Robert Scheyhing, Eide, Amtsgewalt und Bannleihe. Eine Untersuchung zur Bannleihe im hohen und späten Mittelalter (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 2, Köln, Graz 1960) 113 ff., Peter Moraw in: Deutsche Verwaltungsgeschichte (wie Anm. 25) 35 oder Dietmar Willoweit, ebenda, 109 f., 139 f.; insbesondere P. Moraw, Heidelberg: Universität, Hof und Stadt im ausgehenden Mittelalter, in: Studien zum städtischen Bildungswesen (wie Anm. 12) 524–552, hier 526 ff. 61 AUH I, nr. 19 (S. 57). 62 Dietmar Willoweit, Das juristische Studium in Heidelberg und die Lizentiaten der Juristenfakultät von 1386 bis 1436, in: Semper apertus (wie Anm. 27) Bd. I, 85–135, hier 95 ff.
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auch im Falle fremder Dienste als innere Hemmschwelle nicht ohne Belange gewesen sein kann. Ein letztes Feld, in dem ein geleisteter Eid für die Integration, Kontrolle und Disziplinierung der Universität eingesetzt wurde, sei noch kurz erwähnt, die ganz generell und über Europa hin verbrei64 tet in Gebrauch gekommen ist, eine feierliche Selbstver | pflichtung der Universitätslehrer, bestimmte Positionen vertreten, oder vielmehr auf keinen Fall vertreten zu wollen. Die Frage der Lehrfreiheit ist ohne Zweifel für die mittelalterliche Universität höchst komplex, da immer wieder Versuche zu beobachten sind, Leitlinien eines erwünschten Verhaltens festzulegen, andererseits aber kaum je eine effiziente Durchsetzung von offiziellen Lehrverboten wirklich durchführbar gewesen zu sein scheint63. Unstrittig war, daß dem Ortsbischof die Zuständigkeit für die Glaubenslehre in seiner Diözese zukam, er nahm sie schon vor der Entstehung der Universität wahr, und die bischöfliche Inquisition hat auch vor Universitätsmagistern später keineswegs Halt gemacht64. Weiter kompliziert wurde die Frage freilich dadurch, daß mit der zunehmenden Bedeutung, die der Papst und seine Kurie als zentrale Instanz der Amtskirche gewannen, auch deren Entscheidungskompetenz immer deutlicher an Gewicht zunahm. Andererseits war bei Untersuchung und Urteil über bestimmte Lehren auf die fachliche Kompetenz der Kollegen des Beschuldigten um so weniger ein Verzicht möglich, als die Spezialisierung der Wissenschaft zu schwierigen Formulierungen führen konnte, die nicht mehr von jedermann auf den ersten Blick zu übersehen waren. Hier brauchen wir uns nicht um eine eingehende Schilderung der Entwicklung der Lehrzuchtverfahren in Paris, in Oxford und anderwärts zu bemühen65, der Eid, mit dem ein Beschuldigter sich zu 63 Vgl. etwa auch Peter Classen, Libertas scholastica – Scholarenprivilegien – Akademische Freiheit im Mittelalter, jetzt in: Classen, Studium und Gesellschaft im Mittelalter, hrsg. von Johannes Fried (MGH Schriften 29, Stuttgart 1983) 238–284, bes. 255 f. 64 Bekanntestes Beispiel im 14. Jahrhundert ist das Verfahren gegen Marsilius von Padua und Johannes Jandun wegen des „Defensor pacis“, das vom bischöflichen Inquisitor in Gang gesetzt, an der Kurie freilich abgeschlossen wurde: etwa Ludwig Schmugge, Johannes von Jandun (1285/89–1328), Untersuchungen zur Biographie und Sozialtheorie eines lateinischen Averroisten (Pariser Historische Studien 5, Stuttgart 1966) 29 ff. 65 Dazu etwa Jürgen Miethke, Papst, Ortsbischof und Universität in den Pariser Theologenprozessen des 13. Jahrhunderts, in: Die Auseinandersetzungen an der Pariser Universität im XIII. Jahrhundert, hrsg. von Albert Zimmermann (Miscellanea
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bestimmten Thesen äußerte, war an und für sich ein altes Verfahren im Glaubensstreit: daß er einem Irrtum abschwören mußte, das erlebte schon Abaelard mehrmals66, und noch manche Kollegen sollte es treffen. Die Entwicklung von ganzen Listen, die aus inkriminierten Schriften gezogen und dem Autor vorgehalten und verurteilt wurden, hatte den Vorteil, daß man den Irrtum von dem Irrenden trennen, den Irrtum verwerfen, den Irrenden bestrafen und vor Wiederholung warnen konnte, sie führten aber auch wie selbstverständlich schon im 13. Jahrhundert dazu, daß diese Listen, wie die traditionellen Ketzerkataloge, als Listen verbotener Lehren einen Zaun von Warnungstafeln aufstellten, an die sich ängstliche Gemüter halten mochten. Der große Syllabus des Pariser Bischofs Etienne Tempier vom | 7. März 1277, in dem mit einem Schlage nicht weniger als 219 65 Irrtümer (zugleich mit weiteren 3 genannten Büchern) verworfen und verboten wurden67, ist das bekannteste Beispiel. Die Durchsetzung dieses Verbotes wurde durch die Androhung der Exkommunikation und somit durch äußere Sanktionen gesichert, aber noch im 13. Jahrhundert ist in Paris eine private Sammlung entstanden, die diese lange Liste zusammen mit anderen ähnlichen Irrtumslisten als Leitlinien aufzeichnete und somit alle „Articuli Parisius et Angliae condemnati“68 auf einen Blick gewissermaßen überschaubar machte. Solch vorauseilender Gehorsam blieb nicht vereinzelt, Konrad von Megenberg nahm noch um 1350 aus dieser Privatliste die 219 Artikel allesamt in seine „Yconomica“ auf, damit, wie er schreibt, „man die hauptsächlichen Irrtümer genauer erkennen könne, um deretwillen mediaevalia 10, Berlin, New York 1976) 52–94; ders., Der Zugriff der kirchlichen Hierarchie auf die mittelalterliche Universität, Institutionelle Formen der Kontrolle über die universitäre Lehrentwicklung vom 12. zum 14. Jahrhundert (am Beispiel von Paris), in: Kyrkohistorisk Arsskrift 77 (1977) 197–204; William J. Courtenay, Inquiry and Inquisition: Academic Freedom in Medieval Universities, in: Church History 58 (1989) 168–181; ders., The articles condemned at Oxford Austin Friars 1315, in: Via Augustini, Augustine in the Later Middle Ages, Renaissance and Reformation (Leiden 1991) 5–18. 66 Vgl. etwa Jürgen Miethke, Theologenprozesse in der ersten Phase ihrer institutionellen Ausbildung. Die Verfahren gegen Abaelard und Gilbert von Poitiers, in: Viator 6 (1975) 87–116. 67 CUP I, nr. 473 (S. 543–558), danach auch [mit paralleler deutscher Übersetzung] bei Kurt Flasch, Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277. Das Dokument des Bischofs von Paris (Excerpta classica 6, Mainz 1989); dazu vor allem Roland Hissette, Enquête sur les 219 articles condamnés à Paris le 7 mars 1277 (Philosophes médiévaux 22, Louvain 1977); zuletzt Luca Bianchi, Il vescovo e i filosofi, La condanna parigina del 1277 e l’evoluzione dell’aristotelismo scholastico (Quodlibet 6, Bergamo 1990). 68 Schon H. Denifle in: CUP I, 556 nota.
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man die Philosophen als eitel und nichtig verachtet“69. Aus demselben Buch wissen wir auch, daß man in Paris – es muß um 1334 gewesen sein – darüber hinaus von den Anwärtern auf das Magisterium der Artes-Fakultät die eidliche Selbstverpflichtung verlangt hat, bestimmte Thesen aus dem „Defensor Pacis“ des Marsilius von Padua zurückzuweisen: „Ego itaque“, so schreibt Konrad, „qui Parisius in accipiendo professionem in artibus ex indicto sedis apostolice hoc corporale prestiti iuramentum, ut predictam conclusionem crederem esse falsam, videlicet, quod imperator constituere haberet papam in ecclesia dei, non solum vi iuramenti coactus, sed veritate fundamentorum fidei sinceris tractus habenis contra predictam sie decrevi procedere posicionem . . .“70. Es ist hier nicht darauf einzugehen, daß Konrad, der an anderer Stelle ausdrücklich schreibt, daß er den Text eben dieses „Defensor pacis“ aus dem von Regensburg nicht allzu weit entfernten München sich nicht habe beschaffen können71, gegen den er hier so heftig polemisiert, „von seinem Eid dazu gezwungen, aber auch an ernsthaften Zügeln durch die Wahrheit der Grundlagen seines Glaubens dazu bewogen“. Er hat also offenbar nicht den großen Traktat selbst, 66 sondern nur solch einen kümmerlichen Irr | tumslisten-Auszug gekannt72. Die Eidesleistung jedenfalls, bestimmte Thesen nicht vertreten, ja sie nicht „glauben“ zu wollen, wurde im weiteren Verlauf der mittelalterlichen Universitätsentwicklung ein durchaus nicht vereinzeltes, wenn auch glücklicherweise nicht gerade durchgängig zu beobachtendes Mittel, bestimmte Lehrrichtungen zu unterdrücken, 69 Konrad von Megenberg, Yconomica, III/1, c. 13–15, ed. Krüger Bd. III (wie Anm. 8) 49–191, Zitat 53,7–10. 70 Yconomica, II/3, c.2, ed. Krüger (wie Anm. 8) Bd. II (MGH, Staatsschriften III,5/2, Stuttgart 1977) 93 f. Vgl. auch die spätere Feststellung (von 1364) in CUP III, nr. 1289 (S. 120–122, hier 120): „fuit et est hactenus Parisius observatum, quod . . . quilibet bachalarius antequam ad lecturam Sententiarum admittatur, iurat quod in suis principiis et lecturis necnon et in aliis quibuscumque non dicet tenebit aut dogmatizabit aliquid quod sit contra fidem catholicam aut contra determinationem sancte matris ecclesie vel contra bonos mores seu in favorem articulorum in Romana curia vel Parisius condempnatorum, aut quod male sonat in auribus auditorum, sed sanam doctrinam tenebit et dogmatizabit.“ (Auch der von diesem Vorgang betroffene Dozent appellierte übrigens an die päpstliche Kurie, vgl. CUP III, nrr. 1300, 1349–1352, S. 122–124, 182–186.) Ein weiterer derartiger Eid etwa in CUP II, nr. 1185, § 16 (S. 680). 71 Yconomica II/3, c.1 (wie Anm. 70) 87 mit Anm. 2. 72 Dazu auch Jürgen Miethke, Marsilius und Ockham, Publikum und Leser ihrer politischen Schriften im späteren Mittelalter, in: Medioevo 6 (1980) 543–567, hier 548 f. mit Anm. 16.
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andere zu fördern73. Selbst im spätmittelalterlichen Wegestreit in Deutschland mußten Magister dann in der Artistenfakultät sich auf eine der beiden strittigen Richtungen eidlich festlegen, so 1452 in Heidelberg, wo die Artistenfakultät beschloß, jeder Promovend sollte beeiden, „quod decetera petentibus admitti ad recipiendum insignia deberet iniungi per modum iuramenti id quod et aliarum universitatum magistris iniungitur, scilicet quod modum legendi cum questionibus et dubiis secundum communes titulos magistrorum et cum commente observent, sicut in principio studii in nostra facultate legi est consuetum, in via videlicet communi modernorum per primevos nostre facultatis patres Marsilium et alios modernes introducta.“74 Geholfen hat dies den Verteidigern der traditionsreichen Heidelberger „Via moderna“ nicht, der Kurfürst Friedrich I. hat noch im selben Jahr durch kurfürstliches Dekret die Reform der Universität im Sinne der „via antiqua“ durchgeführt75: Wer sich dem nicht fügen wolle, so ließ der Fürst barsch verlauten, könne ja die Stadt verlassen, möge aber dann niemals wieder zurückkehren76. Die Eide zur Verteidigung der alten „via modernorum“ mußten in Zukunft anders interpretiert werden. Das Instrument der Universitätseide zur Lehrregulierung im Augenblick der Promotion blieb freilich, einmal eingeführt, mit wechselnden Inhalten in Kraft. Es wäre hier eigentlich auf die lange und wirksame Nachgeschichte dieser Eide einzugehen, die seit dem Zeitalter
73 Solche Eide sind hier nicht im einzelnen zu untersuchen; eine Studie darüber fehlt freilich m. W. 74 Universitätsarchiv Heidelberg, H–IV 101/2 [= I,3,49 „Liber de actis facultatis artium“, soll veröffentlicht werden als. Acta facultatis artium, Bd. II], fol. 19v, auch zitiert bei Winkelmann, Urkundenbuch (wie Anm. 22) Bd. II, nr. 364 (S. 41) und bei Gerbard Ritter, Via antiqua und via moderna auf den deutschen Universitäten des XV. Jahrhunderts, (11922, Neudruck Darmstadt 1963) 58 Anm. 1 (zwischen 1452 April 22 und Mai 21). 75 Winkelmann, Urkundenbuch (wie Anm. 22) Bd. I, nr. 109 (S. 161–165). 76 Universitätsarchiv Heidelberg A-160/3 (= I,3,3; sogen. „Annales universitatis“, soll veröffentlicht werden als: Acta universitatis, Bd. III), fol. 8r (zitiert auch bei Classen, [wie Anm. 62] 268 Anm. 89): Friedrich I. läßt (am 7. Juli 1452) der versammelten Universität in eigener Anwesenheit durch seinen Hofkanzler verkünden: „In presencia domini principis cancellarius eius magister Johannes Guldinkopf decretorum doctor proposuit in sententia, qualiter celsitudo et dominacio domini principis in profectum et bonum universitatis ac eius incrementum vellet, quod ordinacio sua universitati presentata in quadam littera sigillata inviolabiliter servaretur quoad omnia puncta ibidem contenta. Si autem essent aliqui, qui nollent in illam suam ordinacionem consentire, illos nollet habere in Heydelberga, et postquam opidum illa intencione exivissent, non deberet eis per amplius patere aditus ad hunc locum.“
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der Glaubensspaltung in Deutschland und anderwärts in Europa die Rechtgläubigkeit der jeweiligen Religionspartei auch für die Universitäten des Landes verbindlich machte. Klaus Schreiner hat die Wirkungen solcher Eide auf die Wissenschaftsfreiheit im Zeitalter der 67 Glaubensspaltung am Beispiel Tübingen an | schaulich dargestellt77. Der Eid bei der Promotion oder Einstellung als Professor war jedenfalls eine Brücke, die die Universitäten aus dem Zeitalter der mittelalterlichen Hochschulverfassung in die Zeit der konfessionellen Disziplinierung überführen half. Das kann, wie gesagt, hier nicht mehr illustriert werden. Es sei noch einmal unterstrichen, daß die Frage nach der Rolle des Eides in der mittelalterlichen Universität uns in den zentralen Bereich der mittelalterlichen Konstruktion höherer Bildung geführt hat, weil sozusagen der soziale Kitt der korporativ verfaßten „universitas“ sichtbar wurde. Darüber hinaus erscheint mir wichtig, daß schon das Mittelalter die weiterführenden Möglichkeiten einer Obligation aus Selbstverpflichtung zu nutzen versuchte, wie sie dann in den Eiden des konfessionellen Zeitalters ihre Fortsetzung erlebten. Daß damit der Eid, in seiner Bindekraft gegen die Evidenz der Erkenntnis gestellt, dem Fortschritt der Erkenntnis in den Weg treten konnte, das zeigt die Schwierigkeit an, die Forschung nach Wahrheit in Institutionen zu fassen und zu sichern, ein Problem, dessen Lösungsversuche auch in der Gegenwart immer wieder einer kritischen Prüfung bedürfen78.
77 Klaus Schreiner, Disziplinierte Wissenschaftsfreiheit, Gedankliche Begründung und geschichtliche Praxis freien Forschens, Lehrens und Lernens an der Universität Tübingen (1477–1945) (Contubernium, Beitr. zur Geschichte der Eberhard-KarlsUniversität Tübingen 22, Tübingen 1981) bes. 8 ff. Auch ders., Rechtgläubigkeit als „Band der Gesellschaft“ und „Grundlage des Staates“, Zur eidlichen Verpflichtung von Staats- und Kirchendienern auf die „Formula concordiae“ und das Konkordienbuch, in: Bekenntnis und Einheit der Kirche, hrsg. von Martin Brecht und Reinhard Schwarz (Stuttgart 1980) 351–379; sowie ders., „Iuramentum religionis“, Entstehung, Geschichte und Funktion des Konfessionseides der Staats- und Kirchendiener im Territorialstaat der frühen Neuzeit, in: Der Staat 24 (1985) 211–246. 78 Juristisch ist die Analyse, die für die Gegenwart gegeben hat Paul Kirchhof, Wissenschaft in verfaßter Freiheit, in: Die Sechshundertjahrfeier der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg. Eine Dokumentation, hrsg. von Eike Wolgast (Heidelberg 1987) 220–229 (auch in: Ruperto Carola 76 [1987] 5–11 und selbständig: Heidelberg 1987).
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BILDUNGSSTAND UND FREIHEITSFORDERUNG (12. BIS 14. JAHRHUNDERT )1
„Freiheit? Ein schönes Wort, wer’s recht verstände“2! – Werner Conze hat in einem „Ausblick“ nach einem langen, von mehreren Autoren verfaßten Artikel über die Freiheit als geschichtlichem Grundbegriff für die moderne Diskussion konstatiert, daß in der neuesten Zeit „die Vielfalt des semantischen Feldes von ‚Freiheit‘ kaum noch verändert worden, die Verfügbarkeit des Wortes für jegliche Verwendung jedoch weiter erleichtert und gesteigert worden“ sei3. Schon das Mittelalter hat als Erbe der antiken Tradition einen sehr vielfältigen und in verschiedenen Aspekten schillernden Bestand an Vorstellungen übernommen, die sich mit den Worten für „Freiheit“ verbanden, und hat diese dann seinerseits weiter entwickelt. Es ist bisher freilich nicht möglich gewesen, den mittelalterlichen Umgang mit der Freiheit auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen4. Das Auseinandertreten von Freiheit (Singular) und Freiheiten (im Plural) ist nur das am längsten diskutierte, nicht das verwirrendste Problem, das sich unserem Verständnis stellt. Vor noch größere begriffliche Schwierigkeiten stellt eine neuere Tradition der deutschen sozialgeschichtlichen Forschung, die von einer ganzen Reihe von Verfassungs- und Sozialhistorikern vertreten wurde, die aber Karl Bosl mit Freude am unüberbietbaren Paradox auf die provozierende
1 Am Wortlaut des Vortrags vom 8. April 1987 habe ich nichts geändert. Nur Nachweise wurden beigefügt, eine in irgend einer Hinsicht „vollständige“ Dokumentation ist aber natürlich nicht beabsichtigt. Da das Manuskript bereits im Sommer 1989 abgeschlossen war, sind jetzt im Druck neuere Hinweise nur in Ausnahmefällen aufgenommen worden. 2 Goethe, Egmont, hg. von E. Truntz in: Hamburger Ausgabe (31974) IV, 429, Zl. 26. 3 W. Conze, Ausblick (im Artikel „Freiheit“, in: Geschichtliche Grundbegriffe, II, Stuttgart 1975, S. 425–542), S. 538 ff., Zitat 538. 4 Allgemein auch die Artikel „Freiheit“ von W. Warnach, O. H. Pesch, R. Spaemann, in: HWP, hg. v. J. Ritter, II, Basel 1972, S. 1064–1098. Zur mittelalterlichen Entwicklung einer allgemeinen Freiheitsvorstellung vgl. J. Fried, Über den Universalismus der Freiheit im Mittelalter, in: HZ 240 (1985) S. 313–361.
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Formel gebracht hat, die frühmittelalterliche Freiheit nichtadliger Schichten sei „eine ‚freie Unfreiheit‘ (man könnte auch sagen ‚unfreie Freiheit‘) gewesen, insofern als ihr die Leibeigenschaft zugrunde liegt und durch sie nicht aufgehoben wird“5. Hier wird die Freiheit im Grunde zu einem undenkbaren Begriff, zur contradictio in adiecto, indem 222 sie mit ihrem | Gegensatz in eins gesetzt erscheint. Sollten die mittelalterlichen Menschen derart unscharf gedacht haben? Es liegt mir ferne, hier der breit gefächerten Forschungsliteratur dieser Richtung zu folgen, die Freiheit und Herrschaft komplementär zusammen zu sehen versuchte und insgesamt ein theoretisches Gebäude der frühmittelalterlichen Verfassungsgeschichte zu entfalten vermochte, das es in seiner Geschlossenheit und suggestiven Kraft, wenn auch in unterschiedlicher Akzentuierung im einzelnen, durchaus mit der „klassischen“ Lehre des 19. Jahrhunderts von der „urgermanischen Gemeinfreiheit“ aufnehmen kann6. Daß auch das neue imposante Gebäude skeptischer Kritik an den tragenden Belegen nicht immer standzuhalten vermochte7, hat seine prägende Kraft nicht völlig aufgelöst. Das Problem von Herrschaft und Freiheit bleibt ein Thema probandum, und das nicht nur für das Frühmittelalter. Die provozierende Formel Bosls hat aber zumindest nicht die ganze Breite des Phänomenbestandes mittelalterlichen Umgangs mit der Freiheit in den Blick genommen, ohne Frage auch gar nicht in den Blick nehmen wollen. Wenn ich von der Fachkritik im Einzelnen hier absehe, so möchte ich doch vor allem an zwei generelle Einwände erinnern. Auf demselben Ulmer Historikertag von 1956, auf dem Karl Bosl sein polemisches Paroxymoron von der „freien Unfreiheit“ der Unterschichten formulierte, hat auch Herbert Grundmann einen Vortrag gehalten, in dem er gegen die damals herrschende Strömung der Verfassungs- und Sozialgeschichte entschlossen Front machte. Grundmann wollte das Ohr seiner Zuhörer für die „Freiheit als religiöses, politisches und persönliches Postulat im Mittelalter“ schärfen
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K. Bosl, Freiheit und Unfreiheit, Zur Entwicklung der Unterschichten in Deutschland und Frankreich während des Mittelalters, in: VSWG 44 (1957) S. 196– 219, jetzt in: Bosl, Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa, München/Wien 1964, S. 180–203, hier Zitat 185, vgl. auch 195 oder 203 u.ö. 6 Dazu im Rückblick E. W. Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert, Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder (Schriften zur Verfassungsgeschichte, 1), Berlin 1961. 7 Energisch etwa H. K. Schulze, Rodungsfreiheit und Königsfreiheit, Zu Genese und Kritik verfassungsgeschichtlicher Theorien, in: HZ 219 (1974) S. 529–550.
bildungsstand und freiheitsforderung
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und es nicht in Vergessenheit geraten lassen, daß auch im Mittelalter Wort und Begriff der Freiheit einen unausrottbaren Appellcharakter behielten, der sich nicht spannungslos mit der Dynamik sozialer Ausgleichs- und Hierarchisierungsprozesse vereinbaren läßt. Energisch wies er an breitgefächerten Belegen auf den „latenten Freiheitswillen“ hin, der „immer wieder“ neben der oder gegen die Absorption unmittelbarer Freiheit unter „die Glasglocke“ der mittelalterlichen „Begriffe und Ideologien“ spürbar werde8. Diesen Hinweis auf die Forderungen der Freiheit aus unmittelbaren Bezügen, die freilich, so mußte auch Grundmann feststellen, „niemals auf einen gemeinsamen Nenner, in eine rechte Formel oder Verfassung gebracht und dadurch für alle gleichermaßen beansprucht und geltend gemacht wurden“9, hat wenig später Wilhelm Berges aufgenommen und präzisiert. Im Wintersemester 1961/62, dem Semester nach dem Bau der Berliner Mauer, hielt er im Rahmen einer Vorlesungsreihe „Freiheit als Problem der Wissenschaft“ einen öffentlichen | Vortrag an der Freien Universität Berlin über „Selbst- 223 bestimmung in der Geschichte“ und begab sich dabei auf die Suche nach der „Genealogie der Freiheit“, spürte dem „Archetypus der Freiheiten“ „in der älteren Agrargesellschaft“ nach10. Über den unmittelbaren Appell der Freiheitsforderung hinaus wies er vor allem auf zwei Momente hin, die in der Diskussion zuvor und danach nicht immer jene Aufmerksamkeit gefunden haben, die sie verdienen, den sozialen Kontext der Freiheitsforderung und ihren bestimmbaren Minimalinhalt. „Freiheit ist ursprünglich nicht im Gegensatz zum Staat oder zur Naturnotwendigkeit, sondern im Gegensatz zur Sklaverei gedacht worden“11. Diese schlichte Erinnerung hat erhellende Kraft und leuchtet ein. Die Natur war ohnedies noch lange nicht beherrschbar, und Staatlichkeit verfestigte sich bekanntlich erst im Laufe des Mittelalters. Freiheit im Staat und Freiheit von politischer Herrschaft fehlt zwar im mittelalterlichen Freiheitsverständnis nicht, ist aber deutlich sekundär. Die Sozialordnung war vorstaatlich, der ständische Gegensatz 8 HZ 183 (1957) S. 23–53, Zitate hier 52. (Der Aufsatz ist nicht in Grundmanns Ausgewählte Aufsätze [MGH Schr. 25/I–II], Stuttgart 1978, aufgenommen worden). 9 Grundmann (wie Anm. 8), S. 52. 10 Selbstbestimmung in der Geschichte, in: Freiheit als Problem der Wissenschaft (Freie Universität Berlin, Abendvorträge im Winter 1961/62) Berlin 1963, S. 147–160, hier 148. 11 Berges (wie Anm. 10), S. 149.
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kapitel 4
von Freien und Unfreien, von vollberechtigten Anteilern an der Rechtsordnung und den ihr nur Unterworfenen, wie den Fremden oder aus verschonten Feinden rekrutierten Rechtlosen, war Voraussetzung, nicht Ergebnis der politischen Ordnung. Die geburtsständische Verfassung hielt in der gentilen kleinräumigen Welt Europas diesen Grundunterschied zunächst auch bei aller wachsenden Komplexität und Kompliziertheit der faktischen sozialen Binnendifferenzierung strikt und mit engstirnig-engherzigem Eifer noch lange, bis tief in die Neuzeit hinein, fest. Weil das so war, war dieser scharfe Unterschied, der so deutlich in den Stipulationen der Urkunden markiert wird, den Zeitgenossen auch in seiner Schärfe bewußt. Ein Blick auf die Grenze zwischen beiden Extremen macht das deutlich. Freiheit an ihrem äußersten Gegenteil, der Sklaverei, zu messen, hieß festzustellen, „welche Rechtsverkürzung zum Sklaven macht, und welches Minimum am Rechten jemand haben müsse, um sich frei, gerade noch frei nennen zu können“12. Definitonen, wie etwa die des Aristoteles (ênyrvpÒw famen §leÊyerow ı aÍtoË ßmeka ka‹ mØ êllou ™m13), später auch aufgenommen von 224 Thomas von Aquin (liber est qui sui causa | est14), geben einen Fingerzeig
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Berges (wie Anm. 10), S. 152. Metaphysik 12, 982b25 sqq.; die von Berges (wie Anm. 10, S. 152) zitierte Fassung des Satzes als Zitat aus dem römischen Recht, liber est qui sui juris est, konnte ich im Corpus Iuris Civilis nicht identifizieren, auch nicht bei Gaius (Inst. 1.10sq., 1.142sqq.), wo die später üblich gewordenen Begriffsdefinitionen gegeben werden (vgl. auch Dig. 1.6.1). Wie mir Johannes Fried freundlich bestätigte, ist die Verbindung von sui iuris esse und der Freiheitsdefinition den Rechtstexten fremd; vgl. auch „Vocabularium Iurisprudentiae Romanae“, auspiciis Instituti Savigniani fundatum, t. V, Berlin 1939, Sp. 911, 41 sqq. (s.v. suus), cf. t. III/1, fasc. 5, Berlin 1979, Sp. 1411 (s.v. ius) und t. III/2, Berlin 1983, Sp. 1559 sqq. (s.v. liber). Das muß nicht bedeuten, daß Selbstbestimmung für das römische Recht keinerlei Kriterium der Freiheit war, auch wenn es juristisch Freie gibt, die, wie der unmündige oder noch nicht emanzipierte Sohn oder auch die Ehefrau, unter rechtlicher Fremdbestimmung (noch) leben. Die gedankliche Zuordnung dieser Minderformen der Freiheit zur Rechtsstellung des vollgültig Freien im römischen Recht ist hier nicht zu untersuchen. 14 Summa Theologiae, 2–II, 19,4, in: S. Thomae Aquinatis opera omnia, ut sunt in Indice Thomistico . . . curante R. Buza, S.J., Stuttgart 1980, II 548a, vgl. auch Met. 1, c: servi enim dominorum sunt et propter dominos operantur et eis adquirunt, quidquid adquirunt, liberi autem homines sunt sui ipsorum utpote sibi adquirentes et operantes. Vgl. auch Dante Alighieri, der aus dieser der aristotelischen Metaphysik entlehnten Freiheitsdefinition (auf die gesamte menschliche Gattung bezogen) eines seiner Argumente für die Weltmonarchie gewinnt: „Monarchia“ I xii 8–9, ed. P. G. Ricci (Edizione Nazionale, 5) o.O. [Mailand] 1965, S. 159 f.: (. . . illud est liberum quod ‚suimet et non alternas gratia est‘, ut phylosopho placet (. . .) Genus humanum solum imperante monarcha. ‚sui et non alterius gratia est‘ . . . 13
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zum Umfang dieser Minimalposition, zum harten Kern des Freiheitsbegriffs, der die Unterscheidung in der ständischen Gesellschaftsordnung erst ermöglicht. Drei Forderungen werden als dieses Minimum von Wilhelm Berges ausgemacht: Anspruch auf „Unversehrbarkeit des Körpers, Freizügigkeit, selbständige Verfügung über das Eigentum“15. Ich verzichte darauf, hier im einzelnen diesen drei Minimal- und Grundfreiheiten nachzugehen, die in mannigfachen Schattierungen, aber doch als erkennbares Grundmuster das Bild der sozialen Auseinandersetzungen bestimmen. „Sich der Knute entziehen; die Schollengebundenheit abwerfen und freizügig werden; Entschuldung, Erwerb eines freien Eigentums – in tausend und abertausend Siedlungsurkunden und Städteprivilegien des Mittelalters kann man von solchen Wünschen lesen“16. Erfolg in solchem Bestreben aber konnte man kaum als einzelner erringen. Ständische Solidarität, korporativer Zusammenschluß, Einung, gemeinsames Vorgehen errang oder erleichterte die erfolgreiche Durchsetzung. Daß etymologisch das Wort für den „Freien“ in den meisten europäischen Sprachen mit „verwandt“ und „lieb“, also mit dem Stammes- oder Clangenossen gleichstämmig (und damit an gleicher Rechtsordnung beteiligt) zusammengehört, erklärt sich ohne Frage aus dieser Voraussetzung17. Mir erscheint der Hinweis auf die vorstaatliche Verwurzelung des Freiheitsgedankens und auf die unmittelbaren Inhalte seines Verständnisses, so wenig er eine vollständige Beschreibung des verwickelten Gangs seiner Entfaltung geben kann, doch wichtig, weil er Klarheit schafft. Als Beschreibung eines Minimalfundus von Freiheitsforderungen und ihres sozialgeschichtlichen Orts macht er verständlicher, warum im Mittelalter so häufig von Freiheit gesprochen wird, Freiheit beansprucht, gefordert, gewährt, bestätigt oder verweigert wird, warum wir aber so selten eine ausdrückliche theoretische Reflexion und Erörterung über dieses elementare Postulat finden. Eigene Traktate über die Freiheit gibt es erst seit dem späten 15. Jahrhundert, seit dem Humanismus, und zwar keineswegs etwa schon seit Beginn jenes Florentiner „Bürgerhumanismus“, den Hans Baron seinerzeit als wichtige Epoche im Denken | der Renaissance identifizieren wollte18. Alamanno 225 15
Berges (wie Anm. 10), S. 153. Berges (wie Anm. 10), S. 157. 17 Berges (wie Anm. 10), S. 150, vgl. auch etwa Bosl (wie Anm. 5) S. 185; W. Conze, Einleitung zum Artikel „Freiheit“ (wie Anm. 2), S. 425 f. 18 H. Baron, The Crisis of the Early Italian Renaissance, Civic Humanism and Republican Liberty in an Age of Classicism and Tyranny, I–II, Princeton 1955; rev. edition in 1 vol., Princeton 1966. 16
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Rinuccinis Dialog „De libertate“ von 1479, gegen die Unterdrückung der Bürgerfreiheit durch Lorenzo Medici gerichtet19, ist der älteste bekannte Titel. Und mit diesem Text beginnt keineswegs eine losgetretene Lawine bergab zu brechen. In den Jahrhunderten zuvor findet sich kein eigener Text – abgesehen von jenen langen und fruchtbaren Erörterungen der Theologen und Artisten über das liberum arbitrium, die Willensfreiheit des Menschen unter den Bedingungen der Sünde – über seine Wahlfreiheit zwischen Gut und Böse, das Verhältnis von Wille, Vernunft und Intentionalität, deren frühmittelalterliche Tradition Kurt Flasch hier anschaulich gemacht hat. In diesen Erörterungen formt sich das Bewußtsein der Personalität des Menschen und damit eine wesentliche Voraussetzung moderner Freiheitlichkeit. Gleichwohl möchte ich hier die Darstellung dieser Debatten für die Zeit der Früh- und Hochscholastik nicht fortsetzen20, allein schon mangels Kompetenz, wenn auch die hoch- und spätmittelalterliche Fassung des Problems der Willensfreiheit, „auf den Schultern der Riesen“, scharfsichtig bis zu Descartes hin die Weichen gestellt hat. Aber bei diesen Diskussionen ging es ja nicht eigentlich um Freiheitsforderungen, sondern um eine zutreffende oder plausible Theorie menschlicher Handlungen, die versuchen sollte, theologisch sowie ethisch und psychologisch, sittliches Handeln und sündhafte Verfehlung begrifflich zu erfassen und mit den Aussagen der Väter in Übereinstimmung zu bringen. Gewiß war es wichtig, den Willen als schlechthin freie Spontaneität festzuhalten, und ebenso wichtig wurde es für das Selbstbewußtsein des europäischen Menschen, daß diese freie Willenshandlung aus dem liberum arbitrium mit dem freien iudicium der Vernunft zusammengedacht wurde: bis in die Ausgestaltung des Strafrechts und der Verhörverfahren hatte das auch ganz unerwartete Auswirkungen, wie Johannes Fried21 kürzlich zeigen konnte. 19 „Dialogus de libertate“, ed. F. Adorno, in: Atti e memorie dell’accademia Toscana di scienze e lettere „La Colombaria“ 22, N.F. 8 (1957) S. 265–303; dazu vor allem V. R. Giustiniani, Alamanno Rinuccini 1426–1499, Materialien zur Geschichte des florentinischen Humanismus (Studi italiani, 5), Köln-Graz 1965, bes. S. 243–248. 20 Reiches Material für die Frühzeit bietet O. Lottin, Psychologie et morale au XIIe et XIIIe siècle, Bd. I–VI, Louvain-Gembloux 1948–1960 [z.T. in 2. Aufl.], hier bes. Bd. I, II–IV, 1–2 (21957, 1948–1954). Für die Spätscholastik vgl. etwa die Hinweise auf die neueren Forschungen bei W. J. Courtenay, Schools and Scholars in Fourteenth Century England, Princeton 1987, S. 282–303. 21 Wille, Freiwilligkeit und Geständnis um 1300, Zur Beurteilung des letzten Templergroßmeisters Jacques de Molay, in: HJb 105 (1985) S. 388–425.
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Aber dem mir gestellten Thema würden wir uns auf diesem Wege nur sehr indirekt nähern. So lasse ich all diese Auseinandersetzungen kurz entschlossen beiseite. Ich beschäftige mich nur exemplarisch mit drei Problemkreisen, die die Einstellung – und vielleicht auch die Wirkung der europäischen Universi | täten auf die Genealogie der 226 Freiheit ein wenig beleuchten können: unser Blick richtet sich I. auf die Verfassung der Hohen Schulen, II. auf die Disputations- und Lehrfreiheit und III. auf die Freiheitsforderungen programmatischer Kritik in politischer Theorie.
I Die frühesten Belege für den Begriff einer libertas scholastica oder libertas scholarium hat Peter Classen in seinem letzten Aufsatz noch einmal eingehend behandelt22. Bekannt ist jener Werbebrief des früheren Pariser Artistenmagisters Johannes de Garlandia23, für das soeben eröffnete studium in Toulouse von 1229, der in mehrfacher Hinsicht eine besondere Situation beschwört: Da ist auf der einen Seite die soeben neu gegründete Schule, dem Grafen von Toulouse nach den Albigenserkriegen im Frieden von Paris als Sühneleistung abgerungen, die ihre ersten tastenden Schritte macht24. Da ist auf der anderen Seite die tiefe Krise der jungen Pariser Universität, wo nach einer blutigen Prügelei zwischen den Bürgern und Studenten in der Vorstadt der König die Scholaren im Stich gelassen hatte und der Bischof sich gleichfalls nicht zu klarer Haltung hatte durchringen
22 Zur Geschichte der „Akademischen Freiheit“, vorwiegend im Mittelalter, in: Jb. d. Heidelberger Akademie d. Wiss. (1980) S. 51–65, verändert in: HZ 232 (1981) S. 529–553, erweitert u.d. T.: Libertas scholastica – Scholarenprivilegien – Akademische Freiheit im Mittelalter, in: Classen, Studium und Gesellschaft im Mittelalter, hg. v. J. Fried (MGH Schr. 29), Stuttgart 1983, S. 238–284 (hiernach hier zitiert). 23 Zu ihm vor allem J. L. Paetow, „Morale scholarium“ of John of Garland, A Professor in the Universities of Paris and Toulouse in the 13th Century (Memoirs of the University of California, 4, 2) Berkeley, CA 1927, zur Biographie bes. S. 77–106, zum Aufenthalt in Toulouse (1329–1332): 89 ff., zum Brief 95. Jetzt F. J. Worstbrock in: Verf.-Lex.2 IV (1983) Sp. 612–623, hier bes. 613. 24 Zur Geschichte der Universität Toulouse vor allem die Aufsätze von E. Delaruelle, M.-H. Vicaire, Y. Dossat und M. Borries in: Les universités de Languedoc au XIIIe siècle (Cahiers de Fanjeaux, 5), Toulouse 1970; jetzt M.-H. Vicaire u. H. Gilles, Rôle de l’université de Toulouse dans l’éffacement du catharisme, in: Cahiers de Fanjeaux 20 (1986) S. 257–276.
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können25. Nach allen Seiten, nach Oxford, nach Cambridge, nach Orléans, Reims und Angers stoben die Pariser Scholaren auseinander. Johannes von Garlandia versuchte, den seiner jungen Hochschule so lebenswichtigen Strom wenigstens teilweise auch nach Toulouse zu lenken. Er tut dies, indem er in einem Werbebrief 26 namens der „uni227 versitas von Magistern und Scholaren, die das soeben neu begrün- | dete studium in Toulouse ausmachten“27, die attraktive Situation in glühenden Farben schildert. Toulouse erscheint als Land der Verheißung, wo nicht nur Milch und Honig fließen, sondern auch Korn und Wein in Fülle zu Gebote stehen. Der schwierige Anfang sei bereits gemacht, Vorlesungen und Disputationen fänden hier häufiger statt als in Paris; Theologen, Artisten, Juristen und Mediziner gingen ihrer Wissenschaft nach, und selbst die in Paris seit 1210 verbotenen28 libri naturales des Aristoteles dürfen in Toulouse vorgetragen werden. Quid deerit vobis igitur?, so fährt der Werbebrief fort, Libertas scholastica? Nequaquam, quia nullius habenis dediti propria gaudebitis libertate. (Was fehlt euch also? Die Scholarenfreiheit? ganz gewiß nicht, denn ohne von irgendjemand gezügelt zu werden, erfreut ihr euch eurer eigenen Freiheit). „Oder fürchtet ihr die Bosheit einer wütenden Volksmenge, eines ungerechten Fürsten Tyrannei? Das braucht ihr nicht, denn freigebig hat uns der Graf von Toulouse ausreichende Sicherheit geschaffen durch ein eigenes
25 Dazu nur H. Rashdall, The Universities of Europe in the Middle Ages, New Edition by F. M. Powicke and A. B. Exden, I–III, Oxford 1936, hier I, S. 334 ff. 26 Chartularium Universitatis Parisiensis, edd. H. Denifle u. Ae. Chatelain, t. I–IV, Paris 1891–1899 (künftig: „CUP“), hier I nr. 72, S. 129–131. – Es muß offen bleiben, ob dieser Text, der uns allein am Ende des V. Buchs einer epischen Versdichtung des Verfassers („De triumphis ecclesiae libri octo“, ed. T. Wright [Roxburghe Club], London 1856, vgl. S. 96–98) erhalten ist, überhaupt selbständig kursierte, erst recht, ob er eine größere Verbreitung erreichte. Unabhängig davon ist er aber in unserem Zusammenhang selbst als „Stilübung“ ein wertvoller Zeuge für die sonst selten erörterten Vorstellungen von „akademischer Freiheit“ am Beginn des 13. Jhs. 27 Die Adresse lautet: Universis Christi fidelibus et precipue magistris et scholaribus ubicumque terrarum studentibus [!] presentes litteras inspecturis universitas magistrorum et scholarium Tholose studium in nova radice statuentium . . . 28 CUP I nr. 11 S. 70 f., dazu bereits M. Grabmann, I papi del duecento e l’artistotelismo, 1: I divieti ecclesiastici di Aristotele sotto Innocenzo III e Gregorio IX (Miscellanea historiae pontificiae, V/7), Città del Vaticano 1941, bes. S. 5 ff., 42–69, vgl. auch J. Miethke, Papst, Ortsbischof und Universität in den Pariser Theologenprozessen des 13. Jahrhunderts, in: Die Auseinandersetzungen an der Pariser Universität im XIII. Jahrhundert, hg. v. A. Zimmermann (Miscellanea mediaevalia, 10), Berlin 1976, S. 52–94, hier 53–57.
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Salär für uns und durch Geleit für unser Personal auf dem Wege von und nach Toulouse“. Wenn sie durch Räuber im Distrikt der Grafschaft Schaden litten, so würde das Toulouser Gericht die Übeltäter verfolgen, als ob sie gegen Bürger von Toulouse sich vergangen hätten, und so weiter. Diese Sätze sind inhaltlich leider gar nicht klar. Ihr rhetorischer Schwung tut einem präzisen Verständnis Abbruch. Deutlich ist nur, daß zuerst die freie Lehre der aristotelischen libri naturales verheißen wird, dann, in einer rhetorischen Frage, die libertas scholastica, die libertas propria zugesagt wird, die keine Zügelung erfahren solle, und daß schließlich von den Sicherheiten gesprochen wird, die die liberalitas de Grafen bereitgestellt habe: Salär und Gerichtsschutz nach Einheimischenrecht, nicht Fremdenrecht. Die gegenseitige Zuordnung dieser drei Elemente ist in der Forschung strittig29 – vielleicht ist sie im Brief bewußt vage gehalten? Wir brauchen nicht unbedingt angesichts der schwebenden und oszillierenden Formulierungen eine gewaltsam eindeutige Begriffsbestimmung zu suchen. Die Lehrfreiheit möchte, so scheint es, zumindest als assoziative Überleitung vom Lehrprogramm zur libertas scholastica ernst genommen werden, wenn es auch ganz unbestreitbar ist, daß die hier angekündigte großzügige Ausstattung mit Rechtsgarantien die libertas propria zwar nicht schafft, aber toch 228 als Bedingung ihrer Möglichkeit auf Dauer sichert. | Eindeutiger weisen andere Belege für Paris und Bologna darauf hin, daß unter libertas scholastica oder libertas scholarium „die Summe der ständischen Privilegien und Rechte verstanden“ wird, „die den Magistern und Scholaren als einzelnen wie der Gesamtheit ihrer Genossenschaft zukommen“ – um hier die Definition Peter Classens zu verwenden30. Allerdings geht diese „Freiheit“ in den rechtlichen Absicherungen keineswegs völlig auf, so sehr solch Privilegienschutz auch wünschenswert und sogar nötig erschienen sein mag. Freiheit ist keineswegs nur das verliehene Recht, sie bleibt Anspruch auf eigene Entscheidung und Selbstbestimmung der ganzen Gruppe wie des einzelnen. Sie
29 Etwa Paetow, Morale scholarium (wie Anm. 22), S. 91; Grundmann, Freiheit (wie Anm. 5), S. 47 f.; L. Boehm, Libertas scholastica und negotium scholare, Freistellung und Sozialprestige des akademischen Standes im Mittelalter, in: Universität und Gelehrtenstand 1400–1800, hg. v. H. Rössler u. G. Franz, Limburg/Lahn 1970, S. 15–61, hier 22 ff.; P. Classen, Libertas scholastica (wie Anm. 21), S. 242. 30 Wie Anm. 22, S. 245.
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durch Privilegien abzusichern, haben besonders nachdrücklich die Pariser magistri et scholares versucht. Dabei waren sie so erfolgreich, daß die anderen Universitäten seit dem späten 13. Jahrhundert diesem Modell beflissen nacheiferten31. Trotzdem geht auch in Paris die libertas nicht im Privileg auf: Als Papst Alexander IV. im Pariser Mendikantenstreit durch sein Mandat „Quasi lignum vitae“32 die Magister aus dem Weltklerus de nostre potestatis plenitudine dazu zwingen will, die Theologiemagister aus dem Dominikanerorden ad magistrorum consorcium zuzulassen, und sie und ihre Hörer ad universitatis collegium zu integrieren, da entschließen sich die Pariser Magister aus dem Weltklerus zu einem letzten Akt der Verzweiflung33. Sie bitten den Papst, die über sie verhängte Exkommunikation aufzuheben und sie zu ihrer alten Freiheit und ihrem alten Stand zurückzuführen, den sie vor seinem Regierungsantritt gehabt hätten34, und sie zur societas mit den Predigerbrüdern nicht zwingen zu wollen. Aus Gewissensgründen könnten sie die Brüder nicht ad societatem nostram aufnehmen. Eher würden sie die Universität in ein anderes Königreich verlegen35. Wenn freilich der Papst das verbieten sollte, würden sie es vorziehen, der materiellen Einbuße zum Trotz das Studium zu verlassen und nach Hause zurückzukehren; dort würden sie sich lieber ihrer heimischen Freiheit freuen, als unter Zwang und Seelengefahr in der unerträglichen Sklaverei der 229 Gemeinschaft mit den Bettelmönchen zu ersticken36. | In unserem Zusammenhang ist es gar nicht erheblich, daß die Pariser Theologen sich allen Anstrengungen zum Trotz letztlich nicht
31
Auch die römische Kurie gewöhnte sich an das „Pariser Modell“, das sie ohne Zögern auch anderwärts anwandte. Vgl. für die Frühzeit kurialer Politik jetzt W. Maleczek, Das Papsttum und die Anfänge der Universität im Mittelalter, in: RHMitt27 (1985) S. 85–143 (der freilich die Eingriffsmöglichkeiten des Papstes m. E. überschätzt). 32 CUP I nr. 247 (S. 279–285); dazu besonders M. Dufeil, Guillaume de Saint Amour et la polémique universitaire parisienne 1250–1259, Paris 1972, bes. S. 153 ff., auch etwa J. Miethke, Papst, Ortsbischof (wie Anm. 28), S. 70–80. 33 CUP I nr. 256 (S. 292–297): „Radix amaritudinis“. Dazu Dufeil (wie Anm. 32), S. 170 ff. 34 . . . supplicandum, quatenus prefatam . . . sententiam invalidam decernentes necnon ad pristinam libertatem nostram et statum antiquum, in quo tempore promotionis vestre eramus, . . . nos pietatis intuitione reducentes . . . cogere non velitis. (S. 295 f.) 35 . . . studium nostrum in regnum aliud translaturos . . . 36 magis eligimus cum iactura nostra studium relinquendo ad proprios lares reverti et ibi nativa perfrui libertate quam coacte ac periculose societatis ipsorum fratrum servitute intollerabili suffocari (S. 296).
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durchsetzen konnten, daß der Papst im Zusammenspiel mit Helfern aus dem Episkopat und dem französischen König eine Entscheidung in seinem Sinne durchzusetzen verstand37. Wichtig ist mir zunächst die hochstilisierte Einfärbung der damals dann doch, wie sich zeigen sollte, wirkungslosen Drohung mit der Abwanderung und einer Aufhebung des Studiums, der einzigen „Hilfe“, die ihnen als waffenloser Schar von Fremden gegen die oftmalige schreckliche körperliche Gewalt durch die Einheimischen zur Verfügung stehe. Hier wird auf der Höhe des 13. Jahrhunderts die Urangst vor der Versklavung und dem Fremdenrecht beschworen, und diese Evokation wird ganz unmittelbar als evidenter Appell formuliert, der sich die Einsicht der Adressaten ja wohl nicht verschließen könne. Das entsprach natürlich nicht unbedingt dem realen Konflikt in Paris; die tief empfundene Empörung der Magister ist aber mit dieser atavistischen Evokation trefflich zum Ausdruck gebracht. Die libertas, die hier verbal mit Zähnen und Klauen verteidigt wird, wobei eben doch die angedrohte Sezession, die noch ein halbes Jahrhundert zuvor in Paris38 und Bologna39, auch in Oxford40, die wirkungsvollste Waffe der sich konsolidierenden Universitäten gegen äußeren Druck gewesen war, sich unter den gewandelten Bedingungen der Mitte des 13. Jahrhunderts nicht mehr ohne weiteres realisieren ließ und im Ergebnis scheiterte, die libertas, auf die man sich hier beruft, ist die Selbstbestimmung der Korporation über die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit ihrer Mitglieder, ist zugleich die Freizügigkeit als Rezessionsrecht, wird also als etwas ganz Elementares verstanden. Daß im Notfall die nativa libertas der Heimat an die Stelle des in Paris erreichten Standes (status) treten soll, zeigt zugleich die Differenzierung, die die Konkretion solcher Freiheitszumessung in
37 Zur Wirkung des Pariser Bettelordensstreits auf das Korporationsrecht der Pariser Universität vor allem P. Michaud-Quantin, Le droit universitaire dans le conflit parisienne de 1252–1257, in: Studia Gratiana 8 (1962) S. 577–599. 38 Vgl. Anm. 25. 39 Über Studentensezessionen in der Frühzeit Bolognas etwa W. Steffen, Die studentische Autonomie im mittelalterlichen Bologna, Eine Untersuchung über die Stellung der Studenten und ihrer Universitas gegenüber Professoren und Stadtregierung im 13./14. Jahrhundert (Geist und Werk der Zeiten, 58), Bern-Las Vegas 1981, bes. S. 52 ff. 40 M. B. Hackett, The University as a Corporate Body, und C. H. Lawrence, The University in State and Church, beides in: The History of the University of Oxford, I: The Early Oxford Schools, ed. J. I. Catto, Oxford 1984, S. 37–95, bzw. 97–150, bes. 37 ff., 131 f.
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der ständischen Ordnung damals bereits erreicht hatte. Es zeigt uns aber auch, daß solche Differenz anläßlich der Berufung auf emotionale Urschichten des Freiheitsverständnisses ohne weiteres Raisonnement schlicht hingenommen wurde. In abgeleiteter Form legt auch eine spätere Nomenklatur von diesem Sachverhalt verstecktes Zeugnis ab. In den Gründungsprivilegien für die Universität Heidelberg, die bekanntlich im Schisma in fast ängstlicher und jedenfalls engster Anlehnung an das Vorbild der 230 Pariser | Universität gegründet wurde41, heißt die die Schule, das studium tragende privilegierte Körperschaft der magistri und scholares meist universitas studii heydelbergensis42 oder nur universitas. In den deutschsprachigen Texten sprechen die Kurfürsten Ruprecht II. und Ruprecht III. von ihrer frischule und studium43 oder gefriten universiteten und schulen44. Daß die korporative Autonomie dieser deutschen Provinzuniversität,
41 Dazu zuletzt etwa E. Wolgast, Die Universität Heidelberg 1386–1986, BerlinHeidelberg 1986; G. Seebass, Heidelberg – Universitätsgründung im Spannungsfeld des Spätmittelalters, in: Ruperto Carola 74 (1986) S. 15–22; J. Miethke, Universitätsgründung an der Wende zum 15. Jh.: Heidelberg in Zeitalter des Schisma und des Konziliarismus, in: Die Geschichte der Universität Heidelberg, Heidelberg 1986, S. 9–33; Ders., Ruprecht I. von der Pfalz, der Gründer der Universität Heidelberg, in: Die Sechshundertjahrfeier der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Eine Dokumentation, hg. im Auftrag des Rektors von E. Wolgast, Heidelberg 1987, S. 147–156; M. Schaab, Die Geschichte der Kurpfalz, I, Stuttgart 1988, S. 120–122. 42 So vor allem die Umschrift des ersten großen Siegels, das für den Rektor wenige Tage nach der Gründung der Universität durch den Kurfürsten in Auftrag gegeben wurde, vgl. P. Zinsmaier, Die älteren Siegel der Universität Heidelberg, in: ZGO 89, N.F. 50 (1937) S. 1–20, bes. 4 f.; Abbildung z.B. in: Mittelalterliche Universitätszepter, Meisterwerke europäischer Goldschmiedekunst der Gotik, hg. v. J. M. Fritz (Ausstellungskatalog), Heidelberg 1986, nr. 2 S. 18. – Diese Terminologie hielt sich länger: noch 1401 heißt es in einer Aufzeichnung in deutscher Sprache über die Einwilligung König Ruprechts von der Pfalz zu einem Grundstücksgeschäft: . . . der meister und der unversitede des Studiums zu Heidelberg . . .; Die Rektorbücher der Universität Heidelberg, bearb. von H. Lutzmann und H. Weisert hg. v. J. Miethke [künftig „AUH“], I1, Heidelberg 1986, nr. 67, S. 139, 52; in dem bekannten Finanzbericht vom 28. Juni 1410 [erstattet von Konrad von Soest nach dem Tode Ruprechts von der Pfalz für dessen Sohn Ludwig III.] wird am Anfang die Universität ebenso benannt: . . . de statu universitatis studii Heydelbergensis devote filie vestre . . ., in: AUH 12 (1990) S. 448–457, nr. 446, hier S. 450, 6, vgl. hier auch S. 434, 15, nr. 4 usw.]. – Vgl. auch oben die Intitulatio im Brief des Johannes von Garlandia (wie Anm. 27); oder für Wien: Acta facultatis artium universitatis Vindobonensis 1385–1416, ed. P. Uiblein (Publikationen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, VI2 [1]), Wien 1968, z.B. S. 1,11; 2,29; 475,13 f.; 478,32. 43 E. Winkelmann, Urkundenbuch der Universität Heidelberg, I, Heidelberg 1886, nr. 30 (S. 52,4 u.ö.) v. 21. Mai 1391 (auch in AUH I1, nr. 57, S. 112–114). 44 Vgl. Winkelmann, Urkundenbuch I (wie Anm. 43), nr. 32 (S. 56,29). Ebenda, Zl. 37: unserer gefriten und privilegierten universiteten und schulen.
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so genau sie auch den Pariser Verhältnissen nachgebildet worden war, sich doch erheblich vom Paris des 12. und 13. Jahrhunderts unterschied, das freilich steht auf einem anderen Blatt, dessen Erkun231 dung wir hier nicht aufnehmen wollen45. |
II Die Freiheitsforderung der an den studia Tätigen ging, das haben wir schon gesehen, in diesem ständischen Modell nicht ohne letzten Rest auf, wenn auch die privilegierte Körperschaft mit dem Recht auf eigene Statuten und Organe, auf Zulassung durch Immatrikulation, auf Graduierung und eigene Gerichtsbarkeit, auch auf eigenes Vermögen, mit einem Wort, auf eigene Rechtspersönlichkeit im Vordergrund der allermeisten Texte steht und sozusagen den Normalfall repräsentiert. Schon bei Johannes von Garlandia war uns jene Interferenz einer „freien“ Aristoteleslektüre entgegengetreten, die in das Bild ein irritierendes Flackern brachte. Nun wäre es gewiß verfehlt, im Mittelalter eine Debatte über die Lehrfreiheit oder gar über jene Lernfreiheit zu erwarten, die uns zuletzt aus den Auseinandersetzungen der sechziger und siebziger Jahre an den bundesdeutschen Universitäten noch einmal ins Bewußtsein gerückt wurde. Trotzdem begleitet das Problem der Lehrdisziplin und des Lehrplans die Geschichte der Universitäten auch in ihren Anfängen. Es ist jedoch daran zu erinnern, daß der „Index librorum prohibitorum“ eine sehr späte Erfindung ist und sinnvoll allererst nach Erfindung des Buchdrucks wirksam funktionieren konnte46. Zuvor stellte sich das Problem in sehr differenzierter und je nach Fach und Fakultät unterschiedlicher Strenge. Ich will hier gar nicht auf die
45 Einige Beispiele dazu für Heidelberg verfolgt J. Miethke, Marsilius von Inghen als Rektor der Universität Heidelberg, in: Ruperto Carola 76 (1987) S. 110–120. Vgl. für Köln E. Meuthen, Die alte Universität (Kölner Universitätsgeschichte, hg. von der Senatskommission für die Geschichte der Univ. Köln, I), Köln 1988, bes. S. 60. Auch an Wien läßt sich dasselbe Festhalten am Pariser Vorbild zeigen, vgl. nur z.B. den Beginn der Statuten der Theologischen Fakultät, in E. Kink, Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien, II, Statutenbuch, Wien 1854, nr. XV, bes. S. 93 f.: Eapropter dicte alme universitatis ac facultatis theologie parysiensis vestigia insequentes nos (. . .) ad honorem omnipotentis dei et ad salubrem futurum statum dicte facultatis nostre theologyce concorditer ordinamus ea que sequuntur. 46 Einen neueren Überblick gibt H. H. Schwedt, Der römische Index der verbotenen Bücher, in: HJb 107 (1987) S. 296–314.
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Selektion von Gebrauchstexten eingehen, die als übliche Lehrbücher dem Unterricht zugrunde gelegt wurden und deren textliche Zuverlässigkeit und billige Produktion die Universität im pecia-System47 und später in der pronunciatio förderte48. Mir geht es um rechtlich verbindlichen, nicht um faktischen Ausschluß von bestimmten Büchern aus dem Lehrbetrieb49. Das Bemühen der Kirche um die Orthodoxie der Glaubenslehre hatte sich beinahe seit der Urgemeinde in ver232 schiedenen | Formen der Lehrzucht und Kontrolle gezeigt. Die Zuständigkeit der Synode und verantwortlichen Leiter der Gemeinde war unbestritten und alte Tradition. Im Mittelalter erwuchs in einem komplizierten Gang, der hier nicht erneut zu verfolgen ist50, aus die-
47 Maßgebend die klassische (das Thema überhaupt erst sichtbar machende) Studie von J. Destrez, La pecia dans les manuscrits universitaires du XIIe et du XIIIe siècle, Paris 1935. Dazu zuletzt ein Sammelband: La production du livre universitaire au moyen âge: exemplar et pecia, edd. L. J. Bataillon, B. G. Guyot, R. H. Rouse, Paris 1988, hier S. 29 f. auch die ältere Literatur; weiterführend insbesondere ist die eindringliche Untersuchung von R. H. Rouse, The Book Trade at the University of Paris ca. 1250–ca. 1350, S. 1–114, wo die Frühgeschichte der Institution neue Beleuchtung erfährt. 48 Dazu K. Christ, Petia, Ein Kapitel mittelalterlicher Buchgeschichte, in: Zentralblatt für das Bibliothekswesen 55 (1938) S. 1–44, bes. 37 ff.; B. Michael, Johannes Buridan, Studien zu seinem Leben, seinen Werken und zur Rezeption seiner Theorien im Europa des späten Mittelalters (Phil. Diss. FU Berlin 1978), Berlin 1985, S. 263–267; J. Miethke, Die Konzilien als Forum der öffentlichen Meinung im 15. Jahrhundert, in: DA 37 (1981) S. 736–773, bes. 753 ff. 49 Der Übergang konnte noch im 14. Jahrhundert fließend sein. Vgl. die statutarischen Beschlüsse der (Artisten-)Magister über die im Unterricht der Bakkalare zulässigen Bücher (1339): CUP II nr. 1023 (S. 485 f.); dazu W. J. Courtenay u. K. H. Tachau, Ockham, Ockhamists and the English German Nation at Paris 1339–1341, in: History of Universities 2 (1982) S. 53–96, hier 54 f., auch K. H. Tachau, Vision and Certitude in the Age of Ockham, Epistemology and the Foundation of Semantics (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters, 22), Leyden 1988, S. 337 f. (Vgl. auch Anm. 69). 50 Hier stütze ich mich auf meine früheren Arbeiten: Theologenprozesse in der ersten Phase ihrer institutionellen Ausbildung. Die Verfahren gegen Abaelard und Gilbert von Poitiers, in: Viator 6 (1975) S. 87–116; Papst, Ortsbischof und Universität (wie Anm. 28); Der Zugriff der kirchlichen Hierarchie auf die mittelalterliche Universität. Institutionelle Formen der Kontrolle über die universitäre Lehrentwicklung vom 12. bis 14. Jh. (am Beispiel von Paris), in: Kyrkohistorisk Arsskrift 77 (1977) S. 197–204. Neuerlich vgl. auch etwa W. Trusen, Der Prozeß gegen Meister Eckhart, Vorgeschichte, Verlauf und Folgen (Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, N.F. 54), Paderborn 1988, der der verfahrenstechnischen und prozeßrechtlichen Seite große Beachtung schenkt, ohne freilich die parallelen Verfahren weiter in Betracht zu ziehen – hätte er das getan, wäre seine Studie vielleicht nicht ganz so apologetisch ausgefallen. Vgl. jetzt auch William J. Courtenay, Inquiry and Inquisition Academic Freedom in Medieval Universities, in: ChH 58 (1989) S. 168–181.
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ser Ausgangslage eine zunächst unklare Kompetenzlage, die nebeneinander sehr unterschiedliche Institutionen ins Spiel brachte: Verschiedene synodale Gremien (Diözesan-, Provinzial-, päpstliche oder Legatensynode), den Ortsbischof und schließlich den Inhaber des Primats (das sich als theoretisch juridisches Konzept nun aus dem juristisch ausgearbeiteten Lehrprimat entwickelte). Der Papst beanspruchte Zuständigkeit und fand auch immer weitere Anerkennung, wobei allen diesen Instanzen der Rat der Fachleute, der gelehrten Theologen, nicht entbehrlich war. Die Verfahren, die aus dieser Ausgangslage durchgeführt wurden, waren sehr vielfältig, soweit wir das erkennen können. Auch die Formen der Verurteilungen waren höchst unterschiedlich. Da wurde, wie bei Abaelards Verurteilung in Soissons 1121, unter dem Vorsitz eines Kardinallegaten eine ganze Schrift global gleichsam den überlieferten Ketzerkatalogen subsummiert51, oder Papst Innozenz II. verurteilte auf Intervention von Bernhard von Clairvaux nach der Verhandlung in Sens 1140 pauschal „alle (falschen) Lehren des Peter Abaelard“ mit einem Federstrich52. Daneben und auf die Dauer mit Ausschließlichkeit finden sich mehr oder minder sorgfältige Listen mit einzelnen Irrtümern53, extrem etwa in jenem Syllabus des Pariser Bischofs Stefan Tempier vom 7. März 1277, in dem nicht weniger als 219 | 233 einzelne Irrtümer aufgezählt und verboten wurden, der aber daneben auch noch pauschale Verurteilungen ganzer Schriften enthielt54.
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Miethke, Theologenprozesse (wie Anm. 50), S. 94. Vgl. A. Borst, Abaelard und Bernhard, in: HZ 186 (1958) S. 497–526, hier 522 mit Anm. 1, überarbeitet (doch ohne Nachweise) jetzt in Borst, Barbaren, Ketzer und Artisten, Welten des Mittelalters, München 1988, S. 351–376, hier 371; in der Ausgabe der Bernhard-Briefe durch J. Leclercq u. H. Rochais in: Sancti Bernardi Opera, VIII, Rom 1977, nr. 194, S. 48, ist der Zusatz perversa übrigens enthalten, er gehört also offensichtlich zur Texttradition dieses Stückes im Briefcorpus Bernhards, was aber über den ursprünglichen Wortlaut des Briefes noch nicht entscheidet. 53 Dazu die immer noch vollständigste Liste bei J. Koch, Philosophische und theologische Irrtumslisten von 1270–1329, Ein Beitrag zur Entwicklung der theologischen Zensuren, in: Mélanges Mandonnet, II (Bibliothèque thomiste, 14), Paris 1930, S. 305–329, jetzt unverändert in: Koch, Kleine Schriften, II (Storia e letteratura, 128), Rom 1973, S. 423–450. 54 CUP I Nr. 473 (S. 543–558), zur Überlieferung Denifle ibid. S. 555 f. Dazu ausführlich R. Hissette, Enquête sur les 219 articles condamnés à Paris le 7 mars 1277 (Philosophes médiévaux, 22), Louvain 1977; Ders., Etienne Tempier et ses condamnations, in: RTh47 (1980) S. 231–270; vgl. auch J. Miethke, Papst, Bischof, Ortsbischof (wie Anm. 28) S. 69 ff.; J. F. Wippel, The Condemnations of 1270 and 1277 at Paris, in: The Journal of Medieval and Renaissance Studies 7 (1977) 52
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Die Wirkung solcher Aktionen auf die Lehre an den Universitäten war aber im einzelnen ebenfalls sehr verschieden. Die Verurteilungen Abaelards und Gilberts de la Porrée haben die Verbreitung von ihren Texten selbst im Zisterzienserorden nicht aufgehalten55. Gebote und Verbote des Ortsbischofs waren natürlich zu respektieren und päpstliche Sentenzen zunehmend auch. Der Syllabus von 1277 wurde, vor allem in Paris, durchaus in den universitären Disputationen in Rücksicht genommen, so wenn etwa der Franziskanertheologe Petrus de Falco († 1297) zu Beginn der achtziger Jahre in einer „Quaestio disputata“, also einer formellen feierlichen Universitätsveranstaltung56,
S. 169–201; J. Châtillon, L’exercice du pouvoir doctrinal dans la chretienté du XIIIe siècle: le cas d’Etienne Tempier, in: Le pouvoir (Philosophie-Institut Catholique de Paris, Faculté de Philosophie), Paris 1978, S. 13–45, jetzt in: J. Châtillon, D’Isidore de Séville à Saint Thomas d’Aquin, Études d’histoire et de Théologie (Collected studies series, 225), London 1985, nr. XV; E. Grant, The Condemnation of 1277, God’s absolute power and physical thought in the middle ages, in: Viator 10 (1979) S. 211–244; Ders., Issues in Natural philosophy at Paris in the late 13th Century, in: Mediaevalia et humanistica 13 (1985) S. 75–94; L. Hödl, „. . . sie reden, als ob es zwei gegensätzliche Wahrheiten gäbe.“ Legende und Wirklichkeit der mittelalterlichen Theorie von der [19. doppelten Wahrheit, in: Philosophie im Mittelalter, Entwicklungslinien und Paradigmen (Wolfgang Kluxen zum 65. Geb.), Hamburg 1987, S. 225–243. Zu vergleichen ist auch die ausführliche Einleitung zu R. Wielockx, ed. Aegidii Romani „Apologia“, Edition et commentaire (Aegidii Romani Opera omnia, III/1), Florenz 1985, sowie jetzt R. Wielockx, Autour du procès de Thomas d’Aquin, in: Thomas von Aquin, Werk und Wirkung im Lichte neuerer Forschungen, hg. v. A. Zimmermann (Miscellanea mediaevalia, 19), Berlin 1988, S. 413–438. Zuletzt K. Flasch, Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277 (Excerpta classica, IV), Mainz 1989; L. Bianchi, Il vescovo e i filosofi, La condanna parigina del 1277 e l’evoluzione dell’ aristotelismo scolastico (Quodlibet, 6) Bergamo 1990. 55 Dazu vgl. etwa (für Abaelard) D. E. Luscombe, The School of Peter Abelard (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought, II 14) Cambridge 1969, S. 60– 102, bes. 97 ff.; J. Barrow, C. Burnett, D. E. Luscombe, A checklist of the manuscripts containing the writings of Peter Abelard and Heloise and other works closely associated with Abelard and his school, in: Revue d’histoire des textes 14–15 (1984–1985) S. 183–312; (für Gilbert) N. M. Häring, Handschriftliches zu den Werken Gilberts, Bischof von Poitiers (1142–1154), in: Revue d’histoire des textes 8 (1978) S. 133–194 (insbes. z.B. S. 158 nr. 38; S. 185 f. nrr. 156, 158, 160–162). 56 Dazu zusammenfassend zuletzt etwa B. C. Bazan, J. F. Wipfel, G. Fransen, D. Jacquart, Les questions disputées et les questions quodlibétiques dans les facultés de théologie, de droit et de medecine (Typologie des sources du moyen âge occidental, 44–45), Turnhout 1985, hier speziell Bazan, S. 50–92. Knapp L. Hödl u. P. Weimar, Disputatio(n), in: LexMA III (1986) 1116–1119; speziell zu den Juristen M. Bellomo, Aspetti dell’ insegnamento giuridico nelle università medievali, I: Le Quaestiones disputatae (Cultura giuridica medievale e moderna, 1), Reggio Calabria 1974, bes. S. 13–91; zu den Medizinern auch B. Lahn, The Salernitan Questions, An Introduction to the History of Medieval and Renaissance Problem Litterature, Oxford 1963.
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zur Begründung seiner Auffassung mehr | mals hintereinander zu einzelnen Punkten sich auf diese Irrtumsliste stützte: Et hoc arguo per auctoritatem: Inter articulos excommunicatos a domino episcopo Parisius de consilio magistrorum iste est unus . . . Unde est unus articulus excommunicatus, scilicet iste . . . Ad hoc auctoritas magistrorum, est enim unus articulus talis . . . Ad hoc est auctoritas magistrorum, ecce unus articulus excommunicatus . . . Ad hoc est auctoritas magistrorum, articulus est unus . . . (usw.)57. Natürlich mochte es günstig scheinen, zumal in der ersten Zeit, sich offiziell nach dem Syllabus zu richten, und selbst noch ein halbes Jahrhundert später hat etwa Konrad von Megenberg in seiner „Yconomica“ (von 1349/52) die gesamte Liste vollständig, gleichsam zur Abschreckung eingerückt und eingehend kommentiert, „damit man spezifischer die Hauptirrtümer erkennen könne, weswegen man die Philosophen als eitel und leer verabscheuen muß“58. Andere hielten sich nicht so ängstlich an die Leitplanken einer amtlich gebilligten Orthodoxie. Besonders der bedeutende niederländische Theologe (und Schüler Heinrichs von Gent) Gottfried von Fontaines († nach 1306) hat immer wieder, schon in den achtziger und neunziger Jahren des 13. Jahrhunderts wider den Stachel gelöckt und in seine „Quodlibets“, das heißt in die feierlichste Veranstaltung im Lehrbetrieb der Theologischen Fakultät überhaupt59, auch Quaestionen aufgenommen, wie etwa Utrum magister in theologia debet dicere contra articulum episcopi, si credat oppositum esse verum? und nach dem Tode Tempiers sogar die Frage erörtert: Utrum episcopus Parisiensis peccet in hoc quod omittit corrigere quosdam articulos a praedecessore suo condemnatos60? Außerhalb von Paris und der Pariser Diözese | 235 57 Hier zitiert nach O. Lottin, Psychologie et morale, I (wie Anm. 20, 21957), S. 286–288. 58 Yconomica III l 13–15, ed. S. Krüger (MGH Staatsschr. III 5/3), Stuttgart 1980, S. 49–190, Zitat hier III l 14, S. 53: Ut autem magis in specie cognoscas errores precipuos, propter quos philosophi detestantur inanes, noscas omnes articulos subnotatos maturo consilio atque prospicaci collacione Parisius a magistris sacre pagine esse refutatos tamquam fidei inimicos . . . Über das maturum consilium des bischöflichen Vorgehens waren andere Autoren ganz anderer Meinung, vgl. nur etwa einen der Betroffenen, Aegidius Romanus, der (Quodl. II.7, hier zitiert nach E. Hocedez, La condamnation de Gilles de Rome, in: RThAM 4 [1932] S. 34–58, hier S. 55 A. 73) im Gegenteil schreibt: Vellemus autem, quod maturiori consilio articuli illi ordinati essent, et adhuc forte de eis in posterum habebitur consilium sanius; Aegidius spricht sogar davon (II Sent. d. 32 q. 2 a. 3. im Druck Venedig 1581: Neudruck 1968, II, S. 471b), die Verurteilung sei non consilio magistrorum, sed capitositate quorundam paucorum erfolgt. 59 Etwa J. W. Wippel, in: Les questions (wie Anm. 56), S. 171. 60 Vgl. Gottfried von Fontaines, Quodlibets VII 18 und XII 5, éd. J. Hofmans, M. de Wulf (Les philosophes Belges 3 bzw. 5), Louvain 1914, bzw. 1932, S. 402– 405; bzw. S. 100–105; vgl. auch XII 6, ebenda S. 105–108: Utrum liceat doctori
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war es noch viel einfacher, sich um die Definitionen nicht zu kümmern, denn, so schreibt der Engländer Wilhelm von Ockham im Rückblick auf Oxforder Diskussionen seiner Studienzeit, zu den Pariser Verurteilungen gebe es viele Meinungen, zahlreiche Artikel seien leichtfertig, denn sie verurteilten wahrheitsgemäße Sätze und die Wahrheit dürfe unter keinen Umständen feierlich verdammt werden. Auch zur Zeit, da die Liste noch vollständig in Kraft gestanden habe, hätten einige Theologen Artikel dieses Syllabus insgeheim oder öffentlich im Unterricht vertreten. Er, Ockham, könne sich an einen Dominikaner (in Oxford) erinnern, der auf den Einwand der Pariser Verurteilung antwortete: damnationem illam nequaquam mare transisse, die Sentenz könne jenseits des Ärmelkanals keine bindende Kraft 236 besitzen61. |
praecipue theologico recusare quaestionem sibi positam, cuius veritas manifestata per determinationem doctoris offenderet aliquos divites et potentes? Dazu bereits M. H. Laurent, Godefroid de Fontaines et la condamnation de 1277, in: Revue thomiste 35 (1930) S. 273–281. – Andere Autoren: Johannes Regina von Neapel, O.P., Utrum doctrina fratris Thomae quantum ad omnes conclusiones passit licite doceri Parisius? Ed. K. Jellouschek, in: Xenia Thomistica 3 (1925), S. 88–101. – Servasius v. Mont St. Eloi (der neben Heinrich von Gent der wichtigste Lehrer Gottfrieds von Fontaines gewesen war) Quodlibet q. 61: Utrum si primas vel episcopus condempnavit aliquos articulas illicite, successor suus teneatur illos revocare? Dazu jetzt R. Hissette, Une question quodlibétique de Servais du Mont-Saint-Éloi sur le pouvoir doctrinal de l’évêque, in: RTh 49 (1982) S. 234–242 (Text: S. 238 ff.); in der Interpretation kann ich Hissette nicht überall folgen. Der Text untersucht nur die Verpflichtung und Berechtigung eines Bischofs oder Erzbischofs, sich dieser Fragen anzunehmen, und kommt zu dem Resultat, daß beide neben dem eigentlich zuständigen Papst in bestimmter Weise solche Verfügungen erlassen (und eben auch aufheben!) dürfen. S. 241 Zl. 98 (Hissette) fehlt – entgegen der Vermutung des Hgs. – kein Textstück, hier wird ausdrücklich (und vom Annotator am Rand offenbar deutlich unterstrichen) auf die „Glossa ordinaria“ zu di. 80 c. 2 s.v. in fide verwiesen, wo im Gegensatz zu dem (ps.-isidorischen) Canon (aus einem Ps.-Clemensbrief, der die maiora . . . negotia in fide den Patriarchen und Metropoliten zugewiesen hatte) festgehalten ist (hier zitiert nach einem Druck Venedig 1584, S. 507a): Infra, 23 qu. 1, Quoties [C. 24 q. 1 c. 12] contra, infra, 16 qu. 1, Frater noster [C. 16 q. 1 c. 52] contra, ubi dicitur, quod tantum ad Petrum est referenda quaestio fidei. Sed expone hoc „in fide“: „id est fideliter“, vel possunt agitare causas fidei, sed non procedere ad sentenciam. Vel distingue, qui sint qui dubitant; nam si laici, videtur quod episcopi possunt determinare, Extra, De haereticis, Ad abolendam [X 5.7.9], si clerici, papa, Extra, eodem titulo, Cum Christus [X 5.7.7]. Das entspricht im Übrigen exakt der von Servasius vorgetragenen Lösung (im gleichen Sinn dann auch Ockham, wie Anm. 61). – (Auf alle diese Texte hat schon J. Koch, Kl. Schr. II [wie Anm. 53], S. 425 f., aufmerksam gemacht: deutlich sind jeweils die Interessen der Autoren und ihre von der Zensurenliste abweichende Haltung zu erkennen). 61 Guillelmus de Ockham, I Dialogus II 19, Druck von Johannes Trechsel, Lyon 1494 = Neudr. in: G. de Ockham, Opera plurima, I, London 1962, fol. 13ra: Volo te scire quod multi scienter nonnullas assertiones damnatas Parisius occulte et publice docuerunt. Unde scio quendam doctorem de ordine predicatorum assertionem damnatam Parisius (. . .) deter-
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Ich will hier nicht untersuchen, wie weit diese Haltung, die sich ingeniös die Besonderheiten jenes Syllabus zunutze machte, der kirchenrechtlichen Situation voll gerecht wurde, noch auch, wie mit päpstlichen Verurteilungen verfahren wurde – denn Ockham hat natürlich auch dafür eine Antwort. Wichtig ist mir nur, daß selbst feierliche und ausdrückliche Normierungen nach kurzer Zeit ihre allgemein bindende Kraft verloren und die Diskussionen nur eher formal als inhaltlich bestimmen konnten. Der Theologe war es gewohnt, auch mit verbotenen Lehren zumindest in apologetischer Absicht umzugehen, die haeretischen und haeresieverdächtigen Argumente zu wägen, zu beurteilen und in seine Argumentation einzubeziehen. Die scholastische Quaestio, die seit dem 12. Jahrhundert methodisch das Vorgehen der Wissenschaft in allen Disziplinen bestimmte und jedes literarische Genus scholastischer Texte durchwirkt und durchtränkt hat, ergeht sich in freier Fragehaltung. Verbotene Fragen gibt es nicht, allenfalls verbotene Antworten.
minasse et, cum contra se obiiceretur quod dicta assertio, quam tenuit, esset damnata Parisius, respondit damnationem illam nequaquam mare transisse. Istius etiam sententie fuit magister Godfridus de Fontibus. Auch Ockham zitiert in cap. 18 (also unmittelbar zuvor) die beiden Dekretalen Ad abolendam und Cum Christus und die Dekretglosse zu di. 80 c. 2 s.v. In fide (vgl. Anm. 60). Hier möchte ich offen lassen, ob er sich nicht (dem Stil des „Dialogus“ gemäß) hinter dem dominikanischen Kollegen nur geschickt versteckt hat: die diesem zugeschriebene Auffassung bekämpft Ockhams englischer Altersgenosse und Intimgegner Walter Chatton, O.F.M., in einem Quodlibet von nach 1323 (in dem er verschiedentlich gegen Ockhams theoretische Positionen polemisiert: er könnte sich hierin also auch gegen Ockham persönlich wenden) in q. 24 a. 2 mit den Worten: Dico quod angelus potest moveri de loco ad locum, etsi nullum corpus assumat. Probatur per duos articulas Parisienses, etc. Dices quod illa determinacio non transivit mare, ideo non est hic curandum de illa. Dico quod illud quod est ibi suspectum et excommunicatum, debet hic reputari suspectum. (Ms. Paris, Bibl. Nat., lat. 15805, fol. 59ra, hier zitiert – mit zwei geringfügigen [konjekturalen] Textveränderungen – nach G. J. Etzkorn, The Codex Paris Nat. Lat. 15805, in: AFrH 80 [1987] S. 321–333, hier S. 326 Anm. 3). Zu Ockhams Auffassung von der Ortsbewegung der Engel vgl. insbes. Quodlibet I4–5, 8, ed. J. C. Wey in: Guillelmi de Ockham Opera philosophica et theologica, edita cura Instituti Franciscani Universitatis S. Bonaventurae, Opera theologica, tom. IX, St. Bonaventure, N.Y. 1980, S. 23–35, 45–50; dazu etwa A. Goddu, The Physics of William of Ockham (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters, 16), Leyden und Köln 1984, S. 132 f. – Bei den von Chatton zitierten Artikeln muß es sich um die schon von Heinrich von Gent, Gottfried von Fontaines, Aegidius Romanus u.a. intensiv diskutierten §§ 204 und 219 handeln; dazu etwa R. Hissette (wie Anm. 54), S. 104–110; R. Wielockx, Aegidii „Apologia“ (wie Anm. 54), S. 103; zuletzt K. Flasch (wie Anm. 54), S. 248–250, 260 f. Eine alphabetische tabula des 14. Jhs. (Ms. Karlsruhe LB 168, fol. 36rb–va) ordnet die beiden Artikel unter intelligentie ein, vgl. R. Hissette, Une „Tabula super articulis Parisiensibus“, in: RTh 52 (1985) S. 171–181, hier 175.
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Die Schwierigkeit, diese Art von Lehrfreiheit zu fassen, liegt für uns erneut darin, daß sich auch über diese Freiheit die mittelalterlichen Theologen kaum zusammenhängend geäußert haben. Sie nutzten – in unterschiedlicher Intensität und erheblicher Abschattierung – ihre Möglichkeiten, aber erörterten solche Probleme thematisch höchst selten. Nur im Konfliktfall kann hier und da diese Freiheit des Disputierens evoziert werden. Ich will mich auf ein einziges Beispiel beschränken, das die Nachwirkungen des Mendikantenstreits länger als eine Generation nach seinem vorläufigen Ende betrifft: 1290 hat der päpstliche Kardinallegat Benedikt Caetani, der spätere Papst Bonifaz VIII., in Frankreich mit Episkopat und Klerus auch über die päpst237 lichen Beichtprivilegien für die Mendikantenorden verhandelt62. | 62 Ein Bericht darüber – über ein Jahrhundert später – bei Jakob von Soest, O.P., in einer größtenteils und hier jedenfalls eigenhändigen Materialsammlung zu Privilegien und Rechtsfragen der Dominikaner aus seinem Nachlaß (Soest, StB, ms. 29 [!], pp. 120–122), aufgefunden und zuerst publiziert durch H. Finke, Das Pariser Nationalkonzil vom Jahre 1290, Ein Beitrag zur Geschichte Bonifaz’ VIII. und der Pariser Universität, in: RQ9 (1895), S. 171–182. Text 178 ff., abgedruckt u.a. bei Finke, Aus den Tagen Bonifaz VIII. Funde und Forschungen, Münster 1902, pp. III–VII, bei C. J. Hefele, Histoire des Conciles, nouvelle édition par H. Leclercq, VI/2, Paris 1915, S. 1478–1480, und bei A. Callebaut, Les provinciaux de France au XIIIe siècle, in: AFrH 10 (1917) S. 289–356, hier 347–349. Der Wert dieser Quelle ist schwer zu bestimmen, da Kontrollmöglichkeiten fehlen. Die farbige Erzählfreude, die schon Finke beeindruckt hat, hat etwa K. Schleyer, Anfänge des Gallikanismus im 13. Jahrhundert, Der Widerstand des französischen Klerus gegen die Privilegierung der Bettelorden (Historische Studien, 314), Berlin 1937, S. 75 f. mit Anm. 68 (wo auf sachliche Unstimmigkeiten vor allem chronologischer Natur abgestellt ist) mit – übergroßer – Skepsis erfüllt. Der Bericht ist aber ernst zu nehmen, da er athmosphärische und individuelle Züge wiedergibt, die ein Jahrhundert später so wohl nicht hätten erfunden werden können (vgl. nur etwa die Namen der beteiligten Magister, unten Anm. 69 f.). – Zu der Gruppe der Sammelhss., der der Bericht entstammt, und zu ihrem teilweisen Schreiber Jakob von Soest vgl. die Diss. des Finke-Schülers J. H. Beckmann, Studien zum Leben und literarischen Nachlaß Jakobs von Soest, OP (1360–1440) (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens in Deutschland, 25), Paderborn 1929. bes. S. 75 u. 111; allgemein vgl. N. Eickermann, Miscellanea Susatensia II, in: Soester Zeitschrift 86 (1974), hier bes. S. 27–34; T. Kaeppeli, Scriptores ordinis Praedicatorum medii aevi, II, Rom 1975, S. 343–346 (nrr. 2128–2148, hier bes. nr. 2143 f., S. 345 f.); F. J. Worstbrock in: Verf.-Lex.2 IV (1983) Sp. 488–494, bes. 493; W. P. Eckert, Jakob von Soest, Prediger und Inquisitor, in: Von Soest – aus Westfalen, Wege und Wirken abgewanderter Westfalen im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, hg. v. H. D. Heimann, Paderborn 1986, S. 125–138; E. Meuthen, Die alte Universität (wie Anm. 45) S. 154 f. Eine detaillierte Beschreibung der Soester Hs. mit interessanten neuen Befunden (über H. Finke, WZ 46 [1888] S. 190 ff., hinaus) jetzt in: Die mittelalterlichen Handschriften der Wissenschaftlichen Stadtbibliothek Soest, beschrieben von B. Michael, mit einem kurzen Verzeichnis der mittelalterlichen Handschriftenfragmente von T. Brandis (Wiesbaden 1990), hier S. 174–194; hier wird (S. 181) darauf aufmerksam gemacht, daß sich ein zweites Exemplar des
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Der Kardinal Benedikt zeigte sich in seiner schroffen Art jeder Forderung nach Aufhebung oder Änderung der Privilegien völlig unzugänglich. Nachdem er dies als endgültige Position der Kurie mit Schärfe und Nachdruck den versammelten Bischöfen Frankreichs und später dem Klerus der Pariser Kirche schon gesondert deutlich gemacht hatte mit der Auflage, daß künftig auch an der Universität nichts gegen das Privileg unternommen werden dürfe, tat der wohl bedeutendste Theologe dieser Zeit, Heinrich von Gent (†1293), qui multa disputaverat de privilegio et de duodecim peciis librum ediderat („der oft und viel über das Privileg disputiert hatte und auch ein dickes Buch von 12 Pezien [das heißt normalerweise fast hundert, genau 96 großformatigen Pergamentseiten63], darüber veröffentlicht hatte“64), einen mutigen Schritt: Er lud seine Kollegen zu einer großen öffentlichen Disputation an der Universität ein mit der Begründung: cum liceat nobis de ewangelio disputare, cur non de privilegio? Der Magister wollte also eine schulmäßige Disputation über das strittige Thema veranstalten – so wie noch am Beginn des 15. Jahrhunderts an der Universität Prag Jan Hus und die böhmische Nation große Disputationen über die theologischen Lehren John Wyclifs abhiel | ten65 oder wie Luther seine Heidelberger und Leipziger Dispu- 238 tation vor den Universitäten zu Beginn des 16. Jahrhunderts hielt66:
Berichts, ebenfalls von der Hand Jakobs von Soest, in Münster, Staatsarchiv, Mscr. VII nr. 9, fol. 27v–28v, findet, das bisher, soviel ich sehen kann, in der Forschung noch nicht benutzt worden ist. 63 Dazu Anm. 47, sowie L. Hödl u. M. Haverals, Einleitung zu der Ausgabe (wie unten Anm. 64). Die Übersetzung von J. T. Marrone, Ecclesiology (wie Anm. 64), S. 181 u. 176, Anm. 90, mit „chapters“ wäre absolut ungewöhnlich; ich halte sie für falsch. 64 Von Heinrichs von Gent vorherigen Stellungnahmen im Streit um die Bettelordensprivilegien liegt jetzt eine, und zwar die ausführlichste und wichtigste, in moderner Edition vor: Henrici de Gandavia Tractatus super facto praelatorum et fratum (Quodlibet XII 31), ed. L. Hödl u. M. Haverals in: Henrici de Gandavo Opera omnia XVII (Ancient and Medieval Philosophy, De Wulf-Mansion Centre, Ser. II, 17) Louvain 1989 – vgl. L. Hödl (wie Anm. 53), S. 236 ff. Die bisher wohl eingehendste Darstellung der von Heinrich eingenommenen Positionen bei J. T. Marrone, The Ecclesiology of the Parisian Secular Masters 1250–1320 (Ph.D.-Thesis Cornell University, Ithaca, NY 1972, bes. 153–183. Vgl. jetzt die ausführliche präzise Einleitung in die Ausgabe durch L. Hödl, S. vii–cxvii. Einen knappen Auszug aus Quodl. XII 31 nach Ms. Paris BN lat. 3120, fol. 139rb–140rb bringt Marrone, S. 272–281. 65 Vgl. nur etwa P. De Vooght, L’Héresie de Jean Hus (Bibliothèque de la RHE, 34bis), Paris, 21975, I, S. 120 ff. 66 H. Scheible, Die Universität Heidelberg und Luthers Disputation, in: ZGO 131, N.F. 92 (1983) S. 309–329; K.-V. Selge, Der Weg zur Leipziger Disputation
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in der Reformationszeit sollten dann noch viele andere „Disputationen“ über die Frage der rechten Lehre in einer Stadt oder Herrschaft stattfinden und keinesfalls nur vor Universitäten67. In Benedikt Caetani aber fand Heinrich von Gent im Jahre 1290 einen Gegner, der solche Erörterungen hinzunehmen nicht bereits war: Der Kardinal ließ entschlossen Heinrich von Gent durch zwei mendikantische Magister68 von seinem Lehramt suspendieren69. Und einer Abordnung aller Fakultäten, die ihn zur Rücknähme seiner Maßnahme zu veranlassen versuchte, erteilte er eine scharfe Zurechtweisung: Das Privileg blieb in Kraft, wie das Disputationsverbot. Wir wollen dieser Geschichte hier nicht weiter folgen. Über die Disputationsfreiheit und ihre Grenzen wurde jedenfalls damals nicht
zwischen Luther und Eck im Jahr 1519, in: Bleibendes im Wandel der Kirchengeschichte, hgg. v. B. Moeller u. G. Ruhbach, Tübingen 1973, S. 169–210; Ders., Die Leipziger Disputation zwischen Luther und Eck, in: ZKG 86 (1975) S. 26–40; R. Schwarz, Luther (Die Kirche in ihrer Geschichte, III/Lfg.i.), Göttingen 1986, S. 52–54 u. 66–72. 67 B. Moeller, Zwinglis Disputationen, in: ZRGKanAbt 56 (1970) S. 275–324 u. 60 (1974) S. 213–364. 68 Es handelt sich um den (später mit Bonifaz VIII. eng verbundenen) Franziskaner spanischer Herkunft Johannes de Murrovalle (1289/90 magister actu regens der Theologie in Paris, danach an der Kurie tätig, 1296–1304 Generalminister seines Ordens, 1302 Kardinal, †1313) und außerdem wahrscheinlich um den Augustinereremiten Aegidius Romanus (den damaligen ersten und einzigen Pariser Theologiemagister seines Ordens, der noch eine bedeutende, ebenfalls von Bonifaz VIII. ungemein geförderte Karriere vor sich hatte, †1316). [Den Text vgl. Anm. 69]. 69 Finke, Aus den Tagen (wie Anm. 62), p. VI: Unde dominus Benedictus, vocans magistrum Johannem de Murro et magistrum Egidium, precepit eis quod predictum magistrum Henricum ab officio lectionis suspenderent, quod factum fuit. — Dieses Lehrverbot ist sonst nicht belegt und darum für die Biographen Heinrichs von Gent nur schwer zu überprüfen, zuletzt vgl. etwa R. Macken in: Henrici de Gendavo Quodlibet I (Opera omnia, wie Anm. 64, t. V, Louvain 1979, p. xi sq.). Die rechtlichen Grundlagen (wenn es verhängt worden ist, wovon ich ausgehe) wären interessant. Hat der apostolische Legat einen Ketzerprozeß eröffnet? Hat er die licentia docendi suspendieren lassen? Welche Funktion kam seinen Beauftragten zu? Darüber schweigt sich unsere Quelle leider beharrlich aus. – Ein vergleichbares aus den Quellen nicht unmittelbar zu beantwortendes Problem ergibt sich bei dem Prozeß gegen Nicolaus Autrecourt 1340/41, vgl. die Nachricht CUP II nr. 1023 S. 485 f., und die Erörterung bei K. H. Tachau, Vision and Certitude (wie Anm. 49), 338 f. mit Anm. 67 ff., über die Wirkung des Statuts der Theologenfakultät gegenüber einem Artistenmagister. Die von Tachau gegebene Antwort auf die Frage (die auf die Eigenschaft des Nikolaus als Baccalarius der theologischen Fakultät abstellt) halte ich nicht für zwingend: durch ihren Eid waren ja auch die Magister (auch wenn sie gleichzeitig baccalarei einer höheren Fakultät waren) gebunden; bei Zuwiderhandeln konnten auch sie bestraft werden, in diesem Falle durch eine zeitweilige Aussetzung ihrer Lehrtätigkeit (was auch eine bisweilen wohl empfindliche Schmälerung ihrer Einnahmen bedeuten mußte).
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weiter gestritten. Für die Magister mochte es schmerzlich sein, hier erneut zu erfahren, wie schwach die Kraft ihrer wissenschaftlichen Argumente blieb, wenn sie mit der energisch ausgespielten Autorität eines päpstlichen Legaten | zusammenstieß. Unsere Quelle vermerkt 239 das lakonisch, wenn sie noch den elegischen Spott eines Magisters Eustachius70 darüber berichtet, daß künftig zunächst bei Quodlibetdiskussionen Fragen zum Bettelordensprivileg in Paris nicht mehr zugelassen wurden: Ecce quam valida et firma fuerunt magistrorum argumenta . . . a decem annis fabricata, ut per dictum unius cardinals omnia sunt concussa. Quid putatis respondeant in curia, cum uni cardinali respondere non poterat universitas magistrorum apud suam cathedram comtituta? In der Tab blieb in Zukunft, insgesamt gesehen, der Umfang der Lehrfreiheit stärker von praktischen als von theoretischen Voraussetzungen abhängig. Es war natürlich für die Verbreitung eines Textes wichtig, ob er sich im Hörsaal durchsetzte oder nicht, und dafür konnte in der Tat eine offizielle Förderung oder ein Verbot ein wichtiges zusätzliches Argument sein. Erst im 15. Jahrhundert verknöcherte die Lehre an den Universitäten Mitteleuropas in den verschiedenen viae, die eifersüchtig ihre Grenzen absteckten. Selten geschah das durch äußere Eingriffe, die eher auflockernd wirkten71. Häufiger nahm die Universität selbst die Einung der Magistri durch eidliche Selbstverpflichtung ihrer Mitglieder vor, eine korporative Abgrenzung, die 70 Es könnte sich handeln um Magister Eustachius von Arras, O.F.M., der als beliebter Prediger den Beinamen dist Buisine trug (d.h. „genannt Posaune, Trompete“): um 1225 geboren, erwarb er seine Grade in Paris 1260–1262, lehrte und predigte dort in der folgenden Zeit und wurde – jedenfalls nach Meinung der Lexika (etwa zuletzt H. Rossmann in: LexMA IV/1 [1987] Sp. 111) – 1282 zum Bischof von Coutance erhoben (B. Eustachius von Coutance dürfte auf der Nationalsynode 1290 in Paris jedenfalls anwesend gewesen sein, †1291 April 7). Freilich ist die Identität beider Eustachii, des franziskanischen Predigers und des Bischofs, keineswegs gesichert. Es wäre auch erstaunlich, einen Franziskaner als Kritiker der mendikantenfreundlichen Politik des Kardinallegaten anzutreffen. Wir müssen hier offenlassen, wer der skeptische Magister gewesen ist, zumindest den Bischof aber in die allerengste Wahl ziehen. Zu Eustachius von Arras vgl. bes. P. Glorieux, Maîtres franciscains de Paris, fr. Eustache, in: La France franciscaine 13 (1930) S. 125–171; Ders. Repertoire des maîtres en théologie de Paris au XIIIe siècle (1933) nr. 313, II S. 77–82; J. B. Scheyer, Repertorium der lateinischen Sermones des Mittelalters, II, Münster 1970, S. 40–45. Zur Unterscheidung des Bischofs vom Prediger ausführlich zuletzt I. Brady, Questions at Paris c. 1260–1270 (cod. Flor., Bibl. Naz., Conv. soppr. B.6.912), in: AFrH 61–62 (1968–1969), hier 62, S. 678–692. 71 Die Einführung der via antiqua in Heidelberg etwa geschah ausdrücklich auf kurfürstliches Geheiß gegen den Protest der Fakultäten, vgl. G. Ritter, Die Heidelberger Universität, Ein Stück deutscher Geschichte, Bd. I, Heidelberg 1936, S. 379– 390.
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später sehr hinderlich sein konnte. Schon 1272 hatte die Artistenfakultät in Paris beschlossen, von sich aus keine rein theologischen Fragen mehr zur Disputation zuzulassen, und wo ihre Diskussion im Zusammenhang mit philosophischen Problemen unvermeidlich war, sie im Sinne der Glaubenswahrheit zu entscheiden: si contingat eos disputare vel determinare aliquam quaestionem, quae tangat fidem et philosophiam, eam pro fide determinabunt et rationes contra fidem dissolvent. . .72. Dieser Beschluß war seither als Eidesformel den Promovenden bei der Zulas240 sung zum Magisterium abverlangt worden. Noch | Johannes Buridan hatte sich dann in der letzten Redaktion seiner Physikvorlesung von circa 1357 gegen Vorwürfe von Theologen zu verteidigen73. Solche Abgrenzungen hatten freilich auch die Folge, die Autonomie der philosophischen Diskussion – und sei es über die sogenannte Lehre von der doppelten Wahrheit74 – zu stärken, so hinderlich im einzelnen auch der Zaun der Verbote werden mochte. Auch in diesem Punkt ist die Freiheitsforderung an den Universitäten aber, soweit zu sehen ist, kein wirklich brisantes Thema gewesen. Nur mit gestopften Trompeten gleichsam hat man die Möglichkeiten verteidigt, die die Tradition der Praxis zur Verfügung stellte. Man nahm sie mehr oder weniger in Anspruch, ohne über diesen Anspruch zu rechten. Ein Freiheitsfanal konnte diese Übung allein deshalb schon nicht werden, weil die Kompetenz der kirchlichen Lehrautorität nicht grundsätzlich angezweifelt worden ist. Man verteidigte sich konkret, nicht abstrakt mit Freiheitspostulaten, und Buridan vermerkt etwa nur, daß die Frage, ob es ein Vakuum gebe, eine genuin theologische Frage sei, so daß er gezwungen sei, hier theologisch zu argumentieren75.
72 CUP I nr. 441 (S. 499 f.). Solche Eide sind auch sonst mehrfach überliefert, vgl. z.B. für 1280 CUP II nr. 1185, §6 u. 16 (S. 675 u. 680); Konrad von Megenberg, Yconomica II. 3. 1, ed. S. Krüger (wie Anm. 58), II (1977) S. 93 f. mit Anm. 40; W. J. Courtenay, John of Mirecourt’s Condemnation: Its Original Form, in: RTh 53 (1986) S. 190 f. – Ockham macht diese Pariser Praxis Papst Johannes XXII. zum Vorwurf, in: Compendium errorum, c. 8, hier zitiert nach dem Druck von M. Goldast, Monarchia S. Romani Imperii, II, Frankfurt/Main 1614; Neudr. 1960, S. 974 f. 73 Vgl. vor allem B. Michael, Buridan (wie Anm. 48), I, S. 167 f., wo Anm. 288 auch der Passus aus den „Quaestiones in libros physicorum“, gedruckt Paris 1509, fol. 73vb–74ra, wiedergegeben ist, auf den ich mich hier beziehe. Allgemein habe ich mich mit der Frage beschäftigt in: Die mittelalterlichen Universitäten und das gesprochene Wort, in: HZ 251 (1990) S. 1–44. 74 Hinweise auf die reiche Literatur und neuere Diskussion bei L. Hödl (wie Anm. 54). 75 Zit. nach B. Michael (wie Anm. 73).
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In der ungeklärten Situation bleibt immerhin ein Stilelement scholastischer Debatten bestehen, das sich gewiß nicht ausschließlich hieraus erklären läßt, das aber doch, wie ich nicht zweifle, von hier erhebliche Akzentuierung erhalten hat, der unpersönliche Stil der Darlegung: Schon in der Frühscholastik hat der Magister seine eigenen Argumente, aber auch die seiner Diskussionspartner hinter so nichtssagenden Floskeln wie hic quaeritur ab aliquibus, aliqui sentire videntur, hic quaestio est versteckt, und die Antwort war in distanzierter Unverbindlichkeit formuliert. Der Magister scheute sich, assertive und opinative eine eigene Meinung zu formulieren, ja es entwickelte sich eine ganze Hermeneutik darüber, wann jemand bei seinem Wort genommen werden dürfe oder müsse76. Das alles war nicht nur ein esoterisches Spiel, es konnte zugleich auch die Linie einer Selbstverteidigung im Falle eines Konfliktes mit irgendwelchen Autoritäten sein, daß man darauf verweisen konnte, man habe die Argumente wohl vor241 geführt, ohne sie selber zu vertreten. |
III Meinen Bericht über den Umgang der mittelalterlichen Universitätsgelehrten mit den Forderungen der Freiheit möchte ich nicht beenden, ohne wenigstens einen kurzen Blick auf einen anderen wichtigen exoterischen Aspekt zu werfen, der für die Entfaltung der neuzeitlichen Freiheitsvorstellungen schließlich doch noch wichtiger werden konnte, als es die bisher behandelten, eher strukturellen und impliziten Phänomene waren, die doch nur einen mehr oder weniger esoterischen Zirkel von Fachleuten betrafen. In strenger Raffung möchte ich noch einen Blick werfen auf unmittelbare Forderungen nach Freiheit, die im Rahmen theoretischer Erörterungen implizit oder explizit an den Universitäten erhoben wurden. Auch hier freilich, das muß ich betonen, kann ich nur exemplarisch vorgehen. Wiederum gilt hier die früher schon gemachte Einschränkung, daß „Freiheit“ nicht ein zentrales Thema der mittelalterlichen Universität
76 Vgl. z.B. die Erörterung in Guillelmus de Ockham, De dogmatibus pape Johannis XXII., 18 u. 10, gedruckt als IIa pars des „Dialogus“ (wie Anm. 61), fol. 170Uvb, 172vb sqq.; noch eingehender in: Tractatus contra Iohannem, ed. H. S. Offler in: G. de Ockham, Opera politica, III, Manchester 1956, S. 19–156, hier c. 2, S. 34–37, bes. 35,8 ff.
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gewesen ist. Gesellschaftliche und politische Freiheit wurde auch im Anschluß an die Autoritäten der Alten, an Aristoteles vor allem, aber auch an Cicero und die Kirchenväter nicht eigentlich debattiert, geschweige denn gefordert. Die Meinungen der Theologen und Artisten zu der aristotelischen Begründung der Sklaverei sind ohne herausragende Ausnahme eher exegetisch gestimmt und begnügen sich mit der Wiederholung der Formeln des philosophus. Sie erklären, warum trotz der aus dem biblischen Schöpfungsbericht und aus den Kirchenvätern bekannten ursprünglichen allgemeinen Freiheit es dennoch in der alltäglichen Wirklichkeit „Herren“ und „Sklaven“ gab. Nirgendwo ist dabei, soweit ich sehe, die Forderung nach Aufhebung der Unfreiheit laut geworden77. Die paulinische Behandlung des Themas der Sklaverei, auch die ambrosianische Tradition gaben den Theologen darüber hinaus ein gutes Gewissen, wenn sie ganz ohne Einschränkung etwa Knechtschaft und Sklaverei (servitus) mit Aristoteles auf die sittliche Qualität der Sklaven zurückführten, zumindest für jene Menschen, die naturaliter servi seien, neben denen auch servi ex lege immerhin genannt werden78. Ein weiteres Thema, das häufig und nuancenreich diskutiert wurde, war die Entstehung von Herrschaft des Menschen über Menschen 242 (iurisdictio oder dominum)79 und von Herr | schaft des Menschen über Sachen (dominium)80. In diesen Erörterungen war „Freiheit“ als Problem77 Die berühmte Ausnahme – Smaragd von St. Mihiel, „Via regia“, c. 30, ed. MPL 102, Sp. 967C–968B; dazu neuerlich O. Eberhardt, Via regia, Der Fürstenspiegel Smaragds von St. Mihiel und seine literarische Gattung (MMS, 28), München 1977, S. 580 f., 593–595; vgl. auch Fried (wie Anm. 4), S. 322–324 – findet, wenn ich richtig sehe, keine Nachfahren in der Diskussion der Scholastik. 78 Eine Übersicht etwa bei G. Fioravanti, Servi, rustici, barbari: interpretazioni medievali della „Politica“ aristotelica, in: Annali della Scuola normale superiore di Pisa, Cl. lett. filos. III 11 (1981) S. 399–429. 79 Monographisch dargestellt von W. Stürner, Peccatum und potestas, Der Sündenfall und die Entstehung der herrscherlichen Gewalt im mittelalterlichen Staatsdenken (Beitr. zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters, 11), Sigmaringen 1987. Vgl. auch P. Costa, Iurisdictio, Semantica del potere politico nella pubblicistica medievale 1100–1433 (Università di Firenze, Pubblicazioni della Facoltà di Giurisprudenza, 1), Mailand 1969. 80 Vgl. etwa D. Willoweit, Dominium und proprietas, Zur Entwicklung des Eigentumsbegriffs in der mittelalterlichen und neuzeitlichen Rechtswissenschaft, in: HJb 94 (1974) S. 131–156; D. Schwab, Eigentum, in: Geschichtliche Grundbegriffe, II, Stuttgart 1975, S. 65–115, bes. 66–74; K. Kroeschell, Zur Lehre vom „germanischen“ Eigentumsbegriff, in: Rechtshistorische Studien, Hans Thieme zum 70. Geburtstag zugeeignet von seinen Schülern, Köln-Wien 1977, S. 34–71, bes. 37 ff. Knappe Skizze bei J. Coleman, Property and Poverty, in: The Cambridge History of Medieval Political Thought, ed. J. H. Burns, Cambridge, usw. 1988, S. 607–648.
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zusammenhang bisweilen impliziert, war doch in der Bibel und von den Kirchenvätern der maßstabsetzende Urzustand als Gesellschaft ohne Zwang und Gewalt beschrieben worden. Trotzdem wurden hieraus Freiheitsforderungen unmittelbar nicht erhoben, wenn ich richtig sehe, jedenfalls nicht in den Erörterungen der universitären Zirkel. Einen Bereich gibt es, wo Freiheit implizit und fast thematisch erörtert wird: Wenn es auch kaum je das unmittelbare Postulat nach Freisetzung gibt und wenn auch selten und nur in Zwangssituationen der drohende Verlust von Freiheit ein Argument für praktisches Handeln abwarf, so gab es doch einen Bereich, wo Freiheit zumindest als Maßstab, an dem gemessen wurde, in den Blick trat: Bei der Beschreibung des Tyrannis und ihrer Erscheinungsformen, erst recht aber bei den Erörterungen darüber, wie man mit Tyrannen zu verfahren habe, konnte man sich nicht so leicht zurückhalten. Nachdem um die Mitte des 12. Jahrhunderts der „Policraticus“ des Johannes von Salisbury den Tyrannenmord in oszillierenden Wendungen und Exempla vorwiegend gerechtfertigt hatte81, verschwand das Problem nicht mehr von der Tagesordnung, zumal in den Fürstenspiegeln der Tyrann als Gegenbild des guten Fürsten mit kräftigen Farben ausgemalt werden konnte. Die Rezeption der politischen Schriften des aristotelischen Corpus im 13. Jahrhundert stellte dann den ausgearbeiteten Tyrannis-Begriff der aristotelischen „Politik“ zur Debatte, der alsbald in Thomas von Aquins „De regime principum“ und in Aegidius Romanus’ Traktat gleichen Titels besonders einprägsam auch sofort in ausführliche Anwendung kam. Die Herrschaftsbildungsprozesse im zeitgenössischen Europa, von den Verstaatlichungsprozessen in den großen regna angefangen bis hin zu der Durchsetzung der signori in den Stadtrepubliken Norditaliens, gaben ein hinreichend nahes und bisweilen brennend aktuelles Anschauungsmaterial. Und wenn auch die Hauptfrage, 81 An dieser Interpretation möchte ich festhalten trotz des Protestes von J. van Laarhoven, Thou shalt not slay a tyrant! The so-called theory of John of Salisbury, in: The World of John of Salisbury, ed. M. Wilks (Studies in Church History, Subsidia 3), Oxford 1984, S. 319–341. Offensichtlich ist sich Johannes in dieser schwierigen Frage keineswegs selber ganz klar geworden. Seine Widersprüche sollten jetzt aber nicht gewaltsam harmonisiert werden. Zu seiner vielberufenen Lehre vom Tyrannenmord die klassische Studie von R. H. & M. A. Rouse, John of Salisbury and the Doctrine of Tyrannicide, in: Speculum 42 (1967) S. 693–709; zuletzt (nicht voll entschieden) P. von Moos, Geschichte als Topik, Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im „Policratius“ Johanns von Salisbury (Ordo, Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit, 2), Hildesheim 1988, S. 365 f., 468 f.
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ob der Widerstand gegen einen Tyrannen auch letztlich einen Tyran243 nenmord rechtfertigen könne, eine durchaus unterschiedliche Antwort | fand – Thomas von Aquin etwa neigte zur Ablehnung, Aegidius Romanus erkennt diese Möglichkeit wenigstens faktisch an – allein die Begriffsdefinition, wer als Tyrann zu betrachten sei, mußte die Differenzierung zwischen legitimer Herrschaft, Mißbrauch von Herrschaft und Usurpation ganz deutlich ins Bewußtsein rücken. Wenn der berühmte Jurist Bartolus von Sassoferrato (†1357) in seinem Traktat „De tyranno“ genauer die Rechtsfolgen analysiert, die das Auftreten eines Tyrannen im Verkehr mit seinen Mitbürgern und seiner Mitwelt hat, zu welchen Leistungen man ihm gegenüber verpflichtet sei, was Papst und Kaiser gegen ihn zu tun hätten, und was nach seinem Sturz oder seiner Beseitigung von seinen Handlungen rechtlich weiterhin Bestand haben könne und was nicht, dann war das ein wichtiges Angebot an seine Zeit; die relativ breite handschriftliche Überlieferung des Textes in 32 Manuskripten kann das bezeugen82. Der Traktat bezieht die Politik der Tagesaktualität in die Erörterung ein und hat zur Präzisierung des Tyrannisvorwurfs gewiß wichtiges beizutragen, von Freiheitspostulaten aber ist wiederum kaum die Rede. Daß der Text dann dennoch wichtige Begriffserklärungen erreichen konnte, die sogar in der Geschichte der Freiheit von Belang sind, steht wiederum auf einem anderen Blatt. Es ist nun nicht meine Absicht, weiterhin meinen Rundblick über solche „halben Antworten“ auf meine Frage fortzusetzen, die doch nur die hier schon oft gemachte Beobachtung erneut bestätigen, daß Freiheit zwar bisweilen appellativ herangezogen wird, daß sie aber sehr selten auch in den Argumentationsgang eintritt. Eine bemerkenswerte Ausnahme aus dieser Regel muß ich jedoch kurz vorstellen. Es wird kaum überraschen, daß ich auf Wilhelm von Ockham zu sprechen komme, dessen politische Theorie vielleicht dem neuzeitlichen Freiheitsbegriff am weitesten entgegen kommt. Gewiß, Ockham ist kein Philosoph der Neuzeit und hat auch nur ein durchaus zweifelhaftes Recht darauf, als Wegbereiter der Moderne in Anspruch genommen zu werden, wie es immer wieder geschieht. Gleichwohl finden wir bei ihm ein Pathos der Freiheit und der Freiheitsforderung, 82 Ed. D. Quaglioni, Politica e diritto nel trecento italiano, il „De tyranno“ die Bartolo da Sassoferrato (1314–1357), con l’edizione critica dei trattati „De Guelphis et Gebellinis“, „De regimine civitatis“ e „De tyranno“ (Il pensiero politico, Biblioteca, 11), Florenz 1983, S. 175–213, zur hsl. Überlieferung S. 73–126, bes. 108 ff.
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das absolut ungewöhnlich selbst noch für das 14. Jahrhundert ist. Im „Defensor pacis“ des Marsilius von Padua, seines großen Zeitgenossen, jedenfalls ist libertas so gering berücksichtigt, daß das Register der Ausgabe mit zwei unspezifischen Stellenangaben auskommt83. Das Thema | dieses Traktates ist aber auch die Verteidigung des 244 Friedens und nicht die der Freiheit. Anders steht es bei Ockham. Schiene es auch vermessen, den komplexen Bau der Ockhamschen politischen Philosophie hier in knappen Strichen skizzieren zu wollen, so können doch einige Schlaglichter auf seinen Umgang mit der Freiheitsforderung hier nicht unterbleiben84. Dabei ist vorweg eine doppelte Einschränkung zu beachten. Einmal: Ockhams politische Theorie ist nicht in primär theoretischer Absicht gebildet, sie will praktische Orientierung in einer großen kirchenpolitischen Auseinandersetzung vermitteln und ist nur dann wirklich adaequat zu verstehen, wenn wir diese Absicht des Autors nicht aus den Augen verlieren. Sodann: Ockham hat von dieser Ausgangslage her, aber auch in der Tradition politischer Theorie seiner Zeit, politische Ordnung nicht allein für sich als staatliche Verfassung gefaßt. Stets muß auch die Kirche und ihre soziale Gestalt mit ins Blickfeld treten, ja oft wird sie zum sozialen Paradigma, das für den Autor das Beobachtungsfeld 83
Vgl. „Defensor pacis“, ed. R. Scholz (MGH, Fontes 7), Hannover 1932–1933, S. 624b. – Dabei soll hier nicht erörtert werden, daß für Marsilius systematisch die Freiheitsidee von hohem Rang sein könnte, wie allein dadurch klar wird, daß dieser Gedanke zur Begründung der apodiktisch über Aristoteles hinausgehend formulierten These in Frage kommt, nach der „nur“ die Gesamtheit der Bürger als Gesetzgeber auftreten kann: letzlich kann die universitas civium (oder ihre valencior pars) Gesetze mit zwingender Gewalt deshalb „ausschließlich“ (solummodo) erlassen, weil sie sich ja nur selber so streng binden kann, vgl. DPI 125 (S. 65 f.). Doch ist dieser Gedanke bei Marsilius nicht ausgeführt, unmittelbar knüpft Marsilius vielmehr an eine andere eher erkenntnistheoretische Argumentation des Aristoteles an (vgl. Pol. III 11 u. III 16, 1282a34 sqq. u. 1287b26 sqq., mit DPI 113, S. 56 f.). Zu Marsilius’ Theorie etwa T. Struve, Die Rolle des Gesetzes im „Defensor pacis“ des Marsilius von Padua, in: Medioevo 6 (1980) S. 355–378; J. Miethke, Marsilius von Padua, Die politische Philosophie eines lateinischen Artistotelikers des 14. Jahrhunderts, in: Lebenslehre und Weltentwürfe im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, Politik – Naturkunde – Theologie, hgg. v. H. Boockmann, B. Moeller, K. Stackmann (AAG, III. 179), Göttingen 1989, S. 52–76. 84 Zu Ockhams politischer Theorie vgl. J. Miethke, Ockhams Weg zur Sozialphilosophie, Berlin 1969; A. S. McGrade, The Political Thought of William of Ockham, Personal and Institutional Principles (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought, III 7), Cambridge 1974; knapp etwa J. Miethke, Ockham und die Institutionen des späten Mittelalters, in: Ockham and Ockhamists, edd. E. P. Bos u. H. A. Knop (Artistarium, Supplementa, 5), Nijmegen 1987, S. 127–144; G. L. Postestà, Rm. 13,1 in Ockham, Origine e legittimità del potere civile, in: Cristianesimo nella storia 7 (1986) 465–128.
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abgibt85. Das hatte den Vorteil, daß auf diese Weise die ganze Masse der Vorarbeiten von Theologen und Juristen von Ockham nahtlos in den Horizont der eigenen Reflexion übernommen werden konnte, hat aber für uns heute den Nachteil, daß wir eine glatte und saekulare „politische Theorie“ dieses Autors nicht einfach seinen Argumentationen entnehmen können. Die Entwicklung des papalen Zentralismus in der abendländischen Kirche86 war es, die die erbitterte Kritik des Engländers Ockham wie des Italieners Marsilius weckte87. Der Anspruch auf die plenitudo potestatis, wie sie Bonifaz VIII. auf den Schultern der Entwicklung 245 des | 13. Jahrhunderts unerbittlich und lautstark eingefordert hatte, war für beide Autoren wie für viele andere Zeitgenossen eine unheilvolle Verkehrung der eigentlichen Weltordnung. Yves Congar hat einmal die päpstliche plenitudo potestatis „la bête noire d’Occam“ genannt88; ohne Zweifel hatte er damit recht: die fast obsessive Fixierung des Franziskanertheologen auf das Thema ist mit diesem Bild recht gut getroffen. Unter den zahlreichen Argumenten, die der englische Franziskaner unermüdlich zusammenträgt, um diese Forderung als irreführend, ja haeretisch darzutun, steht an prominenter Stelle auch das Argument89,
85 Zum Kirchenbegriff bei Ockham etwa G. de Lagarde, La naissance de l’esprit laïque au déclin du moyen âge, Nouvelle édition réfondue, V: Guillaume d’Ockham, Critique des structures de l’Eglise, Louvain-Paris 1963, Y. M. J. Congar, L’Eglise de St. Augustin à l’époque moderne (Histoire des dogmes, III 3), Paris 1970, S. 290–295; John J. Ryan, The Nature, Structure and Function of the Church in William of Ockham (American Academy of Religion, Studies in Religion, 16), Chico, California 1979. 86 Zusammenfassend etwa J. Miethke, Historischer Prozeß und zeitgenössisches Bewußtsein. Die Theorie des monarchischen Papats im hohen und späten Mittelalter, in: HZ 226 (1978) S. 564–599; für das 13. Jh. K. Pennington, Pope and Bishops, The Papal Monarchy in the 12th and 13th Centuries (The Middle Ages), Philadelphia, 1984. 87 Vgl. J. Miethke, Die Traktate „De potestate papae“ – ein Typus politiktheoretischer Literatur im späteren Mittelalter, in: Les genres littéraires dans les sources théologiques et philosophiques médiévales. Définition, critique et exploitation, edd. R. Bultot et L. Genicot (Université catholique de Louvain, Publications de l’Institute d’Etudes Médiévales, II 5), Louvain-la-Neuve 1982, S. 198–211. 88 Y. M. J. Congar, Quod omnes tangit, ab omnibus tractari et approbari debet, in: RHDFE IV 36 (1958) S. 210–259, hier 244, jetzt in: Congar, Droit ancien et structures ecclésiales (Collected Studies Series, 159), London 1982, nr. III. 89 Vgl. dazu vor allem A. S. McGrade (wie Anm. 84) S. 141–149. Demnächst auch J. Miethke, Ockham’s Concept of Liberty, in: Théologie et droit dans la science politique moderne, ed. J.-Ph. Genet u.a. (Publications de l’École Française de Rome, vorauss. Rom 1991).
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die nova lex Christi sei nach Aussage des Neuen Testaments eine lex libertatis, ja eine lex perfectae libertatis, und dürfe daher die Christen nicht in schwerere Knechtschaft (maior servitus) verstricken als die, die sie unter dem Mosaischen Gesetz oder in ihrem Heidentum hatten dulden müssen. Könnte aber der Papst, wie die Verfechter der plenitudo potestatis behaupten, schlechthin alles anordnen, was nicht dem göttlichen Gesetz oder dem Naturrecht widerspricht, dann wäre die lex Christiana eben darin eine lex intolerabilis servitutis und jedenfalls von viel schwererer Knechtschaft, als sie das Gesetz des Alten Bundes bedeutet hatte. Welche Art von Freiheit ist hier gemeint? Meint Ockham nur die innere Freiheit des religiösen Menschen, die Freiheit von Sünde und Schuld, von der etwa auch Thomas von Aquin in der „Summa theologiae“ sprechen konnte90? Ockham läßt den Schüler im „Dialogus“ seinen Meister unmittelbar fragen: Offenbar heißt das neue Gesetz in der Bibel nicht deshalb lex libertatis, weil dadurch die Christen derart frei würden, daß sie etwa dem Papst nicht unterworfen wären, sondern deshalb, weil dadurch die Christen befreit werden von der Knechtschaft der Sünde oder des Mosaischen Gesetzes (quia per eam Christiani efficiuntur liberi a servitute peccati vel legis Mosaice). Außerdem, die strikte Gehorsamsforderung der Regel des heiligen Franziskus gegenüber dem Papst, zu der die Franziskaner sich in ihrer Profeß verpflichteten, wäre ja dann haeretisch, weil sie gegen das Gesetz Christi verstieße. Auch widerstrebe eine lex perfecte libertatis evident jeglicher Knechtschaft. Et ita reges et principes et alii laici et etiam ecclesia nullos servos haberent, was gegen die menschliche und kirchliche Rechtsordnung verstieße. Der Meister besteht demgegenüber darauf, daß das neue Gesetz nicht von ähnlicher Knechtschaft sein dürfe wie die nova lex, oder gar von schwererer, sonst wäre die biblische Verheißung sinnlos, denn „wer von einer Knechtschaft befreit, von einer gleichschweren oder | größeren bedrückt würde, der wäre nicht freier, als er zuvor 246 gewesen“. Die biblische Charakteristik müsse einen angebbaren, auf die servitus exterior gerichteten Sinn haben. Wenn auch damit nicht alle nichtfreiheitlichen Verhältnisse ihre bindende Kraft verlören, auf keinen Fall dürfe die nova lex selbst härtere Knechtschaft auferlegen, als es die lex Mosaica tat. Durch die nova lex selbst werde niemand 90 Etwa STh 2-II, 122, 4 ad 3; 183, 4; in: S. Thomae Aquinatis opera omnia, cur. R. Buza (wie Anm. 14), II, S. 678a u. 748b.
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zur Knechtschaft unter irgend einem anderen Sterblichen gezwungen, auch wenn Sklaverei fortbestehen kann. „Mit Recht also heißt es eine lex perfecte libertatis, insbesondere mit Rücksicht auf die lex Mosaica . . . Dennoch steht da nicht eine lex perfectissime libertatis. Es gibt nämlich – so sagt Ockham – Stufungen in der Vollkommenheit: in perfectione enim sunt gradus. Quare non omne perfectum est perfectissimum reputandum; perfectissima autem libertas in hac vita mortali nequaquam habebitur.“ Diese Einschränkung ist, so sehr sie nach melancholischem Verzicht klingt, nicht resignativ gemeint. Ockham leitet aus dem Postulat der lex libertatis sehr konkrete Forderungen an den Inhaber von Regierungsgewalt in der Kirche ab, der nur mit dem Konsens der subditi, aus vernünftigem Grund oder in Vollzug einer Strafe Befehle erteilen oder Maßnahmen ergreifen darf. Das Leitungsamt in der Kirche ist eine potestas ministrativa, eine dienende Gewalt, und unterscheidet sich damit erheblich von der potestas dominativa, der herrschenden Gewalt der weltlichen Herrschaftsordnung91. Damit aber könnte endgültig der Ausflug in die Freiheitsforderung abgebrochen scheinen: nur in einer entmachteten Kirche kann man frei sein und auch dort nicht in der perfectissima libertas. Das klingt nach völliger Resignation und rein verbalen Postulaten. Ockhams Meinung wird mit solcher Auffassung nicht getroffen. Die Ordnung in der Kirche hat nämlich gewissermaßen Vorbildcharaketer und wird – zwar nicht in allen Stücken, aber doch prinzipiell – auf die weltliche Ordnung übertragbar92. Auch im imperium etwa haben wir eine Herrschaft über Freie und nicht über Sklaven vor uns. Der Würde des imperium wäre es abträglich, so heißt es einmal, könnte 91
Vgl. vor allem „De imperatorum et pontificum potestate“, c. 26, ed. R. Scholz, Unbekannte kirchenpolitische Streitschriften aus der Zeit Ludwig des Bayern, II (Bibliothek des Kgl. Preußischen Instituts, 10), Rom 1914, S. 479. H. S. Offler machte mich darauf aufmerksam, daß diese Terminologie sich unmittelbar aus Bernhard von Clairvaux (und damit natürlich von der Vulgata) herleitet, vgl. „De consideratione“, II vi 11, in: Sancti Bernardi Opera, ed. J. Leclercq & H. M. Rochais, III, Rom, 1963, S. 418: Forma apostolica haec est: dominatio interdicitur, ministratio indicitur, ein Text, den Ockham mehrmals zitiert, z.B. in: „Breviloquium“, II 12, ed. R. Scholz, Wilhelm von Ockham und sein „Breviloquium“ (MGH Schr. 8), Stuttgart 1944, S. 76, oder vor allem „De imperatorum et pontificum potestate“, c. 7 (S. 463 Scholz): Forma apostolica . . . (etc.), id est principatus dominativus, qui est respectu servorum, interdicitur, sed principatus ministrativus, qui est respectu liberorum, indicitur. Auf das Verhältnis von Ockham zu Bernhard gedenke ich anderwärts zurückzukommen. 92 Das Verhältnis der Ekklesiologie zur Staatsauffassung Ockhams wäre das Thema einer eigenen Untersuchung, hier war nur die Richtung anzudeuten, in der die Antwort m. E. gesucht werden muß. 93 III Dialogus II ii 20, (wie Anm. 61), fol. 255vb. Vgl. auch etwa Octo Quaestiones,
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der Kaiser allein über seine Untertanen wie über Sklaven gebieten93. Die Herrschaft über Freie mag weniger effizient sein als die despotische Herr | schaft des Hausherrn über die Sklaven, auf jeden Fall 247 ist sie jedoch Ausdruck einer höheren perfectio. Brechen wir ab: Gewiß läßt sich das alles restriktiv und resignativ lesen, aber ich glaube, daß damit die kritische Kraft der Argumente nicht gehörig ins Licht gerückt würde. In Ockhams Forderung nach einer freien Ordnung in der Kirche – und dementsprechend auch in der Welt – kündigt sich ein Partizipationsanspruch an, der in der Konzilszeit des 15. Jahrhunderts in der konziliaren Kirche erprobt werden sollte94 und der den ständischen Auseinandersetzungen in der Frühen Neuzeit manchen Weg gebahnt hat. Es liegt mir fern, nach diesem raschen Gang durch sehr verschiedene Bereiche gelehrter Freiheitsforderung im Mittelalter nun das Loblied der mittelalterlichen universitären Freiheitskämpfer intonieren zu wollen. Zu verstreut waren die Stimmen, so wenig verwoben zu einem einheitlichen Bild. Wenn aber deutlich geworden sein sollte, daß auch die mittelalterliche Gelehrtenwelt mit dem Problem der Freiheit auf sehr verschiedenen Ebenen sich auseinanderzusetzen bemüht war und dabei der Grenzen der Verwirklichung solcher Postulate bisweilen allzu rasch gewahr wurde, so würde uns dies, so meine ich, dazu helfen, auch die mittelalterlichen Gelehrten im Umgang mit den schwierigen Forderungen der Freiheit besser begreifen zu lernen.
VIII 5, ed. H. S. Offler in: Guillelmi de Ockham Opera politica, I2 (Manchester 1974), 197 f., 15–49. 94 Das Thema der Rezeption Ockhams im 15. Jahrhundert ist noch nicht voll aufgearbeitet. Vgl. die Hinweise bei G. de Lagarde, La naissance (wie Anm. 84) V, S. 291–337; H. S. Offler, The „Influence“ of Ockham’s Political Thinking: The First Century; und J. Miethke, Zur Bedeutung von Ockhams politischer Philosophie für Zeitgenossen und Nachwelt, beide in: Die Gegenwart Ockhams, hgg. von W. Vossenkuhl & R. Schönberger, Weinheim 1990, 338–365, u. 305–324.
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KARRIERECHANCEN EINES THEOLOGIESTUDIUMS IM SPÄTEREN MITTELALTER*
Bevor ich mich meinem Thema zuwenden kann, bedarf es einer warnenden Vorbemerkung. Als ich vor einigen Monaten Herrn Schwinges zugesagt habe, hier einen Bericht zu den Theologiestudenten zu geben, da wußte ich wohl, daß es ein schwieriges Unterfangen werden würde, zu diesem in jüngerer Zeit so gut wie nicht behandelten Thema einiges zu sagen, ich wußte aber noch nicht, wie schwierig es werden würde. Da ich eine prosopographische Datenbank von Universitätsbesuchern oder gar von Universitätsabgängern nicht zur Verfügung habe, war allein schon die Materialbasis für diesen Bericht für mich eine komplizierte Frage. Ich habe ernsthaft erwogen, die Aufgabe aufzugeben, wollte aber mein Versprechen nicht brechen, so unvollkommen nur ich es auch werde erfüllen können. Erwarten Sie also bitte keinen abgerundeten, plastischen, nach Strich und Faden geprüften und auf Punkt und Komma ausgerichteten und mit statistischer Raffinesse durchleuchteten Bericht, der mir allein aus zeitlichen Gründen nicht möglich war, den ich Ihnen aber auch bei sehr viel längerer Vorlaufzeit mangels Kompetenz gewiß nicht hätte bieten können. Was ich hier vortrage, ist demnach nicht nur stark subjektiv-impressionistisch, es wird auch eher um qualitative Hinweise als um die Präsentation von quantitativen Lösungen gehen. Ich kann auch unmöglich flächendeckend arbeiten und muß mich mit exemplarischen Hinweisen begnügen. Diese warnende Kautele, die nicht als topische captatio benevolentiae gedacht ist, die vielmehr von vornherein meine Unsicherheit deutlich machen soll, glaubte ich Ihnen schuldig zu sein, bevor ich das mir gestellte Thema „Karrierechancen eines Theologiestudiums im späteren Mittelalter“ aufgreifen wollte. Daß ein Studium, ein Universitätsstudium gar, mit Karrierechancen verbunden ist, ist heute, spätestens nach der in den sechziger Jahren – * Im wesentlichen wurde der Vortrag vom 18. 3. 1993 unverändert gelassen, freilich um einige Angaben zu den Prädikaturen des Spätmittelalters ergänzt.
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wenn wir der Meinung einiger damaliger Propheten folgen wollten – gerade noch verhinderten „Bildungskatastrophe“ soweit ins allgemeine Bewußtsein gedrungen, daß kaum ein Zeitungsartikel mehr es unterläßt, auf den Bedarf an qualifizierter Berufstätigkeit hinzuweisen, ja, daß eine Studienfachwahl heute bereits öffentlich ausdrücklich ermuntert werden muß, die auf individuelle Vorlieben und auf ein persönliches Engagement am Fach zumindest stärker abstellt, als auf einen heute noch nicht exakt voraussehbaren gesellschaftlichen Bedarf zum 182 Zeitpunkt des Studienabschlusses. Eine derar | tig enge Verknüpfung von Karriere-Erwartungen und Studienfachwahl ist freilich keineswegs selbstverständlich, setzt sie doch das Verständnis des Studiums als einer deutlich auf berufsqualifizierende Fähigkeiten gerichteten Ausbildungsphase voraus, der nach entsprechendem Erfolgsnachweis (der gerne die Form eines Prüfungszertifikats annimmt) auch eine konkrete Laufbahnausrichtung auf dem gewählten Berufsfeld winkt. Es ist nun freilich ein alter Streit, ob dies eine zutreffende Beschreibung der Sachlage sein kann, vor allem, ob der höhere Unterricht, wie er an einer Universität zu erwarten ist, sich diesen Erwartungen unmittelbar zu stellen hat. Bereits vor dem Abschluß des langgestreckten Prozesses, dem die Universitäten ihre Ausprägung verdanken1, hat Johannes von Salisbury in seinem „Metalogicon“ gegen die von ihm sogenannten „Cornificianer“ gewettert2, die sich einem Studium nur eines raschen Gewinns wegen unterziehen, und er erzählt in diesem Zusammenhang, sein eigener Lehrer Gilbert de la Porée habe diejenigen, die an den Schulen nicht Weisheit, sondern rasch erlernbare Wissensrezepte mit Erfolgsgarantie gesucht hätten, auf die Vorzüge des Bäckerhandwerks hingewiesen, das in seiner Heimat auch noch die zu anderen Handwerken Untauglichen aufnehme, weil es leicht zu erlernen und dazu noch für diejenigen 1 Von Universitäten im Vollsinne sollte man nirgendwo vor der Wende zum 13. Jahrhundert sprechen. Vgl. zuletzt noch für Paris in diesem Sinne Jacques Verger, Paris D: Schulen und Universität, in: LexMA Bd. VI (1993), 1718–1721, hier 1718. 2 Metalogicon, I 5, vgl. bes. auch I 8, ed. Clemens C. J. Webb, Oxford 1929, 16; ebd. John Barrie Hall/auxiliante Katharine S. B. Keats-Rohan (Corpus Christianorum/Continuatio mediaevalis 98) Turnhout 1991, 22, vgl. 25 (weitere Stellen im Index, 196b). Zu diesem Text (dessen Überlieferung mit 8 Mss. nicht allzu dicht ist) und seiner älteren Ausgabe vgl. (außer der praefatio in der neuen Ausgabe, pp. v–xv) auch bereits den kritischen Bericht von John Barrie Hall, Towards a Text of John of Salisbury’s „Metalogicon“, in: StudMediev III 24 (1983), 791–816. Die Debatte zu den realen Vorbildern der „Cornificianer“ ist hier nicht aufzunehmen: Wer immer im einzelnen das Paradigma geprägt hat, Johannes gebraucht es als Typus für ein allgemeines Verhalten, das er scharf kritisiert.
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bestens geeignet sei, die statt nach Kunstfertigkeit (artificium) nach Brot Ausschau hielten3. Johannes von Salisbury selbst freilich war Repräsentant jener intellektuellen Bildungsschicht, die die neuen französischen Schulen durchlaufen hatte4. Der vir ple | beius, als den er sich selbst mehrfach bezeichnet hat5, stirbt nach einem bewegten Leben als veritabler Bischof von Chartres in der französischen Königslandschaft der Ile de France; vorgeschlagen hatte ihn zu diesem Amt der Erzbischof von Sens, damals ein Bruder des französischen Königs Ludwigs VII. In seiner Karriere hat Johannes auch keineswegs etwa nur seine geliebten Klassiker studiert; er war im Haushalt des Erzbischofs von Canterbury in einer Zeit, die eigentliche Ressorts noch nicht kannte, offenbar vor allem für die Korrespondenz und für Rechtsfragen zuständig, hat im Dienst seines Herrn nicht weniger als fünfmal den weiten Weg von England an die Kurie nach Rom gemacht und dort die Interessen seines Erzbischofs vertreten. Damit belegt er schon zu einer recht frühen Zeit, welche Bedeutung den gelehrten Mitgliedern des persönlichen Stabes im Zusammenhang der Zentralisierung der Amtskirche und des werdenden Papsttums zukam. Wissenschaftlich gebildete Kleriker schienen am ehesten in der Lage, die lokalen Interessen in der Zentrale auch zur Geltung zu bringen und mit den Tendenzen der Zentrale abzustimmen (und natürlich waren sie rasch 3 Vgl. bereits Peter Classen, Die Hohen Schulen und die Gesellschaft im 12. Jahrhundert, in: ArchKulturg 48 (1966), 155–180, jetzt in Classen, Studium und Gesellschaft im Mittelalter, hrsg. von Johannes Fried (MGH Schriften 29), Stuttgart 1983, 1–26, hier 7. 4 Zusammenfassend der Sammelband: The World of John of Salisbury, ed. Michael J. Wilks (Studies in Church History, Subsidia 3), Oxford 1984. Vgl. den souveränen Überblick über die ältere Forschung bei Max Kerner, Johannes von Salisbury und die logische Struktur seines „Policraticus“, Wiesbaden 1977; jetzt auch die umfassende literarkritische Untersuchung und Würdigung von Peter von Moos, Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im „Policraticus“ Johanns von Salisbury, Hildesheim/*New York 1988. 5 Policraticus, Prologus, und ibid., lib. VI, Prologus, ed. Clemens C. J. Webb, Oxford 1909 (Ndr. Frankfurt/M. 1965), Bd. l, S. 14 Zl. 21, und Bd. 2, S. 2 Zl. 1 [die Prologstelle jetzt in: Johannis Saresberiensis Policraticus I–IV, ed. Katharine S. B. Keats-Rohan (Corpus Christianorum/Continuatio mediaevalis 118), Turnhout 1993, 23, 66] (freilich sind diese Stellen, die auf den lateinischen Stil, nicht auf die soziale Herkunft abheben, keineswegs eindeutig). Daten zur sozialen und wirtschaftlichen Lage des jungen Johannes von Salisbury hat fleißig zusammengestellt Gunnar Stollberg, Die soziale Stellung der Intellektuellen Oberschicht im England des 12. Jahrhunderts (Historische Studien 427), Lübeck 1973, bes. 18–32, 161–164; vgl. auch (in seinen Aussagen wesentlich zurückhaltender) Christopher Brooke, John of Salisbury and His World, in: World (Anm. 4), 1–20.
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auch umgekehrt für die römische Amtskirche als mögliche Multiplikatoren in ihren Regionen von höchstem Interesse). Die Beispiele für faktische Karrieren dieses Musters ließen sich ins fast Unendliche vermehren, erst recht wenn wir das Thema räumlich und zeitlich so weit fassen wollten, daß das 12. Jahrhundert und daß Johannes von Salisbury noch davon umfaßt wären. Weil diese Diskrepanz zwischen Selbstaussage und tatsächlicher Karriere nicht sicher durch die bloße Annahme ideologischer Verblendung auszuräumen ist, sprechen wir hier jedenfalls nicht von Karriereerwartungen, sondern Karrierechancen. Eine weitere Einschränkung muß hier gemacht werden. Um die Karrierechancen eines „normalen“ Studenten wenigstens einigermaßen plastisch einschätzen zu können, müssen wir darauf verzichten, auch noch die Laufbahnerwartungen und Laufbahnmöglichkeiten jener Studenten in unseren Erwägungen mitzuberücksichtigen, die ihren Weg innerhalb eines großen Ordensverbandes suchten und fanden, weil dort die Bedingungen ganz eigenartig und besonders waren und sich empfindlich von den allgemeinen Verhältnissen unterschieden6. Wir können es ruhig offenlassen, wie weit im Mittelalter das Studium eine berufsqualifizierende Wirkung hatte, wenn wir uns klar 184 machen, daß jedenfalls die | akademische Graduierung von ihrem ersten Auftreten angefangen bis zum Ende des Mittelalters keinen berufsqualifizierenden Charakter hatte. Das Gros der Studierenden hat auf sie verzichtet, verzichten können, da es keine Berufslaufbahn gab, die man mindestens formal nicht ebenso ohne universitären Grad hätte erreichen können wie mit ihm – eine einzige sichere Ausnahme von dieser Regel versteht sich fast von selbst: Eine Karriere an der Universität selbst war ohne Graduierung nicht gut denkbar7. Wir brauchen hier auf das Graduierungssystem und seine Einbettung in die Universität nicht einzugehen8. Die Graduierung, die aus 6 Das kann hier nicht im einzelnen belegt werden. Allem die Verdoppelung und frühe Konkurrenz zwischen den Universitäten und den Generalstudien der Bettelorden sollte aber für diese unsere Entscheidung Gründe genug andeuten. (Allgemeine Literaturhinweise unten Anm. 71.) 7 Vgl. bereits Friedrich Paulsen, Die Gründung der deutschen Universitäten im Mittelalter, in: HZ 45 (1881), 385–440, hier 404 f. Der Sonderfall der Ämter eines bischöflichen Offizials oder eines Syndicus der norddeutschen Städte, die jeweils relativ rasch faktisch zur Domäne gelehrter Juristen wurden, soll hier nicht diskutiert werden. 8 Grundlegend Gaines Post, Alexander III, the „licentia docendi“ and the Rise of the Universities, in: Anniversary Essays in Medieval History by Students of Charles
karrierechancen eines theologiestudiums im späteren 101 einer Aufnahme des Kandidaten zu selbständiger Lehre hervorgegangen ist, verlieh zunächst einmal die licentia docendi, machte zum magister oder doctor im wörtlichen Sinne, ja verpflichtete den Kandidaten zunächst, seine Lehrerlaubnis noch eine Zeitlang, in der Regel zwei Jahre, an der Hochschule wahrzunehmen9. Dieses Rotationsprinzip, das der Universität in einer Zeit, da sie eine wirtschaftliche Ausstattung noch nicht kannte, relativ zwanglos und ohne besondere Kosten neue Lehrer zuführte, hat seine Funktionstüchtigkeit mit Abwandlungen erstaunlich lange behalten, weil und solange auch die Stelle eines Universitätslehrers keineswegs allen Ehrgeiz befriedigte10. Im Übergang von der niederen, der Artistenfakultät, zu höherem Unterricht funktionierte | diese Maxime noch erheblich länger: Magister der Artes gaben an der Artes-Fakultät Unterricht und waren zugleich bereits Studenten der Höheren Fakultäten. Bei den Universitäten Pariser (und Oxforder) Musters gilt noch für das 14. Jahrhundert, daß in der Aristenfakultät von Paris nach Ausweis der Fakultätsakten die Wahrnehmungsfrist für die Funktion eines magister actu regens mit vier bis acht Jahren (selten mehr als zehn Jahren) ermittelt werden konnte11, Homer Haskins, Boston/New York 1929, 255–277; aus der Fülle der seitherigen Literatur nenne ich hier nur eine streng begrenzte Auswahl: zu Paris etwa Alan E. Bernstein, Magisterium and License, Corporate Autonomy against Papal Authority in the Medieval University of Paris, in: Viator 9 (1978), 291–307; für Bologna Giorgio Cencetti, La laurea nelle università medievali, in: Studi e memorie per la stona dell’Università di Bologna, I/16 (1943), 247–273; Peter Weimar, Zur Doktorwürde der Bologneser Legisten, in: Aspekte europäischer Rechtsgeschichte, Festgabe für Helmut Coing zum 70. Geb. (Ius Commune, Sonderheft 17), Frankfurt/M 1982, 421–443; Anna Laura Trombetti Budriesi, L’esame di laurea presso lo studio bolognese, Laureati di diritto civile nel secolo XV, in: Studenti e università degli studenti dal XII al XIX secolo, edd. Gian Paolo Brizzi und Antonio Ivan Pini (Studi e memorie per la storia dell’Università di Bologna, n.s. 7), Bologna 1988, 137–191; zu Oxford George L. Haskins, The University of Oxford and the „Ius ubique docendi“, in: EHR 56 (1941), 281–292; zum frühen Wortgebrauch zusammenfassend Olga Weijers, Terminologie des universités au XIIIe siècle (Lessico intellettuale Europeo 39), Rom 1987, 385–424. 9 Zur Bedeutung dieses biennium für den Lehrbetrieb etwa Arno Seifert, Studium als soziales System, in: Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters, hrsg. von Johannes Fried (VortrrForsch 30), Sigmaringen 1986, 601–619; und insbes. William J. Courtenay, Teaching Careers at the University of Paris in the Thirteenth and Fourteenth Centuries (Texts and Studies in the History of Medieval Education 18), Notre Dame (Indiana) 1988. 10 Zuletzt Jacques Verger, Die Universitätslehrer, in: Geschichte der Universität in Europa, hrsg. von Walter Rüegg, Bd. 1: Mittelalter, München 1993, 139–157. 11 Courtenay, Teaching Careers (Anm. 9), 22. Eine Tabelle zur Verweildauer bzw. richtiger zur Dauer der Erwähnung in den archivalischen Quellen der Heidelberger Universität für die Zeit von 1386–1450 bei Hermann Weisert, Universität und Heiliggeiststift, Die Anfänge des Heiliggeiststifts zu Heidelberg, in: Ruperto Carola
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während freilich Johannes Buridan (gestorben kurz nach 1356) insgesamt über 30 Jahre lang bei den Artisten als Magister „regierte“12. Bei den Theologen war die Dauer der Regenz insbesondere für die Ordensleute wesentlich kürzer: nur zwei bis drei Jahre; danach hatten diese Magister ihren Platz einem Ordensbruder freizumachen, der ebenfalls in den Genuß des prestigeträchtigen Titels durch die Wahrnehmung der Funktion gelangen sollte13. Bei den Weltklerikern der Theologischen Fakultät dauerte die Regenz etwa doppelt so lange, wobei freilich – ebenfalls bereits im 14. Jahrhundert – auch relativ lange Zeiten beobachtet werden können: etwa Simon Freron 30 Jahre, Guillaume de Lumbris und John of Hesdin 25 bis 27 Jahre14 – die Professur wurde damals allmählich zum Lebensziel, wenn auch zunächst nur in Ausnahmefällen. Die deutschen Gründungsuniversitäten der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, erst recht die des 15. Jahrhunderts haben diese Tradition verstärkt. Gewiß, dem Wortlaut der Statuten gemäß unterschieden sie sich im allgemeinen nicht von dem Pariser Modell, das für einige von ihnen ausdrücklich angeführter Leitstern, willig befolgtes Modell 186 und eifrig nachgeahmtes Muster sein sollte15. In der Praxis aber | sind 64 (1980), 55–77 und 65/66 (1981), 72–87, hier 80 f., wo freilich nur die Rohdaten zur Verfügung gestellt werden, die einer kritischen Gewichtung noch bedürften. 12 Courtenay, Teaching Careers (Anm. 9), 23; Buridans biographische Daten hat zuletzt umfassend zusammengestellt und kritisch gesichtet Bernd Michael, Johannes Buridan, Studien zu seinem Leben, seinen Werken und zur Rezeption seiner Theorien im Europa des späten Mittelalters, Bd. I–II (Phil. Diss. FU Berlin 1979), Berlin 1985, Bd. 1. In späterer Zeit ändern sich die Verhältnisse nicht grundlegend: von den 157 bei Weisert, Heiliggeiststift (Anm. 11) verzeichneten Heidelberger Artistenmagistern sind nicht mehr (und nicht weniger) als zehn länger als 20 Jahre in Heidelberg als solche nachweisbar, am längsten Johannes Galli (1404–1430); Nicolaus de Fulda (1393–1419/20); Fridericus Rinderfeit (1404–1432) – die chronologische Koinzidenz verdient Beachtung. 13 Courtenay, Teaching Careers (Anm. 9), 28. 14 Courtenay, Teaching Careers (Anm. 9), 30. 15 Vgl. etwa die Gründungsurkunden von Heidelberg, in: Urkundenbuch der Universität Heidelberg, hrsg. von Eduard Winkelmann, Heidelberg 1886, Bd. l, 5–13, Nr. 4–9, in den lateinischen Urkunden vgl. bes. 5, Zeilen 11–14 u.ö. (Nr. 4), 7, Zeilen 25 f. (Nr. 5); in der deutschen Ausfertigung, zur jährlichen Verlesung vor der Bürgerschaft bestimmt, 11, Zeilen 21–23 (Nr. 9). Allgemein dazu (auch zu den Abweichungen vom Modell) etwa Ferdinand Seibt, Von Prag bis Rostock, Zur Gründung der Universitäten in Mitteleuropa, in: Festschrift für Walter Schlesinger, hrsg. von Helmut Beumann, Bd. l (Mitteldeutsche Forschungen 74/1), Köln/Wien 1973, 406–426; auf die Nachahmung des Pariser Quartier latin in der ersten Gründung der Universität Wien (1365) durch die von Herzog Rudolph IV. eingerichtete (bzw. versprochene) phaphenstat an der Herzogsburg in Wien wies nachdrücklich hin Frank Rexroth, Deutsche Universitätsstiftungen von Prag bis Köln, Die Intentionen des
karrierechancen eines theologiestudiums im späteren 103 die Unterrichtenden längst nicht mehr so fluktuierend gewesen, wie im Ideal-modell des Pariser Typs, wurden gleichsam ansässig und begegnen uns in den Akten der Universität für Jahre und Jahrzehnte, zumeist von ihrem Antreten bis zu ihrem Tod oder dem Verlassen des Universitätsortes16. Eine Änderung im Finanzierungsmuster hat daran gewiß seinen Anteil17. Schon in Paris hatten die Dozenten der oberen Fakultäten sich zunehmend auf kirchliche Pfründen stützen können, z.T. auf Pfründen in Paris selbst, z.T. dank dem Residenzprivileg auf eine heimatliche Ausstattung mit Kirchenvermögen, da ihre Universitätszugehörigkeit sie zumindest für eine gewisse Zeit von der kanonischen Residenzpflicht freistellte. Seit dem 14. Jahrhundert können einige Magister der Artes sich dem angleichen: Nicht zuletzt die Einrichtung der Collegia (Colleges) für Weltkleriker macht das Pfründeninstitut für eine Verfestigung der universitären Strukturen in größerem Umfang einsetzbar18. Bei den deutschen Neugründungen ging man noch einen Schritt weiter. Gewiß nicht ohne Seitenblick auf die italienischen Rechtsuniversitäten, wo die Kommunen für eine gewisse Zahl von Rechtslehrern mehr oder minder fürstliche Salärs als Grundstock eines auskömmlichen Einkommens auswarfen19, wurden hier von der Gründungsphase an die nötigen Dozenten in den Schwierigkeiten des Beginns durch entsprechende Finanzzuwendungen durch den Universitätsgründer bei der Stange gehalten. In Heidelberg ist das besonders deutlich20:
Stifters und die Wege und Chancen ihrer Verwirklichung im spätmittelalterlichen deutschen Territorialstaat (Beihefte zum ArchKulturg 34), Köln/Weimar/Wien 1992, 132 ff. 16 Dafür bieten die Spätgründungen, etwa die deutschen Universitäten des 14. und 15. Jahrhunderts, insbesondere von der zweiten Generation ihrer Lehrer an, zahlreiche Beispiele, für Heidelberg vgl. nur etwa Konrad von Soest (wie unten Anm. 31). 17 Jürgen Miethke, Kirche und Universitäten, Zur wirtschaftlichen Fundierung der deutschen Hochschulen im Spätmittelalter, in: Litterae medii aevi, Festschrift für Johanne Autenrieth zu ihrem 65. Geburtstag, hrsg. von Michael Borgolte und Herrad Spilling, Sigmaringen 1988, 265 f. 18 Zuletzt zusammenfassend Aleksander Gieysztor, Organisation und Ausstattung, in: Geschichte der Universität im Mittelalter (Anm. 10), 115 ff. 19 Johannes Fried, Vermögensbildung der Bologneser Juristen im 12. und 13. Jahrhundert, in: Università e società nei secoli XII–XVI, Atti del nono Convegno Internazionale di Studio tenuto a Pistoia, 20–25 sett. 1979, Pistoia 1983, 27–55. 20 Im einzelnen etwa Jürgen Miethke, Universitätsgründung an der Wende zum 15. Jahrhundert, Heidelberg im Zeitalter des Schismas und des Konziliarismus, in: Die Geschichte der Universität Heidelberg (Studium generale Heidelberg, Wintersemester 1985/86), Heidelberg 1986, 9–33; sowie ders., Ruprecht I., der Gründer
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187 Am 24. Juni war im | kurfürstlichen Rat der Beschluß zur Universitätsgründung gefaßt worden, eine knappe Woche später, am 29. Juni datiert der Revers, in dem der Pfalzgraf Marsilius in seine familia aufnimmt und ihm als dem Helfer in Universitätsgründungsfragen stattliche Einkünfte aus Steuergeldern anweist21. Auch die Theologen Reginald von Aulne und Heylmann Wunnenberg aus Worms sowie der Artist Dietmar von Swerthe wurden wenig später in Dienst genommen, eingeschworen und zunächst offenbar auch aus der fürstlichen Kasse bezahlt22. Es ist anzunehmen, daß von vornherein daran gedacht war, dieses unmittelbare Verhältnis zu lockern zugunsten der fürstlichen Kasse und zu Lasten von kirchlichen Pfründeinkommen. Päpstliche Privilegien wurden dafür früh eingeholt23. Wir wollen das hier nicht Schritt für der Universität Heidelberg, in: Die Sechshundertjahrfeier der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg, Eine Dokumentation, (im Auftrag des Rektors) hrsg. von Eike Wolgast, Heidelberg 1987, 147–156. Eine detaillierte Darstellung des Hergangs zuletzt bei Rexroth, Universitätsstiftungen (Anm. 15), bes. 173–226, mit dessen m.E. verfehlter und überzogener Interpretation der „Universitäts-Stiftung“ ich mich hier freilich nicht auseinandersetzen kann, dazu vgl. demnächst meine Rezension in: MlatJb 29/2,1 (1994). 21 Urkundenbuch (Anm. 15), Bd. 1, 4 f., Nr. 3. – Zu Marsilius vgl. u.a. Mieczyslaw Markowski, Marsilius von Inghen, in: Deutsche Literatur des Mittelalters, Zweite Auflage, hrsg. von Kurt Ruh, Bd. 6 (1985), 136–141; Rainer Specht, Marsilius von Inghen, Über die Bedeutung des ersten Rektors der Universität Heidelberg, in: Ruperto Carola 75 (1986), 17–22; Jürgen Miethke, Marsilius von Inghen als Rektor der Universität Heidelberg, in: Marsilius of Inghen, Acts of the International Marsilius of Inghen Symposium, edd. Henri A. G. Braakhuis, Maarten J. F. M. Hoenen (Artistarium, Supplementa 7), Nijmegen 1992, 13–37 [gekürzt bereits in: Ruperto Carola 76 (1987), 110–120]; Rexroth, Universitätsstiftungen (Anm. 15), 189–218 (freilich erscheint mir die Beobachtung, daß Marsilius als „Stiftungsbeauftragter“ Ruprechts I. fungierte, so nicht belegbar; sie erklärt sich wohl aus der überspitzten „Stiftungs“ euphorie, der Ausgangs- und Zielthese des Buches!). Vgl. weiterhin auch unten Anm. 35. In der Frühphase der Heidelberger Vorbereitungen wird jedenfalls auch die Rolle des Konrad von Gelnhausen der Beachtung wert sein. 22 Vgl. den Gründungsbericht des Marsilius von Inghen, zuletzt in: Acta universitatis Heidelbergensis, Tomus 1/fasc. l (Die Rektorbücher der Universität Heidelberg, Bd. 1/Heft 1), ed. Jürgen Miethke, curantibus Heiner Lutzmann et Hermann Weisert, adlaborantibus Norbert Martin et Thomas Pleier (Libri actorum Universitatis Heidelbergensis/ Die Amtsbücher der Universität Heidelberg, A I/1), Heidelberg 1986, 146–148, Nr. 72, hier 147 Zl. 32–35 (für Heylmann – nicht absolut eindeutig: receptus); Zl. 36–40 (für Reginald: stipendiis certis est retentus; dazu zuletzt Rexroth (Anm. 15), 175, der den freilich unklaren Beleg für Heylmann übersehen hat; 148 Zl. 68 (für Dietmar: stipendiatus per dictum dominum nostrum ducem). 23 Das von Bonifaz IX. 1398 ausgestellte Inkorporationsprivileg in: Urkundenbuch (Anm. 15), 65–69 Nr. 46, das Privileg von 1400, ebenda, 69–71 Nr. 47; beide wurden auch in das Dekansbuch der Juristischen Fakultät aufgenommen: Acta, Bd. 1/1 (Anm. 22), 118–124 Nr. 60 und 128–131 Nr. 63; auch andere wichtige Privilegien ließ der Dekan ( Johannes van der Noyt) in das Dekansbuch der Juristen eintragen
karrierechancen eines theologiestudiums im späteren 105 Schritt verfolgen: Zuletzt hat die Universität sich mit der Zusammenfassung ihres wesentlichen und realisierten Pfründvermögens zu einem großen Universitätsstift (ein Schritt, der freilich in Heidelberg endgültig erst 1413 nach langen Vorbereitungen gelang) auch die neuesten Entwicklungen der deutschen Universitätslandschaft zunutze gemacht24. Künftig standen auch hier für einige Mitglieder der höheren Fakultäten ausreichend dotierte Pfründeinkünfte zur | Verfügung, deren Zuteilung zunächst in die Verantwortung der Universität fiel25. Und für die Artistenmagister wurde durch die Gründung eines eigenen Artistenkollegiums gesorgt, das organisatorisch mit dem Universitätsstift verbunden wurde26. Auch ein Theologe konnte also, war er entschlossen, in der Universitätslehre zu bleiben, und konnte er diesen Entschluß auch den Universitätsgremien plausibel machen, mit einem mehr oder weniger stetigen Einkommen rechnen, wobei das Heilig-Geist-Stift in Heidelberg gleichsam nur die Spitze des Eisberges, nämlich den von der Universität zu vergebenden Teil des möglichen Pfründeeinkommens, darstellte, der durch weitere, auf anderen Wegen errungene Pfründchancen sich nicht unbeträchtlich verbessern ließ. In allen Fällen, in (u.a. die deutsche Fassung von Ruprechts Gründungsurkunde, wie oben Anm. 15, in: Acta 1/1, 114–117 Nr. 58). 24 Im einzelnen vgl. Weisert, Heiliggeiststift (Anm. 11). 25 Die Verteilung der Pfründen war damals zunächst folgendermaßen: Die Dekanspfründe und drei weitere Pfründen standen den Theologen zu, drei JuristenPfründen, eine Mediziner-Pfründe, eine Pleban-Pfründe an Heiliggeist (die zuerst der Jurist Nicolaus Burgmann, danach jeweils ein Theologe innehatte), drei Pfründen für das Collegium Artistarum, die ebenfalls in der Regel an werdende Theologen vergeben wurden, sowie eine Pfründe für einen predicator ad sanctum spiritum, die faktisch ebenfalls vorwiegend Theologen zukam, wenn auch Juristen in der Liste nicht gänzlich fehlen; vgl. im einzelnen die Aufstellungen von Weisert (Anm. 11), 61–66. Vgl. auch den bekannten Finanzbericht, erstattet 1410 beim Tode König Ruprechts von der Pfalz durch den Rektor Konrad Koler von Soest an Ruprechts Nachfolger, Pfalzgraf Ludwig III., jetzt in: Acta universitatis Heidelbergensis, Tomus 1/fasc. 2 (Die Rektorbücher der Universität Heidelberg, Bd. 1/Heft 2), ed. Jürgen Miethke, curantibus Heiner Lutzmann et Hermann Weisert, adlaborantibus Thomas Pleier et Ludwig Schuba, Heidelberg 1990, 448–456 Nr. 446, hier bes. 453. 26 Zum Collegium artistarum vgl. Weisert, Heiliggeiststift (Anm. 11), 64–66; Gerhard Ritter, Die Heidelberger Universität im Mittelalter (1386–1508), Ein Stück deutscher Geschichte (1936), Ndr. Heidelberg 1986, bes. 139, 151 f., 507 f. – Diese Einrichtung ist nicht zu verwechseln mit dem sog. Dionysianum, der Armenburse, die nach mehreren Anläufen (ein erster – nicht zur Verwirklichung gelangter – Stiftungsbrief durch mag. Gerlach von Homburg vom 23. April 1396 in: Acta 1/2 [Anm. 25], 408–410 Nr. 420) schließlich 1452 zustande kam, vgl. dazu Ritter, 153, 392 f.; Fuchs, Universitätsbesucher (Anm. 47), 87 ff. Auch im Dionysianum genossen künftige Theologen eine gewisse Bevorzugung.
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denen wir etwas genaueren Einblick haben, haben sich die Universitätslehrer, und damit auch die Universitäts-theologen, keineswegs vor dem Genuß mehrerer Pfründen gescheut, der sogenannte Pfründenpluralismus war sozusagen selbstverständlich. Marsilius von Inghen27, Konrad von Gelnhausen28, Matthäus von Krakau29, Konrad von 189 Soltau30, Konrad | von Soest31, um hier bei Heidelberger Beispielen zu bleiben, keiner machte von dieser Regel eine Ausnahme. In allen diesen Fällen verdanken unsere Theologen freilich wesentliche Förderung – über ihre Universitätsposition hinaus – ihrem mehr oder weniger dichten Verhältnis zum Herrscher und zum Hof 32. Gewiß, in der Zeit des Schismas und selbst noch in der Zeit der großen Konzilien herrschte für Theologen eine, wie sich später zei27
Vgl. oben Anm. 21. Tilmann Schmidt, Konrads von Gelnhausen Pfründenkarriere, in: ZKG 103 (1992) 293–331. 29 Zur Biographie W∑adis∑aw Se…ko, Mateusz z Krakowa, in: Polski slownik biograficzny, Bd. 20, Breslau usw. 1975, 196–198; Josef T®í“ka, Repertorium biographicum universitatis Pragensis praehussiticae (1348–1409), Prag 1981, 358 f.; Franz-Josef Worstbrock, Matthäus von Krakau, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters, Verfasserlexikon, hrsg. von Kurt Ruh et al., Bd. 6, Berlin 1987, Sp. 172–182; PaulJoachim Heinig, Matthäus von Krakau, in: NDB 16, Berlin 1990, 397 f.; zur Pfründenversorgung vor allem W∑adis∑aw Se…ko und Adam L. Szafra…ski, Materia∑y do historii teologii ≤redniowiecznej w polsce, Bd. 1: Mateusza z Krakowa, Opuscula theologica (Textus et studia historiam theologiae in Polonia excultae spectantia 2/1), Warschau 1974, 9–232, bes. 32 ff., sowie jetzt die Aufstellung bei Gerhard Fouquet, Das Speyerer Domkapitel im späten Mittelalter (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 57), Mainz 1987, 409 f. (Nr. 77). 30 Hans-Jürgen Brandt, Universität, Gesellschaft, Politik und Pfründen am Beispiel Konrads von Soltau (†1407), in: The Universities in the Late Middle Ages, edd. Jozef IJsewijn, Jacques Paquet (Medievalia Lovaniensia I vi), Löwen 1978, 613–625; Hans-Jürgen Brandt, Konrad von Soltau, in: NDB 12, Berlin 1980, 531 f.; knapp auch T®í“ka, Repertorium (Anm. 29), 82; Fouquet, Speyerer Domkapitel (Anm. 29), 804–806 (Nr. 354). 31 Remigius Bäumer, Konrad von Soest und seine Konzilsappellation 1409 in Pisa, in: Westfalen 48 (1970), 26–37, jetzt in: Das Konstanzer Konzil (Wege der Forschung 415), hrsg. von dems., Darmstadt 1977, 96–118; ders., Konrad von Soest, in: NDB 12, Berlin 1980, 523 f.; Hermann Heimpel, Die Vener von Gmünd und Straßburg 1162–1447. Studien und Texte zur Geschichte einer Familie sowie des gelehrten Beamtentums in der Zeit der abendländischen Kirchenspaltung und der Konzilien von Pisa, Konstanz und Basel (Veröff. d. Max-Planck-Instituts f. Geschichte 52), 3 Bde., Göttingen 1982, passim (vgl. das Register, Bd. 3, 1592b); Fouquet, Speyerer Domkapitel (Anm. 29), 402–404 (Nr. 72). 32 Exemplarisch Peter Moraw, Heidelberg: Universität, Hof und Stadt im ausgehenden Mittelalter, in: Studien zum städtischen Bildungswesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Bericht über die Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1978 bis 1981, hrsg. von Bernd Moeller, Hans Patze, Karl Stackmann, redigiert von Ludger Grenzmann (Abh. d. Akad. der Wiss. in Göttingen, Philolog.-Hist. Kl., III 137), Göttingen 1983, 524–552. 28
karrierechancen eines theologiestudiums im späteren 107 gen sollte, unwiederbringliche Konjunktur, zumal die „Kirchenfrage“33 die formalen Möglichkeiten der Kanonisten sehr bald hatte ins Leere laufen lassen. Nicht nur in Heidelberg, aber in Heidelberg ganz besonders auffällig, wurden Theologen zu gesuchten Fachleuten, die in Rat und Kanzlei des Herrschers Einfluß und Geltung gewinnen konnten und gewannen, und die im Falle des Königtums Ruprechts von der Pfalz in besonderer Anzahl und Qualität hervortreten34. Marsilius von Inghen, der zwar als Artisten-magister aus Paris gekommen war, aber in Heidelberg kurz vor seinem Tode eine theologische Promotion, die erste der jungen Universität, erreichte35, sollte hier als | erster Name genannt werden. Über seinen Tod hinaus haben aber auch andere Theologen auf den Herrscher und seine Politik einen wichtigen Einfluß gewonnen: Matthäus von Krakau, der wohl bedeutendste Kopf der Gruppe – wenn wir uns an seiner schriftlichen Hinterlassenschaft und an seinem nachvollziehbaren Einfluß orientieren – hat, aus Prag kommend, spätestens 1394 in Heidelberg Fuß gefaßt, fungierte zwischen 1395 und 1402 als Dekan der theologischen Fakultät, seit 1396 trat er als Berater am pfalzgräflichen Hof deutlich in Erscheinung und nahm offensichtlich großen Einfluß, insbesondere auf die Haltung Ruprechts in der Schismafrage, reiste als Gesandter des Herrschers in der Zeit der Königsherrschaft Ruprechts mehrmals an die Kurie und nach Frankreich, wurde schließlich, es ist die erste derartige Promotion, die Ruprecht erreichte, 1405 vom Papst auf königliches Drängen hin zum Bischof von Worms gemacht, ohne danach selbstverständlich den Hof, die Universität und die Politik aus dem Auge zu verlieren. Der römische Papst Bonifaz IX. hat Matthäus 1410 sogar offenbar das Kardinalat angeboten, das dieser aber wohl ausgeschlagen hat. Am 5. März 1410
33 So nenne ich hier die Probleme einer Stellungnahme im Schisma nach dem an die Quellen angelehnten Sprachgebrauch in den Reichstagsakten. 34 Dazu vor allem Peter Moraw, Beamtentum und Rat König Ruprechts, in: ZGORh 116 (1968), 59–126; sowie ders., Gelehrte Juristen im Dienst der deutschen Könige des späten Mittelalters (1273–1493), in: Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, hrsg. von Roman Schnur, Berlin 1986, 77–147, bes. 103 ff. 35 Zuletzt besonders William J. Courtenay, Marsilius of Inghen as Theologian, in: Marsilius of Inghen (Anm. 21), 39–57 [dtsch. u.d.T.: Marsilius von Inghen (†1396) als Heidelberger Theologe, in: Heidelberger Jahrbücher 32 (1988), 25–42]. Eine umfängliche Personalbibliographie bei Maarten J. F. M. Hoenen, Marsilius von Inghen, Bibliographie, in: BullPhilosophMédiév, éd. par la S.I.E.P.M. 31 (1989), 150–167; mit Ergänzungen ebda., 32 (1990), 191–195.
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ist Matthäus gestorben, nur wenige Monate vor seinem Herrn, dessen streng auf Rom und die Obödienz des römischen Papstes konzentrierter Politik er wesentliche Anstöße gegeben hat36. Matthäus war, wie gesagt, nicht der einzige Theologe, der im Hofdienst reüssierte. Der aus einer ritterlichen Familie Norddeutschlands stammende Konrad von Soltau, der ebenfalls kurz nach der Universitätsgründung aus Prag nach Heidelberg übergesiedelt war (und das schon einige Jahre vor Matthäus von Krakau), vermochte gleichfalls seinem Herrscher schon in den 90er Jahren in Rom und sonstwo vielfältig in seinem und im Auftrag anderer tätig zu werden. Peter Moraw rechnet ihn zu den „königlichen Räten zweiten Ranges“ und konstatiert eine gewisse Distanz zum Pfalzgrafen37. 1399 wird Konrad auf Drängen des Pfälzer Hofes und wohl auch des Mainzer Erzbischofes durch päpstliche Provision zum Bischof von Verden, kann sich in seinem Bistum schließlich durchsetzen, was ihn freilich, anders als im Falle des Matthäus, der später im Wormser Hausbistum der Wittelsbacher in unmittelbarer Nachbarschaft zu Heidelberg viel engere Kontakte zum Hof Ruprechts halten konnte, aus dem innersten Kreis der Berater doch deutlich entfernt hat. 1407, noch vor den definitiven Weichenstellungen des Pfälzer Herrschers in der Kirchenfrage, ist er gestorben. Ein weiteres Beispiel bietet ein Vertreter einer jüngeren Generation, Konrad Koler von Soest, der sein gesamtes Studium – ein Studium der Artes und der Theologie – in Heidelberg absolviert hat. Obgleich seine Familie zur Oberschicht der westfälischen Stadt gehört hat, deren Namen er trug, immatrikuliert Konrad sich 1389 erstmals an der Heidelberger Universität als pauper, also mit Gebührenerlaß, durchlief aber rasch eine tüchtige Karriere, wurde im Dienst des Königs wie der Kurie tätig, trat schließlich als Sprecher der Heidelberger Politik auf dem Konzil von Pisa (1409) auf. Bei dem Nachfolger Ruprechts freilich, bei Pfalzgraf Ludwig III. erst kommt sein Einfluß auf die pfälzische Politik auf den Höhepunkt. 1427 wird Konrad, 191 nicht ohne pfälzisches Drängen, durch Papst Martin V. zum Bischof | von Regensburg erhoben. Zehn Jahre später starb er, ohne seine politische Tätigkeit für die Wittelsbacher, nur jetzt die bayerischen, aufgegeben zu haben: auf den Konzilen von Konstanz und Basel
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Vgl. oben Anm. 29. Moraw, Beamtentum (Anm. 34), 114 f.
karrierechancen eines theologiestudiums im späteren 109 noch hat unser Theologe in der deutschen Nation eine sichtbare Rolle gespielt. Eine Bilderbuchkarriere eines Nichtadeligen, wenn auch der Ausgangspunkt eines pauper eher auf die Einordnungsprobleme bei der Immatrikulation hinweist, als daß er von uns allzu sehr ausgekostet werden sollte38. Der Aufstieg zum Bischof in einem bedeutenden Bistum jedenfalls war ihm nicht unbedingt an seiner Wiege gesungen worden. Und doch muß man sich hüten, diese Ausnahmekarriere für einen schlechthin exemplarischen Fall zu nehmen. Die Gunst der Konjunktur war außergewöhnlich, die besonderen Umstände, seine persönlichen Verbindungen und seine persönlichen Begabungen noch gar nicht gerechnet, die ihm bei seiner glückhaften Karriere zu Hilfe kamen: Von den zehn Heidelberger Professoren, die in dieser Zeit im pfälzischen oder königlichen Rat, sozusagen auf der Bühne, eine Rolle spielten, gehörten (wenn wir der Klassifikation Peter Moraws folgen39) in vorderster Linie ein Theologe und ein Jurist an (Matthäus von Krakau und Nikolaus Burgmann), bei den Räten des zweites Gliedes finden sich mit Konrad von Soltau, Nikolaus Prowin und Konrad Koler gleich drei Theologen, und noch bei den weiteren fünf Ratsmitgliedern, die Peter Moraw im dritten Glied ansiedelt, finden sich neben drei Theologen (Heylmann Wunnenberg, Nikolaus Magni aus Jauer, und Johannes von Frankfurt) und nur zwei Juristen, die aus Prag gekommenen Dekretisten Johannes van der Noyt aus Brüssel und Nikolaus von Bettenberg. Das ist ein ganz außergewöhnlich günstiges Verhältnis für die Theologen, das alle Zeitgenossen erstaunt haben mag. Der Streit nämlich der Fakultäten ist älter als die Fakultäten selbst, haben doch schon im 12. Jahrhundert Artisten und Theologen die Bevorzugung der scientiae lucrativae beklagt, der Mediziner und Juristen, die gegenüber der Theologie einen ganz unziemlichen Vorrang bei ihren Lebenschancen hätten:
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Oben Anm. 31. Fouquet, ebd., hat endlich auch zur sozialen Herkunft Konrads einen wichtigen Hinweis geliefert: Die Familie dieses Mannes, der bei seiner Immatrikulation in Heidelberg als pauper (also mit Gebührenerlaß aus sozialen Gründen) eingeschrieben war, gehörte in Wahrheit der Oberschicht der westfälischen Stadt seiner Herkunft an, sodaß die oft bestaunte Blitzkarriere vom „Armen“ zum Reichsbischof doch wesentlich zurechtgerückt wird: was Konrad zu seiner „Armut“ brachte, eine vorübergehende Notlage oder eine irreführende Einfärbung seiner familiären Verhältnisse vor dem Rektor, wird sich kaum genauer ermitteln lassen. 39 Moraw, Beamtentum (Anm. 34), 117 (zusammenfassend).
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kapitel 5 Dat Galienus opes et sanctio Justiniana, ex aliis paleas, ex istos collige grana . . .40. |
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Die Klage der Zukurzgekommenen oder doch der sich zu kurz gekommen Dünkenden wird nach diesem frühen Beispiel keineswegs abebben, sondern eher aus einem dünnen Rinnsal zu einem breiten Strom anwachsen: Selbst an den Universitäten, in den Hörsälen der Theologen konnte man kunstgerecht in scholastischer Disputation schon am Beginn des 14. Jahrhunderts die Frage erörtert hören, ob eine Bischofskirche besser durch einen Juristen oder einen Theologen geleitet werden könne41. Die Antwort, die die Theologen aus tiefster Überzeugung gaben, entsprach jedenfalls eher ihren eigenen Wünschen als den Vorstellungen derer, die über die Besetzung von Bistümern zu entscheiden hatten. Der gelehrte Franziskaner Roger Bacon († nach 1292) hat sich im zweiten Drittel des 13. Jahrhunderts heftig gegen die Unsitte gewandt, die Rechtsstudien ganz nach den legistischen Modellen auszurichten, während in Wahrheit der Theologie der Vorrang und die Bestimmung der Richtung einzuräumen sei42. Der Magister Artium, Arzt und Student der Theologie, Marsilius von Padua, hat in seinem 1324 in Paris abgeschlossenen „Defensor pacis“
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Vgl. Stephan Kuttner, „Dat Galienus opes et sanctio Justiniana“, in: Literary and Linguistic Studies in Honor of Helmut A. Hatzfeld, ed. A. S. Chrysafulli, Washington, D.C. 1964, 237–246, jetzt in: Kuttner, The History of Ideas and Doctrines of Canon Law in the Middle Ages (Collected Studies Series, CS 113), London 21992, Nr. x. Zu den scientiae lucrativae vgl. hier nur die unten (in Anm. 44) zitierten Bemerkungen des Pierre d’Ailly, die einen festen terminologischen Gebrauch dieses Ausdrucks zeigen. 41 Bereits Charles Homer Haskins, Studies in Medieval Culture, Oxford 1929, 47–49; für Beispiele aus der theologischen Tradition vgl. etwa Martin Grabmann, Die Erörterung der Frage, ob die Kirche besser durch einen guten Juristen oder durch einen Theologen regiert werde, bei Gottfried von Fontaines (†1306) und Augustinus Triumphus von Ancona (†1328), in: Festschrift Eduard Eichmann, Paderborn 1940, 1–19; weiterhin R. James Long, „Utrum iurista vel theologus plus proficeret ad regimen ecclesiae“, A quaestio disputata of Francis Caraccioli, Edition and Study, in: MediaevStud 30 (1968), 134–162 (Text 153–158). 42 Roger Bacon, Opus tertium, ed. John S. Brewer in: Rogeri Bacon Opera quaedam hactenus inedita (Rerum Britannicarum Scriptores (Rolls Series), 15), London 1859, 85: Et mirum est, quod cum ius canonicum eruatur de fontibus Sacrae Scripturae et exposicionibus sanctorum in lectione quam in usu ecclesiae; nam per illas debet exponi et concordari et roborari et confirmari, sicut per eas factum est hoc ius sacrum. Sed nunc principaliter tractatur et exponitur et concordatur per ius civile et totaliter trahitur ad eum et in usu et in lectione. Quod non licet fieri, quamvis ei valeat sicut ancilla suae dominae servitura. Ein interessantes Beispiel auch bei Reiner Haussherr, Eine Warnung vor dem Studium von zivilem und kanonischem Recht in der „Bible moralisée“, in: Frühmittelalterliche Studien 9 (1975), 390–404.
karrierechancen eines theologiestudiums im späteren 111 geklagt: Wer staunt nicht darüber, daß ganz junge Männer, ohne jede Kenntnis der Heiligen Schrift, ohne ziemlichen Ernst der Lebensführung, ohne jede Lebenserfahrung und Zucht, ja manchmal als notorische Verbrecher zu bedeutenden Bischofssitzen durch Simonie oder auf Bitten von Mächtigen, erhoben worden sind, (. . .) während die Doktoren der Heiligen Schrift, erprobte Ehrenmänner, abgelehnt oder mißachtet wurden. (. . .) Wenn man die Bischöfe und Erzbischöfe in den einzelnen Kirchenprovinzen, die Patriarchen oder auch die niedriger gestellten Kirchenprälaten einmal abzählt, findet man nicht einen von zehn, der ein Doktor der Heiligen Theologie oder doch wenigstens in Theologie ausreichend gebildet wäre. Was aber die niedrigen Prälaten angeht, die Äbte und Prioren bei den Mönchen und die Pfarrer der Gemeinden, Gott ist mein Zeuge, der die unsterbliche Wahrheit ist, eine sicherlich zahlreiche Menge von ihnen ist in Lebensführung und Wissen nur ganz unzureichend gerüstet, so sehr, daß die Mehrzahl von ihnen nicht einmal einen grammatisch korrekten (lateinischen) Satz | aussprechen kann. Wer aber gemeinhin höhere Kirchenämter vom Inhaber der päpstlichen Gewaltenfülle übertragen erhält und wer ihm zu einer Leitungsaufgabe geeignet erscheint, ist ein Advokat. Rechtsverdreher erhebt der Römische Bischof, als wären sie dessen würdig und könnten sie ihre Kirche gegen Angriffe verteidigen, bloß weil sie imstande sind, das weltliche Kirchengut zusammenzuhalten und denen streitig zu machen, die sich seiner bemächtigen wollen, während von ihm die Doktoren der Heiligen Theologie bei dieser Aufgabe als unnütz zurückgewiesen werden.43 Dieses lange erboste Zitat, das in späterer Polemik ein vielfältiges Echo fand44, ist einigermaßen präzise, wie moderne Zählungen ergeben haben. Die Präsenz der | Juristen in der Kirche, die früh schon 43 Marsilius von Padua, Defensor pacis, II.24.5–7, ed. Richard Scholz (MGH Fontes iuris germ. ant. 7), Hannover 1932/1933, 454. Bei der Übersetzung habe ich mich angelehnt an: Marsilius von Padua, Der Verteidiger des Friedens, auf Grund der Übersetzung von Walter Kunzmann bearb. u. eingel. von Horst Kusch (Leipziger Übersetzungen und Abhandlungen zum Mittelalter, A 2), Berlin 1958, 827, 829 (aber nicht wörtlich übernommen). Zu Marsilius zusammenfassend etwa Jürgen Miethke, Marsilius von Padua, in: TRE 22 (1992), 183–190, ders. in: LexMA 6 (1992), 332–334 ( jeweils mit Literatur). 44 Fast 30 Jahre nach Marsilius wird auch Konrad von Megenberg namens der Artisten in die Klage einstimmen, die in den Diözesen zu wenig Förderung erhielten, vgl. „Yconomica“ III/1.12, ed. Sabine Krüger (MGH, Staatsschr. III/5.3), Stuttgart 1984, 46, 20–47, 4 (ebendort in Anm. 206 weitere Nachweise; freilich geht es hier ersichtlich um Pfarreien, nicht um Bistümer!). Matthäus von Krakau beschreibt (1402/1403) in den „Squalores“ c. 4 (ed. W∑adis∑aw Se…ko, Krakau 1969, 82–86) die desaströsen Folgen der päpstlichen Provisionen für Familiären der Kurie gegen die Interessen der Graduierten (vgl. bes. 85, wo die Erfolgreichen den übergangenen Graduierten gegenübergestellt werden): . . . Est eciam hic modus magnum medium et via facilis, ut magna aliquando consequuntur beneficia leves vagabundi vel alie viles persone,
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sich bemerkbar machte, hatte ohne jede Frage die Theologen, auch die Gebildeten, die universitär Gebildeten unter ihnen, schon längst überrundet. Das gilt nicht nur bei Bischöfen, von denen es Marsilius ja ausdrücklich konstatiert45. In einer Auszählung von graduierten
que vel mendicare vilia officia vel servicia assumere non erubescunt, utpote quod stabularii, coquinarii, lenones, baratatores prebendarum pinguium, quando vacent, exploratores et quasi traditores, qui eciam non verecundantur se importune ingerere, mentiri et magnalia promittere, nec horrent inclamari vel confusione obrui aut repelli; que omnia honestus homo tantum horret, ut pocius velit carere beneficio quam talia sustinere vel facere . . . – Nach dem Pisaner Konzil beklagt dann etwa Dietrich von Nieheim die mangelnde Berücksichtigung der Graduierten bei der päpstlichen Pfründenprovision: Dietrich von Niem, Dialog über Union und Reform der Kirche 1410, ed. Hermann Heimpel (Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters und der Renaissance 3), Leipzig 1933, 97 und besonders 107 f.: . . . he pestifere constituciones et reservaciones iuris et legis nituntur occupare locum in tantum quod horribile est dicere (. . .), cum illi, qui sunt familiares cardinalium, aliquando homicide, illiterati, seu irregulares, coqui, stabularii, mulaterii, per huiusmodi regulas cancellarie possint in ecclesiis cathedralibus habere dignitates et canonicatus, et illi, qui sunt magistri in artibus vel medicinis seu baccalarii in iure canonico vel civili, nequaquam possint tali gracia gaudere. (Angespielt ist hier auf eine Kanzleiregel [Nr. 16] Papst Johannes XXIII., ed. Emil von Ottenthal, Regulae cancellariae apostolicae, Innsbruck 1888, 175 f., die beide hier gegeneinander ausgespielten Gruppen gleichgestellt hatte und gerade dadurch die Bevorzugung der nichtgraduierten Kurialen ermöglichte). – In der Zeit des Basler Konzils (1442) wiederholt der Magdeburger Domherr Hinrich Toke in seinen „Concilia wie man die halten sol“ die Formel Dietrichs in der Volkssprache: (nach der Hs. Leipzig UB, 1328, fol. 87r–101v), ed. Hansgeorg Loebel, Die Reformtraktate des Magdeburger Domherrn Heinrich Toke, Phil. Diss. (masch.) Göttingen 1949, 106–149, hier 116 f.: . . . so hat der babist und cardinale gesetcze gemacht, das ir diener die besten graden habin und vorgehin sollen allen andern, wiewol sie gelart sint obir der bebiste ader cardinal diner (. . .) also werdin die ungelertin, die des babstes ader cardinale stalknechte koche butteler gertner hundewerter ader die ander minner dinst bi in habent, belenet und nicht die gelertin doctores, besonderen in der heiligen schrifft, da der gancz cristenglaub an hanget. . . . – Ähnlich wird der Pariser Theologe und Kardinal Pierre d’Ailly in seiner auf dem Konstanzer Konzil (1416) vorgelegten Schrift „De reformacione ecclesie“ argumentieren, gedruckt z.B. in: Johannes Gerson, Opera omnia, ed. Jean Ellie De Pin, Antwerpen 1706 [Ndr. Hildesheim 1987], Bd. 2, 903–916, hier benutzt nach: Quellen zur Kirchenreform im Zeitalter der großen Konzilien des 15. Jahrhunderts, (1. Teil:) Die Konzilien von Pisa (1409) und Konstanz (1414–1418), hrsg. von Jürgen Miethke und Lorenz Weinrich (Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, 38a), Darmstadt (voraussichtlich 1995), hier vgl. c. 4 [Du Pin, col. 912A]: . . . providendum eciam esset, ne ipsi <monachi> eciam occasione studii claustra relinquerent, vel saltem moderandum, quod solum ratione studii theologie, cum nimis multi seculares hodie studeant in litium facultate. Ipsa quoque theologia in statu secularium paucos habet sectatores propter abusum Romane curie, que theologos contempsit et in omni ecclesiastico gradu lucrativarum scienciarum studiosos preposuit, cum tamen primitivi theologi ecclesiam edificaverint, quam aliqui baratatores destruxerunt, et nunc eam quasi ad extremam ruinam deducere viderentur. Vgl. auch ebenda, c. 5 [col. 913A]. 45 Nur ein bezeichnendes Beispiel: Von fünf Heidelberger Studenten niederadliger Herkunft, die aus einer Heidelberger Fünfjahres-Stichprobe zwischen 1386 und 1450 einen Bischofsstuhl erlangen konnten, hatten vier (also alle mit einer Ausnahme) die juristische Fakultät besucht, drei hatten sogar einen juristischen Grad erworben, einen theologischen Grad besaß keiner von ihnen: Fuchs, Universitätsbesucher (wie
karrierechancen eines theologiestudiums im späteren 113 Universitätsabgängern, die in der Diözese Lüttich vom Beginn des 13. Jahrhunderts bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts nachweisbar sind – es sind etwa 700 Personen – hat sich für nur 241 (ca. 35%) ermitteln lassen, welches Fach sie studiert hatten. 42 (d.h. etwa 17%) hatten sich mit den Artes zufrieden gegeben, 30 (ca. 12%) hatten Theologie studiert, 50 (d.h. ca. 20%) waren in Medizin promoviert und 103 (d.h. mehr als 40%) hatten die Rechtswissenschaften gewählt46. Diese Relation hat sich dann auch im weiteren Mittelalter bekanntlich nicht verändert, sie hat sich vor allem nicht zugunsten der Theologen verschoben, allenfalls haben die Juristen noch zugelegt. In Heidelberg kann man es an den Graduierungen im ersten Halbjahrhundert seines Bestehens ablesen: Von insgesamt 1632 als Stichprobe untersuchten Fällen sind in einer neueren Auswertung47 471 Graduie | rungen aller Stufen verzeichnet: 379 (80,5%) davon wurden in der Artes-Fakultät absolviert (bacc. artium 271, mag. artium 108), fünf (1,1%) bei den Medizinern, 66 (14%) bei den Juristen (damals noch ausschließlich einer kanonistischen Fakultät), und nur 21 (4,5%) bei den Theologen (und zwar elf bacc. theol., zehn lic. theol.).
unten Anm. 47), 34–35; die beiden Abkömmlinge aus gräflichen Häusern, die (aus derselben Stichprobe) Bischofssitze erhielten, haben, fast selbstverständlich, keine Graduierung auf zuweisen: ebenda, Tabelle 12. 46 Die Zahlen nach Christine Renardy, Le monde des maîtres universitaires du diocèse de Liège (1140–1350), Recherches sur sa composition et ses activités (Bibliothèque de la Faculté de Philosophie et Lettres de l’Université de Liège, 227), Paris 1979; das Material ist aufgearbeitet bereitgestellt bei Renardy, Les maîtres universitaires dans le diocèse de Liège, Répertoire biographique (1140–1350) (Bibliothèque de la Faculté de Philosophie et Lettres de l’Université de Liège, 232), Paris 1981. 47 Alle Angaben nach den Ermittlungen von Christoph Fuchs, „Dives, pauper, nobilis, magister, frater, clericus“. Sozialgeschichtliche Untersuchungen über Heidelberger Universitätsbesucher des Spätmittelalters (1386–1450) (Education and Society in the Middle Ages and the Renaissance 5), Leiden/New York/Köln 1995, bes. 138, Tabelle 6 und 20, Tabelle 11. Interessant scheint mir freilich, daß, zumindest in Heidelberg, die theologische Fakultät sich besonders aufnahmefreudig für pauperes zeigte, die sich überproportional in dieser „Höheren Fakultät“ (wenn sie denn überhaupt eine höhere Fakultät erreichten) zeigen: vgl. Fuchs, 139, Tabelle 8 und 183, Tabelle 30, sowie die Anmerkungen dazu; immerhin haben von insgesamt 84 graduierten pauperes unter 373 zuordnungsfähigen Fällen (immer noch aus dem Kreis der 1632 genannten Heidelberger Studenten, von denen 322 nicht zugeordnet werden konnten) 289 (ca. 77,5% der Ermittelten) keinen Grad erreicht, 77 (20,7% der Ermittelten, 91,7% der graduierten pauperes) einen Grad in der ArtesFakultät (54 bacc. artium, 23 mag. artium), nur 7 (2% der Ermittelten, 8,3% der graduierten pauperes) in Höheren Fakultäten: l bacc. med., 2 bacc. iur., 1 lic. iur., und gleich viel, nämlich 3 Theologen (d.h. 3,5% der graduierten pauperes: 1 bacc. theol., 2 lic. theol.); angesichts der geringen Fallzahlen ergibt sich freilich kein klares Bild.
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Und wiederum einige Jahrzehnte später sieht es nicht anders aus, um hier die Auszählung der Graduierungen an der Tübinger Universität in der Zeit zwischen 1477 und 1534, also in den letzten Jahrzehnten des Mittelalters, zu nennen: Von den ca. 5800 immatrikulierten Studenten hat Werner Kuhn insgesamt 2891 Graduierungen (das sind immerhin fast genau 50%) – vom baccalarius artium angefangen bis zum doctor einer höheren Fakultät ermittelt; ermittelt man den jeweils höchst erreichten Grad (der nicht nur in Tübingen, sondern teilweise auch anderwärts erreicht wurde), so bilden 1766 Bakkalare der Artes (das sind ca. 61% aller Graduierten) verständlicherweise die Mehrheit dieser Gruppe, denen sich noch 826 Artistenmagister (d.h. weitere 28,4%) anschließen, zusammen haben also nicht weniger als 89,4% aller Graduierten ausschließlich eine Graduierung der niedrigsten Fakultät erreicht. In Medizin promovierten zum dr. med. insgesamt 63 Studenten (2,2%); eine Graduierung in Theologie (baccalareus biblicus: 20; bacc. Sent.: 22; lic. theol.: 7; dr. theol.: 43) erreichten also doch mit insgesamt 92 Graduierten 3,2% aller derer, die überhaupt einen akademischen Grad erworben haben (und 30,8% der Graduierten der höheren Fakultäten); in den Rechten ließen sich insgesamt 144 Studenten graduieren (bacc.: 9; lic. iur.: 21; dr. iur.: 114), d.h. 4,9% aller Graduierter, und 48,2% der Graduierten der höheren Fakultäten48. Über die vorliegenden prosopographischen Auszählungen hinaus, die ich hier nicht weiter vorführen will (und die auch jeweils aus 196 den anderen Berichten dieser | Tagung deutlich werden), ist für das Bemühen gelehrter Theologen um eine bessere Berücksichtigung an der kirchlichen Pfründenkrippe die Reformarbeit der Konzilien des 15. Jahrhunderts ein guter Indikator. Diese „Reform an Haupt und Gliedern“49, die von den Erfahrungen des Schismas als dringlich
48 Werner Kuhn, Die Studenten der Universität Tübingen zwischen 1477 und 1534, Ihr Studium und ihre spätere Lebensstellung, Bd. 1–2 (Göppinger akademische Beiträge 37–38), Göppingen 1971; die Zahlen hier nach den Aufstellungen Bd. 1, 31 ff. mit Tabellen III–IV. Natürlich ist der Anteil der in der damals noch jungen Universität Tübingen selbst erreichten Graduierungen bei den höheren Fakultäten und insbesondere bei den Juristen empfindlich niedriger als bei den Artisten (vgl. Tabelle V, 41): bacc. artium: 1616 (91,5% aller mit diesem Grad Nachgewiesenen); mag. artium: 666 (80,6%); lic. theol.: 1 (14,2%); dr. theol.: 24 (55,8%); bacc. iur.: 1 (11,11%); dr. iur.: 29 (25,4%); dr. med.: 35 (55,55%). 49 Die Geschichte dieses Schlagwortes verfolgte bis in das frühere und hohe Mittelalter zurück in seiner Tübinger Dissertation Karl Augustin Frech, Reform an Haupt und Gliedern, Untersuchung zur Entwicklung und Verwendung der Formulie-
karrierechancen eines theologiestudiums im späteren 115 nahegelegt schien, ja die die Zeitgenossen als geradezu notwendige Antwort auf die Herausforderungen des Zeitalters empfunden haben50, hatte gewiß im einzelnen sehr unterschiedliche Ziele, vertrat sehr unterschiedliche Interessen und Interessengruppen der mittelalterlichen Kirche51. Man wird sogar sagen müssen, daß das Gesamtwerk der Reformen an diesen widerstreitenden Partikularinteressen letztendlich gestrandet und versandet ist. Eine Interessengruppe freilich war auf den Konzilien stark überrepräsentiert, und sie hat keineswegs darauf verzichtet, ihre vitalen Interessen auch in die Form von Konzilsdekreten zu überführen: Universitätsbesucher und Universitätsgraduierte waren unter den Prälaten, Prokuratoren und sonstigen Konzilsteilnehmern in großer Zahl vertreten. Sie alle waren nicht ausschließlich durch dieses Merkmal ihres Universitätsbesuches definiert, hatten soziale, politische, religiöse Bindungen und Verpflichtungen, die sie je und dann auch auf den Konzilien zur Geltung bringen konnten und wollten52. Und doch läßt sich ohne Gewaltsamkeit behaupten, daß die für die Gruppe von Universitätsbesuchern wichtigen Punkte bei den Reformdiskussionen und vor allem bei den
rung im Hoch- und Spätmittelalter (Europäische Hochschulschriften III/510), Frankfurt a.M./Bern/New York/Paris 1992: Das früheste explizite Auftauchen macht F. (113 f.) im Bereich der Kloster- und Bistumsvisitationen zur Zeit Alexanders III. dingfest. Mit Blick auf die Gesamtkirche wird die Forderung erst seit dem beginnenden 14. Jahrhundert gebraucht; zum allgemein verbreiteten Schlagwort wird es eigentlich erst nach der Zeit des Pisaner Konzils. 50 Vgl. dazu auch allgemein etwa Jürgen Miethke, Die Kirchenreform auf den Konzilien des 15. Jahrhunderts, Motive – Methoden – Wirkungen, in: Studien zum 15. Jahrhundert, Festschrift für Erich Meuthen, hrsg. von Heribert Müller, Johannes Helmrath, München 1994, Bd. 1, 13–42. 51 Darauf hebt besonders ab Philipp Haven Stump, Reform in Head and Members, The Reform Ideas of the Council of Constance (1414–1418), PhD-Thesis University of California, Los Angeles 1978 (Ann Arbor #79.91419); vgl. auch ders., The Reform of Papal Taxation at the Council of Constance, 1414–1418, in: Speculum 64 (1989), 69–105; jetzt auch ders., The Reforms of the Council of Constance (1414–1418) (Studies in the History of Christian Thought 53), Leiden/New York/Köln 1994. 52 Etwa Jürgen Miethke, Die Konzilien als Forum der öffentlichen Meinung im 15. Jahrhundert, in: DA 37 (1981), 736–773. Zeitgenossen waren sichtlich stolz auf die Massierung von gelehrter Kompetenz auf den Konzilien, versuchten jedenfalls mit dem Hinweis darauf Eindruck zu machen, vgl. nur den Brief des Kardinals Pedro Fernández an König Martin von Aragón nach der Absetzung der drei Päpste in Pisa, ed. Johannes Vincke, Briefe zum Pisaner Konzil, Bonn 1940, 200–202 Nr. 114, hier 201 f.: Ca afuera de muy grant muchedumbre de prelados que ovieron los en el dicho concilio e dieron la dicha sentencia con todos los procuradores de reys et principes et comunidades que ay se açercaron, concordaron en ella mas de siete-cientos maestros en theologia et doctores en decretos. Et non ha nasçion de toda la christianidat, de que aqui non esten personas notables et graduatos en theologia et en decretos.
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197 Reformergebnissen mit beson | derer Aufmerksamkeit bedacht worden sind. Besonders deutlich greifbar wird das bei der sensiblen Frage der kirchlichen Karriere, vor allem im Pfründrecht. Der Franzose Guillelmus Duranti, Dekretist und Bischof von Mende in Südfrankreich (1296–1330), hatte bereits in einer Reformschrift für das Konzil von Vienne (1311/12) gefordert, es solle beschlossen werden, für alle Hierarchiestufen des Klerus die entsprechenden Graduierungen festzulegen: Et declararetur, que scientia est in singulis gradibus requirenda et quod nullus characteretur epicopus, nisi esset doctoratus in theologia vel in iure 53. Priester sollten wenigstens nach ihrem Wissensstand geprüft werden: Nec aliis provideri posset, quamdiu doctores remanerent improvisi aliqua civitate vel diocesi 54. Im 15. Jahrhundert wollte man dann solche Vorschläge durch zwingende Vorschriften einschärfen, zumindest und zuerst bei den Kardinälen, aber auch bei den Bischöfen und Pfarrern. Schon in Konstanz bei den Vorschlägen zur Neuregelung der Kardinalsernennungen, die künftig nicht nur in ihrer Zahl beschränkt und auf die verschiedenen Nationen der Christenheit gleichmäßiger (und damit „repräsentativer“) verteilt werden sollten, wurde als Mindestqualifikation der Kardinäle in den Beratungen immer wieder ein Studium gefordert: Sint autem viri in sciencia moribus et rerum experiencia excellentes, qui non minores sint triginta annis, doctores in theologia, iure canonico vel civili, preter admodum paucos, qui forte de stirpe regia vel ducali aut magni principis oriundi existant . . ., so heißt es bezeichnend genug in den Akten des Konstanzer „Reformatoriums“55, wobei es Unterstreichung verdient, daß dieser Text (und manche weitere Parallele dazu), bei allem Eifer um eine Bildungsqualifikation, neben dieser – wenn auch in möglichst beschränktem Umfang – auch die zeitübliche soziale Qualifikation adeliger Geburt nicht völlig ignorieren wollte. Die Fächer
53 „Tractatus maior“ 2.18 (= Guillelmus Duranti, Tractatus de modis generalis concilii celebrandi, Editio princeps: Lyon 1532, fol. 23 [recte 24]rb) sowie „Tractatus minor“ 17 (in der Editio princeps: 3.40, fol. 66vbsq.). Zu dem Text allgemein jetzt grundlegend Constantin Fasolt, Council and Hierarchy, The Political Thought of William Durant the Younger (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought, IV 16), Cambridge usw. 1991, von dem auch die literarkritische Rekonstruktion der ursprünglichen beiden Traktate sowie deren Kunstnamen stammt; zu unserer Frage besonders: 195 und 301 Anm. 39. 54 „Tractatus maior“ 2.96 (Editio princeps, Lyon 1532, 3.27, fol. 58vb); vgl. auch ibidem 2.30 (Ed. princ. fol. 28rb). 55 Acta Concilii Constantiensis, Bd. 2, in Verb, mit Johannes Hollnsteiner hrsg. von Heinrich Finke, Münster i.W. 1923, 635 f.
karrierechancen eines theologiestudiums im späteren 117 Theologie und die Rechte erscheinen in völliger Gleichberechtigung und ohne Quotierung, nur in der Reihung an die traditionelle Fakultätenfolge angeglichen, auch das ein Ausdruck gewiß eines rationalen Optimismus. In Konstanz war das Aktenniederschlag der Reformkommission geblieben, in Basel versuchten die Väter in mehrfachem Anlauf, das auch zum Dekret zu erheben. Auf ihrer XXIII. Sitzung (26. März 1436), also noch vor dem Auseinanderbrechen des Konzils, beschlossen sie in fast identischer Formulierung wie in Konstanz darüber, wie Kardinäle künftig aussehen sollten: sint viri in scientia moribusque ac | rerum experientia excellentes non minores triginta annis, magistri, doctores seu licenciati cum rigore examinis in iure divino vel humano. Sint saltim tertia vel quarta pars de magistris aut licentiatis in sacra scriptura. Hier also wollte man, wenn auch nur mit Sollensvorschriften eine (offenbar doch als schon relativ hoch empfundene) Quote für die graduierten Theologen festlegen, während man von den pauci, den wenigen „nur“ sozial Qualifizierten immerhin noch circumspectio, maturitas und eine competens litteratura für erforderlich, aber eben auch für ausreichend hielt56. Einzelne Stimmen wollten auch für einen Bischof ein examen canonicum einführen, in dem die rigorosen Forderungen des Kirchenrechts an den Kandidaten anzulegen seien, was immer konkret das im Einzelfall geheißen haben sollte57. Selbst solch eine zurückhaltend formulierte Auflage aber hat auch das Basler Konzil dann doch nicht mehr beschlossen. Das Kardinalat oder ein Bistum, das war klar, war nicht für jedermann erreichbar, jeder Kleriker sollte aber die reale Chance auf eine ausreichende Pfründe haben. So hat das Basler Konzil in seiner Spätphase auch einen Beschluß gefaßt, als sich die Konzilsväter bereits unheilbar mit Papst Eugen IV. zerstritten hatten. Auf seiner 31. Sitzung (am 24. Januar 1438) wurde als ein Dekret beschlossen, daß alle Kollatoren von Pfründen sich streng an eine vorgegebene Reihenfolge in der Wertigkeit von Universitätsgraduierungen halten sollten:
56 Conciliorum oecumenicorum decreta, curantibus Josepho Alberigo, Josepho A. Dossetti, Perikle-P. Joannou, Claudio Leonardi, Paulo Prodi, consultante Huberto Jedin, Editio tertia, Bologna 1972 (künftig COD), 50124 –27 u. 50129 f. 57 Die Forderungen des kanonischen Rechts für die Weihespendung waren durchaus nicht hochgesteckt und wurden in praxi recht unterschiedlich gehandhabt, vgl. nur Friedrich Wilhelm Oediger, Über die Bildung der Geistlichen im späten Mittelalter (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 2), Leiden/Köln 1953, 46–57.
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Für die wichtigsten Theologenpfründen, die gemäß den Anordnungen von Papst Alexander III. und Innozenz III. an den Metropolitankapiteln einzurichten waren, sowie für die in Analogie dazu an allen bischöflichen Kirchen und Kollegiatsstiften nunmehr einzurichtenden Stellen für Theologen, sollte ein Magister, Lizentiat oder baccalareus formatus der Theologie (welcher an einer anerkannten Universität ein mindestens 10 Jahre langes Studium hinter sich gebracht hat) genommen werden, sofern er bereit sei, die Last der Residenz am Orte seiner Pfründe auf sich zu nehmen. Er müsse auch zweimal oder doch mindestens einmal in jeder Woche seine Vorlesungen halten58. Darüberhinaus sollten an jedem Domstift und an jedem Kollegiatsstift zusätzlich zu diesem quasi beamteten Theologen ein Drittel der Pfründen in festgelegtem Rhythmus an andere geeignete Graduierte übertra199 gen werden, nämlich in erster Li | nie an Magister der Theologie, die an einer Theologischen Fakultät einer anerkannten Universität mindestens 10 Jahre lang, in zweiter Linie an Doktoren oder Lizentiaten eines der beiden Rechte oder der Medizin, die sieben Jahre lang in ihrer Fakultät studiert hätten, sowie in dritter Linie an Magister oder Lizentiaten der Artes, die diesen Grad cum rigore examinis erworben hätten und mindestens fünf Jahre lang an einer anerkannten Universität von den logischen Anfangsgründen angefangen in den Artes oder auch einer höheren Fakultät Studien nachweisen könnten; dem gleichgeachtet sollten offenbar sein Bakkalare der Theologie mit einem Studium von mindestens sechs Jahren der Theologie, fünf Jahren in einem oder beiden Rechten (mit der bezeichnenden Zusatz, daß nobiles ex utroque parenti et ex antiquo genere nur ein dreijähriges Studium der Rechte nachzuweisen hätten)59. In den Stadtpfarrkirchen sollten als Qualifikation notfalls auch drei Jahre Studium der Theologie oder
58 Vgl. Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectie, ed. Johannes Dominicus Mansi, Venedig 1784 (Ndr. Graz 1961), Bd. 29, 161–165, hier 163C: Primo cum per generalis concilii statuta sancte ordinatum existat, quod quelibet ecclesia metropolitica teneatur et debeat unum habere theologum (. . .) ordinat hec sancta synodus quod extendatur etiam huiusmodi ordinatio ad ecclesias cathedrales taliter videlicet, quod quilibet collator ipsarum prebendarum teneatur et debeat canonicatum et prebendam, quamprimum facultas se obtulerit et inveniri poterit, uni magistro, licentiato, vel in theologia baccalareo formato conferre, qui per decennium in universitate privilegiata studuerit et onus residentie ac lecture et predicationis subire voluerit, quique bis aut semel ad minus per singulas hebdomadas (. . .) legere habeat. 59 Ebenda (163D): Insuper quod in qualibet ecclesia cathedrali vel collegiata ultra predictam prebendam theologo (. . .) assignandam tertia pars prebendarum conferatur graduatis alias idoneis [!] (. . .), videlicet magistris in theologia, qui per decennium in aliqua universitate privilegiata, doctoribus seu licentiatis in altero iurium vel medicina, qui per septem annos in sua facultate stu-
karrierechancen eines theologiestudiums im späteren 119 der Rechte oder auch das Magisterium der Artes genügen60. Um sicher zu stellen, daß die Kollatoren auch von den in ihrer Gegend lebenden derartig Qualifizierten wissen könnten, wurde im gleichen Dekret noch ein jährlich zu wiederholendes Meldeverfahren angeordnet. Und ganz allgemein wurden alle, die Pfründen zu vergeben hatten, auch dazu ermahnt, die theologischen Graduierten bei ihrer Entscheidung gebührend zu berücksichtigen, insbesondere hinsichtlich der gehobenen Stellen, der Dignitäten, in den Stiften61. Es ist nur allzu erklärlich, daß diese Vorschläge sich nirgendwo flächendeckend haben durchführen lassen, interessant sind sie hier vor allem deshalb, weil sie die Richtung der Hoffnungen der Universitätsbesucher unter den Konzilsvätern erkennen lassen. Mit einer radikalen Abschaffung päpstlicher Provisionen, Expektanzen und sonstigen Pfründzuweisungen durch die Kurie kam man aber jetzt in eine gewisse Schwierigkeit, hatte doch bisher gerade der Papst nicht nur, aber auch die Universitätsgebildeten unter den clerici durch seine Expektanzen und Provisionen begünstigt62. Würde jeder lokale Kollator sich diesem löblichen Vorbilde entsprechend | verhalten? Daneben war das Problem einer ausreichenden Versorgung der Kurie mit Finanzmitteln in irgendeiner Form zu lösen, wie allerseits anerkannt wurde63. Auch wenn wir nicht alle Vorschläge hier mustern können, früh schon und oft wurde vorgeschlagen, die Pfründzuweisungen zwischen duerint in universitate ut supra, magistris seu licentiatis in artibus cum rigore examinis, qui per quinquennium in aliqua universitate a logicalibus inclusive et supra in artibus vel in aliqua superiori facultate studuerint, necnon in theologia, qui per sex annos, vel in utroque aut altero iurium baccalareis, qui per triennium, si nobiles ex utroque parenti et ex antiquo genere, alias autem per quinqennium consimiliter in aliqua universitate privilegiata ad minus suum studium fecerint . . . 60 Ebenda: In ecclesiis autem parochialibus, que in civitatibus aut villis muratis existunt, instituantur persone sicut supra qualificata, aut ad minus qui per tres annos in theologia vel in altero iurium, seu magistri in artibus, qui in aliqua universitate privilegiata studentes fuerint. 61 Ebenda: Exhortamur tamen ordinarios collatores, quod in conferendis beneficiis huiusmodi, presertim quoad dignitates, respectum habeant singulariter ad magistros necnon licentiatos et baccalareos formatas in theologia. 62 Vgl. etwa den neueren Überblick bei Brigide Schwarz, Römische Kurie und Pfründenmarkt im Spätmittelalter, in: ZHF 20 (1993), 129–152. 63 Natürlich war man sich über die Form, in der dieses Problem gelöst werden könne, in keiner Weise einig. Statt Einzelbelege für diese generelle – und inhaltlich leere – Einigkeit aufzuhäufen, sei hier auf das sogenannte „Kautionsdekret“ des Konstanzer Konzils verwiesen, das auf seiner XL. Session (am 30. Oktober 1417) vor dem Eintritt in die Papstwahlprozeduren noch gemeinsam die Reformaciones fiende per papam una cum concilio antequam dissolvatur aufgelistet hatte; in § XVI erscheint auch der Punkt: de provisione pape et cardinalium; COD (Anm. 56), 44427. Dazu zuletzt Stump, The Reforms (Anm. 51), 40 ff.
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Papst und ursprünglichem Kollator zu halbieren, und einmal den einen, ein andermal den anderen zum Zuge kommen zu lassen. Daß diese Lösung in den sogenannten „Konstanzer Konkordaten“ (1419) bereits angezielt64 und durch Einzelregelungen auch vorläufig erreicht worden war65, daß sie für Deutschland im „Wiener Konkordat“ (1448) dann in eine dauerhaft praktikable Form gegossen werden konnte66, gehört zu den bleibenden Ergebnissen der konziliaren Reformbemühungen. Verfolgen wir solche Ansätze und Forderungen hier nicht weiter, obwohl sich in den Einzelstimmen noch manch interessante Forderung auch zu unserer Frage aufspüren läßt; der gelehrte Kardinal Pierre d’Ailly hatte 1416 auf dem Konstanzer Konzil (mit Rückgriff auf einen früheren eigenen Traktat) eine Reformschrift bekanntgemacht67, in der er die Forderung ausreichender Kenntnis für jeden Priesterkandidaten aufstellt und für die Unbildung schon amtierender Priester eine Abhilfe vorsieht. An jedem Domstift und allen bedeutenden Kollegiatskirchen sollten schriftlich niedergelegt werden aliqui breves tractatus (. . .) tam in latino quam in vulgari super instructione necessaria de virtutibus et viciis, de articulis fidei, de sacramentis, de modo confeccionis et huiusmodi. Similiter in huiusmodi ecclesiis deberet esse aliquis lector theologie 68. Mit solchem katechetischen Unterricht, der sich freilich auch auf einen Grundstock einer Basisbibliothek theologischen Wissens, auf 201 notabiles librarie theologie | et iuris canonici ac librorum moralium . . . stützen können sollte69, hat der französische Kardinal offenbar bewußt auf Pläne der Päpste Alexanders III. und Innozenz III. zurückgegriffen, die bereits an der Wende zum 13. Jahrhundert solche flächendek64 Vgl. die Regelung im deutschen Konkordat (Abschnitt II) in: Raccolta di Concordati su materie ecclesiastiche tra la Santa Sede e le Autoritate Civili, ed. Angelo Mercati, Bd. l, Città del Vaticano 21954, 159. 65 Dazu bereits Bernhard Hübler, Die Constanzer Reformation und die Concordate von 1418, Leipzig 1867, 222 ff. (wo die Parallel-Bestimmungen der anderen Konkordate und ihre Regelungen verzeichnet sind). 66 Vgl. im einzelnen jetzt vor allem Andreas Meyer, Das Wiener Konkordat von 1448, eine erfolgreiche Reform des Spätmittelalters, in: QForschItalArchBibl 66 (1986), 108–152 (mit Literatur). 67 De reformacione ecclesie (Anm. 44); zu den Einleitungsfragen vgl. ebendort in der Einleitung; zum biographischen Rahmen vor allem Bernard Guenée, Entre l’église et l’état. Quatre vies de prélats français à la fin du moyen âge, XIIIe–XVe siècle (Bibliothèque des histoires), Paris 1987, 270 ff. 68 De reformacione, c. V, Du Pin (Anm. 44), II 914A. 69 Ebenda (col. 914B): Similiterque in dictis ecclesiis „d.h. cathedralibus et notabilibus collegiatis>, maxime in metropolitans deberent esse notabiles librarie theologie, iuris canonici et librorum moralium, et maxime, ut magnus liber conciliorum generalium, qui iam rarus est, licet sit perutilis et necessarius a metropolitanis in magnis ecclesiis procuraretur.
karrierechancen eines theologiestudiums im späteren 121 kende Klerusbildung ins Auge gefaßt hatten70, ohne daß ihr Vorhaben ersichtliche unmittelbare Folgen gehabt hätte, wenn man hier von den Bettelordensstudien als den Stiefkindern dieses Plans71 einmal absieht. Auch hier war Guillelmus Duranti 1311/12, hundert Jahre also vor Ailly, auf denselben Einfall gekommen: Auch er hatte gefordert, daß es nützlich wäre, von jeder Fakultät (!) Gelehrte zu berufen, auf deren Rat der Papst dann alle entstandenen Zweifelsfragen der einzelnen Wissenschaften autoritär entscheiden könne remanentibus tamen ipsarum scienciarium textibus originalibus (!)72. Und neben solchem von den verwirrenden Glossen gereinigten Grundbestand der Autoritäten der Scholastik wünschte sich unser Autor alique declarationes compendiose pro sacerdotibus et curatis in omni sciencia ederentur, per quas possent in eis scholastici, curati, et rei publicae administratores et rectores brevi tempore informari . . .73. Daß diese Hoffnungen unrealistisch waren, ist von vornherein klar. Das groteske Mißverständnis bei Duranti, die praktische Anwendung von Wissenschaft sei durch solche autoritären Verfahrensvorschläge zu erleichtern, ist noch deutlicher zu greifen als die Illusionen bei dem eher katechetisch eingestellten Ailly. Aus dem Konstanzer Projekt Ailly’s ist nichts Konkretes geworden, aus diesem Vorschlag konnte auch keine allgemeine katechetische Praxis erwachsen74. Und doch weist der Vorschlag uns auf dasselbe Bemühen, das an den Universitäten des 15. Jahrhunderts und weit darüber hinaus gerade von der Theologie verfolgt worden ist, | und das seinerseits auch Theologen 70
Maßgebend dazu immer noch Post, Alexander III (Anm. 8). Zu den „Bettelordensstudien“ allgemein vgl. Dieter Berg, Armut und Wissenschaft, Beiträge zur Geschichte des Studienwesens der Bettelorden im 13. Jahrhundert (Geschichte und Gesellschaft, Bochumer Historische Studien 15), Düsseldorf 1977; sowie den Sammelband: Le scuole degli ordini mendicanti (secoli XIII–XIV) (Convegni del Centro di Studi sulla Spiritualità Medievale 17), Todi 1978. Auf die immer stärkere Einebnung der einzelnen „Ordensschulen“, ihre geistesgeschichtliche Regionalisierung und Provinzialisierung (die auch sozialgeschichtliche Implikationen hatte) machte entschieden aufmerksam Isnard W. Frank, Die Bettelordensstudia im Gefüge des spätmittelalterlichen Universitätswesens (Institut für Europäische Geschichte Mainz, Vorträge 83), Stuttgart 1988. 72 „Tractatus maior“ (Anm. 53) 2.73 (Editio princeps 3.4, fol. 53ra/b); sehr ähnlich auch „Tractatus minor“ 22 (Editio princeps 3.45; fol. 68va). 73 „Tractatus maior“ (Anm. 72). 74 Zur katechetischen Situation im Italien vor allem der Frühen Neuzeit jetzt besonders Paul F. Grendler, Schooling in Renaissance Italy, Literacy and Learning, 1300–1600 (The Johns Hopkins University Studies in Historical and Political Sciences, 107th Ser./1), Baltimore 1989. Ähnliche Untersuchungen für spätmittelalterliche und frühneuzeitliche deutsche Territorien fehlen. 71
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und Theologiestudenten einige Karriereaussichten eröffnen konnte. Katechisierung der Gläubigen, Verbreitung von Wissen und Repräsentation von Basistexten in Latein und deutsch: Wer dächte da nicht an die Katechismustafeln, die Nikolaus von Kues auf seiner Legationsreise durch Deutschland aufstellen ließ75? Es blieb bekanntlich nicht bei solchen Tafeln: In Wien und anderwärts haben Universitätstheologen gelehrte Traktate auch in die Volkssprache übersetzt und die Vermittlung von Wissen an Klerus und Laien ins Auge gefaßt76. Hier strebten Universitätsangehörige über die Universität hinaus, hier schlugen sie, die einen mit kühnen Projekten, die anderen durch kleine Schritte in eine neue Richtung, einen neuen Ton an. Die Universität, Studium und theologische Wissenschaft, erwiesen eine Dynamik, die man der provinzialisierten und angeblich so verknöcherten Spätscholastik im allgemeinen gar nicht zutrauen will. Solche Dynamik 181 freilich veränderte den sozialen Rahmen des kirchlichen Lebens zunächst nur fast unmerklich, allen Bemühungen eifriger Basler zum Trotz, die nach dem Scheitern des Konzils eine Kirchenreform im diözesanen Rahmen anstrebten. Wohlgemeinte Forderungen nach Bildung und gelehrter Qualifikation waren in der Wirklichkeit nicht allgemein durchzusetzen, konnten aber gleichwohl verschiedentlich befördert werden. Allzu optimistische Vorstellungen über die generellen Folgen solcher Bemühungen sollte man sich freilich nicht machen. Eine eindringliche Analyse der Sozialgeschichte des Speyerer Domkapitels mußte kürzlich konstatieren, daß zwar nach der Rechtslage eine Gleichgewichtigkeit von Universitätsqualifikation und sozialer Herkunft, wie sie in Speyer schon 75
Edition und Besprechung des Hildesheimer Texts durch Hans Jürgen Rieckenberg, Die Katechismus-Tafel des Nikolaus von Kues in der Lamberti-Kirche zu Hildesheim, in: DA 39 (1983), 555–581; zum allgemeineren Rahmen Hartmut Boockmann, Über Schrifttafeln in spätmittelalterlichen deutschen Kirchen, in: DA 40 (1984), 210–224. 76 Der Frage der wissensvermittelnden Literatur für Laien ist ein ganzer Sonderforschungsbereich der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Würzburg und Eichstätt nachgegangen, der auch fleißig Publikationen vorgelegt hat. Zuletzt vgl. etwa: Horst Brunner und Norbert Richard Wolf (Hrsg.), Wissensliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (Wissensliteratur im Mittelalter 13), Wiesbaden 1993. Zu dem Wiener Theologen Ulrich von Pottenstein und seinem Kreis vgl. neben Egino P. Weideniller, Untersuchungen zur deutschsprachigen katechetischen Literatur des späten Mittelalters (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 10), München 1965; auch etwa Dieter Harmening, Katechismusliteratur, Grundlagen religiöser Laienbildung im Spätmittelalter, in: Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur im Mittelalter, Perspektiven ihrer Erforschung, hrsg. von Norbert Richard Wolf (Wissensliteratur im Mittelalter 1), Wiesbaden 1987, 91–102 (mit Lit.).
karrierechancen eines theologiestudiums im späteren 123 früh durch komplizierte Vorschriften des „Aufschwörens“ nachzuweisen war, durchaus bestanden hat, daß aber in der Wirklichkeit des 15. Jahrhunderts das Stift faktisch ausschließlich seine adelige und ritterbürtige Rekrutierung festigte: Mit Ausnahme der der Universität unmittelbar zugewiesenen Präbenden und mit Ausnahme nachweisbarer fürstlicher Veranlassung öffnete sich das Stift den nicht (auch) sozial qualifi | zierten Bewerbern nicht weiter als zuvor77. Freilich sollte nicht vergessen werden, daß jetzt die sozial Qualifizierten, die Adeligen und Ritterbürtigen, sich ernsthafter mit Studien einzulassen hatten: Seit spätestens 1400 galt ein sogenanntes biennium als Regel, das heißt jeder Kanoniker mußte vor seiner endgültigen Rezeption einen Aufenthalt an einem Generalstudium von mindestens zwei Jahren nachweisen. Frist und Rahmenbedingungen lassen es erwarten, daß hier hauptsächlich an ein Studium der Artes zu denken ist. Daß selbst hier geradezu im Regelfall auf eine Graduierung kein Wert gelegt wurde, ist ebenso klar. Gleichwohl haben die Kanonikerkandidaten in den Universitätsstädten nicht nur ihr Zehrgeld verbraucht und die Bänke gedrückt – eine doch insgesamt nicht unansehnliche Zahl von ihnen hat den bisweilen recht langen Weg zur Graduierung eingeschlagen, freilich rückt erneut die Jurisprudenz vor die Theologie, mit insgesamt 65:10 (wobei die Artes 23, die Mediziner zwei Graduierungen in 150 Jahren verzeichnen konnten)78. Die Universitätsstifte mit ihren speziell für Theologen vorgesehenen Pfründen, die jeweils den Professoren der verschiedenen Universitäten zugute gekommen sind, fanden zudem in breiterer Front eine Ergänzung, die insbesondere den in Theologie graduierten Universitätsabgängern zusätzliche Chancen boten, vor und erst recht nach der Zeit der Reformkonzilien: Seitdem in Prag, etwa gleichzeitig mit der Gründung der Universität, eine Lektoralpfründe am Domstift eingerichtet worden war (1349), die dazu dienen sollte, den Kanonikern entsprechende theologische Bildung zu vermitteln, nachdem auch in Heidelberg im Zuge der langen Gründungsgeschichte (schon 1391) am Heiliggeiststift eine solche Predigtpfründe durch den Pfalzgrafen veranlaßt worden war, ist vielerorts im Reich das Bemühen spürbar,
77 Fouquet (Anm. 29), 164–201, bes. 181 ff. Vgl. jetzt auch Peter Moraw, Stiftspfründen als Elemente des Bildungswesens im spätmittelalterlichen Reich, in: Studien zum weltlichen Kollegiatstift in Deutschland, hrsg. von Irene Crusius, Göttingen 1995, 270–297. 78 Fouquet (Anm. 29), 187.
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durch solche zweckgebundenen Pfründen für einen gehörigen theologischen Unterricht zu sorgen oder der Bevölkerung der Universitätsstadt durch Predigten Glaubenswissen weiterzugeben: In manchen Universitätsstädten konnten Bewerber ihre Chancen auf bestimmte Pfarrpfründen eben durch ihre Graduierung wesentlich erhöhen. Im einzelnen sind freilich die Bedingungen, unter denen solche sogenannten Lektoralpräbenden, Domprädikaturen, Prädikantenstellen (u. dgl.) eingerichtet wurden79, sehr verschieden. Es kann auch nicht behauptet werden, daß überall eine nahe Universität auslösender 204 Faktor oder gar Movens der Entwicklung gewesen | wäre. Jedenfalls wurden solche Pfründen, die naturgemäß bevorzugt für gelehrte Theologen interessant wurden, seit dem Ende des 14. Jahrhunderts ausdrücklich errichtet, an den Domstiften meistens aufgrund der Initiative des hohen Klerus, also, wenn man so will, der Amtskirche, und in oft erkennbarem Zusammenhang mit den konziliaren Reformbemühungen der ersten Jahrhunderthälfte, in den städtischen und einigen wenigen ländlichen Stiften und Kirchen aufgrund „bürgerlicher“ frommer Stiftungen, meist testamentarisch. Am Ende des Jahrhunderts treffen wir dann auch vielfältig Bestrebungen an, diese Prädikaturen durch entsprechende Büchersammlungen zu unterfüttern80. Ein berühmtes Beispiel dafür, das heute noch mit einer ansehnlichen Sammlung existiert, ist die ehemalige Prädikantenbibliothek, heute „Bibliothek der Evangelischen Nikolaikirche“, der Reichsstadt Isny im Allgäu81. 79 Eine Aufstellung etwa bei Oediger, Bildung (Anm. 57), 61 f. (mit Einzelnachweisen). Allgemein vgl. vor allem jetzt Michael Menzel, Predigt und Predigtorganisation im Mittelalter, in: HJb 111 (1991), 337–384 (mit Lit.), zu den Prädikaturen bes. 369–383. Ein extremer Fall eines einzelnen Stifters gleich einer ganzen Anzahl solcher Prädikaturen ist belegt bei Julius Rauscher, Die ältesten Prädikaturen Württembergs, in: BllWürttKG NF 25 (1919), 107–111: Der Nürnberger Stadtarzt Johannes Mesner (über den auch ich nichts Näheres ermitteln konnte) stiftete (1415) in seiner Geburtsstadt Riedlingen, (1420) in Giengen und (zu einem unbekannten Datum) in Saulgau je eine Prädikantenstelle mit jeweils offenbar recht ansehnlicher Ausstattung. 80 Eduard Lengwiler, Die vorreformatorischen Prädikaturen der deutschen Schweiz von ihrer Entstehung bis 1530, Phil. Diss. Freiburg/Schweiz 1955, 36 mit Anm. 67, weist auf die Stiftung einer Büchersammlung von ca. 25 Bänden (im Wert von etwa 200 fl.) in Winterthur durch Johannes Wibel, Priester in Säckingen, hin; interessant ist auch die Geschichte der Prädikaturbibliothek in Basel, die ihre Entstehung dem Vorschlag des damaligen zweiten Münsterpredigers Wilhelm Textoris verdankt, der 1469 mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit einer Bibliothek beim Domkapitel für sich ein größeres Haus herausschlug: ebd., 36 Anm. 71 unter Berufung auf Franz Mone, Predigerpfründen im 14. und 15. Jahrhundert (zu Heidelberg, Lahr und Basel), in: ZGORh 18 (1865), 1–11, hier 7 ff. 81 Vgl. Paul Oskar Kristeller, Iter Italicum, accedunt alia itinera, A Finding List of Uncatalogued or Incompletely Catalogued Humanistic Manuscripts of the Renaissance
karrierechancen eines theologiestudiums im späteren 125 Es ist nicht möglich, hier ein vollständiges Panorama solcher Bemühungen zu entfalten, zumal auch die Gesamtzahl der einem spätmittelalterlichen Theologen winkenden Pfründen, die durch dieses „Programm“ zusätzlich zur Verfügung standen, insgesamt gesehen relativ bescheiden geblieben ist. Einige exemplarische Bemerkungen freilich sind zur Veranschaulichung doch nötig. Besonders gut sind wir in norddeutschen und südwestdeutschen Städten über derartige Versuche unterrichtet. In Hamburg stiftete 1408 der im Dienste Lübecks und Hamburgs als Protonotar und Stadtschreiber hochverdiente Jurist Johannes Vritze von Wantzenborch testamentarisch eine theologische lectura, die ausdrücklich jeweils mit einem Doktor oder doch wenigstens mit einem Bakkalar der Theologie besetzt werden sollte. Die Stelle bekam zuerst Ludolf Meistermann aus Lübeck, ein Landsmann des Stifters, der seit 1379 in Prag als Artist gewirkt hatte und dort auch seit 1401 theologischer Bakkalar geworden war. In der Artes-Fakultät der Prager Universität und in ihrer sächsischen Nation spielte Ludolf in den stürmischen Jahren der Auseinandersetzungen um Jan Hus eine wichtige Rolle, hatte sich auch an der Kurie des römischen Papstes Gregor XII. aus diesen Erfahrungen heraus um eine Verurteilung der Wyclifschen Lehren bemüht. Wegen der Über | nahme der Lektoralpfründe fühlte er sich offenbar verpflichtet oder er nahm die Gelegenheit wahr, die dort erwartete theologische Promotion nachzuholen. Meistermann wandte sich dazu freilich nunmehr nach Erfurt, wo er sich 1410 intituliert hat und um 1415 sein Doktorat erreichte. 1418 ist er dann gestorben, kurz nachdem er die ihm zugewiesene Pfründe auch vor Ort in Besitz genommen hatte82. in Italian and Other Libraries, Bd. 3: Australia to Germany, London/Leiden 1983, 578 f.; dort auch der Hinweis auf eine Übersicht bei I. Kammerer und G. Kopp, Die Nikolaikirche in Isny und ihre Bibliothek, Isny 1949; vgl. auch die Angaben bei Rauscher, Prädikaturen in Württemberg (Anm. 91) II 163 und 190a/b: die Stiftung einer Prädikatur von vor 1462 wurde 1465 und 1470 noch von dem ursprünglichen Stifter Hans Guldin, Domherr in Konstanz, um einen Bibliotheksbau erweitert, die Bibliothek konnte aber erst später verwirklicht werden. Weitere solcher Bibliotheken nennt Rauscher für Biberach, Lauffen, Reutlingen und Wangen. 82 Erich Kleineidam, Universitas Studii Erfordensis, Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt im Mittelalter 1392–1521, Bd. 1 und Bd. 2: 1392–1460 (Erfurter Theologische Studien 14 und 22) Leipzig 1964 und 1969, hier Bd. 1, 66–73, 272 f. (Nr. 19); vgl. auch allgemein den Abschnitt „Der neue Stand der Prediger“, ebenda, Bd. 2, 119–128 (mit wichtigen prosopographischen Hinweisen). Einen (späten, doch typischen) Einzelfall behandelt Heinz Stoob, Albert Krantz (1448–1517), ein Gelehrter, Geistlicher und Hansischer Syndikus zwischen den Zeiten, in: HansGBll
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Auch seine Nachfolger auf der Hamburger Lektoralpfründe behielten eine enge Verbindung zu Erfurt: Heinrich Geysmer aus Lübeck, der sich im gleichen Jahr 1410 wie Ludolf Meistermann und wie dieser aus Prag kommend in Erfurt eingeschrieben und dort zunächst als Kollegiat des Collegium universitatis eine Versorgung gefunden hatte, war als Erfurter Lizentiat der Theologie 1418 (im Jahre seines zweiten Rektorats in Erfurt) von seiner Universität durch Wahl auf die theologische Pfründe an St. Marien in Erfurt präsentiert worden, konnte sich dort aber gegen die Ansprüche des älteren (freilich ebenfalls erst 1419 zum Doktor der Theologie promovierten) Jacobus de Kula nicht durchsetzen und wurde daraufhin (?) mit der Lektoralpräbende in Hamburg entschädigt, die er bis zu seinem Tode (1431) innehaben sollte. Er hat offenbar seit diesem Streit in Erfurt sich nicht mehr sehen lassen, hat vielmehr beratend an der Gründung der Universität Rostock mitgewirkt, in deren Matrikel er sich als zweiter schon 1419 intitulieren ließ83. Die Reihe der Erfurter auf der Lektoralpräbende in Hamburg wird dann noch länger: Heinrichs Nachfolger – dem freilich eine nicht allzu lange Zeit des Genusses der Pfründe an der Alster beschieden war – wurde Johannes Holt aus Bremen84, der sich, 1423/24 in Erfurt zum dr. theol. promoviert, seit 1427 an der neugegründeten Universität Rostock aufgehalten hat und in Hamburg erst 1431 (im Jahr vor seinem Tode) die Lektoralpfründe übertragen erhielt. Johannes Langediderik aus Wismar85, der wiederum direkt als Erfurter Universitätslehrer die Pfründe in Hamburg 1453 (diesmal offenbar fast zeitgleich mit seiner Erfurter Promotion zum theologischen Doktor) erhalten hat, und Johannes Pilgrim de Bercka86, der freilich seine theologische Promotion wiederum erst nach der Erlangung dieser Pfründe (1457) – noch im selben Jahre – in 206 Erfurt erwerben konnte, seine weitere Universitätskarrie | re dann aber an der Universität Köln fortgesetzt hat, schlossen sich kurz nach 100 (1982), 87–109; vgl. auch die Bemerkungen von Klaus Wriedt, Bürgertum und Studium in Norddeutschland während des Spätmittelalters, in: Schulen und Studium (Anm. 9), 487–525, hier bes. 491. Keine Behandlung findet sich (der engeren Begriffsbestimmung einer „Studienstiftung“ wegen) in Klaus Wriedt, Studienförderung und Studienstiftungen in norddeutschen Städten (14.–16. Jh.), in: Stadt und Universität, hrsg. von Heinz Duchhardt (Städteforschung, A 33), Köln/Weimar/Wien 1993, 33–49. 83 Kleineidam (Anm. 82), Bd. 1, 73–80, 86 f., 273 f. (Nr. 24). 84 Kleineidam (Anm. 82), Bd. 1, 275 (Nr. 29). 85 Kleineidam (Anm. 82), Bd. 1, 288 f. (Nr. 61). 86 Kleineidam (Anm. 82), Bd. 1, 245 (Nr. 13), 293 (Nr. 67).
karrierechancen eines theologiestudiums im späteren 127 der Jahrhundertmitte dann nach einer kleinen Unterbrechung an diese eindrucksvolle „Erfurter Reihe“ an. Ich habe diese Beispiele nur darum hier so ausführlich vorgestellt, weil sie belegen, daß nicht jede Lektoralpfründe wirklich auch ständig für theologische Lehre am Orte selbst zur Verfügung stand, jedenfalls in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts wird eine solche Pfründe auch gerne als Promotionsstipendium gebraucht. Freilich gibt es auch andere Beispiele. Um im Dunstkreis der Erfurter Universität und im norddeutschen Raum zu bleiben, wäre hier auf Hinrich Toke87 hinzuweisen, der nach langjährigen Studien in Erfurt und Rostock 1426 in Erfurt zum Doktor der Theologie promoviert wurde. Im gleichen Jahr erhielt er ein Kanonikat mit (theologischer) Lektoralpräbende in Magdeburg, ist dann von 1432 an als Abgesandter des Erzbischofs von Magdeburg und zugleich der Universität Erfurt dem Konzil von Basel inkorporiert, wo er eine sichtbare Rolle zu spielen vermochte. Auch Gabriel Biel (†1495) war in den 50er Jahren des 15. Jahrhunderts vor seinem Eintritt bei den Brüdern vom gemeinsamen Leben (1462) und seiner Tätigkeit als theologischer Lehrer an der Universität Tübingen (1484–1491) Domprediger in Mainz, von wo er freilich durch die Mainzer Stiftsfehde vertrieben wurde88. Die Erlangung einer Lektoralpräbende konnte damals in Einzelfällen durchaus ihrer Ausstattung wegen der Fortsetzung einer Universitätskarriere vorgezogen werden. Johannes Rucherat von Wesel89, der 1456 in Erfurt zum Doktor der Theologie promoviert wurde, ist seit 1460 in Worms
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Kleineidam (Anm. 82), Bd. 1, 125–130, 147–153, 276–278 (Nr. 31), u.ö.; vgl. auch Das Erzbistum Magdeburg, Bd. 1.1: Das Domstift St. Moritz in Magdeburg, bearb. von Gottfried Wentz† und Berent Schwineköper (Germania sacra, Bd. 1,4, 1–2), Berlin/New York 1972, 129 f., 149–152, 529–533): In Magdeburg haben die Domprediger (1439 war neben dem lector primarius die Pfründe eines lector secundarius gestiftet worden) keine regelmäßige Stimme in den Kapitelgeschäften geführt, ihr primarius durfte aber bei der Bischofswahl mitwählen und wurde auch sonst in geistlichen Angelegenheiten zu Beratungen beigezogen. Im 15. Jahrhundert haben später dann nicht weniger als vier Leipziger Theologieprofessoren die Pfründe in Magdeburg erhalten. 88 Zusammenfassend Werner Detloff, Gabriel Biel, in: TRE 6 (1980), 488–491; Manfred Schulze, Gabriel Biel, in: LexMA 2 (1983), 127. 89 Kleineidam (Anm. 82), Bd. 1, 291–293 (Nr. 66); Bd. 2, 21–23, 111–115 (u.ö.); zusammenfasssend zu ihm prägnant (vom Standpunkt eines evangelischen Kirchenhistorikers) Gustav Adolf Benrath, Johann Rucherat von Wesel, in: TRE 17 (1988), 150–153; (vom Standpunkt des Katholiken knapp) Ludwig Hödl, in: LexMA 5 (1991), 598.
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als Kanoniker des Domstifts nachweisbar und hat (nachdem gegen ihn 1460 in Erfurt eine Untersuchung unbekannter näherer Umstände wegen durchgeführt worden war) von 1461–1463 an der Universität Basel als rezipierter Doktor der theologischen Fakultät Theologie unterrichtet, hat danach von 1463–1477 in Worms als Domprediger amtiert (bis er dort, vor allem wegen seiner Kritik am kirchlichen Ablaßwesen, vom Bischof abgesetzt wurde). Noch im selben Jahr als Dompfarrer nach Mainz übergewechselt, wurde er auch dort wiederum einem förmlichen Lehrzuchtverfahren unterworfen (über das wir durch einen Bericht recht gut unterrichtet sind, der wahrscheinlich 207 aus der | Feder des Jakob Wimpfeling stammt90) und mußte öffentlich seine „ketzerischen“ Lehren widerrufen. Er starb dann kurz darauf (1481) im Gewahrsam der Augustinereremiten in Mainz. Nach der Aufstellung einer regionalen Untersuchung zu solchen Prädikaturen, die von etwa der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zum Jahre 1530 in der Schweiz insgesamt 58 Personen ermittelt, die eine 208 solche Stelle innegehabt haben91, ließ sich | für 46 dieser Personen ein 90 Vgl. Nicolaus Paulus, Wimpfeling als Verfasser eines Berichtes über den Prozeß gegen Johannes von Wesel, in: ZGORh 81 (1929), 296–300, sowie Gerhard Ritter, Wimpfeling als Verfasser eines Berichtes über den Prozeß gegen Johannes von Wesel?, ebd., 451–453; auch Ritter, Heidelberger Universität (Anm. 26), 488. 91 Lengwiler, Die vorreformatorischen Prädikaturen (Anm. 80), vgl. hier die Tabelle 51. Zu beachten ist, daß hier noch zwei Doppelgraduierungen herauszurechnen sind (woraus sich auch die um zwei Stellen höhere Gesamtsumme der Personen erklärt): Nikolaus Justinger (Basel) war in Basel als bacc. form. der Theologie graduiert, außerdem offenbar zuvor in Dôle zum doctor sacrorum canonum promoviert worden (vgl. die Prosopographie bei Lengwiler, 81, Nr. 12); Wolfgang Capito, der spätere Reformator Straßburgs, war sogar in drei Fakultäten promoviert: 1498 dr. med. in Freiburg, 1515 dr. theol. in Freiburg, 1520/23 dr. iur. can. in Mainz (Nachweise bei Lengwiler, 80 Nr. 6. Ich habe aber in der obigen Auszählung seine medizinische Graduierung nicht eigens berücksichtigt, zumal Capito als Domprediger in Basel, 1515–1520 bereits den theologischen Doktorgrad führen konnte). – Zum Vergleich seien (mit Vorbehalt, da die Auszählung auf einige Schwierigkeiten stößt) auch die Daten mitgeteilt, die sich ergeben aus der Liste bei Julius Rauscher, Die Prädikaturen in Württemberg vor der Reformation, Ein Beitrag zur Predigt- und Pfründengeschichte am Ausgang des Mittelalters, in: WürttJbbStatLdKde 1908 (2. Heft), Stuttgart 1909, II 152–211, bes. 186–205: In der zweiten Hälfte des 15. und den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts bleiben von insgesamt 135 genannten Prädikanten 56 (d.h. 41,5%) ohne Angaben zu einem Universitätsbesuch (was aber zumindest teilweise auch an der Kompilation der Liste liegen mag); ein Universitätsbesuch (ohne weitere Angaben über einen Abschluß) ist sicher oder wahrscheinlich bei 10 der Genannten (d.h. 7,5% der Gesamtheit, oder 12,65% aller Universitätsbesucher); als Artisten (als bacc. art.: 8; mag. art.: 10 [ein weiterer wurde zum mag. artium promoviert erst nach Erlangung der Prädikantenstelle]; zusätzlich hierher zu rechnen wohl auch 12 Magister oder Meister, auch 1 Doktor ohne Fakultätsnennung: 13), zusammen also 31 bzw. 32 (d.h. 23% der Gesamtzahl, 39,2% der Universitätsbesucher);
karrierechancen eines theologiestudiums im späteren 129 Universitätsaufenthalt wahrscheinlich machen: Drei waren noch – was in dieser späten Zeit recht auffällig ist – ohne Graduierung von der Universität geschieden, verdankten also ihre Ernennung auf solche Pfründen (wie die zwölf gänzlich ohne Nachweis eines Universitätsaufenthaltes Gebliebenen) offensichtlich anderen Qualifikationen als ihrer Gelehrsamkeit [das sind nicht weniger als 25,9% der 58 Prädikanten]; fünf hatten sich mit einem bacc. artium, acht mit dem mag. artium begnügt (weitere sieben nannten sich magister ohne nähere Spezifizierung, waren also wohl auch Artisten) [somit hatten 34,5% der Gesamtheit ausschließlich die artistische gelehrte Qualifikation]; von den höheren Fakultäten hatten zwei den Lizentiaten, drei den Doktorgrad der Kanonistik erworben [8,6%; rechnet man die beiden Doppelgraduierungen noch ab, sind es nur 5,2%]; fünf hatten schließlich das Bakkalareat der Theologie (einer blieb ohne nähere Angaben, einer nannte sich bacc. bibl., einer bacc. sententiarius, zwei bacc. formatus), einer hatte das Lizentiat der Theologie und nicht weniger als 13 hatten den Grad eines Doktors der Theologie erreicht [das sind 32,8% der Geamtzahl bzw. 41,3% der Universitätsbesucher oder 44,2% der Graduierten]. Eine Prävalenz der in Theologie Graduierten ist also unverkennbar, und sie ist auch erklärlich. Sie beweist den stark empfundenen Bedarf der bürgerlichen Welt nach ausgebildeten Predigern ebenso wie umgekehrt auch die Bedeutung solcher Prädikanten-Stellen für die Karriereaussichten eines spätmittelalterlichen Theologen.
Mediziner finden sich erwartungsgemäß nicht; Juristen (bacc. utr. 1; lic. decr.: 1; lic. utr.: 1; dr. leg.: 1 [nach Erlangen der Prädikatur]): insgesamt 4 (d.h. 3% der Gesamtzahl, 5% aller Universitätsbesucher); Theologen (bacc., bacc. bibl., bacc. form.: 11; lic. theol.: 2; dr. theol.: 10 [zusätzlich 8 nach Erlangen der Prädikatur]): insgesamt 23/31 (d.h. 17/23% der Gesamtzahl, 29,1/39,2% aller Universitätsbesucher unter den identifizierten Prädikanten). Dabei ist anzumerken, daß die Zahl der promovierten Theologen erst um die Wende zum 16. Jh. merklich zunimmt. Gleichwohl ergibt sich ein deutlich überproportionaler Anteil der Theologen, die aber teilweise solche Prädikaturen offenbar ebenfalls (wie ihre norddeutschen Kollegen) als Studienstipendien benutzten. Korrekturnachtrag zu Anm. 91: Erst nach Abschluß der Korrekturen wurde mir eine Untersuchung zu den Pfarrern Nordbrabants im 15. und 16. Jahrhundert zugänglich, die für diese Region eine eingehende statistische Auswertung auch des Universitätsbesuches und der Bildungsverhältnisse im Klerus vorlegt, Arnold Johannes Alfons Bijsterveld, Laverend tussen Kerk en wereld, De pastoors in Noord-Brabant 1400–1570 (Academisch proefschrift Vrije Universiteit Amsterdam), Nijmegen 1993, vgl. hier bes. 135–212. Die Ergebnisse dieser Untersuchung sind hier vergleichend heranzuziehen.
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Die Daten sprechen für sich. Freilich wird man nicht so sehr von Karrierechancen eines Theologiestudiums im engeren Sinn sprechen dürfen, vielmehr eher von einem gewissen (und im Gesamtverlauf wachsenden) Bewußtsein von der Angemessenheit von Hochschulbildung bei bestimmten Erwartungen an den Seelsorger und Prediger. Insgesamt sind auch solche Prädikantenstellen nicht ein quantitativ ausreichendes Auffangbecken für Theologiestudenten gewesen und konnten keineswegs für jeden Bedarf der an den theologischen Fakultäten Graduierten auch nur annähernd genügend Aufnahmekapazität bereitstellen92. Allein die stark ins Gewicht fallende Vermehrung der Studentenzahlen im spätmittelalterlichen Deutschland hätte rein rechnerisch eine quantitativ weit stärkere Erhöhung der Pfründen für gelehrte Theologen nötig gemacht, wenn die Theologen ihren Anteil 209 an ver | sorgten Graduierten hätten „halten“ wollen. Davon aber kann keineswegs die Rede sein: In ihrem prozentualen Anteil an der Gesamtstudentenschaft sanken die Theologen sichtlich und erheblich ab, was aber letzten Endes auch die Erfahrung war, die die anderen „Höheren“ Fakultäten machen mußten. Ich breche ab. Zu konkreten Chancen, die ein Studium der Theologie eröffnete, habe ich in der Tat wenig ermittelt. Die Konkretion seiner Lebenschancen mußte jeder einzelne Theologiestudent für sich selbst mit mehr oder weniger Erfolg suchen. Einige der Richtungen, in denen nicht nur versprengte Einzelne ihren Weg suchten und fanden, haben wir hier etwas näher betrachtet. Die Erwartungen waren gewiß sehr verschieden, mit denen Studenten sich an eine Universität oder auf ihre peregrinatio academica begeben haben. Und in durchaus
92 Vgl. allein die Zahlen bei James H. Overfield, University Studies and the Clergy in Pre-Reformation Germany, in: Rebirth, Reform and Resilience, Universities in Transition 1300–1700, edd. James M. Kittelson, Pamela J. Transue, Columbus, Ohio 1984, 254–292, bes. 290 Tab. 4, wo die Grobverteilung der Immatrikulationen auf die Fakultäten an der Universität Köln in Abschnitten von jeweils 30–40 Jahren aufgelistet ist; hier nenne ich nur die Eckdaten: Von 1389–1430 waren von 5573 Immatrikulierten noch 417 (d.h. 7,5% bzw. 10,7% der einer Fakultät Zuordnungsfähigen) für die theologische Fakultät eingeschrieben, von 1491–1520 von 10552 Immatrikulierten nur noch 89 (d.h. 0,8 bzw. 0,9%). Hier ist vor allem das Absinken der absoluten Zahlen auffällig und erklärungsbedürftig. – Freilich kann hier nicht im einzelnen zu der „Entklerikalisierung“ (die zweifellos auch eine „Enttheologisierung“ bedeutet hat) der deutschen Universitäten im späteren 15. Jahrhundert Stellung genommen werden, sie wäre lohnender Gegenstand eines eigenen Untersuchungsgangs. Abgewogen dazu Rainer Christoph Schwinges, Deutsche Universitätsbesucher im 14. und 15. Jahrhundert, Studien zur Sozialgeschichte des Alten Reiches (Veröff. d. Instituts f. Europ. Geschichte 123) Stuttgart 1986, 408–411.
karrierechancen eines theologiestudiums im späteren 131 verschieden gestimmter Dringlichkeit konnte man an eine Lebensplanung gehen, wenn man sich dem Studium der Theologie zuwenden wollte. Die wachsende Bedeutung der Universitäten freilich für das Leben der Kirche und Gesellschaft93 stand hier nicht zur Erörterung. Sie wäre ein eigenes Thema.
93 Für das erste Jahrhundert der europäischen Universitätsgeschichte etwa Jürgen Miethke, Die Kirche und die Universitäten im 13. Jahrhundert, in: Schulen und Studium (Anm. 9), 285–320.
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KAPITEL 6
DIE STUDENTEN UNTERWEGS*
„. . . Jetzt reicht mir Stab und Ordenskleid Der fahrenden Scholaren, Ich will zu guter Sommerzeit Ins Land der Franken fahren!“1
Die harmlosen Verse Viktors von Scheffel bekräftigen ein Cliché, das wir alle zu kennen glauben. Scholaren zählen zum fahrenden Volke. Wie hätte es auch anders sein können? Selbst heute – nach der explosiven Vermehrung von Hochschuleinrichtungen in Deutschland in den siebziger Jahren unseres Jahrhunderts und angesichts der modernen Verkehrstechnik – vermag keineswegs jeder Student die nächste Regionaluniversität von Hause aus zu erreichen. Die mittelalterliche Universitätslandschaft jedenfalls war noch viel sparsamer besetzt. Noch um die Mitte des 13. Jahrhunderts konnte man seine Wahlmöglichkeiten fast an den Fingern einer Hand abzählen, wenn man sich denn entschließen konnte, ein Studium zu versuchen2: Salerno, Bologna, Paris und Oxford, bald auch Cambridge, Montpellier, Orléans, Angers und Toulouse, auch Padua, Vicenza und Neapel, sowie die iberischen Studienorte in Palencia, Valladolid und Salamanca existierten als Universitäten nach Auskunft der Handbücher damals schon3, und damit sind mit 15 Namen dreimal so viele Orte genannt, als ich gerade behauptete. Trotzdem muß ich meine Zahl – cum
* Am Text des mündlichen Vortrags wurde nichts geändert. Die Fußnoten sind auf exemplarische Hinweise beschrankt. 1 Hier zitiert nach: Joseph Victor von Scheffels Sämtliche Werke, hrsg. v. J. Franke, Leipzig o.J., Bd. 4, 35: „Wanderlied“. 2 Darauf haben prononciert aufmerksam gemacht etwa J. Le Goff, in: Les universités de Languedoc (Cahiers de Fanjeaux 5), Toulouse 1970, 317 f., oder P. Classen, Die hohen Schulen und die Gesellschaft im 12. Jh., in: Arch. f. Kulturgesch. 48 (1966), 155–180, hier 170, wieder abgedruckt in: P. Classen, Studium und Gesellschaft im Mittelalter, hrsg. v. J. Fried (Schriften der MGH 29), Stuttgart 1983, hier 5. 3 Grundlegend bleibt H. Denifle, Die Entstehung der Universitäten des Mittelalters bis 1400, (11885) Reprint Graz 1956; vgl. auch H. Rashdall, The Universities of Europe in the Middle Ages, (11895), new edition by F. M. Powicke/A. B. Emden, vols. I–III, Oxford 1936 (u.ö.).
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grano salis – aufrecht erhalten, denn abgesehen von der trivialen Feststellung, daß selbst diese fünfzehn Namen noch kein dichtes Netz 50 über ganz Europa ziehen | und die weiter entfernten Orte in der Regel ohnedies nicht in gleicher Intensität in Betracht zu ziehen waren – ich muß doch auch energisch daran erinnern, daß selbst unter den genannten ehrwürdigen Universitäten verschiedene sich nicht nur mit ihren Anfängen im quellenarmen Dunkel verlieren, sondern später noch, wenn sie schon einmal bezeugt waren, für Jahre, ja Jahrzehnte nicht weiter existiert haben, für eine längere oder kürzere Zeit ihren Betrieb einstellen mußten4. Schon bei den großen und mit Recht schon zu ihrer Zeit berühmten Einrichtungen, bei Paris, Bologna und Oxford, gilt das zumal in den ersten Jahrzehnten; erst recht läßt sich für die anderen genannten Studien oft nicht so genau sagen, ob und vor allem zu welcher Zeit sie überhaupt kontinuierlich arbeiten konnten. Wir müssen vielmehr voraussetzen, daß ihre Existenz über lange Zeiten ebenso prekär blieb wie sich ihr Beginn stockend und stotternd darstellt. Es ist also nur eine Selbstverständlichkeit, daß es im Mittelalter
4 Unklar ist weitgehend die Frühgeschichte der iberischen Universitäten, während die Kritik von R. W. Southern an dem traditionellen Bild von Oxfords Frühgeschichte zwar überscharf ist, aber gleichwohl vor allzu optimistischen Annahmen warnen kann, vgl. R. W. Southern, Master Vacarius and the Beginning of an English Academic Tradition, in: Medieval Learning and Literatur, Essays presented to Richard William Hunt, edd. J. J. G. Alexander/M. T. Gibson, Oxford 1976, 257–286, bes. 266 ff.; dazu jetzt auch L. E. Boyle, The Beginnings of Legal Studies at Oxford, in: Viator 14 (1983), 107–131; neuerdings vgl. die History of the University of Oxford, ed. T. H. Aston, vol. I, Oxford 1984, bes. 1–36. – Auch Paris erlitt bekanntlich 1229/31 eine Sezession. Die Gründung Friedrichs II. Neapel kam offenbar 1229/34 völlig zum Erliegen. Oxford erlebte die Sezession nach Cambridge 1209, nach Northampton 1238 u. 1263 (nach Stamford noch 1334), Bologna hat durch seine Sezessionen zahlreiche der norditalienischen Universitäten begründen helfen; hier sei nur z.B. an Padua 1222 erinnert (von dem wiederum Vercelli 1228 ausging). Die Schwierigkeiten, eine Existenz der Hochschulen in Cambridge, Orléans, Angers, Toulouse, Vicenza, Vercelli, Palencia, Valladolid, Salamanca kurz nach ihrer Begründung sicher nachzuweisen und handfest zu machen, sprechen – bei allen Unterschieden im einzelnen – für sich. Für das 14. Jh. sei an Wien, Krakau und Fünfkirchen erinnert. Das 15. Jh. könnte weitere Beispiele liefern, vgl. auch P. Moraw, Heidelberg: Universität, Hof und Stadt im ausgehenden Mittelalter, in: Studien zum städtischen Bildungswesen des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hrsg. v. B. Moeller/ H. Patze/K. Stackmann (Abh. Akad. Göttingen, Phil.-hist. Kl., III. Folge 137), Göttingen 1983, 524–552, hier bes. 524 f. Einen generellen Überblick über die Gründungsgeschichte der dt. Universitäten lieferte E. Schubert, Motive und Probleme deutscher Universitätsgründungen des 15. Jhs., in: Beiträge zu Problemen deutscher Universitätsgründungen der frühen Neuzeit, hrsg. v. P. Baumgart (Wolfenbütteler Forschungen 4), Nendeln 1978, 13–74.
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vorerst nur in außergewöhnlichen Ausnahmefällen möglich gewesen ist, eine höhere Schulbildung, ein Studium gar am Orte der Herkunft oder in unmittelbarer Nachbarschaft zu erlangen5. Das galt bereits im | Zeitalter vor der endgültigen Formierung der Universitäten und 51 begleitete, in leichter Abschwächung, deren Existenz bis in die Neuzeit. Bernhard von Chartres, als Kanzler des Bischofs von Chartres und damit als Leiter der berühmten Domschule dieser Stadt von 1119 bis 1126 nachweisbar6, bezeugt uns das in eindrucksvollen Versen, deren Prosodie von Johannes von Salisbury freilich kritisiert wird. Programmatisch beschreibt Bernhard dort sechs claves discendi, sechs Schlüssel zum Studium: Mens humilis, studium quaerendi, vita quieta, Scrutinium tacitum, paupertas, terra aliena, Haec reserare solent multis obscura legendi (Bescheidener Sinn, ein bohrendes Fragen, ein Leben in Stille, schweigsame Forschung, Askese, ein Leben in fremder Umgebung, all das erschließt in der Regel, was dunkel war, in den Texten)7. 5 Dabei ist für die Wahl des Studienortes keineswegs jeweils die größte Nähe zur Heimatregion allein maßgebend. Auffällig ist die relativ geringe Zahl von Bürgersöhnen der Universitätsstadt, die sich an der heimischen Alma mater inskribierten, vgl. z.B. H. Koller, Stadt und Universität im Spätmittelalter, in: Stadt und Universität im Mittelalter u. in der früheren Neuzeit, hrsg. v. E. Maschke/J. Sydow (Stadt in der Geschichte 3), Sigmaringen 1977, 9–26, hier 21. 6 Nachweise z.B. bei R. W. Southern, Humanism and the School of Chartres, in: Medieval Humanism and Other Studies, Oxford 1970, 61–85, hier 68; zu Bernhards von Chartres Selbstverständnis besonders E. Jeauneau, Nani gigantium humeris insidentes. Essai d’interpretation de Bernard de Chartres, in: Vivarium 5 (1967), 79–99, abgedruckt in: Jeauneau, Lectio philosophorum. Recherches sur l’Ecole de Chartres, Amsterdam 1973, 53–73; zur Situation der Schule von Chartres – Southern korrigierend – N. M. Häring, Chartres and Paris revisited, in: Essays in Honour of Anton Charles Pegis, ed. J. R. O’Donnell, Toronto 1974, 268–329; sowie P. Dronke, New Approaches to the School of Chartres, in: Anuario de estudios medievales 6 (1971), 117–140; zuletzt förderlich R. W. Southern, The Schools of Paris and the School of Chartres, in: Renaissance and Renewal in the Twelfth Century, edd. R. L. Benson/G. Constable, Oxford 1982, 113–137 (mit neuen Einsichten). Ein Tableau für das 12. Jh. zeichnet J. Ehlers, Die hohen Schulen, in: Die Renaissance der Wissenschaften im 12. Jh., hrsg. v. P. Weimar (Zürcher Hochschulforum 2), Zürich 1981, 57–85. 7 Mit Varianten überliefert bei Johannes von Salisbury, Policraticus VII. 13, ed. C. C. J. Webb, Oxford 1909, Reprint 1965, Bd. II, 145 (dort: „. . . et licet metri eius suavitate non capiar, sensum approbo . . .“), sowie bei Hugo von St. Viktor, Didascalicon III. 12, ed. C. H. Buttimer, Washington, D.C. 1939, 61. Vgl. auch P. Classen, Studium und Gesellschaft (wie Anm. 2), 6 (an dessen Übersetzung ich mich teilweise anlehne, wobei ich aber hier Johanns Lesart „legendi“ vorziehe); sowie J. Miethke, Zur Herkunft Hugos von St. Viktor, in: Arch. f. Kulturgesch. 54 (1972), 242 f.
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Wie selbstverständlich steht hier als eine der sozialen Bedingungen des Studierens neben der paupertas die terra aliena gleichberechtigt mit den psychologisch-ethischen Forderungen des Moralisten8. Die Beispiele ließen sich leicht mehren dafür, daß den Zeitgenossen diese Grund52 vor | aussetzung bewußt war, daß zum Studium die Fremde, das Exil, der Auszug aus der Heimat, die Wanderung gehörte. Freilich unterscheidet sich diese Wanderung der Scholaren, unter denen ich hier gut mittelalterlich die Studenten und Gelehrten verstehen will, in einem wesentlichen Punkt von dem Unterwegssein anderer hier behandelter Gruppen. Die Studenten teilten wohl mit den anderen das Basisphänomen, den Ortswechsel, die schiere Tatsache der Bewegung aus der vertrauten Umgebung in die Fremde. Anders aber als etwa bei den Pilgern, bei denen sich der Weg zum mehr oder minder entfernten Ziel und das Ziel selbst in aller Regel miteinander verbanden, bei denen der relativ kurze Aufenthalt am Zielort der Wallfahrt Teil des Wallens war, anders auch als bei den Gesellen, die sich zumindest prinzipiell für eine Zeitlang in indefiniter Bewegung gehalten zu haben scheinen, anders als bei dem Fahrenden Volk, das überhaupt idealtypisch gesprochen keine bleibende Statt hatte, ist hier ein längeres, oft jahrelanges Verweilen am Orte des Studiums als Regelfall vorauszusetzen. Allein schon die Quellenlage spiegelt das in großer Klarheit wider: wir haben wenig direkte Nachrichten über den Weg, den Lernende und Lehrende zurücklegten, über die Umstände ihrer Reisen, über die Gefahren und die Sicherungen dagegen, die man suchte. Das alles war gleichsam als allgemeine Bedingung die fast selbstverständliche Voraussetzung, über die nicht oder kaum gesprochen wurde. Darum möchte ich hier auch nicht jene Beispiele aus Briefsammlungen und Formularbüchern ausbreiten9, die von der früheren bis in die spätere Zeit Musterberichte lieferten, mit deren Hilfe ein Student von dramatischen Reiseerlebnissen nach Hause berichten konnte. Denn solche Erzählungen intonierten auch dort, wo sie von Krankheit, räuberischer Ausraubung, Schiffsbruch und dergleichen Mitteilung machten, doch deutlich vernehm-
8 Ausführlichste Analyse der sechs „claves“ bei B. Lacroix, Hugues de SaintVictor et les conditions du savoir au moyen âge, in: An Etienne Gilson Tribute, hrsg. v. C. J. O’Neil, Milwaukee, WI 1959, 118–134. 9 Das reichste Material bereits bei C. H. Haskins, The Life of Medieval Students as Illustrated by their Letters, in: American Hist. Review 3 (1898), 203–229, erweitert in: Haskins, Studies in Medieval Culture, New York 1929, 1–35.
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lich den Cantus firmus: Hilfe, ich bin abgebrannt, schickt mir Geld, so bald und so viel wie möglich! Eine Sammlung von solchen Aussagen, so farbig sie im einzelnen auch erschiene, hätte doch den methodischen Nachteil, daß sich aus diesen topischen Nachrichten ein differenzierteres Bild von den Studenten unterwegs, von dem Aussehen dieser Gruppe, von den Rahmenbedingungen ihrer Existenz und deren Folgen für die Mentalität nichts gewinnen ließe, sondern sich allenfalls Belege böten für die Unsicherheit des Reisens allgemein10 – denn plausibel mußte der Brandbrief | schließlich sein, wenn er Wirkung erzielen sollte. So will 53 ich bei der hier gebotenen Kürze auch diesen Weg nicht beschreiten. Doch auch der Ansatz, der sich scheinbar als Ausweg anbietet, hat seine eigenen Probleme. Das Vorhaben, prosopographisch einer „kollektiven Biographie“ unserer Studenten auch hier näher zu kommen, hat seine Schwierigkeiten, die vor allem in zwei scheinbar gegensätzlichen Problemen der Überlieferung begründet sind: in Armut und Reichtum unserer Quellen. Von Armut der Quellen kann man insofern sprechen, als sich prosopographische Daten, also detailliertere Angaben über viele einzelne Studenten, die sich zusammengenommen zu einem plastischen Bild zusammenfügen lassen, über weite Strecken der Universitätsgeschichte und in weiten Räumen Europas keineswegs kontinuierlich oder auch nur nachweisbar repräsentativ erheben lassen. Die mittelalterlichen Universitäten, die direkt und indirekt einen so erheblichen Anteil an der schriftlichen Dokumentation ihrer Zeit haben, hatten auf sich selbst, auf ihr eigenes Personal nur sehr sporadisch Acht11. Spät erst und vornehmlich nur 10
Zum Reisen im Mittelalter etwa die schöne Skizze von A. Borst, Lebensformen im Mittelalter, Berlin 1973, 146–157. Zu den – über Reisen innerhalb Europas selbst im Spätmittelalter nicht überwältigend zahlreichen – Reiseberichten etwa K. Voigt, Italienische Berichte aus dem spätmittelalterlichen Deutschland, von Francesco Petrarca zu Andrea de’ Franceschi (1333–1492) (Kieler historische Studien 17), Stuttgart 1973; J. Richard, Les récits de voyages et de pélerinages (Typologie des sources du moyen âge, fasc. 38), Turnhout 1981. Vgl. auch M. W. Labarge, Medieval Travellers, The Rich and the Restless, London 1982. Einen wichtigen Teilaspekt behandelt der Sammelband Gastfreundschaft, Taverne und Gasthaus im Mittelalter, hrsg. v. H. C. Pleyer (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 3), München 1983. Eine brillante Auswertung gab zuletzt A. Esch, Gemeinsames Erlebnis – individueller Bericht. Vier Parallelberichte aus einer Reisegruppe von Jerusalempilgern 1480, in: ZHF 11 (1984), 385–416. 11 Für die formative Phase der Universität Paris am Ende des 12. Jhs. können heute z.B. nur maximal 11 „magistri artium“ namhaft gemacht werden, vgl. zuletzt J. W. Baldwin, Masters at Paris from 1179 to 1215. A Social Perspective, in: Renaissance and Renewal (wie Anm. 6), 138–172, bes. 144 f., vgl. die prosopographische
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für die Universitäten im nordalpinen römischen Reich stehen uns Matrikellisten zur Verfügung, jene dürre Namenslisten derer, die sich in einer feierlichen Prozedur in die Reihe der Angehörigen einer bestimmten Universität aufnehmen ließen, um an ihren Chancen teil54 zunehmen12. Diese Listen sind weit davon | entfernt, vollständige oder unproblematische Datenmengen abzuwerfen, häufig erlauben sie aber eine tiefer eindringende Analyse der Universitätsangehörigen, nicht nur hinsichtlich ihrer wechselnden Zahlen, ihrer „Frequenz“ zu bestimmten Zeiten, sondern oft auch hinsichtlich ihrer regionalen Rekrutierung (da bei den Namen öfters, doch keineswegs immer, die Herkunftsdiözese angegeben ist), ja in ganz groben Rastern ermöglichen sie auch Aussagen zur sozialen Zusammensetzung. Die Auswertung der Matrikel ist noch im Gange, hat aber schon wichtige Ergebnisse gebracht. Wo Gesamtmatrikel fehlen oder noch nicht vorliegen, hat sich die Auswertung von Inskriptionslisten einer Teileinrichtung, etwa einer auswärtigen Nation, als fruchtbar erwiesen13, oder es konnten bei den französischen und iberischen Universitäten der Schismazeit die Supplikenrotuli, mit denen sich die Universitätsangehörigen an die Kurie mit der Bitte um Pfründzuweisungen wandten, zum Ausgangspunkt genommen werden14. Schließlich konnte man versuchen,
Tabelle 165–170 mit insgesamt 47 Namen für alle Fakultäten (11 Artisten, 10 Kanonisten, 2 Mediziner, 24 Theologen). 12 Eine Liste der deutschen Matrikeln (und ihrer Editionen) gab K. Goldmann, Verzeichnis der Hochschulen und hochschulartigen Gebilde, sowie ihrer Vorläufer und Planungen in deutsch- und gemischtsprachigen Gebieten u. bes. Berücks. ihrer Hauptmatrikeln. Ein Versuch, 1967. Vgl. auch die knappe Übersicht von Eva GießlerWirsig, Universitäts- und Hochschulmatrikeln, in: Taschenbuch für Familiengeschichtsforschung, hrsg. v. W. Ribbe/E. Henning, Neustadt/Aisch 91980, 141–180. Noch nicht zur Verfügung stand mir die Habil.-Schrift von R. C. Schwinges, Deutsche Universitäts-besucher im 14. und 15. Jh. Studien zur Sozialgeschichte des Alten Reiches (Gießen 1984, masch.). Eine klassische statistische Auswertung lieferte bereits F. Eulenburg, Die Frequenz der deutschen Universitäten von ihrer Gründung bis zur Gegenwart (Abh. Akad. Leipzig, Phil.-hist. Kl. 1904). Vorbildlich die Analysen zu Erfurt von R. Abe, Die Frequenz der Universität Erfurt im Mittelalter (1392–1521), sowie ders., Die frequentielle Bedeutung der Erfurter Universität im Rahmen des mittelalterlichen deutschen Hochschulwesens (1392–1521), beide in: Beiträge zur Geschichte der Universität Erfurt 1 (21962), 7–69, bzw. 2 (1957), 29–57. 13 Hier ist insbesondere G. Knod zu nennen, Deutsche Studenten in Bologna 1289–1562, Biographischer Index zu den Acta nationis germanicae Universitatis Bononiensis, Berlin 1887; vgl. auch die unten Anm. 52 zitierten prosopographischen Listen zur Deutschen Nation in Orléans. 14 Insbes. J. Verger, Le recrutement géographique des universités françaises au début du 15e siècle d’après les suppliques de 1403, in: Mélanges d’Archéologie et d’Histoire 82, 2 (1970), 855–902. Nicht zur Verfügung stand mir die unpublizierte
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in einem geduldigen Puzzlespiel aus der regionalen Archivüberlieferung Daten und Nachrichten zu jenen Universitätsangehörigen zu sammeln, die eine bestimmte Universität besucht haben15, oder die aus einer bestimmten Region Universitäten aufsuchten16. | 55 Es kann nicht unsere Aufgabe sein, die umfängliche Forschung, die sich hier entfaltet hat, im einzelnen Revue passieren zu lassen. Denn nun kommt die zweite Schwierigkeit zu ihrem Recht, von der ich sprach, der große Reichtum nicht nur an Einzelnachrichten, sondern auch an unterschiedlichen Verhältnissen. Natürlich ist es nicht dasselbe, ob wir uns die Verhältnisse in Paris, Bologna oder Oxford oder in Erfurt, Köln, Basel oder Ingolstadt vornehmen, und ebenso ist es von Bedeutung, ob wir Aussagen zum 12./13. oder zum 14. oder zum 15. Jahrhundert zu machen versuchen. Die nötige chronologische und regionale Differenzierung macht globale Aussagen
Arbeit von J. Verger, Les registres des suppliques comme source de l’histoire des universités. Introduction et essai d’inventaire pour la periode du Grand Schisme (1378–1417), (Ecole Française de Rome 1972, masch.). Vgl. auch D. E. R. Watt, University Clerks and Rolls of Petitions for Benefices, in: Speculum 34 (1959), 213–229. 15 Monumental die Arbeiten von A. B. Emden, A Biographical Register of the University of Oxford to A.D. 1500, Bd. 1–3, Oxford 1957–1959; ders., A Biographical Register of the University of Cambridge to 1500, Cambridge 1963; ders., A Biographical Register of the University of Oxford A.D. 1501 to 1540, Oxford 1974. Für eine Herkunftsregion vgl. jetzt auch D. E. R. Watt, A Biographical Dictionary of Scotish Graduates to A.D. 1410, Oxford 1977. 16 Bes. C. Renardy, Les maîtres universitaires dans le diocèse de Liège. Répertoire biographique (1140–1350), (Bibliothèque de Philosophie et Lettres de l’Université de Liège CCXXXII), Paris 1981. Vgl. auch die Auswertung in: Renardy, Le monde des maîtres universitaires du diocèse de Liège 1140–1350 (Bibliothèque . . . Liège CCXXVII), Paris 1979. Exemplarisch ferner die knappe Skizze von F. Rapp, Les Strasbourgeois et les universités rhénanes à la fin du moyen âge jusqu’à la Réforme, in: Annuaire de la Société des amis du vieux Strasbourg 4 (1974), 11–22, sowie ders., Les universités dans leur relations avec la bourgeoisie avant la Reforme, in: Kyrkohistorisk ¿rsskrift 77 (1977), 227–235, sowie – für eine Herrschaft ohne Universität – H. Boockmann, Die Rechtsstudenten des Deutschen Ordens. Studium, Studienförderung und gelehrter Beruf im späteren Mittelalter, in: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geb. (Veröff. d. Max-Planck-Instituts f. Gesch. 36, 2), Göttingen 1972, 313–375, sowie ders., Die preußischen Studenten an den europäischen Universitäten bis 1525 (Historisch-geograph. Atlas des Preußenlandes, hrsg. v. H. u. Gertrud Mortensen/R. Wenskus, Lfg. 3) 1973; vgl. R. Kießling, Das gebildete Bürgertum und die kulturelle Zentralität Augsburgs im Spätmittelalter, in: Studien zum städtischen Bildungswesen (wie Anm. 4), 553–585, bes. 554–570. Auch Sven u. Suzanne Stelling-Michaud, Les juristes Suisses à Bologne (Travaux d’Humanisme et Renaissance 38), Genf 1960, oder H. de Ridder-Symoens/L. Milis, Tongerlo en zijn studenten op het Keerpunt van de middeleeuwen en de moderne tijden, in: Ons geestelijke Erf 44 (1970), 405–431; 45 (1971), 290–332.
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über das Unterwegssein von Studenten, das wie gesagt während der gesamten Zeit über den gesamten europäischen Raum hin vorausgesetzt werden muß, schwierig, wenn nicht unmöglich. Auf einige wesentliche Punkte möchte ich jedoch, ohne jeden Anspruch auf ein episches Panorama, hier eingehen. Alle Untersuchungen an einem einigermaßen kohärenten Material machen deutlich, daß unsere an den modernen Verhältnissen gewonnenen Vorstellungen von einer zumindest relativen Stetigkeit des Universitätsbesuchs schlicht unzutreffend sind. Extreme Frequenzschwankungen waren vielmehr die Regel, d.h. die Zahl der Immatrikulationen in unmittelbar aufeinanderfolgenden Jahren konnte unglaublich unterschiedlich sein: 1485/86 schrieben sich während eines ganzen Jahres nur acht Personen in die Matrikel der Universität Greifswald ein, das waren weniger als 5 Prozent der in den achtziger Jahren des 15. Jahrhunderts üblichen Durchschnittszahl17. Statistiker können sich zum Ausgleich solcher Schwankungen mit Zeitschnitten helfen, indem sie Jahrfünfte oder Jahrzehnte ihren Rechnungen zugrunde legen; wir aber dürfen diesen Faktor der horrenden Schwankungen nicht aus den Augen verlieren. 56 Gleichwohl | – selbst bei extrem weiten Ausschlägen des Pendels – sind die mittelalterlichen Universitäten insgesamt allgemein gewachsen, die Zahl der Universitätsbesucher nahm zwar nicht im statistischen Sinne stetig, wohl aber, über den Gesamtzeitraum betrachtet, merklich zu. Die Gründungswellen europäischer Universitäten allein könnten das belegen. Aber auch eine statistische Aufrechnung zeigt eine deutliche Steigerung. Schon F. Eulenburg hat das am Beginn unseres Jahrhunderts für die deutschen Universitäten gezeigt, und die neueren Untersuchungen, insbesondere in den letzten Jahren die von R. C. Schwinges, haben dies am gleichen Material durchwegs präzisierend bestätigt. In jährlichen Wachstumsraten von Jahrzehnt zu Jahrzehnt von bis zu 4,1 Prozent ( jedenfalls aber durchschnittlich 1,75 Prozent) stiegen im Reich die Zahlen der nachweisbaren Immatrikulationen in der Zeit von 1400 bis 1500 von 4843 pro Jahrzehnt bis auf 27 582 pro Jahrzehnt, also auf das fast Sechsfache18. Auch anderwärts zeigten 17 Aeltere Universitaets-Matrikeln II: Universität Greifswald, hrsg. v. E. Friedlaender, Bd. 1 (1456–1645), Leipzig 1893, 95, zit. von R. C. Schwinges, „Pauperes“ an deutschen Universitäten des 15. Jhs., in: ZHF 8 (1981), 285–309, hier 298 mit A. 40. 18 Vgl. im einzelnen R. C. Schwinges, Universitätsbesuch im Reich vom 14. zum 16. Jh. Wachstum und Konjunkturen, in: Geschichte und Gesellschaft 10 (1984), 5–30, bes. 15.
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sich vergleichbare Steigerungsraten19, wenn natürlich auch Rückgang und Krise im einzelnen, wie etwa bei der Universität Avignon nach dem Fortzug der Kurie20, ebenfalls beobachtet werden können. Freilich darf diese Beobachtung in unserem Zusammenhang nicht zu voreiligen Schlüssen verleiten: sicherlich war in der größten Zahl der Fälle das Grundmuster gleich. Der Immatrikulierte konnte von seinem häuslichen Wohnsitz aus nicht die Universität benutzen und mußte sich also, um sie zu erreichen, auf den Weg machen. Die Vorstellung freilich, daß sich alle diese Tausende von Studenten von Universität zu Universität im steten Wechsel bewegt hätten, wäre irrig. Um beim deutschen Material zu bleiben: nur höchstens 20 bis 25 Prozent der immatrikulierten Studenten wechselten überhaupt zu einer anderen Universität, und zwar vorwiegend einmal in ihrer Universitätskarriere21. In England, wo serielle Quellen wie Matrikellisten fehlen und demnach die Dunkelziffer der nicht erfaßbaren Studenten besonders groß ist, haben z.B. in Cambridge von etwa 7000 untersuchten Personen | 499, d.h. etwa sieben Prozent, eine andere Hoch- 57 schule (meist Oxford) besucht, im doppelt so stark frequentierten Oxford nur etwa fünf Prozent der Studenten22. Die Mobilität der Studenten war also schon damals keineswegs überwältigend groß, ganz im Gegensatz zu den verbreiteten Vorstellungen studentischer Itineranz. Den Großteil seiner Studienzeit verbrachte ein Durchschnittsstudent an einer einzigen Universität. Allenfalls entsteht der Eindruck, wenn auch Quellenmangel in der Frühzeit eine Verifikation unmöglich macht, als könne das Cliché eher noch für die früheren als für die späteren Jahrhunderte Wirklichkeitsgehalt
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Vgl. vor allem die Aufstellungen von T. A. Aston (wie Anm. 22). J. Verger, Le rôle social de l’université d’Avignon au XVe siècle, in: Bibl. d’Humanisme et Renaissance, Travaux et documents 33 (1971), 489–504, hier 490 ff. Vgl. auch A. Gouron, A l’origine d’un déclin: Les universités méridionales au temps du Grand Schisme, in: Genèse et débuts du Grand Schisme d’occident (Colloques Internationaux du CNRS, 586), Paris 1980, 175–184. 21 Schwinges (wie Anm. 18), 12. Für die pauperes errechnet Schwinges, wie zu erwarten war, eine noch geringere Fluktuation: In Köln (einer „großen“ Universität) wechselten nur 9% dieser Gruppe die Universität, nur 1,5% gelangten noch an eine dritte Universität; vgl. Schwinges (wie Anm. 17), 302. 22 T. H. Aston/G. D. Duncan/T. A. R. Evans, The Medieval Alumni of the University of Cambridge, in: Past and Present 86 (1980), 9–86, hier 36 ff.; vgl. T. H. Aston, Oxford’s Medieval Alumni, in: Past and Present 74 (1977), 3–40, hier bes. 25 ff. 20
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beanspruchen23: aber ist das nicht eine Täuschung, die sich aus liebgewordener Gewöhnung nährt? Nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Universitätsangehörigen verhielt sich tatsächlich so, wie das Cliché es von ihnen erwartete: sie besuchten eine, wenn meist auch relativ kurze Reihe von geographisch oft weit von einander entfernten Studienorten, kamen von Polen nach Krakau, gingen von dort nach Ingolstadt, um schließlich in Bologna, Padua oder Siena promoviert 58 zu werden – oder doch zu studieren24. | Nur ein Hinweis sei zur Erläuterung dieses merkwürdigen Sachverhalts gegeben. Wir müssen mit einem doppelstöckigen System rechnen: mit Beharrung und relativem „Provinzialismus“ im Grundstock und einer größeren Mobilität im Oberstock, wobei die Differenzierung sowohl fachlich als auch sozial erfolgte: Die Artistenfakultät als Propädeutikum der Universität wurde erst spät, obligatorisch längst nicht mehr im Mittelalter, durch vorgeschaltete Pädagogien ersetzt. So kamen die Studenten oft sehr jung an die Universität, und häufig kann man nicht einmal nachweisen, daß sie auch nur die Artes erfolgreich durchlaufen hätten: die Graduierung als formeller Abschluß 23 J. Le Goff, Les intellectuels au moyen âge, Paris 1957, 30 ff., zeichnet das klassische Bild der Frühzeit; J. Verger, Les universités au moyen âge (Collection SUP, L’historien 14), Paris 1973, 176 ff., die soziale Abschließung im 15. Jh.; für die Frühzeit vgl. auch M. Bechthum, Beweggründe und Bedeutung des Vagantentums in der lateinischen Kirche des Mittelalters, Jena 1941. 24 Außer Knod (wie Anm. 13) vgl. vor allem die vorläufigen Übersichten von W. Dotzauer, Deutsches Studium in Italien unter besonderer Berücksichtigung der Universität Bologna. Versuch einer vorläufigen zusammenstellenden Überschau, in: Geschichtliche Landeskunde 14 (1976), 84–130; sowie ders., Deutsches Studium und deutsche Studenten an europäischen Hochschulen (Frankreich, Italien) und die nachfolgende Tätigkeit in Staat, Kirche und Territorium in Deutschland, in: Stadt und Universität (wie Anm. 5), 112–141. Zahlreiche Einzelstudien liegen auch von A. Sottili vor, vgl. nur z.B.: Studenti tedeschi e umanesimo italiano nell’ università di Padova durante il quattrocento, t. 1: Pietro del Monte (Contributi alla storia dell’ università di Padova 7), Padua 1971, oder: La „natio Germanica“ dell’ Università di Pavia nella storia dell’ umanesimo, in: The Universities in the Late Middle Ages, hrsg. v. J. Ijsewijn/J. Paquet (Medievalia Lovaniensia I. 6), Löwen 1978, 347–364; sowie „Tunc floruit Alamanorum natio“: Doktorate deutscher Studenten in Pavia in der 2. Hälfte des 15. Jhs., in: Humanismus im Bildungswesen des 15. u. 16. Jhs. (DFG, Mitteilung 12 d. Komm, für Humanismusforschung), Weinheim 1984, 25–44; oder: Zur Geschichte der „Natio Germanica Ticinensis“: Albrecht von Eyb, Georg Heßler und die Markgrafen von Baden an der Universität Pavia, in: ZGO 132 (1984) 107–134. – Moraw, Heidelberg (wie Anm. 4), 536 f., macht auf einen weiteren Typ von solchen Italienreisenden aufmerksam: auf Gelehrte, die vom Hofe zur Vervollkommnung ihrer Ausbildung zur späteren Übernahme einer Position nach Italien geradezu geschickt worden sind, dazu vgl. bereits G. Ritter, Die Heidelberger Universität, Bd. I, Heidelberg 1936, 151.
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wurde auch im Fall der Bakkalare der Artes nur von rund 30 Prozent erreicht25, aber offenbar war auch mit Abbruchstudien schon etwas anzufangen, oft mag auch ein weiteres Studium am Mangel an Geld oder an Interesse gescheitert sein. Über die Rückeinfädelung von Studenten in das Berufsleben haben wir gerade in diesem Bereich kaum auswertbare Nachrichten26. Man wird auch damit rechnen müssen, daß jene in die Marginalität gestoßenen Studenten, von denen so viele in das Fahrende Volk eingingen, hier anzusiedeln sind27. Für die arrivierten Studenten freilich konnten auch längere Wege selbstverständliche Bedingungen der Möglichkeit ihrer Studien wer- | 59 den: noch 1374 rechnete ein Pariser Magister damit, für eine Reise nach Hause (er stammte aus Litauen) zur Regelung privater Angelegenheiten mehr als ein Jahr dem Studienort fernbleiben zu müssen: quod vix infra annum posset ire, redire et sua in partibus disponere28. Das bekannteste Beispiel für solches Reisen liefern die deutschen Rechtsstudenten in Oberitalien, die seit über hundert Jahren vielfach
25 Vgl. R. Abe, Die artistische Fakultät der Universität Erfurt im Spiegel ihrer Bakkalaureat- und Magisterpromotionen der Jahre 1392–1521, in: Beiträge zur Geschichte der Universität Erfurt 13 (1967), 33–90, bes. 51 f. (Den „Magister artium“ erreichten nur noch 3,5% der Inskribierten!). Freilich stellt sich im Verlaufe des 15. Jhs. eine leicht ansteigende Tendenz des Graduiertenanteils ein. Ähnliche Quoten errechnete J. Verger für die südfranzösische Universität Avignon im 15. Jh.: 20–30% der Studenten der höheren Fakultäten erreichten das Bakkalariat, 5–10% die Lizenz, l–2% den Doktorgrad: Sull ruolo sociale delle università: La Francia tra medioevo e Rinascimento, in: Quaderni storici 8 (1973), 313–358, hier 326 f. Vgl. auch die genaue Aufstellung für Avignon bei Verger, Les comptes de l’Université d’Avignon (1430–1512), in: The Universities in the Late Middle Ages (wie Anm. 24), 190–209, hier 207 f., Annexe 1 u. 2. 26 Vgl. die Überlegungen zur Gesamtfrequenz von Oxford auf Grund der Register A. B. Emdens bei Aston, Oxford’s Medieval Alumni (wie Anm. 22), 5 ff. Bezeichnend auch, daß die Untersuchung der Tübinger Matrikel auf spätere Karrieren nur ca. 30% der Gesamtzahl überhaupt identifizieren konnte: W. Kuhn, Die Studenten der Universität Tübingen zwischen 1477 u. 1534. Ihr Studium und ihre spätere Lebensstellung, Bd. 1–2 (Göppinger akad. Beiträge 37–38), Göppingen 1971. Nicht zufällig bessere Quoten erreichten die Bearbeiter der Deutschen Nation an der Juristenuniversität Orléans (vgl. unten Anm. 52). 27 Unter der viktorianischen Überschrift: „The wilder side of university life“ gab schon Rashdall (wie Anm. 3), Bd. III, 427–441, eine Zusammenstellung einiger Nachrichten. Exemplarisch Pariser Polizeiakten ausgewertet hat B. Geremek, Les marginaux parisiens aux XIVe et XVe siècles, trad. du Polonais par D. Beauvois, Paris 1976, bes. 164–173, 181–186. Vergleichbare Analysen zu anderen Universitäten wären erwünscht. 28 Auctarium Chartularii Universitatis Parisiensis, t. 1: Liber procuratorum nationis Anglicanae (Alamanniae), (1333–1406), ed. H. Denifle/E. Chatelain, Paris 1894, 446, zit. hier nach Verger (wie Anm. 14), 867.
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erforscht worden sind, ohne daß ein zusammenfassender Abschluß der Erhebungen in Sicht wäre29. Auch die deutschen Studenten der Theologie in Paris, wie sie seit dem 12. Jahrhundert vielfältig nachgewiesen wurden30, haben immer wieder die Aufmerksamkeit auf sich gezogen31. Ein weiteres Beispiel bietet die Deutsche Nation der Juristenuniversität von Orléans, die sozusagen als zivilistische Dependance von Paris ihr Rekrutierungsfeld weit in den Westen Deutschlands hinein ausdehnen konnte. Sie ist jetzt dank intensiver Forschungen des letzten Jahrzehnts deutlicher in den Blick gerückt82. Auch diese teilweise recht häufigen Universitätswechsel der beweglichen „Oberschicht“ der Studierenden dienten freilich keineswegs immer der Erwerbung eines bestimmten akademischen Grades, etwa des kanonistischen oder zivilistischen Lizentiats oder gar einer Doktorpromotion. In der früheren Zeit des 13. und 14. Jahrhunderts verhielt sich der Adel eher spröde, wenn es um ein Examen ging33. Während Studenten, 60 die dieser Gruppe angehör | ten, relativ häufig zu den mehrfach Immatrikulierten gehörten, hat sich der Adel generell nur sehr allmählich dazu gedrängt gesehen, auch formell den Abschluß seiner Studien
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Vgl. oben Anm. 24. Eine zusammenfassende Aufarbeitung durch J. Ehlers für das 12. Jh. ist in Vorbereitung. Exemplarisch bereits ders., Verfassungs- und sozialgeschichtliche Studien zum Bildungsgang Erzbischof Adalberts II. von Mainz, in: Rheinische Vierteljahresblätter 42 (1978), 161–184. 31 Neben der alten Auflistung durch A. Budinsky, Die Universität Paris und die Fremden an derselben im Mittelalter, Berlin 1876 (Reprint Aalen 1970), vgl. etwa die prosopographischen Studien von A. L. Gabriel, Les étudiants étrangers à l’Université de Paris au XVe siècle, in: Annales de l’Université de Paris 29 (1959), 377–400; ders., The English – German Nation at the University of Paris from 1425–1494, (11964), jetzt in: ders., Garlandia. Studies in the History of Medieval University, Frankfurt/Main 1969, 167–200; ders., Foreign Students, Members of the English – German Nation at the University of Paris in the Fifteenth Century, in: Miscellanea di studi dedicati a Emerico Varady, Modena 1966, 89–106; ders., Intellectual Relations between the University of Paris and the University of Cracow in the 15th Century, in: Studia Ωród∑ozawcze 25 (1980), 37–63. Für die Migrationen deutscher Magister der Schismazeit vgl. unten Anm. 39. 32 Vgl. unten Anm. 52. Dazu auch D. Illmer, Die Statuten der Deutschen Nation an der alten Universität Orleans von 1378 bis 1596, in: Ius Commune 6 (1977), 10–107; H. de Ridder-Symoens, Les origines géographique et sociale des étudiants de la nation Germanique de l’ancienne Université d’Orléans (1444–1546). Apperçu général, in: The Universities in the Late Middle Ages (wie Anm. 24), 455–474. 33 Noch Ulrich Zasius († 1535) bemerkt (zu Dig. 12.1.40): „nobiles nostrae aetatis, qui cum bene studeant, doctoris tamen titulum erubescent non sine ignominia“. (Zit. nach H. Lange, Vom Adel des doctor, in: Das Profil des Juristen in der europäischen Tradition. Symposion aus Anlaß des 70. Geb. v. Franz Wieacker, Ebelsbach 1980, 279–294, hier 293). 30
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durch die Erwerbung eines Grades zu objektivieren34. Schon im Mittelalter ist für den Adel eine Studienlaufbahn von einer Kavalierstour nicht leicht zu unterscheiden. Dieses Grundmuster des Bildes vom Unterwegssein der Studenten und Scholaren im Mittelalter in ihrer Gesamtheit, das nicht gerade hektische Konvulsionen zeigt, ist gegenüber den dramatischen Steigerungen der Gesamtzahlen von Studenten in Europa beständig geblieben, zumal diese Steigerung im wesentlichen mit der Verdichtung des Universitätsnetzes zusammenhing. Eher ließe sich die Behauptung aufstellen, daß trotz der Vermehrung der Zahlen die wachsende Verdichtung der Universitätslandschaft auch die Wanderungsmobilität in gewissem Sinne einschränkte, daß sich die europäische Bildungslandschaft im späteren Mittelalter zusehends provinzialisierte35. Freilich darf dieses Bild relativer Ruhe nicht zu einer idyllischen Beschreibung verleiten: diese entstünde vor allem dann, wenn wir die nervösen Zuckungen im einzelnen, wenn wir die Oberflächenspannung durch mathematisch statistische Durchschnittswerte allzu stark eliminierten. Im einzelnen ergeben sich viele, auch einschneidende Abweichungen vom rechnerischen Mittelwert. Da führten lokale Konjunkturen wie Teuerung, Krankheitsepidemien oder kriegerische Konflikte in der Herkunftsregion und am Studienort zu merklichen Schwankungen, weil sich unter diesen Umständen die individuellen Studienentscheidungen rasch zu spürbaren Ausschlägen in der effektiven Summe addieren konnten, ohne daß wir im Ernst von kollektiven spontanen Entscheidungen sprechen könnten. Da beschleunigte oder verlangsamte sich das gesamte Wachstum der Universitätslandschaft einer Region oder auch in Europa insgesamt im schwer durchschaubaren Rhythmus36. Da führten aber auch kollektive politische Entscheidungen zu größeren Gruppenbewegungen, die ebenfalls nur in Rudimenten anschaulich | werden. Die bekannten Sezessionen von 61 34 Anschaulich R. A. Müller, Universität und Adel. Eine soziokulturelle Studie zur Geschichte der bayerischen Landesuniversität Ingolstadt 1472–1648 (LudovicoMaximilianea, Universität Ingolstadt – Landshut – München, Forschungen 7), Berlin 1974, bes. 44 ff., 70 ff., 146 ff.; vgl. auch J. Verger, Noblesse et savoir: étudiants nobles aux universités d’Avignon, Cahors, Montpellier et Toulouse, in: La noblesse au moyen âge (11e–15e siècles). Essais à la mémoire de Robert Boutruche, Paris 1976, 289–313. 35 A. Borst, Krise und Reform der Universitäten im frühen 14. Jh., in: Mediaevalia Bohemica 3 (1970), 123–147 (auch in: Konstanzer Blätter für Hochschulfragen 9 [1971], 47–62). 36 Schwinges, Universitätsbesuch (wie Anm. 18).
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Studenten und Magistern aus der Frühzeit der Ausbildung des europäischen Universitätssystems sind dafür nur das bekannteste Beispiel: Padua entstand auf diese Weise als Generalstudium durch einen Exodus der Studenten aus Bologna37, Angers war ursprünglich eine Abspaltung von Paris, und Cambridge38 war ein früher Ableger von Oxford; nichtdauerhafte Studien wie Vicenza oder Vercelli in Norditalien, Northampton oder Stamford in England sind dabei noch gar nicht benannt. Auch in späterer Zeit blieb solche Art an Mobilität nicht aus. Die Abwanderung von Magistern und Studenten der römischen Obödienz aus dem clementistischen Paris in der Zeit der großen Kirchenspaltung nach 1378 hat die Gründung der deutschen Universitäten nicht unerheblich begünstigt39; der Auszug der Magister und Studenten der drei nichtböhmischen Nationen nach König Wenzels Dekret von Kuttenberg 1409 hat nicht nur, wie bekannt, die Gründung der Universität Leipzig ermöglicht, sondern auch in den Matrikeln von Köln, Erfurt und Wien deutliche Spuren hinterlassen40. Es kann unter den skizzierten Voraussetzungen nicht überraschen, daß die Scholaren, Studenten wie Magister, ihr Unterwegssein selten mit Begriffen der Bewegung, vielmehr mit Metaphern der räumlichen Ferne umschrieben. Das Leben in der terra aliena, wie Bernhard von Chartres es nannte, hatte zwar den Ortswechsel zur Voraussetzung, der eigene Zustand wurde aber weit häufiger als exilium empfunden denn als peregrinatio. Die Metapher der peregrinatio academica ist m. W. erst neuzeitlich. Mit dem Bild des Exils ließ sich die eigene Lage in
37 Vgl. etwa (neben Denifle [wie Anm. 3], 277 ff., u. Rashdall [wie Anm. 3], II, 9 ff.) G. Arnaldi, Le origini dello studio di Padova dalla migrazione universitaria del 1222 alla fine del periodo ezzeliano, in: La cultura 15 (1977), 388–431; oder auch N. G. Siraisi, Arts and Sciences at Padua. The „Studium“ of Padua before 1350 (Pontifical Institute of Medieval Studies, Studies and Texts 25), Toronto 1973, bes. 15 ff. 38 H. S. Salter, The Beginning of Cambridge University, in: English Historical Review 36 (1921), 419 f.; A. B. Cobban, The Medieval Universities. Their Development and Organization, London 1975, 110 ff. 39 A. L. Gabriel, „Via antiqua“ and „via moderna“ and the Migration of Paris Students and Masters to the German Universities in the Fifteenth Century, in: Miscellanea Mediaevalia 9 (1974), 439–483; vgl. dens., Intellectual Relations between the University of Louvain and the University of Paris in the 15th Century, in: The Universities in the Late Middle Ages (wie Anm. 24), 82–132, zu Wanderungen Paris-Louvain u. Louvain-Paris. 40 Insbesondere S. Schumann, Die „nationes“ an den Universitäten Prag, Leipzig und Wien. Ein Beitrag zur älteren Universitätsgeschichte, Phil. Diss. FU-Berlin 1974, mit reichen prosopographischen Belegen (vgl. vor allem 182 ff.).
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ihrer Vorläufigkeit ebenso wie in ihrer möglichen Dauer gut erfassen41. | 62 Demgegenüber ist es schwierig, genauere Aussagen über die Rückwirkungen solchen Exils in fremden Landen auf Lebensgefühl und Denkungsart der Betroffenen zu machen. Gewiß hat die mittelalterliche Universität einen entscheidenden Anteil an jenem globalen Prozeß gehabt, den Max Weber eindrücklich als die Bewegung des „okzidentalen Rationalismus“ beschrieben hat42, und ebenso gewiß ist es, daß auch die mittelalterlichen Scholaren ebenso Teil hatten an der befreienden Erfahrung methodisch geschulten Denkens, wie an den Versuchen, solche Erfahrung in irgendeiner Weise mit den überkommenen Traditionen zu vermitteln. Die Spanne möglicher Antworten umfaßt auch im Mittelalter härteste Traditionskritik wie penible Verteidigung und Rekonstruktion von Traditionen. Das aber im einzelnen belegen wollen hieße die ganze Geistesgeschichte des Mittelalters ausbreiten und brächte am Ende noch nicht einmal die Gewißheit, daß wir das, was wir da in Betracht zögen, auch wirklich voll oder auch nur überwiegend auf jene im Studienentschluß implizierte Entfernung von der angestammten Umwelt zurückführen könnten. Daher verzichte ich hier darauf, dieses große Thema genauer zu verfolgen, und gehe nur im Vorübergehen auf einen winzigen Teilaspekt ein, indem ich auf die Rolle der Universitäten und ihrer Angehörigen für die Verbreitung von Büchern und Ideen in Europa hinweise. Im Zeitalter handschriftlicher Vervielfältigung von Texten konnte der Büchermarkt nicht dieselbe Struktur haben wie im Zeitalter der Druckerpresse oder gar der neueren Medien: Texte zirkulierten in Kreisen, die zumindest prinzipiell nicht erst durch den Text selbst gebildet wurden43. Dies galt auch für die Texte, die an und für die 41 Hängt damit nicht auch jenes topische „Städtelob“ zusammen, das sich in fast allen Gründungsurkunden findet? Zu diesem K. H. Blaschka, Von Prag bis Leipzig. Zum Wandel des Städtelobs, in: Wiss. Zeitschr. der Univ. Halle-Wittenberg, gesellsch.u. sprachwiss. Reihe 8 (1958/59), 1003–1007. Allgemein C. J. Classen, Die Stadt im Spiegel der „Descriptiones“ und „Laudes urbium“ in der antiken und mittelalterlichen Literatur bis zum Ende des 12. Jhs. (Beiträge zur Altertumswiss. 2), HildesheimNew York 1980. 42 Dazu etwa W. Schluchter, Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Gesellschaftsgeschichte (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 23), Tübingen 1979. 43 D. Mertens, Jacobus Carthusiensis, Untersuchungen zur Rezeption der Werke des Kartäusers Jakob von Paradies (1381–1465), (Veröff. d. Max-Planck-Inst. f. Gesch. 50), Göttingen 1976, bes. 23–26. H. Boockmann, Zu den Wirkungen der „Reform Kaiser Sigmunds“, in: Deutsches Archiv 35 (1979), 514–541, hier 517 ff.,
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Universitäten oder in ihrem Umkreis entstanden. Es ist aber bezeichnend, daß die Universitäten schon früh, seit dem 13. Jahrhundert, für eine Rationalisierung und Mechanisierung der Buchherstellung wenigstens für die allgemein dem Unterricht zugrunde gelegten Textbücher sorgten, etwa durch ihre stationarii, die offiziellen Buchverleiher, die Texte zum Kopieren bereithielten44, durch das berühmte pecia63 System, nach dem | ein Text in festgelegte Teilstücke unterteilt wurde, die gleichzeitig von verschiedenen Kopisten unabhängig abgeschrieben werden konnten, so daß sich später die Arbeitsergebnisse verschiedener Kopisten zusammensetzen ließen45, schließlich durch Einrichtungen wie die pronunciatio der spätmittelalterlichen deutschen Universitäten46. Die dadurch erreichte Beschleunigung und strikt überwachte Verbilligung der Produktion sorgte dafür, daß sich bestimmte Texte wie zuvor nur die Bibel über ganz Europa verbreiteten. Das Corpus Iuris Civilis Justinians in seiner Bologneser Redaktion und mit den Glossenapparaten der Schulen konnte man bald ebenso gut überall in Europa – selbst abseits der großen und altberühmten Codicessammlungen reicher Domstifte und Klöster – zu Rate ziehen wie Gratians Dekret und die Dekretalen, gleichfalls glossiert und unglossiert. Auch theologische Grundbücher für Studium und Predigtdienst machten ihre Runde. Bis über das späte Mittelalter hinaus wurde es üblich, in Testamenten die Ausstattung von prospektiven Studenten aus dem Kreis der Anverwandten oder der Heimatgemeinde mit solchen Lehrbüchern gesondert vorzusehen47.
ergänzt abgedruckt in: Studien zum städtischen Bildungswesen (wie Anm. 4), 112–135, bes 114 ff. J. Miethke, Marsilius und Ockham, Publikum und Leser ihrer politischen Schriften im späteren Mittelalter, in: Medioevo 6 (1980), 543–567. 44 Allgemein Rashdall (wie Anm. 3), I, 189–191; P. Kibre, Nations (wie Anm. 55), 55 ff. u. ö., oder dies., Scholarly privileges (wie Anm. 59), 48 f. u.ö.; M. Bohá‘ek, Zur Geschichte der „stationarii“, in: Eos 48 (1956), = Symbolae Raphaeli Taubenschlag dedicatae II, Breslau 1957, 241–295 (ital. Version: Nuova fonte per la storia degli stazionarii bolognesi, in: Studia Gratiana 9 [1966], 407–460). 45 Besonders J. Destrez, La „pecia“ dans les manuscrits universitaires du 13e et du 14e siècle, Paris 1935; G. Fink-Errera, Une institution du monde médiéval, la „pecia“, in: Revue de philosophie de Louvain 60 (1962), 187–210, 216–243 (in italienischer Übersetzung abgedruckt in: Libri e lettori nel medioevo, Guida storica e critica, a cura di G. Cavallo, Universale Laterza 419, Bari 1977, 133–165, 284–304); G. Pollard, The „pecia“ System in the Medieval Universities, in: Medieval Scribes, Manuscripts and Libraries. Essays presented to N. R. Ker, London 1978, 145–161. 46 J. Miethke, Die Konzilien als Forum der öffentlichen Meinung im 15. Jh., in: Deutsches Archiv 37 (1981), 736–773, bes. 753 ff. 47 Eine der größten Stiftungen dieser Art ist die berühmte „Neithartsche Familienbibliothek“ in Ulm, vgl. Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der
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Der Büchermarkt der Universitäten, der leider meist nicht in zusammenhängenden Archivalien, sondern nur in Einzeleinträgen bezeugt ist48, sorgte nicht allein für die Verbreitung solcher „Textbooks“, son | dern bot auch anderen Strömungen eine Chance der Ausbreitung. 64 Die nordalpinen Studenten in Italien sind nicht nur die Vermittler und Agenten der Rezeption zuerst des Kanonischen, dann des Römischen Rechts in ihrer Heimat geworden – in ihrem Reisegepäck wanderten auch andere Bücher zurück über die Alpen, wenn auch gewiß nicht entfernt in gleichen Quantitäten wie die juristischen Codices. Besonders handgreiflich wird dies, wo sich neuartige Bewegungen und Stilrichtungen auf diesem Wege ausgebreitet haben. Im 15. Jahrhundert war es der Humanismus, der seine Texte auch mit deutschen Studenten über die Alpen schickte. In ihrem Gepäck wanderten humanistische Briefmusterbücher und humanistische Sammlungen und gleichzeitig immer noch die üblichen juristischen Codices; einige dieser Texte, wie etwa das Epistolar des Gasparo Barzizza, sind deshalb paradoxerweise heute in nordalpinen Bibliotheken häufiger anzutreffen als im Lande ihrer Entstehung49. Auch ihre Schrift haben deutsche Studenten den neuen Erfahrungen angepaßt: im gerade erschienenen ersten Band der deutschen „Datierten Handschriften“ aus der Frankfurter Stadt- und Universitätsbibliothek ist dafür ein
Schweiz, Bd. I, München 1918, 303–382, nr. 67, hier besonders die Verfügung S. 307. Einzelne Schenkungen mit Vorbehalt zugunsten von Verwandten sind häufig, vgl. z.B. eine Stiftung von 1347 Febr. 5, in: Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands . . ., Bd. IV, München 1979, 644, nr. 86, Zl. 32 ff.; oder auch Regesten der Lübecker Bürgertestamente des Mittelalters, hrsg. v. A. v. Brandt, Bd. I (Veröff. zur Gesch. der Hansestadt Lübeck 18), Lübeck 1964, 203, nr. 395, §§ 10–15; schon aus dem 13. Jh. (1287) stammt das Testament eines Kardinals, hier zitiert nach R. Mather, The Codicil of Cardinal Comes of Casate and the Libraries of Thirteenth Century Cardinals, in: Traditio 20 (1964), 319–350, hier bes 332 f. (§§ 14–17), 334 (§§ 29–32). 48 Exemplarisch S. Stelling-Michaud, Le transport international des manuscrits juridiques bolonais entre 1265 et 1320, in: Mélange d’histoire économique et sociale en hommage au Antony Babel à l’occasion de son 65e anniversaire, Bd. 1, Genf 1963, 95–127. Vgl. auch dens., Etudiants Suisses à l’étranger et leur activité professionelle ultérienne. Notariat, littérature juridique, manuscrits et bibliothèques (Ius Romanum medii aevi V, 12 b), Mailand 1977, bes. 20–23. – Die Bücherversorgung durch Bibliotheken und ihre Geschichte sei hier ausgespart, sie hat mit der studentischen Mobilität wenig zu tun. 49 L. Bertalot, Die älteste Briefsammlung des Gasparinus Barzizza, in: Beiträge zur Forschung. Studien aus dem Antiquariat Rosenthal, NF 2 (1929), abgedruckt in: Bertalot, Studien zum italienischen und deutschen Humanismus, hrsg. v. P. O. Kristeller, Bd. II (Storia e letteratura 130), Rom 1975, 31–103, hier 33 f.; vgl. auch Sottili (wie Anm. 24).
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bezeichnender Beleg zu finden: der Dominikaner Siegfried Enemer, 1425 in Erfurt immatrikuliert, 1434 in studio Papiensi (Pavia) nachgewiesen, stellte seine Schrift dort auf die humanistische Kursive um und schrieb auf diese Weise noch seine Handschriften, als er in Augsburg (1438/1447) und in Frankfurt am Main (1452/53) als Arzt tätig war50. Doch genug dieser Hinweise. Die Texte wanderten auch auf andere Weise, und die humanistische Schrift konnte man bald nicht nur in Italien lernen. Daß aber die Studenten auf ihren Universitäten nicht „nur“ die Ausbildung erfuhren, um derentwillen sie sich zum Studium 65 entschlossen hatten, wird doch deutlich. | Die Rahmenbedingungen des Scholarenlebens sind damit allerdings noch nicht zur Genüge beschrieben. Auf ihren Wegen kreuz und quer durch Europa wanderten die Studenten, und häufig auch die Gelehrten, soweit wir sie verfolgen können, keineswegs als lauter isolierte „Einzel-kämpfer“. Alle Untersuchungen, die sich mit diesen Wanderungen beschäftigten, von Luschin von Ebengreuths Aufstellungen über die deutschen Rechtshörer in Italien von vor hundert Jahren bis zu den jüngsten Analysen von Moraw und Schwinges haben immer wieder auf die Kleingruppen von etwa zwei bis zehn Personen aufmerksam gemacht, die ihren Weg gemeinsam suchten51. Wenn wir Familien-traditionen einmal beiseite lassen, die Vettern und Neffen, Brüder und Verwandte verschiedener Generationen immer wieder an die gleichen Studienorte, oft in der gleichen Reihenfolge, führten, so zeigen sich in den Matrikeln häufiger ganze Nester von Namen, die gemeinsam das Studium aufnahmen, es dann, wie sich bisweilen zeigen läßt, auch gemeinsam beschlossen und noch in ihrer späteren Karriere die gemeinsam gedrückte „Schulbank“ nachweislich nicht vergaßen. Die Beziehungen im einzelnen waren sehr vielfältig: von der losen Studienfreundschaft ständisch gleicher oder doch 50 Die datierten Handschriften der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, bearb. von G. Powitz (Datierte Handschriften in Bibliotheken der Bundesrepublik Deutschland 1), Stuttgart 1984, bes. zu Ms. Praed. 51, vgl. die Notizen zu Mss. Praed. 36, 48, 68, 143. 51 A. Luschin von Ebengreuth, Vorläufige Mitteilungen über die Geschichte deutscher Rechtshörer in Italien (SB Akad. Wien, Phil.-hist. Kl. 127, 2), Wien 1892, 45. P. Moraw, Zur Sozialgeschichte der deutschen Universität im späten Mittelalter, in: Gießener Universitätsblätter 8 (1975), 44–60. R. C. Schwinges, Studentische Kleingruppen im späten Mittelalter. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte deutscher Universitäten, in: Politik, Gesellschaft, Geschichtsschreibung. Gießener Festgabe für Franti“ek Graus zum 60. Geb., hrsg. v. H. Ludat/R. C. Schwinges, Köln-Wien 1982, 319–361.
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fast gleicher Studenten bis zur engeren Verbindung, in der ein Instruktor zu seinem hochadeligen Zögling stand, auch jene „Freundschaften“ und die in verschiedenen Graden institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen ständisch durchaus nicht gleichrangigen Kommilitonen, ja ein ganzer Hausstand, der in Einzelfällen gemeinsam zog52: es lassen sich sehr verschiedene Einzelformen solcher Kleingruppen nachweisen, die das soziale System der Heimat im Kleinen sozusagen transportabel machten, als Schneckenhaus gewissermaßen mitnahmen, die damit in wechselseitiger Stützung den Gefährdungen der Mobilität leichter widerstanden. Leider kennen wir | mangels Quellennachweisen 66 die Zustände der früheren Zeit zu schlecht, um Aussagen über eine mögliche zeitliche Differenzierung des Phänomens machen zu können. Ohne auf diese „Kleingruppen“ hier näher eingehen zu können, möchte ich doch darauf hinweisen, daß sie m. E. in enger Verbindung zu jenen größeren korporativen Bindungen zu sehen sind, die die Gruppe der Scholaren strukturierten. Sowohl die religiösen Orden, die sich in unterschiedlicher Intensität den Universitäten zuwandten, als auch Verfassungsformen der Studentenschaft selbst können das bezeugen. Dazu nur stichwortartige Hinweise: die religiösen Orden entließen auch an den Universitäten ihre Glieder nicht aus dem Verband. Ich kann hier auf die Bettelorden, gelehrte Korporationen scheinbar par excellence, nicht näher eingehen, möchte aber im Gegensatz zum allgemein verbreiteten Bild von der besonderen Affinität der Mendikanten zum Universitätsleben doch darauf hinweisen, daß die gegenseitige Adaption zumindestens bei den Franziskanern nur schmerzhaft vor sich ging. Nicht nur daß im 13. Jahrhundert die Mendikanten in ihren Ordensstudien zuerst geradezu ein eigenes Konkurrenzsystem zu den werdenden Universitäten aufbauten53, das
52 Sprechende Beispiele für solche Gruppen liefert etwa die Liste prosopographischer Daten der Studenten der deutschen Nation in Orléans: Les livres des procurateurs de la Nation Germanique de l’ancienne Université d’Orléans 1444–1602, Tome I: Premier Livre des Procurateurs 1444–1546, Seconde partie: Biographies, par H. de Ridder-Symoens, D. Illmer, C. M. Ridderijkhoff, vols. 1–3, Leiden 1978, 1980, 1982, vgl. nur etwa Nrn. 7 f., 32 f., 129 f., 287 f., 391 f., 477 f., 584–586, 783 f., usw. (Brüder); 70/73, 289–291, 608–612, 620/625 f., 677 f., 716–718, usw. (Zöglinge u. Lehrer); 152 f., 644/647, 645 f., 671 f. (Student u. servitor, bzw. Kapellan); 64 f./78, 587, 621–624, 635 f., 722–726/737, 777/781 f./896, 811–814/817, 871 f./916 (Gruppe); 6/40/604/628, 16/43, 134/151/190/868, 258/701/928, 332/885 f., 380/952, usw. (Verwandte verschiedener Generationen), etc. 53 Le scuole degli ordine mendicanti (secoli XII–XIV), (Convegni del Centro di Studi sulla spiritualità medievale 17), Todi 1978. Die Frühgeschichte des Systems
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den Universitäten durchaus hätte gefährlich werden können, nicht nur daß sich im gleichen 13. Jahrhundert beide Gruppierungen gegenseitig im sogenannten Mendikantenstreit ernstlich in ihrer Existenz bedrohten54, bevor sich die gefundene Symbiose zu beiderseitigem Vorteil einspielte – man könnte sogar sagen, daß die anfangs ruppigen Franziskaner erst dann zu einem Orden wurden, der der Gelehrsamkeit Raum gab, als sie ihre Itineranz in konventualer Lebensform kanalisiert hatten, als sie sich, in der zweiten Generation mit der Anpassung an Welt und Kirche auch auf die Universität erfolgreich einstellen konnten. Ich behandle daher die Sonderbedingungen der religiosen Scholaren nicht, da sie dort, wo sie signifikant von der Lebensform der anderen abwichen, eher auf den jeweiligen Gruppen67 charakter ihres Ordens zurückgeführt werden müs | sen. Daß sie das Bild der Studentenschaft bunter machen, kann und will ich nicht leugnen. Wie sich die Religiosen auch an der Universität nicht aus ihrem Orden beurlaubt sahen, so haben die Studenten auch allgemein durch Gruppenbildungen über Kleingruppen hinaus zumindest für einen Ersatz ihrer angestammten Gruppenbeziehungen zu sorgen gewußt. Damit sei gesagt, daß auch jene größeren korporativen Bildungen, zu denen sich die Scholaren in Bologna und Paris zusammenschlossen und damit allererst den Begriff einer universitas auf sich anwendbar machten55, zumindest auch in diesem Zusammenhang gesehen werden müssen. Das älteste Universitätsprivileg, das Friedrich Barbarossa den Bologneser Scholaren in Form eines Kaisergesetzes gab, hat genau behandelt D. Berg, Armut und Wissenschaft. Beiträge zur Geschichte des Studienwesens der Bettelorden im 13. Jh. (Geschichte und Gesellschaft, Bochumer Historische Studien 15), Düsseldorf 1977. 54 P. Michaud-Quantin, Le droit universitaire dans le conflit parisienne de 1252–1257, in: Studia Gratiana 8 (1962), 577–599. M.-M. Dufeil, Guilleaume de Saint-Amour et la polémique universitaire parisienne 1250–1259, Paris 1972. J. Miethke, Papst, Ortsbischof und Universität in den Pariser Theologenprozessen des 13. Jhs., in: Die Auseinandersetzungen an der Pariser Universität im 13. Jh., hrsg. v. A. Zimmermann (Miscellanea Medieaevalia 10), Berlin 1976, 52–94, bes. 69 ff.; J. D. Dawson, William of Saint-Amour and the Apostolic Tradition, in: Medieval Studies 40 (1978), 223–238. R. Hisette, Etienne Tempier et ses condamnations, in: Recherches de théologie ancienne et médiévale 47 (1980), 231–270. 55 P. Michaud-Quantin, Universitas. Expressions du mouvement communautaire dans le moyen âge latin (L’Eglise et l’Etat au moyen âge 13), Paris 1970. Zu den „Nationen“ A. Sorbelli, La „nazione“ nelle antiche università italiane e straniere, in: Studi e memorie per la storia dell’ Università di Bologna 16 (1943), 93–232; P. Kibre, The Nations in the Medieval Universities (Medieval Academy of America, Publ. 49), Cambridge, Mass. 1948; Schumann (wie Anm. 40).
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dies zum Inhalt, daß der Student in der Fremde besonderen Schutz genießen solle und nicht dem Zugriff des fremden örtlichen Richters hilflos ausgeliefert sei. Solche Rechtsgewährung zur gemeinsamen Rechtswahrung setzte aber den genossenschaftlichen Zusammenschluß der verschiedenen exules voraus, der „Verbannten“ (wie die Scholaren in dem kaiserlichen Gesetz, das ganz sicher von den Empfängern wesentlich vorformuliert worden ist und nicht dem routinemäßigen Kanzleistil sein Aussehen verdankt, auch prompt genannt wurden)56. Durch kaiserliche und königliche, bald auch päpstliche und bischöfliche Privilegierung haben sich die Universitates zu privilegierten Körperschaften entwickelt57, die nicht nur subsidiär in der Fremde die in der Heimat selbstverständlichen Bezüge durch gemeinsame Anstrengungen zu ersetzen in der Lage waren. Rechte, die man sich erworben oder erstritten hatte oder auch übertragen erhielt, ließen sich unter den Bedingungen des Hoch- und Spätmittelalters am leichtesten durch | Privilegien sichern. Solche Privilegierung, wie sie auch 68 andere Gruppenbildungen damals erfuhren, so notwendig und wünschenswert sie insgesamt war, verstetigte das fließende Bild, fügte der genossenschaftlichen Wurzel der Hohen Schule in der Schwurgemeinschaft der Magister oder Scholaren ein anstaltliches Moment hinzu, so daß sich die Gruppe mit Hilfe dieser Privilegierung erst eigentlich dauerhaft am Orte ihrer Anwesenheit einwurzeln konnte. Brachte die Privilegierung für die Scholaren eine Verfestigung und Verstetigung in der terra aliena, die sehr früh dazu führen konnte, daß man das Fremdsein soweit verdrängen konnte, daß etwa im Bologna des 13. Jahrhunderts die Professuren im gewissen Sinne erblich werden konnten58, so bildete sich auch anderwärts eine bei 56 Zuletzt gedruckt als DF I. nr. 243. Zur Datierung überzeugend W. Stelzer, Zum Scholarenprivileg Friedrich Barbarossas (Authentica „Habita“), in: Deutsches Archiv 34 (1978), 123–165 (dort auch die wichtigste ältere Lit.); vgl. auch H. Grundmann, Vom Ursprung der Universität im Mittelalter, 2Darmstadt 1960 (u. ö.), 31 f.; Classen, Studium und Gesellschaft (wie Anm. 2), 248 ff.; W. Steffen, Die studentische Autonomie im mittelalterlichen Bologna. Eine Untersuchung über die Stellung der Studenten und ihrer Universitas gegenüber Professoren und Stadtregierung im 13./14. Jh. (Geist und Werk der Zeiten 58), Bern-Frankfurt/Main-Las Vegas 1981, bes. 45 ff. 57 P. Classen, Libertas scholastica – Scholarenprivilegien – Akademische Freiheit im Mittelalter, in: Studium und Gesellschaft (wie Anm. 2), 238–292, bes. 252 ff. (kürzere Fassung in: HZ 232 [1981], 529–553). 58 Etwa A. Sorbelli, Storia dell’università di Bologna, vol. I: Il medioevo (sce. XI–XV), Bologna 1940, bes. 91 ff.; vgl. H. Coing, Die juristische Fakultät und ihr Lehrprogramm, in: Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. 1: Mittelalter, München 1973, hier 55 f.
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allen Differenzen gemeineuropäische Rechtsstruktur, die den Angehörigen der Universitäten einen allgemeinen Rechtsrahmen setzte. Ich verzichte wiederum auf eine Schilderung der Vorrechte und Chancen bei Mietrecht, Schuldrecht und Haftung, auf jenes ganze System von Rechtsvergünstigungen, wie sie seit dem 14. Jahrhundert zur Normalausstattung einer Universität gehörten59. Das kirchliche Recht hat der Ausbildung dieses Rechtsrahmens in spezifischer Weise gedient. Insbesondere zeigte es sich rasch, daß außerhalb der besonderen Verhältnisse Oberitaliens eine Universität ohne Rückgriff auf kirchliches Vermögen auf die Dauer nicht finanzierbar war. Die Rechtsfigur der Pfründe, eines kirchlichen Sondervermögens, bestehend aus Immobilien bzw. grundherrschaftlichen Einkünften, das für den Unterhalt eines bestimmten Funktionsträgers ausgegrenzt wurde, ist keineswegs für die Bedürfnisse der Universitäten entwickelt worden; sie wurde aber schon in der Gründungsphase im 12. und 13. Jahrhundert für diesen Zweck adaptiert und den besonderen Bedingungen universitären Lebens und Studierens angepaßt. Das wichtigste Moment solcher Anpassung war das „Residenzprivileg“, demgemäß generell nach gemeinem Kirchenrecht Studierende für schließlich sieben Jahre sich ohne weiteres der Residenzpflicht bei ihrer Pfründe enthoben sahen, wenn sie sich zu Studienzwecken anderswo aufhielten, und 69 daß sie gleichwohl die Einkünfte aus ihrer Pfründe | erheben konnten. Sie waren sozusagen unter Beibehaltung ihrer Bezüge beurlaubt60. Es waren diese und andere Privilegien der Scholaren, die nun ihrerseits, so funktional sie im Ansatz auch für die mittelalterliche Universität waren, die Rechtsfigur eines Scholaren attraktiv machten. Die Privilegienausstattung der Scholarenrolle war bisweilen attraktiver als die Rolle selbst und konnte sich gleichsam verselbständigen, ganz anderen Interessen Genüge tun. Ich will diese vielfach zu belegende Verkehrung nicht ausführlich ausbreiten, die natürlich nicht nur die Scholaren, sondern auch andere privilegierte Gruppen, wie
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Überblick bereits bei Petrus Rebuffus [Pierre Rebuffi], De scholasticorum, bibliopolarum atque coeterorum universitatis omnium ministrorum iuratorumque privilegiis, (geschrieben ca. 1510), hier benutzt nach dem Druck Paris (apud Vidovaeum) 1540. Vgl. auch P. Kibre, Scholarly Privileges in the Middle Ages. The Rights, Privileges and Immunities of Scholars and Universities at Bologna, Padua, Paris and Oxford (Mediaeval Academy of America, Publ. 72), London 1961. 60 Rebuffi (wie Anm. 59), 93–103 (privilegia XXIX–XXXV; vgl. auch die folgenden mit Privilegien der Scholaren beschäftigten Paragraphen!); Kibre, Scholarly Privileges (wie Anm. 59), passim (vgl. den Index s. v. ,Benefices‘, 426).
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die Pilger, betraf. Ein schwacher Abglanz von ihr ist noch heute bei jenen erhalten, die sich die marginalen Vorteile etwa der Sozialversicherung für Studenten zu eigen machen, ohne etwa ein Studium zu betreiben. Nur ein einziges – extremes – Beispiel sei skizziert. Von 1330 bis 1338 verschaffte sich Antonius Zachariae, Kanoniker des Domkapitels von Tournai, nicht weniger als 20mal die Erlaubnis, sich auf eine Pilgerfahrt zu begeben, 10mal davon in Verbindung mit einer licentia eundi ad scolas; dreimal hatte Antonius darüber hinaus noch aufnehmen lassen, daß er sich causa sanitatis recuperandae an einen Kurort seiner Wahl begeben dürfe: er ist am 11. Mai 1338 gestorben, ohne offenbar eine Universität von innen gesehen zu haben. Sein Tod wurde in Tournai erst über ein Jahr später registriert61. Ich breche ab. Vielleicht hatte Viktor von Scheffel, von dessen Versen wir ausgegangen sind, einen solchen Scholaren im Sinn, wie Antonius Zachariae gewesen zu sein scheint? Das Cliché, das die romantischen Verse evozieren, hat sich gleichwohl nicht ohne Abstriche bestätigt. Die wandernden Scholaren lassen über die Zeit des Spätmittelalters hin, in der wir sie näher verfolgen können, nicht das Bild frei oder weit streifender Wanderschaft, fließender Bewegung und ständigen Unterwegsseins erkennen. Vielmehr ist unser Eindruck der einer gewissen Stockung, einer, bei einem Wachstum der Gesamtzahlen doch relativen Beruhigung der Situation, wenn sie denn je wirklich „flüssig“ gewesen sein sollte62. Der Scholar des Mittelalters war selbst dort, wo er sich | auf eine Kavaliers- oder Bildungsreise über die 70 Alpen begab, kein „Fahrender“. Wo Scholaren zu „Fahrenden“ wurden, sind sie es als Randexistenzen, wie auch die Angehörigen anderer Gruppen, die dieses Schicksal erfuhren, allererst geworden.
61 J. Pycke, Les chanoines de Tournai aux études, 1330–1340, in: The Universities in the Late Middle Ages (wie Anm. 24), 598–613, hier 613. 62 Am deutlichsten scheint das beim diachronischen Vergleich des kartierten Einzugsbereichs von einzelnen Universitäten zu werden. Sprechend hier J. Kerkhoff, Einzugsgebiete der Universitäten Heidelberg, Freiburg u. Tübingen im Wintersemester 1845/46 und im Wintersemester 1960/61 (Historischer Atlas von Baden-Württemberg, Erläuterungen. Beiwort zu Karte IX.7), Stuttgart 1980, vgl. bes. 4 f. mit 2 f. (Heidelberg 1395/1400 mit Freiburg 1495/1500 u. Tübingen 1495/1500.
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KIRCHE UND UNIVERSITÄTEN ZUR WIRTSCHAFTLICHEN FUNDIERUNG DER DEUTSCHEN HOCHSCHULEN IM SPÄTMITTELALTER*
Das ganze Mittelalter hindurch und weit darüber hinaus gehörten die Kirche und die Universitäten zusammen, so eng, daß oft die Meinung vertreten worden ist und wird, die mittelalterliche Universität sei eine kirchliche Universität gewesen. Wenn diese Auffassung ohne Einschränkung richtig wäre, dann bräuchten wir uns mit dem Verhältnis von Kirche und Universität nicht näher zu beschäftigen. Allenfalls dürften wir über Fragen nachdenken, wie sich innerhalb der Kirche verschiedene ihrer Teile zueinander verhalten haben. Dann wäre etwa zu prüfen, wie Papst und römische Kurie mit den Universitäten in Beziehungen traten, wie sich die Bischöfe zu den Universitäten ihrer Diözese verhielten, wie die religiösen Orden sich zum Studium einstellten usw. Das hätte dann etwa denselben Stellenwert wie die Untersuchung des Verhältnisses von Papst und Bischöfen, von Bischof und Diözese, von Äbten und Bischöfen, von Klerus und Laien usw. Mit Bedacht aber habe ich ein Thema formuliert, das dieser Auffassung widerspricht. Schon am Ende des 13. Jahrhunderts hat ein deutscher Kleriker, der Kölner Kanoniker Alexander von Roes, der damals an der römischen Kurie im Haushalt des Kardinals Jakob Colonna lebte, eine ganz andere Auffassung vertreten, als er in einem apologetischen Geschichtsentwurf allen drei europäischen Hauptmächten seines Gesichtskreises innerhalb einer universal gedachten Kirche je ein wichtiges Amt zuwies: Et est nota dignum, quod debitus et neccessarius ordo requirebat, ut sicut Romani tamquam seniores sacerdotio, sic Germani vel Franci tamquam iuniores imperio, et ita Francigene vel Gallici tamquam perspicatiores scientiarum studio ditarentur (. . .). Hiis siquidem tribus, scilicet sacer* Deutsche Fassung eines Referats, das ich in englischer Sprache im Dezember 1986 auf einer Sektion des 101. Annual Meeting der American Historical Association in Chicago und im Januar 1987 an der Georgetown University in Washington, D.C., gehalten habe. Die Nachweise sind hier bewußt sparsam gehalten, da jeder Versuch einer fülligeren Dokumentation angesichts der Forschungslage auszuufern droht.
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dotio imperio et studio, tamquam tribus virtutibus (. . .) sancta ecclesia catholica spiritualiter vivificatur augmentatur et regitur1. Wir brauchen die Schrift des Alexander von Roes hier nicht ins einzelne zu interpretieren. Bei der Verteidigung des Imperiums gegen die Ansprüche des Papstes jedenfalls hat dieser deutsche Kleriker neben das sacerdocium, neben die amtskirchliche Hierarchie und neben das imperium, d.h. die politische Weltordnung, ausdrücklich das studium, die Welt der Wissenschaften, gesondert und doch ungetrennt 266 gestellt und ihm eine selbständige Aufgabe zugewiesen2. | Wir brauchen auch nicht zu untersuchen, ob dieses Schema der Wirklichkeit des 13. Jahrhunderts überhaupt entsprach. Es genügt festzuhalten, daß Alexander das studium wohl als Teil der universalen Weltkirche gesehen hat, aber ihm neben der Amtskirche und neben der politischen Ordnung eine selbständige Funktion zugewiesen hat. Für ihn hatte es gewiß Sinn, nach dem Verhältnis von studium und sacerdocium zu fragen. Die europäische Universität ist eine originär mittelalterliche „Erfindung“, wie sie in anderen Kulturkreisen in dieser spezifischen Form weder in der Antike, noch in anderen Epochen entwickelt worden ist, auch wenn es natürlich Einrichtungen einer höheren Bildung auch anderswo gegeben hat3. Die Verbindung der Aufgaben einer höheren Lehranstalt mit der Rechtsform körperschaftlicher Autonomie und mit privilegierter Freiheit, die im 12. Jahrhundert entwickelt, im 13. Jahrhundert entfaltet und gesichert und vom 14. Jahrhundert an über ganz Europa verbreitet worden ist, erwies sich als den Anforderungen besonders günstig angepaßt und sollte in der neuesten Zeit ihren Siegeszug über die ganze Welt antreten. Die Nachfolgerin der mittelalterlichen europäischen Universität bildet heute die vorherrschende Organisationsform des höheren Bildungswesens überall in der Welt, ungeachtet aller Differenzen zwischen Erster, Zweiter und Dritter Welt. 1 Alexander von Roes, Memoriale, cap. 25, ed. Herbert Grundmann, in: Al. v.R., Schriften (MGH, Staatsschriften I,1, 1958) S. 126 f. 2 Dazu vgl. vor allem Herbert Grundmann, Sacerdotium – Regnum – Studium, Zur Wertung der Wissenschaft im 13. Jahrhundert (1951), jetzt in H. Grundmann, Ausgewählte Aufsätze, Teil 3: Bildung und Sprache (Schriften der MGH 25/III, 1978) S. 275–291. 3 Das wird zu Recht energisch unterstrichen von Peter Classen, Studium und Gesellschaft im Mittelalter, hg. von Johannes Fried (Schriften der MGH 29, 1983) S. 1, vgl. auch Peter Classen, Ausgewählte Aufsätze, hg. v. Josef Fleckenstein (Vorträge und Forschungen, 28, 1983) S. 333.
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Es ist hier freilich nicht meine Absicht, abstrakt ein Loblied auf „die“ europäische Universität zu singen, die es ja so eindeutig und über die Jahrhunderte gleichbleibend gar nicht gegeben hat. Ich wollte nur unterstreichen, daß wir nicht nur einem modernen organisationssoziologischen Modell entlang denken, wenn wir nach den Beziehungen zwischen der mittelalterlichen Kirche und den Universitäten fragen, sondern daß wir damit im Rahmen mittelalterlicher Denkmöglichkeiten bleiben. Gewiß, eine deutliche Nähe zur Kirche hatte die Universität von ihren Anfängen an, vor allem in Paris, wo sie aus der Domschule von Notre Dame und den verschiedenen privaten Schulen im linken Seine-Ufer erwachsen war. Dasselbe gilt aber auch in Bologna oder Montpellier, in Oxford oder Salamanca, in Prag und Wien, in Heidelberg und Löwen, um wahllos hier einige Universitäten zu nennen. Ein solides Band verknüpfte die Universität mit der Kirche allein darum schon, weil schon vor ihrer Entstehung Kirche und höhere Ausbildung eng verbunden gewesen waren. In Nordfrankreich war der Bischof oder ein Beauftragter des Bischofs für die Verleihung der licentia docendi zuständig gewesen4, und mit dem Kanzler der Universität in Paris, mit dem Archidiakon in Bologna blieb er das auch für die Universitäten des 13. Jahrhunderts. Die Magister und Scholaren, die sich zuerst zur Wahrung ihrer Interessen und Rechte in der Fremde genossenschaftlich zur „universitas“ zusammengeschlossen hatten5, haben von | Anbeginn an nicht nur die Absicht gehabt, ein- 267 ander im Todesfall zu Grabe zu geleiten und im Krankheitsfall sich gegebenenfalls beizustehen, sie hatten sich schon sehr früh um eine
4 Nach den grundlegenden Untersuchungen von Gaines Post, Alexander III, the licentia docendi and the Rise of the Universities, in: Anniversary Essays in Mediaeval History by Students of Charles Homer Haskins (1929) S. 255–277, und Philippe Delhaye, L’organisation scolaire au XIIe siècle, Traditio 5 (1947) S. 211–268 (auch selbständig: Analecta Namurcensia, hors série 1, 1961) verdiente die Geschichte der licentia docendi eine neue Behandlung. 5 Die älteren Arbeiten zusammengefaßt jetzt bei Stephen C. Ferruolo, The Origins of the University, The schools of Paris and their critics 1100–1215 (1985), sowie Robert W. Southern, The schools of Paris and the school of Chartres, in: Renaissance and Renewal in the Twelfth Century, edd. Giles Constable, Robert L. Benson (1982) S. 113–137, und Jacques Verger, A propos de la naissance de l’université de Paris, contexte social, enjeu politique, portée intellectuelle, in: Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters, hg. v. Johannes Fried (Vorträge und Forschungen 30, 1986) S. 69–96. Zur Bedeutung der universitas vor allem Pierre Michaud Quantin, Universitas, Expressions de mouvements communautaires dans le moyen âge latin (L’église et l’état au moyen âge 13, 1970).
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Formalisierung und damit um eine gewisse Kontrolle der Lizenzerteilung durch den Kanzler bemüht. Zuerst setzten sie durch, daß der Kanzler oder der sonst dazu berechtigte bischöfliche Amtsträger die Lizenz prinzipiell nicht gegen Geld verkaufen, sondern nur an „Würdige“ vergeben durfte6, wenig später gelang es ihnen, auch sicherzustellen, daß jeder, den die Magister für würdig hielten, prinzipiell vom Kanzler auch die Lizenz erhalten müsse7. Das beides schloß für die Zukunft Konflikte nicht aus, die ganz im Gegenteil bis zum Ende des Mittelalters nicht abrissen8. Die erreichte Regelung war aber eine solide Basis für die künftigen Entwicklungen. In ihrem genossenschaftlichen Zusammenschluß sahen die Magister und Studenten sich auf äußere Anerkennung und Unterstützung angewiesen, die sie sowohl bei dem jeweiligen Träger politischer Herrschaft, dem König oder der Kommune, als auch bei den Instanzen der Amtskirche, dem Bischof der Diözese und – sehr früh schon – auch beim römischen Papst9 suchten und fanden. Allein die Tatsache, daß sie ihre universitas durch Eid bekräftigt hatten, machte sie auf die kirchliche Entscheidung angewiesen, wenn umstritten war, wie in Zweifelsfällen dieser Eid auszulegen sei. Schon 1217 entschied Papst Honorius III., die scholares von Bologna sollten eher die Stadt verlassen, quam periurii reatum incurrere (indem sie dem Gehorsamseid, welchen sie ihrem Rektor geleistet hatten, zuwider nun der Kommune
6 Diese Auseinandersetzungen im einzelnen bei Gaines Post, Kimon Giocarinis, Richard Kay, The Medieval Heritage of a Humanistic Ideal: „Scientia donum dei est unde vendi non potest“ Traditio 11 (1955) S. 195–234, vgl. auch John W. Baldwin, Masters, Princes and Merchants. The Social Views of Peter the Chanter and His Circle, Bd. 1–2 (1970), Bd. 1, S. 117–130 mit Bd. 2, S. 79–88. 7 Chartularium Universitatis Parisiensis, edd. Heinrich Denifle u. Emile Chatelain, Bd. 1 (1889, Neudruck 1964) Nrn. 14 u. 16, S. 73 f. u. 75 f. Vgl. Nr. 17 f., S. 76 f. 8 Dazu etwa Astrik L. Gabriel, The Conflict between the Chancellor and the University of Masters and Students at Paris During the Middle Ages, in: Die Auseinandersetzungen an der Universität Paris im 13. Jahrhundert (Miscellanea mediaevalia 10, 1976) S. 106–154. Einen berühmten Einzelfall behandelte ausführlich Alan E. Bernstein, Pierre d’Ailly and the Blanchard Affair (Studies in Medieval and Reformation Thought 24, 1978); vgl. auch Alan E. Bernstein, Magisterium and License, Corporate Autonomy against Papal Authority in the Medieval University of Paris, Viator 9 (1978) S. 291–308. 9 Zuletzt eingehend, wenn auch zu einer Überzeichnung der päpstlichen Rolle neigend, Werner Maleczek, Das Papsttum und die Anfänge der Universität im Mittelalter, Römische historische Mitteilungen 27 (1985) S. 85–143.
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einen absoluten Gehorsam zusagten)10. Der Status der Professoren und Studenten als clerici gab Universitätsangehörigen darüber hinaus den Schutz des Kirchenrechts, das privilegium fori, und machte damit erneut das Oberhaupt der Amtskirche in letzter Instanz für ihre Sache zuständig. Ohne hier die einzelnen Etappen verfolgen zu können, müssen wir deutlich festhalten, daß | eine der frühesten und für die 268 Anfangsphase der Universitäten auch wohl die wichtigste Funktion der Kirche eben die Ausbildung von kirchlichen Rechtsvorstellungen und Begriffen war, mit der sie die Institutionalisierung der Universitäten praktisch begleitete, in Konzilsbeschlüssen und vor allem in päpstlichen Dekretalen näher absicherte und so eine einigermaßen verläßliche Grundlage schuf für die werdende Verfassung der Hochschule. Die Form, in der das Kirchenrecht des späteren Mittelalters sich entfaltete, kam dieser Art der Absicherung besonders entgegen. Rechtsfortbildung und Rechtssatzung wurden seit dem 11./12. Jahrhundert mehr und mehr mit Hilfe päpstlicher Dekretalen vollzogen, die es zwar als solche schon seit der Spätantike gegeben hat, die aber erst nach dem Abschluß des Decretum Gratians eine neue, man könnte fast sagen: ihre eigentliche Bedeutung erlangten11. Zuerst wurde das Decretum durch Dekretalensammlungen der Schulen ergänzt, dann durch kuriale Auftragsarbeiten fortgebildet12, und schließlich wurden die offiziösen Kompilationen des Liber Extra, des Liber Sextus und der Clementinen für die Benutzung in den kirchlichen Gerichten und an den Universitäten verbindlich gemacht13. An den Hochschulen 10 Das päpstliche Schreiben am leichtesten erreichbar in: Hastings Rashdall, The Universities of Europe in the Middle Ages, new edition by Frederick M. Powicke u. Alfred B. Emden (1936, u.ö.), Bd. 1, S. 585 (Nr. I.A.) = Petrus Pressutti, Regesta Honorii papae III, Vol. I (1888, Neudruck 1978) Nr. 597, S. 103 f., vgl. Nr. 598, S. 104. Dazu P. Classen, Studium (wie Anm. 3) S. 242 ff. 11 Vgl. z.B. den knappen Artikel „Dekretalen“ (von Hans van de Wouw) in: Lexikon des Mittelalters 3 (1986) Sp. 655 f. (mit einer Auswahl aus der reichen Literatur). 12 Vgl. z.B. Othmar Hageneder, Papstregister und Dekretalenrecht, in: Recht und Schrift im Mittelalter, hg. v. Peter Classen (Vorträge und Forschungen 23, 1977) S. 319–348; oder Kenneth J. Pennington, The Making of a Decretal Collection. The Genesis of „Compilatio tertia“, in: Proceedings of the Fifth International Congress of Medieval Canon Law, edd. Stephan Kuttner – Kenneth J. Pennington (Monumenta Iuris Canonici, C 6, 1980) S. 67–92; auch Leonard E. Boyle, The „Compilatio quinta“ and the Registers of Honorius III, in: Bulletin of Medieval Canon Law, N.S. 8 (1978) S. 9–19, Neudruck in L. E. Boyle, Pastoral Care, Clerical Education and Canon Law (Variorum Reprints, CS 135, 1981) Nr. XI. 13 Vgl. bes. Sten Gagnér, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung (Studia iuridica Upsaliensia, 1, 1960).
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wurden die neuen Texte deshalb jeweils rasch und intensiv in den Prozeß wissenschaftlicher Bearbeitung einbezogen, sie wurden kommentiert und ausgelegt mit eben denselben Methoden, die sich an Gratians Concordia discordantium canonum so glänzend bewährt hatten. Das geschah in immer rascherem Rhythmus: waren zwischen dem Abschluß des Dekrets bis zur Fertigstellung der Glossa ordinaria durch Johannes Teutonicus insgesamt über 80 Jahre vergangen (von ca. 1140 bis ca. 1225), so beendigte Bernhard von Parma seine lebenslange Arbeit an dem Apparat, der zur Glossa ordinaria des Liber Extra werden sollte, spätestens mit seinem Tode 1266, also etwa 30 Jahre nach der Publikation des Liber Extra 123414. Johannes Andreae brauchte dann für die erste Redaktion seiner Glosse zum Liber Sextus nur noch ein gutes Jahrzehnt (1298–1310), eine Zeitspanne, die dann knapp auch zwischen der endgültigen Publikation der Clementinen durch Papst Johannes XXII. 1317 und dem Abschluß ihrer Glosse 1326 lag15. Die Kommentierung durch die Gelehrten in den Schulen achtete 269 natürlich auch auf die | Rechtsfragen, die an der Universität und für ihr eigenes Leben von Interesse waren. So werden im allgemeinen die neuesten Entscheidungen der Kurie jeweils in den Apparaten, Glossen und Kommentaren lebhaft besprochen. Schon die älteren Dekretalensammlungen zeigen sich an diesen Stücken interessiert, die Compilationes antiquae übernahmen diese Texte, und auch der Liber Extra nahm sie selbstverständlich in seine Spalten auf 16. So haben die Interessierten, die Juristen selbst, sich nicht unerheblich an der Konstruktion, Ausgestaltung und kommentierenden Auslegung der 14 Stephan Kuttner – Beryl Smalley, The ‚Glossa ordinaria‘ to the Gregorian Decretals, English Historical Review 60 (1945) S. 97–105. In einer ersten Redaktion war der Apparat sogar offenbar bereits 1241 abgeschlossen, der letzte datierbare Zusatz stammt von 1263, Bernhard starb 1266. 15 Sven Stelling Michaud, Jean André, in: Dictionnaire du Droit Canonique, Bd. 6 (1954–57), Sp. 89–92; Stephan Kuttner, Introduction, zu: Johannes Andreae, Novella commentaria (in librum X), Venedig 1561, Neudruck Turin 1963. Jacqueline Tarrant, The life and works of Jesselin de Cassagnes, Bulletin of Medieval Canon Law, n.s. 9 (1979) S. 37–64. 16 Exemplarisch hat das an der Dekretale Lucius’ III. zum Mietrecht verfolgt Peter Landau, Papst Lucius III. und das Mietrecht in Bologna, in: Proceedings of the Fourth International Congress of Medieval Canon Law, ed. Stephan Kuttner (Monumenta Iuris Canonici, C 5, 1976) S. 511–522, bes. S. 512 f. Auch an der Überlieferung von „Super speculam“ oder an den Bestimmungen über das Residenzprivileg ließe sich dasselbe Verhalten der Kanonisten verfolgen.
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für sie wichtigen Rechtsformen beteiligt, und das änderte sich auch weiterhin nicht. Für die Universitäten war diese kirchliche Rechtsbildung von mehrfachem Vorteil. Einerseits erfüllte sie die wichtige Aufgabe, für einen verbindlichen Rahmen rechtlicher Ordnung zu sorgen, der sachgerecht und praktikabel bleiben konnte, da Sachverstand und „Know how“ an den wichtigsten Schaltstellen der kirchlichen Amtshierarchie immer greifbar blieben17. Darüber hinaus hatte die kirchliche Rechtssetzung in dem zersplitterten und immer mehr sich aufsplitternden mittelalterlichen Europa auch den zusätzlichen Vorteil, daß hier stärker als durch jedes denkbare andere Recht für eine Konformität der geltenden Rechtsnormen überall in Europa gesorgt war. Daß das auch den Interessen der Universitätsgelehrten in besonderem Maße zugute kommen mußte, konnte demgegenüber nicht allzusehr ins Auge fallen. Daß man sich an den neugegründeten Universitäten des Spätmittelalters mit mehr oder weniger großem Nachahmungseifer an die Vorbilder der alten großen Hochschulen hielt, vor allem an Paris und Bologna, das allein hätte vielleicht noch nicht so lange und so intensive Gleichförmigkeit der Verfassungsstrukturen bewirken können. Aber für die Universitäten waren auch die Baugesetze, nach denen die einzelnen Konstruktionen zusammengesetzt wurden, im wesentlichen identisch, deshalb traf der mittelalterliche Scholar an einer „fremden“ Universität doch immer auf vertraute Strukturen. Deshalb eignen sich Universitäten ja noch heute so hervorragend für vergleichende Studien der Historiker. Die enge Symbiose zwischen Kirche und Universität brachte eine natürliche Nähe mit sich und ließ die Universität sich noch stärker auf die Kirche hin orientieren. Lange vor der Entstehung der europäischen Universitäten war die Kirche in vielen Teilen Europas praktisch der einzige Träger gelehrter Kultur, ja schriftlicher Überlieferung schlechthin gewesen. Sie hatte diese wichtigen Funktionen des geistigen Lebens auch materiell und wirtschaftlich getragen. Jetzt, wo der Kirche als potentielle Träger der Schriftlichkeit auch Konkurrenten erwuchsen, wurde freilich die Kirche weiterhin wie selbstverständlich für die wirtschaftliche Absicherung der Bildungsleistungen in
17 Jürgen Miethke, Die Kirche und die Universitäten im 13. Jahrhundert, in: Schulen und Studium (wie Anm. 5) S. 285–320.
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Anspruch genommen, galt doch auch für einen Großteil, ja zunächst gewiß für den weitaus überwiegenden Teil der jungen Männer, die die Universitäten durchlaufen hatten, daß sie ihre weitere Karriere in der Kirche und mit kirchlichen Positionen allein aussichtsreich oder doch am einfachsten vollziehen konnten. Selbstverständlich war das für die Ordensleute, von ihren Orden 270 an die Universität | geschickt und nachher natürlich im Orden weiter wirkend. Die Bettelorden, die eine Fülle von Ordensberufen an den Hochschulen bewirkten, hatten im 13. Jahrhundert alle Vorteile solch gesicherter Zukunftsaussichten aller Welt eindrücklich demonstriert18. So hatten sie nicht zuletzt bei anderen Orden vielfältige Bestrebungen hervorgerufen, die mendikantische Studienorganisation wenigstens in wesentlichen Teilen nachzuahmen. Die anderen monastischen Verbände und reichen Abteien der Kirche zogen nach, auch Kollegiatkirchen und Stifte beteiligten sich bisweilen an dem Wettlauf, verstärkt seit der Mitte des 13. Jahrhunderts19. Aber natürlich war die Kirche keineswegs die einzige Kraft, die sich damals um eine wirtschaftliche Förderung der Universitäten kümmerte. Königliche Stiftungen oder Stiftungen aus der königlichen Familie, Stiftungen des Hochadels, des Adels, der hohen Geistlichkeit und reicher Bürger haben dazu beigetragen, daß Vermögenswerte von erheblichem Umfang den Universitätsangehörigen
18 Dazu letzthin zwei sich ergänzende Publikationen: Dieter Berg, Armut und Wissenschaft. Beiträge zur Geschichte des Studienwesens der Bettelorden im 13. Jahrhundert (Geschichte und Gesellschaft, Bochumer Historische Studien 15, 1977), sowie: Le scuole degli ordini mendicanti (secoli XIII e XIV) (Convegni del Centro di Studi sulla Spiritualità Medievale 17, 1978), vgl. exemplarisch an einer Landschaft auch Kaspar Elm, Mendikantenstudium, Laienbildung und Klerikerschulung im spätmittelalterlichen Westfalen, in: Studien zum städitschen Bildungswesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, hgg. v. Bernd Moeller, Hans Patze, Karl Stackmann (Abh. d. Akad. d. Wiss. in Göttingen, Philol.-hist. Kl., N.F. 3 137, 1983), S. 586–617 (der dort S. 588 Anm. 9 angekündigte Essay ist m.W. nicht erschienen). 19 Diese Zusammenhänge bedürften dringlich einer Untersuchung. Zum Universitätsstudium der Zisterzienser vgl. zuletzt Reinhard Schneider, Studium und Zisterzienserorden, in: Schulen und Studium (wie Anm. 5) S. 321–350 (wo aber gerade der Bezug zu den Mendikanten keine besondere Beachtung findet, s. S. 349, vgl. auch Dens., Studium und Zisterzienser mit besonderer Berücksichtigung des südwestdeutschen Raumes, Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 4, 1985, S. 103–117). Ausschließlich das späte Mittelalter arbeitete auf Justine M. Grothe, Cistercians and Higher Education in the Later Middle Ages, with special reference to Heidelberg, PhD-thesis Catholic University of America, Washington, D.C. 1976. Weitere Ergebnisse sind von der Untersuchung der Studienreformen Papst Benedikts XII. durch Franz Josef Felten (Berlin) zu erwarten.
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zugute kamen20. Wir brauchen hier nur an Namen wie Robert de Sorbon in Frankreich, an Walter Merton oder William of Wykeham, den Gründer von New College in England, zu denken, oder an Konrad von Gelnhausen oder Heinrich Rubenow in Deutschland, an die landesherrlichen Universitätsstifter wie Karl IV. für Prag, Rudolf IV. und Albrecht III. für Wien, Kasimir den Großen für Krakau, Ruprecht I. für Heidelberg oder an die Kommunen von Florenz, Erfurt oder Köln, Leipzig, Löwen, Greifswald oder Basel, um genügend Beispiele zur Hand zu haben. Schon in diesen Fällen freilich war es nicht unwichtig, daß Zuwendungen an die Universität und die Unterhaltung armer Gelehrter ad pios usus gelten konnten21, daß die Freigiebigkeit frommer stiftungswilliger Schenker gegenüber den Hochschulen auch den eigenen frommen Bedürfnissen zugute kam, daß die Universität als | Empfänger von Geschenken überhaupt 271 mit Klöstern und Stiften, mit Hospitälern und Wallfahrtsstätten in Konkurrenz treten konnte. War dies schon wichtig genug, so zeigte sich auch bald, daß alle Versuche fehlschlugen, eine andere als kirchliche Finanzierung dauerhaft und ausreichend für die hohen laufenden Kosten zu erreichen, die zumindest das Lehrpersonal der Hohen Schulen verursachte. Jedenfalls gilt dies für das überwiegend agrarisch bestimmte Europa nördlich der Alpen. Das universitäre System strebte zwar über die Studiengebühren und Examenszahlungen eine gewisse Autarkie22 an, es erwies sich aber überall in Europa, daß auf die Dauer ohne zusätzliche Mittel nicht auszukommen war. Am frühesten haben die norditalienischen Kommunen, unter ihnen auch Bologna, die gefeierten
20 Allgemein vgl. den schönen Überblick von Ernst Schubert, Motive und Probleme deutscher Universitätsgründungen des 15. Jahrhunderts, in: Beiträge zu Problemen deutscher Universitätsgründungen der frühen Neuzeit, edd. Notker Hammerstein u. Peter Baumgart (Wolfenbütteler Forschungen 4, 1978) S. 13–74. Eine systematische Typologie der Stiftungen bei Arno Seifert, Die Universitätskollegien, eine historisch-typologische Übersicht, in: Lebensbilder deutscher Stiftungen 3 (1974) S. 355 ff. Für England vgl. jetzt auch William J. Courtenay, Schools and Scholars in Fourteenth Century England (1987), bes. S. 118 ff. 21 Diese Formulierung nach dem 1410 (nach dem Tode Ruprechts von der Pfalz) namens der Heidelberger Universität durch ihren Rektor Konrad von Soest an Pfalzgraf Ludwig III. erstatteten Finanzbericht, vorläufig gedruckt bei Johann Friedrich Hautz, Geschichte der Universität Heidelberg 2 (1864, Neudruck 1980) S. 366–370 (mit einigen Irrtümern), vgl. hier S. 368, Zl. 15. 22 Betont durch Arno Seifert, Studium als soziales System, in: Schulen und Studium (wie Anm. 5) S. 601–620.
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Rechtslehrer ihrer Universitäten durch ein von der Kommune bezahltes Salär an ihre Stadt und die Hochschule zu binden versucht23. Nördlich der Alpen, wo der Geldmarkt nicht so ergiebig war, war auf diese Weise nicht so leicht etwas zu bewerkstelligen. Selbst die Großstadt Köln finanzierte ihre eigenen Zuwendungen an ihre Universitätsgründung anfangs durch Geldanleihen. Noch im 14. Jahrhundert haben aber etwa die Habsburger der Universität Wien landesherrliche Einnahmen auf Dauer zugewiesen (800 lb. der Zolleinnahmen von Ybbs, d.h. durchschnittlich etwa der Hälfte der dortigen jährlichen Einnahmen24), und die Pfalzgrafen bei Rhein haben bei der Gründung Heidelbergs die ersten Magister der Theologie und der „artes“ als ihre „pfaffen“, also als Hofkapläne für eine „hochanständige“ Remuneration, förmlich in den Dienst genommen25. Später hat Ruprecht II. seiner Universität durch Bereitstellung eines erheblichen Kapitals den Erwerb von festen Anteilen an den Rheinzöllen bei Kaiserswerth und Bacharach ermöglicht, Einnahmen, die sich als durchaus wohlüberlegte Geldanlage erweisen sollten: sie haben der Heidelberger Universität bis 1805 zur Finanzierung geholfen26. Auch die Leipziger Gründer haben zunächst ihrer Universität der Gründungsurkunde gemäß jährlich 500 Gulden zugewiesen, „bis eine bessere Ausstattung gefunden sei“27. 23 Allgemein vgl. etwa Manlio Bellomo, Saggio sull’ università nell’ età del diritto comune (1979) S. 152–169. Interessante Zahlen bei Johannes Fried, Vermögensbildung der Bologneser Juristen im 12. und 13. Jahrhundert, in: Università e società nei secoli XII–XVL, Atti del nono Convegno Internazionale di Studi tenuto a Pistoia (1983) S. 27–55. 24 Rerum Austriacarum Scriptores 3, ed. Adrianus Rauch (1794) S. 407 f.; Rudolf Kink, Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien 1,2 (Wien 1854) S. 31 f., dazu Paul Uiblein, Die österreichischen Landesfürsten und die Wiener Universität im Mittelalter MIÖG 72 (1964) S. 382–408, hier S. 395. 25 Zitat nach dem Gründungsbericht des Gründungsrektors, in: Acta universitatis Heidelbergensis 1,1: Die Rektorbücher der Universität Heidelberg 1,1, hg. v. Jürgen Miethke, bearb. v. Heiner Lutzmann u. Hermann Weisert (1986) Nr. 72, S. 146–148, hier Zl. 31: largis stipendiis dotatus. 26 Gerhard Ritter, Die Heidelberger Universität. Ein Stück deutscher Geschichte 1: Das Mittelalter (1936, Neudruck 1986) S. 131–153; Hermann Brunn, Wirtschaftsgeschichte der Universität Heidelberg von 1558 bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, Phil. Diss. Heidelberg (masch.) 1950, S. 9–20, 112–117; Gerhard Merkel, Wirtschaftsgeschichte der Universität Heidelberg (Veröff. d. Komm. f. gesch. Landeskunde in Baden-Württemberg, B 73, 1973) S. 1–4, 153–173. 27 So die fürstliche Gründungsurkunde in: Urkundenbuch der Universität Leipzig 1409–1555, hg. v. Bruno Stübel (Codex diplomaticus Saxoniae regiae, 119, 1879) nr. 2 S. 3 f., dazu zuletzt etwa Siegfried Hoyer, Die scholastische Universität bis 1480, in: Alma mater Lipsiensis, Geschichte der Karl-Marx-Universität Leipzig, hg. v. Lothar Rathmann (1984) S. 9–32, bes. S. 15.
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Ausreichend aber waren auf die Dauer alle diese Zuwendungen nicht. Immer und immer | wieder erwies sich die Finanzstruktur der 272 werdenden Territorien als zu schwach entwickelt, die Einkünfte der Fürsten als zu knapp gegenüber den ständig wachsenden Erfordernissen einer „standesgemäßen“ Lebensführung und den Kosten einer effizienten Herrschaft im Frieden – und vor allem im Krieg, als daß die unmittelbare Einbeziehung der Universität in die „Staatsaufgaben“ damals schon eine echte Chance gehabt hätte. Einzig und allein die großen Städte, wie Bologna und Florenz, später auch Köln, Erfurt, Löwen oder – in Grenzen – Basel, vermochten überhaupt die Summen aufzubringen, die nötig waren. Da lag es auch im Spätmittelalter noch nahe, auf ein älteres Modell der Finanzierung zurückzugreifen, auf die Finanzierung aus Kirchenvermögen, die ohnedies seit dem 13. Jahrhundert traditionell war. Zwei Möglichkeiten gab es grundsätzlich, diese Chancen auszunutzen, beide wurden beschritten. Entweder konnte man den einzelnen Scholaren oder Magister mit einer oder mehreren Pfründen ausstatten, die ihm ein Studieren oder Dozieren ermöglichten. Die Schwierigkeit dieser Konstruktion war und blieb, daß die persönliche Beziehung des Pfründners zu einer Pfründe grundsätzlich den Vorrang hatte vor allen anderen Fragen. D.h., auch wenn das Verhältnis des Pfründners zur Universität sich änderte, wenn der Begünstigte die Universität verließ oder sich auf seine Pfründen zur Ruhe setzte, konnte sein Nachfolger an der Universität nicht mit denselben Mitteln versorgt werden, solange der Ausgeschiedene auf diese Pfründen nicht ausdrücklich verzichtete. Und wenn der Pfründner starb, kam es auf die Kollationsberechtigten an, ob die Pfründe wieder Universitätszwecken dienen würde. Die Förderung kam also unmittelbar zunächst nur dem Pfründner zugute, dagegen der Universität nur so lange, als der Pfründner an ihr studierte oder lehrte. Eine unmittelbare Zweckbestimmung, etwa die Auflage, auf Grund einer bestimmten Pfründe Unterricht erteilen zu müssen, ließ sich rechtlich in diesem Modell einer Klerikerversorgung für kirchliche Ämter nur sehr schwierig unterbringen und noch schwieriger auf Dauer durchsetzen, auch wenn das immer wieder versucht worden ist. Wenn darum dieses Modell auch für eine dauerhafte wirtschaftliche Sicherung von Universitäten nicht ohne weiteres geeignet war, so konnte es doch den Bedürfnissen der Hochschulen in gewissem Umfang angepaßt werden. Für den Pfründner behielt es freilich den angenehmen Nebeneffekt, ihm nicht nur für die Zeit seiner Zugehörigkeit
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zur Hochschule, sondern grundsätzlich ein Auskommen zu sichern. Die störende Residenzpflicht der Tradition, der gemäß der Pfründner am Orte seiner Pfründe auch leben sollte, ließ sich – zumindest für die Zeit ihres Aufenthaltes am studium – mit päpstlicher Hilfe hinweginterpretieren bzw. hinwegprivilegieren. Das sogenannte „Residenzprivileg“ blieb bis zum Ende des Mittelalters ein von den Universitäten schon in ihrer Gründungsphase bei der päpstlichen Kurie nachgesuchtes, oft, ja schließlich regelmäßig gewährtes und wichtiges Privileg, das einer dauerhaften Etablierung eines „Studiums generale“ höchst förderlich sein konnte28. Der andere Weg, Pfründen für die Universität einzusetzen, war 273 der der kirchenrechtlichen | Vermögensinkorporation entweder unmittelbar oder doch zumindest über das Patronatsrecht. Er machte die Universität wenigstens unabhängig von dem Wohlwollen der Kollatoren. Pfarreien, Stiftskanonikate und Kapellen sind so in fast allen Universitäten schon sehr bald Teil ihres ständigen Vermögens und auch Teil des Vermögens ihrer institutionellen Untergliederungen geworden. Die Universitäten konnten mit diesen Pfründeinkommen – nach Abzug der Kosten für den Vikar ergaben sich bisweilen ansehnliche Summen – entweder über ihr Präsentationsrecht bestimmte Magister versorgen oder diese Vermögenswerte in abstrakter Form zu einem Sondervermögen zusammenfassen. Die erste Form, die unmittelbare Versorgung ihrer Angehörigen, entsprach ohne Frage dem ursprünglichen Modell des ius patronatus oder ius praesentandi noch am ehesten, ist in dieser direkten Form aber nicht allzu häufig. Johannes Buridan, bereits Inhaber von mindestens zwei weiteren kirchlichen Benefizien, erhielt im August 1348 eine Kapelle in der Pfarrei Saint André des Arts in Paris vom Rektor unter Mitwirkung der drei höheren Fakultäten und der vier Artistennationen zugewiesen, als Universitätsbenefiz sozusagen, und er behielt diese Einkünfte offenbar auch bis zu seinem Tode, etwa zwölf Jahre später29. Auch als die Pfarrei von Laa dem Pariser Artistenmagister 28
Dies ist internationaler Standard, vgl. etwa auch Pearl Kibre, Scholarly Privileges in the Middle Ages. The Rights, Privileges and Immunities of Schools and Universities at Bologna, Padua, Paris and Oxford (Medieval Academy of America, Publications n° 72, 1961) hier s. S. 426 (Index s.v. „benefices“); knapp auch Klaus Wriedt, Kurie, Konzil und Landeskirche als Problem der deutschen Universitäten im Spätmittelalter, Kyrkohistorisk Arsskrift 77 (1977) S. 203–208, 205 f. 29 Detaillierte Nachweise bei Bernd Michael, Johannes Buridan. Studien zu seinem Leben und zur Rezeption seiner Theorien im Europa des späten Mittelalters, Phil. Diss. FU Berlin 1978 (1985) S. 221–230.
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Albert von Sachsen bei der ersten Gründung Wiens 1364 zugewiesen wurde30, folgte man in Wien offenbar diesem selben Modell. In Heidelberg hat man neben den weit entfernt liegenden Pfarreien von Lauda (im Bistum Würzburg) und Altdorf (im Bistum Eichstätt) seit 1395 nachweislich auch die Stadtpfarrkirche St. Peter der Universität inkorporiert31, und zumindest im letzten Fall war dann auch später festgelegt, der Pfründinhaber solle zumindest ein Bakkalar der Theologie sein. Eine neue Stufe wurde aber dort erreicht, wo man solche Pfründeinkünfte nicht unmittelbar einem bestimmten Universitätsangehörigen zuwandte, sondern dem abstrakteren Zweck der Universitätsförderung zudachte. Die Stiftungen von Kollegienhäusern folgen seit dem 13. Jahrhundert diesem Modell, von dem jedermann weiß, daß es in England als „College System“32 noch ein große Zukunft bis weit in die Neuzeit hinein haben sollte und in berühmten Fällen sogar bis heute erfolgreich gewesen ist. Weniger bekannt ist, daß in den deutschen Universitätsgründungen von der frühesten Gründung, Prag, angefangen, bis zu den späten Versuchen des 15. Jahrhunderts immer wieder die Zusammenfassung der Universitätspfründen in einem Universitätsstift erfolgt ist33: das „Collegium Carolinum“ in Prag (1378), das „Collegium ducale“ bei der zweiten Gründung Wiens (1384), das große | und das kleine Fürstenkolleg in Leipzig (1410), 274 das Heiliggeiststift in Heidelberg (1413), das St. Georgstift in Tübingen (1476) sind herausgegriffene Beispiele. Hier wurden in aller Regel aus bestehenden Kollegiatskirchen der Umgebung auf Antrag des Landesherrn bestimmte Pfründen der Universität zugewandt, die diese aber in der Regel nicht unmittelbar besetzte, sondern als Ausstattung in ein eigenes neu errichtetes Universitätsstift einbringt, in das ausschließlich Magister dieser Universität
30 Eva Obermayer-Marnach, Zur Gründungsgeschichte der Universität Wien, MIÖG 68 (1960) S. 434–458, hier S. 436 f.; Paul Uiblein, Beiträge zur Frühgeschichte der Universität Wien MIÖG 71 (1963) S. 284–310, hier S. 301. 31 Eike Wolgast, Die Universität Heidelberg 1386–1986 (1986) S. 7, vgl. S. 29. 32 Zusammenfassend Astrik L. Gabriel, The College System in the Fourteenth Century Universities, in: The Forward Movement of the 14th Century, ed. Francis Lee Utley (1961), auch selbständig (1962). Vgl. auch Alan B. Cobban, The Medieval Universities. Their Development and Organisation (1975) S. 122–159. 33 Peter Moraw, Zur Typologie, Chronologie und Geographie der Stiftskirche im deutschen Mittelalter, in: Untersuchungen zu Kloster und Stift (Veröff. d. MaxPlanck-Intituts f. Gesch. 68, 1980) S. 9–37, bes. S. 29 f.
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mit Lehrverpflichtungen aufgenommen wurden. Aus kirchenrechtlichen Gründen mußte der Papst solche Umwidmungen bestätigen34. Daher ist diese Errichtung von solchen Universitätsstiften in aller Regel durch Papsturkunden sehr gut belegt. Sie beeindrucken als eine hohe Leistung rechnerischer Abstraktion und juristischer Detailphantasie noch heute auch einen durch Steuerberatungskniffe bereits abgebrühten Betrachter. Das ganze Mittelalter hindurch hat kirchliches Vermögen immer wieder dazu gedient, weltliche Herrschaft zu stabilisieren, allen Protesten zum Trotz. Wenn also die Förderung der Universitäten keineswegs immer, ja sogar meistens nicht aufgrund originärer Entscheidungen der Kirche erfolgte, sondern die Kirche hier dem Zugriff der landesherrlichen Kirchenherrschaft offen lag, so ist das so ganz ungewöhnlich nicht. Hier hatte die Kirche und hier hatte das Mittelalter zumindestens das Empfinden, mit dem Bildungswesen genuin kirchliche Belange anzupacken. Das galt schon lange, bevor im 16. Jahrhundert die protestantischen Reichsstände ihre Universitäten aus säkularisiertem Klostergut ausstatteten. Natürlich war diese Konstellation der Kräfte keineswegs überall gleichmäßig oder auch nur ständig gleichbleibend ausgeprägt. Es gab durchaus verschiedene Akzentuierungen. Für Verschiebungen sorgte allein schon die allgemeine Entwicklung, die den werdenden Fürstenstaat der Frühen Neuzeit heraufführte. Die zunehmende Konzentration auf die Territorien begünstigte auch eine Territorialisierung der Kirche, die sich mehr und mehr als Landeskirche selber verstand und auch so genutzt wurde. Das wiederum begünstigte paternalistische Fürsorge und hemmungslose Ausnutzung in einem: die landesväterliche Fürsorge für die Universität und ihre Mitglieder geschah dabei durchaus auch im eigensten Interesse der Fürsten, auch wenn dieses zunächst sich ganz unmittelbar auf gelehrte Beratung in seinem Rat, auf die für die Vorbereitung von Abkommen, für die Entwirrung
34
Auch wo man ein neues Stift nicht errichtete, wie in dem an Stiften bereits reichen Köln, ließ man sich das Besetzungsrecht an den sog. „Pfründen der ersten Gnade“ (beneficia primae gratiae) vom Papst verbriefen, vgl. die Urkunde in: Quellen zur Geschichte der Stadt Köln 6, hg. v. Leonhard Ennen (1879, Neudruck 1970) Nr. 185, S. 282–286. Dazu Hermann Keussen, Die alte Universität Köln, Grundzüge ihrer Verfassung und Geschichte (1934) S. 21–29, 98 f., sowie Anna-Dorothee von den Brincken, Die Stadt Köln und ihre hohen Schulen, in: Stadt und Universität im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, hgg. v. Erich Maschke und Jürgen Sydow (Stadt in der Geschichte 3, 1977) S. 27–52, bes. S. 43 f.
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verwickelter Rechtsfragen und für diplomatische Geschäfte sehr nützlichen, ja geradezu unentbehrlichen Professoren richtete und keineswegs sogleich bereits auf die Studienabgänger, die Studenten, die in Deutschland erst seit der Mitte des 15. Jahrhunderts stärker in den Gesichtskreis der fürstlichen Politik traten, als auch die territoriale Verwaltung sich allmählich intensivierte35. Auch für die typischen Hofjuristen blieb im Spätmittelalter daher fast überall die Versorgung durch kirchliche Pfründen bestehen und war weitaus vorherrschend bis tief in das | 15. Jahrhundert hinein. 275 Diese Form der wirtschaftlichen Absicherung war auch für den Hofdienst noch lange das vorherrschende Karrieremuster. Auch hier wirkte die lange Tradition mit, die gelehrte Politikberatung und gelehrte Begleitung politischer Geschäfte den Hofklerikern zugewiesen hatte, als Universitäten noch gar nicht existierten. So ist es nicht erstaunlich, der Kirche weniger als aktivem Partner denn als passivem Reservoir des werdenden frühmodernen Staates zu begegnen. Im deutlich sich abzeichnenden Funktionswandel des Staates und der Kirche zugleich sind die Universitäten zunächst deutlich die Nutznießer. Diese strukturellen Veränderungen bringen auch allmählich eine Verschiebung des Bildes einer Normalkarriere an den Universitäten zuwege. Einmal allein im „Input“ des Personals, da die ständig und stetig wachsende Zahl von Universitätsbesuchern ein immer dichter werdendes Netz über Europa knüpft. Für die deutschen Hochschulen des späten 14. und des 15. Jahrhunderts können wir die quantitative Frage einigermaßen zuverlässig beantworten, weil sich – mit Ausnahme von Prag und Würzburg – von allen zwölf Universitäten dieses Raumes für jene Zeit die Matrikelbücher erhalten haben36. Bei starken Oszillationen im einzelnen zeigt sich doch eine relativ steil ansteigende Tendenz, die sich numerisch über den Großzeitraum des Jahrhunderts hin relativ konstant auf eine jährliche Wachstumsrate von etwa 1% bis zu 4%, im rechnerischen Durchschnitt von ca.
35 Das unterstreicht mit Recht energisch Dietmar Willoweit, Das juristische Studium in Heidelberg und die Lizentiaten der Juristenfakultät von 1386 bis 1436, in: Semper apertus, Festschrift 1, hg. v. Wilhelm Doerr (1985) S. 85–135, hier S. 120 ff. 36 Eine intensive Auswertung jetzt bei Rainer Christoph Schwinges, Deutsche Universitätsbesucher im 14. und 15. Jahrhundert. Studien zur Sozialgeschichte des Alten Reiches (Veröff. d. Inst. f. Europ. Geschichte Mainz 123 = Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches 6, 1986).
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1,75% ausmachen läßt. Das geschah über das gesamte Jahrhundert hin, was in Dekadensprüngen ein Wachstum von fast 20% bedeutet37. So vermehrten sich in Deutschland die Inskriptionen von insgesamt 4843 im letzten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts auf 27582 im letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts38, eine unglaubliche Steigerung, die in etwa auch in anderen europäischen Ländern vorausgesetzt werden darf und die um so erstaunlicher ist, als sie nicht etwa mit demographischer Expansion, sondern bestenfalls mit demographischer Stagnation, wenn nicht sogar mit einem Rückgang der Bevölkerungszahlen einhergeht. Nach den Grobschätzungen der Spezialisten lebten bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts in Deutschland ca. 14 bis 15 Millionen Menschen, bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts (nach Pest, Seuchen und Kriegskatastrophen) nur noch ca. 10 Millionen, bis dann zum Ende des 15. Jahrhunderts die Zahlen ganz allmählich wieder ansteigen39. Das stetige und erhebliche Wachstum der Universitätsbesucher ist also geradezu im Gegensatz zum allgemeinen Trend und in seiner Umkehrung erfolgt. Diese grobe „Rechnung“ mag schon genügen, um die Probleme anzudeuten, die dem herkömmlichen System aus dieser Studentenund Universitätenschwemme erwuchsen. Die kirchlichen Pfründen konnte man nicht ohne weiteres vermehren, zumal da auch die wachsende monetäre Inflation im späten 15. Jahrhundert die festen Einkommen aus Pfründenvermögen empfindlich schmälerte. Eine „Entklerikalisierung“ der Universitäten ist die Folge dergestalt, daß die Studenten weniger und weniger während ihres Studiums schon 276 von einer | Pfründe leben konnten, vielmehr erst nach dessen Abschluß die Chance erhielten, mittels einer kirchlichen Pfründe ihr Einkommen zu sichern. Ein einziges Zahlenbeispiel aus Heidelberg sei hier gestattet: zwischen 1409 und 1419 wird fast zur Hälfte (48,1%), 1449–1463 nur noch ein gutes Viertel (26,3%), 1471–1485 dann nur noch etwa ein Siebtel (14,65%) und 1505–1515 nur noch ein Vierzehntel (7,6%) der Studenten zum Zeitpunkt ihrer Immatrikulation
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R. Ch. Schwinges, Universitätsbesucher, S. 32, bes. Fig. 1. Ebd. 39 Diese Zahlen nach J. C. Russell, Population in Europe 500–1500, in: The Fontana Economic History of Europe 2: The middle ages, ed. Carlo Mario Cipolla (1972 u.ö.) S. 25–70. Vgl. auch Erich Meuthen, Das 15. Jahrhundert (Oldenbourgs Grundriß der Geschichte 9, 1981) S. 3 f. 38
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als clerici bezeichnet40. Dabei waren in Heidelberg die absoluten Zahlen der Immatrikulation im 15. Jahrhundert pro Jahr einigermaßen konstant geblieben: 1396–1405 ließen sich 1319, 1496–1505 dann 1306 Studenten einschreiben41. Der „Schwund“ an clerici ist hier also ganz real. Aber das Bild täuscht insofern doch etwas, als Studenten ihre geistlichen Weihen immer zahlreicher erst nach der Immatrikulation, nicht vorher, nahmen und die Pfründen nicht zur Universität mitbrachten, sondern sie erst nach ihrem Studium erhielten. Man könnte meinen, daß sie damit den Reformforderungen der großen Konzilien des 15. Jahrhunderts „folgten“, die nicht müde wurden, für Universitätsgraduierte eine bessere Versorgung zu postulieren42. Die Wahrheit sieht bitterer aus. Daß es den Konzilien gelang, den Zugriff der Kurie und des Papstes auf die lokalen Pfründen zurückzudämmen, bedeutet zugleich auch, daß das System der Supplikenrotuli seit der Jahrhundertmitte nicht mehr funktionierte43. Lohnte es sich einfach nicht mehr, rechtzeitig die Weihen zu nehmen? Es gab schließlich auch Alternativen. Die Kirche konnte nicht mehr alle oder doch die überwiegende Zahl von Universitätsbesuchern aufnehmen. Der Staat, der sich damals gerade formierte, fand aber andere Möglichkeiten, sich ihres Dienstes zu vergewissern. Das Kirchenvermögen hat dabei in Deutschland noch lange eine wichtige Quelle für die Prämien auf erfolgreiche Studien für eine große Zahl von Studenten beider Konfessionen abgegeben.
40 G. Ritter (wie Anm. 26) S. 73. Ritter stützt sich hier auf die Ergebnisse seiner Schülerin Berta Scharnke, Über Zusammensetzung und soziale Verhältnisse der Heidelberger Universitätsangehörigen im 15. Jahrhundert, Phil. Diss. Heidelberg (masch.) 1921. 41 Die Zahlen nach R. Ch. Schwinges, Universitätsbesucher S. 73–83, zur „Entklerikalisierung“ vgl. überhaupt die Erörterungen ebenda, S. 408 ff. u. S. 494. 42 Genauer vgl. Klaus Wriedt, Die deutschen Universitäten in den Auseinandersetzungen des Schismas und der Reformkonzile (1378–1449). Kirchenpolitische Ziele und korporative Interessen, Teil I: Vom Ausbruch des Schismas bis zu den Anfängen des Konzils von Basel (1378–1432) Phil. Habil.-Schr. Kiel 1972 (masch.) (mehr nicht ersch.) S. 98 ff., vgl. etwa auch Robert Norman Swanson, Universities, Academics and the Great Schism (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought, III 12, 1979) S. 197–199. 43 Guy Fitch Lytle, Patronage Patterns and Oxford Colleges c. 1300–1530, in: The University in Society 1, ed. Lawrence Stone (1974) S. 111–149. Vgl. auch die Ergebnisse der Auszählung päpstlicher Pfründenverleihungen an deutsche Empfängergruppe bei Hermann Diener, Die Hohen Schulen, ihre Lehrer und Schüler des 14. und 15. Jahrhunderts, in: Schulen und Studium (wie Anm. 5) S. 351–373, bes. S. 370–373.
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Hier ist nur ein kleiner Ausschnitt des Verhältnisses von Kirche und Universität behandelt worden. Dabei sind auch wichtige Fragen nicht zur Sprache gekommen. Wenn es gelungen sein sollte, einige der Probleme mittelalterlicher Universitäten und ihrer Benutzer in der Beziehung zur Kirche zu präzisieren, so wäre der Zweck dieses kurzen Berichtes gleichwohl erfüllt.
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DIE WELT DER PROFESSOREN UND STUDENTEN AN DER WENDE VOM MITTELALTER ZUR NEUZEIT*
Es war wohl etwas tollkühn, seinerzeit für den heutigen Abend einen Vortrag über das gestellte Thema zu übernehmen. Allzu weit ist das Feld, allzu umfassend der Begriff einer „Welt“, als daß ein kurzer Bericht der Aufgabe gerecht zu werden vermöchte. Wenn ich mich daher zuerst dem traurigen Brauch auch hier füge, die Erwartungen meiner Zuhörer energisch herunterzuschrauben, so geschieht das nicht in gedankenlosem Anschluß an eine – zugegeben – nicht sehr erfreuliche Tradition, sondern aus echter Not: eine Auswahl muß ich treffen, wenn ich die Welt der spätmittelalterlichen Universitäten heute etwas beleuchten will. Ich will mich aber dabei darum bemühen, mich stärker auf jene Aspekte zu konzentrieren, die für die Universitäten Deutschlands und Europas spezifisch sind, und mich weitgehend der Aufgabe entschlagen, auch noch die „Welt“ dieser Zeit ganz allgemein zu beschreiben, die doch ohne Zweifel auch einen gewichtigen, oft sicherlich sogar den gewichtigeren Teil der Welt der Universitäten ausgemacht hat. Dabei möchte ich auch in dieser Beschränkung keine Vollständigkeit beanspruchen und wegen des gewählten allgemeinen Beobachtungsfeldes Fragen der individuellen geistesgeschichtlichen Situation einzelner Personen oder Universitäten nicht in den Vordergrund rücken, so sehr auch solche Fragen damals in Form hitziger Debatten und öffentlicher Kämpfe, wie geheimer Intrigen ausgetragen wurden, und so sehr sie auch ohne jeden Zweifel für die Beteiligten wichtiger, weil hautnäher gewesen sein können als das, was ich Ihnen hier vorzustellen versuche, die spezifischen Rahmenbedingungen universitären Lebens im späteren Mittelalter. Ein hochgeachteter Kollege der mediävistischen Zunft hat mir einmal gesagt, er wolle sich mit Universitätsgeschichte nicht beschäftigen, da er tagtäglich schon genug mit der Universität zu tun habe. Ein * Am Text des Vortrages vom 24.10.1985 wurde nichts verändert. Des 600jährigen Jubiläums Heidelbergs wegen habe ich Heidelberger Exempel bevorzugt herangezogen.
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verständlicher Standpunkt, in der Tat, der uns zudem auf eine wesentliche Gefahr jeder historischen Annäherung an mittelalterliche Universitäten und Scholaren aufmerksam machen kann: es wäre wirklich nicht nur langweilig, sondern überflüssig, sich mit der Geschichte der Hochschulen zu beschäftigen, würde man dort nur erneut auch in den fernen Zeiten auf das heute tagtäglich Vertraute stoßen, hätten wir nicht, selbst bei scheinbarer Identität der Formen einen Wandel der Funktionen vorauszusetzen, den wir vielleicht nicht voll zu bestimmen vermögen, aber doch registrieren müssen, wollen wir unsere historische Aufgabe nicht verfehlen. So soll es heute Abend auch mehr darum gehen, was uns fremd geworden ist, um das, was anders 12 war, als um das vertraute Gesicht unserer alltäglichen Erfahrung. |
I Die erfolgreiche Konsolidierung der klassischen europäischen Universität, die während des 13. Jahrhunderts gelang1, hatte im 14. und 15. Jahrhundert insofern eine Fortsetzung gefunden, als die zahlreichen Neugründungen2 sich natürlich an den bewährten Mustern ori1
Vgl. dazu die klassischen allgemeinen Darstellungen von H. Denifle, Die Entstehung der Universitäten des Mittelalters bis 1400, Berlin 1885 (ND Graz 1956); H. Rashdall, The Universities of Europe in the Middle Ages (11895), A new edition edd. F. M. Powicke und A. B. Emden, 1–3, Oxford 1936 (u.ö.). Einen berühmten Forschungsüberblick bis 1955 gab S. Stelling Michaud, L’histoire des universités au moyen âge et à la renaissance, in: XI. Congrès International des Sciences Historiques, Stockholm 1960, Rapports 1 S. 97–143, unwesentlich ergänzt auch in: G. Arnaldi (ed.), Le origini dell’Università, Bologna 1974, S. 173–217. Für Bologna vgl. etwa W. Steffen, Die studentische Autonomie im mittelalterlichen Bologna (Geist und Werk der Zeiten 58), Bern-Frankfurt/Main-Las Vegas 1981. Für Oxford zuletzt R. W. Southern, From Schools to University, in: The History of the University of Oxford, ed. by T. H. Aston, 1: The Early Oxford Schools, ed. J. I. Catto, Oxford 1984, S. 1–36. Für Paris J. Verger, A propos de la naissance de l’université de Paris: contexte social, enjeu politique, portée intellectuelle, in: Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters, hg. von J. Fried (VortrrForsch 30), Sigmaringen 1986, S. 69–96. Vgl. auch S. C. Ferruolo, The Origins of University, The Schools of Paris and their Critics 1100–1215, Stanford, California 1985. 2 Für das 14. Jh. vgl. den Essay von A. Borst, Krise und Reform der Universitäten im frühen 14. Jh., in: Mediaevalia Bohemica 3 (1970) S. 123–147 (auch in: KonstanzBllHochschulfragen 30, 1971, S. 47–62); für das 15. Jh. die weitgespannte Übersicht von E. Schubert, Motive und Probleme deutscher Universitätsgründungen des 15 Jhs., in: Beiträge zu Problemen deutscher Universitätsgründungen der frühen Neuzeit, hg. von P. Baumgart und N. Hammerstein (WolfenbüttelForsch 4), Nendeln 1978, S. 13–74.
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entierten, bis in die Formulierungen der Gründungsprogramme hinein immer wieder auf die alten, und zwar immer dieselben Vorbilder zurückverwiesen. Um bei deutschen Beispielen zu bleiben: bereits anläßlich der ersten Gründung einer Universität auf dem Boden des deutschen Reiches nördlich der Alpen, schon anläßlich der Gründung Prags 1348 sagt der böhmische Chronist Benesch von Weitmühl, Karl IV. habe gewollt, daß das Studium Pragense ad modum et consuetudinem studii Parisiensis, in quo olim ipse rex in puerilibus constitutus annis studuerat, in omnibus et per omnia dirigeretur et regeretur 3. Das freilich hinderte Karl nicht daran, sich bei der Formulierung seines Stiftungsbriefes bis in einzelne Wendungen hinein sehr eng an die kaiserliche Gründungsurkunde für Neapel zu halten, die Friedrich II. 1224 erlassen hatte4, und ebenso wenig hat es die Ausbildung jener einzigartigen Verfassung in Prag unmöglich gemacht, die | ersichtlich aus 13 einem Kompromiß zwischen den Traditionen der Pariser Universität der Artistenmagister einerseits und denen der Bologneser Studentenuniversitäten andererseits erwachsen ist5. Auch Heidelbergs Gründung 1385/866 ist ein belegkräftiges Beispiel. Hier legt das Privileg Papst
3 Chronicon Benesii de Weitmil (Kronika Bene“e z Weitmile), ed. J. Emler, (Fontes rerum Bohemicarum 4), Prag 1884, S. 459–548, hier S. 517b, zitiert bereits von H. Denifle, Entstehung (wie Anm. 1) S. 588. 4 Die Gründungsurkunde für Prag jetzt ed. M. Kühn, in: MGH Const. 8 (1980) Nr. 568 S. 580 f. Dazu etwa R. Schmidt, Begründung und Bestätigung der Universität Prag durch Karl IV. und die kaiserliche Privilegierung von Generalstudien, in: BllDtldG 114 (1978) S. 695–719, dazu vgl. aber J. Miethke, in: QForschItalArchBibl 60 (1980) S. 626. Auch die Auffassung von O. G. Oexle, Alteuropäische Voraussetzungen des Bildungsbürgertums: Universität, Gelehrte und Studierte, in: Bildungsbürgertum im 19. Jh., 1, hg. von W. Conze und J. Kocka (Industrielle Welt 38), Stuttgart 1985, S. 29–78, hier S. 31 f. und 49 (der für Neapel völlig auf den Begriff „Universität“ verzichten will, weil genossenschaftliche Elemente dort fehlten) kann ich mir nicht zu eigen machen, da wir über die innere Organisation der Gründung Friedrichs II. allzu wenig wissen. 5 P. Moraw, Die Juristenuniversität in Prag (1372–1419), verfassungs- und sozialgeschichtlich betrachtet, in: Schulen und Studium (wie Anm. 1) S. 439–486. 6 Vgl. dazu im einzelnen G. Ritter, Die Heidelberger Universität im Mittelalter (1386–1508). Ein Stück deutscher Geschichte, Heidelberg (11936) ND 1986, besonders S. 36–68. P. Classen, in P. Classen und E. Wolgast, Kleine Geschichte der Universität Heidelberg, Berlin-Heidelberg-New York 1983, S. 1–13; E. Wolgast, Die Kurpfälzische Universität 1386–1803, in: Semper apertus. 600 Jahre Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg 1386–1986, hg. von W. Doerr, 1, Berlin-Heidelberg-New York-Tokyo 1985, S. 1–70, besonders S. 1–13, jetzt selbständig mit Anmerkungen und Randtiteln als: E. Wolgast, Die Universität Heidelberg 1386–1986, Heidelberg 1986, besonders S. 1–16; J. Miethke, Universität-gründung an der Wende zum 15. Jh., Heidelberg im Zeitalter des Schismas und des Konziliarismus, in: Geschichte der Universität Heidelberg (Studium Generale WS 1985/86), Heidelberg 1986,
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Urbans VI. im Anschluß offenbar an die zuvor eingereichte Supplik des Pfalzgrafen fest, das neue „Studium generale“ solle ad instar Parisiensis eingerichtet werden, und auch Ruprecht I. selbst bestimmt in seinem Stiftungsbrief, ut universitas studii Heidelbergensis regatur, disponatur et reguletur modis et maneriebus in universitate Parisiensi solitis observari ac ut Parisiensis studii ut pedissequa utinam digna modis convenientibus gressus imitetur 7. In der Konsequenz dieser Entscheidung wird die pfalzgräfliche Stiftung mit Privilegien bedacht, die sie damals jedenfalls noch nicht oder auch in der Zukunft nie in die Wirklichkeit übersetzt hat: von den vier damals gnädig gewährten Fakultäten erhielt die neue Universität zunächst nur drei, die medizinische wurde erst später nachgeliefert8, wie auch das römische Recht erst Mitte des 15. Jahrhunderts auf Dauer installiert werden konnte9. Aber wenn das vielleicht noch als weitsichtiger Vorgriff interpretiert werden kann, die vier vorgesehe14 nen Nationen zur Gliederung der Stu | denten10 hat Heidelberg ebenso
S. 9–33; G. Seebass, Heidelberg, Universitätsgründung im Spannungsfeld des Spätmittelalters, in: Ruperto Carola 74 (1986) S. 15–21. 7 Urkundenbuch der Universität Heidelberg, hg. von E. Winkelmann, Heidelberg 1886, 1, Nr. 4 S. 5–6, Zitat S. 5 Zeilen 11–14; vgl. ebenda Nr. 5 S. 6 f., hier S. 7 Zeilen 21–26 (u.ö.); Marsilius von Inghen kommt noch in seinem ersten Rektorat ausdrücklich darauf zurück, vgl. Acta universitatis Heidelbergensis 1,1, ed. J. Miethke, bearb. v. H. Lutzmann und H. Weisert, Heidelberg 1986, Nr. 84, Zeilen 10–12 (= Winkelmann, 1, Nr. 17 S. 16, Zeilen 39–40). Zu Marsilius zuletzt R. Specht, Marsilius von Inghen. Über die Bedeutung des ersten Rektors der Universität Heidelberg, in: Ruperto Carola 75 (1986) S. 17–22; J. Miethke, Marsilius von Inghen als Rektor der Universität Heidelberg, in: Ruperto Carola 76 (1987). 8 Als die Universität ihre von den Pfalzgrafen und der Stadt Heidelberg besiegelten Privilegien im Februar 1388 in einer großen Truhe hinter dem Altar der Heiliggeistkirche hinterlegte, erhielten alle Fakultäten einen Schlüssel dieser Truhe. Verum est so fährt Marsilius von Inghen in seiner Niederschrift im Rektorenbuch fort (Universitätsarchiv Heidelberg I – 165 A/1, fol. 41 r), quia nullus erat medicus adhuc in studio receptus, clavis pro facultate medicine deputata remansit apud rectorem, in: Acta universitatis 1,1 (wie Anm. 7) Nr. 103 S. 172. Nach dem ausdrücklichen Zeugnis der Matrikel hat sich die Medizinische Fakultät erst 1390 gebildet, vgl. G. Toepke, Die Matrikel der Universität Heidelberg von 1386–1662, 1, Heidelberg 1884, S. 5 Anm. 2. 9 P. Moraw, Heidelberg: Universität, Hof und Stadt im ausgehenden Mittelalter, in: Studien zum städtischen Bildungswesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Bericht über die Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1978 bis 1981, hg. von B. Moeller, H. Patze und K. Stackmann (AbhhAkadGöttingen III 137), Göttingen 1983, S. 524–552, besonders S. 528–539. 10 Winkelmann (wie Anm. 7) 1, Nr. 4, hier S. 5, Zeilen 18 f. Zu den Nationen an den deutschen Universitäten des 14. und 15. Jahrhunderts sonst vgl. vor allem S. Schumann, Die nationes an den Universitäten Prag, Leipzig und Wien. Ein Beitrag zur älteren Universitätsgeschichte (Phil.-Diss. FU Berlin 1974); auch A. Seifert (wie Anm. 13) S. 141 ff.
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wenig jemals gebraucht, wie die aus Bürgern und Scholaren gemischte Mietpreistaxierungskommission11, die der Kurfürst damals einrichten wollte. Auch bei der Wahl des Rektors hielt man sich zunächst auf pfalzgräfliche Anordnung geradezu ängstlich an die Pariser Usancen und war erst auf heftiges Drängen der Theologen und Juristen, insbesondere des Prager Magisters Konrad von Soest bereit, nach dem Beispiel der Universität Prag die höheren Fakultäten zunächst mitstimmen zu lassen, und schließlich ihnen auch das Rektorat zuzugestehen12. In ähnlicher Weise beriefen sich fast alle Universitäten des 15. Jahrhunderts mit Vorliebe auf die gleichsam kanonischen Muster, d.h. auf Paris und allenfalls auf Bologna zusätzlich, auch wenn sie in Wahrheit viel intensiver von den Erfahrungen in Prag, Heidelberg oder Erfurt, Köln oder Leipzig abhängig sind, deren Statuten sie sich denn auch über ganze Passagen zu eigen machten13. Die europäische Universitätslandschaft des späteren Mittelalters hat sich dennoch von der des 13. Jahrhunderts tiefgreifender unterschieden, als nur durch die Tatsache, daß es zu der späteren Zeit quantitativ mehr Universitäten gab als früher. Es traten auch qualitative Änderungen ein, ohne daß dies den Angehörigen dieser Universitäten des 14. und 15. Jahrhunderts immer klar bewußt gewesen wäre: man glaubte sich in einer ungebrochenen Traditionslinie, die man ganz massiv auszog, ohne auf die Wandlungen zu achten, die inzwischen eingetreten waren. Es ist daher methodisch höchst gefährlich, in der Verfassungsund Sozialgeschichte der Universitäten ohne Unterschied Erklärungsmuster verschiedener Zeitstellung neben- und ineinander zu verweben, die späteren Zustände darf man, ihrer eigenen Behauptung zum Trotz, keineswegs auf die frühere Zeit zurückprojizieren, und umgekehrt können auch die früheren Zustände nicht ohne weiteres mit den späteren Verhältnissen vor allem ihrer Funktion nach gleichgesetzt werden.
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Winkelmann (wie Anm. 7) l, Nr. 6 S. 7 f. Zu Einzelheiten vgl. Winkelmann (wie Anm. 7) 1, Nr. 17 und 31 S. 16 f. und 53–55 (künftig: Acta universitatis 1, Nr. 81, 84, usw.). 13 Zu den Statutenfiliationen exemplarisch A. Seifert, Statuten- und Verfassungsgeschichte der Universität Ingolstadt (1472–1586) (Ludovica-Maximilianea, Universität Ingolstadt-Landshut-München, Forschungen 1), Berlin 1971, besonders S. 40–74. 12
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Diese Erkenntnis scheint trivial und für ein aus dem Historismus herkommendes Methodenbewußtsein eine überflüssige Mahnung, ich glaube aber, daß wir uns doch ausdrücklich an sie erinnern sollten, zumal dann, wenn wir nach den sozialgeschichtlichen Rahmenbedingungen universitären Lebens am Ende des Mittelalters fragen. Die Schwierigkeit ist hier freilich weniger, daß wir uns durch ein allzu festes Bild von der Frühzeit der europäischen Universitäten Erkenntnismöglichkeiten für die Spätphase rauben, denn unsere Quellen beginnen eigentlich erst voll im 15. Jahrhundert zu sprechen, viel eher ist es ein Problem, daß wir allzu leicht die sich wandelnde Situation von 15 vorneherein als einheitlich und zementiert zu sehen bereit sind. | Die Vermehrung der Hochschulorte hatte bereits im 14. Jahrhundert zu einer oft beobachteten „Provinzialisierung“ und Territorialisierung der einzelnen Universitäten geführt, wenn auch keineswegs schlagartig und ohne Übergang. Noch der Pfalzgraf etwa hat 1386 energisch, um erneut ein Heidelberger Beispiel zu zitieren, an der Absicht festzuhalten versucht, die eigene Gründung zu beginnen non solum ad utilitatem et prosperitatem huiusmodi reipublicae ac incolarum terrarum sibi subiectarum, sed etiam aliarum partium vicinarum14, Ruprecht I. hat offenbar auch erwartet, es würden ex omnibus orbis finibus scolares ad ipsum (d. i. studium) venire15. In der Praxis war jedoch das räumliche Einzugsgebiet der einzelnen Hochschulen sehr bald schon relativ bescheiden16. Die Frequenzzahlen bei den kleineren Universitäten sprechen eine deutliche Sprache17 und auch die vorliegenden Untersuchungen 14
So Urban VI. in seinem Gründungsprivileg in der Narratio, die vielleicht die eingereichte Supplik wiedergibt: Winkelmann (wie Anm. 7) 1, Nr. 2 S. 3–4, Zitat S. 3, Zeilen 21–23. 15 Winkelmann (wie Anm. 7) 1, Nr. 7 S. 9, Zitat Zeilen 7 f. 16 Etwa J. Verger, Le recrutement géographique des universités françaises au début du XVe siècle d’après les suppliques de 1403, in: MélArchéolHistMoyenAge et tempes modernes 82,2 (1970) S. 855–902. 17 Klassisch die Untersuchung von F. Eulenberg, Die Frequenz der deutschen Universitäten von ihrer Gründung bis zur Gegenwart (AbhhSächsAkad 1904), exemplarisch R. Abe, Die Frequenz der Universität Erfurt im Mittelalter (1392–1521), und R. Abe, Die frequenzielle Bedeutung der Erfurter Universität im Rahmen des mittelalterlichen deutschen Hochschulwesens (1392–1521), beide in: BeitrrGUnivErfurt 1 (21962) S. 7–69 und 2 (1957) S. 29–57. Methodisch wegweisend R. C. Schwinges, Deutsche Universitätsbesucher im späten Mittelalter. Methoden und Probleme ihrer Erforschung, in: Politische Ordnung und soziale Kräfte im Alten Reich, hg. von H. Weber (VeröffInstEurG, Abt. Universalgesch., Beih. 8 = Beitrr. z. Verfassungsgeschichte des Alten Reiches 2), Wiesbaden 1980, S. 37–51. Noch nicht zugänglich war mir (mit Ausnahme der Heidelberg betreffenden Seiten) R. C. Schwinges,
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haben für die Universitäten des 15. Jahrhunderts18 eine zunehmende Einengung des Rekrutierungsgebietes zumindest für die Artistenstudenten, und damit für das Gros der Universitätsbesucher ergeben. Das bedeutet nun nicht, daß schon die spätmittelalterliche Universität in Analogie zur deutschen Hochschule der Gegenwart zu sehen wäre, die für die große Mehrheit ihrer Studenten kaum über einen Einzugsradius von etwa 60 km, der Pendelgrenze also, hinauszustrahlen vermag19. Eine solche Analogiebildung verbietet sich allein daher, weil für die damaligen Verkehrsverhältnisse ein wirklich entsprechender Radius dann bei etwa 5 bis 12 km liegen müßte, und so eng hätte keine einzige Hochschule, auch die kleinste und gerade die kleinste nicht, ihren Radius gezogen. Es ist aber ganz unverkennbar, daß sich die Universitäten schon des 15. Jahrhun | derts immer stärker 16 zu einer Landesuniversität ausprägen, immer weniger ihre ursprünglich und traditionell übergreifenden Aufgaben anders als rein verbal festhalten können und zunehmend seit der Mitte des 15. Jahrhunderts vor allem dem Territorium dienen, dem sie zugehören. Diese Entwicklung ist ganz allgemein zu beobachten und international gültig, sie führt in Paris zu einem Zurücktreten des bischöflichen Kanzlers gegenüber dem immer wichtiger werdenden königlichen Hof 20. Sie läßt auch in England den königlichen Einfluß
Deutsche Universitätsbesucher im 14. und 15. Jahrhundert Studien zur Sozialgeschichte des Alten Reiches (Phil.-Habil.-Schrift, masch., Gießen 1984), jetzt erschienen: Wiesbaden 1986. 18 Die Studien zum Rekrutierungsfeld einzelner Universitäten sind zahlreich. Vgl. nur jüngst z.B. J. Kerkhoff, Einzugsgebiete der Universitäten Heidelberg, Freiburg und Tübingen im Wintersemester 1845/46 und im Wintersemester 1960/61, in: Historischer Atlas von Baden-Württemberg IX 7, Stuttgart 1978, S. 1–27 (wo auch zum 15. Jh. Kartenskizzen und Analysen sich finden). Einen Ausnahmefall untersuchte H. De Ridder-Symoens, Les origines géographique et sociale des étudiants de la nation Germanique de l’ancienne université d’Orléans (1444–1546): aperçu général, in: The Universities in the late Middle Ages (wie Anm. 32), S. 455–474. 19 Die statistischen Zahlen für Heidelberg (wo immerhin derzeit fast 6% Ausländer studieren) sind bezeichnend: Von 27 950 Studenten im Wintersemester 1985/86 kamen 1622 aus dem Ausland (d.h. ca. 5,8%), 16 840 hatten in Baden-Württemberg (ca. 60,3%), 2 590 in Rheinland-Pfalz (ca. 9,2%), 2 339 in Hessen (ca. 8,4%), 1851 in Nordrhein-Westfalen (ca. 6,6%), 922 in Niedersachsen (ca. 3,3%), 880 in Bayern (ca. 3,2%), usw. ihren 1. Wohnsitz (Zahlen nach: Universität Heidelberg, Studentenstatistik Wintersemester 1985/86, Stand 15.11.1985, S. 11). 20 J. Verger, Les universités françaises au XVe siècle: crise et tentative de réforme, in: CahHist 21 (1976) S. 43–66; J. Favier, Paris au XVe siècle (1380–1500) (Nouvelle Histoire de Paris 4), Paris 1974, besonders S. 68–79, 198–235. Zur Vorgeschichte in Paris (1419–1450) vgl. ausführlicher J. Verger, The University of Paris at the End of the Hundred Years’ War, in: Universities in Politics. Case Studies from the
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sich ungemein verstärken21. In Italien führt sie zu einem rapiden Rückgang der Entscheidungsbefugnisse der Studentenuniversitäten über die Anstellung von Professoren gegenüber den immer deutlicher in den Vordergrund rückenden städtischen Instanzen, die ja im 15. Jahrhundert bald ausschließlich die Instanzen der Signorie, und nicht mehr der Kommune sind22. In Deutschland schließlich vermag der Landesherr – und die Stadtregierung in den städtischen Universitäten Köln, Erfurt, Leipzig oder Basel – die ohnedies immer etwas prekäre Unabhängigkeit der Universitäten mehr und mehr einzuschränken23. In Heidelberg entscheidet etwa den Wegestreit nicht die Universität selbst, vielmehr erzwingt der Landesherr die Zulassung der via antiqua nach langen fruchtlosen Debatten der magistri durch ein fürstliches fait accompli, durch eine „Reform“, vermittels einer kurfürstlichen Weisung Friedrichs I. („des Siegreichen“), im Jahre 145224. In demselben Jahr 1452 war auch die Universität Paris durch den Kardinallegaten Guilleaume d’Estouteville einer restaurativen Reform unterzogen worden, die hauptsächlich die Lehrmethoden und Unterrichtsusancen Late Middle Ages and Early Modern Period, edd. J. W. Baldwin und R. Goldthwaite (The John Hopkins Symposia in Comparative History 2), Baltimore and London 1972, S. 47–78. 21 Etwa: The University of Oxford, edd. H. E. Salter und M. D. Lobel (Victoria History of the County of Oxford 3), London 1954; vgl. auch demnächst den 2. Band des Sammelwerks The History of the University of Oxford, ed. T. H. Aston, Oxford 1987? 22 Vgl. etwa M. Bellomo, Saggio sull’ università nell’ età del diritto comune, Napoli 1979, S. 193 ff.; Steffen (wie Anm. 1) bes. S. 65 ff. 23 Vgl. z.B. die neuere Fallstudie von Moraw, Heidelberg (wie Anm. 9), oder A. D. von den Brincken, Die Stadt Köln und ihre Hohen Schulen, in: Stadt und Universität im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, hg. von E. Maschke und J. Sydow (Stadt in der Geschichte 3), Sigmaringen 1977, S. 27–52. Überspitzt M. Borgolte, Die Rolle des Stifters bei der Gründung mittelalterlicher Universitäten, erörtert am Beispiel Freiburgs und Basels, in: BaslerZG 85 (1985) S. 85–117. 24 Dazu im einzelnen G. Ritter, Via antiqua und via moderna auf den deutschen Universitäten des 15. Jhs., SbbAkadHeidelberg 1922, 7 (ND Darmstadt 1963); Ritter, Universität (wie Anm. 6) S. 373–395; Wolgast, Kurpfälzische Universität (wie Anm. 6) S. 14 f; P. Classen, Libertas scolastica – Scholarenprivilegien – Akademische Freiheit im Mittelalter, in: P. Classen, Studium und Gesellschaft im Mittelalter, hg. von J. Fried (SchrrMGH 29), Stuttgart 1983, S. 238–292, hier S. 265 ff. Allgemein S. Swiezawski, Le problème de la via antiqua et la via moderna au XVe siècle et ses fondements idéologiques, in: Antiqui und moderni. Traditionsbewußtsein und Fortschrittsbewußtsein im späten Mittelalter, hg. von A. Zimmermann (MiscMediaevalia 9), Berlin-New York 1974, S. 484–493, sowie N. W. Gilbert, Ockham, Wycliff and the via moderna, ebenda S. 86–125; vgl. auch H. A. Obermann, Werden und Wertung der Reformation. Vom Wegestreit zum Glaubenskampf, Tübingen 1977, S. 41 ff.; J. H. Overfield, Humanism and Scholasticism in Late Medieval Germany, Princeton N.J. 1984, S. 49–60.
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betraf; die Initiative zu diesem Reformwerk war | aber keineswegs 17 etwa von der Kurie, und ebenfalls nicht von den Organen der Universität ausgegangen, sondern vom Hof König Karls VII. veranlaßt, der durch eigene Kommissare auch die Durchführung überwachte25. Die Universitäten gewöhnten sich allgemein an solch fürsorglichen Paternalismus der Landesherren, je länger desto lieber, und damit prägte sich die Haltung der Korporation der Universitätslehrer immer deutlicher zu einem strikten Traditionalismus und fast ängstlichem Beharren in den hergebrachten Formen aus. Die Professorengremien übten vor allem eine retardierende Funktion in Fragen von Neuerungen in der Lehre aus, Anpassungen an neue Entwicklungen mußten ihnen allzu häufig von außen abgezwungen werden. Der Humanismus an den deutschen Universitäten ist ein bezeichnendes Beispiel26. Wie weit diese Versteifung und Verfestigung im Institutionellen mit jener Verknöcherung der Schulphilosophie, jener Zementierung der viae an den verschiedenen Hochschulen zusammenhängt, ist eine offene Frage. Insgesamt gewinnt man bei aller Betriebsamkeit im einzelnen das Bild eines zunehmenden Stockens, einer sich verstärkenden Zähigkeit der Prozesse; auch die sozialgeschichtliche Entwicklung27 macht davon keine Ausnahme. Es ist bekannt, daß unsere Kenntnisse über die soziale Zusammensetzung der Studentenschaft an der spätmittelalterlichen Universität nicht allzu genau sind, stehen uns für weite Bereiche doch nur sehr unvollkommene Daten zur Verfügung. Unsere wichtigste einigermaßen kohärente Quelle für die Grobeinteilung der Personengruppen, die sich an einer Universität zusammenfanden, hinsichtlich ihrer sozialen Gliederung, sind und bleiben die Matrikel, die vornehmlich an den deutschen Universitäten geführt wurden und die in aller Regel uns erhalten blieben28. Sie hatten freilich nicht den Zweck
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Vgl. Anm. 20. Der Humanismus an deutschen Universitäten bedürfte einer umfassenden Aufarbeitung. Vgl. zuletzt J. H. Overfield, Humanism and Scholasticism (wie Anm. 24) passim. Vorwiegend auf das 16. Jh. konzentriert sich: Humanismus im Bildungswesen des 15. und 16. Jhs., hg. von W. Reinhard (DFG, KommHumanismusForsch 12), Weinheim 1984. 27 Vgl. P. Moraw, Zur Sozialgeschichte der deutschen Universität im späten Mittelalter, in: Gießen-UnivBll 8 (1975) S. 44–60. Für einen Teilaspekt auch J. Miethke, Die Studenten, in: Unterwegssein im Spätmittelalter, hg. von P. Moraw (ZHistForsch, Beih. 1), Berlin 1985, S. 49–70. 28 K. Goldmann, Verzeichnis der Hochschulen und hochschulartigen Gebilde, sowie ihrer Vorläufer und Planungen in deutsch- und gemischtsprachigen Gebieten 26
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einer statistischen Aufnahme der Studiosi, sondern sollten zunächst die Zugehörigkeit des Inskribierten zur Rechtsgemeinschaft der Korporation unzweideutig erweisen. So steht es klar in den Beschlüssen, z.B. quod expediet fieri matriculam sive librum universitatis, in quo scolares studii et (magistri) inscriberentur tam presentes quam deinceps superventuri . . . quodque non inscripti infra terminum expressum assignatum per rectorem per universitatem 18 minime defenderentur 29. | Erst die weitere Bestimmung, daß man für die Intitulation eine bestimmte festgelegte Gebühr zu bezahlen hatte, führte überhaupt zu sozial qualifizierenden Zusätzen in der Liste, wie etwa nihil dedit quia pauper, gratis propter Deum, oder einfach p, d.h. pauper, Notizen, die den Rektor bei seiner Abrechnungspflicht entlasten sollten. Auch nach oben hin wurde natürlich festgehalten, wer standesgemäß und den Statuten entsprechend als Hochadliger oder als ein besonders Reicher eine höhere Immatrikulationsgebühr zu begleichen hatte, denn auch darüber mußte der Rektor ja Rechenschaft legen, dem nur ein Teil dieser Gebühren persönlich zustanden. Die Größenverhältnisse dieser Gruppen absolut und relativ zueinander sind naturgemäß unterschiedlich, sie differieren nach dem Ort, aber auch nach der Zeit des Eintrags. Bei den vieldiskutierten pauperes, die verständlicher Weise die Aufmerksamkeit immer wieder auf sich gezogen haben30, ist die Quellenlage besonders energisch durch-
unter besonders Berücksichtigung ihrer Haupt-Matrikeln. Ein Versuch, Neustadt/Aisch 1967; E. Giessler-Wirsig, Universitäts- und Hochschulmatrikeln, in: Taschenbuch für Familiengeschichtsforschung, hg. von W. Ribbe und E. Henning, Neustadt/Aisch 9 1980, S. 141–180. Zusammenfassend zum Akt der Immatrikulation: J. Paquet, L’immatriculation des étudiants dans les universités médiévales, in: Pascua mediaevalia, Studies voor Prof. Dr. J. M. De Smet, edd. R. Leevens, E. van Mongoot, W. Verbeke (Mediaevalia Lovaniensia 1, 16), Leuven 1983, S. 159–171. 29 Winkelmann (wie Anm. 7) 2, S. 3 Reg. 15, Text bei Toepke (wie Anm. 8) 1, S. V, jetzt in: Acta universitatis (wie Anm. 7) Nr. 79, S. 153 f., hier Z. 5–8. 30 Vgl. dazu etwa J. M. Fletcher, Wealth and poverty in the medieval German universities with particular reference to the university of Freiburg, in: Europe in the Late Middle Ages, edd. J. Hale, R. Highfield, B. Smalley, London 1965 (u.ö.), S. 410–436; J. H. Overfield, Nobles and paupers at German universities to 1600, in: Societas, a Review of Social History 4 (1974) S. 175–210. Besonders wichtig: R. C. Schwinges, Pauperes an deutschen Universitäten des 15. Jhs., in: ZHistForsch 8 (1981) S. 285–309; vgl. auch B. Michael, Johannes Buridan. Studien zu seinem Leben, seinen Werken und zur Rezeption seiner Theorie im Europa des späten Mittelalters 1–2 (Phil.Diss FU Berlin 1978), Berlin 1985, hier vor allem S. 170 ff. Interessant zuletzt zu einem oft vernachlässigten Aspekt R. C. Schiwinges, Sozialgeschichtliche Aspekte spätmittelalterlicher Studentenbursen in Deutschland, in: Schulen und Studium (wie Anm. 1) S. 527–564.
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forscht worden. Eine letzte Auszählung31 sei wenigstens in ihren Globalzahlen hier als Anhaltspunkt für eine quantitative Einschätzung mitgeteilt: zwischen 1400 und 1500 gab es nach den Matrikelbüchern an den zwölf matrikelführenden Universitäten des Alten Reiches von der ältesten Gründung Prag bis zur jüngsten Gründung Tübingen insgesamt ca. 200 000 Intitulationen, davon sind ca. 15% oder etwa 30 000 Namen als pauperes gekennzeichnet, für Wien lag ihr Durchschnitt bei 22%, bei Köln sogar bei 25%, konnte aber in einzelnen Teuerungsjahren erheblich ansteigen, so 1425 in Wien auf 44,4% oder 1478 in Köln auf 34,7%. Das scheinen erhebliche Zahlen zu sein, freilich muß man, um sie richtig einordnen zu können, sehr stark differenzieren: pauper im Sinne der Matrikel ist zunächst ein durchaus relativer Begriff 32. Bei leichten Schwankungen im einzelnen galt in Prag – und meist auch sonst – als „Armer“ derjenige, der nicht mehr als etwa 12 fl jährliche Einkünfte zu seiner Verfügung hatte, in Tübingen 1477 hatte man die Preisinflation des 15. Jahrhunderts bereits berücksichtigt und setzte die Grenze um ein Drittel höher, auf 16 fl fest, wobei die persönliche Habe des | Studenten, etwa seine Bücher oder Kleider nicht 19 mitrechneten. Die Lebenshaltungskosten eines Studienjahres können auf etwa 20 bis 25 fl (später ca. 30 fl) veranschlagt werden. Noch genauer kann gesagt werden, daß die jährlichen Kosten eines Freiplatzes in einer Armenburse Löwens um 1460 bei 10 fl lagen, 1500 bei etwa 20 fl und 1530 dann bereits 30 fl betrugen33. Es ist wohl klar,
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Schwinges, Pauperes (wie Anm. 30) S. 292. Bes. J. Paquet, Recherches sur l’universitaire «pauvre» au moyen âge, in: RevBelgPhilolHist 56 (1978) S. 301–353. Methodisch interessant weiterhin J. Paquet, L’universitaire «pauvre» au moyen âge: problèmes, documentation, questions de méthode, in: The Universities in the Late Middle Ages, edd. J. Ijsewijn und J. Paquet (Mediaevalia Lovaniensia 1, 6), Leuven 1978 (erschien auch u. d. T.: Les Universités à la fin du moyen âge, edd. J. Paquet et J. Ijsewijn, Louvain-la-Neuve 1978), S. 399–425. Dazu vgl. besonders E. Mornet, Pauperes scholares, Essai sur la condition materielle des étudiants scandinaves dans les universités aux XIVe et XVe siècles, in: Le Moyen Age 84 (1978) S. 53–102; E. de Maesschalck, De criteria van de armoede aan de middeleeuwse universiteit te Leuven, in: RevBelgPhilolHist 58 (1980) S. 337–354; J. Paquet, Coût d’études, pauvreté et labeur: fonctions et metiers d’étudiants au moyen âge, in: History of Universities 2 (1982) S. 15–52. 33 E. de Maesschalck, Scholarship grants and colleges established at the University of Louvain up to 1530, in: The Universities in the Late Middle Ages (wie Anm. 32) S. 484–494; Vgl. auch K. H. Wegner, Studium und Stipendium in Hessen vor der Reformation, in: Studium und Stipendium, hg. von W. Heinemeyer (VeröffHistKommHessen 37), Marburg 1977, S. 3–76. 32
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daß dann 12–16 fl einerseits keine exorbitante Einkommenshöhe waren, daß aber auch keineswegs nur die absoluten Habenichtse in diese Kategorie paßten. Das ist auch verständlich, da die mittelalterliche Universität für wirklich mittellose Studenten nur ganz unzureichende Unterstützungsmöglichkeiten bot. Wer nicht einen der extrem seltenen – und immer seltener werdenden – Plätze in einem Collegium pauperum scholarium, einer Armenburse, Koderie oder dergleichen ergattern konnte, wer nicht bei einem besser situierten Kommilitonen, bei einem College oder bei einem Magister als famulus oder serviens seinen Unterhalt verdienen konnte, der mußte für seinen noch so bescheidenen Lebenswandel irgendwie selber aufkommen, der mußte dann die Vorlesungsgebühren für die Magister in aller Regel immer noch begleichen34 und unterlag auch dem empfindlichen System der Geldstrafen, mit denen die Disziplin an den Universitäten und Kollegienhäusern aufrecht erhalten wurde35. Ohne ein Minimum an finanzieller Grundlage war also schlechterdings nicht auszukommen.
34 Sporadische Aufzeichnungen listen diese Kosten auf, vgl. etwa O. Guenther, Honorare für Vorlesungen und Übungen bei der Universität Leipzig im 15. Jh., in: NArchSächsG 27 (1906) S. 330–331. Statuten der Universität Aix von 1420/40, ed. Mr. Fournier, Les Statuts et privilèges des universités Françaises, 3, Paris 1892 (ND Aalen 1970), Nr. 1582 S. 5–30, hier S. 28 § 145; vgl. auch die bei Paquet, Coût d’études (wie Anm. 32) S. 38 Anm. 12 aufgeführten Beispiele aus Freiburg und Löwen. Statutarisch wird z.B. in Oxford bereits 1333 (aber auch in Wien 1389, oder Leipzig 1417) verboten, daß Magister auf die Erhebung der collecta verzichten, aliter enim absurditas hec sequeretur, quod divitibus magistris (cum non indigeant) non colligentibus magistri pauperes et in facultatibus exiles (quos colligere oportebit) erunt debito quod alias habituri essent frustrati: S. Gibson (ed.), Statuta antiqua universitatis Oxoniensis, Oxford 1931, S. 132 (zitiert bei Paquet, Recherches, wie Anm. 32, S. 344 Anm. 234). Allgemein für die frühe Zeit G. Post, Masters’ salaries and student fees in the medieval universities, in: Speculum 7 (1932) S. 181–198, sowie G. Post, K. Giocarinis, R. Kay, The medieval heritage of a humanistic ideal. Scientia donum dei est, ergo vendi non potest, in: Traditio 11 (1955) S. 195–210; J. W. Baldwin, Masters, Princes and Merchants. The Social Views of Peter the Chanter and his Circle, Princeton, N.J. 1970 besonders 1, S. 122 ff., 2, S. 83 ff. Für die spätere Zeit auch: The Economic and Material Frame of the Medieval University, ed. A. L. Gabriel (Texts and Studies in the History of Medieval Education 15), Notre Dame, Ind. 1977 (besonders die Beiträge von J. Verger, Le coût de grades: droits et frais d’examen dans les universités du Midi de la France au Moyen Age, S. 19–36, und A. Greysztor, Aspects financiers de l’Université de Cracovie au XVe siècle, S. 51–56). 35 Pauperes wie divites hatten die z.T. empfindlichen Geldstrafen zu zahlen, die zur Erzwingung der Ordnung statutarisch festgesetzt waren, vgl. z.B. die Oxforder Statuten von 1410 und 1432 bei Gibson (wie Anm. 34) S. 205 und 241, zitiert nach Paquet, Recherches (wie Anm. 32) S. 314 Anm. 65.
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Außerdem ist noch eine weitere Einschränkung zu machen. Die Universitäten verfuhren nicht gerade fürsorglich und karitativ mit ihren armen Anverwandten. Die Gebührenbefreiung wegen Mittellosigkeit wurde als ausdrückliche Zuwendung ( propter Deum) gewährt, oft auch nur als Stundung des geschuldeten Betrages deklariert, besonders etwa bei den Promo | tionen, donec pinguiorem fortunam adipiscat, bis der Kan- 20 didat eine auskömmlichere Vermögens-situation erreicht habe36, wie es heißt. Es bleibt also eine breite Zone der Unklarheit bestehen: die 15% von pauperes in deutschen Matrikeln repräsentieren zumindest teilweise eher jene Gruppe, die sich selbst als pauper einschätzte, als eine objektive Gruppe, so sehr sich die Universitäten auch bemühten, eine behauptete Armut zuerst durch eidliches Selbstzeugnis zu kontrollieren, Unterschleif streng zu ahnden, sowie später durch ein aus der Heimatgemeinde beizubringendes testimonium paupertatis, ein Armutszeugnis, die soziale Lage des Petenten zu objektivieren37. Wenn dann in aller Regel während des 15. Jahrhunderts eine starke Abnahme von pauperes-Inskriptionen zu beobachten ist, so ist dies freilich keineswegs als ein Zeichen für eine steigende allgemeine Prosperität zu werten, sondern eher als Indiz entweder für eine Änderung der Selbsteinschätzung oder einer mehr oder minder bewußten Abschließung der Universitäten gegen „unten“ hin zu verstehen38. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: In Heidelberg etwa stellte sich der Anteil von pauperes in der Matrikel vor 1448 auf durchschnittlich 22,8%, danach nur noch auf durchschnittlich 5% für den Rest des Jahrhunderts, denn 1448 hatte die Magisterversammlung festgelegt, jeder, ob arm oder reich, sollte die 30 ß Inskriptionstaxe tragen, sofern er nicht „objektiv“ Armut für sich nachzuweisen vermöchte39. Die Universität Erfurt, die mit 30 525 Inskribierten im 36 Vgl. Schwinges, Pauperes (wie Anm. 30) S. 304: Die Zahlen bei artistischen Promotionen sprechen eine deutliche Sprache; 46% der pauperes gegen 38% der Mittelgruppe ließen sich graduieren (vor allem zum Bakkalar der Artes). Vom Jahrgang 1475 in Köln promovierten 19% der Mittelgruppe, dagegen 31% der Armen zum Magister artium. Nur 9% der Armen haben dabei die Gebühren nicht bezahlt, die anderen sind alle entrichtet oder nachentrichtet. 37 Eine breite Palette von Beispielen zu dem „Armutsnachweis“ liefert Paquet, Recherches (wie Anm. 32) S. 328–335. Das testimonium paupertatis, wie es noch im 19. Jahrhundert Friedrich Nietzsche in Basel vorlegte, freilich ist erst ganz spät im 15. Jahrhundert belegbar und überwiegend neuzeitlicher Ausprägung. 38 Das betont zu Recht besonders energisch Schwinges, Pauperes (wie Anm. 30) passim. 39 Vgl. Toepke (wie Anm. 8) 1, S. LII f und S. 258 Anm. 5. Die bei K. H. Wolf, Die Heidelberger Studentenschaft zwischen 1386 und 1535 im Spiegel der
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15. Jahrhundert etwa doppelt so groß war wie Heidelberg, hatte einen vergleichbaren Beschluß gefaßt: nulli parcere, niemanden mit der Gebührenforderung zu schonen, war die Devise dort, freilich bereits sehr viel früher, schon zu Beginn des 15. Jahrhunderts. Darum war in dieser betont vornehmen Universität die Rate von pauperes nur in den ersten anderthalb Jahrzehnten des Jahrhunderts bei 15%, fiel dann aber nach 1415 auf unter 1%, wo sie dann blieb, sodaß als statistisches Mittel für das Säkulum insgesamt ein Anteil von ca. 2,5% herauskommt40. Daß bei den Promotionslisten die Gebührenerlasse für pauperes in der zweiten Jahrhunderthälfte gerade auch in Heidelberg relativ zunehmen41, beweist die Schwierigkeiten einer genauen Übersicht über die Zahlenverhältnisse, wenn wir uns allein an die Matrikel halten wollten. Daß die Probleme der pauperes damit nicht hinreichend beschrieben sind, ist deutlich. Arme erreichen in aller Regel allenfalls den Abschluß in der unteren, der Artistenfakultät. Doktorpromotionen von ihnen 21 in den höheren Fakultäten sind ausgesprochen selten, sodaß der | Kölner Dekretist Loppo von Zieriksee armen Studenten nach seinen eigenen bitteren Erfahrungen sehr dringend davon abgeraten hat, die Promotion anzustreben, da noch nach dem Erfolg den erheblichen Mühen weitere Entbehrungen und Mühsal folgen würden42. Absolute Ausnahme aber ist eine Karriere, wie sie der Heidelberger Theologe Konrad Koler von Soest durchlaufen hat, der 1387 als p(auper) zunächst unentgeltlich immatrikuliert worden war, zwischen 1397 und 1410 dreimal zum Rektor seiner Universität gewählt wurde, um dann in pfalzgräflichen und königlichen Diensten vielfältig auf diplomatischen Missionen, unter anderem als Gesandter Ruprechts von der Pfalz 1409 auf dem Konzil in Pisa zu wirken, auch für seinen Fürsten und für die Universität Heidelberg an den Konzilien von Konstanz (1415–16) und Pavia (1423) teilzunehmen, und der Universitätsmatrikel, in: Ruperto Carola 72/73 (1985) S. 68–74, hier S. 74a, errechnete Quote von 0,5% ist fehlerhaft. 40 Vgl. auch hier wieder Schwinges, Pauperes (wie Anm. 30) besonders S. 294 und 300. 41 Wolf (wie Anm. 39) S. 74a. 42 H. Keussen, Die alte Universität Köln, Köln 1934, S. 152 (zitiert von Schwinges, Pauperes, wie Anm. 30, S. 289 Anm. 12), vgl. auch Leon Baptista Alberti, Della famiglia, lib. II, in: Opere volgari, ed. C. Grayson (Scrittori d’Italia 210), Bari 1960, S. 146 (zit. nach Paquet, Coût, wie Anm. 32, S. 40 Anm. 25), in deutscher Übersetzung L. B. Alberti: Vom Hauswesen, übersetzt v. G. Schalk (BiblAlte-Welt), Zürich und Stuttgart 1962, S. 187 f.
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schließlich seit 1428 aufgrund königlicher Zuwendung als Bischof von Regensburg zu fürstlichem Rang aufzusteigen vermochte43. Eine solche Bilderbuchkarriere darf uns die Enge des Lebens eines „normalen“ pauper scholaris im 15. Jahrhundert nicht verstellen. Daß der Adel seine Lebensart, seine Vorrechte und sein Sozialprestige auch während eines Studiums nicht ablegte, müßte man erwarten, könnte man es nicht nachweisen44. Freilich gehörte ein Studium durchaus zunächst nicht zum üblichen Bildungsgang, der für einen Adligen vorgesehen war. Erst recht scheint es, daß in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ein Studium nicht allzu nahe lag: In Heidelberg hat eine stichprobenartige Auswertung der Matrikeln ergeben, daß von 9 914 in 80 ausgewählten Zeitabschnitten zwischen 1386 und 1535 Immatrikulierten, d.h. von gut der Hälfte (52,9%) der in dieser Zeit erreichten Gesamtzahl 549, d.h. ca. 5,5% dem Adel zuzurechnen sind, davon wiederum 53 dem Hochadel und die restlichen 496 Personen dem landständischen Adel45, eine Relation, die, wie die Untersuchung in Ingolstadt und zu französischen Universitäten Südfrankreichs beweisen, durchaus | als repräsentativ genom- 22 men werden darf. Die Mehrzahl dieser vornehmen Studenten ist natürlich an der juristischen Fakultät zu finden, die damals als die lukrativste galt. Die teureren Eintragungen in die Matrikel mochten
43 Zu dieser erstaunlichen Karriere zunächst Toepke (wie Anm. 8) 1, S. 18, vgl. S. 37, 65, 71, 113. Dazu P. Moraw, Beamtentum und Rat König Ruprechts, in: ZGORh 116 (1968) S. 59–126, hier S. 116; H. Heimpel, Konrad von Soest und Job Vener, Verfasser und Bearbeiter der Heidelberger Postillen (Glossen) zu der Berufung des Konzils von Pisa. Zum Regierungsstil am Hofe König Ruprechts von der Pfalz, in: Westfalen 51 (1973) S. 115–124; R. Bäumer, Konrad von Soest, in: Bd. 12, München 1980, S. 523 f. Als Karriere ebenfalls sehr beachtlich der Lebensweg von Konrad von Soltau (†1307 als Bischof von Verden), vgl. zu ihm H.-J. Brandt, Universität, Gesellschaft, Politik und Pfründen am Beispiel Konrad von Soltau (†1407), in: The Universities in the Late Middle Ages (wie Anm. 32) S. 614–627, sowie H.-J. Brandt, Konrad von Soltau, in: NDB 12, S. 531 f. Zur Karriere des Matthäus von Krakau (†1409 als Bischof von Worms und Leiter der Kanzlei König Ruprechts) vgl. Moraw, Beamtentum S. 112–114. 44 Zum Adelsstudium etwas impressionistisch mit interessantem Einzelmaterial J. T. Rosenthal, The Universities and the medieval English nobility, in: History of Education Quarterly 9 (1969) S. 415–437; J. H. Overfield, Nobles and paupers (wie Anm. 30); R. A. Müller, Universität und Adel. Eine soziokulturelle Studie zur Geschichte der bayerischen Landesuniversität Ingolstadt 1472–1648 (LudovicoMaximilianea, Universität Ingolstadt-Landshut-München, ForschQ 7), Berlin 1974; J. Verger, Noblesse et savoir: étudiants nobles aux universités d’Avignon, Cahors, Montpellier et Toulouse, in: La noblesse au moyen âge (11e–15e siècles). Essais à la mémoire de R. Boutruche, Paris 1976, S. 289–313. 45 Wolf (wie Anm. 39) besonders S. 73.
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sich vielerorts allein dadurch „lohnen“, daß ein Adliger im Hörsaal die besten Fensterplätze oder doch die Plätze in der ersten Reihe einnehmen durfte, daß er bei feierlichen Veranstaltungen und den Prozessionen der Universität einen Ehrenplatz beanspruchen konnte, der dem der Promovierten an höheren Fakultäten gleichgeordnet oder vorangestellt war. All das machte freilich auch deutlich, daß die Universität gewiß keine reine Schule des Wettlaufs um akademische Qualifikationen war. Daß im 15. Jahrhundert in Deutschland hochadlige Studenten bevorzugt das Rektorenamt wahrnehmen durften (in Anknüpfung an die Bologneser Traditionen), dieses sogenannte Adelsrektorat des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit unterstreicht noch einmal diesen unseren Eindruck, ohne von der ebenso durchgängigen Beobachtung ablenken zu können, daß es bis zum Ausgang des Mittelalters für den höheren Adel absolut unüblich war, sich einer akademischen Graduierung zu unterziehen. Erst seit dem 16. Jahrhundert läßt sich allmählich ein Wandel beobachten46. Die alte Vorstellung, daß eine Promotion, erst recht eine Promotion in den Rechtswissenschaften einen adelsgleichen Rang verleihe47, galt daher keineswegs allgemein, sie galt zunächst einmal nur innerhalb der Universität und dann im Bereich der Schreibstuben und Kanzleien und bei der kirchlichen Pfründenvergabe, dort freilich bereits mit gewaltigen Einschränkungen. Die Mehrzahl der Studenten freilich gehörte weder zu dem einen noch zu dem anderen „Rand“, weder zu den pauperes, noch auch zu den nobiles, oder zu den divites, ihre Familien fanden sich in einer mittleren Lage, die freilich, wie sogleich einsichtig ist, sehr stark differenziert sein konnte, da natürlich auch über dem absoluten Minimum und unterhalb der hohen Standesschwelle noch gewaltige Unterschiede in Einkommens- und Lebenschancen bestanden. 46 Besonders Müller (wie Anm. 43) passim; vgl. auch H. De Ridder Symoens, Adel en universiteiten in de zestiende eeuw: humanistisch ideaal of bittere noodzak? In: Tijdschrift voor geschiedenes 93 (1980) S. 410–432. 47 H. U. Kantorowicz, Praestantia doctorum (11931), jetzt in: H. U. Kantorowicz, Rechtshistorische Schriften, hg. von H. Coing und G. Immel (FreibRechtsStaatswissAbhh 30), Karlsruhe 1970, S. 377–396; A. Visconti, De nobilitate doctorum legentium in studiis generalibus, in: Studi di storia e diritto in onore di Enrico Besta, Milano 1939, 3, S. 221–241; G. Le Bras Velut splendor firmamenti. Le docteur dans le droit de l’église médiévale, in: Mélanges offerts à Etienne Gilson, TorontoParis 1959, S. 373–388; D. Maffei, Dottori e studenti nel pensiero di Simone da Borsano, in: Studia Gratiana 15 (1972) S. 229–249; H. Lange, Vom Adel des doctor, in: Das Profil des Juristen in der europäischen Tradition, Symposion aus Anlaß des 70. Geburtstags von Franz Wieacker, Ebelsbach 1980, S. 279–294.
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Dafür, daß sich hier aber auch durchaus „durchschnittliche“ Familien finden lassen, sei nur ein Beispiel aus England angeführt48. In dem 1379 gegründeten Oxforder „New College“, dem größten der damaligen englischen Colleges mit seinen 70 Plätzen, konnten für die 70 Jahre von 1380–1450 549 Studenten untersucht werden, 115 von ihnen, d.h. ca. 20% sind sozial nicht näher einzuordnen und also wohl meist obskurer Herkunft, von den identifizierten Scholaren kamen 61, d.h. ca. 11% aus Adel und Gentry, 87 Studenten, d.h. etwa 15% stammten aus städtischem Milieu – vom Patriziat bis zu den Handwerkern, und 262, das sind nahe | zu die Hälfte und mehr 23 als 60% von den Identifizierbaren kommt aus Familien von „rural smallholders“, also aus ländlichen, freilich besser situierten Kreisen. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts sprechen die Zahlen eine noch deutlichere Sprache: von 505 Studenten 1450–1500 (die absolute Zahl bleibt etwa gleich, da sich die Plätze ja nicht vermehrt hatten), blieben nur noch 2 nicht identifizierbar ihrer Herkunft nach (auch hier ein deutliches Absinken der Marge von möglichen pauperes! ), während aus Adel und Gentry insgesamt wiederum 58 (ca. 11%) kommen, 101 aus städtischem Milieu (d.i. ca. 20%) und 313 (ca. 62%) von „rural smallholders“. Ich möchte auf diesen Zahlen nicht weiter bestehen, die gewiß den großen Nachteil haben, daß sie auch die Auswahlpolitik des „New College“ eigentlich mit in die Rechnung einbringen müßten, so viel erscheint jedenfalls deutlich, daß damals ein Großteil von Studenten studierte, die genau der aufstiegswilligen städtischen und ländlichen „Mitte“ angehörte. Die Beobachtungen, die Peter Moraw zu Heidelberg49 oder Marianne Hovorka-Baumgart zu Wien50 zusammengetragen haben, bestätigen diesen Eindruck: Neben den selbstverständlich nachweisbaren Söhnen der führenden Familien der Stadt sind es vor allem die Handwerker, die ihre Kinder die Universität besuchen lassen51, auch hier klaffen freilich erhebliche Vermögensunterschiede. 48 G. F. Lytle, The Social Origins of Oxford Students in the Late Middle Ages: New College, ca. 1380–1510, in: The Universities in the Late Middle Ages (wie Anm. 32) S. 426–454. 49 Moraw (wie Anm. 9). 50 M. Hovorka (verehelichte Baumgart), Die Wiener Studenten der Wiener Universität im Spätmittelalter (1365–1518) (DissUnivWien 158), Wien 1982. 51 Vgl. dazu bereits das ‚Gesprächsbüchlein‘ des Paulus Niavis (d.i. Paul Schneevogel) aus Leipzig, eine Sammlung von Dialogen in lateinischer Sprache zur Einführung von Studenten in das Universitätsleben, ed. G. Streckenbach, Paulus Niavis: Latinum ydeoma pro novellis studentibus, ein Gesprächsbüchlein aus dem letzten Viertel des
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Ist damit gesagt, daß sozialer Aufstieg unmöglich war, daß im 15. Jahrhundert an Universitäten nur akademisch abgesegnet wurde, was ohnedies durch die wirtschaftliche Situation der Familie prädeterminiert oder gar prädestiniert war? Bei allen Aussagen über die mittelalterliche Universität als mögliche Schleuse zu sozialem Aufstieg müssen wir im Gedächtnis behalten, daß sozialer Aufstieg auch im 15. Jahrhundert nicht und gerade im 15. Jahrhundert nicht mit dem Fahrstuhl von ganz unten nach ganz oben führen mußte. Ein Erfolg konnte schon darin liegen, mit Hilfe einer Qualifikation, wie sie an der Universität zu gewinnen war, eine Chance auf eine auskömmliche kirchliche Pfründe zu bekommen oder in den chancenreichen herrschernahen Dienst der Kanzlei zu gelangen, oder auch sich dort zu halten, als Familie zu halten. So werden die entsprechenden Chargen der Hofkanzleien im 15. Jahrhundert mehr und mehr von graduierten Universitätsbesuchern übernommen, und es sind zuerst die fürstlichen Räte, die ihre Söhne zum Studium schicken, bevor es der Adel ihnen im 16. Jahrhundert nachmacht. Ein Studium zur Erhaltung des sozialen Status und zu seiner Verteidigung gehört auch in eine Analyse der Bezüge von Universität und sozialer Mobilität 24 im 15. Jahrhundert. | Ein Studium wurde damals, und das wird oft übersehen, keineswegs, wie heute, als eine Phase der Qualifikation angesehen, in die man mit einer gewissen Mindestvoraussetzung eintritt, und die man am Ende mit einem Erfolgszertifikat wieder verläßt. Die Graduierungen der mittelalterlichen Universität sind, wenn auch damals bereits mit Examina verbunden, für das Gros der Studenten kein eigentliches Ziel: Die überwältigende Mehrheit, bis zu 80% der Inskribierten, haben überhaupt nur an der niederen, der „Artes“-Fakultät studiert. Auch von diesen Studenten, für welche ein normales „curriculum“ nach etwa zwei Jahren das Bakkalariat, nach weiteren mindestens zweieinhalb Jahren die Magisterpromotion vorsah, erreichten nur 15. Jhs., in: MittellatJb 7 (1972) S. 187–251 (vgl. dazu die Untersuchung von G. Streckenbach, in: MittellatJb 6, 1970, S. 152–191). Hier wird (S. 192) der Ankömmling vom Magister sofort nach seinen Eltern gefragt: Habundant parentes tui? Er entgegnet – und soll damit doch wohl einem „Normalfall“ entsprechen: Mediocriter se habent diviciis, acquirunt artificio alimentum, verum polliciti sunt, si studio adiunxero, velle omnem circa me facere diligentiam ne me premat paupertas. In der Heidelberger Ableitung dieses Textes, dem bekannten anonymen ‚Manuale scholarium‘ (ed. F. Zarncke, Die Universitäten im Mittelalter. Beiträge zur Geschichte und Charakteristik derselben 1, Leipzig 1857, S. 1–48) ist diese Passage fast wörtlich wiederholt (S. 3, Zeilen 15–18), galt also doch auch am Neckar ebenfalls als passend.
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noch ein kleiner Teil diese Graduierungen: noch in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wurden weniger als 50% der Inskribierten zu Bakkalaren graduiert, was jedoch gegenüber den 10–30% ( je nach Universität verschieden) der früheren Zeit noch eine gewaltige Steigerung war, nur 10–15% der Studenten wurde dann zum magister artium promoviert. Man war als magister artium etwa 20 Jahre alt, die Statuten haben das Alter von 21 Jahren vorgeschrieben. Man konnte freilich, wie wir von Melanchthons Karriere wissen, der zwölfeinhalbjährig 1509 in Heidelberg immatrikuliert wurde, vierzehnjährig hier zum Bakkalar der Artes graduiert worden ist und siebzehnjährig dann in Tübingen zum Magister wurde52, auch wesentlich jünger sein. Allererst dann war man berechtigt, eine der höheren Fakultäten aufzusuchen. Wiederum kam nur ein Bruchteil in die Verlegenheit, Bakkalar oder gar Magister, bzw. Doktor einer höheren Fakultät zu werden. Behalten wir diese Relationen im Auge, so kann es nicht allzu stark überraschen, daß bei Untersuchungen über den späteren Lebensweg von Immatrikulierten eine Untersuchung zur Universität Tübingen überhaupt nur etwa ein Drittel der Gesuchten in anderen archivalischen Quellen als in der Matrikel hat aufspüren können53. Die zunächst erschreckende Dunkelziffer von zwei Dritteln, von denen uns keine weiteren Nachrichten mehr vorliegen, bezeugt nicht, daß diese Studenten in ihrem Leben gescheitert wären, sie finden sich nur nicht an Stellen, die im Archiv noch heute nachweisbar sind. Bei dem uns noch greifbaren Drittel fallen neben der überwiegenden Zahl von Kirchen- und Ordensklerikern, die mit 1035 immer noch den Löwenanteil haben, schon die 314 Männer in weltlichen Diensten kaum mehr ins Gewicht, den 110 Gelehrten und Professoren stehen nur noch 33 Ärzte, 23 Schulmeister, 13 Advokaten und Notare und 13 Buchdrucker gegenüber, sowie 13 Kriegsleute, die nicht wie Abaelard im 12. Jahrhundert Mars mit Minerva, sondern Minerva mit Mars vertauscht hatten, was im späten Mittelalter durchaus keine absolute Seltenheit ist. 52 Vgl. auch den Studiengang des berühmten Astronomen Johannes Müller aus Königsberg bei Haßfurt, genannt Regiomontanus (1436–1476), der zwölfjährig 1448 in Leipzig die Universität bezog, als Baccalarius artium 1450 nach Wien überwechselte und dort – freilich erst 1458 – zum Magister artium promoviert wurde. Die Beispiele solcher „Frühstarter“ ließen sich leicht häufen. 53 W. Kuhn, Die Studenten der Universität Tübingen zwischen 1477 und 1534 (GöppAkadBeitrr 37–38), Göttingen 1971.
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Einen Großteil dieser Positionen – mit Ausnahme wohl nur der Professoren – hätte man auch ohne ein Studium erringen können. Angesichts der hohen Quote an Studenten, die ohne irgend einen formellen Grad ihr Studium auslaufen ließen, wird uns auch einsichtig, warum der Wimpfeling-Schüler Jodokus Galtz aus Ruffach im Elsaß um 1489 bei einer artistischen Quodlibet-Diskussion an der 25 Universität Heidelberg in einer satirischen Aufzählung | vor einem Publikum freilich, das das aus eigener Anschauung wissen mußte, eine Reihe von Berufspositionen aufführt, die Studenten erreichen könnten: hyppenmenner, placzmeister, wirfelleger, zinckenzeler, kuppler, hurer, hurenwirtt, hurenjeger, lantzknecht, wurtsknecht, pfaffenknecht, henselin, winruffer, scharwechter, hengerßhunt, schelmenschinder, koltreger, sacktreger, seumer, wißner, farend schuler, et quos videmus hodie errabundos in Heydelberga clamantes: Schornsteinfeger schornstein, etc. Elso elso, Sauber sauber 54. Und Ernst Schubert, dem ich diese Aufzählung im Ton eines Kasperletheaters verdanke, die doch einen bitterernsten Hintergrund hat, fügt mit Recht hinzu: „Diese Übertreibung sollte vor der entgegengesetzten Übertreibung warnen, die Zahl der Immatrikulierten mit einer heranwachsenden geistigen Führungsschicht gleichzusetzen.“55 Ein Großteil des mittelalterlichen Universitätsbetriebes galt auch am Ende des 15. Jahrhunderts dem, was heute auf der Oberstufe der Gymnasien geschehen soll, einer formalen Denkschulung, und damals noch dem Lernen der Schrift und der lateinischen Sprache als einer wissenschaftlichen Propädeutik. Die Teilhabe an diesem Teil der Ausbildung, der erst allmählich auf die städtischen Lateinschulen
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Jodocus Gallicus: Monopolium et societas vulgo „des Lichtschiffs“ (eine Rede, die um 1488 unter dem Vorsitz des Jakob Wimpfeling in Heidelberg gehalten wurde), ed. Zarncke (wie Anm. 51) S. 51–61, hier S. 60 f. (nach dem Sammeldruck: Directorium statuum seu verius tribulatio seculi, o. O. [Straßburg] o. J. [wohl 1489], bei P. Attendorn), vgl. im einzelnen Zarncke (wie Anm. 51) S. 236–240, und, mit einigen wichtigen Korrekturen, A. Thorbecke, Die älteste Zeit der Universität Heidelberg 1386–1449, Heidelberg 1886, S. 72–76 und 61*–65* (besonders S. 62* ff.). Zum Verfasser, dem Wimpfelingschüler Jodocus Galtz aus Ruffach im Elsaß (imm. 1476, mag. art. 1480, Dekan der Artes-Fakultät 1484/85, Rektor 1492/93, †1517), vgl. Thorbecke S. 64* und insbesondere Ritter, Universität (wie Anm. 6) S. 500 f. und 463 f. 55 Schubert (wie Anm. 2) S. 40 nennt als Quelle die in Erfurt 1494 gehaltene und dann gedruckte gleichartige Rede eines Johannes Schram, ed. Zarncke (wie Anm. 51) S. 102–116, hier S. 112, wo auch wirklich die Passage nahezu buchstabengetreu zu finden ist; bereits Zarncke hat aber (S. 251) darauf hingewiesen, daß die Rede Schrams „aus einem dreifachen Plagiate zusammengesetzt“ ist und auf die von ihm (ebendort) edierte Quelle aufmerksam gemacht.
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überzugehen begann – einen obligatorischen Schulbesuch vor dem Studium hat es das ganze Mittelalter über nicht gegeben – ein Studium demnach nur an der Artistenfakultät allein konnte noch nicht abschließend über die Aufstiegschancen entscheiden, die mit einem Studium verbunden waren, zumal ja auch noch ungebrochen daneben die älteren Karrieremuster für die gesellschaftlichen Aufstiegschancen insgesamt in Geltung blieben: es kam also auch weiterhin auf ständische Herkunft und hohe Protektion, auf familiäre oder regionale Klientelzugehörigkeit, auf herrschaftlichen Dienst oder herrschaftliche Nähe, auch auf die Gunst des Augenblickes und dergleichen an. Die formale Ausbildung, die auf der Universität mit und ohne Graduierung zu gewinnen war, vermochte aber doch im Laufe des Jahrhunderts eine stärkere Attraktion auch auf Schichten auszuüben, die diesen alten Karrieremustern eigentlich besser angepaßt waren. Demnach scheint sie doch, das müssen wir festhalten, einen gewissen, wenn auch eingegrenzten zusätzlichen Karriereschub versprochen zu haben; erst von hier aus wird überhaupt verständlich, daß im 15. Jahrhundert sich die Universitäten ausbreiteten und weiter wuchsen, obwohl ein eigentlicher Bedarf an Universitätsgraduierten nicht ohne weiteres festzustellen ist56. | 26 Schon dem 14. Jahrhundert war das klar. Als man Papst Urban V. (1362–1370) fragte, warum er so hemmungslos die Studenten der südfranzösischen Universitäten fördere, soll er geantwortet haben, er sei einverstanden, nicht alle, die er in den Collegien fördere, würden zu bepfründeten Kirchenmännern werden. Einige würden Orden beitreten, die anderen würden in der Welt bleiben und Familienväter werden, was immer aber ihr Stand sein werde, den sie erreichten,
56 Der Graduiertenbedarf im 15. Jahrhundert ist nur schwer abzuschätzen. Daß er allmählich anstieg, kann nicht zweifelhaft sein. Ein deutliches Bewußtsein der Situation aber haben die Zeitgenossen nicht entwickelt. Zur Situation des 13. Jahrhunderts J. Miethke, Die Kirche und die Universitäten im 13. Jh., in: Schulen und Studium (wie Anm. 1) S. 285–320, besondere S. 292–307. Zu vergleichen sind auch die Ergebnisse von E. Th. Nauck, Die Zahl der Medizinstudenten deutscher Hochschulen im 14.–18. Jh., in: SudhoffsArch 38 (1954) S. 175–186. Vgl. auch etwa G. F. Lytle, Patronage Patterns and Oxford Colleges c. 1300–c. 1530, in: The University in Society, ed. by L. Stone, 1, Princeton 1974, S. 111–149, der die Krise des Patronage-Systems im 15 Jh. herausstellt. Für das 15 Jh. z.B. N. Bulst, Studium und Karriere im königlichen Dienst in Frankreich im 15. Jh. in: Schulen und Studium (wie Anm. 1) S. 375–405: D. Willoweit, Das juristische Studium in Heidelberg und die Lizenziaten der Juristenfakultät von 1386 bis 1436, in: Semper Apertus (wie Anm. 6) 1, S. 85–135, besonders S. 120 f.
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selbst wenn sie einen Handwerkerberuf ergriffen, würde es ihnen immer noch von Nutzen sein, einmal studiert zu haben57. Diesen Anspruch können wir nur dann richtig verstehen, wenn wir bedenken, daß ein Studium im Mittelalter, auch noch im 15. Jahrhundert, zu den allerwenigsten und seltensten Berufsbildern nur unabdingbar gehörte: wenn wir von den Positionen etwa eines bischöflichen Offizials58 oder eines städtischen Syndikus59 einmal absehen, so ist es eigentlich nur der Beruf eines Universitätslehrers, für den ein Studium ganz ohne Zweifel unabdingbare Voraussetzung war, auch wenn wir zu bedenken haben, daß der lebenslängliche akademische Lehrer erst eine späte Entwicklung in der mittelalterlichen Universitätsgeschichte ist. Noch im 14. Jahrhundert war der französische Magister Johannes Buridan, der Vorlesungen hielt, bis
57 Informationsprozeß zur Heiligsprechung Urbans V. (†1370) von 1390, ed. J. H. Albanès und U. Chevalier, in: Actes anciens et documents concernant le bienheureux Urbain V, pape, sa famille, sa personne, son pontificat, ses miracles et son culte, Paris-Marseilles 1897, 1, S. 414 Nr. 131: Item quod dictus dominus Urbanus tantum intendit et intendebat proficere proximis, ut dum aliquando sibi diceretur: ‚Quare facitis vos tot clericos et studentes et cotidie eorum numerum ampliatis?‘ idem dominus Urbanus dulcissime respondent dixit et dicebat, quod multum erat appetibile et ipse appetebat quod bone persone in dei ecclesia habundarent, et licet non omnes illi quos tenebat in studio essent futuri ecclesiastici beneficiati, tamen essent multum (!, multi?) religiosi, et multi seculares et uxorati, ita quod ad quemcunque statum devenerint, etiamsi venirent ad opera mechanica, semper profuerit eis studium et essent melius docibiles et magis apti. Zitiert bei B. Guillemain, La cour pontificale d’Avignon (1309–1376). Etude d’une société (BiblEcolesFrançaisesAthène-Rome 201), Paris 1962, S. 142; J. Verger, Les universités au moyen âge (Collection SUP, L’Historien 14), Paris 1973, S. 111, nennt diesen Text „cette remarque désabusée“, gleichwohl bleibt er sprechend genug. 58 Überblick bei W. Trusen, Die gelehrte Gerichtsbarkeit der Kirche, in: Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, hg. von H. Coing, 1, München 1973, S. 467–504, besonders S. 467 ff., 487 f. Literatur für einzelne Diözesen verzeichnet auch W. Reinhard, Die Verwaltung der Kirche, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, 1, hg. von K. G. A. Jeserich, H. Pohl, G.-C. von Unruh, Stuttgart 1983, S. 143–176, hier S. 156 mit Anm. 42 f. 59 Ein differenziertes Bild für norddeutsche Städte zeichnet K. Wriedt, Das gelehrte Personal in der Verwaltung und Diplomatie der Hansestädte, in: HansGBll 96 (1978) S. 15–37. Vgl auch K. Wriedt, Stadtrat – Bürgertum – Universität am Beispiel nordeutscher Hansestädte, in: Studien zum städtischen Bildungswesen (wie Anm. 9) S. 499–523; K. Wriedt, Bürgertum und Studium in Norddeutschland während des Spätmittelalters, in: Schulen und Studium (wie Anm. 5) S. 487–525. Vgl. auch G. Droege, Die Stellung der Städte, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte (wie Anm. 58) 1, S. 177–213, hier besonders S. 184 f. Vgl. für Südfrankreich auch A. Gouron, Le rôle social des juristes dans les villes meridionales au moyen âge, in: AnnFacLettresSciencesNice 9–10 (1969) S. 55–67; J. Verger, Le rôle social de l’Université d’Avignon, in: BiblHumanismeRenaiss 33 (1971) 489–504; J. Verger, Sul ruolo sociale delle università. La Francia tra medioevo e Rinascimento, in: Quaderni storici 23 (1973) 309–358.
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er | zwischen 1358 und 1360 wohlhabend starb, eher eine Ausnahme60. 27 Viel häufiger war damals, daß man auch die Universitätslehre nur als Durchgangsstufe zu anderen Aufgaben ansah, zu einem Kanonikat, oder einer Pfarrei, einem Amt im königlichen Dienst, einem Bistum und dergleichen, so wie es unzählige Beispiele belegen könnten. Noch im 14. Jahrhundert lag das Durchschnittsalter eines magister artium in Paris um die 25 Jahre, bei den Theologen noch unter 4561. Erst im Laufe des späten 14. und des 15. Jahrhunderts, erst mit der Ausbreitung der Universitäten über Europa und mit der Absicherung ihrer Lehrer durch kirchliche Pfründen und aus ständigen Universitätseinkünften, die in den deutschen Universitäten in Magisterkollegien organisatorisch zusammengefaßt wurden, erst damit waren die Voraussetzungen für eine lebenswierige Professur geschaffen. Wir wissen noch sehr wenig, zu wenig über die Entstehung der fest mit bestimmten Einkünften ausgestatteten lebenslänglichen Anstellung. Darüber, daß die Rechtsfigur der kirchlichen Pfründe dafür wesentlich mitbestimmend geworden ist, kann aber kein Zweifel herrschen. In Heidelberg gibt es eine klare Folge. Zuerst werden 1413 im Heiliggeiststift die Präbenden für Universitätslehrer mit einem Leseauftrag gekoppelt62, schließlich werden 1459 auf ausdrücklichen Wunsch des Kurfürsten im Heiliggeiststift zwei Pensionspfründen errichtet, mit dem ausdrücklichen Hinweis, daß es nicht nur für die Inhaber einer Professorenpfründe schwierig sei, bis ins hohe Alter die Mühen der Lehre zu ertragen, sondern daß auch die Universität an ad huiusmodi lecturas viros fortes et infatigabiles gelegen sein müsse63. Ähnliche Einrichtungen von Pensionsmöglichkeiten finden sich wenig später auch andernorts, sofern nicht überhaupt, wie in England, 60 Zu ihm zuletzt vorzüglich Michael (wie Anm. 30); zur Sozialgeschichte und Biographie dort S. 79–238, zu den Pfründen S. 206 ff. 61 Diese Ziffern nach einer Auszählung, die W. J. Courtenay auf der universitätsgeschichtlichen Sektion des Internationalen Historikertages in Stuttgart 1985 vorgetragen hat. Die Untersuchung wird unter dem Titel: „Teaching careers at the University of Paris in the High and Late Middle Ages“ demnächst erscheinen. Ich habe W. J. Courtenay für die Erlaubnis zu danken, sein Manuskript einzusehen. 62 Vgl. die Errichtungsurkunde des Heiliggeiststifts, gedruckt aus GLA 67/876 fol. 292 u.a. bei N. Thoemes, Das Stift der Königlichen Kapelle zum Heiligen Geist und die Universität Heidelberg in ihrer Verbindung von 1413, Heidelberg 1886, S. 9–18. Zu den juristischen Schritten der Errichtung und zu den einzelnen Pfründen ausführlich H. Weisert, Universität und Heiliggeiststift. Die Anfänge des Heiliggeiststifts zu Heidelberg, in: Ruperto Carola 64 (1980) S. 55–77 und 65/66 (1981) S. 72–87. Zur Baugeschichte E. Zahn, Die Heiliggeistkirche zu Heidelberg. Geschichte und Gestalt (VeröffKirchen-gEvLandeskircheBad 19), Karlsruhe 1960. 63 Winkelmann (wie Anm. 7) Nr. 118 S. 175–177, Zitat S. 175, Zeile 24.
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durch das College-System, für eine Alterssicherung in klassischer Weise gesorgt war. So machen sich Ansätze zu der Professur als einer lebenswierigen Wissenschaftsbeamtenstellung, wie sie die Neuzeit heraufführen sollte, schon im Spätmittelalter bemerkbar. Damit schafft sich die Universität, die in die soziale Umwelt sich nur mit Schwierigkeiten einpaßte, wenigstens für einen kleinen Teil ihrer Angehörigen einen Fluchtort, sie kann ihnen eine Laufbahn innerhalb ihrer selbst anbieten, die sie nicht mehr ausschließlich auf den Markt der Gesellschaft angewiesen macht. Die Professionalisierung des Gelehrten, die in wesentlichen Stücken im 15. Jahrhundert geleistet worden ist, setzt auch eine gewisse Distanz zur Gesellschaft 28 voraus, die freilich immer nur relativ sein kann. |
III Brechen wir dieses Thema ab, das uns manchen Ausblick auf eine Feudalisierung der Professuren in der Neuzeit eröffnen könnte, darauf, daß verwandschaftliche Bindungen und hohe Protektion auch für diese Karriere mehr und mehr unentbehrlich wurden. Daß die Lekturen, zumindest die für Medizin und die Rechte allmählich auch verheirateten Männern offenstanden, hat die Tendenz, die Professur als Familienpfründe anzusehen, zweifellos gestärkt und könnte uns zu den versäulten „Familienuniversitäten“ der frühen Neuzeit hinleiten64. Hier sei davon aber keine Rede mehr. Ich glaube nämlich, hier noch einige Hinweise darauf schuldig zu sein, was die typische Beschäftigung an der Universität auch damals war, auf die besonderen Formen der spätmittelalterlichen Wissenschaft und auf ihre Hilfsmittel. Wir können es uns nicht klar genug machen, daß wir es im Mittelalter, bei aller Verbreiterung der Schicht, die lesen und schreiben konnte, mit einer Gesellschaft zu tun haben, die vorwiegend illiterat war und blieb. Daß die Kunst, lesen und schreiben zu können, eine Spezialkenntnis war, das machte ja gerade die Chance einer Universitätsausbildung aus, oft gerade auch eines vorzeitig abgebrochenen Universitätsbesuches65. Die Universität hatte zwar keineswegs das 64 Vgl. etwa P. Moraw, Aspekte und Dimensionen älterer deutscher Universitätsgeschichte, in: Academia Gissensis. Beiträge zur älteren Gießener Universitätsgeschichte, hg. von P. Moraw und V. Press (VeröffHistKommHess 45), Marburg 1982, S. 1–43, hier S. 39 ff. 65 I. Hajnal, L’enseignement de l’écriture aux universités médiévales (StudHistAcad-
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Monopol als Hort der Schriftlichkeit, wie am Ausgang des Mittelalters selbst die Kirche auch nördlich der Alpen ein solches Monopol nicht mehr hatte. Aber immer noch war die Schrift eine zusätzliche Technik der Kommunikation und Verwaltung, das öffentliche Leben fand vorwiegend mündlich statt. Jeder Kleriker, und sei er auch noch so schreibgewandt, mußte damit rechnen, jederzeit auf intelligente und einflußreiche Personen zu stoßen, die des Lesens und Schreibens nicht selber kundig waren, die sich in allen Fragen, die Schriftlichkeit und Gelehrsamkeit voraussetzten, beraten lassen mußten. Die ständig im diplomatischen Verkehr vorgebrachten Entschuldigungen der Fürsten und hohen Herren, man sei eben einfacher laicus und bei Subtilitäten des Rechtes oder der Theologie auf den Rat anderer angewiesen66, ist doch nur zum Teil ein durchsichtiger Vorwand, zum anderen Teil hatte dieses Vorbringen eine sinnfällige Plausibilität 29 auch noch im 14. und 15. Jahrhundert. | Auch die Universität war auf diese Situation eingestellt, nicht dadurch natürlich, daß sie hätte auf Schriftlichkeit verzichten können, ScientHungar 7), Budapest 1954, corrigée et augmentée . . . par L. Mezey, Budapest 2 1959. 66 Ludwig der Bayer betont in seinen Absolutionsverhandlungen mit der Kurie energisch, daß er als schlichter miles den theologischen Subtilitäten fern stehe, vgl. etwa sein Prokuratorium vom 28. Okt. 1336 (ed. S. Riezler in: Vatikanische Akten zur deutschen Geschichte in der Zeit Ludwigs des Bayern, Innsbruck 1891, Nr. 1841, S. 637–644, hier S. 639): item quod sicut miles scripturarum et litterarum subtilitatum ignari, quia dicebantur meliores magistri theologie et fratres religiosi, non credentes nos aliquid contra fidem facere appellationi eorum consensimus . . . Vgl. auch noch das Prokuratorium von 1344, ed. E. E. Stengel und K. Schäfer in: Nova Alamanniae 2, 2, Hannover 1976, Nr. 1559 S. 903–910, hier S. 905 § 20: . . . und daruber als ein ritter, der der geschrift niht enchan und ze vorderst der geschrift subtilitet gehielt er nie noch glabt nie noch gab sin gunst nie zμu ihren warten . . . (vgl. auch die Prokoratorien von 1343/44, ebenda Nr. 1534 und 1548, S. 837 und 883, jeweils § 20. – Zu den Verhandlungen vgl. im einzelnen H. O. Schwöbel, Der diplomatische Kampf zwischen Ludwig dem Bayern und der römischen Kurie im Rahmen des kanonischen Absolutionsprozesses 1330–1346 (QStudVerfGDtReich 10), Weimar 1968, S. 97–106, 152–159, 219–277, 395–415; vgl. auch J. Miethke, Kaiser und Papst im Spätmittelalter. Zu den Ausgleichsbemühungen zwischen Ludwig dem Bayern und der Kurie in Avignon, in: ZHistForsch 10 (1983) S. 421–446. – Auch Pfalzgraf Ruprecht I., der Begründer der Heidelberger Universität, unterstreicht entschuldigend in einem Brief vom 10. Okt. 1379 an König Karl V. von Frankreich: Insuper, illustrissime princeps et domine, supplicamus humiliter ut de mora per nos habita, in rescribendo illico, prout serenitati vestrae decuisset, nobis parcere velitis, cum hoc non ex malitia sed ex simplicitate processerit, praesertim quia re vera nos insufficientem – quia sola materna lingua utimur et simplex laicus sumus et litteras ignoramus – ad tanta et praemaxima puncta, quae ad salutem respiciunt animarum, reputamus congrue et debite respondere (hier zitiert nach Deutsche Reichstagsakten unter König Wenzel (RTA ÄR 1), hg. von J. Weizsäcker, ND Göttingen 1956, Nr. 149 S. 263; (unter abweichendem Datum) zitiert auch bei J. F. Hautz, Geschichte der Universität Heidelberg, 1, Mannheim 1862, ND Hildesheim 1980, S. 117 Anm. 40).
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aber dadurch, daß sie selbst bis in ihren eigensten Betrieb, bis in die akademische Lehre hinein auf Mündlichkeit, auf mündlich reproduzierbares Wissen, auf Gelehrsamkeit als Gedächtnisleistung hin orientiert war und blieb. Ihre Unterrichtsformen erzogen von Anfang an auf freie Rede, auf eristische Debatte um Argumente hin. Die Repeticiones in Quaestionenform für die Anfänger, die Quaestionenfolge in den Vorlesungen, Quaestio disputata und Quodlibet 67, alle diese Formen sollten den Studenten befähigen, im Umgang mit Argumenten, ihrer Anordnung und Zergliederung, ihrer Analyse und Widerlegung eine sichere Technik zu erwerben. Auf eleganten Stil kam es dabei nicht so sehr an, das scholastische Latein legt deutliches Zeugnis für diese Akzentsetzung ab: Dialektik, nicht Rhetorik war die Grunddisziplin der Artesfakultät. Und wie die Lehrmethoden auf den Umgang mit Argumenten zielten, nicht so sehr auf den Umgang mit sprachlichen, aesthetisch zu wertenden, oder gar zu genießenden Texten, so war diesem Ziel auch der Umgang mit den Büchern auf die Universität angepaßt. Natürlich bedarf Gelehrsamkeit der Bücher, und die Klagen von Intellektuellen, die fernab von großen Bibliotheken und reichen Manuskriptsammlungen sich auf ihre jeweilige Sache konzentrieren sollten, sind nicht selten68. Trotzdem bleibt die Funktion des Buches zunächst im Bewußtsein der Universitäten und ihrer Angehörigen durchaus sekundär. Nur knappe Hinweise seien dafür hier Beleg: Die Lehrveranstaltungen der mittelalterlichen Universität setzten durchaus nicht das gemeinsam gelesene Buch bei Professoren und Studenten voraus. Noch in der Mitte des 15. Jahrhunderts will man an der Universität Ingolstadt sicherstellen, daß künftig bei den Juristen wenigstens etwa 67 Zu den repeticiones, collationes und quaestiones als Lehrformen vgl. nur z.B. A. Maierù, Tecniche di insegnamento, in: Le scuole degli Ordini Mendicanti (secoli XIII–XIV) (Convegni del Centro di studi sulla Spiritualità Medievale 17), Todi 1978, S. 305–352, besonders S. 338 ff. – Vgl. auch P. Glorieux, L’enseignement au moyen âge, techniques et methodes en usage à la Faculté de Théologie de Paris au XIIIe siècle, in: ArchHistDoctLittMA 43 (1968) S. 65–186, besonders S. 120 ff. Zu den Repeticiones der Juristen vgl. etwa E. M. Meijers, Etudes d’histoire du droit, edd., R. Feenstra und H. F. W. D. Fischer, 3, Leyden 1959, S. 65 ff.; H. Coing, Die Juristische Fakultät und ihr Lehrprogramm, in: Handbuch der Quellen (wie Anm. 58) 1, S. 39–128, hier S. 75; Bellomo (wie Anm. 22) S. 229 ff. 68 Belege mit Äußerungen von Roger Bacon und Wilhelm Ockham, sowie mit den ersten Versuchen eines überregionalen Büchernachweises bei J. Miethke, Die Konzilien als Forum der öffentlichen Meinung im 15. Jh., in: DA 37 (1981) S. 736– 773, hier S. 765–767.
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drei Studenten gemeinsam in einem Manuskript den Text verfolgen können, den der Professor vorlas69. Die Statuten spre | chen zudem 30 eine deutliche Sprache. Wiederum sind die Juristen da am handgreiflichsten: In den Vorlesungen müssen die Dozenten textum cum glossa . . . cum additionibus de verbo ad verbum intellegibiliter et utiliter scolaribus legere, was doch nur heißen kann, daß sie den Text mit seiner Glossa ordinaria mit ihren anerkannten Zusätzen Wort für Wort verständlich und den Studenten vernehmbar verlesen sollen, so eine Bestimmung in Heidelberg am Ende des 14. Jahrhunderts, die dann zusätzlich noch weitere Apparate des 13. und 14. Jahrhunderts den Dozenten zur Pflicht-„verlesung“ aufgibt70. Die Statuten der Universität von Perugia verpflichten die Dozenten ausdrücklich dazu, dieser Vorschrift auch dann zu folgen, wenn die Studenten dagegen protestieren sollten71. Wir brauchen hier nicht bis ins Detail zu verfolgen, welche Kommentare und Apparate neben der Glosse bei den Juristen in den einzelnen Studien vorgeschrieben waren. Diese Methode war auch durchaus nicht nur in Heidelberg oder Perugia, oder gar nur bei den Juristen üblich. In allen Fällen war das Studium darauf gerichtet, Grundtexte und wichtige Argumente dem Gedächtnis einzuprägen, und das geschah weniger durch Lesen, als durch Hören: doctrina fit per sermonem audibilem et non sine sermone audibili; et sic surdi ad valde modicum possunt pertingere heißt es beiläufig bei Johannes Buridan im 14. Jahrhundert72. Der mündliche Unterricht war demselben Autor so
69 Vgl. Rashdall (wie Anm. 1) 1, S. 423 Anm. 2. Dort auch analoge Beispiele für Tübingen und Freiburg. Die Theologen in Paris sollen gemäß den Reformstatuten des Kardinal Guilleaume d’Estouteville (entsprechend wie es heißt, den statuta antiqua) Bibel und Sentenzenbuch zur Vorlesung mitbringen, vgl. Chartularium universitatis Parisiensis, ed. H. Denifle und E. Chatelain, 4, Paris 1897 (ND Brüssel 1964), Nr. 2690 S. 713–734, hier S. 716. Daß diese Bestimmung wiederholt wird, zeigt, wie nötig 1452 diese Einschärfung schien. 70 Statuten der juristischen Fakultät Heidelberg vom Ende des 14. Jahrhunderts, in: Winkelmann (wie Anm. 7) 1, Nr. 21 S. 24–30, Zitat S. 24 Zeile 7 f., vgl. ebenda Zeile 9 ff., 22, 25 f., 37 f., Zitiert auch bei Coing, Lehrprogramm (wie Anm. 67) S. 73. Vgl. zuletzt Willoweit (wie Anm. 56) S. 91 f., dessen Interpretation freilich höchst einseitig ist, weil sie die Parallelen außer Acht läßt. 71 Statuten der Universität von Perugia von 1457, ed. G. Padeletti, Documenti inediti per serviere alla storia delle università Italiane. Contribute alla storia dello studio die Perugia nei seccoli XIV e XV, Bologna 1872, S. 47–134, (hier zitiert nach Coing, Lehrprogramm, wie Anm. 67, S. 73). 72 Joh. Buridan: Quaestiones de sensu, Paris 1516, q. 3, fol. 30ra, hier zitiert nach Michael (wie Anm. 30) S. 251 Anm. 39, der diesen Gesichtspunkt auch allgemein mit aller wünschenswerten Deutlichkeit unterstreicht und mit Verve entwickelt.
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wichtig, daß er den gebräuchlichen Exordialtopos, den Autor hätten Freunde zur Veröffentlichung einer lectura, d.h. einer schriftlichen Ausarbeitung einer Universitätsvorlesung über die Physik des Aristoteles gedrängt, überbietet, indem er schreibt, er habe die Kühnheit gehabt, seinen Text nun schriftlich zu fixieren und seinen Schülern auf ihre Bitten hin mitzuteilen, quia, non possunt – ut dicunt – multa in scolis audita sine alicuius scripture adiutorio memoriae commendare73. Das Hauptziel bleibt die memoria, die Schrift dient als mnemotechnische Eselsbrücke, als Lehrbuch. Fast erleichtert können wir feststellen, daß bei allen bewundernswerten und uns unerreichbaren Leistungen des Gedächtnistrainings auch mittelalterliche Koryphäen bisweilen ihre Schwierigkeiten mit diesem System behielten, so etwa Wilhelm von Ockham, der gegenüber der memoria, die der Mensch mit dem vernunftlosen Tier gemeinsam habe, das iudicium, die Urteilskraft herausstellt, auf die es in der Wissenschaft und im Leben 31 ankomme74. | Der italienische Legist Bartolus (†1356), der vielleicht berühmteste Jurist des Mittelalters überhaupt, ließ sich, weil er sich die üblichen Allegationsketten nicht so recht merken konnte, von einem befreundeten Kollegen diese Zitatenketten in seinen Text einfügen75. Selbst in diesem defizienten Modus aber ist zu erkennen, was durch das Studium angestrebt wurde, worauf sich die formale Bildung vor allem erstreckte. 73 Joh. Buridan: Quaestiones in octo libres Physicorum Aristotelis, Prooem. (gedruckt in Buridan, Subtilissimae quaestiones super octo libros Physicorum Aristotelis, ed. J. Dullaert, Paris 1509, ND Frankfurt/Main 1964), hier zitiert nach Michael (wie Anm. 30) S. 578. 74 Ockham (?): Elementarium Logicae, ed. E. M. Buytaert in: FranciscStud 25 (1965) S. 170–276 u. 26 (1966) S. 66–173, hier 25, S. 275: . . . Propter quod non est necesse credere cuilibet qui putatur expertus in arte vel scientia sua, quia in multis artibus et scientiis nullus potest esse perfectus, sed quilibet errare potest. Sunt tamen multi qui putantur experti esse qui non sunt, sed vel omnino sunt errantes et ignari, vel solummodo habent memoriam litterarum vel illorum quae audierunt et viderunt, de eis certum et clarum iudicium non habentes. Multi enim vigent memoria, quae bestiis et hominibus, viris et mulieribus, pueris et adultis, stultis et sapientibus est communis; et tamen in iudicio omnino deficiunt vel habent iudicium valde debile. Vidi enim aliquos pueros et mulieres ac etiam naturaliter stultos quibusdam viris intelligentibus et profundi iudicii in potencia memoriae praevalere. Vgl. dazu die verwandten (unzweifelhaft authentischen) Äußerungen Ockhams in: Contra Benedictum 1, 8, ed. H. S. Offler in: Ockham, Opera politica 3, Manchester 1956, S. 190, oder in: Dialogus 1, 7 c. 79 (im Druck von Joh. Trechsel, Lyon 1494, ND Farnborough, Hants. 1962, fol. 164va). 75 Jedenfalls berichtet das Thomas Diplovatatius: Liber de claris iuris consultis (pars posterior), ed. F. Schulz, H. Kantorowicz, G. Rabotti (StudGrat 10), Bologna 1968, hier zu Franciscus Tigrini de Pisis, S. 274, 4–9. Dazu J. L. J. Van De Kamp, Bartolus de Sassoferato, 1313–1357, Leven-werken-invloed-beteekenis (Proefschrift . . .), Amsterdam 1936, S. 25. Vgl. aber Meijers (wie Anm. 67) S. 286.
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Diese didaktische Orientierung hatte im Zeitalter handschriftlicher Vervielfältigung von Texten eine bedeutsame Folge für die Buchherstellung, die an den Beständen der universitären Manuskripte noch heute in fast jeder größeren Handschriften-Sammlung ablesbar bleibt. Grundsätzlich gab es damals keinen offenen Buchmarkt, auf dem Anbieter fertige Produkte einbrachten und Abnehmer sich das ihnen Passende aussuchten. Dafür war die Mühsal des Abschreibens zu groß, bzw. war die mühevolle Arbeit des Kopierens zu teuer, die nur unternommen wurde, wenn jemand den Text auch haben wollte. Die Einteilung des Bestandes in Grundtexte, die jedermann brauchte und in andere, die nur bei Interesse in Frage kommen, ermöglichte es den Universitäten schon früh, schon seit dem 13. Jahrhundert, diese prinzipielle Schranke wenigstens tendenziell zu durchbrechen, indem sie durch das bekannte pecia-System die Grundtexte sozusagen auf Vorrat anlegten und durch manufakturelle Arbeitsteilung und Rationalisierung über die stationarii dieses Angebot zusätzlich verbilligten76. Im 14. und im 15. Jahrhundert, als das alte pecia-System in Paris und Bologna nicht mehr funktionierte, tat man an den Universitäten, insbesondere an den kleineren Universitäten Ostmitteleuropas und Deutschlands, wahrscheinlich aber auch in Paris einen weiteren Schritt: man führte eine Niederschrift insbesondere von Traktaten und Quaestionensammlungen, also nicht eigentlichen Textbüchern nach Diktat ( pronunciatio) ein77. Die Statuten der Universitäten Prag,
76 Dazu die Übersicht von Bellomo (wie Anm. 22) S. 113–133. Im einzelnen vor allem J. Destrez, La pecia dans les manuscrits du XIIIe et XIVe siècle, Paris 1935; J. Destrez und M. D. Cenu, Exemplaria universitaires des XIIIe et XIVe siècles, in: Scriptorium 7 (1953) S. 68–80; K. Christ, Petia. Ein Kapitel mittelalterlicher Buchgeschichte, in: ZBiblWesenBibliogr 55 (1938) S. 1–44; G. Pollard, The pecia system in the medieval universities, in: Medieval Scribes, Manuscripts and Libraries. Essays presented to N. R. Ker, London 1978, S. 145–162. 77 Etwa Christ (wie Anm. 76) S. 36–39. G. Fink-Errera, Une institution du monde médiéval: la pecia, in: Revue philosophique de Louvain 60 (1962) S. 187–210, 216–243. Michael (wie Anm. 30) S. 263–267 (mit zahlreichen Beispielen). Zusätzliche Exempel finden sich häufig, vgl. z.B. das Kolophon von Ms. Würzburg, UB, M. ch. f. 233 fol. 165v: . . . auctoritates . . . de omnibus questionibus magistri Marsilii de Inghen sacre theologie professoris reportate Prage per me Seyfridum de Rotenburg anno Domini m0 cccc 0 8 0 etc. (hier zitiert nach: Die Handschriften der UB Würzburg 2.2.2, bearbeitet von H. Thun, Wiesbaden 1986, S. 84 f.). Zu dem palaeographischen Aspekt vgl. demnächst G. Powitz, Modus scolipetarum et reportistarum. Pronuntiatio and fifteenth century hands (Vortrag auf dem „Septième colloque du comité international de paléographie“ in London 1985, erscheint voraussichtlich in: Scrittura e civiltà 1987; ich bin G. Powitz für die Überlassung des Manuskriptes zu Dank verpflichtet). In den Pariser Reformen des Kardinals Guilleaume d’Estouteville (wie Anm. 69), hier
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Wien, Heidelberg und Erfurt lassen bereits in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts erkennen, wie diese Technik an den Universitäten 32 eingesetzt wird | und wie Mißbräuche eingeschränkt werden sollten: Hauptproblem blieb es, die Güte des diktierten Textes und die Sicherheit der Zuschreibung an einen berühmten Autor zu gewährleisten. Indem man die Berechtigung zu solchem Diktat (das offenbar gegen Entgelt erfolgte) sorgfältig abstufte, indem man den Magistern unmittelbar gestattete, eigene und auch fremde Texte anerkannter Autoritäten zur Verbreitung vorzutragen, während man Bakkalare von einer Kontrollkommission überwachen ließ und ihnen auch verbot, eigene Produkte auf diese Weise zu verbreiten, und schließlich indem man den Studenten überhaupt verbot, in dieses Geschäft anders denn durch Mitschreiben einzusteigen, versuchte man das Problem zu lösen. Man war so erfolgreich, daß die Reformkonzilien des 15. Jahrhunderts78, aber auch etwa die burgundische Partei im Kampf um die Tyrannenmordlehre des Pariser Theologen Jean Petit79, sich dieser Technik imitierend bedient haben. Der Buchdruck, der gerade in Universitätsstädten recht rasch Fuß faßte80, machte dann dieses System auf die Dauer überflüssig, da er eine sicherere Technik zur Verfügung stellte, die die Gleichförmigkeit der Textkopien unvergleichlich steigerte. Daß aber diese Technik im Umgang mit Gebrauchstexten ihrerseits die Schwarze Kunst vorbereiten half, ist wohl deutlich. Hier will ich nicht untersuchen, ob uns diese skizzierte Grundhaltung im Umgang mit den Texten auch des 14. und 15. Jahrhunderts einen Fingerzeig geben kann zur Erklärung jenes Phänomens, das die Geistesgeschichte des späteren Mittelalters nicht nur in Deutschland geprägt hat, jener mit der Territorialisierang und Provinzialisierung
S. 720 bei Anm. 30, heißt es, es solle gelesen werden nec modo pronunciantium resumptione dignum secundum statutorum antiquorum tenorem – ob dies nicht auf die Pronunciatio als bekannte Lehrform verweist? Auch in Heidelberg jedenfalls, wo es die Einrichtung der pronuntiatio gab, ist eine lectio, eine Vorlesung in dieser Manier verboten, vgl. nur z.B. Thorbecke (wie Anm. 54) S. 59* Anm. 134. 78 J. Miethke, Konzilien (wie Anm. 68) S. 753–755 (mit entsprechenden Beispielen). 79 Vgl. die Phänomenbeschreibung (nicht die dort gegebene historische Einordnung, die ich für abwegig halte) bei C. C. Willard, The manuscripts of Jean Petit’s justification: some Burgundian propaganda methods of the early fifteenth century, in: StudFrancesi 38 (1969) S. 271–280 – übrigens ein weiterer Hinweis darauf, daß wahrscheinlich auch in Paris das Verfahren der pronunciatio bekannt war und geübt wurde. 80 Zusammenfassend S. Corsten, Der frühe Buchdruck und die Stadt, in: Studien zum Bildungswesen (wie Anm. 9) S. 9–32.
die welt der professoren und studenten
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der Universitäten einhergehenden Sklerotisierung ihrer geistigen Konturen, als Philosophie, Theologie und auch die Jurisprudenz in viae, in Schulen zersplittert wurden, die sich bisweilen nur noch durch die jeweils benutzten Lehrbücher voneinander unterschieden, wobei aber die Grenzen zwischen Ockhamisten, Skotisten, Albertisten, Thomisten, via, modernorum, nominales, reales, antiqui und dergleichen gleichwohl eifersüchtig und mit Klauen und Zähnen verteidigt wurden. Ich will auch nicht mehr darauf eingehen, wie der Humanismus eine andere Einstellung zur lateinischen Sprache, und damit auch zum Text mit sich bringt, der nicht mehr nur als „technische“ Sprache zum Transport möglichst exakt umschriebener Argumente dient, sondern in seinen ethischen und aesthetischen Valeurs wieder wahrgenommen wird, so daß nun die Rhetorik an jenen Platz zu rücken begann, den bisher die Dialektik beansprucht hatte. | 33 Die Welt der Universitäten, so wie wir sie hier in zwei sehr unterschiedlichen Ausschnitten uns vor Augen zu stellen versuchten, hat sich dadurch allein noch nicht grundlegend verändert. Erst als die Ordnung von Welt und Kirche in der deutschen Reformation neu interpretiert wurde, als für die herkömmlichen Methoden zumindest in der Theologie kein Raum mehr schien und die soziale Rolle des Universitätsangehörigen neu definiert wurde, da gerieten die Universitäten in eine dramatische Krise. Daß dann die einmal stabilisierten Formen der institutionellen Organisation und der Umgang mit den Texten überraschend bald wieder an die Traditionen des 15. Jahrhunderts anzuknüpfen begannen, das zu erörtern, bedürfte es eines eigenen, eines weiteren Untersuchungsganges.
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KAPITEL 9
DIE KIRCHE UND DIE UNIVERSITÄTEN IM 13. JAHRHUNDERT
Unter den Talaren: Muff von tausend Jahren. – Mit diesem Plakat haben Hamburger Studenten vor anderhalb Jahrzehnten die stürmische Phase von Auseinandersetzungen und erbitterten Kämpfen um eine Reform der deutschen Universitäten und Hochschulen sichtbar eingeleitet1, die nun allmählich versandet ist. Der hübsche Knittelvers beweist freilich nicht nur die damals gewollte Abkehr von dem stickigen Müllhaufen einer langen Tradition, er offenbart in seiner ahnungslosen chronologischen Ungenauigkeit auch eine Verachtung der eigenen Geschichte, die letzten Endes den Universitäten in Deutschland statt der erhofften Freiheit und Selbstbestimmung eine vordem schwer vorstellbare Bürokratisierung, Juridifizierung und staatliche Lenkung gebracht hat. Die europäischen Universitäten sind nicht in einer unvordenklichen Vorzeit entstanden, wie sie mit der mythologisch runden Zahl von 1000 Jahren evoziert wird. Wie sie sich gebildet haben, aus welchen Bedingungen sie im einzelnen erwuchsen, darüber ist seit langem nachgedacht worden, und zuletzt haben noch die Vorträge dieser Tagung darüber vielfältige Überlegungen angestellt. Jedenfalls war das Gebilde „Universität“, das sich im Laufe des 12. Jahrhunderts herauskristallisierte, eine originäre Neuschöpfung des Mittelalters. Es ist heute weithin unumstritten, daß diese Bildungsinstitution in ihrer eigenartigen Kombination von wissenschaftlicher Lehre, korporativer Autonomie und anstaltlicher Institutionalisierung sich von allen Formen und Einrichtungen höheren Unterrichts unterscheidet, die anderswo
1 Rektoratsübergabe an der Universität Hamburg im Sommersemester 1968, dazu z.B. Der Spiegel 1968, Nr. 30 (vom 22. 6. 1968) S. 28. – Das MS wurde im Dezember 1982 abgeschlossen, spätere Literatur konnte leider nur in Ausnahmefällen berücksichtigt werden. Eine englische Fassung konnte ich 1983 an der University of California, Los Angeles, dem Oberlin College in Oberlin, Ohio, und an der University of Wisconsin-Madison vortragen.
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kapitel 9
und zu anderen Zeiten außerhalb der damals begründeten Tradition 286 entstanden sind2. | War aber die europäische Universität zur Zeit ihrer Entstehung ursprünglich etwas Originelles, so bot sich schon den Zeitgenossen eine Einrichtung, die sich wohl auf historische Voraussetzungen, auf Vorbilder und Vorläufer stützen und sogar berufen durfte, die sich keineswegs aber damit begnügen konnte, im möglichst engen Anschluß an solche Traditionen ihre eigenen Probleme zu bewältigen: die Distanz zu allen überlieferten Schemata mußte auch da, wo sie nicht bewußt wahrgenommen wurde, noch faktisch ins Gewicht fallen. Andererseits konnten von dieser neuartigen Institution auch Wirkungen neuer und unerwarteter Art ausgehen. Die Frage erscheint mir reizvoll, ob solche Wirkungen, die von den Zeitgenossen, wenn überhaupt, naturgemäß nur sehr sporadisch registriert wurden, heute erkennbar sind. Im Rahmen der Überlegungen zu „Schulen und Universitäten im sozialen Wandel des hohen Mittelalters“ scheint mir ein Versuch zumindest zu einer Teilantwort auf diese Frage geradezu unerläßlich. Denn nur um eine Teilantwort kann es hier gehen: thematisch würde auch nur die Skizze einer Gesamtantwort den Entwurf einer synthetischen Gesamtgeschichte der europäischen Universitäten vor-
2 Zur gleichen Ansicht gelangt eine Untersuchung des Vokabulars der damals neuen Welt der Universität: O. Weijers, Terminologie des universités naissantes, Etudes sur le vocabulaire utilisé par l’institution nouvelle. In: Soziale Ordnungen im Selbstverständnis des Mittelalters, hg. v. A. Zimmermann. = Miscellanea Medievalia 12.1, (1979), S. 258–280. Vgl. auch bereits den berühmten Forschungsbericht von Sven Stelling Michaud, L’histoire des universités au moyen âge et à la renaissance au cours des vingt-cinq dernières années. In: Xe Congrès International des Sciences Historiques, Stockholm 1960, Rapports 1 (1960), S. 97–143 (hier S. 98 mit S. 130), italienische Übersetzung mit bibliographischen Ergänzungen in: Le origini dell’Università, a cura di G. Arnaldi (1974), S. 153–217 (hier S. 156). A. B. Cobban, The Medieval Universities, Their Development and Organisation (1975), bes. S. 21 ff., oder – mit fast ausschließlichem Blick auf Bologna – M. Bellomo, Saggio sull’ università nell’ età del diritto comune (1979). An einen starken Einfluß islamischarabischer Traditionen, besonders auf die Wissenschaftsmethoden, denken etwa H. Schipperges, Einflüsse arabischer Wissenschaft auf die Entstehung der Universität. In: Nova Acta Leopoldina NF 27 (1963), S. 201–212; Schipperges, Arabische Medizin im lateinischen Mittelalter. = SAH, Math.-nat. Klasse (1976, 2), bes. S. 10 f., 112 ff., oder G. Makdisi, The Scholastic Method in Medieval Education. An Inquiry into its Origins in Law and Theology. In: Speculum 49 (1974), S. 640–661. Dagegen vgl. auch P. Classen, Die geistesgeschichtliche Lage, An-stöße und Möglichkeiten. In: Die Renaissance der Wissenschaften im 12. Jh., hg. P. Weimar. = Züricher Hochschulforum 2 (1981), S. 11–32, bes. S. 16 f. ( jetzt in P. Classen, Ausgewählte Aufsätze, hg. J. Fleckenstein. = VuF 28 [1983], hier S. 333).
die kirche und die universitäten im 13. jahrhundert
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aussetzen, die derzeit gar nicht in Sicht ist3, vor allem aber lassen sich diese Fragen nicht mit der Auswertung eines wie immer komplizierten, jedoch grundsätzlich geschlossenen Quellenbestandes beantworten, sondern nur durch exemplarische Exkursionen in verschiedene Richtungen. Ich beschränke mich darum in doppelter Weise: den Rahmen unserer Überlegungen soll das Verhältnis der Kirche zu den Universitäten setzen – ich lasse also die weltlichen Herrschaftsträger, die sich früh auf die Universitäten eingestellt haben4, hier | 287 ebenso beiseite wie auch die Frage nach dem Verhältnis von Universität und alltäglichem Leben und wähle mit Bedacht jene Institution, die von Beginn sowohl eine besondere Affinität, als auch ein besonderes Interesse zu und an den Bildungseinrichtungen haben mußte. Dabei will ich hier die alte und unfruchtbare Debatte um den kirchlichen oder gar klerikalen Charakter der mittelalterlichen Universität nicht aufwärmen. Wie immer wir diesen Streit im Einzelfall und für bestimmte Zeiten oder Regionen entscheiden wollen, selbst wo die Hochschule als integrativer Teil des kirchlichen Organisationsbereiches aufgefaßt werden konnte oder aufgefaßt wurde, selbst dort noch bleibt die Antwort auf die Frage nach den Wirkungen dieser neuen Einrichtung auf die Gesamtkirche offen, selbst dort müssen wir das Wechselspiel von Kirche und Universität untersuchen. Ich will dabei so vorgehen, daß ich zunächst die Frage nach der quantitativen Mächtigkeit des neuen Phänomens stelle, dann einige Aspekte seiner Einbindung und Förderung durch die Amtskirche erörtere, um schließlich zu prüfen, wie weit sich Änderungen im kirchlichen Selbstverständnis in dieser Zeit auf die Universitäten zurückführen lassen. 3 Ein derartiges Ziel hat sich selbst der breite Überblick von Rashdall nicht gesetzt. Das gewaltig geplante fünfbändige Werk von H. Denifle ist über seinen grundlegend gebliebenen 1. Band nicht hinausgelangt (Die Entstehung der Universitäten des Mittelalters bis 1400 [1885]). 4 Vgl. neben S. Stelling Michaud, wie Anm. 2, S. 116 ff., (bzw. S. 177 ff.), vor allem J. Le Goff, Les universités et les pouvoirs publics au moyen âge et à la renaissance. In: XIIe Congrès International des Sciences Historiques, Vienne, Rapports 3 (1965), S. 189–206, abgedruckt in: Le Goff, Pour un autre moyen âge (1977), S. 198–219. Vgl. auch etwa J. Verger, Les universités au moyen âge. = Collection SUP, L’Historien 14 (1973), bes. S. 138 ff. Die Gründungswelle des 14. Jhs. fand eine erhellende Analyse bei A. Borst, Krise und Reform der Universitäten im frühen 14. Jh. In: MBohem ’70–3 (1971), S. 123–147, auch in: Konstanzer Bll. für Hochschulfragen 30 (1971), S. 47–62. Vgl. auch H. Koller, Die Universitätsgründungen des 14. Jhs. = Salzburger Universitätsreden 10 (1966). Eine Auflistung der Daten der gelungenen Gründungen bis 1400 durch R. C. Schwinges, in: Ploetz, Auszug aus der Geschichte, 29. Aufl. (1980), S. 396.
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Die Frage nach quantitativ meßbaren Größenverhältnissen führt uns sofort in unwegsames Gelände. Für das ganze Mittelalter wissen wir sehr viel besser, was an den Universitäten gelehrt wurde und wie es vermittelt worden ist, als wer dort gelernt oder gelehrt hat. Und das ist nicht so sehr Folge einer Forschungstradition und damit ein – nachholbares – Versäumnis, als vielmehr eine Konsequenz der Quellenlage. Von allen Mitgliedern, die einer Universität zu einer bestimmten Zeit angehört haben, kennen wir noch am ehesten diejenigen, die am intensivsten mit ihr verbunden waren, d.h. jene, die nicht nur ein Studium durchlaufen und abgeschlossen haben, sondern darüber hinaus an ihr Unterricht erteilten und vor allem zusätzlich als Verfasser von wissenschaftlichen Schriften hervorgetreten sind. Die genaue Zusammensetzung eines bestimmten Professorenkollegiums zu einer bestimmten Zeit läßt sich in aller Regel erst relativ spät im Mittelalter verläßlich ermitteln, nämlich erst dann, wenn Fakultäts-, Promotionsakten, Gehaltsabrechnungen und dergleichen uns die entsprechenden Daten relativ geschlossen zur Verfügung stellen. Im allgemeinen ist das aber erst im späteren 14. Jahrhundert oder gar erst im 15. Jahrhundert der Fall. Die schreibgewohnten Mitglieder der frühen Universitäten haben uns über sich selbst keine umfänglichen prosopographischen Zeugnisse, keine Listen, Verzeichnisse oder Aufzeichnungen hinterlassen. Erst aus dem späteren 14. Jahrhundert oder gar erst aus dem 15. Jahrhundert stammt eine dichtere Dokumentation, die eine zumindest repräsentative Rekonstruktion der Professorenschaft aussichtsreicher macht. Steht es so bei den Professoren, die doch eher eine Chance hatten, ihre Namen in Listenform der Nachwelt zu hinterlassen, so gilt dasselbe in noch stärkerem Umfange für die Studenten. Die deutsche Forschung, verwöhnt von den Matrikellisten der deutschen Hochschu288 len – die | gleichwohl erst um die Wende zum 15. Jahrhundert deutlicher zu sprechen beginnen5 – hat, bei aller Problematik im einzelnen, wenigstens für das Spätmittelalter einen zwar an den Rändern unschar5 K. Goldmann, Verzeichnis der Hochschulen und hochschulartigen Gebilde sowie ihrer Vorläufer und Planungen in deutsch- und gemischtsprachigen Gebieten unter besonderer Berücksichtigung ihrer (Haupt)Matrikel, ein Versuch (1967). Guter Überblick bei E. Giessler-Wirsig, Universitäts- und Hochschulmatrikeln. In: Taschenbuch für Familiengeschichtsforschung, hgg. v. W. Ribbe, E. Henning (91980), S. 141– 180.
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fen, insgesamt aber doch einigermaßen soliden Materialfundus, der bei aller Dürre doch einige statistische Aussagen erlaubt6. In den anderen europäischen Ländern ist die Situation selbst für das spätere Mittelalter viel problematischer – jedenfalls aber haben wir für die frühe Zeit der Herausbildung und Konsolidierung der europäischen Universitäten im 12. und 13. Jahrhundert bis weit ins 14. Jahrhundert hinein keinerlei breiter gestreute Informationen über die Zusammensetzung des Personals, ja nicht einmal über grobe Schätzungen aus Rückschlüssen hinausführende Informationen über die pure Quantität der Universitätsmitglieder. Alle solche Schätzungen aber, so vorsichtig und realistisch sie auch in sich sein mögen, können allenfalls einen Eindruck von einer imaginären Durchschnittskapazität ermitteln – für Oxford bis ins 14. Jahrhundert hinein ca. 1600 bis 1800 Studenten7, für die Universität Cambridge derselben Zeit etwa die Hälfte, im späteren Mittelalter dann 13008, für Bologna im 13. Jahrhundert etwa ebenfalls soviel9, für Paris im 13. Jahrhundert10 6 Nach der klassischen auf die Frequenz zielenden Auswertung durch F. Eulenburg, Die Frequenz der deutschen Universitäten von ihrer Gründung bis zur Gegenwart. = AGL, Phil. hist. Kl. (1904) ist geradezu eine eigene Forschungsrichtung in Gang gekommen. Methodisch vorbildlich zuletzt etwa R. C. Schwinges, Deutsche Universitätsbesucher im späten Mittelalter, Methoden und Probleme ihrer Erforschung. In: Politische Ordnung und soziale Kräfte im Alten Reich, hg. von H. Weber. = Veröff. des Instituts f. europ. Gesch., Abt. Universalgesch., Beiheft 8 = Beiträge zur Verfassungsgeschichte des Alten Reiches 2 (1980), S. 37–51; vgl. auch Schwinges, „Pauperes“ an deutschen Universitäten. In: ZHF 8 (1981), S. 285–309, oder Schwinges, Studentische Kleingruppen im späten Mittelalter, Ein Beitrag zur Sozialgeschichte deutscher Universitäten. In: Politik, Gesellschaft, Geschichtsschreibung. Gießener Festgabe für Franti“ek Graus zum 60. Geb., hg. von H. Ludat u. R. C. Schwinges (1982), S. 319–361; oder Schwinges, Universitätsbesuch im Reich vom 14. zum 16. Jh., Wachstum und Konjunkturen. In: Gesch. und Ges. 10 (1984), S. 5–30. 7 Jetzt zu Oxford vor allem T. H. Aston, Oxford’s Medieval Alumni. In: PP 74 (1977), S. 3–40, hier S. 6 f. („a round grand total of 1520 to 1700, say 1600, plus those in the monastic colleges and some in private lodgings and the like“ für das 13. Jh.). Zu den Schwierigkeiten quantitativer Erhebungen vgl. auch W. J. Courtenay, The Effect of the Black Death on English Higher Education. In: Speculum 55 (1980), S. 696–714, bes. S. 701 ff. 8 Siehe wiederum T. H. Aston, G. D. Duncan, T. A. R. Evans, The Medieval Alumni of the University of Cambridge. In: PP 86 (1980), S. 9–86, hier S. 11 ff. (S. 19: „Our grand total will therefore be 1320–1375. Rounding this down on the cautious side we might say 1300“ – dabei gilt das für das spätere Mittelalter). 9 Nach den Aufstellungen (aufgrund einer Auswertung der Notariatsakten) von S. Stelling Michaud, L’université de Bologne et la pénétration des droits Romain et canonique en Suisse aux XIIIe et XIVe siècles. = Travaux d’Humanisme et Renaissance 17 (1955), S. 38 f., schwankt im 13. Jh. die Zahl der Studenten in Bologna zwischen ca. 240 (im Jahr 1267) und ca. 1470 (im Jahr 1269). 10 Für das spätmittelalterliche Paris errechnet Jean Favier, Paris au XVe siècle,
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289 wohl etwas mehr als in | Oxford. So sehr solche Ziffern unserer Quantitätsvorstellung einen Anhalt zu geben vermögen, so deutlich muß doch festgehalten werden, daß uns bei diesen und ähnlichen Zahlenangaben die extremen Frequenzschwankungen entgehen, die wir aus der späteren, besser belegten Zeit überall in Europa beobachten können11. Mit der stereotypen – in diesem Fall aber zweifellos gut fundierten – Historikerklage über den Mangel an zureichenden Quellen können wir uns freilich nicht zufrieden geben. Gewiß ist eine umfassende Antwort auf die Frage nach der quantitativen Entwicklung der Universitäten im 13. Jahrhundert schlechterdings unmöglich, aber wir können doch versuchen, auf Umwegen Nachrichten zu finden, die uns zumindest grobe Umrisse des nicht mehr voll rekonstruierbaren Bildes erkennen lassen. Die Gesamtzahl von Generalstudien im Europa des 13. Jahrhunderts war relativ klein12. Neben die älteren Hochschulen Salerno, Bologna, Paris, Oxford und Montpellier, die sich bereits im 11. und 12. Jahrhundert geformt hatten, die sich gleichwohl erst an der Wende zum 13. Jahrhundert ihre rechtliche Fixierung zu sichern wußten, treten verschiedene andere Orte, meist auf Grund einer Professorenoder Studentensezession aus den älteren Generalstudien abgeleitet, wie sich insbesondere in Oberitalien (Modena, Vicenza 1204, Arezzo 1215, Padua 1222, Vercelli 1228, Siena 1246 und Piacenza 129813) 1380–1500. = Nouvelle histoire de Paris 4 (1974), bes. S. 68 ff., aufgrund freilich sehr viel großzügigerer Annahmen, insgesamt 2660 Universitätsangehörige in der Mitte des 15. Jhs. Demgegenüber erscheint die grobe Schätzung von J. W. Baldwin, Masters, Princes and Merchants, The social views of Peter the Chanter and his circle (1970), 1, S. 72 (mit 2, S. 51, Anm. 52), der für die Zeit um 1200 insgesamt 2500 bis 5000 Universitätsangehörige ansetzt, als weit überhöht. 11 Zu den extrem starken Frequenzschwankungen vgl. bereits F. Eulenburg, wie Anm. 6, S. 48 ff., s. z.B. auch T. H. Aston e. a., wie Anm. 8, S. 20 u. 25 f. Für das spätmittelalterliche Erfurt instruktiv H. R. Abe, Die Frequenz der Universität Erfurt im Mittelalter (1392–1521), und: Die frequentielle Bedeutung der Erfurter Universität im Rahmen des mittelalterlichen deutschen Hochschulwesens (1392–1521). = Beiträge zur Geschichte der Universität Erfurt 1392–1816, 1 (21962), S. 7–69, u. 2 (1957), S. 29–57. 12 Darauf hat erneut nachdrücklich aufmerksam gemacht J. Le Goff, Les universités du Languedoc dans le mouvement universitaire européen au XIIIe siècle. In: Les universités du Languedoc au XIIIe siècle. = Cahiers de Fanjeaux 5 (1970), S. 316– 328, hier S. 317 f.; vgl. auch P. Classen, Die Hohen Schulen und die Gesellschaft im 12. Jh. In: AK 48 (1966), S. 155–180, S. 174 ff.; jetzt P. Classen, Studium und Gesellschaft im Mittelalter, hg. J. Fried = MGH Sehr. 29 (1983), hier S. 18 ff. 13 Zu den italienischen Universitäten vgl. außer H. Denifle, wie Anm. 3, und Rashdall, Bd. 1, S. 87–268, 2, S. 1–62, etwa die Übersicht, die sich freilich vorwiegend auf Padua konzentriert, von L. Sbriziolo, Per la storia delle università d’Italia. In: LI 25 (1973), S. 394–424.
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belegen läßt, aber auch in Frankreich, wo sich Hohe Schulen in Angers (vor 1229)14 und Orléans (vor 1231)15 nachweisen lassen, und in | England (Cambridge ist belegt seit 1209)16; aber bei weitem nicht 290 alle diese Studien haben während des 13. Jahrhunderts eine so stabile Existenz gehabt, wie das zuletztgenannte Cambridge, die Mehrzahl dieser Universitäten verschwindet wieder von der Bildfläche nach tastend unsicherem Beginn. Und wenn fast alle diese Städte im späteren Mittelalter Universitäten besaßen17, so blicken sie doch nicht auf ein ununterbrochenes Bestehen zurück, sondern verdanken dies in aller Regel einem Wiederanknüpfen an versunkene Traditionen, einem Neuansatz zu gelegener Zeit. Selbst im Fall von solch berühmten Hochschulen des späteren Mittelalters wie Padua oder Siena läßt sich diese gebrochene Kontinuität, dieses stotternde Fortschreiten in Einsatz, Unterbrechung und Neueinsatz beobachten. Und wenn das für diese gleichsam aus wilder Wurzel gewachsenen studia ex consuetudine gilt, wie sie in der spätmittelalterlichen Theorie genannt werden sollten, so gilt das auch nicht minder für die seit dem 13. Jahrhundert auftauchenden ersten Gründungsuniversitäten, die studia ex privilegio der späteren Systematik18: Toulouse (1229), die 14 Zur Pariser Sezession von 1229–1231 und Gründung der Universität Angers vgl. außer den Anm. 120 aufgeführten allgemeinen Überblicken Chr. Thouzellier, wie Anm. 108, S. 189 f. 15 Zur Geschichte der Universität Orléans vgl. bes. E. M. Meijers, L’Enseignement du droit dans trois universités du XIIIe siècle, L’université d’Orléans au XIIIe siècle (11918/36), in: Meijers, Etudes d’histoire du droit, edd. R. Feenstra, H. F. W. D. Fischer, Bd. 3 (1959) S. 3–148; vgl. auch Actes du congrès sur l’ancienne Université d’Orléans (XIIIe–XVIIIe siècles) (1962), und R. Feenstra, De Universiteit van Orléans in de Middeleeuwen, Centrum van europese rechtswetenschap en kweekschool van nederlandse juristen. In: Samenwinninge (1977), S. 11–32. Eine umfängliche Bibliographie legte vor S. Guénée, Bibliographie d’histoire des universités françaises des origines à la révolution, Université d’Orléans (1970). 16 Zur Gründung und Frühgeschichte von Cambridge gibt es nur spärliche Belege. Die ältesten Statuten (von 1236/54) hat herausgegeben und eingehend analysiert M. B. Hackett, The Original Statutes of Cambridge University, The Text and its History (1970); dort S. 41 auch eine knappe Übersicht über Quellen und Forschungen. Die Statuten selbst wurden bereits gedruckt bei V. Skånland, The Earliest Statutes of the University of Cambridge. In: Symbolae Osloenses 40 (1965), S. 83–99. 17 Ausnahmen sind etwa Vicenza oder Piazenza. 18 Zu dieser vgl. vor allem G. Ermini, Concetto di „studium generale“. In: Archivio giuridico „Filippo Serafini“ [ser. V, t. 7] 127 (1942), S. 3–24; auch W. Ullmann, The Medieval Interpretation of Frederick I’s Authentic „Habita“, in: L’Europa e il diritto Romano. Studi in memoria di Paolo Koschaker (1954) 1, S. 101–136, Neudruck in: Ullmann, Scholarship and Politics in the Middle Ages (1978), Nr. XI. Jetzt auch G. Arnaldi, Giuseppe Ermini e lo „studium generale“. In: Il diritto comune e la tradizione giuridica europea. Atti del convegno di studi in onore di G. Ermini, a cura di D. Segoloni. = Annali della Fac. di Giurisprudenza dell’Univ. di Perugia, n. s. 61 (1980), S. 25–33.
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erzwungene Stiftung des Grafen Raymund am Ende der sogenannten Albigenserkriege im Languedoc19, Neapel (1224), die Gründung Kaiser Friedrichs II. in seinem Königreich Sizilien20, das „Studium 291 curiae“, das | Papst Innozenz IV. an der römischen Kurie (1245) einrichtete21, können als Kronzeugen dafür auftreten, aber ebenso die Generalstudien in den iberischen Königreichen22, Palencia (1209) oder Valladolid in Kastilien, Salamanca (vor 1230) in Léon, schließlich Lissabon bzw. Coimbra (am Ende des 13. Jahrhunderts) in Portugal. Von einer stabilen, dauerhaften Entwicklung, von einem stetigen Wachstum kann bei ihnen allen nicht die Rede sein. Insgesamt haben wir es im 13. Jahrhundert in ganz Europa jeweils etwa mit einer Handvoll (oder einer nur geringfügig größeren Anzahl) von Universitäten gleichzeitig zu tun. Um große Quantitäten scheint es sich also nicht zu handeln. Welche Wirkungen diese eher bescheidene Zahl von Generalstudien im Europa des 13. Jahrhunderts übte, auf diese Frage geben uns unsere Quellen keine auch nur annähernd umfassende Auskunft. Immerhin sind einige exemplarische Hinweise mö19 Nach E. M. Meijers, Etudes 3, S. 167–210, vgl. vor allem die zusammenfassenden Überblicke von E. Delaruelle, M. H. Vicaire, Y. Dossat u. M. Borries in: Les universités du Languedoc au XIIIe siècle. = Cahiers de Fanjeaux 5 (1970), passim. Eine Übersicht bei C. E. Smith, The University of Toulouse in the Middle Ages (1958). Materialreich zum Rechtsstudium A. Gouron, Enseignement du droit. Légistes et canonistes dans le Midi de la France à la fin du XIIIe et au début du XIVe siècle. In: Recueil des mémoires et travaux de l’université de Montpellier 5 (1966), S. 1–33. 20 Immer noch maßgebend K. Hampe, Zur Gründungsgeschichte der Universität Neapel. = SAH, PH 1923, 10. Vgl. auch P. Classen, Die ältesten Universitätsreformen und Universitätsgründungen des Mittelalters. In: Heidelberger Jahrbücher 12 (1968), S. 72–92, bes. S. 75 f. ( jetzt in Classen, Studium und Gesellschaft, wie Anm. 12, hier S. 178 f.); irreführend dagegen sind die vergleichenden Bemerkungen von R. Schmidt, Begründung und Bestätigung der Universität Prag durch Karl IV. und die kaiserliche Privilegierung von Generalstudien. In: BDLG 114 (1978), S. 695–719, (dagegen vgl. QFIAB 60, 1980, S. 626). 21 R. Creytens: Le „studium curiae“ et le „maître du sacre palais“. In: Archivum fratrum Praedicatorum 12 (1942), S. 5–83, zur Gründung bes. S. 16 ff.; dort auch zu dem anfangs prekären Charakter der Einrichtung. Prosopographische Untersuchungen zur Frühzeit für die Naturwissenschaften legte vor A. Paravicini Bagliani, A proposito dell’ insegnamento di medicina allo „studium curiae“. In: Studi sul XIV secolo in memoria di Anneliese Maier. = Storia e letteratura 151 (1981), S. 395–413. 22 Zur Gründung der spanischen Universitäten gibt zusätzliche Literatur zu der bei S. Stelling-Michaud, wie Anm. 2, S. 112 f. (bzw. S. 182) verzeichneten, R. Gibert, Bibliografia sobre universidades hispanicas. In: Bibliographie internationale de l’Histoire des universités 1. = Commission internationale pour l’histoire des universités, Etudes et travaux 2 (1973) S. 1–100, sowie A. Moreira de Sà, Bibliografia da universidade portuguesa (1288–1537). In: Bibliographie intern. de l’Histoire des univ. 2 = Comm. int. pour l’hist. des univ. 5 (1976), S. 1–80.
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glich, die unseren Vorstellungen Anhalt geben können. Über die Intensität dieser Wirkungen läßt sich am ehesten ein Bild gewinnen, wenn wir über die Karriere von Universitätsabgängern verfügbare Daten sammeln. Da uns die Generalstudien selber in dieser Zeit in keinem einzigen Fall eine auch nur repräsentative Erfassung ihres „output“ erlauben, sind wir hier auf die Beobachtung von Institutionen angewiesen, die solche Universitätsabgänger aufnehmen konnten und wollten, auf eine Ermittlung also von Teilausschnitten des „inputs“ von akademisch Gebildeten in bestimmten Bereichen des gesellschaftlichen und kirchlichen Lebens. Natürlich wiederholen sich hier die Schwierigkeiten der Quellenlage, die wir bereits konstatiert haben, in noch höherem Maße. Allein die Identifikation von „Studierten“ stellt den, der Vollständigkeit erwartet, vor unlösbare Aufgaben. Allenfalls gibt uns das Selbstbewußtsein der Graduierten, das sie meist veranlaßte, das zweideutige Wort „Magister“ stolz und gleichsam als Titel zu führen23, seit dem späteren 12. Jahrhundert zunehmend die Chance, wenigstens diejenigen Universitätsabgänger erfassen zu können, die die langwierige und
23 Allgemein vgl. Ch. Lefèbvre, Docteurs, in: DDC 4 (1949), Sp. 1325–1336. Zur Begriffsgeschichte bes. M. D. Chenu, La théologie au XIIe siècle. = EphM 45 (21966), S. 324 ff., 358 ff. vgl. auch Y. Congar, Pour une histoire sémantique du terme „magisterium“. In: RSPhTh 60 (1976), S. 85–98. Das mittelalterliche Ideal eines „Magisters“ zeichnete nach A. L. Gabriel, The Ideal Master of the Medieval University. In: CathHR 60 (1974), S. 1–40. Zum Selbstbewußtsein der Juristen (allerdings vor allen an Quellen späterer Zeit) besonders H. U. Kantorowicz, „Praestantia doctorum“ (11931), jetzt in: Kantorowicz, Rechtshistorische Schriften, hg. von H. Coing u. G. Immel. = Freiburger Rechts- und Staatswiss. Abh. 30 (1970), S. 377–396; (ohne Kenntnis davon) G. Le Bras, „Velut splendor firmamenti“, Le docteur dans le droit de l’église médiévale. In: Mélanges offerts à Etienne Gilson (1959), S. 373–388; dazu vgl. auch A. Visconti, De nobilitate doctorum legentium in studiis generalibus. In: Studi di storia e diritto in onore di Enrico Besta (1939) 3, S. 221–241; D. Maffei, Dottori e studenti nel pensiero di Simone da Borsano. In: SG 15 (1972), S. 229–249; zuletzt noch H. Lange, Vom Adel des doctor. In: Das Profil des Juristen in der europäischen Tradition. Symposion aus Anlaß des 70. Geb. von Franz Wieacker (1980), S. 279–294. Die Theologen behandeln u.a. J. Leclercq, L’idéal du théologien au moyen âge. In: Revue des sciences religieuses 21 (1947), S. 121–148, G. H. M. Posthumus Meyjes, „Quasi stellae fulgebunt“, Plaats en funktie van de theologische doctor in de middeleeuwse maatschappij en kerk (1979). Allgemein für das spätere Mittelalter vgl. H. Boockmann, Zur Mentalität spätmittelalterlicher Gelehrter Räte. In: HZ 233 (1981), S. 295–316, und die monumentale Studie von H. Heimpel, Die Vener von Gmünd und Straßburg 1162–1447. Studien und Texte zur Geschichte einer Familie sowie des gelehrten Beamtentums in der Zeit der abendländischen Kirchenspaltung und der Konzilien von Pisa, Konstanz und Basel. = Veröff. des Max-Planck-Instituts für Gesch. 52. 1–3 (1982) bes. l, S. 197–199.
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292 kostspielige | Prozedur der Graduierung24 durchlaufen hatten. Leider bleiben unauflösbare Unschärfen bei allen prosopographischen Untersuchungen dieser Art erhalten, die uns besonders in dieser frühen Zeit zu Zurückhaltung und Vorsicht bei weiteren Schlußfolgerungen zwingen. Am nächsten liegt im Rahmen unserer Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Universität im 13. Jahrhundert natürlich die Untersuchung des Anteils, den die Graduierten an der römischen Kurie, im Zentrum der Kirche, im Laufe des 13. Jahrhunderts gewonnen haben. In Wahrheit ist die Antwort nicht leicht. Natürlich weiß jedermann, daß im 13. Jahrhundert eine Fülle von bedeutenden Gelehrten oder doch zumindest nachweislich früheren Universitätsprofessoren an der Spitze der katholischen Hierarchie ihren Platz gefunden hat. Die Päpste des 13. Jahrhunderts hatten meist ein Studium hinter sich gebracht. Theologen und mehr noch Juristen haben als Päpste regiert, von Innozenz III. an, dessen genauen Studiengang wir frei293 lich | nicht verfolgen können25, über Gregor IX.26 und über Innozenz 24 Die Kosten der Graduierung kennen wir erst aus dem späteren Mittelalter genauer. Johannes Andreae († 1348) bemerkt in der „Glossa ordinaria“ zu den Clementinen von 1322 (zu Clem. 5,1,2 v. „excedunt“) trocken: Sicut quandoque imperfectum scientiae supplet perfectio caritatis . . . sie quandoque in talibus imperfectum scientiae supplet perfectio expensarum (im Druck Venedig 1591, S. 183). Im einzelnen vgl. S. Stelling Michaud, wie Anm. 2, S. 118–122 (bzw. S. 195–199), Die Angaben zu den Juristen bei H. Coing, Hdb. I, S. 75–80; zu Italien J. Le Goff, Dépenses universitaires à Padoue au XVe siècle. In: MAH (1956), S. 377–395, jetzt in: Le Goff, Pour une autre moyen âge (1979) S. 147–161; zu Deutschland auch etwa K. Burmeister, Das Studium der Rechte im Zeitalter des Humanismus im deutschen Rechtsbereich (1974) S. 263–300; zu Südfrankreich J. Verger, Le coût des grades: droit et frais d’examen dans les universités du midi de la France au moyen âge. In: A. L. Gabriel (ed.), The Economic and Material Frame of the Medieval University. = Texts and Studies in the History of Medieval Education 15 (1977), S. 19–36. Für die frühere Zeit fehlen solch relativ exakte Angaben, vgl. aber immerhin außer den jammervollen Studentenbriefen etwa bei C. H. Haskins, The Life of Medieval Students as Illustrated by their Letters. In: Amer. Hist. Rev. 3 (1898), S. 203–229, jetzt in Haskins, Studies in Medieval Culture (1929), S. 1–35, und dem oft zitierten Geständnis Abaelards, er sei durch seinen Unterricht reich geworden: Historia calamitatum, ed. J. Monfrin, (31967), S. 70, Zl. 248–51, etwa die Diskussion um die Unentgeltlichkeit der „licentia“, zu der hier nur genannt seien G. Post, K. Giocarinis, R. Kay, The medieval heritage of a humanistic ideal: „scientia donum dei est, ergo vendi non potest“. In: Traditio 11 (1955), S. 195–234, sowie J. W. Baldwin, Masters, Princes and Merchants, bes. Bd. I, S. 124 ff. (mit Bd. II, S. 84 ff.). 25 K. Pennington, The Legal Education of Pope Innocent III. In: BMCL, NS 4 (1974), S. 70–77, kritisiert überscharf das überkommene Bild vom „Huguccio-Schüler“ Innozenz als einen aus den Quellen nicht nachweisbaren Mythos, wenn er diesem Papst eine juristisch-universitäre Schulung schlechthin absprechen möchte (wobei eine theologische Schulung ohnedies nicht zu leugnen ist), vgl. auch die ibid. S. 70,
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IV., der erst als Papst seinen wissenschaftlichen Kommentar zur Dekretalensammlung seines Vorgängers abgeschlossen und veröffentlicht hat27, über Clemens IV28. und Gregor X29. bis hin zu Johannes XXI., der auch | als Papst von seinen wissenschaftlichen Studien 294 Anm., zitierte Auffassung von S. Kuttner, der sich mittlerweise noch deutlicher geäußert hat: Universal Pope or Servant of God’s Servants. The Canonists, Papal Titles and Innocent III. In: RDC 31 (1981), S. 109–149, bes. S. 122 mit Anm. 51 und S. 133–135. Vgl. auch die bereits etwas abgeschwächten Thesen bei Pennington, Pope Innocent III’s Views on Church and State. A Gloss to „Per Venerabilem“. In: Law, Church and Society. Essays in Honor of S. Kuttner, edd. K. Pennington u. R. Somerville (1977), S. 49–67, bes. S. 50–52. 26 Zu Gregor IX. (Hugolin aus dem Haus der Grafen von Segni) liegt naturgemäß eine reiche Literatur vor. Zu seiner Herkunft ist bes. G. Marchetti Longhi, Ricerche sulla famiglia di papa Gregorio IX. In: ASRSP 67 (1944), S. 275–307, heranzuziehen. Allgemein zu seinem viel umstrittenen Anteil bei der Formation des Franziskanerordens etwa K.-V. Selge, Franz von Assisi und Hugolin von Ostia, in: San Francesco nella ricerca storica degli ultimi ottanta anni. = Convegni di studi sulla spiritualità medioevale 9 (1971), S. 157–222. Bezeichnend ist auch die besondere Rolle dieses Mannes bei den Auseinandersetzungen um die Laienpredigerbewegungen, vgl. R. Zerfass, Der Streit um die Laienpredigt. = Untersuchungen zur praktischen Theologie 2 (1974), S. 253–300, und seine noch unzureichend aufgeklärte Rolle bei der Entstehung der Ketzerinquisition, dazu zuletzt eindrucksvoll A. Patschovsky, Zur Ketzerverfolgung Konrads von Marburg. In: DA 37 (1981), S. 641–693. Die strenge Religiosität unterstreicht G. B. Ladner, Die Papstbildnisse des Altertums und des Mittelalters, Bd. 2. = Monumenti di antichità cristiana II. 4 (1970), S. 96–111, bes. S. 105. Vgl. jetzt auch P. Classen, Studium und Gesellschaft, wie Anm. 12, S. 160 f. 27 Außer dem Überblick von J. A. Cantini u. Ch. Lefébvre, Sinibalde dei Fieschi. In: DDC 7 (1965), Sp. 1029–1062, vgl. insbes. V. Piergiovanni, Sinibaldo dei Fieschi, decretalista. Ricerche sulla vita. In: Collectanea Stephan Kuttner. 4 = SG 14 (1967), S. 125–154; weitere Literatur bei A. Paravicini Bagliani, Cardinali di curia e „familiae“ cardinalizie del 1227 al 1254. 1–2. = Italia sacra 18–19 (1972), hier 1, S. 61–67. Zum Apparat etwa G. Le Bras, Innocent IV romaniste. Examen de l’ „Apparatus“. In: Collectanea St. Kuttner 1. = SG 11 (1967), S. 305–326. Jetzt auch Classen, Studium und Gesellschaft, wie Anm. 12, S. 162 ff. 28 Guido, Sohn eines Rechtsgelehrten aus ritterlicher Familie Südfrankreichs namens Foucaud Le Gros (der es seinerseits beim Grafen Raimund IV. von Toulouse zum Kanzler und Oberhofrichter gebracht hatte), hatte nach seinem Studium der Kanonistik in Paris dort zunächst im Dienst des Grafen von Poitou, später für König Ludwig IX. gearbeitet, erst nach dem Tode seiner Frau hatte er 1256 die Priesterweihe erhalten und war 1257 zum Bischof von Le Puy (und kgl. Rat) ernannt worden, 1259 zum Erzbischof von Narbonne; 1261 von Urban IV. zum Kardinalbischof von S. Sabina kreiert, wird er 1265–1268 Papst als Clemens IV.: eine steile, aber nicht untypische Karriere eines Kurialen des 13. Jhs. Vgl. zu ihm ausführlich C. Nicolas, Clément IV. (1910); zur politischen Geschichte seines Pontifikats etwa Haller, Bd. 4, S. 231–275 (mit S. 331–343); Y. Dossat, Gui Foucois, enquêteur – réformateur, archevêque et pape (Clément IV). In: Cahiers de Fanjeaux 7 (1972), S. 23–57; L. Kolmer, Papst Clemens IV. beim Wahrsager. In: DA 38 (1982), S. 141–165; R. H. Bauthier, Un grand pape méconnu du XIIIe siècle, Clément IV (1983). 29 L. Gatto, Il pontificato di Gregorio X., 1271–1276 (1959).
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nicht lassen wollte, und der schließlich starb, nachdem die unzureichend konstruierte Decke seines neuerbauten Bibliothekszimmers in Viterbo über ihm zusammengestürzt war30. Nikolaus IV. war als gelehrter Pariser Franziskanertheologe zuerst Generalminister seines Ordens und dann Kardinal31 gewesen, und Bonifaz VIII. wird sich noch im letzten Konflikt mit dem französischen König Philippe le Bel stolz auf seine juristische Expertenschaft berufen, die er sich in 40 Jahren als Kanonist erworben habe32: Eine glänzende Reihe! Selten in der Kirchengeschichte sind Päpste so stark auch als Gelehrte hervorgetreten wie auf der Höhe des Mittelalters. Das sei gar nicht gewertet, und schon gar nicht etwa fällt es ausschließlich positiv ins Gewicht33. Es ist aber angesichts dessen nicht überra30 Nach der älteren Studie von R. Stapper, Papst Johannes XXI., Eine Monographie. = Kirchengeschichtliche Studien 4 (1898), vgl. jetzt vor allem biographisch L. M. de Rijk, On the Life of Peter of Spain, the Author of the „Tractatus“, called afterwards „Summulae logicales“. In: Vivarium 8 (1970), S. 123–154 [weitgehend identisch mit der biographischen Einleitung zu: Peter of Spain (Petrus Hispanus Portugalensis) „Tractatus“ called afterwards „Summulae logicales“, ed. L. M. de Rijk = Wijsgerige teksten en studies 22 (1972), S. XXIV–XLIII]. Vgl. auch J. M. Da Cruz Pontes, A propos d’un centenaire. Une nouvelle monographie sur Petrus Hispanus Portugalensis, le pape Jean XXI (†1277) est-elle necessaire? In: RTh 44 (1977), S. 220–230. 31 Hieronymus von Ascoli, Mag. theol. Paris, 1272 Provinzialminister von Dalmatien, 1274 Nachfolger des Bonaventura als Generalminister, 1278 Kardinalpriester von S. Pudenziana, 1281 Kardinalbischof von Palestrina, 1288–1292 Papst als Nikolaus IV. hatte (bereits als Kardinal) an der Formulierung der für die Franziskaner fundamentalen Bulle „Exiit“ teilgenommen, vgl. etwa F. Elizando, Bulla „Exiit qui seminat“ Nicolai III (14 augusti 1279). In: Laurentianum 4 (1963), S. 59–119, bes. S. 77. 32 In einer berühmten Konsistorialansprache vom 24. Juni 1302 sagte Bonifaz zu den Gesandten des französischen Königs u.a. quadraginta anni sunt quod nos sumus experti in iure et scimus quod duae sunt potestates ordinatae a deo . . ., nach Ms. Paris, Bibl. Nat. lat. 15004, fol. 85v, gedruckt P. Dupuy, Histoire du différend d’entre le pape Boniface VIII. et Philippe le Bel, roy de France (1655/Neudruck 1963), S. 77; in einem Schreiben vom 4. Juli 1303 an Podestà, Capitano, Rat und Commune von Bologna blickt der Papst auf seine Studienjahre in dieser Stadt zurück, wo per non modici temporis spatium studiorum nos dogma provexit, ed. G. Digard, M. Favcon, A. Thomas, R. Fawtier, in: Les Registres de Boniface VIII., Recueil des bulles de ce pape. 3 (1921), S. 882 f., nr. 5374, Zitat S. 883a. Das Verhältnis des Papstes zur Rechtswissenschaft haben zusammenfassend behandelt S. Gagnér, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung. Acta Universitatis Upsaliensis, Studia iuridica Upsaliensia 1 (1960), S. 143 ff., 163 ff., der sich freilich allzu sehr auf den Papst als „Gesetzgeber“ des „Liber Sextus“ beschränkt, sowie J. Muldoon, Boniface VIII’s forty years of experience in the law. In: The Jurist 31 (1971), S. 449–477. Einen knappen Überblick zu Bonifaz’ VIII. Biographie mit reichen Literaturhinweisen gab E. Dupré Theseider, in: DBI 12 (1970), S. 146–156. 33 Schon Zeitgenossen waren sich der Probleme freilich bewußt, insbesondere galt die Gelehrsamkeit Johannes’ XXI. nicht als überzeugende Qualifikation, wenn etwa
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schend, daß an der päpstlichen Kurie des 13. Jahrhunderts wissenschaftliche Bildung nicht nur an der höchsten Spitze verbreitet war: daß Gelehrte und Professoren schon im 12. Jahrhundert zum Kardinalat | aufstiegen, ist schon oft bemerkt worden34, und ebenfalls 295 längst bekannt ist, daß sich auch im 13. Jahrhundert eine derartige Karriere den Männern der Wissenschaft öffnete. Juristen und Theologen von illustren Namen finden wir im Kardinalskollegium – ich will die allzu vertrauten Beispiele hier nicht erneut ausbreiten: von Heinrich von Susa († 1271) angefangen, der noch heute als kanonistischer Autor unter seinem Kardinalsnamen als „Hostiensis“ bekannt ist35, bis zu dem Theologen Hugo von St. Cher († 1263), der in Paris die dominikanischen Bibelkonkordanzen methodisch ausgearbeitet hat36, von dem bekannten Dekretalisten Gottfried von Trani († 1244)37 bis
Francesco Pipino in seinem „Chronicon“ (vom Anfang des 14. Jhs.) bissig bemerkt (Muratori 9 [1726], col. 723): magis oblectabatur quaestionibus scientiarum quam negotiis papatus, et quamquam magnus esset philosophus, fuit tamen discretione et naturali scientia vacuus. Das war geradezu ein Topos bei dem Urteil über diesen Papst, vgl. die Angaben bei Haller, Bd. 5, S. 239, sowie auch etwa de Rijk, wie Anm. 30, S. 153. 34 Für die Pariser Universität vgl. die Skizze von P. Classen, La curia Romana e le scuole di Francia nel secolo XII. In: Le instituzioni ecclesiastiche della „societas Christiana“ dei secoli XI–XII. Papato, cardinalato ed episcopato (1974), S. 432–436; wesentlich erweitert jetzt in Classen, Studium und Gesellschaft, wie Anm. 12, S. 127–169 (diese Studie wurde mir erst lange nach Abschluß des Ms. zugänglich); für die Kanonisten und Legisten etwa J. Fried, Die römische Kurie und die Anfänge der Prozeßliteratur, in: ZRGKanAbt 59 (1973), S. 151–174. 35 Die reiche Forschung resumiert C. Lefèbvre in: DDC 5 (1953), Sp. 1211–1227; zur Biographie vgl. vor allem die Arbeiten von N. Didier, zuletzt etwa in: RHDFE 31 (1953), S. 244–270, 409–429. Zusammenfassend G. Le Bras, Théologie et droit romain dans Henri de Suse. In: Etudes historiques à la mémoire de Noël Didier (1960), S. 195–204; oder C. Gallagher, Canon Law and the Christian Community, The Role of Law in the Church According to the ‚Summa Aurea‘ of Cardinal Hostiensis. = Analecta Gregoriana 208 (1978), S. 21–45. 36 A. Paravicini Bagliani, Cardinali, wie Anm. 27, S. 256–265. Dazu etwa B. Smalley, The Study of the Bible in the Middle Ages (21952), S. 269 ff., 295 ff., 333 ff.; R. H. Rouse, The Verbal Concordance to the Scriptures. In: Archivum Fratrum Praedicatorum 44 (1974), S. 5–30; vgl. auch T. Kaeppeli, Scriptores ordinis praedicatorum medii Aevi, 2 (1975), S. 269 ff., sowie Classen, Studium und Gesellschaft, S. 167 mit Anm. 199; J. P. Torrell, O. P., Theorie de la prophétie et philosophie de la connaissance aux environs de 1230, La contribution d’ Hugues de Saint Cher (1977). 37 A. Paravicini Bagliani, Cardinali, S. 273–278. Gottfried war vor seinem Kardinalat als „auditor litterarum contradictarum“ tätig, vgl. bereits R. Elze, Die päpstliche Kapelle im 12. und 13. Jh. In: ZRGKanAbt 36 (1950), S. 145–204, hier S. 177 (abgedruckt in Elze, Päpste – Kaiser – Könige und die mittelalterliche Herrschaftssymbolik, Ausgew. Aufsätze. = Variorum Reprints CS 152 [1982], Nr. II) und etwa auch P. Herde, Audientia litterarum contradictarum. Untersuchungen über die päpstlichen Justizbriefe und die päpstliche Delegationsgerichtsbarkeit vom
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zu dem ehemaligen Pariser Kanzler Odo von Chateauroux († 1273)38 oder den früheren Professoren des Römischen Rechts in Orléans 296 Pietro Peregrossi († 1296)39 bzw. des | Kirchenrechts in Bologna Richard von Siena († 1314)40 reicht die lange Liste, und bisher habe ich die Franziskanertheologen Bonaventura von Bagnoreggio († 1274) und Matteo d’Acquasparta († 1303) noch gar nicht genannt41, die freilich ihre Erhebung zum Kardinal eher ihrer Stellung in ihrem 13. bis zum Beginn des 16. Jhs. In: Bibliothek des Dt. Hist. Instituts in Rom 31 (1970) 1, S. 75 nr. 3. Grundlegend zur Biographie bleibt S. Kuttner, der Kardinalat des Gottfried von Trani. In: SDHI 6 (1940), S. 124–131. 38 Paravicini Bagliani, Cardinali 1, S. 198–209. Ein Verzeichnis der „sermones“ des Odo bei J. B. Schneyer, Repertorium der lateinischen „Sermones“ des Mittelalters für die Zeit von 1150 bis 1350. In: BGPhMA XLIII. 4 (1972), S. 394–483. 39 Zu einer Universitätstätigkeit in Orléans vor allem E. M. Meijers, Etudes 3, S. 46–52. Einen detaillierten Überblick über die neuere Literatur gibt M. Bertram, Kirchenrechtliche Vorlesungen aus Orléans (1285/87). In: Francia 2 (1974), S. 213–233, hier S. 213 f., der auch (S. 214 Anm. 9) auf einige bisher unbekannte Quaestionen Peregrossis aufmerksam gemacht hat, die kürzlich ediert wurden durch H. van der Wouw, Quaestionen aus Orléans aus der Zeit vor Jacques de Revigny. In: TRG 48 (1980), S. 43–56, die Texte Peregrossis S. 44 f., 50, 54 f. Zur kurialen Karriere und Leistung – vor und während seines Kardinalats war er als Vizekanzler Leiter der kurialen Kanzlei und ist für wichtige Reformen mitverantwortlich – vgl. bereits Bresslau, (31958) 2, S. 268 f.; G. Barraclough, The Chancery Ordinance of Nicolas III. A Study of the Sources. In: QFIAB 25 (1933/34), S. 192–250, Text S. 236 ff.; zu Peregrossis Biographie allgemein und zu seiner Büchersammlung A. Paravicini Bagliani, Le biblioteche dei cardinali Pietro Peregrosso (†1295) e Pietro Colonna († 1326). In: Zeitschrift für schweizerische Kirchengeschichte 64 (1970), S. 104–139, hier S. 113–119, bzw. S. 119 ff.; Vgl. auch A. Paravicini Bagliani, I testamenti dei cardinali del duecento. In: Miscellanea della Società Romana di storia Patria 25 (1980), S. 56–57, S. 271–275; sowie R. Mather, The Codicil of Cardinal Comes of Casate and the Libraries of Thirteenth Century Cardinals. In: Traditio 20 (1964), S. 319–350, bes. S. 326, 339 ff. 40 Auch Richard, der in Bologna unterrichtet hatte, war seit 1296 Vizekanzler an der Kurie gewesen, als solcher führendes Mitglied der Redaktionskommission für den „Liber Sextus“ Papst Bonifaz’ VIII. und war dann 1298 von Bonifaz zum Kardinal erhoben worden; zusammenfassend zu ihm S. Kuttner, Richard Petronius de Senis. In: DDC 7 (1965), Sp. 681–684; zu seinem Gutachten im Kanonisationsprozeß Coelestins V. P. Herde, Coelestin V. (1294) (Peter vom Morrone), der Engelpapst. In: Päpste und Papsttum 16 (1981), S. 185–187; sein Testament edierte J. Bignami-Odier, Le testament du Cardinal Richard Petroni (13 janvier 1314). In: Papers of the British School at Rome 24 [= NS. 11] (1956), S. 152–173; vgl. auch Paravicini Bagliani, Testamenti, wie Anm. 39, S. 83–85, S. 402–409. Vgl. auch T. Schmidt, Ricardo Petroni von Siena als Gutachter im Prozeß gegen Papst Bonifaz VIII. In: ZRGKan.Abt. 68 (1982), S. 277–293. 41 Die Literatur zu Bonaventura ist fast unübersehbar, vgl. etwa die umfängliche Bibliographia Bonaventuriana (c. 1850–1973), hg. von J. G. Bougerol. = S. Bonaventura 1274–1974, Bd. 5 (1974). Die Biographie faßte knapp zusammen R. Manselli in: DBI 11 (1969), S. 612–619, vgl. auch ibid. S. 619–630. Zu Matteo d’Acquasparta fehlt eine befriedigende Zusammenfassung, Literatur verzeichnet Paravicini Bagliani, Testamenti (wie Anm. 39), S. 72–74.
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Orden als ihrer Eigenschaft als frühere Theologie-Professoren von Paris zu verdanken haben42. Solche Listen ließen sich mühelos noch beträchtlich verlängern, aber selbst dann gäben sie uns kein hinreichend plastisches Bild von der Bedeutung universitärer Bildung im Kardinalskollegium des 13. Jahrhunderts, geschweige denn, daß sie Aussagen über die Bedeutung des Studiums für eine Kardinalslaufbahn erlaubten. Weitaus wichtiger für eine Antwort auf diese Frage wäre die rein zahlenmäßige Relation, in der Kardinäle mit nachweislichem Studium zu solchen ohne nachgewiesene Universitätsausbildung standen. Schon aus Zeitgründen, aber auch mangels hinreichender Vorarbeiten43 kann ich hier aber | keine vollständige Übersicht über das 297 ganze 13. Jahrhundert anbieten: die prosopographischen Untersuchungen des Kardinalskollegiums haben bisher in aller Regel zu wenig auf die bildungsgeschichtliche Seite der – freilich oft dunklen – Kardinalskarrieren geachtet. Darum beschränke ich mich exemplarisch auf das Kollegium während der zwei Pontifikate Gregors IX. (1227–1241) und Innozenz’ IV. (1243–1254), also auf die Zeit des 2. Viertels des 13. Jahrhunderts44. Von den zehn durch Gregor IX. zu Kardinälen erhobenen Männern sind nur zwei nicht als „Magister“ belegbar, und in beiden Fällen handelt es sich durchaus nicht um im strikten Sinn „wissenschaftsferne“ Personen. Da ist einmal Giacomo da Pecorara, der Zisterzienserkardinal aus Piacenza (†1244), der zwar 42 Nicht eigens betont zu werden braucht, daß selbstverständlich in allen genannten Fällen die wissenschaftliche Qualifikation nur eines in einem Bündel von mehreren je unterschiedlichen Qualitäten und Umständen war, die eine Karriere fördern konnten. Jede monokausale Reduktion wäre absurd. 43 W. Maleczek (Innsbruck) hat als Habilitationsschrift eine eingehende Studie über das Kardinalskolleg im späten 12. u. frühen 13. Jh. abgeschlossen, die Erhebungen zur Bildungsgeschichte des Gremiums enthält: Papst und Kardinalskolleg von 1190 bis 1216. Die Kardinäle unter Coelestin III. und Innozenz III. = Publ. d. Hist. Inst. beim oesterr. Kulturinstitut in Rom I.6 (1984), bes. S. 294 f., vgl. S. 246 ff. Vgl. zum 12. Jh. W. Maleczek, Das Kardinalskollegium unter Innozenz II. und Anaklet II., (1130–1143). In: AHP 19 (1981), S. 27–78, bes. S. 57–59. 44 Diese Zeit ist prosopographisch hervorragend aufgearbeitet durch Paravicini Bagliani, Cardinali, wie Anm. 27, Bd. 1–2. Zur Entlastung des Apparats sei hier vorweg auf die dort über das Register leicht auffindbaren reichen Nachweise und Literaturangaben zu den einzelnen Personen verwiesen, die ich nicht in jedem Fall hier zitiere. Zu dem methodischen Problem der Identifikation von an „höheren Schulen“ Graduierten mit den „magistri“ vgl. zuletzt etwa R. M. Herkenrath, Studien zum Magistertitel in der frühen Stauferzeit. In: MIÖG 88 (1980), S. 3–35, sowie Ch. Renardy, Recherches, wie Anm. 69, S. 92 ff., u. J. Fried, Die Entstehung des Juristenstandes im 12. Jahrhundert. = Forschungen z. neueren Privatrechtsgesch. 21 (1974), S. 9–24.
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selber offenbar kein Generalstudium besucht hatte, der aber Graduierte unter seinen Verwandten zählt, in seiner Bibliothek auch nachweislich gelehrte Schriften (etwa die Bibelglosse des Petrus Lombardus zu den Paulinen) besessen hat, und der vor allem unter den 13 erkennbaren Mitgliedern seiner „familia“ mindestens 9 Graduierte beschäftigt hat45. Der zweite der Kardinäle, der sich selber keinen Magistertitel zuschreibt, Riccardo Annibaldi aus der alten römischen Adelsfamilie der Annibaldi, hat zwar in seinem Haushalt Graduierten keinen erkennbaren Vorzug eingeräumt, er hat aber als der eigentliche Gründer und erste Kardinalprotektor des Augustinereremitenordens sich nicht nur als zielstrebiger Politiker erwiesen, er hat es auch verstanden, diesen jungen Bettelorden auf eine Bahn zu setzen, die ihn binnen kurzer Zeit zu einem Gelehrtenorden par excellence werden ließ46. Die anderen acht von Gregor IX. zu Kardinälen kreierten Mitglieder des Kollegiums sind als „Magister“ nachweisbar, wobei bei vieren von ihnen, also der Hälfte, nur diese Tatsache bekannt ist und sich weder der Ort ihrer Studien, noch die Fakultät ihrer Bemühungen ermitteln ließ47, die anderen vier teilen sich gleichmäßig auf: den beiden Pariser Theologen Jean d’Abbéville († 1237) und Jacques de 298 Vitry († 1240)48 stehen mit dem Engländer Robert von | Somercote († 1241) und dem Genuesen Sinibaldo Fieschi49 zwei Kanonisten 45
Paravicini Bagliani, Cardinali 1, S. 114–123. Außer Paravicini Bagliani, Cardinali 1, S. 141–149, vor allem F. Roth, Cardinal Richard Annibaldi, First Protector of the Augustinian Order, 1243–1276. In: Augustiniana 2 (1952), S. 26–60, 108–149, 230–247; 3 (1953), S. 21–34, 283–313; 4 (1954), S. 5–24 (auch selbständig: 1954). Nicht erreichbar war mir bisher D. Gutiérrez, Los Agustinos en la edad media. = Historia de la Orden de S. Augustin I.1 (1980). 47 Es sind dies Goffredo Castiglioni (Kardinal 1227–1241), Rainald von Jenne (1227–1254), Bartholomaeus v. S. Pudenziana (1227–1231), Otto v. Tonengo (1227–1251). 48 Zu Jean d’Abbéville Paravicini Bagliani, Cardinali 1, S. 21–29, zu seiner Tätigkeit als päpstlicher Legat auf der iberischen Halbinsel (1228–1229) insbesondere P. Linehan, The Spanish Church and the Papacy in the 13th Century. = Cambridge Studies in Medieval Life and Thought III.4 (1971), bes. S. 20–34 (u.ö.). Zu Jacques de Vitry neben Paravicini Bagliani, Cardinali 1, S. 99–109, auch etwa M. Coens, J. d. V., in: BNB 31 (1962), Sp. 465–473; J. F. Benton, Les parents de J. de V. In: M-A 70 (1964), S. 39–47; Ch. Renardy, Répertoire, wie Anm. 69, S. 137–139. 49 Robert von Somercote war ebenfalls „auditor litterarum contradictarum“, bevor er zum Kardinal aufstieg. Vgl. bereits R. Elze, wie Anm. 37, S. 177 und außer Paravicini Bagliani, Cardinali 1, S. 130–137, insbes. J. Sayers, Canterbury Proctors at the Court of „Audientia litterarum contradictarum“. In: Traditio 22 (1966), S. 311–345, hier S. 325 und 337 f. – Zu Sinibaldo vgl. Anm. 27. 46
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gegenüber, die wahrscheinlich beide in Bologna ein Lehramt ausgeübt haben. Seit der soeben genannte Sinibaldo Fieschi schließlich als Innozenz IV. den Stuhl Petri bestieg, hat sich diese erstaunlich hohe Beteiligung von Graduierten am Kardinalskollegium nur unwesentlich verringert: von den 16 durch Innozenz kreierten Kardinälen haben 10 nachweislich den Maigstertitel geführt, davon sind Odo von Chateauroux (Kardinal: 1244–1273), Pierre aus Bar-sur-Aube (1244–1253) und Hugo von St. Cher (1244–1263) uns auch anderweitig bekannte Pariser Theologieprofessoren, Gottfried von Trani ist der berühmte Bologneser Dekretalist und Verfasser einer wichtigen Summe zum „Liber Extra“ Gregors IX., also zum für ihn zeitgenössischen päpstlichen Recht, während der schwer erkrankte Papst Innozenz IV. noch kurz vor seinem Tode 1254 vergeblich seine Hoffnungen auf die ärztlichen Kenntnisse des englischen Zisterzienserkardinals, des Mediziners und Kanonisten Johannes von Toledo (1244–1275)50, setzte. Sechs Kardinäle haben sich keinen Magistertitel beigelegt, von dreien ist der Bildungsgang überhaupt gänzlich unbekannt: Offenbar war jedoch für Giacomo dell’ Castell’Arquato, wohl einen Verwandten des bereits genannten Kardinals Giacomo da Pecorara, ein Studium ebensowenig zu seiner Karriere „nötig“ wie für Guglielmo Fieschi, einen Nepoten des Papstes selbst. Bei dem dritten, dem Cluniazenser Guglielmo dei XII Apostoli (1244–1250), ist auch seine familiäre Herkunft unbekannt, sogar über das Land seiner Herkunft sind keinerlei sichere Aussagen überliefert, so daß es nicht weiter erstaunt, daß wir von seinem Bildungsgang nichts wissen. Seine Herkunft aus Cluny läßt ihn freilich eher dem „älteren“ Typus einer Kardinalskarriere zugehörig erscheinen. Bei dem Brudersohn Innozenz’ IV., Ottobuono Fieschi (1252–1276), der im Jahr seines Todes 1276 für wenige Wochen als Hadrian V. selber Papst werden sollte, und bei Giovanni Gaetano Orsini, der von 1277 bis 1280 als Papst Nikolaus III. regierte51, zwei weiteren Kardinälen, die den Magistertitel nicht gebrauchten, genügt jeweils schon der Familienname zur Erläuterung ihrer Karriere. Ein Ottaviano Ubaldini (1244– 1277), dem manche (wohl zu Unrecht) nachsagten, er sei ein Sohn
50 Zu Pierre von Bar-sur-Aube Paravicini Bagliani, Cardinali 1, S. 213–220, zu Gottfried von Trani Anm. 37, zu Johannes von Toledo bereits H. Grauert, Meister Johann von Toledo. SBA. PPH 1901, II, S. 111–322. 51 Zu Hadrian V. vgl. z.B. L. Gatto, in: DBI, Bd. 1 (1960), S. 335–337.
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Hugolins von Ostia, des Papstes Gregor IX., gewesen, hatte jedenfalls auch sonst genügend förderliche Verbindungen, um eine fehlende Graduierung nicht spüren zu müssen; eine nähere Berührung mit der Welt der Universitäten ergibt sich für ihn aber allein dar299 aus, daß er 1236 als | Archidiakon Bolognas bezeugt ist und also zumindest nach kurialer Auffassung damals dort für die Erteilung der Lehrlizenz zuständig gewesen ist52. Bezeichnend genug in unserem Zusammenhang bleibt, daß für alle drei zuletzt Genannten, für Ubaldini, Fieschi und Orsini, wenigstens ein Studium sicher bezeugt ist oder doch wahrscheinlich gemacht werden kann, auch wenn es dann standesgemäß offenbar ohne formalen Abschluß geblieben ist53. Die Zusammenstellung der Prosopographien für die Kardinalsfamilien, die Agostino Paravicini Bagliani für die Zeit von 1227 bis 1254 vorgelegt hat, gibt uns die Möglichkeit, uns näher mit den „Magistri“ in der näheren und oft karriereträchtigen Umgebung der eben genannten Kardinäle zu beschäftigen. Ohne hier ins einzelne 52 Vgl. Potthast, Reg., Nr. 6093 sq. (= P. Presutti, Regesta Honorii papae III [1888–1895], Nr. 2126 sq.) vom 27. u. 28. Juni 1219, gedruckt z.B. bei Rashdall, 1, S. 585 f. Dazu siehe ibid., S. 231 f.; A. Sorbelli, Storia dell’ Università di Bologna. 1: Il medioevo (sec. XI–XV) (1940), S. 178–181, oder auch G. Fasoli, Per la storia dell’ Università di Bologna nel medio evo (1970), S. 139 f. u. 168 f.; G. Cencetti, La laurea nelle università medioevali. In: Studi e memorie per la storia dell’ Università di Bologna 6 (1943), S. 247–273, hier S. 252–262; Ders., L’università di Bologna ai tempi d’Accursio, in: Atti del convegno internazionale di studi accursiani Bologna, 21–26 ottobre 1963, hg. v. G. Rossi (1968), S. 55–70. Sven Stelling-Michaud, L’université de Bologne, wie Anm. 9, S. 21; jetzt vgl. vor allem P. Weimar, Zur Doktorwürde der Bologneser Legisten. In: Aspekte europäischer Rechtsgeschichte. Festgabe für Helmut Coing zum 70. Geb. = Ius commune. Sonderheft 17 (1982), S. 421–443, bes. S. 427 ff. – Ebenda S. 436 ff. (bes. S. 438) auch zu Verwandten Ottaviano Ubaldinis, die in der Bologneser Hierarchie tätig waren, und zu ihren Beziehungen zur Universität. Belege für Ottaviano Ubaldini als Bologneser Archidiakon bei Paravicini Bagliani, Cardinali 1, S. 281 Anm. 5. 53 Zum Adelsstudium – und den relativ geringen Abschlußquoten adliger Studenten bis ins Spätmittelalter hinein – vgl. neuerdings etwa J. Verger, Noblesse et savoir, étudiants nobles aux universités d’Avignon, Cahors, Montpellier et Toulouse (fin du XIVe siècle). In: La noblesse au moyen âge, ed. Ph. Contamine (1976), S. 289–313; R. A. Müller, Universität und Adel, Eine soziostrukturelle Studie zur Geschichte der bayerischen Landesuniversität Ingolstadt 1472–1648. = Ludovico Maximilianea, Forschungen 7 (1974), bes. S. 146 ff. J. T. Rosenthal, The Universities and the Medieval English Nobility. In: History of Education Quarterly 9 (1969) S. 415–437 (dessen Einzelbeispiele freilich instruktiver sind als seine verzerrte Gesamtstatistik), statistische Tabellen nach deutschen Matrikeln für das 15. u. 16. Jh. auch bei J. H. Overfield, Nobles and Paupers at German Universities to 1600. In: Societas, a Review of Social History 4 (1974), S. 175–210, bes. S. 184–188. Vgl. auch H. de Ridder-Symoens, Adel en universiteit in de zestiende eeuwe, Humanistic ideaal of bittere nodzak. In: Tijdschrift voor Geschiedenis 93 (1980), S. 410–432.
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gehen zu wollen, sei nur soviel festgehalten, daß wir auch hier – vielleicht sollte man sagen, gerade hier – auf eine überraschend große Zahl von Graduierten stoßen. Die Quellenlage ist freilich vergleichsweise löchrig, zumal wir in dieser Zeit nirgends listenmäßige Aufstellungen des Personals antreffen. Dabei müssen wir berücksichtigen, daß die „Clerici“, die ihren Herren als Berater, als Schreiber, als Geschäftsträger, als delegierte Richter und dergleichen dienten oder auch als Kapläne oder Ehrenkapläne teilweise nur sehr vorübergehend oder rein nominell zu einem Kardinalshaushalt zählten, eine weit bessere Chance hatten, in die Quellen als Zeugen oder Schreiber, als Adressaten oder Absender von schriftlichen Dokumenten explizit einzugehen, als die Domestiken, Lakaien oder Köche, die doch zweifellos auch zu der Haushaltung eines Kardinals des | 13. Jahrhunderts 300 gehört haben, selbst wenn sie uns nur ganz selten nachweisbar sind54. Trotz alledem ist es erstaunlich, wie stark in dieser Zeit die Graduierten unter den überhaupt nachweisbaren Mitgliedern eines Kardinalshaushaltes vertreten sind. Für 8 der 10 von Gregor IX. kreierten Kardinäle läßt sich zumindest ein Mitglied ihrer „familia“ nachweisen, insgesamt sind 124 Namen identifiziert worden, davon tragen 49 (also ungefähr 38%) den Magistertitel – und darunter befinden sich so prominente Gelehrte wie Raymund von Peñaforte, der schon erwähnte spätere Kardinal Heinrich von Susa oder der französische Bücherliebhaber und Enzyklopädist Richard von Fournival55. Unter den 10 Kardinalsfamilien, die sich unter den 16 von Innozenz IV. kreierten
54 Vgl. die Tabellen der erkennbaren Funktionen in der „Familia“ bei Paravicini Bagliani, Cardinali 2, S. 510–512, wo insgesamt nur ein panecterius, 5 servientes, 1 vallettus verzeichnet sind neben 1 scutiferus und 4 hostiarii. 55 Raimund war Familiar des Kardinals Jean d’Abbéville (Paravicini Bagliani, Cardinali 1, S. 30). Vgl. zu ihm außer Kuttner 1, S. 438–449, jetzt auch die Angaben bei T. Kaeppeli, Scriptores ordinis praedicatorum medii aevi 3 (1980), S. 283–287 (nrr. 3400–3413) sowie F. Valls y Taberner, San Ramón de Penyafort. = Nueva coleccion Labor 181 (1979). – Richard war Hausgenosse des Kardinals Robert von Somercote (Paravicini Bagliani, Cardinali 1, S. 138–140). Die fundamentale Arbeit von A. Birkenmajer, Biblioteka Ryszarda de Fournival (11922) ist jetzt auch in französischer Sprache zugänglich: La bibliothèque de Richard de Fournival, poète et erudit français du début du XIIIe siècle, et son sort ultérieur. In: Birkenmajer, Etudes d’histoire de science et de la philosophie du moyen âge. = Studia copernicana 1 (1970), S. 117–216 (vgl. auch ibid., S. 216–235). Weitere Literatur verzeichnet auch R. H. Rouse, The Early Library of the Sorbonne. In: Scriptorium 21 (1967), S. 42–71, 227–251, hier S. 48–51. Vierzig heute noch vorhandene Codices aus seiner Bibliothek weist zusammenfassend nach R. H. Rouse, Manuscripts Belonging to Richard de Fournival. In: Revue d’histoire de textes 3 (1971), S. 253–269.
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Kardinälen konstatieren lassen, sind unter den diesmal 302 Namen immerhin 114 (d.h. wiederum ca. 38%) Graduierte zu finden, darunter die Professoren Jean de Monchy († post 1265), der in Montpellier das römische Recht gelehrt hatte, Petrus de Salinis, der eine in ihrer Zeit durchaus wichtige Lectura zum Dekret hinterlassen hat56, oder der bekannte Astronom und Mathematiker Campanus von Novara 301 (†1292)57. | Im Zusammenhang unserer Frage nach den Wirkungen der Universitäten auf die Kirche des 13. Jahrhunderts scheint mir aber weniger die individuelle Karriere des einen oder anderen unter den zahlreichen Namen bemerkenswert. Sicherlich ist es auch von Interesse, daß aus diesem Kreis eine ganze Anzahl von Bischöfen und Erzbischöfen in verschiedenen Ländern Europas hervorgingen, daß einige auch zu Kardinälen erhoben wurden und sogar mit Tedaldo Visconti (Papst Gregor X.) und Benedikt Caetani (Papst Bonifaz VIII.) zwei als Päpste ihren Lebensweg beschlossen. Doch ebenso aufmerksam sollten wir darauf achten, daß die Präsenz der Graduierten so relativ mächtig ist. Sie ist so stark und auffällig, daß in den 60er und 70er Jahren des 13. Jahrhunderts an der Kurie sich viele hochkarätige Gelehrte aufhielten, Thomas von Aquin und Wilhelm von Moerbeke, der polnische Physiker Witelo, der schon genannte italienische Mathematiker Campanus von Novara oder der böhmische Weltchronist Martin von Troppau und manche andere58, so daß man übertreibend geradezu von einer „Akademie“ hat sprechen können. Wenn
56 Pierre de Monchy war Familiar des Kardinals Johannes von Toledo (Paravicini Bagliani, Cardinali 1, S. 246 f.) vgl. vor allem E. M. Meijers, Etudes 3, bes. S. 39–43. – Petrus de Salinis ist als Familiar des Kardinals Hugo von St. Cher nachweisbar (Paravicini Bagliani, Cardinali 1, S. 268 f.); zu seiner „Lectura super Decretum“ vgl. Kuttner, wie Anm. 55, Anm. 39 f. 57 Zunächst Hausgenosse des Kardinals Ottobuono Fieschi (Paravicini Bagliani, Cardinali 1, S. 369 f.), dann Familiar des Papstes Urban IV. und seiner Nachfolger. Zu seiner Biographie vor allem F. S. Benjamin Jr. u. G. J. Toomer, Campanus of Novara and Medieval Planetary Theory. = University of Wisconsin Publications in Medieval Science 16 (1971), S. 3–24; Paravicini Bagliani, Un matematico nella corte papale del secolo XIII: Campano de Novara (†1296). In: RSCI 27 (1973), S. 98–119; Derselbe, in: DBI 17 (1974), S. 420–422. Campano hat Euklid übersetzt und kommentiert, siehe z.B. J. E. Murdoch, The Medieval Euclid, Salient Aspects of the Translations of the „Elements“ by Adelard of Bath and Campanus of Novara. In: Revue de Synthèse 89 (1968), S. 67–94. Die Zuschreibung einer bisher anonymen Schrift an ihn versuchte kürzlich Michaela Pereira, Campano da Novara, autore dell’ „Almagestum parvum“. In: StM IIIa ser., 19 (1978), S. 768–779. 58 Für das wissenschaftsfreundliche Klima der Kurie – insbesondere in den 60er und 70er Jahren des 13. Jhs. – ist ein besonders leuchtkräftiges Zeugnis die gera-
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dies zweifellos auch eine zumindest problematische Vorstellung bleibt, so ist doch ganz unbestreitbar, daß die Kurie wohl niemals in ihrer Geschichte so viele bedeutende Wissenschaftler der verschiedensten Disziplinen angezogen hat wie im 13. Jahrhundert. Später, als sie hierin in mancherlei Hinsicht der Konkurrenz der anderen Fürstenhöfe viel stärker ausgesetzt war, sollte ihre „Normalausstattung“ stärker die juristische und verwaltungspraktische Qualifikation bevorzugen, aber noch in den zahlreichen für die Päpste Bonifaz VIII. und Johannes XXII. verfaßten Expertengutachten können wir auch zahlreiche Theologen antreffen, die an der Kurie ihr Glück zu machen verstanden oder dies doch versuchten59. Es kann nicht nachdrücklich genug betont werden, daß dies alles uns nicht zu falschen Vorstellungen verleiten darf. Die gelehrten Experten blieben unter dem immer zahlreicher werdenden Personal der Kurie immer eine Minderheit. Niemand sollte die hier genannten Zahlenrelationen als absolute Größenangaben mißverstehen. Keineswegs dürfen wir annehmen, unter den „Hausgenossen“ der Kardinäle hätten sich in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts fast 40% Graduierte finden lassen. Daß solche Folgerung ein Trugschluß wäre, erhellt | allein aus der geschilderten Quellenlage. Immerhin ist 302 es in unserem Zusammenhang von großem Interesse, daß so viele Graduierte unter den überhaupt nachweisbaren Familiaren der Kardinäle zu finden sind. Eine doch noch immer recht ansehnliche Ansammlung von Universitätsbesuchern läßt sich auch später im 14. Jahrhundert mit seinen sehr viel besseren Überlieferungsverhältnissen dezu hymnische Widmungsvorrede des Campano da Novara an Urban IV., edd. F. S. Benjamin Jr. u. G. J. Toomer, wie Anm. 57, S. 128–134. Im einzelnen vgl. nach M. Grabmann, I Papi del Duecento e l’Aristotelismo, Bd. 2, Guglielmo di Moerbeke, O. P., il traduttore delle opere di Aristotele. = Miscellanea Historiae Pontificiae 11 (1946), bes. S. 56–62; zusammenfassend vor allem jetzt die Arbeiten von A. Paravicini Bagliani, A proposito, wie Anm. 21, oder: Un matematico, wie Anm. 57, oder auch: Witelo et la science optique à la cour pontificale de Viterbe (1277). In: MEFRM 87 (1975), S. 425–453. Zu Wilhelm von Moerbeke zuletzt die sorgfältigen Artikel von G. Verbeke, in: NBW 5 (1972), Sp. 610–620, oder von L. Minio Paluello, in: DSB 9 (1974), S. 434–440. Zu Martinus Polonus, dem einflußreichen Weltchronisten, päpstlichen Poenitentiar u. Kappellan, hat T. Kaeppeli, Scriptores ordinis praedicatorum medii aevi 3 (1980), S. 114 ff. (bei nr. 2972–2974) knappe biographische Daten und Hinweise auf die überreiche Literatur zusammengestellt. 59 Zu diesen Experten und ihren Memoranden vgl. etwa die Hinweise bei J. Miethke, Das Konsistorial-memorandum „De potestate pape“ des Heinrich von Cremona von 1302 und seine handschriftliche Überlieferung, in: Studi sul XIV secolo, wie Anm. 21, S. 421–451, bes. S. 443–447.
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noch nachweisen. Erhalten geblieben sind in den Registern des päpstlichen Archivs Supplikenrotuli, die die Kardinäle etwa 1378, nachdem sie Clemens VII. gegen den von ihnen verlassenen Urban VI. zum Papst gewählt hatten, ihrem Papst bei seinem Regierungsantritt gemäß älterem Brauch zugunsten von Mitgliedern ihrer jeweiligen „familia“ vorlegen durften60; der besonderen politischen Situation wegen waren diese Rotuli vom Papst nicht auf eine Höchstzahl möglicher Gunsterweise begrenzt worden61. Hier nun finden sich die Namen von Familiaren der verschiedenen Kardinäle offenbar in relativer Vollständigkeit verzeichnet62. In diesen Listen, die – bei allen Grenzen ihres Aussagewertes – doch einen deutlich höheren Grad von Repräsentativität in Anspruch nehmen dürfen als die Rekonstruktionsergebnisse moderner Forschung, ist der Anteil derer, die eine Universität als Studenten gerade besuchten, früher besucht hatten oder gar ihre Studien durch eine Graduierung abgeschlossen hatten, noch beachtlich. Es kann nicht überraschen, daß es Kardinäle gab, die nur ca. 6% von „Universitätsbesuchern“ unter ihrer Familia durch solche Supplikenrotuli unterstützen63. Beachtlich freilich bleibt, daß der gelehrte Kardinal Petrus de Luna, der spätere avignonesische Papst Benedikt XIII., in seinen „Rotulus“, der mit 101 Namen sämtliche anderen an Umfang weit übertrifft64, 51 solcher Universi-
60 Insbesondere vgl. J. Verger, L’entourage du cardinal Pierre de Monteruc (1356–1385). In: MEFRM 85 (1973), S. 515–546. Der Artikel baut auf einer unpublizierten, mir unzugänglich gebliebenen Arbeit für die Ecole Française de Rome auf: Les Registres des Suppliques comme source de l’histoire des universités. Introduction et essai d’inventaire pour la période du Grand Schisme (1378–1417), 1972 (masch.) Vgl. jetzt auch H. Diener in diesem Bande. 61 Vgl. B. Guillemain, La cour pontificale d’Avignon (1309–1376), Etude d’une société. In: Bibliothèque des Ecoles Françaises d’ Athènes et de Rome 201 (1962), S. 225; J. Verger, L’entourage, S. 522 mit Anm. 3: Innozenz VI. hatte (1352) die Zahl, für die ein Kardinal supplizieren durfte, offenbar auf 10 begrenzt, Urban V. (1362) auf 27. 62 J. Verger, L’entourage, S. 522 mit Anm. 3 u. Anm. 2: Es sind Rotuli von insgesamt 16 Kardinälen erhalten geblieben, in: Archivio Segreto Vaticano, Reg. Suppl. 47, 51, 53, 56, die jeweils Listen im Umfang von 34 Personen (Kardinal Pierre de Sortenac) bis hin zu 101 Personen (Kardinal Petrus de Luna) umfassen. 63 J. Verger, L’entourage, S. 534 f. mit Anm. 7: Kardinal Pierre de Sortenac hat nur 2 von 34 (ca. 6%) Universitätsbesucher in seinen „Rotulus“ aufgenommen (Reg. Suppl. 47, fol. 25–28), Kardinal Jean de Cros ca. 9% (Reg, Suppl. 47, f. 50–53). 64 J. Verger, L’entourage, S. 522 Anm. 3 u. S. 535 Anm. 7 (Reg. Suppl. 47, fol. 70v–77, Reg. Suppl. 53, fol. 201–202). Hugo von Montelais hat immerhin noch 35% Universitätsbesucher unter seinen genannten Hausgenossen (Reg. Suppl. 47, fol. 45–48v).
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tätsbesucher aufgenommen hat. Als arithmetischer Durchschnitt konnte gegenüber diesen 50% immer noch eine Zahl von 21% errechnet werden65, was gewiß ein bezeichnendes Schlaglicht auf die Karrierechancen für | Universitätsabgänger an der päpstlichen Kurie im 303 späten 14. Jahrhundert werfen kann und uns zugleich ermutigt, die für das frühe 13. Jahrhundert genannten Daten nicht allzu leicht beiseite zu schieben. Es wäre sehr erwünscht, könnte ich vergleichend zu diesen Stichproben aus der römischen Kurie eine verläßliche Untersuchung über den Episkopat Deutschlands, Frankreichs, Englands oder Spaniens machen und einige Schlußfolgerungen daraus ziehen. Aber die entsprechenden Studien liegen noch nicht vor oder bleiben zu global oder zu skizzenhaft, als daß sie mehr vermittelten als den ohnehin schon von Zeitgenossen formulierten Eindruck, daß zumindest die juristische Qualifikation recht stark und – wie einige Zeitgenossen meinten: unziemlich – stärker als theologische Schulung66 eine kirchliche Karriere fördern konnten. Für England | liegen uns einige be- 304 zeichnende Zahlen vor: In der Zeit von 1216 bis 1499 hatten 57% der 65 J. Verger, L’entourage a. a. O. Daß hier freilich keine übertriebenen Vorstellungen am Platze wären, zeigt die Analyse der „Familia“ des Kardinals Pierre de Monteruc: Der engere Haushalt des Prälaten bleibt mit 14 von 93 genannten Hausgenossen (d.h. ca. 15%) zwar deutlich unter dem Durchschnitt, aber ebenso deutlich auch über dem Minimum (von 6%, vgl. Verger, S. 532 f.). Keiner der 14 Universitätsbesucher des Gefolges dieses Kardinals gehörte freilich zu seinen engsten Vertrauten. Für 7 dieser Hausgenossen, also für die Hälfte von ihnen, ist keine Graduierung, nicht einmal ein Bakkalareat nachweisbar; ein Mediziner von der damals noch jungen und wenig renommierten Universität Cahors ist noch der „Bestqualifizierte“, der einzige Doktor der Kanonistik ist ein „doctor bullatus“, der seinen Grad einem päpstlichen Gnadenerweis, nicht einem Examen, verdankte (dazu vgl. Anm. 92). Im weiteren Kreis der Klientel, unter den Protégés des Kardinals, seinen „amici“, finden sich dann immerhin (mit 12 von 47) ca. 25% Universitätsbesucher, 1 dr., 1 lic., 1 Bac. u. 2 Studenten der Kanonistik, 1 Student in utroque, 1 Student des ius civile, 1 mag. artium und 4 Studenten ohne nähere Angaben, insgesamt also nicht gerade eine eklatante Liste, die vor jeder Überschätzung der „Akademisierung“ einer durchschnittlichen Kardinalsfamilia noch des 14. Jhs. warnen kann. Die Rolle der Universitätsbildung neben anderen Qualifikationen bei den Kardinalspromotionen der Schismazeit versucht exemplarisch zu beleuchten D. Girgensohn, Wie wird man Kardinal? Kuriale und außerkuriale Karrieren an der Wende des 14. zum 15. Jh. In: QFIAB 57 (1977), S. 138–162, bes. S. 150 f., 158 f., freilich bedürfte es noch einer differenzierten statistischen Aufarbeitung des gesamten Komplexes für diese Zeit. 66 Zum Streit der Fakultäten, der auf Seite der Theologen erst in späterer Zeit ausdrücklich wird, vgl. für die Wende vom 13. zum 14. Jh. etwa M. Grabmann, Die Erörterung der Frage, ob die Kirche besser durch einen Juristen oder durch einen Theologen regiert werde, bei Gottfried von Fontaines († nach 1306) und Augustinus Triumphus von Ancona (†1328). In: Festschrift Eduard Eichmann zum
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englischen Bischöfe in Oxford, weitere 10% in Cambridge die Universität besucht, wobei freilich im 15. Jahrhundert allein insgesamt 91% der englischen Bischöfe in „Oxbridge“ studiert hatten (72% in Oxford und 19% in Cambridge); von den Oxforder Graduierten waren während der ganzen Zeit von 1216 bis 1499 45% Juristen (Civilisten 23%, Kanonisten 12%, Ius utrumque 10%), 28% Theologen, 8% Artisten und 19% unbestimmter Fakultät67. Für Frankreich liegen sogar Zahlen für das 13. Jahrhundert vor: Jean Gaudemet, der 1965 bereits im Rahmen einer größer angelegten Untersuchung zum französischen Episkopat des 13. Jahrhunderts (die aber bisher nicht vollständig vorgelegt wurde) auf unsere Frage aperçuhaft einging, hat eine eindrucksvolle Liste zusammengestellt, in der insgesamt 44 graduierte Prälaten erfaßt sind, die von 1180 bis 1310 51 französischen Diözesen als Bischöfe vorstanden, und die zum Teil auch als wissenschaftliche Autoren Renommee gewonnen haben68. Einerseits aber
70. Geb. (1940), S. 1–19; dazu auch R. J. Long, „Utrum iurista vel theologus plus proficeat ad regimen ecclesiae“, a „Quaestio disputata“ of Francis Caraccioli. In: MSt 30 (1968), S. 134–162 (zu Francesco Caracciolo, O.S.A., Mag. theol. Paris 1308, dann Pariser Kanzler, † 1316, vgl. P. Glorieux in: DBI 19 [1976], S. 356– 358). Bei den Juristen ist die entsprechende Tradition mindestens gleich alt: Mit Stolz betont der Hostiensis den Vorrang der Juristen und der Kanonisten an mehreren Stellen, vgl. etwa seine weitverbreitete „Summa“ (abgeschlossen 1253), z.B. im Prolog, oder auch ad X 5,38 v. „Cui confitendum sit“, (im Druck Lyon 1537/Neudruck 1962, fol. 2va–3ra, Rdnr. 6–12, bes. 11 f., bzw. fol. 273vb, Rdnr. 20 § XXX). Diese Auffassungen werden später dann immer wieder absichtsvoll zitiert, z.B. im 14. Jh. von Rudolf Losse (†1357) in einer Trierer Synodalpredigt von 1344/1354 (wahrscheinlich 1344, ed. E. E. Stengel, Nova Alamanniae II.2 [1978], S. 897), im 15. Jh. etwa noch von Peter von Andlau (†1480) in Baseler Vorlesungen zum Dekretalenrecht (Ms. Basel, Univ.-bibl., C II 28, fol. 175r, hier zitiert nach G. Scheffels, Peter von Andlau, Studien zur Reichs- und Kirchenreform im Spätmittelalter, phil. Diss. masch. FU Berlin 1955, S. 80 mit Anm. 95). Umgekehrt vgl. auch etwa Marsilius von Padua, „Defensor pacis“ (aus dem Jahr 1324) II.20.13, besonders aber II.24.5, ed. R. Scholz, MGH Fontes 7 (1932/1933), S. 401 u. bes. S. 455: „Ab numeranti quippe provinciarum episcopos aut archiepiscopos, patricharchas et reliquos inferiores prelatos sacre theologie doctor aut in ipsa sufficienter instructus non reperietur unus ex decem . . . Sed quibus . . . plerumque conceduntur maiores ecclesie dignitates et qui ad has gubernandas sufficientes putantur, causidici sunt. Hos enim tamquam utiles dignificat Romanus pontifex . . .“ (vgl. auch ibid. II.24.9, S. 457, zu Papst und Kardinalskolleg!) Aus früherer Zeit vgl. nur z.B. C. H. Haskins, Studies in Medieval Culture (1929), S. 47–49. 67 Diese Zahlen nach T. H. Aston, Oxford’s Alumni, wie Anm. 6, S. 27 f. – vgl. auch A. W. Pantin, The English Church in the Fourteenth Century (1955/Reprint 1981), S. 9 ff., bes. S. 14–18. 68 J. Gaudemet, Recherches sur l’épiscopat médiéval en France. In: Proceedings of the Second International Congress of Medieval Canon Law, edd. S. Kuttner, J. J. Ryan. = MIC C, 1 (1965), S. 139–154. Zum 11. und 12. Jh. dagegen vgl. B. Guillemain, Les origines des évêques en France au XIe et XIIe siècles. In: Le
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ist diese Liste keineswegs vollständig, andererseits bezieht sie sich auf eine Auswertung der Daten von alles in allem 617 Personen und ist zudem in ihren sozialgeschichtlichen Informationen zu dürftig, um ein präzises Bild zu vermitteln. Aber auch ohne nähere Durchleuchtung bleibt doch die relativ hohe Zahl von etwa 7% Graduierten unter diesem Zufallsausschnitt aus dem Episkopat Frankreichs beachtlich. Vor kurzer Zeit noch wäre es hoffnungslos gewesen, für den Bereich einer einzelnen Diözese über längere Zeit hinweg derartige Daten wiederzugeben. Doch liegt nun eine prosopographische Untersuchung von Christine Renardy zur Diözese Lüttich vor69, aus der sich einige Auskünfte ergeben. Die Untersuchung umfaßt insgesamt die Zeit von ca. 1140 bis 1350 und möchte für die Diözese Lüttich die Träger des „Magistertitels“ prosopographisch erfassen. Dabei sollten alle diejenigen Graduierten ermittelt werden, die „irgendeine Funktion | in 305 den Territorialherrschaften im Rahmen der Lütticher Diözese wahrgenommen haben oder in ihr eine kirchliche Funktion oder auch nur eine Pfründe innegehabt hatten70. Für uns fallen allein schon die Zahlenrelationen ins Gewicht: Aus den 60 Jahren zwischen 1140 und 1200 blieben nach mehrfachem Sieben von 89 Personen, die nach verschiedenen Kriterien als „Graduierungsverdächtige“ in den Quellen auftreten, ganze 9 übrig, die mit einiger Sicherheit an einem „studium generale“ studiert haben – 4 davon in Paris, 1 wohl in Bologna (6 die Rechte, 2 die Medizin und 1 die Theologie). Bei 20 weiteren bleibt ein Studium wahrscheinlich, während der MagisterTitel der 60 restlichen Personen dieses Kreises uns zumindest nicht mehr näher aufhellbar ist71. Unter den 9 sicher oder höchstwahrscheinlich Graduierten des 12. Jahrhunderts finden wir zwar so istituzioni ecclesiastiche della „Societas Christiana“ dei secoli XI–XII, Papato, cardinalato ed episcopato. In: Pubblicazioni dell’ Università Cattolica del Sacro Cruore. Miscellanea del Centro di Studi Medioevali 7 (1974), S. 374–402. 69 C. Renardy, Le monde des maîtres universitaires du diocèse de Liège 1140–1350, Recherches sur sa composition et ses activités. = Bibliothèque de la Faculté de Philosophie et Lettres de l’Université de Liège 227 (1979) (künftig zitiert „Renardy, Recherches“); dazu das prosopographische Verzeichnis Renardy, Les maîtres universitaires dans la diocèse de Liège, Répertoire biographique 1140–1350. = Bibl. de la Fac. de Phil. et Lettres de l’Univ. de Liège 232 (1981) (künftig zit. „Renardy, Répertoire“). 70 Renardy, Recherches, S. 13: „tous les gradués qui ont exercé une fonction quelconque dans l’organisation politique, administrative ou judiciaire d’une des principautés comprises dans les limites du diocèse de Liège ou détenu une dignité ou une simple bénéfice dans une église de cette circonscription“. 71 Renardy, Recherches, S. 80–103, bes. Tableau 1 S. 94 f.; in ihrem Répertoire, S. 103–164, kennzeichnet Renardy die von ihr als graduiert Identifizierten durch
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bekannte Namen wie den späteren Bischof von Akkon und schließlichen Kardinal Jacques de Vitry (†1240)72, oder den Propst des Aachener Domstifts, Notar in der staufischen Kanzlei und schließlich als Bischof von Hildesheim, bzw. Würzburg, und zugleich als Kanzler dienenden Konrad von Querfurt (†1202)73, aber die Ausgangszahlen sind doch insgesamt sichtbar zu klein, als daß sich für das 12. Jahrhundert ein deutliches Bild gewinnen ließe; zudem zeigen auch noch die eben genannten Namen, daß selbst bei diesen wenigen Namen ein Großteil ihrer Karriere nicht mehr in das 12. Jahrhundert fällt. In ganz andere Größenverhältnisse kommen wir dagegen, wenn für die Zeit von 1200 bis 1350 diejenigen Personen ausgezählt werden, die nach denselben Kriterien sicher, höchstwahrscheinlich oder doch wahrscheinlich als Graduierte eines Generalstudiums zu gelten haben: ungefähr 700 Namen74 hat Christine Renardy dabei festgehalten, wobei sich bei der chronologischen Verteilung innerhalb dieser anderthalb Jahrhunderte von 1200 bis 1350 ein nahezu stetiges Ansteigen der Zahlen bis etwa 1340 beobachten läßt. Bis zum Ende 306 des 13. Jahrhunderts | lassen sich 380 Graduierte feststellen, von 1300 bis 1340 weitere 198, während in dem Jahrzehnt von 1340 bis 1350 die Zahl rapide auf fast 110 in ungewöhnlichem Sprung ansteigt75.
ein vorgestelltes „G“ (insgesamt 22 Namen), als Graduierte nicht sicher nachweisbar durch ein vorgestelltes „(G)“ (weitere 15 Namen). Diese leichte Differenz habe ich im Folgenden unbeachtet gelassen und keine eigene neue Auszählung durchgeführt. Zu den Schwierigkeiten einer Identifizierung der „graduierten Magister“ vgl. auch den Anm. 44 angeführten Hinweis. 72 Renardy, Répertoire, S. 137–139, nr. G 55; vgl. auch Anm. 48. 73 Renardy, Répertoire, S. 112 f., nr. (G) 14; vgl. vor allem E. Meuthen, Die Aachener Pröpste bis zum Ende der Stauferzeit. In: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 78 (1966/67), S. 5–95, bes. S. 50–53. 74 Obwohl Renardy, Recherches, passim, von 700 Namen in diesem Zeitraum spricht und auf dieser Basiszahl auch die Prozentangaben ihrer Tabellen (freilich nicht immer exakt) errechnet, erscheinen in dem Répertoire insgesamt 748 Namen von „magistri“ – unter ihnen sind freilich sämtliche 22 als sicher identifiziert Angenommenen der früheren Zeit, und zusätzlich noch 5 der 15 für diese Zeit nur als unsicher identifiziert Bezeichneten (vgl. Anm. 71; aufgenommen sind: § 14+ = nr. 96; § 16+ = nr. 104; § 31+ = nr. 169; nicht aufgenommen sind dagegen §§ 2+, 6+, 8+, 15+, 25+, 34+, 36+, 43+, 44+, 71+), in der Liste sind demnach mehr als 700 Namen enthalten (auch wenn Doppelnennungen vorkommen). Auch hier verzichte ich aber auf eine erneute Auszählung und behalte die Basiszahl 700 der Berechnungen bei. 75 Renardy, Recherches, S. 143 (vgl. S. 141–144) – dieselbe Tabelle (typographisch leider auf den Kopf gestellt) ist auch eingerückt in Répertoire, S. 19.
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Für unsere Zwecke genügt es festzuhalten, daß in der Diözese des Deutschen Reiches, Lüttich, die damals weder ein Generalstudium innerhalb ihrer eigenen Zirkumskription hatte, noch in unmittelbarer Nachbarschaft an einer solchen Institution teilhaben konnte, im 13. Jahrhundert sich eine rapide und stetige Vermehrung der an Universitäten Graduierten ermitteln läßt, die sich als Gruppe im Laufe dieser Zeit zu einer immerhin auch statistisch beachtlichen Größe zu entwickeln vermögen. Wir brauchen hier nicht die geographische Herkunft dieser Graduierten (soweit sie sich ermitteln ließ) zu verfolgen oder die regionale Verteilung der von Graduierten eingenommenen Pfründen und Kanonikate innerhalb der Diözese zu untersuchen76, hier ist von Interesse, daß nur für 85 von insgesamt 700 Graduierten überhaupt die Universität sich feststellen ließ, an der in den anderthalb Jahrhunderten von 1200 bis 1350 Lütticher Graduierte ihren Grad erworben haben, und natürlich spielen dabei dann Paris mit fast 60% und Bologna mit fast 17% die Hauptrolle. Für einen wesentlich höheren Teil der Gesamtzahl, für insgesamt 241 Graduierte, d.h. für ca. ein Drittel der 700 ermittelten Universitätsabgänger, ließ sich dagegen wenigstens die Studienrichtung feststellen: 42 (d.h. etwa 17%) aus dieser kleineren Gruppe haben sich mit einem Studium der Artes begnügt, 30, d.h. etwa 12%, haben Theologie studiert, 50, d.h. 20%, haben die Medizin und 103, das sind über 40%, die Rechtswissenschaften gewählt, wobei in dieser Diözese des Deutschen Reiches der relativ hohe Anteil von formell im römischen Recht Ausgebildeten auffällt (63, das sind gut 62% der identifizierbaren Rechtsstudenten und 23% der nach ihrer Fakultät bestimmten Studenten sind als „doctores legum“ bzw. „doctores iuris utriusque“ nachzuweisen)77. Bevor wir diese Statistiken ganz verlassen können, müssen wir noch einen kurzen Blick auf die Positionen werfen, die diese Graduierten in der Diözese Lüttich erreicht haben. 1274 wird zum ersten Male ein Graduierter von Papst Gregor X. zum Bischof erhoben, und dann haben über die Diözese 90 Jahre lang nur noch Graduierte als Bischöfe geherrscht mit einer einzigen Ausnahme: Theobald aus dem Grafenhause von Bar wurde 1303 durch compromissarii des Kapitels gewählt und erhielt seine Bestätigung von Papst Bonifaz VIII. wohl Renardy, Recherches, S. 146 ff., 192 ff. Renardy, Recherches, S. 175 (die Prozentangaben sind hier besonders ungenau errechnet und bedürfen der Berichtigung) u. S. 179. 76 77
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auch, weil er mit Philipp dem Schönen von Frankreich damals gewichtige Differenzen hatte. Unter den sechs Bischöfen, die von 1274 bis 1314 den Bischofsstuhl von Lüttich bestiegen, sind die fünf Träger des Magistertitels durch päpstliche Provision in seinen Besitz gelangt, allesamt freilich Männer, die außer ihrer Graduierung auch anderweitige Qualifikationen einzubringen hatten. Als Mitglieder der alten hochadligen Familien der Region wie der Avesne oder Dampière, der Grafen von Waldeck oder Grafen von der Mark hatten sie ihre 307 eigenen weitreichenden | Verbindungen und paßten darum jeweils in das – durchaus nicht unwandelbare – Kalkül der römischen Kurie78. Immerhin bleibt es bemerkenswert, daß als Zusatzqualifikation auch ein Studium ganz offensichtlich in der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle bereits am Ende des 13. Jahrhunderts gegeben war, also doch wohl auch von Nutzen gewesen sein wird. Ähnliche Beobachtungen lassen sich auch an anderen Positionen der kirchlichen Hierarchie machen. Insbesondere bei den Dignitäten des Domstifts und den von ihm verwalteten Archidiakonaten79. Propst des Kathedralkapitels vermochte freilich noch im 13. Jahrhundert nur ein einziger Graduierter zu werden (von 1279–1282), der demnach dieser seiner zusätzlichen Qualifikation offenbar nicht unbedingt seine Positionen verdanken muß: es war ein durch päpstliche Provision 1269 ins Amt gelangter römischer Adliger, der den Ort seiner Pfründe gewiß niemals gesehen hat80. Weiterhin hatte dann der hohe Adel der Region ein nahezu ausschließliches Monopol an der Propstei. Die Pröpste aber sind in der Regel dann trotzdem seit 1329 Graduierte. Die Positionen des Dekans und des Scholasters des Domstifts zeigen dagegen schon früher, seit 1207/8, bzw. 1224, eine Reihe von graduierten Inhabern dieser einträglichen Pfründen, die nur noch ausnahmsweise (in 2 von 7, bzw. 6 Fällen) von einem Nichtgraduierten durchbrochen wird, wobei bei diesen beiden Würden gleich mehrere der kirchlichen Pfründenbesitzer ihrer sozialen Herkunft nach jedenfalls nicht der Hocharistokratie und den bekannten ritterbürtigen Familien angehörten81 und also ihrer Graduierung zumindest einen zusätzlichen „Schub“ bei ihrer Karriere verdankt
Renardy, Recherches, S. 247 ff. Tabelle bei Renardy, Recherches, S. 221 f. für die Dignitäten des Stifts, S. 224–226 für die Archidiakonate. 80 Renardy, Répertoire, S. 174 (Nr. 18), vgl. Recherches, S. 222. 81 Nach den Tabellen (wie Anm. 79) vgl. auch Renardy, Recherches, S. 227. 78
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haben dürften. Im 14. Jahrhundert wird sich dann die Tendenz zeigen, daß auch Dignitäre und insbesondere Archidiakone des Kapitels wieder in stärkerem Maße aus dem Adel stammen, daß aber auch sie in dieser späteren Zeit ebenfalls ein Studium zumindest bis zum Abschluß der „Artes“ betrieben haben. Daß das Offizialat des Bistums seit 1214 fast ausschließlich nur noch einem graduierten Juristen offenstand, ließe sich nach alledem vermuten, könnte man es nicht beweisen82. Aber brechen wir ab. Die genannten Zahlenbeispiele beweisen zur Genüge, daß die 380 Graduierten, die sich in der Diözese Lüttich im 13. Jahrhundert nachweisen lassen, keineswegs sozusagen versickert sind, sonst hätten sie sich in den archivalischen Quellen dieser damals universitätslosen Region ja auch gar nicht auffinden lassen. Vielmehr gingen sie in dem entstehenden judiziellen, administrativen und politischen Apparat der Region, in Kirche und weltlicher Herrschaftsstruktur auf und nahmen zum Teil Positionen ein, die sie zumindest auch ihrer wissenschaftlichen Ausbildung und Befähigung mitzuverdanken 308 hatten83. | Alle bisher genannten Zahlen sind nur in einer Diözese erhoben worden, das ist ihr Vorteil, der auf der Reichenau nicht eigens unterstrichen werden muß, das schränkt aber natürlich ihre allgemeine Aussagekraft auch wiederum ein. Eine vollständigere Induktion würde jedenfalls noch weitere ähnliche Sondagen in verschiedenen Regionen Europas nötig machen, bevor wirklich allgemein tragfähige Ergebnisse zu erreichen wären. Da aber weitere derartigen prosopographischen Analysen von einzelnen Diözesen noch nicht vorliegen, wenn auch in einigen Fällen zu erwarten sind84, so soll uns dieses 82 Renardy, Recherches, S. 231 f. (Tableau 24). Zur Bedeutung des Offizialats zusammenfassend etwa W. Trusen, Die gelehrte Gerichtsbarkeit der Kirche. In: Coing, Hdb. I, S. 467–504. 83 Vgl. dazu die spätmittelalterlichen Verhältnisse, die besonders anschaulich für die Schüler des „New College“ in Oxford (gegr. 1379) entwickelt hat: G. F. Lytle, Pragmatism, Humanism and Orthodoxy of New College, Oxford. In: Genèse et débuts du Grand Schisme d’Occident. = Colloques Internationaux du CNRS, No 586 (1980), S. 201–230, vgl. auch G. F. Lytle, The Social Origins of Oxford Students in the Late Middle Ages, New College c. 1380–c. 1510. In: The Universities in the Late Middle Ages, edd. J. Isewijn u. J. Paquet. = Mediaevalia Lovaniensia I. 6 (1978), S. 426–454. 84 Eine neuere Zusammenfassung für den deutschsprachigen Raum wäre dringend erwünscht. Vorarbeiten gibt es freilich, von denen ich nur eine kleine Auswahl erwähne: Material zur Bildungsgeschichte des deutschen Episkopats, insbesondere der Bischöfe von Freising, gesammelt und bereitgestellt hat H. Strzewitzek, Die
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eine Beispiel hier genügen, um für unsere Frage nach den Wirkungen der Universitäten auf die Kirche des 13. Jahrhunderts in quantitativer Hinsicht wenigstens den Horizont möglicher Antworten anzudeuten. Wir sollten aufmerksam darauf achten, daß die Präsenz von Graduierten in allen hier näher beobachteten Bereichen zwar zeitliche Verschiebungen aufwies, daß sie aber fast regelmäßig anwachsend und insgesamt überraschend dicht gewesen ist: gewiß sollte uns das, allein schon in der Erinnerung an die Verhältnisse in der Lütticher Diözese, nicht zu einer Überschätzung der Graduierung und ihrer „Schubkraft“ für die persönliche Karriere verleiten. Natürlich spielten noch das ganze Mittelalter hindurch andere Momente, wie sozialer und familiärer Status, entsprechende Verbindungen, eine Klienteloder Ordenszugehörigkeit, die Patronage eines hohen Gönners, politische Konjunktur, herrschaftlicher Dienst usw. eine für sich allein jeweils vielleicht weit stärkere Rolle. Die fast regelhafte Präsenz der Magistri in einigen Bereichen der kirchlichen Hierarchie beweist aber doch auch, daß die akademische Qualifikation damals auf einen entsprechenden Bedarf traf, daß eine Ausbildung in den modernen Techniken der Behandlung von Argumenten und Texten, wie sie an den 309 Universitäten auf allen Fakultäten | geübt wurde, in gewissem Umfange als dringend erwünscht, ja als notwendig erschien, so daß die Schlußfolgerung naheliegt, daß universitäre Ausbildung damals zumindest eine zusätzliche Karrierechance öffnete, die einem Magister
Sippenbeziehungen der Freisinger Bischöfe im Mittelalter. = Beiträge zur altbayerischen Kirchengesch. 3. Folge, 16 (1938), bes. S. 57–78. Für die Bildungsgeschichte des Domkapitels von Konstanz ist eine (noch von P. Classen angeregte) Diss. von F. Däuble vielleicht noch zu erwarten. Noch weitgehend unausgewertet ist bildungsgeschichtlich das Material, das – zunehmend dichter für das spätere Mittelalter – L. Santifaller und seine Schüler in zahlreichen Studien sammelten, insbesondere Santifaller, Das Brixener Domkapitel in seiner persönlichen Zusammensetzung im Mittelalter. = Schlern-Schriften 7 (1924), bes. S. 115–132; R. Samulski, Untersuchungen über die persönliche Zusammensetzung des Breslauer Domkapitels im Mittelalter bis zum Tode des Bischofs Nanker 1431. = Historisch-diplomatische Forschungen 6 (1940), bes. S. 88–101 (dazu sind zu vergleichen G. Schindler, Das Breslauer Domkapitel von 1341–1417 (1937); u. G. Zimmermann, Das Breslauer Domkapitel im Zeitalter der Reformation und Gegenreformation [1500–1600]. = Hist.-dipl. Forsch. 2 (1938), bes. S. 54–76); J. Kist. Das Bamberger Domkapitel von 1399–1556. = Hist.-dipl. Forsch. 7 (1934), bes. S. 91 ff. – Vgl. auch die Aufstellungen etwa von H. Wagner u. H. Klein, Salzburgs Domherren von 1300 bis 1514. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 92 (1952), S. 1–81; oder von R. Meier, Die Domkapitel zu Goslar und Halberstadt in ihrer persönlichen Zusammensetzung im Mittelalter. = Veröff. des Max-Planck-Instituts für Gesch. 5 = Studien zur GS 1 (1967).
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gegenüber einem anderen Bewerber ceteris paribus für bestimmte Positionen einen unverkennbaren Vorteil verschaffte, so daß sich an solchen Stellen Personen mit der entsprechenden Qualifikation ansammelten.
II Die Frage, wie sich die Amtskirche dem neuen Phänomen der Universitäten gegenüber verhielt, läßt sich mit einem Satz nicht einfachhin beantworten. Doch war die Ausgangslage für die Hochschulen durchaus günstig. War das Verhältnis des Christentums zu Kultur und Bildung in den Zeiten der Alten Kirche zunächst ambivalent und teilweise widersprüchlich gewesen, so hatte sich das schon in der Spätantike und im Frühmittelalter grundlegend geändert. Die missionarisch-pastoralen Aufgaben der Christianisierung geboten es, dem Klerus zumindest als Forderung eine entsprechende Ausbildung aufzuerlegen, die auch die nötigen Kenntnisse des Lateinischen als der Kult- und Schriftsprache einschloß. Auch in den Klöstern85 konnte sich in andauernd komplexer Gemengelage mit den ursprünglich bildungsfernen Traditionen strenger Askese eine durchaus positive Grundhaltung zu den kulturellen Überlieferungen herausbilden. Den monastischen Schulen der Karolingerzeit86 gesellten sich bald auch, wie auf dieser Tagung an verschiedenen Beispielen verfolgt worden ist87, die Klerusschulen und die geschlossenen, wie die offenen Schulen an Kathedral- und Stiftskirchen fast überall in Europa zu88: die 85 Daß im Frühmittelalter bis zum späten 7. Jh. von einer „Klosterschule“ nicht gesprochen werden sollte, stellte energisch klar D. Illmer, Formen der Erziehung und Wissensvermittlung im frühen Mittelalter. Quellenstudien zur Frage der Kontinuität des abendländischen Erziehungswesens. = Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 7 (1971); vgl. Illmer, „Totum namque in sola experientia usque consista“, Eine Studie zur monastischen Erziehung und Sprache (11974), abgedruckt in: Mönchtum und Gesellschaft im Frühmittelalter, hg. von F. Prinz. WdF (1976), S. 430–455. 86 Zusammenfassend P. Riché, Les écoles et l’enseignement dans l’occident chrétien, de la fin du 5e au milieu du 11e siècle (1979). Für das 10. Jh. auch J. Fleckenstein, Königshof und Bischofsschule unter Otto dem Großen. In: AK 38 (1956), S. 38–62. Exemplarisch zu den „Artes liberales“ im 11. Jh. jetzt die facettenreiche Monographie von A. Borst, Ein Forschungsbericht Hermanns des Lahmen. In: DA 40 (1984), S. 379–477. 87 Vgl. die Beiträge von P. Johanek u. J. Fried in diesem Band. 88 Klassisch bereits die Übersicht bei P. Delhaye, L’organisation scolaire au XIIe siècle. In: Traditio 5 (1947), S. 211–268. Die zahlreichen Einzelstudien sind hier nicht aufzulisten, vgl. nur etwa für Italien die Übersicht bei D. A. Bullough, Le
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Amtskirche hatte also Erfahrung mit Unterricht, mit seiner Organisation und seiner Notwendigkeit. Die Kathedralschule gehörte darum institutionell zu den Voraussetzungen der europäischen Universitäts310 entstehung. Sie hat in ihrer rechtlichen Konstruktion wie in ihrer | wirtschaftlichen Absicherung der neuartigen Universität die entscheidenden Anknüpfungspunkte geliefert. Das sei hier knapp beleuchtet. Für die wirtschaftliche Fundierung universitären Unterrichts wurden Entscheidungen Papst Alexanders III. grundlegend, der in den 60er und 70er Jahren des 12. Jahrhunderts in einigen Dekretalen an französische Kathedralkirchen und schließlich auf dem III. Laterankonzil von 1179 in einer Konstitution für die ganze Kirche versucht hatte, die neue Wissenschaft von Theologie und Kirchenrecht dadurch in der Kirche zu verbreiten, daß zumindest in jedem Kathedralkapitel eine Pfründe speziell für den Zweck einer kostenlosen Erteilung solchen Unterrichts vorbehalten bleiben sollte89. Ersichtlich war diese Politik nicht unmittelbar auf eine Förderung der entstehenden Universitäten gerichtet, sondern allein darauf, das Modell der Kathedralschulen Nordfrankreichs sozusagen zu verallgemeinern. Wäre dieser in seiner Konsequenz großartige Systematisierungsversuch gelungen, hätte die Konkurrenz solchen lokalen Unterrichts den späteren sogenannten Universitäten wohl den für ihre Entwicklung nötigen Zulauf abgeschnitten. Obwohl aus ganz anderen Intentionen geboren, haben aber diese in ihrem eigentlichen Ziel gescheiterten Versuche für die Entwicklung der europäischen Universitäten eine entscheidende Bedeutung erlangt, scuole cattedrali e la cultura dell’ Italia settentionale prima dei Communi, Atti del 2° convegno di storia della chiesa in Italia. = Italia sacra 5 (1964) S. 111–143. Für Frankreich vgl. nach dem unentbehrlichen materialreichen Kompendium von E. Lesne, Histoire de la propriété ecclésiastique en France, 5 (1940), vor allem zuletzt etwa J. R. Williams, The Cathedral School of Reims in the 11th Century. In: Speculum 29 (1954) S. 661–677; N. M. Häring, Chartres and Paris Revisited, in: Essays in Honour of Charles Pegis, hg. v. J. R. O’Donnell (1974), S. 268–329; oder J. Châtillon, Les écoles de Chartres et de Saint Victor, in: La scuola nell’ occidente latino dell’ alto medioevo. = Sett. cent. it. 19 (1972) 2, S. 795–839 usw. Für Deutschland wäre auch etwa J. Autenrieth, Die Domschule von Konstanz. = Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte NF 3 (1956) heranzuziehen. Zusammenfassend für das 12. Jh. J. Ehlers, Die hohen Schulen. In: Die Renaissance der Wissenschaften im 12. Jh., hg. v. P. Weimar, Zürcher Hochschulforum 2 (1981), S. 57–85. 89 Grundlegend bleibt G. Post, Alexander III, the „licentia docendi“ and the Rise of the Universities. In: Anniversary Essays in Medieval History by Students of Charles H. Haskins, presented on his completion of forty years of teaching (1929), S. 255–277.
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da Alexander III. durch flankierende Maßnahmen seinem Dekret zur Durchsetzung hatte verhelfen wollen. Einmal hatte er es dem jeweiligen Domscholaster grundsätzlich strikt untersagt, im Rahmen dieses Programms und überhaupt die Lehrlizenzen ohne jedes Ansehen der Qualifikation des Kandidaten zu verkaufen und somit sein geistliches Amt simonistisch zu einer intensivierbaren Einnahmequelle zu machen90. Aus dieser Regelung konnte sich nach lang anhaltenden und das ganze Mittelalter dauernden Auseinandersetzungen zwischen dem Scholaster oder Kanzler und den Universitätsmagistern die Lizenziierung als integraler Teil eines Examens entwickeln91, das zwar kaum je kostenlos war, das im Gegenteil ungemein kostspielig sein konnte, das aber als formalisierter Qualifikationsnachweis einerseits ein Instrument der Nachwuchsauslese darstellte und andererseits in aller Regel der Korporation der Magister die Festlegung der Organisationsgrenzen selber überließ, d.h. die Magister | konnten zumin- 311 dest prinzipiell darüber befinden, wer zu ihnen gehören sollte und wer nicht. Das war von Anfang an ein wesentliches Moment der universitären korporativen Autonomie92.
90 Vgl. z.B. Lateranum III, c. 18, ed. C. Leonardi, in: Conciliorum oecumenicorum decreta, hg. vom Istituto per le scienze religiose, Bologna (31979), S. 220 (= X 5,5,1) oder auch die Dekretale „Quarto“ (= X 5,5,3). 91 Zu den Konflikten der Frühzeit nach H. Denifle, Entstehung, wie Anm. 3, S. 683 ff., die zit. Arbeiten von Post, wie Anm. 89, oder Baldwin, wie Anm. 10, 1, S. 122 ff.; auch für das Spätmittelalter gab eine Übersicht A. L. Gabriel, The Conflict between the Chancellor and the University of Masters and Students During the Middle Ages. In: Die Auseinandersetzungen an der Pariser Universität des 13. Jh., hg. v. A. Zimmermann. = Miscellanea Mediaevalia 10 (1976), S. 106–154; A. B. Bernstein, Magisterium and License: Corporate Autonomy Against Papal Authority in the Medieval University of Paris. In: Viator 9 (1978), S. 291–307; vgl. auch Bernstein, Pierre d’Ailly and the Blanchard Affair, University and Chancellor of Paris at the Beginning of the Great Schism. = Studies in Medieval and Reformation Thought 24 (1978). – Neue instruktive Überlegungen zu den Bologneser Verhältnissen bei P. Weimar, Zur Doktorwürde, wie Anm. 52. 92 Daraus erklärt sich auch der spätere erbitterte Kampf der universitären Magister cum rigore examinis gegen die päpstlich kreierten doctores bullati, vgl. nur z.B. die bezeichnenden Kautelen in einem der Avisamente aus den Reformatorien des Konstanzer Konzils (edd. H. Finke u. J. Hollnsteiner, Acta concilii Constanciensis, Bd. 2, 1923, S. 642), oder ein Gutachten vom 3. 12. 1415 aus dem Prozeß gegen Jean Petit: . . . non videtur equum magistros per bullam aut graciam vel eorum deliberaciones tantum ponderari sicut deliberaciones magistrorum cum rigore examinis . . . (edd. H. Finke, J. Hollnsteiner, u. H. Heimpel, Acta conc. Const., Bd. 4, 1928, S. 666). Zu den bullati vgl. z.B. Rashdall 1, S. 591–593; für die Spätzeit (XVI. Jh.) anschaulich F. Elsener, Doctor in decretis „per saltum et bullam“. Zur Frage der Anerkennung eines Doktorgrades im kanonischen Recht im Streit um eine Pfründenbesetzung beim Konstanzer Domkapitel. In: Festgabe für Paul Staerkle zu s. 80. Geb. = St. Galler Kultur u. Geschichte 2
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Noch in einer zweiten Hinsicht hatte die Politik Alexanders III. mittelbare Folgen, die weit über ihre unmittelbaren Absichten hinausgingen. Daß hier kirchliches Pfründvermögen speziell dem Zwecke der Schulen vorbehalten wurde (neben der Dignität des Scholasters/ Kanzlers/Kantors, von dem in diesem Zusammenhang gar nicht gesprochen wird), nämlich jene Pfründe, die den Unterricht finanzieren sollte, das eröffnete einen Weg, der wirtschaftlich für alle späteren mittelalterlichen Universitäten grundlegend werden sollte: daraus entwickelte sich nämlich die generelle Dispens von der Residenzpflicht zum Zweck der Studien93. Sie selber war bei Alexander III. noch nicht einmal ins Auge gefaßt, und auch als das IV. Laterankonzil 1215 diese Bestimmung wieder aufnahm, quoniam in multis ecclesiis id minime observatur, da hat das Konzil an diese Weiterung wohl auch 312 nicht unmittelbar gedacht, als es immerhin festlegte, daß | diese Einkünfte für die Lehre dem Magister zufallen sollten, solange er die Lehre erteilte, ohne daß er dadurch zum Kanoniker des Stifts werden müsse94. Wenig später aber, in der berühmten Konstitution Papst Honorius’ III. „Super speculam“ vom 21. November 1219, gewann dann endgültig die Entbindung von der Residenzpflicht zum Zwecke des Studiums Gestalt, da der Papst hier festlegt, wo nicht genügend (1972), S. 83–91; eine oft übersehene Seite dieser päpstlichen „Springpromotionen“ beleuchtet M. Ditsche, Soziale Aspekte der päpstlichen Doktorgraduierungen im späteren Mittelalter. In: Kyrkohistorisk Arsskrift 77 (1977), S. 208–210, vgl. Ditsche, Zur Studienförderung im Mittelalter. In: RhVjbll 41 (1977), S. 53–62, sowie Ditsche, „Scholares pauperes“, Prospettive e condizioni di studio degli studenti poveri nelle università del medioevo. In: Annali del Istituto storico italo-germanico in Trento 5 (1979), S. 43–54. 93 Zum „Residenzprivileg“ P. S. Kibre, Scholarly Privileges in the Middle Ages. The Rights, Privileges and Immunities of Scholars and Universities at Bologna, Padua, Paris and Oxford. = Mediaeval Academy of America, Publication 72 (1961), passim, bes. S. 227 ff. Vgl. auch bereits den Zivilisten Petrus Rebuffus (Pierre Rebuffi), De Scholasticorum, Bibliopolarum atque coeterorum Universitatis omnium ministrorum iuratorumque privilegiis, privilegium XXVIIIsqq. (geschrieben ca. 1530, hier benutzt nach dem Druck Paris 1540, S. 91 ff.). Die Bedeutung des Residenzprivilegs erhellt auch aus der Neuregelung der Klerusbildung durch Bonifaz VIII. im Liber Sextus von 1298 (VI 1,6,34 „Cum ex eo“), vgl. dazu insbes. L. E. Boyle, The Constitution „Cum ex eo“ of Boniface VIII. In: MSt 24 (1962), S. 263–302; vgl. Ders., Aspects of Clerical Education in Fourteenth Century England. In: Acta. The Center for Medieval and Early Renaissance Studies 4 (1977), S. 19–32. 94 Lateranum IV, c. 11, ed. C. Leonardi, in: Conc. oec. decr., wie Anm. 90, S. 240; jetzt zusammen mit der unmittelbar anschließenden dekretalistischen Kommentierung ed. A. Garcia y García, Constitutiones concilii quarti Lateranensis una cum commentariis glossatorum. = MIC A 2 (1981), S. 59 f.; vgl. S. 144; S. 202–204 ( Johannes Teutonicus); S. 304–306 (Vincentius Hispanus); S. 423–425 (Damasus); S. 468 (Casus Parisienses); S. 485 (Casus Fuldenses).
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Qualifizierte für den Unterricht zur Verfügung stünden, da sollten die Kapitel einen der Kanoniker zum Studium fortschikken. Überhaupt sollten Studierenden und Lehrenden an den Universitäten die Einkünfte ihrer Pfründen aller gewohnheitsrechtlichen oder statutarischen Residenzpflicht zum Trotz ganze 5 Jahre auch am fernen Ort ihres Studiums bleiben dürfen95. Wir wüßten gerne Genaueres über das Zustandekommen dieses grundlegenden Privilegs und überhaupt solch günstiger und für die Universitäts „clerici“ vorteilhafter Regelungen. Wir müßten voraussetzen, ließe es sich nicht auch mit anderen Mitteln wahrscheinlich machen, daß an der Redaktion solcher Formulierungen Männer beteiligt waren, die die Universitäten und ihre Probleme von innen kannten und die bereit waren, den Interessen der an den Hochschulen wirkenden Professoren und Studenten sehr weit entgegenzukommen96, Angehörige also jener breiten Schicht von Universitätsabgängern, die damals bereits, wie wir gesehen haben, an der Kurie nachweislich sind. In diesem Sinne läßt sich die beobachtete Politik Alexanders III. und seiner Nachfolger durchaus verallgemeinern. Aus eigener Initiative oder auf Betreiben der an solchen Ergebnissen primär Interessierten, durchaus aber in der Regel gestützt auf eine intime Sachkenntnis der universitären Probleme, die die Päpste entweder selbst oder an ihrer Kurie in ausreichendem Umfang zur Verfügung hatten, entwickelten sie oder sanktionierten sie Rechtsvorstellungen und Rechtsformen, die den in dieser Zeit sich konsolidierenden Universitäten Halt und Sicherheit verliehen. Dabei kam den Universitäten wie der Kurie zugute, daß der Konsolidierungsprozeß der Hochschulen mit der Blütezeit des päpstlichen Dekretalenrechts im 12. und 13. Jahrhundert zeitlich zusammenfiel. Daß die die Universität betreffenden Bestimmungen der interessierten wissenschaftlichen Behandlung durch die Kanonisten nicht entgingen, versteht sich von selbst. | So wurde, um bei dem eben genannten 313 95 „Super speculam“ vom 16. oder 22. Nov. 1219 (Potthast nr. 6165 u. 6167; Presutti nr. 2267), am besten zugänglich bei H. Denifle und E. Chatelain (edd.), Chartularium Universitatis Parisiensis (künftig „CUP“), Bd. I (1899), S. 90–92, nr. 32. 96 E. Pitz, Papstreskript und Kaiserreskript im Mittelalter. In: Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 36 (1971), S. 171–191, sieht als Hauptanreger den Hl. Dominikus (in Verbindung mit dem Pariser Magister Petrus von Capua und dem Pariser Kanzler Philippe de Grève) an und kann dessen entscheidende Beteiligung aus der Überlieferung der Originalausfertigungen wahrscheinlich machen. Zur besonderen Frage der Verbindlichkeit des Texts im rechts-technischen Sinn vgl. allerdings auch P. Landau in: ZRG KanAbt 59 (1973), S. 444.
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Beispiel zu bleiben, die im November 1219 erlassene Konstitution „Super speculam“, die zunächst offenbar auf Paris bezogen war, sehr bald schon in die wissenschaftliche Bearbeitung und Auslegung für die Ausbildung der Kanonisten auch in Bologna übernommen97, sie wurde bereits 1220 von Kanonisten in Bologna, etwa von Tancred, zitiert und erörtert, fand in die Dekretalensammlungen der Schulen Eingang, gelangte auch selbstverständlich in die sogenannte „Compilatio quinta“, die Papst Honorius III. als offiziöse Auswahl seiner eigenen Rechtsentscheidungen durch Tancred von Bologna herstellen ließ und am 2. Mai 1226 durch Übersendung an die Universität Bologna und Paris publizierte98; später war sie, natürlich in schulgerechter Form bearbeitet, auch in der offiziellen Dekretalensammlung Papst Gregors IX. von 1234 enthalten, die als „Liber Extra“ die Grundlage der künftigen Entwicklung des Kirchenrechts abgeben sollte99. Nicht jede Entscheidung über universitäre Rechtsfragen oder zugunsten der Interessen der Magistri und Studenten hatte ein derart publiNach G. Digard, La papauté et l’étude du droit romain au XIIIe siècle. In: BEC 51 (1890) S. 381–419, jetzt wichtig insbesondere S. Kuttner, Papst Honorius III. und das Studium des Zivilrechts. In: Festschrift für Martin Wolf, hg. v. E. v. Caemmerer, F. A. Mann, W. Hallstein, L. Raiser (1952), S. 79–101. 98 Compilatio quinta 5,2,1; 3,27,1; 5,12,3, vgl. Ae. Friedberg, Quinque compilationes antiquae (1882), S. 182, 180, 184; zur Redaktionsgeschichte dieser Sammlung zusammenfassend jetzt L. E. Boyle, The „Compilatio quinta“ and the registers of Honorius III. In: BMCL, NS 8 (1978), S. 9–19, Neudruck in Boyle, Pastoral Law, Clerical Education and Canon Law, 1200–1400. Variorum Reprints CS 135 (1981), Nr. XI. 99 X 5,5,5; 3,50,10; 5,33,28 – Zu den Einzelheiten S. Kuttner wie Anm. 97, S. 80 ff. Damit läßt sich für „Super speculam“ eine in gewissen Zügen analoge Rezeptionsgeschichte im gelehrten Recht konstatieren wie für die berühmte Authentica „Habita“ Kaiser Friedrichs I. von 1155 (?), nur daß wir zu „Super speculam“ noch eine ganze Reihe der ursprünglichen Kanzleiausfertigungen besitzen (vgl. Anm. 96), während für die „Habita“ ausschließlich die romanistische und dekretistische gelehrte Überlieferung erhalten ist (neben dem bekannten Widerschein in dem anonymen „Carmen de gestis Frederici I. imperatoris in Lombardia“ ed. I. Schmale-Ott, [MGH SRG (in us. schol.) [62]1965], vv. 463–501, S. 16–18). Vgl. zur Überlieferung und Datierung jetzt vor allem W. Stelzer, Zum Scholarenprivileg Friedrich Barbarossas (Authentica „Habita“). In: DA 34 (1978), S. 123–165, der auf die traditionelle Datierung der „Habita“ auf den Reichstag von Roncaglia (1158 November) verzichten will und gestützt auf das „Carmen“ das Privileg allein auf 1155 Mai datiert. Die neue Edition des Textes durch H. Appelt, unter Mitwirkung von R. M. Herkenrath u. W. Koch in MGH, DD F II nr. 243 (Bd. 2, 1979, S. 36–40) geht dagegen noch von der älteren Auffassung aus, nach der das (verlorene) Privileg von 1155 als Vorurkunde zur Authentica von 1158 anzusehen wäre (vgl. die Vorbemerkung) – dieser Streit ist hier nicht zu entscheiden. Die Lösung von Stelzer hat jedenfalls die Eleganz des „Rasor Occami“ für sich, weil sie auf „überflüssige“ allein durch Rekonstruktion und gelehrte Vermutung nahegelegte Daten verzichtet. 97
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zitätsträchtiges Geschick, nicht jede betraf auch so fundamentale Fragen. Im einzelnen wählte die Kurie natürlich durchaus verschiedene Wege, um schlichtend oder ordnend in die lokalen Verhältnisse der einzelnen Universitäten einzugreifen: neben die Grundsatzentscheidung konnte eine Bekräftigung oder die Zuerkennung von Privilegien treten, Streitfälle konnten an der Kurie, ja im Konsistorium oder auch von einem Legaten entschieden werden, der anläßlich anderer Geschäfte in der Nähe weilte und bereit war, seine Zeit und Kompetenz für die Universität einzusetzen. So geschah es etwa 1213 und 1215 | durch den Kardinal Robert von Courçon in Paris100 314 oder um die gleiche Zeit (1214) durch den Kardinalbischof von Tusculum Nikolaus von Clairvaux in Oxford101. Der Form der Rechtssicherung durch päpstliche Privilegierung, die sich im 13. Jahrhundert in der Kirche ohnedies einer zunehmenden Beliebtheit erfreute, bedienten sich auch die Universitäten gerne – allerdings in unterschiedlichem Umfang. Die Pariser Magister hatten früh den Weg beschritten, sich gegenüber Ansprüchen der lokalen Autorität des Bischofs und seines Kanzlers in Rom die nötige Rückendeckung zu verschaffen, mit einem auf die Dauer überwältigenden Erfolg: schon nach der Mitte des 13. Jahrhunderts, im Pontifikat Urbans IV., wurden schließlich von der Kurie zwei kirchliche Würdenträger als Conservatores privilegiorum apostolicorum102 eingesetzt, die nicht dem Pariser Diözesanklerus angehörten und also auch dem Pariser Bischof gegenüber relativ unabhängig waren. Die „Konservatoren“ hatten die Aufgabe, durch die Anwendung entsprechender 100 CUP 1, S. 78–80, nr. 20, vgl. dazu Ch. Dickson, Le cardinal Robert de Courson, sa vie. In: AHDL a. 9 (1934), S. 53–142, und J. W. Baldwin, Masters, Princes and Merchants 1, S. 19–25 (mit 2, S. 9–15); P. Classen, Studium und Gesellschaft, wie Anm. 12, S. 158 ff. 101 Kardinal Nikolaus v. Frascati hatte einen erbitterten Konflikt zwischen „Town and Gown“ zu schlichten; die Urkunde in: The Medieval Archives of the University of Oxford, ed. H. E. Salter, Oxford Historical Society Publications 70 (1924), 1, S. 2–4, nr. 2; vgl. dazu etwa außer Rashdall, 3, S. 34 f., auch G. Leff, Paris and Oxford Universities in the Thirteenth and Fourteenth Centuries, An Institutional and Intellectual History (1968), S. 78 ff. Jetzt P. Classen, Studium und Gesellschaft, S. 251 und R. W. Southern, From Schools to University. In: The History of the University of Oxford, vol. 1: The Early Oxford Schools, ed. J. I. Catto (1984), S. 1–36, bes. S. 26–33. – Eine Photographie einer der Urkunden des Kardinallegaten findet sich in: Town and Gown. Eight Hundred Years of Oxford Life. An Exhibition at the Bodleian Library, Oxford (1982), S. 16, vgl. S. 17 nr. 30. 102 Rashdall, 2, S. 342 f.; P. S. Kibre, Scholarly Privileges, wie Anm. 93, bes. S. 119 ff., 142 ff.; H. Hénaff, Les Conservateurs apostoliques dans le droit classique de l’église. Origines et charactères de l’institution. In: RDC 24 (1974), S. 223–255 (Zusammenfassung einer Straßburger kanonistischen Diss.).
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Exkommunikationsvollmachten die unbeschadete Geltung aller päpstlich verbrieften Privilegien gegen jeden unmittelbaren Angriff durchzusetzen. Diese Institution apostolischer Konservatoren, die etwa gleichzeitig auch anderen kirchlichen Korporationen sporadisch zugestanden wurde103, sollte dann im Spätmittelalter zur „Normalausstattung“ einer Universitätsgründung gehören, um die man sich im 315 allgemeinen intensiv bemühte104. | Andere Universitäten hielten sich freilich zunächst wesentlich stärker zurück und ließen ihr Verhältnis zur römischen Kurie durchaus im Hintergrund, wenigstens fürs erste: erst im 14. Jahrhundert pendelten sich dann ihre Beziehungen zumindest nördlich der Alpen auf einen meist den Pariser Zuständen abgelauschten „Normalzustand“ ein. Oxford etwa, das sich nicht mit einem Bischof in der eigenen Stadt auseinanderzusetzen hatte und ohnedies von Beginn an viel stärker auf den König hin orientiert war105, holte sich – außer der eben erwähnten Legatenurkunde von 1214 – zwar im Jahre 1254 eine päpstliche Bestätigung der im Jahr zuvor erlassenen Statuten, war danach aber zunächst recht spröde, bis dann Anfang des 14. Jahrhunderts eine intensivere Beziehung zum apostolischen Stuhl einsetzte106. Cambridge erhielt eine umfassende päpstliche Rechtsbe103
Instruktiv dafür etwa die „apostolischen Konservatoren“ für den Franziskanerorden, vgl. z.B. für das 13. Jh. S. Gieben, Confraternitate e penitenti dell’ area Francescana. In: Francescanesimo e vita religiosa dei laici nel ’200. = Atti dell’VIII Convegno della Società Internazionale di Studi Francesani (1981), S. 169–201, hier bes. S. 177. Im 15. Jh. wird der deutsche Theologe Hinrich Toke (†1455) die „kirchlichen Konservatoren“ als Modell seiner Vorschläge zu einer Gerichtsreform im Reich benutzen, vgl. H. Heimpel, Die Vener, wie Anm. 23, 2, S. 858. 104 Bezeichnend sind im 15. Jh. etwa die (vergeblichen) Bestrebungen der soeben neu begründeten Universität Poitiers, den damals sofort neben einem conservateur des privilèges . . . pour les causes réelles wie selbstverständlich ernannten conservateur des privilèges . . . pour les causes ecclésiastiques durch eine eigene cour conservatoire pour le conservateur ecclésiastique de ladite Université le plus tôt que faire se pourra ergänzen zu lassen: Das ausführliche Notariatsinstrument über die Gründungsakte 1432/33, gedruckt bei M. Fournier, Les statuts et privilèges des universtités françaises 3 (1890), S. 286–300, bes. S. 292a (§ 21), S. 294a (§ 24) [hier das Zitat], S. 297b (§ 28). Eine ausführliche Darstellung der Konservatoren ist in vielen Universitätsgeschichten zu finden; anschaulich etwa G. Ritter, Die Heidelberger Universität. 1 (1936), S. 110–114. Zu den (von unterschiedlichem Erfolg gekrönten) Bemühungen der spätmittelalterlichen deutschen Universitäten um solche Konservatoren vgl. auch die Aufstellungen von K. Wriedt, Kurie, Konzil und Landeskirche als Problem der deutschen Universitäten im Spätmittelalter. In: Kyrkohistorisk Arsskrift 77 (1977), S. 203–207, hier S. 205. 105 G. Leff, Paris and Oxford, wie Anm. 101, S. 82 ff. 106 Bezeichnend etwa G. L. Haskins, The University of Oxford and the „Ius ubique docendi“. In: EHR 56 (1941), S. 281–292. – Ähnlich war der Sachverhalt in Bologna, vgl. P. Weimar, Zur Doktorwürde, wie Anm. 52, bes. S. 439 ff.
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stätigung erst 1318, mehr als ein Jahrhundert nach seinem Beginn107. Orléans, an dessen Studium Bonifaz VIII. 1296 seinen „Liber sextus“ wie an Bologna oder Paris zur Publikation gesandt hatte, hat sich erst 1306 Privilegien und Exekutionsmandate von Papst Clemens V. beschafft, als dieser nähergerückt war108 und schickte 1313 sogar eine eigenen Delegation nach Paris, um sich die dortigen Regelungen, Privilegien und Statuten auszubitten109, und das alte Medizin- und Rechtsstudium von Montpellier ließ den erbitterten Konflikt zwischen dem Bischof von Maguelone, dem Doktorenkollegium und der studentischen Juristenfakultät schließlich von dem päpstlichen Kardinallegaten Bertrand de Diaux schlichten, aber das geschah erst im Jahre 1339110. | 316 Aber wenn es auch so scheinen könnte, als bedeute dieser schließliche Erfolg des „Pariser Modells“ in der Konstruktion der Rechtsbeziehungen zwischen Universität, ortskirchlicher Autorität und Universität den Sieg des ursprünglich eben von vorneherein zukunftsträchtigen Prinzips, so bliebe ein solches Bild doch oberflächlich und verkürzend. Es unterschlägt nämlich die konfliktreiche Entwicklung dieser Konstellation, die sich gerade im 13. Jahrhundert auch in Paris selbst vollzog111. Wir können uns das an zwei Problemkomplexen verdeutlichen: an den Schwierigkeiten, die die Pariser Magister der Theologie 107 A. B. Cobban, Edward II, Pope John XXII, and the University of Cambridge. In: Bulletin of the John Rylands Library Manchester 47 (1964/65), S. 49–78; knapp Cobban, Universities, wie Anm. 2, S. 110–115. 108 M. H. Jullien de Pommerol (ed.), Sources de l’histoire des universités Françaises au moyen âge: Université d’Orléans (1978), S. 39 ff.: nr. 1 (Bonifaz VIII.) nr. 4, 9, 10, 13, 17, 18 und nr. 3, (7), 8 (Clemens V.); vgl. auch ebenda, S. 95–104, die chronologische Tabelle. Dazu Ch. Thouzellier, La papauté et les universités provinciales en France dans la première moitié du XIIIe siècle. In: Etudes médiévales offerts au Doyen A. Fliche de l’Institut par ses amis. = Collection de la Faculté des Lettres de Montpellier 3 (1952), S. 187–211, bes. 187–189, die freilich den päpstlichen Einfluß überschätzt; sowie auch D. Illmer in diesem Bande. 109 Vgl. Marsilius von Padua, Defensor Pacis II. 18.6, ed. R. Scholz, wie Anm. 66, S. 380, mit Anm. 1. – Es ist bemerkenswert, daß sich die Juristenuniversität Orléans damit nicht an Bologna, sondern am näheren Paris orientierte. 110 A. B. Cobban, Episcopal Control in the Medieval Universities of Northern Europe. In: The Church and Academic Learning, ed. D. Baker. = Studies in Church History 5 (1969), S. 1–22, bes. S. 6–9; Thouzellier, La papauté, S. 190–198. 111 Allgemein zuletzt P. Classen, Zur Geschichte der „Akademischen Freiheit“, vorwiegend im Mittelalter. In: HZ 232 (1981), S. 529–553, bes. 539 ff. ( jetzt stark erweitert in Classen, Studium und Gesellschaft, wie Anm. 12, S. 238–285). – Für das späte Mittelalter und die Neuzeit vgl. auch die anregende Untersuchung von K. Schreiner, Disziplinierte Wissenschaftsfreiheit, Gedankliche Begründung und geschichtliche Praxis freien Forschens, Lehrens und Lernens an der Universität Tübingen (1477–1945). = Contubernium 22 (1981).
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früher und stärker als andernorts hinsichtlich der Lehrzucht mit der römischen Kurie bekamen112 und zweitens an dem Beitrag, den der sogenannte Bettelordenstreit in Paris für die Durchsetzung einer papalen Ekklesiologie in der Gesamtkirche leistete113. Ich möchte hier nicht erneut im einzelnen auf die Geschichte der Lehrzuchtverfahren eingehen, die ein anschauliches Beispiel für die Umbrüche des 13. Jahrhunderts liefern können114. Die herkömmliche Lösung solcher Konflikte mit synodalen Mitteln im Rahmen der Diözese wurde angesichts der neuen wissenschaftlichen Diskussion an der Universität jedenfalls sehr bald sowohl durch ein quasi-synodales 317 korporatives Organ der Experten, die | Magisterversammlung aller kompetenten Universitätsfachleute, ergänzt, das dem Bischof und seiner Synode zur Seite tritt. Gleichzeitig wird von durchaus unterschiedlicher Seite auch die Autorität und Entscheidungskompetenz des Römischen Stuhls ins Spiel gebracht, an den sich einmal die Angeklagten selber durch Appellation wenden, ein andermal der Pariser Bischof, um seiner Sentenz höheres Gewicht zu geben; bisweilen ist auch die Initiative eines päpstlichen Legaten zu vermuten. Die drei möglichen Instanzen, bischöfliche Synode, Magisterkollegium und 112 J. Miethke, Der Zugriff der kirchlichen Hierarchie auf die mittelalterliche Universität. Institutionelle Formen der Kontrolle über die universitäre Lehrentwicklung (am Beispiel von Paris). In: Kyrkohistorisk Arsskrift 77 (1977), S. 197–204. 113 Eine detaillierte und farbige Schilderung des Konflikts gibt: M. M. Dufeil, Guillaume de Saint-Amour et la polemique universitaire Parisienne 1250–1259 (1972); dadurch sind alle früheren Darstellungen ersetzt, auch wenn Dufeil in seiner Bewertung allzu einseitig plakativ für die – letztlich siegreichen – Mendikanten Partei ergreift, wie auch der Aufsatz deutlich macht: Dufeil, Signification historique de la querelle des mendiants: ils sont le progrès au 13e siècle. In: Die Auseinandersetzungen, wie Anm. 91, S. 95–105. 114 Ausführlicher J. Miethke, Papst, Ortsbischof und Universität in den Pariser Theologenprozessen des 13. Jhs., in: Die Auseinandersetzungen, wie Anm. 91, S. 52–94; zu einem Teilaspekt auch J. Châtillon, L’exercise du pouvoir doctrinal dans la chrétienté du XIIIe siècle: Le cas d’Etienne Tempier. In: Le pouvoir (1978), S. 13–45; R. Hissette, Etienne Tempier et ses condamnations. In: RTh 47 (1980), S. 231–270; zur Vorgeschichte im 12. Jh. etwa J. Miethke, Theologenprozesse in der ersten Phase ihrer institutionellen Ausbildung. Die Verfahren gegen Peter Abaelard und Gilbert von Poitiers, in: Viator 6 (1975), S. 87–116; N. M. Häring, Die ersten Konflikte zwischen der Universität von Paris und der kirchlichen Lehrautorität. In: Die Auseinandersetzungen, wie Anm. 91, S. 38–51; sowie J. van Laarhoven, Magisterium en theologie in de 12e eeuw, de processen te Soissons (1121), Sens (1140) en Reims (1148). In: Tijdschrift voor Theologie 21 (1981), S. 109–131. Vgl. auch L. Kolmer, Abaelard und Bernhard von Clairvaux in Sens. In: ZRG Kan.Abt. 66 (1981), S. 121–147. Für das spätere Mittelalter auch G. F. Lytle, Universities as Religious Authorities in the Later Middle Ages and Reformation. In: Reform and Authority in the Medieval and Reformation Church, ed. G. F. Lytle (1981), S. 69–97.
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apostolischer Stuhl, stehen zunächst relativ unverbunden nebeneinander, ohne in härteren Konflikt zu geraten, auch ohne daß von vornherein ein fester Instanzenzug sich allgemeine Anerkennung verschafft hätte. Selbst zwischen dem Bischof und dem Magisterkollegium, das unter bischöflichem Vorsitz oder dem des Kanzlers tagt, kommt es zunächst keineswegs zu erkennbaren Friktionen. Vielmehr gelingt es der Magisterversammlung als einem Expertengremium, zuerst die traditionell zuständigen Instanzen zu beraten, und schließlich sich in ungeklärter Rechtsbeziehung ihnen an die Seite zu stellen. Dieses labile und undurchsichtige Verhältnis hatte nicht längere Zeit Bestand. Das monarchische Papsttum, das sich gerade im 13. Jahrhundert in der Kirche des Abendlandes allgemein durchzusetzen vermochte115 – nicht zuletzt dank der universitären Rechtswissenschaft der Dekretalistik –, hat vielmehr diese Situation zugunsten seiner eigenen Kompetenz klar entschieden. Das ging nicht ohne harten Konflikt ab. Die Auseinandersetzung, in der diese grundsätzliche Entscheidung fiel, der sogenannte Bettelordenstreit im Paris der Jahrhundertmitte, wurde in aller Erbitterung und mit dem Häresievorwurf auf beiden Seiten geführt. Keineswegs ging es in jenem Streit etwa nur um die Frage, ob die Pariser Magister aus dem Weltklerus es den Magistern und Studenten aus den Bettelorden verweigern durften, der Korporation der Pariser Universität zuzugehören. Schon in den offiziellen Zwischenergebnissen des Streits zeigte sich die weitere Perspektive, als es den Magistern zunächst gelang, Papst Innozenz IV. zu einer Konstitution zu veranlassen, die die Privilegien der Mendikanten insgesamt schwerwiegend einschränken sollte116. Da der Nachfolger des wenige Tage später verstorbenen Innozenz IV., Papst Alexander IV., nichts Eiligeres zu tun hatte, als diese Konstitution aufzuheben117, und darüber hinaus wenig später die Universität durch bindenden Auftrag verpflichten wollte, die Mendikanten aufzunehmen118, versuchten es die Magister nun mit dem Schritt der 115 Der Versuch einer Übersicht bei J. Miethke, Historischer Prozeß und zeitgenössisches Bewußtsein. Die Theorie des monarchischen Papats im hohen und späteren Mittelalter. In: HZ 226 (1978), S. 564–599. 116 „Etsi animarum“ (Potthast Nr. 15562) vom 21. Nov. 1254, CUP I, S. 267– 270, nr. 240. 117 „Nee insolitum“ (Potthast Nr. 15602) vom 22. Dez. 1254, CUP I, S. 276 f., nr. 244. Innozenz IV. war am 7. Dez. gestorben, Alexander IV. am 12. Dez. gewählt worden. 118 „Quasi lignum vitae“ (Potthast Nr. 15801) vom 14. April 1255, CUP I, S. 279–285, nr. 247.
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Selbstauflösung der Universität, sich diesem päpstlichem Auftrag zu entziehen119. Aber diese Repressalie, die Auflösung der Universität, 318 die sich bisher örtlich als | so probates Mittel der Rechtssicherung gegen Bischof und Stadt, ja gegen den königlichen Prevôt erwiesen hatte120, erwies sich dem Papst gegenüber als stumpf; der Papst, gestützt auf die Bettelorden, konnte gegen die Pariser Magister seine Entscheidung schließlich durchsetzen. Erst recht aber bildete der heftige Krieg der Streitschriften und Pamphlete, der Quaestionen und Traktate, der die juristische und politische Auseinandersetzung begleitete, eine Epoche in der Entwicklung kirchlichen Selbstverständnisses121: da die Magister aus dem Weltklerus mit aller wissenschaftlichen Grundsätzlichkeit und theologischen Unerbittlichkeit den Bettelorden die christliche Legitimität ihrer Lebensform schlechthin bestritten, obwohl diese doch von der römischen Kirche approbiert und mit vielfältigen Privilegien abgestützt worden war, mußten sich die mendikantischen Theologen auf die Frage der Stellung des Papstes in der Kirche konzentrieren, mußten sie die Wirkungen päpstlicher Sanktionen, die Vollmacht päpstlicher Entscheidungen, die Geltung päpstlicher Maßnahmen zur Erörterung bringen. Der ekklesiologische Entwurf, den die bedeutenden Theologen der Bettelorden, unter ihnen Thomas von York, Thomas von Aquin und Bonaventura, gegen die korporativen Vorstellungen der Magister aus dem Weltklerus wie Wilhelm von St. Amour, Nicolas von Lisieux oder Gerhard von Abbéville formulierten und der im Papst die hierarchische Spitze des
119 „Radix amaritudinis“ CUP I, S. 292–296, nr. 256. Die Bulle Alexanders IV. ist, so behaupten die Magister, durch ihre Gegner an der Kurie erschlichen worden, und dieser Text, que ‚Quasi lignum vite‘ vocetenus incipiens preter intentionem vestram et fratrum vestorum, ut credimus, nobis facta, est lignum mortis (S. 292). Im einzelnen vgl. vor allem P. Michaud Quantin, Le droit universitaire dans le conflit Parisien de 1152–1257. In: SG 8 (1962), S. 577–599, bes. S. 591 ff., und Dufeil, Guillaume de Saint-Amour, S. 170 ff., auch Miethke, Papst, Ortsbischof und Universität, wie Anm. 114, S. 69 ff. 120 Vgl. den Konflikt 1229/31 in Paris. Dazu etwa H. Denifle, wie Anm. 3, bes. S. 270 f.; Rashdall 1, S. 334 ff.; 2, S. 153 f.; G. Leff, wie Anm. 101, S. 31 ff.; J. Verger, wie Anm. 3, S. 33. 121 Grundlegend Y. Congar, Aspects ecclésiologiques de la querelle entre mendiants et séculiers dans la seconde moitié du XIIIe siècle et le début du XIVe. In: AHDL 28 (1961), S. 35–151; vgl. J. Miethke, Die Rolle der Bettelorden im Umbruch der politischen Theorie an der Wende zum 14. Jh. In: Ordensstudien II, Die Stellung und Wirksamkeit der Bettelorden in der städtischen Gesellschaft, hg. v. K. Elm (Berliner Historische Studien 3, 1981), S. 119–153.
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kirchlichen Gesamtverbandes sah122, konnte sich, da sich das Bündnis der Mendikanten mit dem Papsttum insgesamt als dauerhaft erwies, in der Kirche gegen die etwas diffusen korporativen Vorstellungen der Pariser Magister aus dem Weltklerus123 auf die Dauer erfolgreich durchsetzen, auch wenn der Pariser Korporatismus eine Nachgeschichte haben sollte, der bis zu den Konziliaristen und Gallikanern des 319 Spätmittelalters und der frühen Neuzeit hin wirken sollte124. | Hier soll das nicht weiter verfolgt werden. Kirche und Universität haben wir in ihrem nicht spannungslosen Verhältnis zueinander während des 13. Jahrhunderts in einigen wesentlichen Aspekten betrachtet. Unter den gesellschaftlichen Institutionen, die sich den Einsatz der an den Universitäten Ausgebildeten sehr rasch und, wenn nicht flächendeckend, so doch an wichtigen Punkten zu sichern wußten, erwies sich die Kirche im 13. Jahrhundert als eine wichtige Auffangstelle, als ein bedeutender „Abnehmer“ von universitär qualifiziertem Personal, nicht allein an der römischen Kurie, wenn dort auch in besonders auffälligem Maße, sondern auch auf der lokalen Ebene der Bistümer, wie wir insbesondere an den Magistri in der Lütticher Diözese verfolgt haben. Daß die kirchliche Rechtsentwicklung, damals in besonderem Maße von diesen Universitätsabgängern vorangetrieben und verbreitet, die juristische und institutionelle Entwicklung der Universitäten förderte, daß sich die Kirche darüber hinaus auch bereit zeigt, durch ihre Privilegienpolitik, etwa durch das Residenzprivileg, auch das Kirchenvermögen zur Unterstützung der Studien zu
122 Dazu auch neuerlich etwa die Dissertation v. A. Zuckerman, Domicican Theories of the Papal Primacy 1250–1320, (PhD-Thesis 1972, Cornell University N.Y.). 123 G. de Lagarde, La philosophie sociale d’Henri de Gend et Godefroid de Fontaines. In: AHDL 14 (1943), S. 73–142, überarbeitet in de Lagarde, La naissance de l’esprit laïque au déclin du moyen âge, Ed. nouvelle, 2 (1958), S. 161–212. Dazu die – jeweils etwas schematischen – Dissertationen: J. T. Marrone, The Ecclesiology of the Parisian Secular Masters 1250–1320 (PhD-Thesis 1972, Cornell University N.Y.); u. R. Zeyen, Die theologische Disputation des Johannes de Polliaco zur kirchlichen Verfassung. = Europäische Hochschulschriften XXIII. 64 (1976). 124 Als Beleg kann hier allein schon die Rezeptions- und Überlieferungsgeschichte der Hauptschrift des Wilhelm von St. Amour „De periculis novissimorum temporum“ gelten, die im XV. Jh. im Zusammenhang mit dem Mendikantenproblem der Reformkonzilien eifrig kopiert wurde: eine Übersicht über die Redaktionen und die Mss. gibt Dufeil, Guillaume de Saint-Amour, wie Anm. 113, S. 212–216, S. 221–223, vgl. insbesondere die Listen S. 269 f., Anm. 75 (1. Redaktion); S. 271, Anm. 92–94 (2. Redaktion); S. 271 f., Anm. 95 (3. Redaktion); S. 278, Anm. 182 (5. Redaktion) – leider sind die Angaben über die Datierung der Hss. sehr unvollständig.
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mobilisieren, kann als eine weitere entscheidende Förderung, die die Universitäten in dieser Zeit erfuhren, verbucht werden. Daß die universitäre Lehre dabei in einer sich auf die römische Kurie hin zentralisierenden Kirche letztlich der Primatialgewalt zugute kam, dafür hatte allerdings nicht die Universität allein die Verantwortung. Was man in der Universität nach dem Ergebnis des Bettelordenstreites in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts vom Papsttum erwarten konnte, das kann uns Roger Bacon, der originelle und widerborstige englische Franziskaner125, exemplarisch deutlich machen. Er, der an den Wissenschaften seiner Zeit litt und viele der Schwächen der Scholastik zur Zeit ihrer höchsten Blüte klarsichtig erkannte, er, der die Buchwissenschaften ohne Sprachenkenntnis der Grundtexte, also ohne Griechisch, Hebräisch und Arabisch für fehlerhaft, der die theoretische Spekulation ohne Empirie und alle Wissenschaften ohne mathematische Theorie für oberflächlich und irreführend hielt126, war fest davon überzeugt, ein Patentrezept für alle Schwierigkeiten seiner Zeit, wenn nicht zu haben, so doch entwickeln zu können127. 320 Wäre es ihm vergönnt | gewesen, im Auftrag des Papstes, des dominator mundi128, des vicarius salvatoris129 und Inhabers der plenitudo potestatis130, 125
Aus der reichen Literatur vgl. hier vor allem S. C. Easton, Roger Bacon and his search for universal science. A reconsideration of the life and work of Roger Bacon in the light of his own stated purposes (1952), hier bes. S. 118 ff., knappe Zusammenfassung bei A. B. Emden, A Biographical Register of the University of Oxford 1 (1957), S. 87–88, oder bei F. van Steenberghen, La philosophie au XIIIe siècle. = Philosophes médiévaux 9 (1966), S. 143 ff., S. 421 ff. (dt. Übers. u.d. Titel: Die Philosophie im 13. Jh. [1977], hier S. 141 ff. u. S. 397 ff.). 126 Vgl. etwa Easton, S. 105 f., 110 ff. 127 Diese Überzeugung spielte Bacon mehrmals aus: Hier benutze ich vor allem den kürzesten der zahlreichen Anläufe, die Bacon nahm, um Clemens IV. das mitzuteilen, nämlich seinen Brief an Papst Clemens IV. (1265–1268, vgl. Anm. 28) ed. F. A. Gasquet, An unpublished fragment of Roger Bacon. In: EHR 12 (1897), S. 494–517; hier benutzt nach dem ebenfalls nicht immer befriedigenden Druck bei E. Bettoni (Hg.), Ruggero Bacone: Lettera a Clemente IV. = Presenza di S. Francesco 4 (1964), hier S. 62–198, mit seitengleicher italienischer Übersetzung, die auch nicht überall zufriedenstellen kann, und die insbesondere nicht berücksichtigt, daß Roger Bacon Teile des Textes fast identisch wiederholt in seinem „Opus tertium“, ed. J. S. Brewer, in: Fr. Rogeri Bacon Opera quaedam hactenus inedita. = RS 15 (1859), S. 7–17. 128 Ep. (S. 72 Bettoni) Vgl. auch caput mundi in „Opus tertium“, c. 9 (S. 30 Brewer) u.ö. 129 So Ep. (S. 140 Bettoni), vgl.: vicarius Jhesu Christi, bzw. dei vicarius ibid. (S. 82, 100/104, cf. S. 114 Bettoni). Wie selbstverständlich für den Papst auch anderwärts gebraucht, vgl. z.B. „Compendium studii“ c. 1, (S. 399 Brewer); Opus minus (S. 320 Brewer) u.ö. 130 Ep. (S. 74, 94, 138 Bettoni).
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zusammen mit anderen Gelehrten die große Universalenzyklopädie auszuarbeiten, für die alle seine bisherigen Schriften nur ein Vorentwurf gewesen waren, dann könnten alle sich nach dieser abschließenden Weisheit richten. Der Papst könnte die Welt regieren und die Wissenschaftler und Kenner, Benutzer und Mitarbeiter an dieser enzyklopädischen sapientia würden nicht nur sich selbst, sondern auch der Kirche Nutzen bringen, da sie zur Leitung der Kirche auf allen Stufen der Hierarchie herangezogen werden könnten: so würden sie die Fürsten in die richtige Richtung leiten können, das ganze Volk der Laien regieren, die Häretiker und die übrigen Ungläubigen bekehren und die Verstockten und die zur ewigen Verdammnis Bestimmten durch ihren Rat niederhalten131. Daß diese utopische Wunschrolle, die Bacon für die sapientes, die Gelehrten ausersehen hatte, nicht nur daran scheiterte, daß sein opus principale niemals geschrieben wurde, niemals geschrieben werden konnte, ist klar; daß hier ein Anspruch der Universitätsgelehrten in Welt und Kirche des 13. Jahrhunderts, freilich in letzter Überspitzung, formuliert wurde, wie er aus der tatsächlichen Entwicklung des Verhältnisses von Kirche und Universität im 13. Jahrhundert ableitbar war, das mag hier ebenso deutlich geworden sein.
131 Hier formuliert wiederum nach Ep. (S. 70 Bettoni), wo es allerdings in emphatischem Präsens heißt: . . . nihil est dignius studio sapientie, per quam omnis ignorantie caligo fugatur et mens humana illustratur, ut omnia bona eligat, mala singula detestetur. Ceterum studiosi non solum sibi prosunt, sed ecclesie in omni gradu regende preferuntur et principum rectores efficiuntur, totum vulgus dirigunt laicorum, hereticos et ceteros infideles convertunt, dantque consilia reprimendi obstinatos et ad mortem eternam prescitos. Ergo totius mundi utilitas a studio sapientie dependet et a sensu contrario eius dampno mundus confunditur universus. Fast wörtlich identisch in „Opus tertium“ c. 1 (S. 10 f. Brewer), vgl. dazu Ep. (S. 99, 104, 188/190 Bettoni), auch „Compendium studii“ c. 1 (S. 395 u. 402 Brewer) usw. Es kennzeichnet Bacons Weltsicht, daß er diesen seinen emphatischen Anspruch anderwärts (offenbar nach dem Tode Papst Clemens IV.) in einen apokalyptischen Zusammenhang rückt, besonders charakteristisch im „Compendium studii“ c. 1 (S. 403 f. Brewer), wo er nach einer düsteren Ausmalung der Zeitsituation resumiert: . . . nunc quia completa est malitia hominum, oportet (1) quod per optimum papam et per optimum principem, tamquam gladio materiali conjuncto gladio spirituali, purgetur ecclesia; (2) aut quod per antichristum; (3) vel per aliquam tribulationem ut per discordiam principum Christianorum seu per Tartaros et Saracenos et ceteros reges orientis . . . Non enim est dubitatio aliqua apud sapientes quin purganda sit cito ecclesia, sed an primo modo, an secundo, vel tertio opiniones variae sunt . . .
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KAPITEL 10
ZUR SOZIALEN SITUATION DER NATURPHILOSOPHIE IM SPÄTEREN MITTELALTER*
Es wäre in der Tat vermessen, wollte ich hier in wenigen Minuten einen inhaltlichen Überblick über die Leistungen und Grenzen der mittelalterlichen Naturphilosophie versuchen. Wer allein die voluminösen, textgesättigten und jeweils vielbändigen Darstellungen zum physikalischen Weltbild betrachtet, die von Pierre Duhem kurz nach der Jahrhundertwende1 und von Anneliese Maier in den 40er und 50er Jahren2 vorgelegt worden sind, wird mir eine solche Absicht nicht zuschreiben, und wenn dann auch noch die ganze Bibliothek von scharfsinnigen Untersuchungen und Darstellungen aus dem Menschenalter seither in den Blick genommen wird3, so wird deutlich, daß meine Absicht nicht enzyklopädisch sein kann. Zu einer solchen Aufgabe wäre ich auch fachlich gar nicht gerüstet. In Deutschland hat im Konzert der Geisteswissenschaften vor allem die Philosophie den Vorzug und die Last, die strenge Theoriegeschichte als fruchtbare Aufarbeitung der Tradition zu pflegen, und im angelsächsischen * Auch hier habe ich am Wortlaut des Vertrags vom 20. November 1986 kaum etwas geändert und die Annotationen auf exemplarische Nachweise beschränkt. Das Manuskript wurde im Sommer 1987 abgeschlossen. 1 P. Duhem: Etudes sur Léonardo da Vinci, ceux qu’il a lus, ceux qui l’ont lu, I–III, Paris 1906–1913; Le système du monde, histoire des doctrines cosmologiques de Platon à Copernic, I–X, Paris 1913–1959. Eine englische Teilübersetzung liegt jetzt vor in: Duhem: Medieval Cosmology, Theories of Infinity, Place, Time, Void, and the Plurality of Worlds, transl. R. Ariew, Chicago 1985. 2 A. Maier: Studien zur Naturphilosophie des 14. Jahrhunderts, I–V (Storia e letteratura, 22, 37, 41, 52, 69) Rom 1949–1958 [Bd. II nimmt Arbeiten von 1939 und 1940 auf, Bd. III erschien in 1. Aufl. bereits 1943]); auch A. Maier: Ausgehendes Mittelalter, Gesammelte Aufsätze zur Geistesgeschichte des 14. Jahrhunderts, I–III (Storia e letteratura, 97, 105, 138), Rom 1964–1977. Vgl. auch die Würdigung durch J. E. Murdoch u. D. E. Sylla: Anneliese Maier and the History of Medieval Science, in: Studi sul XIV secolo in memoria di A. Maier, edd. A. Maierù u. A. Paravicini Bagliani (Storia e letteratura, 151) Rom 1981, S. 7–13. 3 Aus der unübersehbaren Literatur sei hier nur verwiesen auf zwei ältere zusammenfassende Arbeiten, E. J. Dijksterhuis: Die Mechanisierung des Weltbildes, Göttingen 1956 (deutsche Übersetzung eines 1950 auf Niederländisch in Amsterdam publizierten Buches); M. Clagett: The Science of Mechanics in the Middle Ages, Madison, Wisconsin 1959 (21961 u.ö.).
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Kulturbereich hat die ,History of Science‘ sich in den letzten Jahrzehnten zu einem eigenen akademischen Fach entwickelt, das stetig in breiter Front an der Arbeit ist und sich dort gegenüber anderen 250 Sparten der Geschichtswissenschaft und der Philo | sophiegeschichte mehr und mehr in den Vordergrund des Interesses zu rücken verstanden hat. Auch in Deutschland hat die ‚Wissenschaftsgeschichte‘ in den letzten Jahren gesteigerte Aufmerksamkeit und einen höheren Grad der Institutionalisierung gefunden4. Jedoch dieser Zunft der Wissenschaftshistoriker gehöre ich als einfältiger Mediävist nicht an; auf fremden Feldern zu wildern, noch dazu in einem knappen Bericht, ist aber nicht meine Absicht. Ich habe bewußt eine sehr beschränkte Intention. Hier soll es um den sozialen und methodischen Rahmen der naturphilosophischen Arbeit der mittelalterlichen Gelehrten gehen; nicht um ihre theoretischen Leistungen und deren Grenzen. Wir fragen nach den äußeren Bedingungen der Möglichkeit ihrer Arbeit. Daß ich auch dabei scharf auswählen muß, daß auch bei dieser beschränkten Aufgabenstellung kein episches Totalgemälde erwartet werden darf, ergibt sich allein bereits aus der mir gesetzten Zeit, die es nur erlaubt, einige wichtige, oder vielmehr mir wichtig erscheinende Punkte zu markieren, Punkte, die ihre Bedeutsamkeit im Fortgang unserer Tagung noch zu erweisen haben werden. Dabei will ich so vorgehen, daß ich zuerst einen Blick auf den curricularen Ort der scholastischen Naturphilosophie, auf ihren institutionellen Rahmen an der spätmittelalterlichen Universität werfe, um dann auch zu ihrer Methode und zu ihren impliziten Grenzen einige Bemerkungen zu machen. Nach einem intensiv gefeierten Jubiläumsjahr, durch das die Universität Heidelberg ihr 600. Geburtstagsfest geziemend begangen hat, sei es mir erlaubt, mit einem Heidelberger Exempel den Anfang zu machen. Das lange Feiern des Jubiläums in Heidelberg hat seinen schlichten Grund in den quälend langwierigen Gründungsbemühungen am Ende des 14. Jahrhunderts5. Da war zuerst ein päpstliches Grün4 Die Disziplin hat eine eigene Vereinigung gebildet, die „Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte“ (seit 1964) und gibt eigene Zeitschriften heraus: „Mitteilungen der Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte“ (seit 1965), sowie „Berichte zur Wissenschaftsgeschichte“, hg. von F. Kraft in Verbindung mit A. Buck, K. Hübner, R. Schmitz, R. Toellner, (seit 1978). 5 Dazu nach G. Ritter: Die Heidelberger Universität, ein Stück deutscher Geschichte, Bd. I: Das Mittelalter, Heidelberg 1936 (ND 1986), S. 11–361 passim,
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dungsprivileg eingeholt worden: Papst Urban VI. signierte die Supplik in Genua am 23. Oktober 13856, in jenen Tagen, in denen er diejenigen seiner Kardinäle, die sich angeblich gegen ihn er | neut ver- 251 schworen hatten, foltern und hinrichten ließ7 – eine schauerliche Begleitmusik zu der Gründung der ersten Universität im Bereich der heutigen Bundesrepublik! Erst am 24. Juni 1386 gelangte dann auch die Ausfertigung der Bulle an den pfälzischen Hof, am 26. Juni, 3 Tage später, fiel dann im Großen Rat des Kurfürsten die Entscheidung, nun auch mit der Universitätsgründung wirklich ernst zu machen8: am 29. Juni wurde der frühere Pariser Artistenmagister Marsilius von Inghen für ein wahrhaft fürstliches Salär in die familia des Pfalzgrafen aufgenommen und zum Gründungsrektor bestimmt9. Aber noch war das Studium damit nicht begonnen: offenbar mußte man geradezu peinlich lange warten, bis man zumindest auf Seiten der Magistri komplett war. Der Gründungsrektor zählt in seinem Gründungsbericht ausdrücklich und unter Betonung der zeitlichen Reihenfolge die beiden nächsten Magister auf, die der Pfalzgraf für jetzt etwa Classen in: P. Classen u. E. Wolgast: Kleine Geschichte der Universität Heidelberg, Berlin-Heidelberg-New York 1983, S. 1–13; E. Wolgast, Die Universität Heidelberg 1386–1986, Berlin-Heidelberg-New York 1986, S. 1–16; J. Miethke: Universitätsgründung an der Wende zum 15. Jahrhundert, Heidelberg im Zeitalter des Schismas und des Konziliarismus, in: Die Geschichte der Universität Heidelberg (Studium generale, Vorträge im Wintersemester 1985/86), Heidelberg 1986, S. 9–33; G. Seebass: Heidelberg – Universitätsgründung im Spannungsfeld des Spätmittelalters, in: Ruperto Carola 74 (1986), S. 15–21. 6 Dem Kanzleibrauch gemäß ist das auch das Datum des (erhaltenen) päpstlichen Gründungsprivilegs, ed. E. Winkelmann, Urkundenbuch der Universität Heidelberg [künftig „Winkelmann“], I, nr. 1, S. 1 f. 7 Vgl. etwa den Bericht des Dietrich von Nieheim, „De schismate libri tres“, ed. G. Erler, Leipzig 1890, S. 79 ff., bes. S. 110; Gobelinus Person, „Cosmidromius“, ed. M. Jansen (Veröff. der Histor. Komm. für Westfalen), Münster i. W. 1900, S. 97 ff., bes. S. 121 f., sowie die „Vita prima“ Clemens’ VII., jetzt in S. Baluze – G. Mollat: Vitae paparum Avenionensium, Tom. I, Paris 1916, S. 494 (Auf diese Koinzidenz machte mich A. Esch aufmerksam). 8 Diese Daten nach dem Bericht des Gründungsrektors Marsilius von Inghen im Rektorbuch, Winkelmann I, nr. 1, S. 1–2, jetzt in: Acta universitatis Heidelbergensis, I 1/Die Rektorbücher der Universität Heidelberg I 1, hg. von J. Miethke, bearb. v. H. Lutzmann u. H. Weisert, Heidelberg 1986 „künftig ‚AUH I‘“, nr. 72, S. 146–148, hier Zl. 11–20 (Supplikensignatur), 21–24 (Überbringung), 25–28 (Gründungsbeschluß). Eine solche Zeitspanne zwischen Supplikensignatur und Aushändigung der Ausfertigung (die etwa vier Wochen vor dem genannten Termin der Überreichung angesetzt werden muß) ist keineswegs besonders auffallend, vgl. noch für das 15. Jhd. T. Frenz: Die Kanzlei der Päpste der Hochrenaissance (1471–1527), (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, 63) Tübingen 1986, S. 113 ff. 9 Gründungsbericht, AUH I, nr. 72, Zl. 28–32; vgl. auch den offiziellen Revers in Winkelmann I, nr. 3, S. 4 f. Literatur zu Marsilius unten Anm. 17.
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die Neugründung verpflichtete, den Prager Artisten Heilmann Wunnenberg aus Worms und den Pariser Zisterziensertheologen Reginald von Aulne10. Erst jetzt waren es drei Professoren, und tres faciunt collegium, wie es im Römischen Recht heißt11. Erst jetzt konnte man in Heidelberg zur endgültigen Verwirklichung des Planes schreiten. Auf den ersten Oktober sind die fünf großen Privilegien datiert, die der Pfalzgraf seiner Stiftung auf Drängen des Marsilius von Inghen 252 verlieh; am | Montag, dem 8. Oktober, eine Woche später, dürften sie an die Magister ausgehändigt worden sein12. Am 18. Oktober, einem Donnerstag, konnten schließlich die drei Magister zusammen mit den bisher eingetroffenen Studenten mit einer feierlichen Messe de spiritu sancto das neue Studium eröffnen13. Am Freitag, dem nächsten Tag, am 19. Oktober fingen dann auch die Vorlesungen an. ‚In aller Frühe‘ (summo mane) begann der designierte Gründungsrektor Marsilius von Inghen mit seiner Vorlesung zur Logik, ‚zur achten Stunde‘ (hora octava)14 fand das erste Kolleg des Theologen Reginald von Aulne zum Titus-Brief statt, und ‚in der ersten Stunde nach Mittag‘ (hora prima post meridiem) machte dann Magister Heilmann Wunnenberg aus Worms, pro eadem facultate artium lecturus librum physicorum, den Auftakt seiner Vorlesung über die „Physik“ des Aristoteles.
10 AUH I, nr. 72, S. 147, Zl. 32–35 u. 36–40. Zu Heilmann Wunnenberg aus Worms, der keinerlei scholastische schriftliche Hinterlassenschaft aufzuweisen hat (doch s. unten Anm. 18), vgl. – mit gewisser Überschätzung – F. Pelster: Der Heidelberger magister artium und baccalarius theologiae Heilmann Wunnenberg als Lehrer des Marsilius von Inghen und Erklärer der Sentenzen, in: Theologische Quartalschrift 125 (1941–1944) S. 83–86; S. Schumann: Die nationes an den Universitäten Prag, Leipzig und Wien. Ein Beitrag zur älteren Universitätsgeschichte, Phil. Diss. FU Berlin 1974, S. 129 Anm. 135. Zu Reginald von Aulne, der 1386 nach Köln an die neugegründete Universität überwechselte, vgl. etwa die Angaben bei H. Keussen (ed.): Matrikel der Universität Köln, Bd. I (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, 8) Bonn 21928, S. 8, nr. II 1. 11 Dig. 50, 16, 85, ed. Th. Mommsen in: Corpus Iuris Civilis, vol. I, Berlin 91902 [u.ö.], S. 360. 12 Winkelmann I, nr. 4–9, S. 5–13; die lateinischen Urkunden auch in AUH 1, nr. 5–9, S. 33–44, die deutsche Fassung des Generalprivilegs auch AUH I, nr. 58, S. 114–117. Zur Datierung und Aushändigung vgl. Winkelmann, Bd. I, Anmerkung zu nr. 1, S. 3. 13 Dies wieder und das folgende nach dem Bericht des Marsilius von Inghen, AUH I, nr. 72, Zl. 52–65. 14 hora octava ist hier wohl als Stunde der ‚Kleinen Uhr‘ und damit auf etwa 8 Uhr anzusetzen – vgl. G. Bilfinger: Die mittelalterlichen Horen und die modernen Stunden, Ein Beitrag zur Kulturgeschichte, Stuttgart 1892, S. 200–228, bes. 225 ff.
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Verlassen wir diesen nicht allzu bombastischen Auftakt einer langen und wechselvollen Geschichte noch nicht völlig. Daß die Universität des Mittelalters als studium generale auch dann gelten konnte, wenn nicht oder noch nicht alle Fakultäten vertreten waren, zeigt sich auch hier. Selbstverständlich sozusagen war jedoch, daß der Unterricht in den artes erfolgte. Daß die Theologie und noch nicht das Kirchenrecht das Lehrprogramm ergänzte, war wohl eher ein Zufall, da sich auch die Juristische Fakultät in Heidelberg offenbar noch im Gründungsjahr 1386 selbst konstituieren konnte15 (– der erste nachweisbare Mediziner findet sich dann 138816). Es kam wohl damals zunächst darauf an, wer gerade verfügbar war; und eine ‚höhere‘ Fakultät hatte es doch wohl beim Beginn sein sollen. Wie aber die Artistenfakultät ihren Anfang machte, das geht uns hier wohl an. Ihr Minimal- und Notprogramm beginnt mit einer Vorlesung über die aristotelische Logik. Damit wird zum Auftakt mit Aplomb ein Fach prä | sentiert, das seit dem 12. Jahrhundert als 253 Dialektik im Mittelpunkt artistischer Bemühungen gestanden hatte. Außerdem wird eine lectura über die aristotelische „Physik“ gehalten. Marsilius von Inghen, der damals bereits hochberühmte und gefeierte Magister der Pariser Universität, bei dessen Vorlesungen in Paris die größten Hörsäle nicht ausgereicht hatten, die Masse der Studenten zu fassen, Marsilius, den der Pfalzgraf Ruprecht I. als Gründungsrektor in Dienst genommen hatte, sah sich ohne jeden Zweifel in der Lage, selbst sein Sujet zu wählen. Er, dessen hinterlassene Schriften den gesamten Bereich des vollen artistischen Programms abdecken und dessen Lehrbücher zur aristotelischen „Physik“ bis ins 16. Jahrhundert hinein nicht nur im Druck präsent, sondern auch nachweislich zitiert 15 Für die Juristische Fakultät vgl. Ritter, Heidelberger Universität (wie Anm. 5), S. 242–245. Dagegen ist noch am 8. Februar 1388 die Medizinische Fakultät nicht gebildet, wie ausdrücklich AUH I, nr. 103, S. 172, Zl. 7–9, vermerkt wird. Noch am 15. November 1396 nach dem Tod des mag. Hermannus de Huxaria muß dann die Universitätsversammlung (anstelle der damit nicht mehr vorhandenen Medizinerfakultät) den Mediziner Nicolaus Borrel rezipieren, vgl. künftig AUH I 2, nr. 224 (im Rektorbuch fol. 62v), teilweise abgedruckt bei G. Toepke (ed.): Die Matrikel der Universität Heidelberg, Bd. I, Heidelberg 1884, S. 5, Anm. 3. 16 Vgl. die Liste der Dekane (die bis in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts hinein weitgehend auch die Liste der Mediziner überhaupt ist) bei H. Weisert: Die Rektoren und Dekane der Universität Heidelberg, jetzt in: Semper apertus, 600 Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, hg. v. K. Doerr, Berlin-HeidelbergNew York-Tokyo 1985, Bd. IV, S. 299 –417, hier S. 356. Allgemein zuletzt H. Schipperges: Ursprung und Schicksal der Medizinischen Fakultät, in: Semper apertus, IV. S. 49–91, bes. 50–52 (mit der dort zit. Lit).
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und genutzt worden sind, wählte, obwohl er durchaus eigenständig und erfolgreich sich in der naturphilosophischen Diskussion zu behaupten wußte, das alte Kernfach der Artistenfakultät, die Dialektik, um damit seine Lehrtätigkeit in Heidelberg zu beginnen17. Von Heilmann Wunnenberg, der damals die Physikvorlesung übernahm, besitzen wir außer den dürren Daten seiner Karriere keine Texte, die uns erlauben könnten, sein intellektuelles Profil zu zeichnen18. In Prag war er an der Juristenuniversität immatrikuliert, 1380 finden wir ihn in der Wiener Universitätsmatrikel, 1382 ist er dort Dekan, 1383 Rektor der Dreifakultätenuniversität in Prag. In Heidelberg wird er als magister artium und baccalarius der Theologie 1386 inskribiert und noch im Frühjahr 1387 zum zweiten Rektor der jungen Universität, und damit zum ersten Nachfolger des Marsilius von Inghen gewählt. Wenige Jahre nach diesem Anfang, 1391 oder spätestens 1393, wird er sich auf sein Dekanat im Cyriacus-Stift in Neuhausen bei Worms zurückziehen, wo er dann mehr als zehn Jahre später 1406 gestorben ist19. Warum habe ich das so ausführlich berichtet? Es kommt mir darauf an, ganz deutlich zu machen, was es heißt, daß die scholastische Naturphilosophie zunächst in den Rahmen des Universitätsunterrichts gehört, genauer gesagt, in das Lehrprogramm der Artistenfakuläten. 254 Seit im 13. Jahrhundert | das ‚Corpus aristotelicum‘ das früher maßgebende Programm der sieben ‚Artes liberales‘ als Richtschnur des Unterrichts in dieser Fakultät abgelöst hatte, wird für die Naturphilosophie vor anderen Schriften die „Physik“ des Aristoteles zum 17 Zu ihm grundlegend G. Ritter: Studien zur Spätscholastik I: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland (SB der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philos.-hist. Kl. 1921, 3) Heidelberg 1921; E. P. Bos: Marsilius of Inghen „Treatises on the Properties of Terms“, Dordrecht 1983; R. Berndt: Marsilius von Inghen als Erklärer des Matthäus-Evangeliums, in: Semper apertus (wie Anm. 15), Bd. I, S. 71–84; neuerlich R. Specht: Marsilius von Inghen, Über die Bedeutung des ersten Rektors der Universität Heidelberg, in: Ruperto Carola 75 (1986), S. 17–22; J. Miethke: Marsilius von Inghen als Rektor der Universität Heidelberg, in: Ruperto Carola 76 (1987), S. 110–120; W. J. Courtenay (wie unten Anm. 45). Die Akten eines internationalen Colloquiums über Marsilius (das im Dezember 1986 in Nijmegen stattgefunden hat, sollen in der Reihe „Artistarium, Supplementa“ erscheinen. 18 Immerhin existiert eine Rede von ihm vor dem päpstlichen Konsistorium (wahrscheinlich von 1390) in Ms. Wien, Österr. Nationalbibl., cvp 5090, fol. 247 (nach Ritter, Heidelberger Universität, wie Anm. 5, S. 242, Anm. 1). 19 Seinen Streit mit der Universität um seinen Gehorsamseid, der fast bis zum Ende seines Lebens andauerte, wird AUH I 2 dokumentieren; vgl. bereits Ritter, Heidelberger Universität, S. 241 f.
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Gegenstand der Auslegung20. Um bei dem Heidelberger Beispiel zu bleiben, bei der Graduierung zum baccalarius artium mußten die Kandidaten schwören quo ad physicam . . . se audivisse octo libros physicorum complete vel ad minus duos primos libros complete et quod sint in actu audiendo libros residuos . . . (usw.)21. Die aristotelische „Physik“ gehörte also zum Grundstudium und mußte demgemäß, ebenso wie die anderen Teile dieses Kanons, im Unterricht regelmäßig und beständig angeboten werden. Einen Großteil der soeben zitierten statutarischen Bestimmung in Heidelberg nimmt die Regelung der Frage ein, was geschehen solle, wenn die Bücher III bis VIII der „Physik“ gerade im laufenden Semester nicht gelesen würden. In Heidelberg waren die Vorlesungen in diesem Fach übrigens so lukrativ, daß kein Magister vor der Absolvierung seiner zwei Pflichtjahre als magister actu regens dieses Thema wählen durfte. Die „Physik“ gehörte also mit der „Nikomachischen Ethik“, der „Metaphysik“, der „Ars vetus“ und den „Summulae Logicales“ zu den geschützten Hauptvorlesungen der älteren Magister22. Jedenfalls ist der weitaus überwiegende Teil der zahlreichen Kommentare, Quaestionensammlungen und „Summulae“ zur „Physik“ auch an den anderen, den älteren wie den jüngeren Universitäten Europas im Rahmen des artistischen Grundstudiums und des in seinem Rahmen erteilten Unterrichts entstanden, ist Literatur aus dem Hörsaal für den Hörsaal und dient damit zunächst einmal dem didaktischen Zweck, Studienanfänger auf den Umgang mit Texten und Argumenten vorzubereiten und sie in die Welt der aristotelischen Naturphilosophie einzuführen. Die große Nähe zur letztlich doch übermächtigen Schulung in der Logik hat dabei in starkem Maße auf Problemstellung und Methode der Untersuchungen eingewirkt. Daß bei Kommentierung und Aneignung der „Physik“ des Aristoteles, der seinerseits auch schon von 20 Einen nützlichen Überblick über das (Normal-)Lehrprogramm der Artistenfakultäten besonders der deutschen Universitäten des Spätmittelalters gemäß den Statuten legte vor S. Lorenz: Libri ordinarie legendi, Eine Skizze zum Lehrplan der mitteleuropäischen Artistenfakultät um die Wende vom 14. und 15. Jahrhundert, in: Argumente und Zeugnisse, hg. von W. Hogrebe (Studia philosophica et historica, 5, 1985), S. 204–258; für die englischen Universitäten, vor allem Oxford, zuletzt weiterführend W. J. Courtenay: Schools and Scholars in Fourteenth Century England, Princeton, N. J. 1988, S. 30 ff. 21 Winkelmann I, nr. 23, S. 31–44, hier S. 34, 19–21. 22 Vgl. A. Thorbecke: Die älteste Zeit der Universität Heidelberg, 1386–1449, Heidelberg 1886, S. 86 mit S. 72*; Ritter, Heidelberger Universität, S. 171 ff., 508 f.
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der sprachlichen Erschließung der Naturphänomene ausgegangen war23, eine starke Akzentuierung der logisch-semantischen Analysen, die Bestimmung der Wertigkeit logischer Argumente und ihre Unter255 suchung auf Korrektheit und Tragfähigkeit | im Vordergrund stand, ist wohl leicht verständlich. Auch daß die jungen Magister und ihre Disputanten ihre Gewandheit in der eristischen Disputationsmethode der Scholastik auf jenen Feldern übten, die sie sich gleichzeitig mit der Dialektik erarbeiteten, kann nicht überraschen. Die drei Erkenntnisquellen, die die Scholastik insgesamt gelten ließ, ratio, auctoritas und experientia, galten auch auf dem Felde der Naturphilosophie. Nur dürfen wir nicht vergessen, daß zwischen experientia und experimentum, zwischen dem Erfahrungsargument und dem eigenen Experiment, eine hohe Schwelle liegt, die der scholastische Rationalismus im allgemeinen nicht überstiegen hat. Die außerordentliche methodische Bedeutung, die dem Gedankenexperiment schon bei Aristoteles und dann weiter in der Wissenschaft seiner Nachfolge zukam, hat diese Form des isolierenden Zugriffs auf die Phänomene auch für die scholastische Naturphilosophie verbindlich gemacht24. Den methodischen Schritt vom Gedankenexperiment zur tatsächlichen Erprobung hat man aber erst später getan. So ist in die artistische Naturphilosophie zwar immer wieder die Reflexion über eigene Erfahrungen eingegangen, eine scharfsinnige, selbst spekulative Analyse einzelner Beobachtungen – vom Regenbogen in der Optik über die Entstehung von Hagelschauern und Gewittern in der Meteorologie bis zum Gabelwurf von Heuballen in der Theorie der gewaltsamen Bewegung25 – eine experimentelle Haltung aber hat die Scholastik nicht eigentlich entwickelt26. 23 Vor allem W. Wieland: Die aristotelische Physik, Untersuchungen über die Grundlegung der Naturwissenschaften und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles, Göttingen 1962 (21970). 24 Zuletzt A. Funkenstein: Theology and the Scientific Imagination from the Middle Ages to the Seventeenth Century, Princeton, N. J. 1986, bes. S. 152–179. 25 (Allgemein und zum Regenbogen:) A. C. Crombie: Augustine to Galileo (1961), dt. u. d. T.: Von Augustinus zu Galilei, Die Emanzipation der Naturwissenschaft (dtv, wr 4285) München 1977, S. 98 ff., 244 ff., 254–256; (zu Hagelschauern und Gewittern:) E. Faral: Jean Buridan, maître ès arts de l’Université de Paris, in: Histoire littéraire de la France, t. XXXVIII, Paris 1949, S. 462–605, 664 f., hier S. 464 ff., 548 ff., auch W. Berges: Land und Unland in der mittelalterlichen Welt, in: Festschrift H. Heimpel zum 70. Geburtstag, Bd. III (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 50/III) Göttingen 1972, S. 399–439, hier S. 438, zuletzt B. Michael: Johannes Buridan (wie unten Anm. 32), S. 194 mit Anm. 386; (zum Wurf der Heuballen:) J. Sarnowsky: Die aristotelisch – scholastische Theorie der Bewegung,
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Der Artes-Unterricht, in dessen Rahmen der Student zuerst mit den Theoremen der aristotelischen „Physik“ vertraut gemacht wurde, wandte sich an blutige Anfänger, die bisweilen noch keinerlei eingehende Erfahrung mit theoretischem Unterricht überhaupt gehabt hatten. Ich brauche nicht daran zu erinnern, daß die Universitäten des Mittelalters ebenso, wie sie am Ende des Studiums kein berufsqualifizierendes Zertifikat anzubieten hatten, das für eine außeruniversitäre Karriere automatisch einen Zugang geöffnet hätte, auch keinerlei formalisierte Eingangsqualifikation voraussetzten. Die Studenten kamen jung, manchmal sehr jung an die Universität, wo sie ihre | Studien 256 mit ganz dürftigen, bisweilen gar keinen Vorkenntnissen begannen. Für den ersten akademischen Grad, den eines baccalarius artium, schrieben die schon genannten Heidelberger Artistenstatuten neben der aristotelischen „Physik“ und den beiden Gruppen des aristotelischen Organon, sowie den „Summulae“ des Petrus Hispanus bezeichnend genug als Pflichtveranstaltung auch das „Doctrinale“ des Alexander de Villa Dei und den „Grecismus“ des Eberhard von Béthune vor27, elementare Lateinbücher, die auch das Unterrichtsprogramm der spätmittelalterlichen Lateinschulen beherrschten28. Der Unterricht in Naturphilosophie ging also einher mit einem Lateinunterricht einfachsten Grades. Das ist nun keineswegs etwa eine späte Verfallserscheinung: schon seit dem ersten Auftauchen der lateinischen Übersetzung der „Physik“ des Aristoteles im 12. Jahrhundert ist das so gehandhabt worden – sofern wir die Generation der Entdecker und ersten Anfänger hier Studien zum Kommentar Alberts von Sachsen zur Physik des Aristoteles, ungedr. Phil. Diss. FU Berlin 1983 (erscheint demnächst in: Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, NF), hier Kap. 6.5, bei Anm. 56. Ich habe J. Sarnowsky für die freundliche Überlassung seines Manuskripts zu danken. 26 Ausnahmen bestätigen hier die Regel: Albertus Magnus, die Begeisterung seines Antipoden Roger Bacon für Petrus de Maniacoria, Robert Grosseteste und ihresgleichen schränken diese allgemeine Aussage charakteristisch ein. 27 Winkelmann I, nr. 23, hier S. 34, 10–12, 13 f. („Summulae“), 15 f. („Ars vetus“), 17 f. („Novum organon“). 28 Dazu vgl. etwa U. Schindel: Die auctores im Unterricht deutscher Stadtschulen im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Studien zum städtischen Bildungswesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, hgg. von B. Moeller, H. Patze, K. Stackmann (Abh. d. Akad. d. Wiss. zu Göttingen, Philol.-hist Kl., III 137) Göttingen 1983, S. 430–452, hier S. 437 f. (vgl. auch K. Grubmüller: Der Lehrgang des Triviums und die Rolle der Volkssprache im späten Mittelalter, ibid. S. 372 ff.), auch P. Kibre: Arts and Medecine in the Universities of the Later Middle Ages, in: The Universities in the Late Middle Ages, edd. J. Ijsewijn u. J. Paquet (Mediaevalia Lovaniensia, I 6) Leuven 1978, S. 211–227, hier S. 219.
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einmal ausnehmen. Jedenfalls entsprach dies dem festen Kanon des Artes-Studium seit der Mitte des 13. Jahrhunderts. Diese Schulung am aristotelischen Organon und in aristotelischer Physik erhielten wirklich alle Studenten, zumindest alle jene, die eine Hochschule ‚Pariser Typs‘ durchliefen, wie ich sie einmal nennen will. Selbst die Bettelorden nämlich, die ihren Studenten aus religiösen Gründen schon sehr bald eine formelle Graduierung zum magister artium untersagt hatten, ließen den jungen zum Studium abgeordneten Bettelmönchen nicht etwa weniger, sondern eher mehr Unterricht in den artes zukommen, als ihn ihre nichtmendikantischen Kommilitonen erhielten29. Zudem mußten etwa in Oxford, ähnlich wie in 257 Paris, Mendikanten bei ihrer Zulassung zum theologischen Bak- | kalariat anstelle der ihnen verbotenen Promotion zum magister artium ein Artes-Studium von mindestens einem vollen Jahr längerer Dauer nachweisen als ihre nichtmendikantischen Kommilitonen, acht statt sieben Jahren30, in Heidelberg war ein Studium der Textbücher der eigenen Fakultät sogar von zwei Jahren längerer Dauer gefordert: sieben statt fünf Jahren31. Eine ganze Reihe von wichtigen Kommentaren zur aristotelischen „Physik“ und von Quaestionensammlungen, Summen und dergleichen, insbesondere aus der Zeit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, der Blütezeit der mendikantischen Scholastik, entstammt dem Unterricht in den Häusern der Bettelorden. Ja, diese Untergruppe in der Literaturgeschichte
29 Zum vielbehandelten Problem der Bettelordensstudien vgl. bes. H. Felder: Geschichte der wissenschaftlichen Studien im Franziskanerorden bis um die Mitte des 13. Jahrhunderts, Freiburg i.B. 1904; D. Berg: Armut und Wissenschaft, Beiträge zur Geschichte des Studienwesens der Bettelorden im 13. Jahrhundert (Geschichte und Gesellschaft, 15) Düsseldorf 1977; Berg: Das Studienproblem im Spiegel der franziskanischen Historiographie des 13. und beginnenden 14. Jahrhunderts, in: Wissenschaft und Weisheit 42 (1979), S. 11–33, u. 106–156; Berg: Bettelorden und Bildungswesen im kommunalen Raum, Ein Paradigma des Bildungstransfers im 13. Jahrhundert, in: Zusammenhänge, Einflüsse, Wirkungen, Kongreßakten zum ersten Symposion des Mediävistenverbandes in Tübingen 1984, hgg. von J. O. Fichte, K. H. Goeller, B. Schimmelpfennig, Berlin 1986, S. 414–425; sowie: Le scuole degli Ordini mendicanti (secoli XIII–XIV), (Convegni del Centro di Studi sulla Spiritualità Medievale, 17) Todi 1978. Courtenay: Schools (wie Anm. 20), bes. S. 56–77. Für das späte Mittelalter vgl. I. W. Frank: Hausstudium und Universitätsstudium der Wiener Dominikaner bis 1500 (Archiv für Österreichische Geschichte, 127) Wien 1968. 30 S. Gibson Statuta antiqua universitatis Oxoniensis, Oxford 1932 (ND 1979), S. 49, Zl. 5–14, vgl. auch S. 34, Zl. 20–27. 31 Winkelmann I, nr. 20, S. 20–23, hier S. 20, Zl. 4–9.
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unserer Texte ist wirkungsgeschichtlich wegen der hohen Bedeutung ihrer Verfasser besonders einflußreich in ganz Europa gewesen, wie die Arbeiten von Albertus Magnus und Thomas von Aquin, von Petrus Johannis Olivi, Petrus Aureoli oder Wilhelm von Ockham, auch von Aegidius Romanus belegen können. Freilich nimmt mit der allgemeinen Bedeutung der Ordensscholastik auch ihre Vorherrschaft auf diesem Felde seit dem zweiten Drittel des 14. Jahrhunderts rapide und stetig ab und macht in Paris wie in Oxford anderen Gruppen Platz, etwa den Schulen von Pariser Artisten wie Johannes Buridan, oder Oxforder Weltklerikern, wie den sogenannten ‚Mertonians‘, bzw. den ‚Calculatores‘32. Allein die eben genannten Namen aber zeigen, daß die Orientierung auf den artistischen Elementarunterricht keineswegs verhindert hat, daß hochwichtige und auch theoretisch bedeutsame Texte in diesem Rahmen entstanden sind. Die komplexen Theorien der eben erwähnten ‚Mertonians‘ oder ‚Oxford Calculators‘ aus dem zweiten Drittel des 14. Jahrhunderts, d.h. von Autoren wie etwa Thomas Bradwardine, William Heytesbury, Richard Swineshead, Walter Burley, Richard Billingham oder John Dumbleton lassen sich, worauf Frau Sylla erst vor wenigen Jahren aufmerksam gemacht hat33, am besten aus der 32
Zum ‚Buridanismus‘ in Europa zuletzt eingehend und zusammenfassend B. Michael: Johannes Buridan, Studien zu seinem Leben, seinen Werken und zur Rezeption seiner Theorien im Europa des späteren Mittelalters, Bd. I–II (Phil. Diss. FU Berlin 1978) Berlin 1985, S. 305–389. Vgl. zu Buridan auch J. M. M. H. Thijssen: Johannes Buridanus over het oneidige, een onderzoek naar zijn theorie over het oneidige in het kader van zijn wetenschapsen natuurfilosofie, phil. Diss. Katholieke Universiteit te Nijmegen, Nijmegen 1988). Zu den Mertonians zusammenfassend J. A. Weisheipl: Ockham and the Mertonians, in: The Early Oxford Schools, ed. J. I. Catto (The History of the University of Oxford, ed. T. H. Aston, Bd. I) Oxford 1984, S. 607–658. Einen knappen vergleichenden Überblick über die Traditionen in Oxford und Paris versuchte J. Sarnowsky: Natural Philosophy at Oxford and Paris in the Mid-Fourteenth Century, in: From Ockham to Wyclif, edd. A. Hudson, M. Wilks (Studies in Church History, Subsidia 5) Oxford 1987, S. 125–134. Jetzt auch Courtenay, Schools (wie Anm. 20) S. 219–249. 33 E. D. Sylla: The Oxford Calculators, in: The Cambridge History of Late Medieval Philosophy, edd. N. Kretzmann, A. Kenny, J. Pinborg, E. Stump, LondonNew York (usw.) 1982, S. 540–563, bes. S. 542–546. Allgemein auch Sylla: Medieval concepts of the latitude of forms: The Oxford calculators, in: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du moyen âge 40 (1973) 223–283. Zum parvisus in Oxford vgl. auch J. A. Weisheipl: Curriculum of the Faculty of Arts at Oxford in the early fourteenth century, in: Medieval Studies 26 (1964), S. 143–185, bes. S. 154; sowie bes. J. M. Fletcher: The teaching of arts at Oxford, 1400–1520, in: Paedagogica historica 7 (1967) S. 417–454, hier S. 431 ff. (nicht zugänglich war mir Fletschers ungedr. PhD-Thesis Oxford 1961: The Teaching and Study of Arts at Oxford, c. 1400–c. 1500). Allgemein zu inhaltlichen Fragen der „Sophismata“ – Literatur
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258 Situation der Oxforder Disputationsübungen für | ‚Undergraduates‘ in parviso verstehen, für die die Magister sozusagen die Spielregeln zusammenstellten. Verstärkt wurde diese Richtung auf eine Ausarbeitung der Naturphilosophie als eines eigenständigen Problemfeldes, wie ich unterstreichen möchte, noch durch eine Entwicklung, die die europäischen Universitäten seit dem späten 13. Jahrhundert in ihrer inneren Struktur immer stärker umformte. Im ursprünglichen ‚Pariser Modell‘ – und das war und blieb für den Artes-Unterricht in ganz Europa das gesamte Mittelalter hindurch maßgebend, so maßgebend, daß es sich sogar in Abschwächung seit dem späteren 14. Jahrhundert auch an den norditalienischen Rechtsuniversitäten durchzusetzen vermochte34 – im ursprünglichen ‚Pariser Modell‘ war die Artisten-Fakultät einem Studium an den höheren Fakultäten generell vorgeschaltet. Man konnte nur Theologie oder Medizin oder auch das Kirchenrecht studieren, wenn man sein Artes-Studium durch die Promotion zum magister artium abgeschlossen hatte. Nach einer solchen Graduierung war man verpflichtet, mindestens zwei Jahre lang an der Universität als magister actu regens Unterricht zu erteilen, konnte während dieser Zeit aber auch bereits das Studium in den höheren Fakultäten aufnehmen. Dieses System, das nicht zuletzt zur Finanzierung der Studenten und ihrer Studien an den höheren Fakultäten erheblich beitrug35, wandelte sich seit dem Ende des 13. Jahrhunderts, und zwar sowohl in Paris, als auch etwa in Oxford, allmählich im Zuge einer stärke-
etwa J. E. Murdoch: Mathematics and sophisms in the late medieval natural philosophy and science, in: Les genres littéraires dans les sources théologiques et philosophiques médiévales, Définition, critique et exploitation (Université Catholique de Louvain, Publications de l’Institut d’Etudes Médiévales, II 6) Louvain-la-Neuve 1982, S. 85–100. 34 F. Ehrle: I più antiche statuti della facoltà teologica dell’ Università di Bologna, Contributo alla storia della scolastica medievale (Universitatis Bononiensis monumenta, 1) Bologna 1932; vgl. etwa S. 17,5 sqq. 35 Das unterstrich energisch etwa A. Seifert: Studium als soziales System, in: Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters, hg. v. J. Fried (Vorträge und Forschungen, 30) Sigmaringen 1986, S. 527–564, hier besonders S. 541 ff. In Heidelberg war nur für einen Teil der Artistenmagister (nämlich für insgesamt sechs) Platz im Collegium artistarum, die anderen mußten und konnten offenbar ihr Leben aus Gebühren bestreiten. In Köln wird vom Rat noch im 16. Jahrhundert unterstrichen, daß die Artisten vom pastus (d.h. den Hörergeldern) bezahlt würden, vgl. H. Keussen: Die alte Universität, S. 103 f., vgl. auch R. C. Schwinges: Sozialgeschichtliche Aspekte spätmittelalterlicher Studentenbursen in Deutschland, in: Schulen und Studium, S. 527–564, passim, sowie Schwinges: Deutsche Universitätsbesucher im 14. und 15. Jahrhundert, Studien zur Sozialgeschichte des
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ren Spezialisierung, ja Professiona | lisierung der Artisten-Magister. 259 Hier brauche ich nicht zu untersuchen, wie weit eine andere Art der Finanzierung des Studiums an den höheren Fakultäten, die mehr und mehr auch durch Pfründen erfolgte, zu dieser Änderung beigetragen hat. Jedenfalls treffen wir hinfort stärker als zuvor unter den Artistenmagistern auf Männer, die ihr Leben lang nichts anderes als Artistenmagister waren und – innerhalb der Universität – auch nichts anderes zu sein anstrebten. Siger von Brabant oder Boethius von Dacien sind im 13. Jahrhundert frühe Beispiele für dieses Verhalten36, aber vielleicht hängt es in ihrem Falle auch mit den erbitterten Debatten um den integralen Aristotelismus in der Universität zusammen, daß sie auf ein weiteres Studium verzichtet haben. Noch bekannter ist der Fall des berühmten Artistenmagisters Johannes Buridan, der sein Leben lang als Magister der Artistenfakultät lehrte und schließlich, knapp sechzigjährig, um 1360, in Paris als magister artium gestorben ist, nicht ohne sich dieses lange Verharren durch entsprechende Dauereinkünfte aus Pfründen zu ermöglichen oder doch zu erleichtern. Buridan hat, wie manch anderer nach ihm, in seinem Leben ausschließlich Vorlesungen und Quaestionen zu Lehrbereichen der Artistenfakultät geschrieben und hinterlassen. Er hat mit diesen Texten eine ungemein weite geographische Breitenwirkung und ein intensives zeitliches Nachleben erreicht, das gerade für den Unterricht der mitteleuropäischen Universitäten im 14. und 15. Jahrhundert wichtig, ja prägend geworden ist. Ich will auf all dies nicht näher eingehen, zumal eine Berliner Dissertation von Bernd Michael das in aller wünschenswerten Klarheit ausgearbeitet hat37. Ich möchte nur darauf hinweisen, daß in den nordalpinen mitteleuropäischen Universitätsgründungen des 14. und 15. Jahrhunderts dieser, wie ich meine, damals neuartige Sozialtypus des Artistenmagisters vorherrschend wird. Fast jede Universität faßt nun auf die Dauer ihre finanziellen Ressourcen in einem Stift zusammen, an dem in aller Regel auch die Artistenmagister partizipieren
Alten Reiches (Veröff. des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, 123: Abt. Universalgeschichte, = Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches, 6) Stuttgart 1986 (mit reichen Daten und Nachweisen). 36 Darauf machte J. Le Goff besonders nachdrücklich aufmerksam, Quelle conscience l’Université médiévale a-t-elle eue d’elle-même? (11964), jetzt in: Le Goff, Pour un autre moyen âge, Paris 1978, S. 181–197. 37 B. Michael, Johannes Buridan (wie Anm. 32), hier S. 79–238 (zur Vita), S. 235–238 u. 399–402 (zur Datierung des Todes) S. 206–234 (zu den Pfründen).
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können38. Zumindest aber wird ein ‚Collegium artistarum‘ als eigene ‚Firma‘ für die Artisten errichtet. Das gilt für das Prager ‚Collegium Carolinum‘ ebenso39, wie für das ‚Collegium ducale‘ der zweiten Wiener Gründung40 oder für das Heidelberger Heiliggeiststift, das 260 1413, | neunundzwanzig Jahre nach der Universitätsgründung schließlich rechtlich abgeschlossen werden konnte41. Das ‚Große‘ und das ‚Kleine Fürstenkolleg‘ in Leipzig schließt sich dem schon 1409 mit der Gründung dieser Universität an42. Die anderen Universitäten folgten diesen Beispielen. Die Kollegienhäuser, in Mitteleuropa sind deshalb, anders als in England, Kollegien für Universitätslehrer, nicht so sehr für Studenten gewesen. Durch sie ist der ‚Lehrstuhl‘ der Neuzeit schon im Spätmittelalter vorbereitet worden43. Wer freilich die Chance einer Aufnahme in solch ein Kolleg nicht erhielt, der konnte sich an großen Universitäten wie Leipzig oder Köln durch den Betrieb einer ‚Burse‘ für Studenten ein
38 P. Moraw: Zur Typologie, Chronologie und Geographie der Stiftskirche im deutschen Mittelalter, in: Untersuchungen zu Kloster und Stift (Veröff. des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 68) Göttingen 1980, S. 9–37, S. 29 f. Vgl. A. Seifert, Universitätskollegien (wie unten, Anm. 43) und Schwinges, Studentenbursen (wie Anm. 35). 39 Zum Prager ‚Collegium Carolinum‘ zuletzt P. Moraw: Die Universität Prag im Mittelalter, Grundzüge ihrer Geschichte im europäischen Zusammenhang, in: Die Universität Prag (Schriften der Sudetendeutschen Akademie der Wissenschaften und Künste, 7) München 1986, S. 9–134, hier S. 31 u. 59. 40 K. Schrauf: Die Universität, in: Geschichte der Stadt Wien, Bd. II, 2, Wien 1905, S. 961–1017, bes. S. 983 ff. 41 Im einzelnen H. Weisert: Universität und Heiliggeiststift, Die Anfänge des Heiliggeiststifts zu Heidelberg, in: Ruperto Carola 64 (1980) S. 55–77 u. 65/66 (1981) S. 72–87; zur Baugeschichte der Kirche E. Zahn: Die Heiliggeistkirche in Heidelberg, Geschichte und Gestalt (Veröff. des Vereins für Kirchengeschichte in der evang. Landeskirche Badens, 19) Karlsruhe 1960. Zuletzt M. Weis, Die Heiliggeistkirche in Heidelberg und die Bibliotheca Palatina, in: Mitt. des hist. Vereins der Pfalz 84 (1986), S. 191–203, hier S. 192–195. 42 E. Schubert: Motive und Probleme deutscher Universitätsgründungen des 15. Jahrhunderts, in: Beiträge zu Problemen deutscher Universitätsgründungen der frühen Neuzeit, hgg. P. Baumgart und N. Hammerstein (Wolfenbütteler Forschungen, 4) Nedeln 1978, S. 13–74, bes. S. 40–43. Eine eigene neuere Untersuchung zu Leipzig fehlt, vgl. aber H. Helbig: Universität Leipzig (Mitteldeutsche Hochschulen, 2) Frankfurt/Main 1961, S. 12 f. (sowie die S. 121 f. verzeichnete ältere Literatur); zuletzt S. Hoyer: Die scholastische Universität bis 1480, in: Alma mater Lipsiensis, Geschichte der Karl-Marx-Universität Leipzig, hg. L. Rathmann, Leipzig 1984, S. 9–32, hier S. 15 f. 43 A. Seifert: Die Universitätskollegien, Eine historisch-typologische Übersicht, in: Stiftungen aus Vergangenheit und Gegenwart, hgg. v. F. Rüth, R. Hauer, W. Frhr. v. Pölnitz-Egloffstein (Lebensbilder deutscher Stiftungen, 3) Tübingen 1974, S. 355– 372.
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Einkommen verschaffen44, das etwas stetiger war als die fluktuierenden Summen, die man aus Hörgeldern und Prüfungsgebühren gewinnen mochte, und das jedenfalls auch jenseits der korporationsrechtlichen Pflicht, als magister actu regens zu lesen, eine Fortsetzung der Karriere als Artistenmagister nahelegte, bis sich vielleicht eine andere Chance außerhalb der Universität bot. Dieser Punkt soll hier nicht überanstrengt werden. Der Typus des ‚professionellen‘ Artistenmagisters ist zweifellos auch im 15. Jahrhundert noch ein Idealtypus; in der Wirklichkeit mischen sich die Phänomene nach individueller Neigung und wechselnder sich bietender Chance verschieden. Marsilius von Inghen studierte am Ende seines Lebens noch in Heidelberg Theologie und wird auch, als erster theologischer Promovent in Heidelberg überhaupt, dort kurz vor seinem Tode noch zum Doktor der Theologie graduiert45. Das hätte nun freilich innerhalb des eben skizzierten idealtypischen Rahmens gewiß wenig Sinn, denn Marsilius war nicht zuletzt als Familiar des Kurfürsten und durch seine Pfründen gut versorgt. Es beweist vielmehr | erneut 261 die bekannte Attraktion traditioneller Karrieremuster auch in diesem Fall. Für unseren Zusammenhang ist aber festzuhalten, daß mit der skizzierten Spezialisierung und Professionalisierung auch eine Intensivierung des Nachdenkens über Gegenstände des Lehrprogramms der Artistenfakultät einhergeht. Johannes Buridan hat in seinem langen Gelehrtenleben mindestens viermal eine volle eigene Vorlesung über die Physik des Aristoteles ausgearbeitet, und zwei Redaktionen seiner Bemühungen sind uns zusammen mit den Resten der dritten erhalten geblieben46. Ähnlich hat natürlich auch Albert von Sachsen mehrfach im Laufe seiner akademischen Karriere einzelne aristotelische Bücher behandelt47. Auch wenn nicht die neue Vorlesung ab ovo neu erarbeitet wurde, so ist doch eine Vertiefung, sind doch neue Ansätze und Entwicklungen jetzt öfter zu beobachten.
Dazu R. C. Schwinges, Studentenbursen (wie Anm. 35), S. 541 ff. G. Toepke, Matrikel Heidelberg (wie Anm. 15) Bd. I, S. 3 Anm. 6, S. 6 Anm. 3, vgl. S. 636 u. 678. Vgl. bereits G. Ritter, Marsilius (wie Anm. 17), S. 39 f. Zum allgemeinen Hintergrund zuletzt methodisch anregend W. J. Courtenay: Marsilius von Inghen als Heidelberger Theologe, in: Heidelberger Jahrbücher 32 (1988). 46 Michael, Johannes Buridan (wie Anm. 32), S. 560–616, bes. S. 594–606. 47 Zuletzt Sarnowsky, Die aristotelisch-scholastische Theorie (wie Anm. 25), Kap. 2.2 (S. 25–39). 44 45
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Die Problemgeschichte der Gegenstände des Artesunterrichts allgemein, aber damit auch jener Teile des „Corpus Aristotelicum“, die die Naturphilosophie betreffen, reichert sich somit weiter an, wie die umfänglicher werdende Literaturgeschichte immer wieder präzisiert. Gleichwohl wäre es ein Irrtum, wollte man glauben, der ArtesUnterricht der Artistenfakultät wäre für die Theoriegeschichte der Naturphilosophie der einzige oder auch nur stets der wichtigste Antrieb gewesen. Das ursprüngliche Modell des Universitätsunterrichts, das den Artes eine dienende Funktion im Bereich der höheren Fakultäten zuwies, hatte hier noch eine für uns bedeutsame Folge vor allem im Bereich der Theologischen und der Medizinischen Fakultät. Im Rahmen dieser Fakultäten, und insbesondere im Rahmen der Theologischen Fakultät, sind nämlich die nichtkommentierenden und also in größerer Selbständigkeit gegenüber den Textbüchern aus der Antike oder der arabischen Philosophie sich bewegenden Beiträge mittelalterlicher Scholastiker zur Naturphilosophie entstanden. James Weisheipl schreibt in einem neueren Handbuch über die Zeit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts48: „However, the most notable assimilation and syntheses of the new learning, both in philosophy and in theology, were accomplished by theologians who had already passed through the university system and embarked on their own re-thinking of Christian truth ‚new and old‘. This was particularly true of such leading scholars as Robert Grosseteste, Albert the Great, Thomas Aquinas, Roger Bacon and later Thomas Bradwardine. In most cases their writings (philosophical and theological) are extracurricular in the sense that they were not delivered in the lecture halls or intended for the classrooms“. Darüber hinaus können wir aber feststellen, daß auch in die theologische Literatur für die Hörsäle 262 im Laufe | der Zeit mehr und mehr eigenständige naturphilosophische Reflexion Eingang fand, in die zahlreichen Bibelkommentare, Sentenzenkommentare, Quodlibets und Quaestionensammlungen, die von dem Universitätsunterricht der Spätscholastik heute noch zeugen. Die kompliziertesten Probleme der aristotelischen Physik wurden so z.B. vor allem in den sogenannten Sentenzenkommentaren des 14. Jahrhunderts behandelt, die bekanntlich weniger und weniger ‚Kommentare‘ i.e. S. zu jener Kompilation des Petrus Lombardus aus 48 J. A. Weisheipl: The Interpretation of Aristotle’s „Physics“ and the Science Philosophy, in: The Cambridge History of Later Medieval Philosophy (wie Anm. 33), S. 521–536, Zitat S. 521 f.
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dem 12. Jahrhundert waren, vielmehr im Laufe der Jahrzehnte zunehmend eine Reihe von Quaestionen darstellten, die in der Reihenfolge ihrer Untersuchungsgegenstände sich lose an den thematischen Gang der Systematik des Lombarden anschlossen, oft ohne auf die dort aufgelisteten Argumente und Texte noch eigens einzugehen. So hat Franz von Marchia seine neuen Ansätze bei der Entwicklung der Impetus-Theorie vor allem anläßlich seiner Erörterung der Eucharistie entwickelt49, wie überhaupt die Transsubtantiationsdoktrin beliebte Aufgaben stellte, die in der Art von Denksportproblemen durchgespielt worden sind in den Sentenzenkommentaren oder auch in eigenen Traktaten, Schriften oder Quaestionen. Auch die Probleme von Unendlichkeit, Kontinuum und Teilbarkeit wurden nicht nur in Spezialabhandlungen erörtert, sondern fanden Eingang in die Sentenzenvorlesungen, vor allem aber natürlich auch in die theologischen Quodlibets, die ihrem Genus nach Ausflügen in die verschiedensten Richtungen offenstanden50. Ockham hat (in seinem Quodlibet I.8) etwa die Frage erörtert, ob sich ein Engel durch ein Vakuum bewegen könne51. Ich erspare mir ein Eingehen auf diese Problemstellung und auf Ockhams scharfsinnige Lösung dieses Problems. Es ist aber deutlich, daß solche Fragen 49
Maier: Zwei Grundprobleme (Studien, wie Anm. 2, II) S. 161–200; M. Wolff: Geschichte der Impetustheorie, Untersuchungen zum Ursprung der klassischen Mechanik, Frankfurt/Main 1978, S. 191 ff. 50 Nach der klassischen Untersuchung von P. Glorieux: La littérature quodlibétique, Bd. I–II, (Bibliothèque thomiste, 5 u. 21) Le Saulchoir, Kain 1924 u. Paris 1931, und P. Glorieux: L’Enseignement au moyen âge, Techniques et méthodes en usage à la Faculté de Théologie de Paris au XIIIe siècle, in: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du moyen âge, a. 43 (1969), S. 65–185, hier S. 123–134, vgl. jetzt den kompendiösen Überblick von B. Bazan, J. F. Wippel, G. Fransen, D. Jacquart: Les questions disputées et les questions quodlibétiques dans les Facultés de Théologie, de Droit et de Medecine (Typologie des Sources du moyen âge occidental, 44–45) Turnhout 1985, bes. hier J. F. Wippel, Quodlibetal Questions, Chiefly in Theology Faculties (S. 152–222), und P. Bazan: Les questions disputées, principalement dans les Facultés de Théologie (S. 15–141). Für die Medizin auch B. Lawn: The Salernitan Questions, An Introduction to the History of Medieval and Renaissance Problem Littérature, Oxford 1963. 51 Quodlibet I 8: Utrum angelus possit moveri per vacuum? Ed. J. C. Wey, C. S. B., in: Guillelmi de Ockham Opera philosophica et theologica, edita cura Instituti Franciscani Universitatis S. Bonaventurae, Opera theologica IX, St. Bonaventure, N.Y. 1980, S. 45–50. Dazu etwa A. Goddu: The Physics of William of Ockham (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters, 16) Leiden und Köln 1984, S. 132 f. Vgl. auch Ockhams Sentenzenkommentar, etwa in der Reportation zu II Sent. q. 18, edd. G. Gál, R. Wood: in: Opera theologica V (1981), S. 395–409: Utrum in caelo sit materia eiusdem rationis cum materia istorum inferiorum? Natürlich ließen sich die Beispiele auch aus anderen Autoren beliebig vermehren.
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263 nicht beantwortet, ja nicht | einmal formuliert werden konnten ohne genaueste Kenntnis der intrikatesten theoretischen Implikationen von Raumbegriff, Bewegungsauffassung und physikalischer Theorien der Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Vakuums. Der uns unter dem Titel „De sacramento altaris“ bekannte scholastische Traktat Ockhams trägt in zeitgenössischen Handschriften denn auch die korrektere Überschrift „De quantitate“52. Physik und Theologie gingen im 14. Jahrhundert ineinander über. Die Tatsache, daß in den Sentenzenkommentaren und Quodlibets die Theologen des 14. Jahrhunderts sehr häufig dabei spekulative Fragen zu lösen versuchten, hat im übrigen dazu geführt, daß heute diese Texte eine höhere Attraktion auf Philosophen und Wissenschaftshistoriker auszuüben vermögen als auf Theologen und Dogmengeschichtler. Daß auch die anderen höheren Fakultäten sich an solcher Nutzung artistischer Interessen beteiligten, kann nicht verwundern. Die Nähe der Medizin, auch der mittelalterlichen Medizin zu Botanik und Zoologie, und überhaupt zur Biologie ist auch damals bewußt gewesen und praktisch geworden zumindest insofern, als gerade die Mediziner, wie wir wissen, einen großen Anteil an der Aristotelesrezeption des Mittelalters hatten53. Zudem verband sich die Medizin durchaus sehr leicht mit astrologischen Interessen und Praktiken54. Gleichwohl darf uns eine solche Beobachtung auch nicht anachronistisch in die Irre führen. Zweifellos war die Medizin damals noch keine natur52 Vgl. bereits Ph. Boehner: Der Stand der Ockhamforschung (11952), jetzt in: Boehner, Collected Artikels on Ockham, ed. E. M. Buytaert (Franciscan Institute Publications, Philosophy Series, 12) St. Bonaventure, N.Y. 1958, S. 10 (nr. 8 f.). Zur Entstehungszeit, etc. vgl. etwa auch J. Miethke: Ockhams Weg zur Sozialphilosophie, Berlin 1969, S. 43 f., vgl. jetzt die Edition durch C. A. Grassi, in: Opera theologica (wie Anm. 51) X (1986), hier auch S. 23*–28* zur Datierung, S. 5* ff. zur Überlieferung. 53 Vgl. bereits A. Birkenmajer: Le rôle joué par les médicins et les naturalistes dans la réception d’Aristote au XIIe et XIIIe siècles, in: La Pologne au VIe Congrès International des Sciences Historiques (Oslo 1928), Warschau 1930, S. 1–15, jetzt in Birkenmajer: Etudes d’histoire des sciences et de la philosophie du moyen âge (Studia Copernicana, 1) Wroc∑aw-Warszawa-Kraków 1970, S. 73–87. Einen weitgespannten Forschungsüberblick über die Texte, die in der mittelalterlichen Medizin eine Rolle spielten, gaben die Herausgeber des Bandes: Medizin im mittelalterlichen Abendland, hg. von G. Baader, G. Keil (Wege der Forschung, 363) Darmstadt 1982, S. 1–44. Neuerdings auch C. B. Schmitt: Aristoteles bei den Ärzten, in: Der Humanismus und die Oberen Fakultäten, hgg. G. Keil, B. Moeller, W. Trusen (DFG, Mitteilung XIV der Kommission für Humanismusforschung) Weinheim 1987, S. 239–266 (hier bes. S. 244 mit Anm. 16). 54 Knappe Hinweise bei L. Garcia Ballester: Astrologische Medizin, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. I (1980), Sp. 1145.
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wissenschaftliche Wissenschaft. Sie war, wie ihre scholastischen Schwestern, eine Buchwissenschaft, die von ihren autoritativen Texten ausging, und die ihre Texte mit derselben Sorgfalt und demselben dialektischen Scharfsinn behandelte, wie die Autoren, die sich mit den artistischen Lehrbüchern auseinandersetzten55. | 264 Naturbeobachtung, Naturphilosophie, Sternbeobachtung, Astrologie und Physik konnten aber auch Juristen betreiben; um hier nur den berühmtesten Fall zu nennen: Nicolaus Copernicus56 wurde 1491, achtzehnjährig, an der Artistenfakultät der Universität Krakau immatrikuliert und studierte seit 1496/97 in Bologna Kanonisches Recht (was ihm durch sein Frauenburger Kanonikat ermöglicht worden ist, das er wiederum als Verwandter des Ermländer Bischofs erhalten hatte). Schließlich erreichte Nikolaus, nach weiteren Studien auch in Padua, 1503 seine Graduierung zum Doktor des Kirchenrechts in Ferrara, hatte freilich die gesamte Zeit seiner Studien allein und mit Freunden, Verwandten und Gleichgesinnten seine astronomischen Beobachtungen gemacht und diese auch schriftlich festgehalten. Er hat seine Artesstudien vielleicht mit einer Magisterpromotion in Krakau abgeschlossen (doch ist das nicht ganz sicher), jedenfalls hat er sein Studium des Sternenhimmels auch an der höheren Fakultät fortgesetzt. Damit wollte ich nur andeuten, daß das Studium artistischer Fächer und damit auch der Naturphilosophie im Mittelalter zunächst nicht unbedingt allein zu einer ausreichenden Karriere führte. Die Stellen an der Universität waren so ungemein attraktiv in aller Regel nicht, und in Kirche und staatlicher Verwaltung war mit Kenntnissen in Jurisprudenz oder Medizin, selbst mit einem theologischen Grad weit 55 Darum konnten Mediziner durchaus auch zwischen der Artistenfakultät und der Medizin noch im 15. Jahrhundert abwechseln, wie z.B. in Heidelberg Erhard Knab, vgl. C. Jeudy und L. Schuba: Erhard Knab und die Heidelberger Universität im Spiegel von Handschriften und Akteneinträgen, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 61 (1981), S. 60–108. Andererseits siehe auch etwa die Darstellung von Karriere und Tätigkeiten des Heinrich Krauel „Münsinger“ in Heidelberg durch H. Heimpel: Die Vener von Gmünd und Straßburg (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 52/I–III) Göttingen 1982, hier S. 612–614. Für ähnliche Verhältnisse im Italien der Hoch- und Spätrenaissance C. B. Schmitt: Aristoteles bei den Ärzten (wie Anm. 53), S. 244 ff. 56 Die biographischen Daten jetzt am leichtesten zugänglich bei M. Biskup: Regesta Copernicana, Calendar of Copernicus’ Papers (Studia Copernicana, 8) Wroc∑aw (usw.) 1973, hier vgl. bes. nr. 21 S. 36: Immatrikulation in Krakau 1494; nr. 27 f. S. 38 f.: Immatrikulation in Bologna 1496/97; nr. 44 S. 45: Promotion in Ferrara 1503.
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mehr zu erreichen als mit dem simplen Titel eines magister artium, der doch schon so unübersehbar den Stolz seiner Träger erregen konnte. Immerhin sollten wir uns in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß auch Nikolaus von Kues57, ein dreiviertel Jahrhundert vor Copernicus, 1415 vierzehneinhalbjährig sich in Heidelberg immatrikulierte, das er dann jedoch bald, vielleicht mit dem Grad eines baccalarius der Artes geschmückt, verließ, um in Padua im Frühsommer 1423 schließlich sich zum doctor decretorum promovieren zu lassen. Auch der Cusanus hat einen anderen akademischen Grad niemals erhalten oder erstrebt; mehrmals hat er das Angebot der Stadt Löwen ausgeschlagen, an der dortigen 1425 neu begründeten Universität 265 iura canonica zu lesen58. | Ich kann mich hier nicht einem Versuch unterziehen, das sich in diesen beiden Karrieren andeutende Problem näher zu prüfen, und bleibe aphoristisch, indem ich ein zeitlich viel früheres Exempel bemühe: Robert Grosseteste erhielt nach Studien, denen er wohl an englischen Schulen in den artes nachgegangen war, wahrscheinlich im Jahre 1195 ein Empfehlungsschreiben an den Bischof von Hereford, in dessen Haushaltung er soeben eingetreten war. Geschrieben hat für ihn diesen Brief der weitgereiste Giraldus Cambrensis, Girald von Wales (1146–1222/23), der wohl wußte, womit man einem englischen Bischof einen hoffnungsvollen jungen Kleriker schmackhaft machen konnte59. Girald formuliert: ,Ich weiß, daß er Euch eine große Hilfe sein kann, sowohl bei den täglichen Geschäften und gerichtlichen Entscheidungen, als auch bei der Sorge um die Erhaltung oder Wiedergewinnung Eurer Gesundheit, denn in diesen beiden Wissenszweigen, die Euch doppelt, ja mehrfach nötig sind, hat er eine besondere Fähigkeit, zumal er neben diesen Kenntnissen, welche man heutzutage auf Erden besonders gut zu belohnen pflegt, über eine solide Grundlage in den artes liberales und reiche Belesenheit 57 Acta Cusana, Quellen zur Lebensgeschichte des Nikolaus von Kues, Bd. I, Lieferung 1: 1401–1437 Mai 17, hg. im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften von E. Meuthen, Hamburg 1976, nr. 11 S. 3 f.: Immatrikulation in Heidelberg 1414/15; nrr. 15 ff. S. 5 f.: Studium in Padua; nr. 18 S. 6: Promotion in Padua 1423; nrr. 25 ff. S. 9 f.: Immatrikulation in Köln 1425. 58 Zuerst 1428, dann zweimal im Jahre 1435, vgl. Acta Cusana (wie Anm. 57), nrr. 64, 232, 235, S. 23 und 161 (Zitat nr. 232: dat hi woude verhuiren to comen lesen in d’universiteit van louen jura canonica). 59 Zu Girald etwa M. Richter: Giraldus Cambrensis, The Growth of the Welsh Nation, in: The National Library of Wales Journal 16 (1970) S. 193–252. 293–318, 17 (1971) S. 1–50 (zuerst als Phil. Diss. FU Berlin 1968).
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verfügt und noch dazu das alles durch höchst angenehme Manieren anreichert. . .‘60. Durch die Topoi dieses Empfehlungsschreibens schimmert hindurch, was auch schon an den genannten Karrieren von Gelehrten im 15. Jahrhundert sichtbar wurde. Man braucht durchaus kein platter Materialist zu sein, um zu betonen, daß die Beschäftigung mit Naturphilosophie nur in jenen Fällen auf die Dauer ihren Mann ernähren konnte, wo er darauf nicht unmittelbar angewiesen war, und d.h. eigentlich konnte man von den artes allein zunächst auf die Dauer nicht leben, oder jedenfalls nicht gut leben. Man konnte, ja man mußte sich mit Grundzügen dieser Disziplin im elementaren Basisunterricht des Artesstudiums beschäftigen, wenn man ein Studium in Angriff nahm. Später konnte dann auf das Thema zurückkommen oder bei ihm bleiben, wer durch sein Familieneinkommen, oder (eine) Pfründe(n), oder durch sonstige Einkünfte ein Auskommen hatte. Eine unmittelbare re | gelmäßige praktische Anwendung der 266 Naturbetrachtung hat es im Mittelalter nur in Ansätzen gegeben. Das freilich bedeutet nicht, daß es uns gestattet wäre, über die Leistungen der mittelalterlichen Naturwissenschaften prinzipiell gering zu denken. Auf ihren Schultern steht die frühmoderne klassische Physik, die aus Elementen der mittelalterlichen Methode mit neuem Anlauf sich einen neuen Zugang zu den Phänomenen bahnte.
60 Giraldus Cambrensis, Brief an den Bischof von Hereford, in Opera I, ed. J. Brewer: Rerum Britannicarum Scriptores 21, Oxford 1861, S. 249: . . . Scio quippe quod eius opera tam in negotiis vestris variis et causarum decisionibus, quam in corporis vestri conferendae sanitatis et conservandae curis, cum in horum peritia fideliter praestet, vobis dupliciter fiet, immo multipliciter pernecessaria. Praecipue quidem cum facultates illas, quae his nostris diebus fructuosae prae ceteris in temporalibus esse solent, super liberalium artium et litteraturae copiosae fundamenta stabiliter erectas, egregii mores adjuncti laudabiliter illuminet et exornent . . . Dazu R. W. Southern: Robert Grosseteste, The Growth of an English Mind in Medieval Europe, Oxford 1986, S. 65. Noch Nicolaus Copernicus hielt es übrigens 1501 für angeraten, anläßlich eines Gesuchs um weiteren Studienurlaub seinem Domkapitel ein Studium der Medizin in Aussicht zu stellen, was dann auch den gewünschten Erfolg hatte: das Kapitel gewährte den Urlaub, weil er dann künftig als ärztlicher Berater dem Bischof und den Kanonikern dienen könne, vgl. Biskup, Regesta Copernicana (wie Anm. 56) nr. 38, S. 43 – am Ende steht dann aber für Nikolaus doch „nur“ die Promotion zum doctor decretorum!
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KAPITEL 11
THEOLOGENPROZESSE IN DER ERSTEN PHASE IHRER INSTITUTIONELLEN AUSBILDUNG: DIE VERFAHREN GEGEN PETER ABAELARD UND GILBERT VON POITIERS*
Im 12. Jahrhundert tritt mit der entstehenden abendländischen Universität ein neues Phänomen auf, das positiv wie negativ für die Lehrentwicklung in der Kirche und nicht minder – durch die wissenschaftliche Bearbeitung des Rechts an den Hohen Schulen – auch für ihre innere Ordnung und ihren weltlichen Einfluß neue Möglichkeiten eröffnet, neue Aufgaben stellt und damit neue Lösungen provoziert. Länger als zweihundert Jahre wird es dauern, bis das Papsttum, auf dem Höhepunkt seines Universalanspruches angelangt, am Anfang des 14. Jahrhunderts die Formen ausgebildet hat, die den Prozessen gegen Universitätslehrer wie Meister Eckhart, Nikolaus von Autrecourt, Johannes von Mirecourt oder Johannes Wicliff zu Grunde liegen, und die auch noch im 16. Jahrhundert für das Verfahren maßgeblich sind, das an der römischen Kurie gegen die neuen Lehren Martin Luthers in Gang gesetzt wurde. Die Herausbildung und Entwicklung der Prozedur solcher Theologenprozesse im Ganzen ist ein noch wenig bearbeitetes Problem1. Zwar liegen jeweils zahlreiche Spezialstudien zu den einzelnen Verfahren vor, die sich aber ihrer Natur nach eher auf die singulären Konflikte und Aktionen der jeweils Beteiligten konzentrieren, wäh* Der Artikel geht auf einen öffentlichen Habilitationsvortrag zurück, der vor der Philosophischen Fakultät der Freien Universität Berlin gehalten wurde. Das Ms. wurde Ende 1972 abgeschlossen. Nachträge wurden nur noch ausnahmsweise aufgenommen. 1 Vgl. insbes. die Arbeiten von J. Koch zu den Verfahren des 14. Jhs., jetzt in J. Koch, Kleine Schriften (Roma 1973) I, 309–346, u. II, 1–450; vor allem vgl. seine zusammenfassende Studie „Philosophische und theologische Irrtumslisten 1270–1329, ein Beitrag zur Entwicklung der theologischen Zensuren“ (erstveröff. 1930), ibid. II, 423–450. Zum Verfahren gegen Wilhelm von Ockham (1324/28) vgl. z.B. J. Miethke, Ockhams Weg zur Sozialphilosophie (Berlin 1969) 58–74. Zu den Verfahren des 13. Jhs. in Paris vgl. die Zusammenfassung bei J. Miethke, „Papst, Ortsbischof und Universität in den Pariser Theologenprozessen des 13. Jhs.“, Miscellanea Mediaevalia 10 (1975) /im Druck/.
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rend sie den Zusammenhang der verschiedenen Verfahren weitgehend im Dunkeln lassen. Natürlich kann dieser Zusammenhang nicht in den jeweils zur Debatte stehenden theologischen oder philosophischen Streitfragen aufgesucht werden; er wird sich allein in der 88 Genese und Wandlung des prozessualen Vorgehens finden | lassen. Dabei verspricht eine institutionengeschichtliche Analyse der Theologenprozesse Einblicke in die Verfassungsgeschichte der Universitäten ebenso wie in die Entwicklung der christlichen Kirche des Mittelalters. Hier soll nun nicht ein Uberblick über die gesamte Problematik gegeben werden2, das Vorhaben ist weit bescheidener und dient nur einer Vorverständigung über die Prozeduren in der ersten Phase der Herausbildung solcher Theologenprozesse. Es soll um einige rechtsförmige Verfahren in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts gehen, die gegen theologische „magistri“ wegen des Verdachts der Irrlehre angestrengt wurden. Aus der Betrachtung scheiden also die allgemeinen Verfahren gegen Häretiker ebenso aus wie rein disziplinäre Prozesse gegen Kleriker. Daß gerade das 12. Jahrhundert zum Ausgangspunkt der Untersuchung genommen wird, hat seinen Grund auch darin, daß erst zu dieser Zeit die Verfahren sich häufen. Mit der neuen Theologie, wie sie an den Kathedralschulen Nordfrankreichs entsteht, wird auch das Bedürfnis stärker, die Lehrentwicklung der Schulen mit der kirchlichen Tradition in Ubereinstimmung zu bringen oder zu halten. Schon im 18. Jahrhundert hat Charles Duplessis d’Argentré seine „Collectio iudiciorum de novis erroribus3“ mit dem 12. Jahrhundert beginnen lassen4. Ein kurzer Blick auf die „cause célèbre“ des 11. Jahrhunderts, auf den Streit um die Abendmahlslehren Berengars von Tours5, kann 2 Es soll einer eigenen Monographie über die Theologenprozesse des 11. bis 14. Jhs. vorbehalten bleiben, diesen weiter gespannten Fragen nachzugehen. 3 Bd. 1–3 (Paris 1728–1736, ND Bruxelles 1963). 4 Auch H. Grundmann, Ketzergeschichte des Mittelalters (Göttingen 1963) 20–22, hat erst den Theologenprozessen des 12. Jhs. einen eigenen Paragraphen gewidmet, während er den Berengar-Streit noch mit anderen Ketzerprozessen zusammen behandelt (12 f.). 5 Vgl. dazu insbes. G. B. Ladner, Theologie und Politik vor dem Investiturstreit; Abendmahlsstreit, Kirchenreform, Cluni und Heinrich III. (ed. 1, 1936, ND Darmstadt 1968); R. W. Southern, „Lanfranc of Bec and Berengar of Tours,“ Studies in Medieval History presented to F. M. Powicke (Oxford 1948, ND 1969) 27–48; O. Capitani, Studi su Berengario di Tours (Lecce 1966); M. Gibson, „The Case of Berengar of Tours,“ Councils and Assemblies, ed. G. J. Cuming and D. Baker, Studies in Church History 7 (Cambridge 1971) 61–68. Eine kritische Edition bisher nur unzulänglich gedruck-
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zeigen, daß das dort angewandte Verfahren sich noch im Rahmen des überkommenen synodalen Häresieprozesses bewegt. Zwar ist es kein Zufall, daß im Zeitalter des Reformpapsttums – anders als in dem praedestinatianischen Streit um Gottschalk den Sachsen im 9. Jahrhundert6 – die Päpste Leo IX., Nikolaus II. und Gregor VII. eine wichtige Rolle spielen7. Doch | selbst diese päpstlichen Eingriffe, 89 insbesondere auch der noch immer nicht abschließend geklärte Einfluß, den Hildebrand, bzw. Gregor VII., auf das Verfahren hatte, haben für die Prozedur selbst keine substantielle Bedeutung. Die Entscheidungen fallen auf Synoden, und zwar zuerst auf Synoden durchaus lokalen Charakters (Rom und Vercelli 1050, Paris 1050, Tours 1054)8, auf denen die „Irrlehren“ Berengars mit dem Anathem belegt werden. Auch als sich 1059 Berengar in Rom vor der Fastensynode des Papstes Nikolaus II. zu verantworten hatte, und als er schließlich gezwungen wurde, eine von seinem Gegner, dem Kardinal Humbert von Moyenmoutiers, aufgesetzte Glaubensformel9 zu beschwören, zu
ter Texte legte vor R. B. C. Huygens, „Bérenger de Tours, Lanfranc et Bernold de Constance,“ Sacris Erudiri 16 (1965) 355–403. Zuletzt sei auf eine monumentale Darstellung verwiesen: J. de Montclos, Lanfranc et Bérenger, La controverse eucharistique du XI e siècle, Spicilegium sacrum Lovaniense 37 (Leuven 1971). Reich an exakten Detailhinweisen ist das Buch sichtlich um eine gerechte Wertung bemüht. Die Abweichung in der Bewertung der Prozeduren von der hier vorgetragenen Auffassung erklärt sich vor allem daraus, daß M. dem römischen Stuhl eine m.E. anachronistische Bedeutung zuschreibt. 6 Dazu vgl. vor allem M. Cappuyns, Jean Scot Erigène (ed. 1, 1933, ND Bruxelles 1969) 81–127, bes. 102 ff.; K. Vielhaber, Gottschalk der Sachse (Bonn 1956) bes. 22–28. Die Arbeit von S. Epperlein, Herrschaft und Volk im karolingischen Imperium (Berlin 1969) 175–246, bringt in unserem Zusammenhang keine neuen Aufschlüsse. 7 Dies betont etwas zu stark Gibson (wie A. 5). 8 Den Verlauf der römischen Fastensynode von 1050 in diesem Punkt und den der gleichfalls unter Vorsitz Leos IX. stattfindenden Synode von Vercelli (September 1050), die beide in Abwesenheit Berengars abgehalten wurden, schildert Lanfranc in De corpore et sanguine domini [ca. 1059/62 ?] PL 150.407–442; teilw. ed. Huygens, Bérenger (wie A. 5) 370–377; vgl. hier c. 4 (PL 150.413A–C; 375 f. Huygens). Vgl. auch Bernold von St. Blasien, De veritate corporis et sanguinis domini [1063/69] (PL 148.1453 B; 378 f. Huygens). Zu Paris vgl. PL 149.1422 C-1424 B. Zum Verlauf der Synode von Tours unter dem Vorsitz des päpstlichen Legaten Hildebrand vgl. auch die Darstellung von Th. Schieffer, Die päpstlichen Legaten in Frankreich vom Vertrage von Meersen (870) bis zum Schisma von 1130 (Berlin 1935, ND Vaduz 1965) 50–53. Vgl. auch J. de Montclos (wie A. 5) 53 ff. (zur Synode von Rom), 64 ff. (Vercelli), 103 ff. (Tours 1052/3), 149 ff. (Tours 1054). 9 Am leichtesten zugänglich bei H. Denzinger, Enchiridion symbolorum, definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, Editio XXXIIa, ed. A. Schönmetzer (BarcelonaFreiburg i.B.-New York 1963) [künftig „Denz.-Sch.“], nr. 690. Nach Lanfranc und Bernold bei Huygens [wie A. 5] 372 f. u. 380 f. Der Text ist über die Kirchenrechtssammlungen des 11. Jhs. in Gratians Dekret übernommen worden (De cons.
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unterschreiben, dazu seine Schrift vor der Synode eigenhändig zu verbrennen und seinem Irrtum abzusagen10, da vermerkt ein Berichterstatter, man habe sich an die Vorschriften gehalten, die das Konzil von Ephesus für die Häresieabsage gegeben hatte11. Zwanzig Jahre später, 1079, endet die erneute Verhandlung einer römischen Synode unter päpstlicher Leitung wiederum damit, daß Berengar eine neue „confessio fidei12“ beschwören muß und mit der Verpflichtung entlassen wird, hinfort keine andere Lehre mehr zu vertreten. Das umständliche und langwierige Verfahren, das hier nicht im 90 einzelnen verfolgt | werden kann, vermag doch zumindest deutlich zu machen, wie schwer es der kirchlichen Hierarchie damals fiel, die in den dogmatischen Auseinandersetzungen der Alten Kirche entwickelten Formen des synodalen Anathems auf die komplizierte Materie der in den Kathedralschulen neu sich entfaltenden theologischen Spekulation sinnvoll zu übertragen. Die Einschaltung des Reformpapsttums mochte von Hildebrand-Gregor VII. selbst als willkommene Gelegenheit angesehen worden sein, die Kompetenz des apostolischen Stuhls in den „causae maiores13“ zu unterstreichen. Die Entscheidung fällte auch 1079 der Papst nicht selbständig, sondern – vielleicht nicht unbedingt in seinem Sinne14 – die Synode, die sich D. 2 c. 42; ed. E. Friedberg, Corpus iuris canonici 1 [Leipzig 1879] 1328 f.). Zur theologischen Nachwirkung und Bedeutung der Formel vgl. vor allem L. Hödl, „Die ‚confessio Berengarii‘ von 1059, Eine Arbeit zum frühscholastischen Eucharistietraktat,“ Scholastik 37 (1962) 370–394. Zu den späteren Kontroversen vgl. auch H. Jorissen, Die Entfaltung der Transsubstantiationslehre bis zum Beginn der Hochscholastik (Münster 1965) oder den weitgespannten Uberblick bei J. F. McCue, “The Doctrine of Transsubstantiation from Berengar through Trent: The Point at Issue,” Harvard Theological Review 61 (1968) 385–430. 10 Vgl. Bernold von St. Blaisen, De veritate (S. 380, 49–51 Huygens). 11 Ibid. S. 381, 77 ff. u. die dort angegebenen Parallelen aus anderen Schriften Bernolds (MGH Scriptores 5.427; MGH Libelli de Lite [„LdL“] 2.121). 12 Denz.-Sch. (wie A.9) nr. 700; überliefert in einem Synodalprotokoll im Register Gregors VII., vgl. E. Caspar, ed., Das Register Gregors VII. MGH Epistolae selectae 2 (Berlin 1920–1923) 425–429 nr. VI. 17a; eine gesonderte Uberlieferung der confessio allein ibid. 281 nr. III. 17a. In Berengars eigenem Bericht Iuramentum Berengarii, ed. Huygens (wie A. 5), 393 f., 78–87. Die Vorgeschichte dieser Synodalentscheidung erhellte durch die Publikation einer „confessio“ Berengars auf einer vorausgehenden Synode in Poitiers (1075) R. Somerville, “The Case against Berengar of Tours – A New Text,” Studi Gregoriani 9 (1972) 53–72. 13 Vgl. dazu etwa den Dictatus papae, § 21 (201–208, nr. II. 55a Caspar [wie A. 12], hier 206). 14 Das dornige Problem des Verhältnisses Gregors VII. zu Berengar kann ohne eine detaillierte Analyse der Zeugnisse, insbesondere der Briefe, nicht geklärt werden. Vgl. vor allem Ladner (wie A. 5) 36–39 mit 120–123, dessen These einer auch theologischen Affinität beider energisch bestritten wurde durch C. Erdmann, „Gregor
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der Bedeutung ihres Vorgehens wohl bewußt gewesen zu sein scheint. Wahrscheinlich auf Aufforderung Gregors VII. selbst hin hatten sich zwei Kardinäle und ein Archipresbyter durch Gebet und Fasten auf ein göttliches „signum“ vorbereitet, das der Synode ihren Beschluß hätte abnehmen können15, und Berengar selbst berichtet von dem (nicht verwirklichten) Plan, durch ein Gottesurteil mit glühendem Eisen den wahren Sachverhalt ans Licht zu bringen16. Das Protokoll der Fastensynode kann sich zwar auf solch äußerliche Mirakel nicht stützen, beansprucht aber ganz im Sinne der überkommenen Vorstellungen, daß der Heilige Geist selbst den Verlauf der Verhandlungen bestimmt habe17. Dabei wird die Debatte, die Berengar auf der Synode (vor allem mit Alberich von Montecassino18 geführt hat, nicht völlig unterschlagen, aber auch nicht betont herausgestellt. Am Ende schreibt der Papst Berengar nach dem gleichen Bericht „kraft der Autorität des Allmächtigen und der heiligen Apostel Petrus und Paulus“ vor, daß er über die Fragen der Eucharistie niemals mehr mit jemandem disputieren solle oder sie zum Gegenstand theologischen Unterrichts machen dürfe, außer wenn er durch seine eigene Lehre Irregeleitete zu der Wahrheit, wie sie im geleisteten Glaubens91 bekenntnis niedergelegt war, zurückführen wolle19. | Der frühscholastische Abendmahlstraktat sorgte dafür, daß dieser Streit des 11. Jahrhunderts um Berengars Abendmahlslehre auch im 12. und 13. Jahrhundert nicht unbekannt blieb20. Wieweit das hier
VII. und Berengar von Tours,“ Quellen und Forschungen aus ital. Archiven u. Bibliotheken 28 (1937/38) 48–74. Eine vermittelnde Position nimmt ein Capitani (wie A. 5) 143–191; vgl. auch Gibson (wie A. 5) 67 f., die sehr stark die politische Situation herausstellt. Vgl. auch die abgewogene Stellungnahme von J. de Montclos, 19–21, 213 ff., 229 f., 239 f. 15 So der Bericht der Gesta Romanae ecclesiae contra Hildebrandum I.4 des Kardinals Beno, ed. K. Franke in MGH LdL 2 (Hannover 1892) 366–422, hier 370 f.; zu dieser Quelle allgemein vgl. W. Holtzmann in: W. Wattenbach, R. Holtzmann, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter, Die Zeit der Sachsen und Salier, 3. Teil, hg. von F. J. Schmale (Darmstadt 1971) 887 f. Zur Interpretation dieses Zeugnisses Ladner (wie A. 5) 121 f.; Capitani 175 f. J. de Montclos 227 f. Auch Berengar beansprucht, sich durch Fasten und Gebet für den Ausgang „gewappnet“ zu haben, vgl. seine Apologie Iuramentum, (S. 400 Huygens [wie A. 5]). 16 Vgl. Berengar, Iuramentum (S. 400, Z. 257–265 Huygens). 17 Register Gregors VII., VI. 17a (S. 426, 8–10 Caspar [wie A. 12]). 18 Vgl. zuletzt insbes. P. Meyvaert, „Bérenger de Tours contre Albéric du MontCassin,“ Revue Bénédictine 75 (1960) 324–332, bes. 326 f., und J. de Montclos 224, 229 f., 233, 240 f. 19 Reg. Gregors VII., VI. 17a (S. 427, 10–15 Caspar). 20 Vgl. dazu die Lit. bei Hödl (wie A. 9) 382 ff.
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beobachtete Verfahren, eine synodale Untersuchung, die mit einem von der Synode und von dem Angeschuldigten gebilligten Credo abschließt, auch noch im 12. Jahrhundert bestimmend war, wird nun zu prüfen sein. Es ist nicht zuletzt die Unzulänglichkeit unserer trümmerhaften Überlieferung, die die Forschung bisher daran gehindert hat, sich auch nur auf die scheinbar so primitiven Grundfragen der Chronologie und der Datierung zu einigen. Gerade weil hier der Verlauf der Verfahren so entscheidend ist, müssen einige Prozesse rekonstruiert werden, bevor die Frage nach der institutionellen Entwicklung und nach der historischen Bedeutung gestellt werden kann. Schon bei dem ersten Vorgang, der hier betrachtet werden soll, sind wir nicht allzu gut unterrichtet. Über die Synode von Soissons, auf der im März 1121 unter dem Vorsitz des päpstlichen Kardinallegaten Kuno von Preneste Peter Abaelards erste „Theologia“ verurteilt wurde, besitzen wir zwar eine ausführliche, farbenreiche Schilderung eines „Augenzeugen,“ aber es ist Abaelard selbst, der etwa zehn Jahre nach den Ereignissen in seiner Autobiographie eine vorzüglich komponierte Darstellung gegeben hat21. Eine Kontrolle dieses Berichtes an anderen Zeugnissen aber ist uns leider nicht möglich, da sich weder die canones der Synode, noch gar Synodalakten erhalten haben, und auch die zeitgenössischen Chroniken schweigen. Gerade die strenge Stilisierung von Abaelards Bericht aber macht uns eine kritische Benutzung zur Pflicht22. Abaelard konzentriert seine Erzählung ganz auf das schließliche Ergebnis der Synode in seiner eigenen Sache. Nur indiredkt gibt er zu verstehen, daß in Soissons auf den mehrtägigen Verhandlungen auch andere Geschäfte erledigt wurden, die sich, wie bei manch anderer Synode dieser Jahre unter Kunos Vorsitz23 wohl auf die Regelung kirchlicher Besitzstreitigkeiten zwischen Bischöfen und 21 Petrus Abaelardus, Historia Calamitatum, ed. J. Monfrin (Paris, ed. 3 1967) 82–89, Linien 663–909. Hier gehe ich weiterhin von der Authentizität dieser Schrift aus. 22 Zu Soissons vgl. K.-J. Hefele, H. Leclercq, Histoire des conciles, 5.1 (Paris 1912) 593–602; Schieffer (wie A. 8) 210 f.; Ch. Dereine in Dictionnaire d’histoire et de géographie ecclésiastiques (DHGE) 13 (1956) 467; J. Hofmeier, Die Trinitätslehre des Hugo von St. Viktor, dargestellt im Zusammenhang mit den trinitarischen Strömungen seiner Zeit (München 1963) 31–35. 23 Vgl. Schieffer (wie A. 8) 198–212; Ch. Dereine, „Conon de Preneste,“ DHGE 13 (1956) 461–471; zu seiner Rolle für die Frühgeschichte der Regulierten Chorherren in Arrouaise vgl. zuletzt L. Milis, L’Ordre des chanoines réguliers d’Arrouaise, (Brügge 1969) insbes. 1.97–110.
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Klöstern24 und auf Fragen der kirchlichen Disziplin der Kleriker bezogen. Für Abaelards Bericht ist das literarische Leitmotiv seiner Autobiographie, das | Schema von „fama“ und „invidia25,“ auch an dieser 92 Stelle die treibende Kraft hinter den Ereignissen. Auch nach seiner Flucht ins Kloster nach der Katastrophe von 1118, als Heloisas Onkel ihn hatte entmannen lassen, hat sein Ruhm als Lehrer ihm Scholaren in großer Zahl zugeführt, der Neid seiner Konkurrenten gewinnt aber durch diesen Schritt neue Ansatzpunkte. Den Unterricht in der Dialektik, der seinen Ruf begründet hatte, versuchen sie ihm nun mit dem Hinweis zu verlegen, seinem Mönchsgelübde widerspreche die Beschäftigung mit weltlicher Wissenschaft26, die Beschäftigung mit der „divina lectio,“ dem also, was heute Theologie heißt, versuchen sie ihm durch den Hinweis auf seine mangelnde Qualifikation für dieses Fach unmöglich zu machen: er maße sich hier sine magistro ein magisterium an27. In den Zusammenhang mit ihren Versuchen, bei Bischof, Erzbischof und dem Abt von Saint Denis die kirchliche Jurisdiktion gegen ihn zu mobilisieren, stellt Abaelard nun auch die Verhandlungen der Synode von Soissons. Mit der Veröffentlichung eines Buches über die Heilige Dreieinigkeit (De unitate et trinitate divina), das er, damit einer ganzen Disziplin den Namen gebend, „Theologia“ genannt hatte28, hatte er für seine Scholaren versucht, „mit menschlichen und philosophischen Beweisgründen“ eher zu untersuchen, „was sich begreifen lasse als was man“ zu diesem Thema nach der 24 Darauf deutet auch die wohl damals ausgestellte Urkunde für das Chorherrenstift St. Jean-des-Vignes in Soissons, ed. J. Ramackers, Papsturkunden in Frankreich, N.F. 4 (Göttingen 1942) 81 f., nr. 13; vgl. Schieffer 211 A. 89 u. Dereine (wie A. 22) 470 nr. 31. 25 Dazu vgl. R. Klibansky, „Peter Abailard and Bernhard of Clairvaux,“ Medieval and Renaissance Studies 5 (1961) 1–27, hier 22 mit A. 2–3. 26 Hist. cal. (82, Linien 683 f. Monfrin); vgl. auch Abaelard, Dialectica 4.1, ed. L. M. de Rijk (Assen 1956) 469, Linien 5 ff. 27 Hist. cal. (82, Linien 684–686). Vgl. dazu allgemein Ph. Delhaye, „L’organisation scolaire au XIIe siècle,“ Traditio 5 (1947) 211–268, hier bes. 255–258, der aber auf diese Stelle nicht eingeht und überhaupt die Entwicklung der „licentia“ zu statisch sieht. 28 Ed. zuletzt H. Ostlender, Peter Abaelards „Theologia ‚Summi boni,“ (Münster 1939); eine neue Hs. kollationierte N. M. Häring in Medieval Studies (Med. St.) 18 (1958) 215–224; eine neue Ausgabe durch E. M. Buytaert ist im Rahmen von dessen Edition der Opera Theologica Abaelards im Corpus Christianorum vorgesehen. Zu Abaelards Rolle in der Bedeutungsgeschichte des Wortes „Theologia“ vgl. G. Paré, A. Brunet, P. Tremblay, La renaissance du XII e siècle, les écoles et l’enseignement (Paris-Ottawa 1933) 307–312, u. M.-D. Chenu, La théologie au 12 e siècle (Paris, ed. 2, 1966) 376 f.
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Tradition „sagen könne.“ Bewußt hatte er damit die Methode der Schule von Laon überschritten, indem er nun nicht mehr nur nach den „sententiae“ der vorliegenden Tradition fragte, sondern versuchte, wie er selbst es ausdrückt, die „intelligentia“ zu fördern, d.h. mit den Mitteln der neuen Wissenschaft den inneren Zusammenhang der Gotteslehre einsichtig zu machen29. Gegen dieses Buch nun richtet sich der Häresieverdacht seiner alten Feinde, die sich hier in Alberich von Reims30 und Lotulf von 93 Novara31 personifizieren. Beide | unterrichten damals an der Kathedralschule von Reims und waren wie Abaelard beide Schüler Anselms von Laon und Wilhelms von Champeaux gewesen. Nachdem sie mehrfach bei ihrem Erzbischof Radulph vorstellig geworden sind, wird Abaelard aufgefordert, auf der Synode in Soissons zu erscheinen und das inkriminierte Buch dort vorzulegen. Schon als er in Soissons mit einigen Schülern zusammen auftaucht, schlägt ihm eine Welle der Abneigung entgegen. Mit Mühe nur entgeht die kleine Schar der Lynchjustiz der aufgehetzten Bevölkerung, wenn wir Abaelards Erzählung Glauben schenken. Erst 1114 waren immerhin zwei Bauern in Soissons von einer erregten Volksmenge als Häretiker verbrannt worden, und die Beispiele von solcher „in die Form des Gottesurteils gekleideter Volksjustiz32“ wären mühelos zu vermehren. 29 Hist. cal. (83, Linien 694–701 Monfrin). Zu Abaelards theologischer Methode vgl. J. Jolivet, Arts du langage et théologie chez Abélard, Etudes de philosophie médiévale 57 (Paris 1969) passim, bes. 229 ff., 347 ff., oder R. E. Weingart, The Logic of Divine Love. A Critical Analysis of the Soteriology of Peter Abaelard (Oxford 1970) bes. 1–31. 30 Zu ihm vgl. bes. A. Hofmeister, „Studien über Otto von Freising,“ Neues Archiv 37 (1912), hier 130–134; J. R. Williams, “The Cathedral School of Reims in the Time of Master Alberic (1118–1136),” Traditio 20 (1964) 93–114. 31 Zu ihm vgl. C. Ramponi, „Leutaldo: Scuola teologica di Reims,“ Pier Lombardo 1.1 (Marzo 1953) 14–15; D. van den Eynde, Du nouveau sur deux maîtres lombards . . . 2. Lutolphe de Novare, Pier Lombardo 1.2 (Giugno 1953) 6–8; P. Classen, Gerhoch von Reichersberg, eine Biographie (Wiesbaden 1960) 33 u. 90 f.; J. R. Williams (wie A. 30) 108 f. Noch ungeklärt ist die Verbindung, in die F. Bliemetzrieder Lotulf mit einer Uberlieferung der Sentenzen Anselms (clm 14730) gebracht hat: vgl. dazu einerseits H. Weisweiler, Das Schrifttum der Schule Anselms von Laon u. Wilhelms von Champeaux in deutschen Bibliotheken (Münster 1936) 23 f.; andererseits O. Lottin, Psychologie et morale aux XII e et XIII e siècles 5 Problèmes d’histoire littéraire. L’école d’Anselme de Laon et de Guillaume de Champeaux (Gembloux 1959) 179, 182 f., insbes. 184, wo das „Uutolfus“ der Hs. mit „Radulfus“ (von Laon) identifiziert wird. 32 Guibert v. Nogent, De vita sua 3.16 f. (S. 213 Bourgin; PL 156. 951 f.), vgl. auch die engl. Ubersetzung in J. F. Benton, ed., Self and Society in Medieval France, The Memoirs of Abbot Guibert of Nogent (New York–Evanston 1970) hier 213 f. Dazu vgl. A. Borst, Die Katharer (Stuttgart 1953) 84 mit A. 11 (dort auch das Zitat); J. B. Russell, Dissent and Reform in the Early Middle Ages (Berkeley u. Los Angeles 1965) bes. 78–81, 284.
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Ob diese Gefahr nun aber wirklich bestand oder nicht, den Fortgang des Verfahrens bestimmt sie nicht: Abaelard liefert seine „Theologia“ bei dem Kardinallegaten Kuno ab, nicht ohne seine Korrekturwilligkeit ausdrücklich zu bezeugen. Der aber reicht den Text an der Erzbischof Radulph als den zuständigen Bischof weiter. So sieht sich Abaelard den sachverständigen Beratern des Bischofs, seinen erbitterten Gegnern Alberich und Lotulf ausgeliefert und geht daher zum Gegenangriff über: öffentlich verteidigt er außerhalb des Konzils seine Ansichten. Währenddessen überprüfen seine Gegner sein Manuskript, ohne aber damit allzu rasch voranzukommen, ein Hinweis darauf, daß man sich hier noch nicht im Einzelnen vorbereitet hatte und daß die Untersuchung ohne zureichende Kenntnis des Textes eingeleitet worden war. Man ging also in der alten Weise des synodalen Ketzergerichts vor, die inkriminierte Schrift wird von der Synode in Gänze geprüft und daraufhin untersucht, ob sich in ihr Irrtümer auffinden lassen. Bei der abschließenden Beratung der Angelegenheit am letzten Tag der Synode gab es verschiedene Vorschläge darüber, was nun zu geschehen habe. Bischof Gottfried von Chartres33 macht sich, will man Abaelards Erzählung glauben, zum Anwalt des Angeschuldigten, indem er die „kanonische Prozedur“ verlangt. Ihm als dem Bischof einer Stadt, die damals die neben Laon wohl bekann | teste Schule Frankreichs 94 beherbergt34, war die öffentliche schulmäßige Disputation kein Problem. Aber Abaelard hatte mit seinem öffentlichen Auftreten offenbar so glänzende Talentproben seiner dialektischen Gewandtheit abgelegt, daß dieser Vorschlag der Ablehnung verfällt. Was sollte noch disputiert werden, die Wahrheit stand doch fest. Daraufhin regt Gottfried an, die Angelegenheit zu vertagen. Eine so gewichtige Frage sollte nicht auf einer so kleinen Synode entschieden werden. Man möge doch den Mönch in den Gewahrsam seines Abtes, Adams von Saint Denis, überstellen und dann unter Beiziehung weiterer Sachverständiger
33
Vgl. Hist. cal. (85–87 Monfrin [wie A. 21]). Zur Schule von Chartres vgl. A. Clerval, Les écoles de Chartres au moyen âge (Paris 1895); E. Lesne, Histoire de la propriété ecclésiastique en France, 5. Les écoles de la fin du VIII e siècle à la fin du XII e (Lille 1940) 152–173; E. Jeauneau, „Note sur l’école de Chartres,“ Studi medievali, série III, 5 (1964) 821–865; R. W. Southern, “Humanism and the School of Chartres,” in: Ders., Medieval Humanism and Other Studies (Oxford 1970) 61–85; und P. Dronke, “New Approaches to the School of Chartres,” Anuario de estudios medievales 6 (1969 [ersch. 1971]) 117–140. 34
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die Angelegenheit entscheiden. Dieser Vorschlag war für den Kardinallegaten wohl annehmbar, denn seine Legation bezog sich seit der Rückkehr Papst Calixt II. aus Frankreich nach Rom (1120) ausdrücklich auf die Kirchenprovinzen „Rouen, Sens und Reims35,“ so daß er, der sonst so nachweislich eifersüchtig über seine Rechte als Legat wachte, den Fall rechtlich nicht aus der Hand zu geben brauchte. Anders stand es mit dem Erzbischof von Reims: In Paris wäre die Kirchenprovinz von Sens zuständig geworden, und der Prestigeverlust, den er darin sehen mußte, mochte ihn zu erbittertem Widerstand veranlassen. Die Gegner Abaelards verfehlten auch nicht, den Erzbischof in diesem Sinne zu beeinflussen. Sie schlugen ihm und durch ihn dem Legaten nun folgendes Verfahren vor: das inkriminierte Buch sollte – sine inquisitione, wie Abaelard schreibt – verbrannt, sein Verfasser disziplinarisch gemaßregelt werden. Er habe sich dadurch schuldig gemacht, daß er für die öffentliche Verbreitung der in dem Buch vertretenen Lehren weder das Plazet des römischen Bischofs noch das seiner eigenen Kirche (d.h. des zuständigen Diözesanbischofs) eingeholt habe36. Hier könne ein statuiertes Exempel nur heilsam sein. Nach dieser Verabredung wird denn auch verfahren. Das Buch wird verurteilt; es läßt sich nicht genau ermitteln, in welcher Form, wahrscheinlich dadurch, daß man es den überlieferten Ketzerkatalogen subsumierte. Offenbar warf man ihm „Sabellianismus“ vor37, viel95 leicht auch schon „Arianismus,“ Ketzereien, die als besonders | abscheulich galten und etwa in Yvo von Chartres Panormia als allererste 35
Schieffer (wie A. 8) 207 A. 70. Dieses Argument sollte nicht, wie J. F. Benton es in einem anregenden Vortrag getan hat, gegen die Authentizität der Hist. cal. ausgespielt werden. Benton stützt sich dabei auf die Angabe von G. B. Flahiff, “The Censorship of Books in the 12th Century,” Med. St. 4 (1942) 4 A. 18, u. D. H. Wiest, The Precensorship of Books, Cath. Univ. of America, Canon Law Studies 329 (Washington D.C. 1953) 15 f., die solche „Vorzensur“ erst seit dem 13. Jhd. beobachtet haben. Vgl. aber immerhin die Bestimmungen der Statuten des Zisterziensergeneralkapitels von 1134, ed. J. M. Canivez, Statuta capitolorum generalium Ordinis Cisterciensis 1 (Louvain 1933) 26, § LVII: “Si licet alicui novos libros dictare. Nulli licet abbati nec monacho nec novitio libros facere, nisi forte cuiquam in generali capitulo concessum fuerit. Hier kommt es weniger darauf an, ob diese Bestimmungen auch durchgehalten wurden, sondern nur darauf, daß sie erlassen worden sind. 37 Otto von Freising, Gesta Friderici 1.59, ed. G. Waitz, B. von Simson, MGH Scriptores rerum Germ. in us. schol. 46 (Hannover 1912) 69. Die Ausgabe von F. J. Schmale, Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe (Darmstadt 1965) mit ihrer anderen Kapitelzählung wird hier unberücksichtigt gelassen, da in diesen Kapiteln keine wesentlichen Textvarianten auftreten; Schm. bereitet eine Neuausgabe für die MGH vor. 36
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erwähnt werden38. Abaelard wird gezwungen, seine Schrift zum Zeichen seiner Einsicht eigenhändig den Flammen zu überantworten. Ein eigenes Glaubensbekenntnis vorzulegen, in dem er mit freien Formulierungen gegen die Vorwürfe hätte Stellung beziehen können, bleibt ihm versagt; das hätte ihm vielleicht Gelegenheit gegeben, seine Thesen zu erläutern und damit sein Buch zu verteidigen. Zum Beweis seiner Orthodoxie muß er öffentlich das überlieferte Athanasianum, ein lateinisches Symbol des 5. Jahrhunderts39, verlesen: Im Anschluß daran wird er dem Abt von Saint Médard in Soissons übergeben, der wohl auch sonst disziplinarische Aufgaben ungebärdigen Mönchen gegenüber übernahm40; danach wurde die Synode aufgelöst. Soweit unsere Nachrichten, die beweisen, daß sich das angewandte Verfahren nicht wesentlich von dem im Berengar-Prozeß beobachteten Vorgehen unterscheidet. Die Klage Abaelards darüber, daß er nicht gehort worden sei, ist wohl als wichtigste Abweichung vom überlieferten Schema zu verstehen. Daß man sich nicht auf den gefährlichen Weg einer spezifischen neuen und freien Formulierung eines besonderen Glaubensbekenntnisses durch Abaelard oder auch durch dessen Gegner einließ, unterscheidet das Verfahren weiterhin von dem des 11. Jahrhunderts. Was sich nicht unterschied, war, daß die Wirksamkeit der getroffenen Maßnahmen zweifelhaft blieb: die disziplinarischen Maßnahmen wurden noch von Kuno selbst bald erleichtert, schließlich gelang es Abaelard, auch das Lehrverbot zu umgehen, das ihn noch länger behindert hatte. Er kann später sogar in der Kirchenprovinz von Reims, im Sprengel des Bischofs von Troyes, eine neue Schule gründen41. Hier wird eine neue Bearbeitung seiner „Theologia“ entstehen42, in die die erste Fassung fast restlos
38
Vgl. Yvo v. Chartres, Panormia 1.1 (PL 161.1045). Vgl. Denz-Sch. (wie A. 9) nr. 75 f. Mittelalterliche Kommentare hat zusammengestellt N. M. Häring, “Commentaries on the Pseudo-Athanasian Creed,” Med. St. 34 (1972) 208–252; zu Abaelards Kommentar vgl. 238 nr. II, zu Gilbert von Poitiers 238 f. nr. III. 40 Vgl. Anonymus, Vita Gosvini, in: Recueil des Historiens des Gaules et de la France 14 (Paris, ed. 2, 1877) 445 B. 41 Etwa 1122. Zu den Einzelheiten vgl. J. Miethke, „Abaelards Stellung zur Kirchenreform, Eine biographische Studie,“ Francia 1 (1972 [erschienen 1974]), 158–192, hier 165 ff., zu Sens vgl. ibid. 186 ff. 42 Theologia christiana, ed. E. M. Buytaert, Petri Abaelardi Opera theologica, 1–2, Corpus Christianorum, Cont. mediev. 11–12 (Turnhout 1969) [= „OT 1–2“], hier OT 2.69–372. 39
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Wort für Wort eingeht43. Und auch die spätere dritte Form seiner „Theologia,“ die er in den dreißiger Jahren niederschreiben sollte44, hat Abaelard stets als bloße Fortsetzung des in Soissons verurteilten Traktats empfunden. Noch in den letzten Jahren seiner Lehrtätigkeit in Paris wird er mit unverhohlenem Stolz auf diesen seinen Erstling 96 zurückblicken45. | Der zweite der Prozesse, die hier darzustellen sind, richtet sich ebenfalls gegen Peter Abaelard. Es ist der bekannteste der Theologenprozesse des 12. Jahrhunderts und ist auch schon oft behandelt worden46. Trotzdem ist auch hier der äußere Hergang in einigen wesentlichen Einzelheiten erst im Laufe der letzten Jahre einer Klärung nähergebracht worden. Für diesen Prozeß wird es nun entscheidend, daß hier ein Mann gegen Abaelard eingreift, der wohl als die einflußreichste Gestalt in der Kirchenpolitik Europas in den beiden Jahrzehnten zwischen 1130–1150 bezeichnet werden kann, Bernhard von Clairvaux. Seinem Einfluß sind der erfolgreiche Abschluß des Verfahrens und die wesentlichen neuartigen Momente in der Prozedur zuzuschreiben. In diesem Fall sind wir etwas besser über die Vorgänge unterrichtet. Abaelard hatte nach dem Abbruch seines Experiments als Abt des Benediktinerklosters Rhuys47 wieder in Paris Fuß gefaßt, wo er dies-
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Vgl. die tabellarische Konkordanz von Buytaert, in: OT 2.57–68. Theologia „scholarium“ (PL 178.979–1114; die kürzeren Redaktionen in OT 2.399–451). 45 Abaelard, Collationes bzw. Dialogus, ed. R. Thomas (Stuttgart 1970) 43 Linien 50 ff. (PL 178.1613 D) ist vielleicht mit E. M. Buytaert, „Abaelard’s ‚Expositio in Hexaemeron,‘“ Antonianum 43 (1968) 163–94, hier 185 (vgl. OT 1, p. XXII A.36) nicht, wie bisher üblich, auf Sens, sondern auf Soissons zu beziehen. 46 Die wichtigste neuere Arbeit dazu ist A. Borst, „Abaelard u. Bernhard,“ Historische Zeitschrift 186 (1958) 497–526, der sich bemüht, beiden Seiten gerecht zu werden, aber doch zu harmonisierend vorgeht. Weiterhin vgl. R. Oursel, La dispute et la grâce. Essai sur la rédemption d’Abélard (Paris 1959); Klibansky (wie A. 25); E. M. Buytaert, „The anonymous ‚capitula heresum Petri Abaelardi‘ and the Synod of Sens 1140,“ Antonianum 43 (1968) 419–60. Die theologische Debatte faßt zusammen: J. Jolivet, „Sur quelques critiques de la théologie d’Abélard,“ Archives d’histoire doctrinale et littéraire du moyen âge (AHDL) a. 38 (1964) 7–51; vgl. auch D. E. Luscome, The School of Peter Abelard, The Influence of Abelard’s Thought in the Early Scholastic Period (Cambridge 1969) 103–143. Die neuere Monographie von A. V. Murray, Abelard and St. Bernard (Manchester 1967) kann hier dagegen weitgehend außer Betracht gelassen werden, vgl. das harte, aber gerechte Urteil von E. M. Buytaert in: Antonianum 43 (1968) 455 f. oder von C. Morris in: English Historical Review 83 (1968) 823. Ein Literaturbericht (bis 1963) bei J. Leclercq, „Les études bernardines en 1963,“ Bulletin de la société internationale pour l’étude de la philosophie médiévale 5 (1963) 131–136. 47 Vgl. dazu J. Miethke (wie A. 41). 44
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mal auf dem Genovefa-Berg Schule hielt. In den Jahren von 1132 bis etwa 1138/1139 sind seine wichtigsten Schriften entweder entstanden oder erfuhren eine erneute Bearbeitung48. Seine Texte verbreiteten sich rasch, und dabei fielen sie auch in die Hände Wilhelms von Saint Thierry, der damals als Zisterziensermönch im Kloster Signy lebte. Um die Fastenzeit des Jahres 113949 schreibt dieser einen empörten Brief 50 an den päpstlichen Legaten in Frankreich, Bischof Gottfried von Chartres51 und an Bernhard | von Clairvaux52, in dem 97 er laute Klage führt, daß beide zu den neuen theologischen Lehren Abaelards, die überall frei verkündet würden und selbst an der römischen Kurie schon „auctoritas“ besäßen, noch immer schwiegen. Aus Abaelards „Theologia“ und einer heute verschollenen Schrift aus dessen Schule53 stellt Wilhelm eine Liste von 13 „capitula“ zusammen, die ihm besonders anstößig sind, und erläutert in einem ausführlichen beigelegten Traktat diese Lehrsätze54. Bernhard antwortet zunächst nur kurz und abwartend55; da er in diesen Fragen gänzlich unerfahren sei, wolle er sich darüber noch mit Wilhelm beraten, allerdings
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Vgl. zuletzt die knappe Ubersicht von Buytaert in OT 1.XXIII–XXV. Zur Datierung vgl. z.B. Borst (wie A. 46) 506: „Zwischen 1136 und 1140, wahrscheinlich 1139.“ Die Präzisierung, die L. Grill, „Die 19 ‚capitula‘ Bernhards von Clairvaux gegen Abälard,“ Historisches Jahrbuch 80 (1961) 229–239, hier 232 mit A. 12, beibringt, ist nur scheinbar genauer. Vgl. auch Klibansky (wie A. 25) 12 A. 1. 50 Gedruckt in Bernhards Korrespondenz: ep. 326 (PL 182.531–533), jetzt nach Ms. Charleville 67 [XII s.], ed. J. Leclercq, „Les lettres de Guillaume de St. Thierry à Saint Bernard,“ Revue Bénédictine 79 (1969) 375–391, hier 377 f. Vgl. dazu außer J. M. Déchanet Guillaume de St. Thierry, l’homme et son oeuvre (Bruges 1942) 65–76; u. ders., „Guillaume de Saint-Thierry,“ Dictionnaire de spiritualité 6 (Paris 1967) 1241–1263, hier 1243 f.; bes. Hofmeister (wie A. 22) 43–51 und Jolivet (wie A. 46) 22–33. 51 Zu seiner Legation vgl. W. Janssen Die päpstlichen Legaten in Frankreich vom Schisma Anaklets II. bis zum Tode Coelestins III., 1130–1198 (Köln-Graz 1961) 18–30, bes. 28 mit A. 52. 52 Über die Beziehungen Bernhards zu Abaelard vor ihrem Zusammenstoß in Sens sind wir relativ schlecht unterrichtet, vgl. Miethke (wie A. 41). Der Traktat Bernhards Ad clericos de conversione (PL 182.833–856), jetzt ed. J. Leclercq, H. Rochais, in: S. Bernardi Opera 4 (Rom 1966) 68–116, scheint entgegen den älteren Annahmen (z.B. Borst [wie A. 46] 512 mit A. 3, Bredero [wie A. 59] 220, u.ö.) nicht in den Zusammenhang mit Sens zu gehören, vgl. die Introductio in Opera 4.61 ff., bes. 61 A. 1, kann aber das allgemeine Klima zwischen Bernhard und der Welt der Schulen illustrieren. 53 Vgl. H. Ostlender, „Die Sentenzenbücher der Schule Abaelards,“ Theologische Quartalschrift 117 (1936) 208–252, hier 225 ff., 237 ff., 246 ff.; Buytaert (wie A. 46) 431 f. 54 Als Disputatio adversus Petrum Abaelardum gedruckt PL 180.249–282. 55 Ep. 327 (PL 182.523 A/B). 49
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nicht vor Ostern. Diese angekündigte Zusammenkunft läßt sich selber nicht nachweisen, aber es ist wahrscheinlich, daß Bernhard Wilhelm und doch wohl auch andere Theologen befragt hat, bevor er selber massiv in die Streitigkeiten eingriff 56. Zunächst wählt er den Weg, den er dem irrenden Bruder in der Kirche gegenüber für angemessen hält: Er versucht, ihn in persönlicher Konfrontation zurechtzuweisen, nach einer ersten vergeblichen Begegnung bringt er sich Zeugen mit57, um die kanonische „correctio“ zu vollziehen.58 Abaelard mußte wissen, was das kirchenrechtlich bedeutete; es ist daher wenig wahrscheinlich, daß er sich vor Bernhard zur Korrektur seiner Schriften verpflichtet hat, wie Bernhards Biograph59 es später 98 wissen will. Sollte aber wirklich | eine Art Stillhalteabkommen erzielt worden sein, war es jedenfalls von kurzer Dauer. Als Bernhard sich einmal von der unverbesserlichen Halsstarrigkeit seines Gegners überzeugt hatte, ging er auf zwei Wegen gegen ihn vor: Er entfachte eine ausgedehnte literarisch-polemische Aktivität und versuchte daneben, seinen eigenen kirchenpolitischen Einfluß, der nach der erfolgreichen Durchsetzung des Papstes Innozenz II. gerade auf dem Höhepunkt angelangt war, zugunsten einer disziplinären Behebung des Skandalons durch die kirchlichen Autoritäten geltend zu machen. Seine literarisch-publizistische Polemik schlägt sich in zwei Listen60 56 Buytaert (wie A. 46) 453, scheint eine solche Zusammenkunft vorauszusetzen und folgt auch der Vermutung von Grill (wie A. 49) 232, daß Bernhard sich Rat bei Hugo von St. Viktor geholt habe. Buytaert selbst mutmaßt eine Zusammenkunft mit Walter v. Mortagne (ibid. 439). Keine dieser in sich plausiblen Vermutungen läßt sich leider auf Zeugnisse stützen. 57 Bericht im Brief nach der Synode von Sens im Namen Heinrichs v. Sens u. der Bischöfe seiner Provinz, bei Bernhard, ep. 337,2 (PL 182.540–542, hier 541 A/B); vgl. dazu Borst (wie A. 46) 508. 58 Vgl. Matth. 18.15–17; cf. Tit. 3.10; Bernhard selbst etwa in seinem Sermo super cantica 64.3.8, ed. J. Leclercq u. H. M. Rochais, Sancti Bernardi Opera 2 (Rom 1958) 170, Linien 19–27; später z.B. Petrus Cantor, Verbum abbreviatum, c. 78 (PL 205.131). 59 Gottfried v. Auxerre, Vita prima Bernhardi 3.5.13 (PL 185.311 A) der aber sonst von Bernhard, ep. 337, abhängig ist, in der darüber gar nichts berichtet wird. Vgl. bereits W. Meyer, „Die Anklagesätze des hl. Bernhard gegen Abaelard,“ Nachr. v. d. kgl. Gesellsch. d. Wissensch. zu Göttingen, phil.-hist. Klasse (1898) 397–468, hier 404. Erst recht ist hier unselbständig Alans Vita secunda 26.71 (PL 185.513 D), die Gottfried ausschreibt. Beide ziehen die zwei Begegnungen Bernhards mit Abaelard zu einer einzigen zusammen, die sogleich „erfolgreich“ verläuft. Die Kontamination beider Traditionen, wie sie u.a. Borst (wie A. 46) 507 mit A. 4 u. Grill (wie A. 49) 232, vornehmen, wirkt wenig überzeugend. Vgl. allgemein A. H. Bredero, „Etudes sur la ‚Vita prima‘ de Saint Bernard,“ Analecta sacri ordinis Cisterciensis 17 (1961) 3–72, 215–260; 18 (1962) 3–59. 60 Einmal die anonymen 14 Capitula haeresum Petri Abaelardi, die i.a. im Zusammenhang mit Bernhards Briefen oder Opuscula überliefert sind und wohl auch in Bernhards
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nieder, die angebliche Irrtümer Abaelards aufzählen und die er offenbar auch sogleich verbreiten ließ61. Seine politisch-diplomatischen Aktivitäten konzentriert er auf die römische Kurie. Einige wichtige Irrtümer Abaelards bekämpft er in einem umfangreichen Traktat, den er in Protokoll und Eschatokoll als Brief an den Papst Innozenz II. stilisiert62. Zur weiteren Information scheint er nach Rom auch seine ausführlichere Irrtumsliste übermittelt zu haben63. Die Übersendung dieses Konvoluts flankierend | wandte er sich in einer gan- 99 zen Reihe von dringlichen Briefen an verschiedene Mitglieder der römischen Kurie, um sie an ihre Verantwortung zu erinnern und
Umkreis gehören (PL 182.1049–1054), kritisch nach zwei MSS ediert von Buytaert (wie A. 46) 421–428, und dems., OT 2.473–480; weitere sechs MSS verzeichnet J. Lerclercq, „Notes abélardiennes,“ Bulletin de philosophie médiévale 8–9 (Louvain 1966/1967 [ersch. 1970] 61. Zur Datierung vgl. Meyer (wie A. 59), bes. Buytaert, a.a.O., 442 f., 445–460, u. OT 2.466. Diese Liste, die nach einer ansprechenden Vermutung von J. Rivière, „Les ‚capitula‘ d’Abélard, condamnés au concile de Sens,“ Recherches de théologie ancienne et médiévale 5 (1933) 5–22, hier 9, unvollständig blieb, ist von Buytaert wohl mit Recht in die erste Phase der Auseinandersetzungen datiert worden. Wichtiger noch ist die sozusagen offiziöse Liste Bernhards von 19 Irrtümern, meist im Zusammenhang mit Bernhards ep. 190 (wie A. 62) überliefert, kritisch ediert nach fast der gesamten hsl. Uberlieferung von J. Leclercq, „Les formes successives de la lettre-traité de Saint Bernard contre Abélard,“ Revue Bénédictine 78 (1968) 87–105, hier 103 f. Leclercq geht immer noch davon aus, daß wir in dieser Liste die sozusagen offizielle Verurteilung von Sens vor uns hätten; das hat energisch und wohl zu Recht bestritten Buytaert, (wie A. 46) 448 ff. u. in OT 2.465 f. 61 Beide Listen sind meist im Zusammenhang mit Bernhards Schriften überliefert. Die sofortige Verbreitung zumindest der zweiten Liste geht hervor aus Abaelards Apologia (vgl. unten A. 68), außerdem aus den Mitteilungen in Berengars Apologeticus (PL 178.1857–1870, hier 1862 C/D; zu dieser Schrift vgl. Luscombe [wie A. 46] 29 ff.): das hier zitierte „indiculum“ Bernhards muß mit den 19 capitula identisch sein, da sich der letzte der zitierten Sätze nur dort findet – vgl. die Tabelle bei Buytaert (wie A. 46) 444 (§ 22) u. in OT 2.469 (§ 22); die anderen von Berengar zitierten Sätze finden sich bei Buytaert unter § 3, 4, 9 u. 10. Noch 1147 bezieht sich Gerhoch von Reichersberg in einem Brief an Bernhard, (ed. G. Hüffer, Historisches Jahrbuch 6 [1885] 268–70, nr. XII, hier 270; zur Datierung vgl. Classen [wie A. 31] 350, R. 50, u. 128) offensichtlich auf diese Liste, ohne sie als offizielles Konzilsdokument zu kennzeichnen: „Mirati sumus valde, pater sancte, in catalogo heresium Petri Abaiolardi hoc te (!) pretermisisse . . .“ Vgl. auch den Zisterzienser Helinand v. Froidmont († 1227), Chronicon (PL 212.1035 A), wo von einer Verurteilung in Sens ebenfalls nicht gesprochen wird. 62 Bernhard, ep. 190 (PL 182.1053–1072). Zur Datierung (vor Sens) vgl. schon Meyer (wie A. 59) 404, 441–443; außerdem Borst (wie A. 46) 511 A. 1; Buytaert, OT 2.460 ff.; zur theologischen Position Jolivet (wie A. 46) 33–38. 63 Diese Vermutung könnte sich darauf berufen, daß die Überlieferung der Liste meist im Zusammenhang mit Bernhards ep. 190 erfolgte (vgl. das Verzeichnis der 116 MSS, Leclercq, „Les formes“ [wie A. 60] 89–93), vgl. zusätzlich „Notes abélardiennes“ (wie A. 60) 61, für ein weiteres MS.
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sie flammend zum Eingreifen gegen die gefährlichen Irrlehren aufzufordern64. Unabhängig davon bemühte er sich auch, vielleicht den Bischof von Paris, gewiß aber den Erzibischof von Sens, zu einem disziplinären Einschreiten zu veranlassen65. All diesen Bemühungen gegenüber war Abaelard nicht untätig geblieben. Wohl ganz am Anfang der Auseinandersetzungen, vielleicht auch im Zusammenhang mit den Unterredungen, die Bernhard gesucht hatte, schrieb er an Heloisa eine „confessio fidei.66“ Voll Vertrauen in seine Sache und im Bewußtsein seiner Rechtgläubigkeit wehrt er die Angriffe gegen sich ab, vor allem die Vorwürfe des Sabellianismus und Arianismus, die Wilhelm von Saint Thierry erhoben hatte. Im weiteren Fortgang des Disputs, in einer zweiten „confessio fidei,“ diesmal an „universis ecclesiae sanctis filiis“ gerichtet67 zeigt er dann auch schon Kenntnis der Bernhardschen Irrtumslisten. Da dessen 19-Kapitel-Liste offenbar auch selbständig verbreitet wurde, verteidigte sich Abaelard gegen diese gesondert in einer „Apologia,“ von der wir leider nur Bruchstücke kennen68. In „knappen Worten“ 64 Bernhard, epp. 188, 192, 193, 331, 332, 336. Zur Datierung vgl. L. Nicolau d’Olwer, „Sur quelques lettres de St. Bernard,“ Mélanges St. Bernard (Dijon 1954) 100–108, bes. 107 f.; Borst (wie A. 46) 521–522; Oursel (wie A. 46) 91–94. Die Lösungen sind nicht ganz einheitlich; ep. 330 darf man gegen Borst (510 A. 3) weiterhin als Konzept ansehen, zumal sich die Fassung in MS Berlin, Staatsbibliothek, Phillipps 1732 (= Meersman 181), fols. 142v–144 am ehesten als spätere Kontamination erklären läßt. Das mit dem Briefschluß von ep. 189 (PL 182.357 A) fast identische Eschatokoll (abgedr. bei Meyer [wie A. 59] 413 A. 1 u. J. Leclercq, Etudes sur S. Bernard [Rom 1953] 103 f. A. 8) ist die einzige wichtige Abweichung vom MigneText (das Ms. war uns durch die Freundlichkeit der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Ostberlin zugänglich). Zum Inhalt vgl. auch Jolivet (wie A. 46) 38–44. 65 Bezeugt in Abaelards Rundschreiben (vgl. unten A. 69). 66 Abaelard, ep. XVII (PL 178.375–378). Zur Datierung vgl. D. van den Eynde, „Chronologie des écrits d’Abélard à Héloise,“ Antonianum 37 (1962) 337–349; hier 344–347. Berengar hat diese Confessio in seinen Apologeticus übernommen (vgl. PL 178.1862 A) und in den Zusammenhang mit Bernhards ep. 189.5 (PL 182.356 B) gestellt, doch ist das eher eine systematische als chronologische Einordnung. 67 PL 178.105–108 bzw. PL 180.329–332. Zur Beziehung auf Bernhards ep. 190 vgl. Buytaert (wie A. 46) 446 oder OT 2.466. 68 Letzte Edition von Buytaert in OT 1.359–368. Zum ersten Male richtig, dh. vor Sens, datiert durch Oursel (wie A. 46) 89–91, 93; jetzt auch ebenso, unabhängig davon, E. M. Buytaert, „Thomas of Morigny and the ‚Apologia‘ of Abaelard,“ Antonianum 42 (1967) 25–54, bes. 45–54, u. OT 1.352 ff. Argument ist u.a., daß Thomas von Morigny in einer Polemik gegen die Apologia, die er im Auftrag des Erzbischofs Hugo von Rouen schrieb (PL 180.283–338; eine Edition ist für Abaelard, OT 3, vorgesehen), Abaelard noch in Paris lebend voraussetzt (vgl. PL 180.285 A, 323 C, 290 A/B). Damit ist die Angabe von Otto v. Freising, Gesta 1.51 (74 v. Simson [wie A. 37]), als irrig erwiesen.
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will er, wie er sagt, seine „innocentia“ durch eine Widerlegung der Vorwürfe Punkt für Punkt beweisen. Mit all diesen Schriften konnte Abaelard natürlich nur dem publizistischen Angriff Bernhards und seiner Feinde begegnen, von dessen diplomatischer Aktivität mag er nur entfernte Ahnung gehabt haben. Aber um dem Streit ein Ende zu setzen, | entschließt er sich69 100 zu einem Schritt, der ganz aus seiner eigenen Lebenssphäre, der Schule und ihren neu entwickelten Diskussionsformen, geplant ist: Er, der in so vielen Disputationen Erprobte, der gelernt hatte, seine eigenen wie fremde Ansichten im Wechsel von Argument und Gegenargument glänzend zu entfalten, will in einem öffentlichen Streitgespräch seine Auseinandersetzung mit Bernhard siegreich beenden. Da der Erzbischof Heinrich von Sens gerade für den 2. Juni 1140 eine feierliche Ausstellung der Reliquien seiner Kathedrale plant, bittet er ihn, Bernhard vor die glänzende Versammlung zu laden und am Tage nach der Exposition, am Montag, den 3. Juni, ein Streitgespräch anzuberaumen70. Nach der Zustimmung des Erzbischofs lädt er sogleich in einem knappen Rundschreiben seine Schüler und Anhänger ein, sich zum verabredeten Termin in Sens einzustellen, um selber Augenzeuge zu sein, wie und ob Bernhard bei dieser öffentlichen Konfrontation bestehen würde. Bernhard sieht sich durch diese Einladung in Verlegenheit gesetzt: Einem solchen Disput fühlte er sich nicht gewachsen, zumal er wohl auch sah, daß es ihm diese Form der Auseinandersetzung nicht gestatten würde, seine mitreißende Beredsamkeit zur Geltung zu bringen. Auch sah er es, wie er später schreiben wird, für unangemessen an, die klar auf der Hand liegende Wahrheit dialektisch zerpflücken zu lassen71. Endlich entschließt er sich doch, den Kampf aufzunehmen, zeigt sich von diesem Augenblick an aber gewillt, seinem Gegner die
69 Abaelards Initiative ist bezeugt durch sein Rundschreiben an seine Anhänger, in MS Heidelberg, Univ. Bibl. 71, fols. 14v–15v, ed. Leclercq (wie A. 64) 104 f., u. Klibansky (wie A. 25) 6 f. Leclercq hat (105 Linie 8; vgl. Leclercq [wie A. 46] 134) ein Wort, das Klibansky mit Recht emendierte, stehengelassen, und kommt daher zu dem Schluß, Abaelards Schüler hätten die Disputation herbeigeführt; das aber bleibt angesichts der übrigen Zeugen unwahrscheinlich, vgl. Heinrich v. Sens in Bernhard, ep. 337.2; Bernhard, ep. 189.4 (PL 182.541 C/D u. 355 C); Gottfried von Auxerre, Vita prima 3.5.10 (PL 185.311 A/B); Alanus, Vita secunda 26.71 (PL 185.514 A). Zu Abaelards Motiven vgl. auch J. G. Sikes, Peter Abailard (Cambridge 1932) 227 f. 70 Zur Datierung vgl. die Literatur bei Borst (wie A. 46) 515 A. 4. 71 Vgl. ep. 189.4 (PL 182.355 C/D); ähnlich schon ep. 187 (350 A).
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Wahl der Waffen nicht zuzugestehen. Seinerseits lädt er nun die Bischöfe Franziens ein, um Christi willen in Sens persönlich zu erscheinen72. Am Vorabend des vereinbarten Termins versammelt er dann die in Sens erschienenen Bischöfe bei sich und legt ihnen eine Liste mit „errores“ vor, die er in Abaelards „Theologia“ gefunden haben will73. Zu jedem einzelnen Punkt fragt der Vorleser die Versammelten „Damnatis?“ und sie bestätigen ihm mit einem „Damnamus“ ihre Billigung74. Damit hat Bernhard sie vorweg auf seine 101 eigene | Marschroute verpflichtet. Am folgenden Tage sollte und konnte nun keine Disputation mehr stattfinden, es konnte sich nur noch darum handeln, Abaelard zu zwingen, sich seinerseits dem Spruch der Bischöfe anzuschließen. Bernhard hatte die geplante Disputation von vornherein in ein Ketzergericht verwandelt, vor dem Abaelard nicht mehr argumentieren, sondern sich nur noch darüber verantworten konnte, ob er die schon verurteilten Lehrpunkte auch vorgetragen habe oder nicht. Von Bernhards Plan völlig überrascht, erlebt Abaelard, wie Bernhard die Disputation damit eröffnet, daß er seine von den Bischöfen verurteilte Irrtumsliste verliest und ihn auffordert, „wenn diese Sätze seine Lehre wiedergäben, sie entweder zu beweisen oder aber zu widerrufen75“. Sofort durchschaut er aber die Absicht des Gegners und wählt einen Ausweg, der ihm wenigstens Zeitgewinn versprach76: Ohne sich überhaupt auf Bernhards Liste einzulassen, appelliert er schon bei Beginn der Verlesung nach Rom77 und macht sich wohl Ep. 187 (PL 182.349 ff.). Von Abaelards liber spricht Berengar (PL 178.1858 C), von einem liber ‚theologiae‘ magistri Petri der Brief Heinrichs v. Sens in Bernhard, ep. 337.3 (PL 182.542 A). Demgegenüber nennt Bernhard selbst in ep. 189.4 u. Samson von Reims in Bernhard, ep. 191.2 (PL 182.356 B bzw. 358) libri eius. Sollte sich Bernhard wirklich nur auf die Theologia (d.h. die Theologia ‚Scholarium‘ ) gestützt haben, was als Antwort auf die Apologia Abaelards immerhin verständlich wäre, so könnte diese Liste mit der 19Kapitel-Liste nicht identisch sein. Jedoch läßt sich über diese Frage keine absolute Sicherheit gewinnen. 74 Diese Versammlung bezeugt durch den Brief der Bischöfe, Bernhard ep. 337.4 (PL 182.542 B/C) durch Johann von Salisbury, Historia pontificalis c. 9, ed. M. Chibnall (Oxford 1956) 19 f., u. bes. durch Berengar, Apologeticus (PL 178.1858 B–1859 D); hier auch ein – gewiß polemisch verzerrter – Bericht über die Prozedur (der aber durch den Bericht Johanns v. Salisbury, wie unten A. 116, in seinen Grundzügen bestätigt wird). 75 Heinrich von Sens in Bernhard, ep. 337.3 (PL 182.542 A). 76 Zu den vielerörterten Umständen vgl. die Nachweise u. die Darstellung von Borst (wie A. 46) 517–520. 77 Abaelard hatte schon früher einmal geplant, sich in Rom Recht zu suchen, als ihm die Bestrafung der Attentäter, die ihn entmannt hatten, zu milde erschien. 72 73
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auch gleich auf den Weg. In Cluny macht er Station und gewinnt dort die Fürsprache des Großabtes Petrus Venerabilis78. Auch Bernhard und seine Partei bleiben nicht untätig. Die Bischöfe der Kirchenprovinzen Reims und Sens schicken einen Rechtfertigungsbericht an Innozenz II.79, und Bernhard selbst stilisiert einen noch vor Sens entworfenen Appell an Innozenz durch einige Ergänzungen um zu einem dringenden Aufruf, mit der Entscheidung nun nicht mehr zu zögern80. Offensichtlich kommt schon der vermittelnde Brief des Petrus Venerabilis81 zu spät, denn sechs Wochen nach den Tagen | von Sens datie- 102 ren die beiden Verfügungen82, in denen Innozenz pauschal alle Lehren Abaelards (!)83 verdammt, Abaelard ewiges Schweigen auferlegt, ihn selbst zu Klosterhaft verurteilt und seine Bücher zu verbrennen befiehlt. Damit hat Innozenz sich ganz auf das Urteil der Bischofsversammlung verlassen, sein Spruch gleicht dem der Synode von Soissons formal bis in die Einzelheiten. Die Neuheit des Vorgehens Bernhards verkennend hat er es auch versäumt, die Irrtumsliste der Versammlung seinerseits zu wiederholen. Fulco von Deuil hatte ihm erfolgreich davon abgeraten: in Abaelard, ep. 16 (PL 178.375; die hier unterdrückten Passagen der Romkritik hat ediert D. van den Eynde, „Détails biographiques sur Pierre Abélard,“ Antonianum 38 [1963] 217–223, hier 219). 78 Vgl. Otto v. Freising, Gesta 1.51 (S. 74 v. Simson [wie A. 37]). Uber frühere Beziehungen Abaelards zu Petrus Venerabilis ist nichts bekannt. Die beiden Briefe des Petrus an einen „Petrum quendam scolasticum,“ ed. G. Constable, The Letters of Peter the Venerable (Cambridge, Mass. 1969) 1.14–17, nr. 9–10, sind entgegen früheren Annahmen wohl sicher nicht an Abaelard gerichtet (vgl. Constable 2.101 f.), vielleicht an Petrus von Poitiers (vgl. N. M. Häring, „Zur Geschichte der Schulen von Poitiers im 12. Jh.,“ Archiv f. Kulturgesch. 47 [1967] 23–47, hier 30). Immerhin zeigen sie deutlich die Wertung an, die Petrus Vernerabilis Abaelards früherer Tätigkeit an den Schulen entgegenbrachte. Zu Peters Fürsprache vgl. A. 81 u. 84. 79 In Bernhard, epp. 191 u. 337 (PL 182.357 f. u. 540–542). Das Problem, ob Bernhard der einzige Verfasser dieser Briefe war, ist hier nicht zu entscheiden; man darf jedenfalls von seiner entscheidenden Mitwirkung ausgehen. Davon geht auch aus J. Leclercq, „Recherches sur la collection des épîtres de Saint Bernard,“ Cahiers de civilisation médiévale 14 (1971) 205–219, hier 207. 80 Bernhard ep. 189 (PL 182.354–357). 81 Petrus Venerabilis, ep. 98 (1.258 f. Constable), vgl. dazu Constable 2.164 f. Zu datieren ist der Brief sehr wahrscheinlich in die Zeit, bevor das päpstliche Verurteilungsreskript in Frankreich bekannt wurde, also Ende Juni bis Ende Juli 1140. 82 Ph. Jaffé, S. Loewenfeld, Regesta pontificum Romanorum 2 (Leipzig, ed. 2, 1889) nrr. 8148 u. 8149 (letzteres ed. nach MS Charleville 67, fol. 122, von Leclercq [wie A. 50] 379). 83 Zur Differenz der Lesungen vgl. Borst (wie A. 46) 522 mit A. 1. Von dieser Frage hängt ab, ob der Papst alle Lehren Abaelards verurteilt hat oder nur die perversa dogmata.
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Daß dieses Urteil nicht das letzte Wort blieb, dafür sorgte Petrus Venerabilis, dem es offenbar gelang, Abaelard mit dem apostolischen Stuhl wieder zu versöhnen84. Vielleicht auch halfen Männer an der Kurie, die theologisch besser bewandert waren als der Papst, dabei mit, und selbst Bernhard versöhnt sich schließlich bei einer Aussprache in Cîteaux mit dem erkrankten Gegner85. Es läßt sich heute nicht einmal mehr mit Sicherheit sagen, welche Lehrsätze Abaelards denn nun von der Bischofsversammlung verurteilt worden sind86. Das Verfahren im dritten Falle, von dem nunmehr die Rede sein muß, ist schon von den Zeitgenossen immer wieder mit Abaelards Verurteilung verglichen worden87. Die Auseinandersetzungen um die Trinitätslehre des Gilbert de la Porrée sind augenscheinlich von den Erfahrungen beeinflußt, die beide Seiten in Sens gemacht hatten. Gilbert war noch als Magister der Theologie in Sens Augenzeuge des Geschehens gewesen88, bei seinem eigenen Verfahren stand wiederum der Gegenspieler Abaelards ihm gegenüber: Bernhard von 103 Clairvaux89. | 84 Vgl. Petrus Venerabilis, ep. 115 (1.303–308 Constable, hier 307): „postquam labore meo apostolicae gratiae redditus est“; vgl. auch epp. 167 f. (1.400–402). 85 Bezeugt von Petrus Venerabilis, ep. 98 (1.258 f. Constable). Vgl. dazu J.-C. Didier, „Un scrupule identique de St. Bernard à l’égard d’Abélard et de Gilbert de la Porée,“ Mélanges St. Bernard (Dijon 1954) 95–99, u. Borst (wie A. 46) 523. Ist es auf diese Aussöhnung zurückzuführen, daß sich die 19-Kapitel-Liste in der Hss.Familie der Briefcorpus-Redaktion von Clairvaux nicht bei ep. 190 findet (vgl. Leclercq [wie A. 64] 103 mit A. 1 f. u. ders., „Les formes“ [wie A. 60] 103, 105, vgl. 101 f.)? 86 Vgl. oben A. 73. Die Sicherheit, mit der die frühere Forschung und auch A. Schönmetzer, in Denz.-Sch. (wie A. 9), Vorbem. zu nrr. 721–739, Bernhards 19-Kapitel-Liste als das Ergebnis von Sens bestimmen, läßt sich nach der Neudatierung der Apologia (vgl. A. 68) nicht mehr aufrechterhalten. 87 Vgl. Otto v. Freising, Gesta 1.52 (74 v. Simson [wie A. 37]); u. Johann v. Salisbury, Hist. pont. c. 9 (19 Chibnall [wie A. 74]). 88 Vgl. Gottfried von Auxerre. Vita prima 3.5.15 (PL 185.315; ed. N. M. Häring, „The Writings against Gilbert of Poitiers by Geoffrey of Auxerre,“ Analecta cisterciensia 22 [1966] 3–83, hier 30. Der Aufsatz von Häring enthält die maßgeblichen Editionen der Schriften Gottfrieds zum Gilbert-Prozeß: die sog. Scriptura [31–35]; den Libellus contra capitula Gisleberti episcopi Pictavensis [36–69] u. die Gaufridi epistola ad Albinum cardinalem et episcopum Albanensem [69–83]. Nach dieser Ausgabe wird in Zukunft zitiert). 89 Die neuere Literatur zu dem Prozeß Gilberts ist recht umfangreich. Zusammenfassend vor allem S. Gammersbach, Gilbert von Poitiers und seine Prozesse im Urteil der Zeitgenossen (Köln-Graz 1959); die zahlreichen Arbeiten von N. M. Häring, insbes.: „Das sogenannte Glaubensbekenntnis des Reimser Konsistoriums von 1148,“ Scholastik 40 (1965) 55–90; „Notes on the Council and the Consistory of Reims, 1148,“ Med. St. 28 (1966) 39–59; vgl. auch H. C. van Elswijk, Gilbert Porreta, sa vie, son oeuvre, sa pensée (Leuven 1966) 77–124.
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Auch den Streit mit Gilbert hat Bernhard nicht von sich aus in Gang gesetzt, aber wie gegen Abaelard, so bestimmte er auch hier weitgehend den Gang der Untersuchungen. Nur der Abschluß mag diesmal noch weniger seinen Erwartungen entsprochen haben als in Sens. Gilbert war nach einem langen Gelehrtenleben um 1142 zum Bischof seiner Heimatstadt Poitiers erhoben worden90. Bei einer Synode seines Sprengels im Jahre 1146 hielt er zur Ermahnung seines Klerus eine bischöfliche Lehrpredigt, in der er auch einige Bemerkungen zur Trinität einflocht. Zwei Archidiakone der Diözese, Magister Arnald „Qui-non-ridet“ und Kalo91, stellten ihn dabei öffentlich in der Kirche zur Rede. Man konnte sich nicht einigen, und die beiden Archidiakone appellieren an die Römische Kirche. Sie machen sich auf den Weg und treffen in Siena oder in Viterbo92 auf Papst Eugen III., der sich ohnedies gerade anschickt, nach Frankreich zu gehen. Da er sich an Ort und Stelle besser informieren könne, weil in Frankreich so zahlreiche gelehrte Sachverständige zur Verfügung stünden, wolle er die Angelegenheit dort erledigen, ist sein Bescheid93. Nach ihrer Rückkehr nach Frankreich gelingt es den Archidiakonen, Bernhard von Clairvaux für ihren Fall zu interessieren, und nun versuchen sie mit Hilfe dieses Bundesgenossen, wie Otto von Freising schreibt, „Bischof Gilbert nach derselben Methode wie Peter Abaelard 90
Zur Datierung vgl. Gammersbach 16 mit A. 33 u. van Elswijk 28 f. Zu beiden vgl. bes. außer der genannten allgemeinen Literatur die Zusammenstellung der urkundlichen Bezeugungen von N. M. Häring, „Bischof Gilbert II. von Poitiers (1142–1154) und seine Erzdiakone,“ Deutsches Archiv 21 (1965) 150–172; kurz ders. (wie A. 78) 33 f. 92 Siena nennt Otto v. Freising, Gesta 1.48 (68 v. Simson [wie A. 37]); Gottfried v. Auxerre, Libellus 1.3–5, kombiniert mit 3.10 (36 bzw. 49 Häring [wie A. 88]) nennt ein eigenes Verhör Gilberts „in presentia summi pontificis Eugenii tercii et sancte Romane ecclesie“ in Viterbo, bei dem bereits Gilbert alles abgestritten habe; vgl. auch Gottfried, Epistola 2.5 (70 Häring), wo es aber nur heißt „coram prenominato Papa eadem questio ventilata,“ ohne daß eine Anwesenheit Gilberts expressis verbis behauptet ist. Otto v. Freising, Gesta 1.52 (75 v. Simson) weiß nur davon zu berichten, daß Gilbert „primo Autisiodorum, post Parisius vocatus est“ – ob ein Verhör in Auxerre stattgefunden hat, ist aus seinem Text nicht zu entnehmen. Da Johann v. Salisbury trotz seiner Kenntnis des Libellus von einem Verhör Gilberts durch ein Konsistorium in Viterbo nichts berichtet, wird die singuläre Angabe Gottfrieds nicht gerade glaubwürdiger. Eine Kontamination der verschiedenen Zeugnisse, wie sie Gammersbach (wie A. 89) 76, u. van Elswijk (wie A. 89) 103, versuchen, scheint nicht sinnvoll. 93 Dies die von Otto v. Freising, Gesta 1.48 (68 v. Simson) angegebene Motivation: „Breviter respondit se Gallias introire ibique de hoc verbo, eo quod propter litteratorum virorum copiam ibidem manentium opportuniorem examinandi facultatem haberet, plenius velle cognoscere.“ Vgl. Gottfried v. Auxerre, Libellus 1.5, Epistola 2.5 (36 u. 70 Häring [wie A. 88]). 91
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verurteilen zu lassen94.“ Allerdings scheint Bernhard sich zunächst noch nicht sehr intensiv ihrer Sache angenommen zu haben, wie die 104 Prozedur bei der | nächsten Runde der Auseinandersetzungen zeigen könnte. Die Gegner Gilberts beschränken ihre Vorbereitungen darauf, eine Liste mit Irrtümern Gilberts zusammenzustellen, von denen vier die göttliche Trinität betrafen95. Aber das weitere Verfahren konnten sie damit doch nicht hinreichend präjudizieren: Als Gilbert schliß1ich vor einem Konsistorium in Paris96 verhört wird (wahrscheinlich am 21./22.4.1147), versuchen sie ihn zunächst dadurch zu überführen, daß sie zwei Pariser Magister (Adam von Petit Pont und Hugo von Champfleurie) als Zeugen beschwören lassen, sie hätten derartige Sätze aus Gilberts Mund gehört, während Gilbert seinerseits mit eigenen Zeugen (Bischof Rotroux von Evreux und einem Magister Ivo von Chartres) den Gengenbeweis antritt97. So war also kein Fortschritt zu erzielen. Darum wurde Gilbert nun aufgefordert, seinen Kommentar zu Boethius’ Traktaten „De Trinitate“ vorzulegen, er aber berief sich darauf, daß er diesen in Paris nicht zur Hand habe. Als man schließlich eine höchst fragmentarische Handschrift bei einem Studenten fand, verstand es Gilbert geschickt, den Angriffen auszuweichen oder zu begegnen, so daß schließlich der Papst die Entscheidung noch einmal vertagte und Gilbert befahl, in der Zwischenzeit ein vollständiges Exemplar seines Buches dem Papste einzureichen98. Es ist bezeichnend, wie schlecht die Archidiakone vor-
94 Uber den Zeitpunkt des Eingreifens Bernhards vgl. vor allem Otto v. Freising, Gesta 1.48 u. 1.52 – hier das Zitat – (68 u. 74 v. Simson [wie A. 37]). 95 Nach Otto v. Freising, Gesta 1.52 (75 v. Simson) spielten die vier capitula bereits in Paris eine entscheidende Rolle, dürften also dafür auch vorbereitet worden sein. 96 Vgl. dazu vor allem N. M. Häring, „Das Pariser Konsistorium Eugens III. vom April 1147,“ Studia Gratiana 11 (Bologna 1967) 91–117. 97 Die Zeugen gegen Gilbert nennt Otto v. Freising, Gesta 1.53 (75 v. Simson [wie A. 371), die Zeugen für ihn Gottfried v. Auxerre, Epistola 2.11 (71 Häring [wie A. 88]). Zu Magister Ivo v. Chartres vgl. die Literaturangaben bei S. Kuttner und E. Rathbone, “Anglo-Norman Canonists of the 12th Century,” Traditio 7 (1949/51) 279–358, hier 288 A. 25; oder J. W. Baldwin, Masters, Princes and Merchants (Princeton 1970) 1.315, 332; 2.212 A. 5, 223 A. 156; B. Smalley, The Becket Conflict and the Schools (Oxford 1973) 24 f., 242–244; oder Häring (wie A. 78) 34. Otto v. Freising bemerkt (a.a.O.) über das Verfahren: „non sine multorum qui aderant admiratione, viros magnos et in ratione disserendi exercitatos pro argumento iuramentum afferre.“ 98 Das berichtet Gottfried von Auxerre, Libellus 1.5–8, bes. 7 f., und Epistola 2.6–12, bes. 7 (36 f. u. 70–72 Häring).
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gesorgt hatten und wie wenig sie darauf vorbereitet waren, auf Widerstand zu stoßen99. Eugen III. war gewillt, den Fall im Anschluß an die große Kirchenversammlung zu prüfen, die er schließlich nach Reims für die letzten Märztage des Jahres 1148 einberief. Das Konzil selbst100 behandelte wie üblich Fragen der kirchlichen Disziplin, verurteilte aber auch den bretonischen Adligen Eon von Stella als Ketzer, in dessen Lehre sich volkstümliche Kritik an den kirchlichen Zuständen der Bretagne, bretonische Mythologie und pathologische Verstiegenheit sonderbar mischten101. | Der Fall Gilberts ist dagegen nicht Teil der 105 Synodalverhandlungen. Erst nach Abschluß des Konzils, nachdem die meisten außerfranzösischen Bischöfe schon wieder abgereist waren, sollte das Verfahren gegen Gilbert in Gang kommen. Das päpstliche Konsistorium, das den äußeren Rahmen abgab, tagte nicht wie die große Kirchenversammlung in der Katherdrale, sondern im „cubiculum“ des erzbischöflichen Palais102. Der Papst hatte schon längere Zeit zuvor den von Gilbert eingereichten Boethius-Kommentar an den Prämonstratenserabt Gottschalk von Saint Martin (Diözese Arras)103 übergeben, der aber seine Uberprüfung offenbar darauf beschränkte, 99 Von hier aus wird wiederum die Behauptung Gottfrieds, es habe sich beim Pariser Konsistorium bereits um die „secunda interrogatio“ gehandelt (vgl. oben A. 92) höchst zweifelhaft. 100 Zu ihm vgl. J. D. Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio (Ndr. Graz 1961) 21.711–723, und die Darstellung bei K.-J. Hefele, H. Leclercq, Histoire des conciles 5.1 (Paris 1912) 823–832. Zur Vorgeschichte jetzt auch N. M. Häring, „Die spanischen Teilnehmer am Konzil von Reims im März 1148,“ Med. St. 32 (1970) 159–171. 101 Zu Eon v. Stella vgl. etwa Borst (wie A. 32) 87 f.; L. Spätling, De apostolicis (München 1947) 67 ff.; E. Werner, Pauperes Christi (Leipzig 1956) 179 ff., 187; N. Cohn, The Pursuit of the Millenium (London 1957) 38 ff.; Russell (wie A. 32) 118–124, 189 f. 102 So Otto v. Freising, Gesta 1.58 (82 v. Simson [wie A. 37]): „in cubiculum, ubi urbis episcopus cum senioribus sedit“; Johann v. Salisbury, Hist. pont. c. 11 (25 Chibnall [wie A. 74]) u. Gottfried v. Auxerre, Epistola 8.42 (76 Häring [wie A. 88]) nennen den Lokalnamen, der sich aus der besonderen Form des Gebäudes erklärt: „palatium Tau.“ Wie ein Konsistorium um jene Zeit stattfand, zeigt plastisch der Bericht der Gesta Hariulphi abbatis s. Petri Aldemborgensis (ed. E. Müller, Neues Archiv 48 [1930] 101–115, vgl. bes. 104) über ein Konsistorium 1141 in Rom vor Innozenz II.: „Tunc cancellarius . . . duxit illum ad consistorium palacii, ubi in tribunali residebat domnus papa et cardinales a dextris eius; Romanorum vero nobiliores calamistrati et sericis amicti circa vestigia eius stabant vel sedebant . . .“ Zur Geschichte des Konsistoriums vgl. K. Jordan, Die Entstehung der römischen Kurie (erstveröff. 1939, Darmstadt 1962), oder die kurze spezielle Ubersicht von J. Sydow, „Il ‚concistorium‘ dopo lo scisma del 1130,“ Revista di storia della chiesa in Italia 9 (1955) 165–176. 103 Gottfried v. Auxerre, Epistola 3.13 (72 Häring [wie A. 88]).
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zu den in Paris schon behandelten capitula104 sich auf eine „scedula,“ einen Zettel, „ex libris sanctorum catholicorum patrum auctoritates paucas manifeste contrarias105“ zu notieren. Uber das Verhör Gilberts im Konsistorium zu Reims sind wir durch unsere drei Hauptzeugen scheinbar sehr gut unterrichtet, doch ist bis heute der genaue Ablauf und die Prozedur des Verfahrens strittig, da sich unsere Quellen nicht eindeutig koordinieren lassen106. Hier sollen darum die wesentlichen Momente des Verfahrens zunächst ohne Rücksicht auf eine 106 strikte chronologische Ordnung vorgeführt werden. | Die Ankläger Gilberts befanden sich in Reims in einer anderen Lage als Abaelards Gegner auf der Synode von Sens. Papst und Kardinäle hatten sich bereits in Paris mit den Klagepunkten gegen den Bischof von Poitiers beschäftigt, ohne daß dort eine Klärung zu erzielen gewesen wäre. Es war in Reims nicht möglich, von vorneherein mit einer Liste von verurteilten Sätzen aufzuwarten, auf die man Gilbert nur noch hätte festnageln müssen. Natürlich war das Verhör in gewisser Weise vorgeprägt durch den 4-Kapitel-Katalog von Paris, aber es sollte sich bald zeigen, daß das allein Gilberts Verteidigungsmöglichkeiten nicht hinreichend einschränkte. Als Gilbert am festgesetzten Tag107 vor dem Konsistorium erschien, ließ er zuerst eine ungeheure Menge von Folianten mit patristischen 104 Der Bericht Ottos v. Freising, Gesta 1.52 (75 v. Simson) läßt eindeutig 4 capitula, die als ursprüngliche Form der späteren Liste gelten können (vgl. Häring, „Glaubensbekenntnis“ [wie A. 89] 71 ff., 86) schon in Paris verhandelt werden. Demgegenüber versucht Gottfried den Eindruck zu erwecken, als wäre die Liste der 4 capitula erst in der Debatte in Reims entstanden – das entbehrt aber der Wahrscheinlichkeit. 105 Gottfried v. Auxerre, Epistola 3.13 (72 Häring [wie A. 88]). Mehrfach hat Häring die einleuchtende These vertreten (z.B. „Notes“ [wie A. 89] 51, „Glaubensbekenntnis“ [wie A. 89] 65 f., „Writings“ [wie A. 88] 19), daß wir in Gottfrieds Scriptura eine der scedula Gottschalks verwandte Arbeit sehen dürfen. Vielleicht enthielt das Blatt Gottschalks aber auch Vorwürfe, die über die 4 capitula hinausgingen (vgl. unten A. 124). 106 Vgl. die Übersicht bei Gammersbach (wie A. 89) 80 ff. Dessen eigene Lösung allerdings, durch eine Addition der beiden Datierungen einfach eine doppelte Zusammenkunft bei Bernhard vorauszusetzen (67–71, 94 f.), entbehrt jeder Wahrscheinlichkeit, da keiner unserer Zeugen von zwei Treffen berichtet, die auch angesichts des Widerstandes im Kardinalskollegium (von dem Otto und Johann wissen) wohl nicht möglich gewesen wären. Hinzu kommt die weitgehende Identität der erzielten Ergebnisse. So mit vollem Recht schon Häring, „Glaubensbekenntnis“ (wie A. 89) 65. 107 Zur Datierung vgl. Häring, „Notes“ (wie A. 89) 46, der für die beiden Hauptverhandlungstage den 2. bis 3. April oder den 29. bis 30. März errechnet. Für den 29. März als Beginn entscheidet sich auch Gammersbach (wie A. 89) 80. Daß die Verhandlungen insgesamt nicht zwei, sondern mindestens drei Tage gedau-
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Texten von seinen clerici in den Saal schaffen108. Damit allein zeigte er, daß er sich die Art seiner Argumentation nicht von seinen Gegners vorschreiben lassen wollte. Als Abt Gottschalk dann seine vorbereitete „scedula“ hervorzog, da erweckte allein schon die Diskrepanz zwischen der ganzen Bibliothek des Porretaners und der kümmerlichen Liste Gottschalks bei den Zuschauern den Eindruck, daß die Ankläger nur abgekürzte, aus dem Zusammenhang gerissene Zitate vorzuweisen hätten, während Gilbert aus den von ihm versammelten Codices ausführliche und wohl auch ermüdende Lesungen veranstaltete109. Seine Gelehrsamkeit konnte er mit diesem Verfahren seinen Zuhörern sehr eindrücklich vor Augen führen110, zugleich verstand er es geschickt, den Anschuldigungen gegen ihn auszuweichen oder zu begegnen. Abt Gottschalk zeigte sich zudem der ihm zugedachten Aufgabe keineswegs gewachsen, er verstand es augenscheinlich nicht, Gilbert auf die vorbereitete Irrtumsliste festzulegen; deshalb übernahm bald Bernhard selbst dessen Rolle111 und versuchte, das Verhör so zu leiten, daß Gilbert sich auf die ihm vorgeworfenen Irrtümer befragen ließ. Aber auch ihm gelang es erst nach einer langen Debatte, von Gilbert ein gewisses Zugeständnis zu erhalten, das sich | zu seinen Gunsten auslegen ließ112. Bernhard sorgte sofort dafür, 107 daß diese Außerung seines Gegners protokollarisch festgehalten wurde. ert haben, ergibt sich aus den Darstellungen bei Otto v. Freising unde bei Gottfried v. Auxerre, da die Disputation über cap. 3. u. 4, die Sonderversammlung Bernhards, die Verhandlungen der Kardinäle mit dem Papst und die abschließende Sitzung kaum auf einen Tag zusammengedrängt werden dürfen. Johann v. Salisbury, der ausdrücklich nur von zwei Tagen spricht, schließt wohl auch einen längeren Ansatz nicht aus. 108 Gottfried v. Auxere, Epistola 4.18 (73 Häring [wie A. 88]), Otto v. Freising, Gesta 1.58 (82 v. Simson [wie A. 37]). 109 Gottfried v. Auxerre, Epistola 6.30 (74 f. Häring); Otto v. Freising, Gesta 1.58 (82 v. Simson): „cumque huiuscemodi sermone seu legendi prolixitate dies detineretur.“ 110 Vgl. bes. Johann v. Salisbury, Hist. Pont. c. 10 (21 Chibnall [wie A. 74]). 111 Von diesem Wechsel erfahren wir allein durch Gottfried v. Auxerre, Epistola 3.15 (Häring [wie A. 88] 72): „quia ipse nimis erat elinguis“ Bei den anderen Zeugen hat die beherrschende Figur Bernhards den Abt von St. Martin ganz verdeckt. Gottschalk scheint also nur eine kurze Nebenrolle auf der Szene gespielt zu haben. Vgl. auch das spätere (ca. 1152/53) Urteil über Gottschalk in Bernhards ep. 284 (PL 182.490B: „homo simplex et rectus et adhuc permanens in humilitate sua, non est opus ut per alium plus humilietur . . . Hanc (i.e. auctoritatem) . . . date ei vos, quia suo studio numquam habebit – utpote sui magis, quod in se est, mediocritate contentus.“ 112 Otto v. Freising, Gesta 1.58 (84 v. Simson [wie A. 37]), vgl. Gottfried v. Auxerre, Epistola 6.28 (74 Häring [wie A. 88]).
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Doch schon am nächsten Tage, bei der Verlesung dieser Niederschrift, machte Gilbert wieder differenzierende Erläuterungen, die dem Wunsch seiner Gegner auf Eindeutigkeit umso weniger entgegenkamen, als auch Bernhard sich offenbar in der Hitze des folgenden Disputs zu schwierigen Formulierungen hinreißen ließ, die Gilbert seinerseits festgehalten wissen wollte. Beide Seiten hatten die Nacht zwischen den Sitzungen nicht unbenutzt verstreichen lassen: Gilbert hatte sich mit seinen Freunden beraten und auch Kardinäle, die ihm gewogen waren, konsultiert113. Offenbar hat er aus diesen Gesprächen die Konsequenz noch größerer Vorsicht gezogen. Seine Gegner aber hatten, wie Gottfried von Auxerre nicht ohne Stolz berichtet114, aus der Reimser Bibliothek ihrerseits patristische Codices herbeischaffen lassen und warteten offenbar auch mit neuen Argumenten auf, die sie in aller Eile hatten ausfindig machen können. So ging die Debatte hin und her, und ein Ende war schwer abzusehen. Die Gegenspieler hatten sich auf ein Verfahren eingelassen, das sich von der in Sens praktizierten Prozedur, wie sich nun zeigte, sehr unvorteilhaft unterschied. Die uns vorliegenden Zeugnisse sind sich aber darin einig, daß die Erfahrungen, die man dort gemacht hatte, sehr wohl auf die gewandelten Bedingungen in Reims übertragen werden sollten. Wenn auch wegen chronologischer Widersprüche der exakte Geschehnisablauf für uns nicht mehr erkennbar ist, so steht doch unzweifelhaft fest, daß Bernhard auch in Reims eine Aktion parallel zur offiziellen Verhandlung initiierte: Auch hier versammelte er die „ecclesia Gallicana115,“ die französische Kirche, d.h. die Erzbischöfe, Bischöfe, Abte und renommierten Theologen in seinem Hospiz, um die Richtung des Verfahrens gegen Gilbert durch diese Versammlung bestimmen zu lassen. Der Augenzeuge Johannes von Salisbury schreibt eindeutig und ausdrücklich116, daß dieser Konvent bereits vor dem ersten öffentlichen Verhör im Konsistorium stattgefunden habe; Gottfried von Auxerre, der andere Augenzeuge,
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Otto v. Freising, Gesta 1.58 (83 v. Simson). Epistola 6.29 (74 Häring [wie A. 88]). 115 So genannt von Gottfried v. Auxerre, Vita prima 3.5.15; Libellus 1.11 (30 u. 37 Häring); Otto v. Freising, Gesta 1.60 (85 v. Simson [wie A. 37]). Johann v. Salisbury nennt, Hist. pont. c. 9 (20 Chibnall [wie A. 74]) exakter die Versammlung „Gallicanam et Anglicanam ecclesiam“; eine Liste der wichtigsten Teilnehmer bietet die Scriptura Gottfrieds v. Auxerre, § 25–28 (33–35 Häring), die beweist, daß einige wenige englische Prälaten teilgenommen haben. 116 Hist. pont. c. 8 (17 f. Chibnall). 114
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berichtet ebenso entschieden117, Bernhard habe zu diesem Treffen erst nach den bitteren Erfahrungen der ersten beiden Tage der Verhandlungen eingeladen. Hier kann und soll diese Differenz nicht aufgelöst werden, aber ob nun Bernhard | von vorneherein oder erst nach einem Versuch, 108 ohne diesen Vorgriff auszukommen, den Weg beschritt, der in Sens so erfolgreich gewesen war, ist letztlich auch nicht entscheidend. Jedenfalls konnte Bernhard diesmal, anders als in Sens, der Entscheidung des Papstes im Konsistorium nicht direkt vorgreifen und läßt darum von der Versammlung ein eigenes Glaubensbekenntnis billigen, das der 4-Kapitel-Liste genau entgegengesetzt war. Nach einer flammenden Rede an die Versammelten, in der er sie aufrüttelnd ihrer Verantwortung als Prälaten erinnerte, faßte er seine Auffassung in vier Glaubenssätzen zusammen, die sein Sekretär, Gottfried von Auxerre, wie berichtet wird, sofort mitgeschrieben habe. Jeden einzelnen Satz habe Gottfried dabei dann jeweils noch einmal verlesen und anschließend die Versammlung gefragt: „Placet vobis?“ Der von den Versammelten gegebene Konsens sei dann gleichfalls mit einem „Placet“ schriftlich festgehalten worden118. Allerdings gelang es Bernhard mit diesem Verfahren, das von dem Berichterstatter ausdrücklich mit der Promulgationsprozedur für Dekrete und Gesetze verglichen wird, doch nicht, in allen Punkten eine vollständige Einmütigkeit zu erzielen. Ein mutiger Magister, Robert de Bosco, damals Archidiakon von Chalons-sur-Marne119, wandte sich gegen eine bestimmte Formulierung im letzten Punkt des vorgetragenen Credos mit dem Hinweis, sehr bekannte Theologen der Zeit (Anselm und Radulf von Laon, Gilbertus Universalis, Alberich von Reims und Gilbert Crispin) hätten sich nicht so weit vorgewagt. Auch einen Hinweis auf die Präsenz 117 Libellus 1.11, Epistola 7.35 (37 u. 75 Häring; vgl. auch den ganzen Bericht Epistola 7.35–8.43). Wie Gottfried, so datiert auch Otto v. Freising das Treffen mitten in die Verhandlungen: Gesta 1.58 (84 f. v. Simson). 118 Das Verfahren schildert ausführlich Johann v. Salisbury (wie A. 116); vgl. den oben, A. 74, zitierten Bericht Berengars über die Prozedur in Sens. 119 Seine Teilnahme an der Verhandlung ist außer durch Johann von Salisbury auch bezeugt durch Gottfrieds Scriptura § 28 (35 Häring [wie A. 88]) und durch eine Quästion aus dem Kreis des Petrus Cantor, vgl. Petrus Cantor, Summa de sacramentis et animae consiliis, ed. J. Dugauquillier 3.1 (Louvain-Lille 1961) 315 f. u. 445 f. Auch hier spricht Robert eine energische Sprache: „in Remensi concilio dixit Magister Robertus de Bosco, archidiaconus Catalaunensis, quod ipse sedeat (? sederat?) ad pedes Magistri Asellini (d.i. Anselm v. Laon) per septennium et multos alios litteratissimos theologos audivit et prius permitteret sibi amputari linguam quam ipse concederet Deum esse relationem vel naturam esse proprietatem.“
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des Papstes und der „römischen Kirche“ unterließ er nicht. Daraufhin wurde dieser Satz in der vorgelegten Form offenbar nicht aufrechterhalten, und die Versammlung löste sich auf. Dem Papst wurde das Glaubensbekenntnis offenbar in leicht überarbeiteter Form sofort durch drei Beauftragte120 übermittelt. Aber wenn Bernhard und seine Freunde geglaubt haben mochten, damit eine Entscheidung zu erzwingen, so hatten sie nicht mit dem Kardinalskollegium gerechnet. Die Kardinäle waren über dieses Vorgehen empört, zumal sie die Analogie zum Verfahren gegen Peter Abaelard wohl erkannten: Mit einem ähnlichen Verfahrenstrick sei dieser in Sens überwunden worden; während Abaelard aber nicht die Hilfe des apostolischen Stuhls erfahren habe, wollten sie diesmal derartige 109 Machenschaften zunichte machen121. Die Ein | sicht, daß damit der Entscheidungskompetenz ihres Gremiums vorgegriffen wurde, konnte ihr altes Mißtrauen gegen Bernhard offenbar nur bestärken122. Sie warfen diesem vor, er wolle durch die Festlegung des französischen und englischen Episkopats auf sein antigilbertinisches Symbol den apostolischen Stuhl unter Druck setzen, damit aus Furcht vor einem Schisma die Entscheidung ganz in Bernhards Sinne falle, zumal die päpstliche Kurie zu jener Zeit in Frankreich ohnedies schon auf Kooperation angewiesen sei. Bernhard versuchte seinerseits, den Papst in einer eigenen Unterredung auf seine Seite zu ziehen, indem er ihm sein Credo erläuterte und ihn zum „Gleichschritt123“ in der geplanten Prozedur zu
120 Nach Gottfried v. Auxerre, Epistola 8.39 (76 Häring [wie A. 88]) waren das der Zisterzienser und Bischof von Auxerre, Hugo, der Prämonstratenser und Bischof von Morinie-Thérouanne, Milo, und Abt Suger v. St. Denis. Bernhard wollte dem Papst offenbar die Einigkeit der sonst so oft zerstrittenen monastischen Richtungen in diesem Punkte demonstrieren. 121 Johann v. Salisbury, Hist. pont. c. 9 (19 Chibnall [wie A. 74]): „dicentes quod abbas arte simili magistrum Petrum aggressus erat; sed ille sedis apostolice non habuerat copiam, que consuevit machinationes huiusmodi reprobare.“ 122 Vgl. auch die Rede, die Otto v. Freising den Kardinälen in den Mund legt: Gesta 1.60 (85 f. v. Simson [wie A. 37]). Dazu vgl. etwa F. J. Schmale, „Papsttum und Kurie,“ zuletzt in: Probleme des 12. Jahrhunderts, Vorträge und Forschungen 12 (Konstanz 1968) 13–31, hier 29 f. Auch die Darstellung Gottfrieds v. Auxerre atmet das Mißtrauen zwischen Bernhard und den Kardinälen, wenn hier auch der Widerstand des Kollegiums auf den Ablauf der Ereignisse keine Wirkung ausübt, da sich nach Gottfrieds Darstellung der Papst völlig dem Willen Bernhards gebeugt hätte. 123 So ausdrücklich („eisdem passibus“) Johann v. Salisbury, Hist. pont. c. 9 (20 Chibnall [wie A. 74]). Nach Gottfried wäre dies Programm Wirklichkeit geworden, vgl. Epistola 8.41 (Häring [wie A. 88] 76).
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überreden versuchte. Aber auch dem Papste selbst gegenüber beharrten die Kardinäle auf ihrem Standpunkt, daß das bernhardinische Glaubensbekenntnis ihr Kollegium nicht binden könne und konnten durchsetzen, daß jenes Symbol nicht als offizielle Lehrdeklaration verwandt werden durfte. Ob nun diese Streitigkeiten den Gang der Verhandlungen im Konsistorium unterbrochen hatten oder schon vor deren Beginn das geplante Verhör Gilberts zu einer Glaubensdisputation umgestalteten, die Fortsetzung der Debatte im Konsistorium jedenfalls zeigt ebensowenig wie die beiden ersten Verhandlungstage einen entscheidenden Einfluß des bernhardinischen Credos auf den Gang der Erörterungen. Als der Papst schließlich – vielleicht, weil auf dem bisherigen Wege nicht zu handgreiflichen Resultaten zu gelangen war – die Basis der bisherigen Debatten erweiterte, und – wohl auf Veranlassung der Gegner Gilberts – aus einer angeblich Gilbert zugehörenden Schrift Zitate verlesen ließ124, da bezeichnete Gilbert dieses Buch als eine schlechte Schülerarbeit, für die er jede Verantwortung ablehnen müsse und die er ebenso verdamme wie seine Gegner. So hatte das Konsistorium die Gelegenheit, wenigstens eine greifbare und klare Entscheidung zu fällen: Mit Billigung aller | Beteiligten 110 wurde die vorgelegte anonyme Schrift öffentlich verurteilt und in Stücke gerissen125. In Gilberts Angelegenheit dagegen wurde kein eindeutiges Urteil gefällt. Gilbert machte darauf aufmerksam, daß er seit Jahren öffentlich gelehrt und eine lange Reihe von Schriften publiziert habe. Was 124 Vielleicht enthielt auch bereits die scedula Gottschalks zumindest einen Hinweis auf diese Schrift, denn Otto v. Freising, Gesta 1.52 (75 v. Simson), kennt schon für das Pariser Konsistorium zwei Vorwürfe, die sich in dieser Schrift gefunden haben könnten. Ob die Sententiae divinitatis, ed. B. Geyer (Münster 1909, ed. 2, 1967), wie Geyer 1909 vermutet hat (vgl. ibid. 48–53), mit dem in Reims zerrissenen Werk identisch sind, ist wohl nicht zu klären. Vgl. zu dieser Frage etwa Gammersbach (wie A. 89) 101 f.; van Elswijk (wie A. 89) 116 f. B. Geyer, „Neues und Altes zu den ‚Sententiae divinitatis,‘“ Mélanges Joseph de Ghellinck 2 (Gembloux 1951) 617–630, hier 621 f., hat selbst seine Haltung dahingehend präzisiert, daß die Sent. div. der in Reims vernichteten Schrift zumindest sehr ähnlich seien. 125 Diese Szene schildert besonders anschaulich Johann v. Salisbury, Hist. pont. c. 10 (21–23 Chibnall [wie A. 74]). Daß der Papst selbst diese Vorwürfe in die Debatte warf, spricht – selbst wenn man Johanns Chronologie nicht folgen möchte – dafür, daß diese Episode wirklich in die Schlußphase der Verhandlungen gehört. Auch daß Eugen ausdrücklich den umstehenden Laien (vgl. oben A. 102) in französischer Sprache erklärt, diese Verurteilung treffe nicht den Bischof von Poitiers, deutet in diese Richtung. Gottfried v. Auxerre, Epistola 9.44 (76 Häring [wie A. 88]), spielt die ganze Szene offenbar bewußt herunter und ordnet sie nicht chronologisch ein.
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darin irrtümlich sei, wolle er gerne verbessern, er sei kein Häretiker und jede Hartnäckigkeit sei ihm fern. Der Papst, auf einen Ausgleich mit Bernhard und dem französischen Episkopat bedacht, scheint ihm daraufhin auferlegt zu haben, Korrekturen in seinen Schriften im Sinne des von Bernhard vorgelegten Credos anzubringen, allerdings wurde dieses Symbol weder zu einem offiziellen Dokument erhoben, noch wurden die Irrtümer, die man Gilbert vorgehalten hatte, verurteilt126. So ging gerade dieses Verfahren, das mit dem höchsten Aufwand geführt worden war, mit dem am wenigsten befriedigenden Ergebnis zuende. Wenn Gilbert sich auch mit seinen Archidiakonen sofort nach dem Abschluß des Konsistorium aussöhnte, mit Bernhard kam es zu keiner Einigung mehr, obwohl dieser ein versöhnliches Gespräch angeregt hatte. Mit schneidender Schärfe bringt Gilbert seinen Gegensatz zu Bernhard zur Geltung, wenn er ihm antworten läßt, Bernhard solle doch erst den Elementarunterricht auf der Schulbank nachholen und sich mit den artes liberales beschäftigen127. Er selbst änderte nichts an seinen Texten, vielmehr setzte er dem BoethiusKommentar nur eine weitere Vorrede voraus128, in der er in scharfem Ton mit seinen Gegnern abrechnete. Bernhard dagegen ist an beiden Stellen, an denen er auf Gilberts Prozeß später noch Bezug nimmt, merkwürdig zurückhaltend129. Er hat es auch vermieden, sich noch einmal in theologische Streitigkeiten hineinziehen zu lassen. Versuchen wir ein Resumee aus dieser Darstellung der Verfahren gegen Theologen in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, so fällt bei aller Verschiedenheit im einzelnen doch manche Gemeinsam111 keit auf: | Alle drei hier behandelten Prozesse setzen bei theologischen Problemen an, die in den Schulen behandelt, diskutiert und in Schriften traktiert wurden. Wir wissen aus zahlreichen Briefen und anderen 126 So lassen sich wohl die widersprüchlichen Angaben unserer Zeugen zusammenfassen. Vgl. Gammersbach (wie A. 89) 102 f., van Elswijk (wie A. 89) 120–124. 127 Johann v. Salisbury, Hist. pont. c. 12 (126 Chibnall); vgl. auch oben A. 85. 128 Vgl. Gisleberti Pictaviensis episcopi Expositio in Boecii librum primum de Trinitate, Prologus primus (bes. § 14–16), ed. N. M. Häring, The Commentaries on Boethius by Gilbert of Poitiers, (Toronto 1966) 53–56, bes. 56 (vorher ed. Häring in: Nine Medieval Thinkers [Toronto 1955] 32–34, Nr. 5–7). 129 Vgl. Bernhard, Sermo super Cantica 80. IV. 6–9, edd. Leclercq, et al. (wie A. 58), 281–283, u. Bernhard, De consideratione V. 6. 13–7. 17, edd. J. Leclercq, H. M. Rochais in: S. Bernardi Opera 3 (Rom 1963) 477–81. Auf die erste Stelle bezieht sich Gottfried v. Auxerre, Libellus 12.66 (80 Häring [wie A. 88]).
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Zeugnissen der Zeit, wie schnell die Theologen bei der Hand waren, ihrem jeweiligen Gegner häretische Konsequenzen oder Implikationen vor Augen zu führen. Auch Abaelard selbst z.B. hat in seiner „Theologia“ mit Entschiedenheit die Trinitätslehren etwa eines Alberich von Reims oder eines Gilbertus Universalis angegriffen130. Nur relativ selten kommt es indessen zur Einschaltung der kirchlichen Jurisdiktion, die ihrerseits auch stets in diesen diffizilen Fragen auf das Urteil der Sachverständigen angewiesen bleibt. In Soissons treten nach Abaelards Bericht seine Gegner Alberich und Lotulf als engste Mitarbeiter des Erzbischofs von Reims auf den Plan, an Bernhards Sonderversammlung in Reims nehmen auch die „magistri“ aktiv teil. In Sens waren sie, der ursprünglichen Absicht Abaelards entsprechend, ohnedies zugegen, wenn es auch Bernhard verstand, dem Verfahren eine andere Wendung zu geben. Das Ergebnis der Verfahren zeigt in allen drei Fällen darüberhinaus deutlich, wie unsicher man sich noch fühlte. Auch ein zweites Moment ändert an dieser grundsätzlichen Lage nichts. In allen drei Verfahren spielt die römische Kirche eine wichtige, oder sogar entscheidende Rolle. Die synodale Entscheidung, die noch im 11. Jahrhundert alle Schritte gegen Berengar bestimmt hatte, gelangt ausschließlich noch in Soissons zu voller Geltung, wenn auch selbst in diesem Fall der päpstliche Legat durch seinen Vorsitz auf der Synode und – nach Abaelards Bericht – auch durch seine Entschlüsse über das Procedere das Verfahren gegen Abaelard und dessen Ausgang zum nicht geringen Teil zu verantworten hatte. Die Entscheidung der Synode von Sens wird durch die Appellation Abaelards nach Rom zunächst suspendiert, und in Reims ist das Gremium, in dem schließlich das Verfahren abgeschlossen wird, das öffentliche Konsistorium des Papstes131.
130 Besonders bezeichnend in Theologia christiana 4.76–81 (OT 2.301–303 [wie A. 42]), wo sechs magistri der Häresie geziehen werden: Ulger von Angers, Alberich von Reims, Joscelin von Soissons, Bernhard und Thierry von Chartres und Gilbertus Universalis. Die von allen Seiten erhobenen Häresievorwürfe im 12. Jahrhundert wären einer eigenen Untersuchung wert. Vgl. vorläufig H. Grundmann, „Oportet et haereses esse,“ Archiv f. Kulturgesch. 45 (1963) 129–164, hier 156–158. 131 Allerdings handelte es sich bei Gilbert um einen Bischof. Das mag die Wahl dieses Gremiums bestimmt haben, wie Sydow, „Il ‚concistorium‘“ (wie A. 102) 175 mit A. 87 vermutet. Weitere Belege aus etwas früherer Zeit bei J. Sydow, „Untersuchungen zur kurialen Verwaltungsgeschichte im Zeitalter des Reformpapsttums,“ Deutsches Archiv 11 (1954/1955) 18–73, hier 65 f. mit A. 318.
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Diese Entwicklung spiegelt die allgemeine Tendenz des 12. Jahrhunderts auch auf diesem Felde deutlich wider. Im 11. Jahrhundert war mit dem Reformpapsttum und mit dem Investiturstreit der alte Primatialanspruch des römischen Bischofs vor allem auf jurisdiktionellem Gebiet für die ganze westliche Christenheit durchgesetzt worden. Der „Dictatus papae“ Gregors VII132. liest sich wie ein programmati112 scher | Kommentar zu diesem Prozeß. Nachdem dann die römische Kirche im Zuge der sog. gregorianischen Reform diesen Anspruch in zahllosen Rechtsverfahren erfolgreich zur Geltung gebracht hatte, bot sich in der Verbindung des älteren Gedankens eines Vorrangs der „ecclesia Romana“ mit dem neuen Institut des römischen Jurisdiktionsprimats eine einheitliche Entscheidungskompetenz an, die wenigstens theoretisch die neuen Phänomene des wissenschaftlichen Schulbetriebs in den Griff zu bekommen versprach. Das 12. Jahrhundert hat diesen Ausweg noch nicht in systematischer Begründung und ausdrücklich ergriffen, sondern nur dadurch angezielt, daß faktisch der apostolische Stuhl an den Entscheidungen beteiligt wurde, weil sich die von den Verfahren Betroffenen oder ihre Gegner – aus durchaus unterschiedlichen Motiven – nach Rom wandten. Damit war noch längst nicht der Gedanke einer päpstlichen Unfehlbarkeit vorweggenommen oder angedeutet, der denn auch erst am Ende des 13. und am Anfang des 14. Jahrhunderts seine Ausprägung erfuhr133. Vielmehr verhielt sich die römische Kurie bei allen hier behandelten Verfahren des 12. Jahrhunderts rein reaktiv, sie zeigt sich nicht in der Lage, selbständig und gestaltend in die wissenschaftliche Diskussion einzugreifen134. Später wird sie es besser lernen, ihren lehramtlichen Entscheidungen Anerkennung zu verschaffen. Ein ausgeklügeltes Verfahren, das sich der Irrtumslisten 132 Caspar, Das Register (wie A. 12) 201–208 Nr. II. 55a. Die wissenschaftliche Diskussion um Entstehung und Charakter dieses Dokuments ist hier nicht aufzunehmen, vgl. zuletzt die ausführlichen Literaturangaben von H. Mordek, „‚Proprie auctoritates apostolice sedis.‘ Ein zweiter ‚Dictatus papae’ Gregors VII.?“ Deutsches Archiv 18 (1972) 105–132, hier 105 ff., 114 ff. 133 Vgl. dazu zuletzt zusammenfassend in einem wichtigen Buch B. Tierney, Origins of Papal Infallibility, 1150–1350, A Study on the Concepts of Infallibility, Sovereignty and Tradition in the Middle Ages (Leiden 1972), wo allerdings die Theologenverfahren als Teilaspekt des Problems gänzlich unterbelichtet bleiben. 134 Das gilt nicht nur in dem selbstverständlichen Sinn, daß die Initiative bei der Ingangsetzung der Verfahren nicht bei ihr lag (das wird sich auch später nicht ändern). In der hier behandelten ersten Phase bleibt auch die Prozedur selbst noch in hohem Grade abhängig von den Aktionen der Beteiligten und ist gerade deshalb noch so plastisch und variabel.
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als eines prozeduralen Angelpunktes bedient, und das in aller Regel ohne jegliche synodale Beteiligung, wenn auch nicht ohne das Konsistorium auskommt, wird allerdings erst im 14. Jahrhundert erreicht werden135. Wieweit die Erfahrungen aus den Prozessen, die hier behandelt wurden, später noch bestimmend gewesen sein mögen, läßt sich nur schwer exakt ausmachen. Die relativ breite Überlieferung der im Zusammenhang mit Sens entstandenen Irrtums | listen136 ist dabei nicht 113 unbedingt ein stichhaltiges Kriterium, da sie in aller Regel dem Interesse an Bernhards Briefcorpus oder doch an Teilen von ihm zu verdanken ist. Die „Kapitel“ und das sog. „Glaubensbekenntnis“ von Reims dagegen haben in ihrer nichtchronikalischen selbständigen Überlieferung einen recht deutlichen Schwerpunkt im 12. Jahrhundert und im monastischen Bereich137. Lassen sich schon aus der direkten Überlieferung der Texte keine eindeutigen Anhaltspunkte gewinnen, so kann man auch von einer 135 Zu den Verfahren des 14. Jahrhunderts vgl. vor allem den zusammenfassenden Aufsatz von Koch, „Irrtumslisten“ (wie A. 1), und seine zahlreichen Einzelstudien zu den einzelnen Prozessen. Selbst die großen Verurteilungen des 13. Jhs. (Paris 1270/1277, Oxford 1277/1284) werden dagegen noch von den Bischöfen verantwortet. 136 Von der 19-Kapitel-Liste gegen Abaelard sind 32 MSS. bekannt (meist im Zusammenhang mit Bernhards Briefcorpus), davon sind neun dem XII. Jh., drei dem XII./XIII. Jh., neun dem XIII. Jh., zwei dem XIII./XIV. Jh., zwei dem XIV. JH. und sieben dem XV. und XVI. Jh. zuzuschreiben (vgl. Leclercq, „Les formes“ [wie A. 60], hier 101 f.). Eines dieser MSS (MS Durham, Cath. Libr., 13. III. 7 [XIII s. ex.]) enthält die leicht abgewandelte Liste in interessanter Kombination: In einer Appendix de recentioribus haereticis steht diese nach einem Auszug aus Guibert de Nogent, De vita sua (3.17 [vgl. oben A. 32]) und vor einem Text, der mit „errores Gilleberti Pictaviensis Episcopi in Remensi concilio dampnati sub papa Eugenio III., quibus additur Fides Remensis concilii ab abbate Claravallense Bernardo dictata“ überschrieben ist. Vgl. J. Leclercq, „Notes abélardiennes,“ Bulletin de philosophie médiévale 13 (1971) 68–71, hier 68 § 1; leider läßt sich nach Leclercqs Angaben keine eindeutige Zuordnung dieses Durham Textes zu einer der drei von Häring, „Glaubensbekenntnis“ (wie A. 89) erarbeiteten Textklassen vornehmen, wahrscheinlich aber handelt es sich, ähnlich wie bei dem von Häring, „Texts“ (wie A. 137) 170, genannten MS des XIII. Jhs. um Textform B. Die Uberlieferung der 14 Capitula heresum ist mit zwei MSS aus dem XII./XIII. Jh., drei MSS aus dem XIII. Jh., einem MS aus dem XIII./XIV., zwei MSS aus dem XIV. Jh. und einem MS aus dem XV. Jh. nicht so breit, zeigt aber eine analoge zeitliche Verteilung. Hier zeigt sich nur noch stärker, daß im 13. und 14. Jh. ein überraschend starkes Interesse an dem Text zu beobachten ist. 137 Vgl. die Angaben bei Häring, „Glaubensbekenntnis“ (wie A. 89) der eine traditionsgeschichtliche Ubersicht über die Uberlieferung gibt. Zusätzliche Manuskripte nennt N. M. Häring, “Texts concerning Gilbert of Poitiers,” AHDL a. 45 (1970) 169–203, hier 170 f. Ein interessantes Beispiel zur Benutzung Gilberts gibt N. M. Häring, “Simon of Tournai and Gilbert of Poitiers,” Med. St. 27 (1965) 325–330.
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unmittelbaren Wirkung der Verfahren auf die geistesgeschichtliche Entwicklung des 12. Jahrhunderts nur unter größten Vorbehalten sprechen. Abaelards Prozeß hat den Geltungsbereich seiner Schriften nicht einmal im Raum des Zisterzienserordens wesentlich eingeschränkt. Einige seiner Lehren, die Bernhards Kritik hervorgerufen hatten, lassen sich noch lange in den theologischen Auseinandersetzungen der folgenden Diskussion nachweisen. Eine neuere Untersuchung über den „Einfluß von Abaelards Denken in der Frühscholastik“ macht Bernhards Liste geradezu zu einem Leitfaden, anhand dessen sie Abaelards Wirkung auf Männer wie Robert von Melun, Richard von Saint Viktor oder Petrus Lombardus konkret bestimmen will, ohne doch in den Debatten der „magistri“ ausdrückliche Bezugnahmen auf die Ereignisse von 1140 nachweisen zu können138. Der Prozeß gegen Gilbert schließlich hat die Wirksamkeit von dessen Theologie eher noch verstärkt, wie allein die Schriften der sog. „Kleinen Porretaner-Schule“ bezeugen können. Adhemar von Saint 114 Ruf etwa, oder der Verfasser des Traktats „De | vera philosophia,“ oder Hugo von Honau und Hugo Etherianus führen im letzten Drittel des 12. Jahrhunderts gewissermaßen eine Gilbert-Renaissance herauf, indem sie mit ausführlichen Florilegien aus der Patristik, insbesondere aus der ostkirchlichen Tradition, sowie mit eigenen Traktaten die Berechtigung der Gilbertschen Position in der Trinitätslehre erneut zu begründen versuchen139. Die Beobachtung der praktischen Folgenlosigkeit und der geringen unmittelbaren Wirkungen unserer Prozesse sollte aber ihre allgemeine geschichtliche Bedeutung nicht verdecken. Die Verfahren
138 Luscombe (wie A. 46), der durchgängig die Irrtumsliste als methodischen Schlüssel zu Abaelards Sonderlehren benutzt; hier sind 99 A. 1 auch Abaelard-MSS aus Zisterzienserklöstern aufgeführt; vgl. Häring (wie A. 39) 238 A. 4, wo auf eine weitere zisterziensische Hs. aus Baumgarten, XIII. s., heute Wien, Nat. Bibl. 777, aufmerksam gemacht wird, die Abaelards Kommentar zum ps.-Athanasianum enthält. Für Gilbert fehlt noch eine Untersuchung über die regionale Verteilung der Manuskripte. Für den österreichischen Raum vgl. vor allem P. Classen, „Zur Geschichte der Frühscholastik in Osterreich und Bayern,“ Mitteilungen des Instituts für österreich. Geschichtsforschung 67 (1959) 249–277. 139 Zur „kleinen Porretaner-Schule“ vgl. etwa die Ubersicht von A. Dondaine, Ecrits de la „petite école“ Porrétaine (Montréal-Paris 1962). Die Edition der Texte ist insbesondere N. M. Häring zu danken, der sich in mehreren Aufsätzen mit diesen Schriften beschäftigt hat, vgl. in: Med. St. 24 (1962) 1–34; AHDL a. 37 (1962) 103–216; Scholastik 38 (1963) 402–420; AHDL a. 39 (1964) 111–206; Med. St. 28 (1966) 336–346; Theologie u. Philosophie 41 (1966) 30–53; AHDL a. 42 (1967) 129–253, a. 43 (1968) 211–295; außerdem vgl. auch ders., „Texts“ (wie A. 137) passim.
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machen auf eine Schwierigkeit der Zeit aufmerksam, die man mit den überkommenen Mitteln des synodalen Häresieprozesses nicht zu lösen vermochte. In den theologischen „magistri“ der Schulen hatte man nicht hartnäckige Leugner einer Glaubenswahrheit vor sich, die sich, wie die gleichzeitigen Häupter der volkstümlichen sozialreligiösen Bewegungen, sektenbildend und damit die Kirche existenziell bedrohend betätigten, sondern Männer, die sich mit Hilfe der Wissenschaft ihrer Zeit, der spekulativen Grammatik und der eng mit ihr verwandten Dialektik, die überlieferten Aussagen der Kirchenlehre und der Väter wirklich zu eigen zu machen versuchten140. Die von ihnen auf diesem Wege gefundenen Lösungen wollten sie zwar entschieden und, wenn es sein mußte, auch hart verteidigen, sie zeigten sich aber nicht bereit, in jedem einzelnen Fall ihre Erkenntnisse zu einer persönlichen Existenzfrage zu machen. Die neuen Möglichkeiten, die ihnen die Entfaltung der „artes“ gab, spielten sie gewissermaßen auch auf dem Felde der Theologie methodisch durch. Und hierin sahen Männer wie Bernhard von Clairvaux und seine Freunde die eigentliche Gefahr. Bernhard hielt sowohl Abaelard wie auch | 115 Gilbert vor, sie böten ihren Schülern nur „gestohlene Wasser und heimliches Brot“ („aquas furtivas et panes absconditos,“ cf. Prov. 9.17), also verbotene Speise, und warnt sie mit den Worten des Apostels vor den „profanen Neuredereien“ („prophanas vocum novitates,“ 1 Tim. 6.20)141. Er, der in seinen politischen Aktivitäten vor
140 Vgl. dazu insbes. Gilberts Expositio prol. (54 f. Häring [wie A. 128] § 8, 1. 41–48): Sed cum duo sint videntium genera – unum scilicet auctorum, qui sententiam propriam ferunt, alterum lectorum, qui referunt alienam – cumque lectorum alii sint recitatores, qui eadem auctorum verba et ex ipsorum causis eisdem pronuntiant, alii interpretes, qui obscure ab auctoribus dicta nocioribus verbis declarant, nos – in genere lectorum, non recitatorum, sed interpretum officio facientes – verborum transpositiones in ordinem, scemata in consequentiam, novitates in regulam, addentes singulorum causas, reducimus. (Diesen Text hat schon M. Grabmann, Geschichte der scholastischen Methode 2 [Freiburg i.B. 1911], 418 nota und 15 A. 2 zur Charakteristik Gilberts zitiert). Zu Abaelard vgl. die analogen Texte in der Zusammenstellung bei Jolivet (wie A. 29) 183 ff. 141 Z. B. Bernhard, ep. 332 (PL 182.537 C), wo gegen Abaelard beide Vorwürfe in einem Atemzug erhoben werden. Vgl. auch Bernhard (PL 182.1031). Gegen Gilbert gebraucht Gottfried – ganz in Bernhards Sinn – beide Stellen: Vita prima 3.5.15; Libellus 1.2 f. (30 u. 36 Häring [wie A. 88]); auf Prov. 9.17 wird er – in Verbindung diesmal mit „blasfemas novitates“ – noch am Ende seines Lebens gegen Joachim von Fiore anspielen, vgl. seine Predigt im MS Troyes 503, f01. 126v, ed. z.B. H. Grundmann, „Zur Biographie Joachims von Fiore und Rainers von Ponza,“ Deutsches Archiv 16 (1960) 437–546, hier 545 f., 546 Z. 13 ff. Vgl. dazu Grundmanns Kommentar 515 ff., 518, 520 f; vgl. außerdem etwa Bernhard, epp. 189, 192, 330
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Neuerungen nicht zurückscheut, will die lebendige Frömmigkeit vor der Kälte einer bloßen Begriffsspielerei bewahren. Daß er in der Wahl seiner Mittel nicht gerade zurückhaltend oder traditionell verhaftet ist, beweist er aber auch auf dem Feld der religiösen Auseinandersetzung. In Sens entwickelt er konsequent eine Methode, die es ihm erlaubt, die gefährliche Diskussion mit dem dialektisch gewandten Schultheologen zu vermeiden, ohne auf die Mitwirkung von Fachleuten, die immer dringender nötig wird, verzichten zu müssen. Seine Lösung, die überkommenen Ketzerkataloge sozusagen in Gestalt mehr oder minder langer Irrtumslisten zu applizieren und nicht mehr die Schriften selbst, sondern nur noch diese Listen zum Gegenstand des Verfahrens zu machen, sollte sich jedenfalls als zukunftsträchtig erweisen. Sie ist das eigentlich Neue an den behandelten Verfahren gegenüber dem synodalen Häresieprozeß, auch wenn sich in Reims angesichts der besonderen Umstände noch einmal eine Mischform zeigt, die die ältere Form des Glaubensbekenntnisses zu aktualisieren versuchte. Der Fortschritt in der Prozedur läßt sich gleichwohl gegenüber Soissons und gegenüber dem Verfahren des 11. Jahrunderts gegen Berengar auch in Reims nicht verkennen. Hier ist nicht der Frage nachzugehen, inwiefern sich die Formalisierung und auch Schematisierung des Häresieverfahrens gegen Theologen in jenen allgemeinen Zug zur Formalisierung und Verrechtlichung von Kirchen- und Glaubensbegriff, und damit der Häresieauffassung,
(PL 182.355 A, 1063 B, 358 C, 535 C); Wilhelm von St. Thierry, in Bernhard, ep. 326 (ed. Leclercq [wie A. 50] 383, 10 ff; PL 182.531 B/C), Disputatio adv. Abael. c. 3 u. 4 (PL 180.255 C, 257 B, 264 A) und Contra errores Guil. de Conchis (PL 180.333 A); Otto von Freising, Gesta 1.54 (75 v. Simson [wie A. 37]); Johann v. Salisbury, Hist. pont. c. 8 (15 Chibnall [wie A. 74]), wo wenigstens die „novitas“ als Angriffspunkt auftaucht. Auch Gerhoch von Reichersberg benutzt 1 Tim. 6.20, sehr häufig gegen seine Gegner, vgl. nur Classen (wie A. 31) 85, 169, 388 (R. 128). Der benediktinische Exeget Hervaeus v. Bourg-Dieu (gest. ca. 1150) bezieht in seinem Paulinen-Kommentar diese Stelle ebenfalls auf die Haeretiker (Comm. in epp. Pauli ad 1 Tim. 6, PL 181.1449 A). Natürlich gebraucht auch Abaelard selbst diese Waffe, vgl. z.B. Theologia Christiana 3.14 u. 4.41 (OT 2.201, 180 ff. u. 283, 606 ff.). Gegen den Vorwurf aus Prov. 9.17 wehrt er sich in seiner Confessio fidei ‚Universis,‘ prooem. (PL 178.105 f. B). Zu dem Vorwurf im 12. Jh. allgemein vgl. insbes. Chenu (wie A. 28) 346 f., 393 f. Im 13. Jh. ist er immer noch häufig, vgl. nur z.B. die Briefe Honorius’ III. (23.1.1225) und Gregors IX. (7.7.1228) an die Pariser Universität, in H. Deniffle – Ae. Chatelain (edd.), Chartularium Universitatis Parisiensis I (Paris 1889) 107 nr. 50 u. 114 f. nr. 59 (Aus dem letzten Brief zitiert diesen Vorwurf noch Pius X. in seiner Enzyklika von 1907 gegen die Modernisteni) Gegen Thomas v. Aquin gewendet braucht ihn etwa John Peckham, Registrum epistolarum, ed. C. T. Martin (London 1882) 3.901 nr. 645.
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einordnet, die das 12. und 13. Jahrhundert beherrschen sollte. Ebensowenig braucht hier auf die indirekten Auswirkungen der neuen kirchlichen | Praxis auf den Wissenschaftsbetrieb der werdenden Uni- 116 versität eingegangen zu werden, was durch eine Analyse der Institute der „licencia docendi“ und der Disputationsfreiheit sinnvoll geschehen könnte. Gewiß sind die hier behandelten Verfahren für alle diese Entwicklungen nicht selber ursächlich bestimmend geworden, sie können aber zumindest als Indikatoren der sich im Bereich der westlichen Kirche im 12. Jahrhundert anbahnenden Veränderungen genommen werden und verdienen darum unsere besondere Aufmerksamkeit.
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KAPITEL 12
PAPST, ORTSBISCHOF UND UNIVERSITÄT IN DEN PARISER THEOLOGENPROZESSEN DES 13. JAHRHUNDERTS
Josef Koch, auf dessen Initiative die Kölner Mediävistentage zurückgehen, hat durch seine grundlegenden Arbeiten zu den Theologenprozessen am Ende des 13. und am Beginn des 14. Jhds.1 den Historikern demonstriert, daß in den Lehrzuchtverfahren der mittelalterlichen Kirche nicht nur die Probleme des je einzelnen Falles, die sachlichen Streitfragen und persönlichen Momente, Interesse verdienen, sondern daß in diesen Verfahren, wenn man sie in ihrem Zusammenhang sieht, auch allgemeinere Entwicklungen in Kirche und Theologie ablesbar werden. Der Zusammenhang der Prozesse untereinander aber kann, wenn nicht geistesgeschichtliche oder andere Spekulation die Feder führen soll, allein im Ausgang von der formalen Seite der Verfahren her in den Blick kommen. Koch selbst hat 1930 in der Festschrift für Mandonnet in einem programmatischen Aufsatz schon die Verfahrensprozedur ins Auge gefaßt, als er die Gattung der Irrtumsliste als wesentliches Verfahrensmoment seines Beobachtungszeitraumes (1270 bis 1329) zusammenfassend untersuchte2. Mir geht es heute zunächst auch darum, die Linie nun in das 13. Jhd. zurückzuverlängern, aber ich möchte nicht alleine nach den Irrtumslisten fragen, sondern allgemein nach dem Verfahren, das kirchliche Instanzen im Einzugsbereich der Universität Paris im Laufe des 13. Jahrhunderts anwandten, wenn sie in Wahrnehmung der kirchlichen Lehraufsicht die Entwicklung der Theologie und Philosophie unter Kontrolle zu bringen versuchten. Dabei geht es mir hier nicht um eine Theorie dieser Aktivität3, 1 Jetzt zusammengefaßt in J. Koch: Kleine Schriften I–II. (Storia e letteratura. 127, 128). Roma 1973. Hier insbes. I, 309 ff., sowie der gesamte Bd. II. 2 Jetzt in: Kleine Schriften, II, 423–450. Den ursprünglichen Plan, für diesen Zeitraum eine umfassend dokumentierte minuziöse Darstellung der Prozesse zu geben, mußte Koch aufgeben, als ihm im II. Weltkrieg seine Unterlagen verbrannten, vgl. Kleine Schriften II, 259 A. 1; II, 450, außerdem K. Bormann, ibid. I, p. VII. 3 Hier wird daher auch nicht die Entwicklung des kanonischen (bzw. zivilistischen)
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sondern um die historische Rekonstruktion des „procedere“ in die53 sen Verfahren, | wie es aus den meist gerade in diesem Punkte nur sehr dürftigen Quellen4 zu erheben ist. Die Aufmerksamkeit gilt dabei zunächst und vor allem jenen drei Kräften, die im 13. Jhd. den größten Einfluß auf die Prozesse genommen haben: dem Papsttum, das auch auf diesem Felde in jener Zeit seine Kompetenzen zunehmend durchzusetzen vermochte, dem zunächst unmittelbar zuständigen Ortsbischof und den theologischen Magistern als Fachleuten und Kollegen der Betroffenen. Wie sich das Kräftedreieck aus diesen Momenten in den einzelnen Verfahren darstellt, wie es sich im Laufe der Zeit verwandelt, wird zu prüfen sein. Das Vorhaben zwingt mich, streng chronologisch voranzuschreiten und nicht die Lücken unserer Kenntnis über ältere Prozesse durch Anleihen bei den Zeugnissen über jüngere Verfahren zu stopfen. Ich muß daher um Nachsicht dafür bitten, daß manches Detail hier ausgebreitet werden muß, auch wenn es nur indirekt Aufschluß gibt für unsere Fragestellung. Der Pariser Magister der Theologie Amalrich von Bena5 wurde etwa 1204 einem Verfahren wegen theologischer Irrtümer unterzomittelalterlichen Prozeßrechts mit der Entwicklung unserer Prozesse verglichen. Unmittelbar beschäftigen sich die Traktate der Juristen natürlich nicht mit den extremen Sonderfällen der hier zu behandelnden Prozeduren. Gleichwohl könnte ein eingehender Vergleich manch wichtigen Hinweis erbringen. Doch muß das einer eigenen Untersuchung vorbehalten bleiben. 4 Die wesentlichen Sammlungen sind immer noch C. Duplessis d’Argentré (ed.): Collectio judiciorum de novis erroribus. I. Paris 1728 (Neudruck Bruxelles 1963); vor allem aber H. Denifle – Ae. Chatelain: Cartularium Universitatis Parisiensis. I. Paris 1899 (Neudruck Bruxelles 1964 [„CUP I“]). Zu den zeitlich vorangegangenen Verfahren des 11. und 12. Jhds. vgl. zuletzt etwa den Vortrag von N. M. Häring (Die ersten Konflikte zwischen der Pariser Universität und Rom im 12. Jhd.) im vorliegenden Band, sowie J. Miethke: Theologenprozesse in der ersten Phase ihrer institutionellen Ausbildung. Die Verfahren gegen Abaelard und Gilbert von Poitiers. In: Viator 6 (1975), [hier: S. 275–311]. 5 Über Amalrich von Bena und die Amalrikaner ist die Literatur recht umfangreich, die geringste Aufmerksamkeit hat aber bisher das Verfahren selbst gefunden. Seine Lehre (ohne Differenzierung von der seiner Sekte) untersuchten G. C. Capelle: Autour du décret de 1210. III.: Amaury de Bène. Étude sur son panthéisme formel. (Bibliothèque thomiste. 16). Paris 1932. – M. dal Pra: Amalrico di Bena. Milano 1951. Die wichtigste Quelle für die Lehren ist – außer den Prozeßakten – die anonyme, wahrscheinlich dem Garnerius von Rochefort gehörende Schrift Contra Amaurianos, ed. C. Baeumker (Beiträge z. Gesch. der Philosophie des Mittelalters, 24, 5–6) Münster i. W. 1926. Zu dem Verfahren gegen seine Schüler vgl. insbes. M. Th. d’Alverny: Un fragment du procès des Amauriciens. In: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du moyen-âge [„AHDL“] a. 25–26 t. 18 (1950/51) 325–336; über die Amalrikaner vgl. insbes. immer noch die Analyse von H. Grundmann: Religiöse Bewegungen im Mittelalter. (11935) Darmstadt 2 1961. S. 355–385, 534 f. (Hier auch S. 360 A. 11 zu den verschiedenen Schreibungen
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gen. Offenbar hatten zuerst die magistri der Theologie seine Irrtümer verurteilt, | woraufhin Amalrich an den Papst appellierte. Innozenz 54 III. hatte dann nach Anhörung beider Parteien gegen Amalrich entschieden, der daraufhin nach Paris zurückkehrte und zum öffentlichen Widerruf vor der Universität gezwungen wurde6. Wenig später, es muß gegen 1206 gewesen sein7, starb Amalrich dann in Paris. Leider wissen wir über die Einzelheiten dieses Verfahrens sonst nichts weiteres. Alle unsere Quellen interessieren sich für diesen Vorgang allenfalls deswegen, weil wenig später eine Sekte entdeckt wurde, die auf die Lehren des Amalrich sich bezog. Der Prozeß gegen diese Sekte, der sich nicht primär gegen Universitätslehrer wegen Lehrdifferenzen, sondern offenbar gegen eine Gruppe von gewisser organisatorischer Konsolidierung richtete, und der somit eigentlich weniger in unseren Zusammenhang als in den der Ketzerverfolgung und der entstehenden Inquisition gehört8, braucht uns hier nicht in allen Details zu beschäftigen9. Bezeichnend genug ist aber, daß die kirchlichen Autoritäten dabei von vorneherein, bei der Auskundschaftung, Überführung und Verurteilung der Haeretiker, eng mit den Theologen der Pariser Universität zusammenarbeiteten.
des Namens, den ich gegen die philologische Exaktheit, die für „Almaricus“ spräche, hier weiterhin in der üblich gewordenen Weise schreibe. Der Augenzeuge des IV. Laterankonzils schreibt übrigens „Emelricus“; vgl. die unten A. 27 zitierte Quelle, ed. S. Kuttner u. A. García, S. 127, 156 f., ebenso gebraucht Robert v. Courson in seinem Privileg [wie A. 25] die Form „Amalricus“). 6 Guilelmus Brito, Gesta Philippi Augusti, § 152, ed. H. F. Delaborde: Oeuvres de Rigord et de Guillaume le Breton. (Société de l’histoire de France). Paris 1882. I, S. 230 f. Vgl. auch das noch ungedruckte Memoriale historiarum des Johannes Bouin von Saint Viktor (entst. ca. 1320), zitiert bei Ch. Duplessis d’Argentré (wie A. 4), I, p. 126 b: „Anno 1204 universitas Parisiensiensis celeberrima habuit comitia adversus Almaricum de Bena eiusque sectatores, quorum errores condemnavit et anathemate percussit.“ 7 Diese Datierung ergibt sich aus Alberich von Troisfontaines: Chronica (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores [ „MGH SS“] XXIII, 890, 54). 8 Vgl. auch H. Maisonneuve: Études sur les origines de l’Inquisition. (L’église et l’état au moyen âge. 7). Paris 21960. S. 166–168, der allerdings den Bezug zur werdenden Inquisition nicht allzu scharf beleutet. 9 Quellen vor allem: Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum V. 22, ed. J. Strange. Köln-Bonn-Brüssel 1851 [Neudruck Rigdewood, N. J. 1966] I, 304–307; vgl. auch Guilelmus Brito, Gesta § 153–154 (I, 231–234 Delaborde), (abgedruckt auch mit weiteren Zeugnissen im nützlichen Anhang bei G. C. Capelle: Amaury [wie A. 5] S. 98–111). Aktenstücke sind die Irrtumsliste in CUP I, 71–72, nr. 12; das Protokollfragment der Verhöre (vor dem bischöflichen Offizial?) bei M. Th. d’Alverny (wie A. 5), 331–333; und die Sentenz der Synode in CUP I, 70–71, nr. 11.
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Einer der theologischen Magister erfährt von den Lehren der Sekte und läßt sich mit Wissen und im Auftrag des Bischofs von Paris und unter Beratung einer kleinen Theologenkommission10 in die Geheimnisse der Gruppe einweihen. Als dann schließlich die Verdächtigen aufgrund der Angaben dieses Vertrauensmannes verhaftet wurden, konnte man sie sogleich mit einer „schedula“ konfrontieren, auf der 55 ihre Irr | tümer aufgelistet waren11. Eine Synode der Kirchenprovinz Sens, an der auch die Pariser Theologen teilnahmen, verhörte die Ketzer und verurteilte 10 von ihnen zur Übergabe an das weltliche Gericht – der französische König ließ sie dann vor dem Stadttor verbrennen –; vier weitere wurden zu dauernder Einschließung verurteilt; die Anhänger der Sekte aus Laienkreisen verschonte man und ließ sie laufen. Amalrichs Gebeine, die seit vier Jahren auf dem Friedhof lagen, wurden exhumiert und in ungeweihter Erde verscharrt. Aber damit war die aufsehenerregende Aktion gegen die Amalrikaner noch nicht abgeschlossen. Es ist nicht zu entscheiden, ob der Erzbischof von Sens und der Bischof von Paris aus eigener Initiative oder, was mir wahrscheinlicher vorkommt12, auf Anregung durch die beteiligten Theologen den Beschluß der Synode ausweiteten. Zusätzlich nämlich zur Abrechnung mit Amalrich und seinen Anhängern werden noch in dasselbe Verurteilungsdekret zwei andere Punkte aufgenommen: die Verurteilung der Schriften des Pariser Magisters David von Dinant und ein Vorlesungsverbot, das die in wachsendem Umfang bekanntwerdenden naturphilosophischen Schriften des Aristoteles aus dem offiziellen Lehrbetrieb von Paris ausschließen sollte. Die Provinzialsynode handelte hier offensichtlich in Wahrnehmung ihrer Aufgabe, über die Glaubenslehre in dem Sprengel ihrer Kompetenz zu wachen. Ein Vergleich mit dem Vorgehen gegen die Amalrikaner aber macht deutlich, wie viel gröber man in diesen beiden Zusatzpunkten verfuhr: Hatte man sich bei den Amalrikanern noch die Mühe gemacht, die einzelnen inkulpierten Personen ausdrücklich zu benennen, wie vor allem die wichtigsten Irrtümer auf-
10 Zu dieser Kommission gehörte nach Caesarius von Heisterbach, Dialogus (I, 306 Strange), neben anderen Magistern auch Magister Robertus „de Kortui“, d.i., wie allgemein angenommen wird, Robert de Courson, vgl. z.B. Ch. Dickson (wie A. 18) 80. 11 Vgl. M. Th. d’Alverny (wie A. 5) 332 mit A. 1 (vgl. auch ibid. 330). 12 Dieselbe Vermutung äußert auch M. Kurdzialek in seinem Kölner Vortrag (wie A. 13).
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zulisten, so steht weiterhin13 nur sehr allgemein, daß die „quaternuli“ des Magisters David von Dinant dem Bischof von Paris gebracht werden und verbrannt werden sollten. Nicht einmal des Autors selbst hatte man sich versichern können: „. . . de Francia fugatus est, et punitus fuisset, si de | prehensus fuisset“, so wird Albertus Magnus14 56 später den Effekt dieser Verurteilung für David von Dinant resumieren15. Ob diese Bestimmungen der Synode noch als Teil einer Ausrottungskampagne gegen die Amalrikaner zu verstehen sind, muß hier ebenso offen bleiben, wie die Frage, ob das ebenfalls pauschale Verbot, das die Synode gegen Vorlesungen über die „libri naturales“ des Aristoteles erließ, in die gleiche Richtung zielte16. Auch hier 13 Zum Prozeß gegen David von Dinant vgl. vor allem G. Théry: Autour du décret de 1210. I: David de Dinant. Étude sur son panthéisme matérialiste. (Bibliothèque thomiste. 6). Paris 1925. Bes. S. 7–12 (zur Biographie). Fragment der Quaternuli fand auf A. Birkenmajer: Découverte de fragments manuscrits de David de Dinant. In: Revue néoscolastique de philosophie 35 (1933) 220–235. Jetzt in derselbe Études d’histoire des sciences et de la philosophie du moyen âge. (Studia Copernicana 1). Wroclaw-Warszawa-Kraków 1970. S. 11–20. Diese Texte hat ediert und intensiv kommentiert M. Kurdzialek: Davidis de Dinanto „Quaternulorum“ fragmenta. In: Studia mediewistyczne 3 (1963) p. VII–LX, 1–108. Vgl. jetzt den Kölner Vortrag von demselben (David von Dinant als Ausleger der aristotelischen Naturphilosophie) in diesem Bande. Zur theologischen Problematik vgl. auch M. D. Chenu: La théologie au XII e siècle. (Études de philosophie médiévale. 45). Paris 21966. S. 309 ff., bes. 316–322. 14 Albertus Magnus: Gutachten gegen die Ketzer im Ries, ed. W. Preger: Geschichte der deutschen Mystik im Mittelalter I. Leipzig 1874 (Neudruck Aalen 1962) 461–469, hier 467, Nr. 76 (zitiert auch bei H. Grundmann: Religiöse Bewegungen [wie A. 5] 420 A. 143. Zu dem Gutachten vgl. ibid. 403 ff.; A. Patschovsky: Der Passauer Anonymus. [Schriften der MGH. 22]. Stuttgart 1968; hier S. 31 f., 38 ff., bes. 39 A. 57). Die Zitate aus David von Dinant bei Albert verzeichnet etwa G. Théry: David S. 13–15, vgl. ibid. S. 84–113, 120–145. 15 Offenbleiben muß, ob die Nachricht des Anonymus von Laon (Chronicon universale, ed. A. Cartellieri u. W. Stechele. Leipzig–Paris 1909. S. 69 f.; bzw. MGH SS XXVI, 454) sich auf Davids letzte Lebensjahre bezieht: „. . . David (. . .) circa papam Innocentium conversabatur, eo quod idem papa subtilitatibus studiose incumbebat . . .“ David ist nämlich für 1206 als päpstlicher Kapellan bezeugt (A. Potthast: Regesta pontificum Romanorum. Berlin 1874. Nr. 2790; d. i. Innozenz III.: Reg. IX. 85, in: J. P. Migne: Patrologia latina [„MPL“] t. 215, col. 901 sq.). – Vgl. dazu G. Théry: David. S. 9. Zur Geschichte der päpstlichen Kapelle vor allem R. Elze: Die päpstliche Kapelle im 12. u. 13. Jh. In: Zeitschrift der Savigny-Gesellschaft für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung [„ZRG, kan.“] 36 (1950) 145–204, zu Innozenz bes. S. 169–180. Der Anonymus weiß aber ebenso zu berichten (a. a. O.), daß Amalrich von Bena eng mit dem französischen Könighaus verbunden gewesen sei, und will so offenbar deutlich machen, daß beide, König wie Papst, als Institutionen versagt haben (s. auch unten A. 19, vgl. A. Borst: Die Katharer. [Schriften der MGH. 12]. Stuttgart 1953. S. 114). Demnach könnte er sich auch auf eine vorherliegende Zeit Davids als Kapellan des Papstes beziehen. 16 M. Kurdzialek: David von Dinant als Ausleger (wie A. 13) hat beides wiederum wahrscheinlicher gemacht.
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gibt der Text weder eine genaue Liste der verbotenen Schriften, noch eine Andeutung einer Begründung für seine in der Forschung vielbesprochene Entscheidung17. Daß die Kampagne gegen die Amalrikaner mit dem Ergebnis der Pariser Synode keinen Abschluß fand, versteht sich von selbst. Noch 1211 wurde der Pariser Theologe und Kanoniker von Notre Dame Robert von Courson, der schon jenen in die Sekte eingeschleusten Vertrauensmann der kirchlichen Amtsträger beraten hatte18, vom Papst damit beauftragt, den Haeresievorwurf gegen einen Priester in 57 der Diö | zese Langres zu überprüfen19; 1212 wird in Amiens ein Magister Godinus als Amalrikaner verbrannt20. Der letzte Fall zeigt, warum der Entscheid der Provinzialsynode von Sens nicht ausreichte, galt er doch nicht unmittelbar für die Diözesen der benachbarten Kirchenprovinz Reims. Daß Robert von Courson von Innozenz III. im Frühjahr 1212 zum Kardinal erhoben21 und Anfang 1213 mit einer Legation in Frankreich zur Vorbereitung des geplanten großen Konzils beauftragt wurde, macht die Fortsetzung des Vorgehens gegen die Amalrikaner mit neuen Mitteln möglich. Zwar ist aus den Synoden, die Robert in Paris und Rouen, in Montpellier, Bordeaux und Clermont abgehalten hat22, keine Wiederaufnahme der Bestimmungen der Pariser Synode von 1210 bekannt. Auf die Amalrikaner kam Robert aber an anderer Stelle zurück, die gleichwohl für die künftige Entwicklung der Universität Paris von besonderer Bedeutung sein sollte. 1215 stellte nämlich der Kardinallegat
17 Vgl. vor allem M. Grabmann: I divieti ecclesiastici di Aristotele sotto Innocenzo III e Gregorio IX. (Miscellanea historiae pontificae. 5 = I papi del duecento e l’Aristotelismo. 1). Roma 1941. Hier bes. S. 5–69 passim. 18 Vgl. oben A. 10. Zu Robert von Courson vgl. insbes. Ch. Dickson: Le cardinal Robert de Courson. Sa vie. In AHDL a. 9 (1934) 53–142. J. W. Baldwin: Masters, Princes and Merchants. The Social Views of Peter the Chanter and his Circle. I–II. Princeton N. J. 1970, zur Biographie bes. 19–25 mit II, 9–15. 19 Nach dem Anonymus von Laon, Chronicon universale (wie oben A. 15) konnte sich dieser Priester durch eine Appellation nach Rom retten. Vgl. aber A. Potthast (wie A. 15) nr. 4197 [1211.III.17] (= Innozenz III.: Reg. XIV. 15, MPL 216, 391 sq.). 20 Anonymus Laudunensis, Chronicon universale (wie A. 15). Chronica de Mailros, ed. J. Stevenson (Publications of the Bannatyne Club). Edinburgh 1835. S. 109 f. (Text auch bei H. Grundmann: Religiöse Bewegungen, S. 357 A. 4; vgl. S. 374 mit A. 1. – G. C. Capelle, S. 111). 21 Ch. Dickson (wie A. 18), S. 85 ff. 22 Ibid. S. 124–127. Die für Bourges angesetzte Synode kam wegen der Widerstände des Klerus gegen die doktrinäre Starrheit des Legaten, der die Theorien, die er in der Zeit seiner Pariser Professur entwickelt hatte, nun zu Synodalbeschlüssen gerinnen lassen wollte, nicht zu Stande.
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unter Berufung auf ein „speciale mandatum“ Papst Innozenz’ III. allen Magistern und Scholaren in Paris sein berühmtes Privileg23 aus, das durch Sicherung des Rechtsstandes der Universität ihre ruhige Entwicklung befördern sollte24. Nun bezog sich das „Sondermandat“ des Papstes gewiß nicht auf die einzelnen in dem Statut getroffenen Entscheidungen, sondern allgemein auf den Erlaß einer solchen rechtssetzenden Privilegierung. Weder die Einzelheiten des Curriculums, die hier geregelt werden, noch der Lektüreplan für die Artes-Fakultät, der hier aufgestellt wird, sind wohl in Rom Gegenstand von vorherigen Beratungen gewesen. Ebensowenig darf man den Satz für römisch inspiriert halten, in dem der Kardinallegat in seiner neuen Eigenschaft seinen alten Überzeugungen Rechtskraft zu geben versuchte, | 58 wenn er neben Vorlesungen zur Naturphilosophie und Metaphysik des Aristoteles auch die „Lehren des David von Dinant, des Haeretikers Amalrich oder des Mauricius Hispanus“ verbietet25. Die Aufnahme dieser Verurteilung in die Grundurkunde der Universität mußte aber zunächst eine Steigerung ihres Effektes bedeuten. Wenige Monate später hat das IV. Laterankonzil unter seine dogmatisch-apologetischen Canones auch eine Verurteilung des Amalrich aufgenommen26. Damit wurde die feierlichste bekannte Art einer Ketzerverurteilung gegen diesen Magister eingesetzt. Leider reichen unsere Kenntnisse über den Gang der Verhandlungen27 nicht dazu aus, über den knappen 23
CUP I, 78–80, nr. 20. Wenig früher (1214. VII. 20, bzw. 25) hatte ein anderer Kardinallegat, Nicolaus von Frascati, in einem Streit zwischen der Universität und der Stadt Oxford vermittelt. Vgl. den Text des Spruches bei H. E. Salter: The Medieval Archives of the University of Oxford. (Oxford Historical Society Publications. 70) Oxford 1920. I, 2–4, nr. 2. Zu Nicolaus vgl. etwa E. Kartusch: Die Mitglieder des Kardinalkollegiums in der Zeit von 1181–1227. Phil. Diss. (masch.) Wien 1948. S. 286–289. 25 CUP I, 78 f.; „Non legantur libri Aristotelis de methafisica et de naturali philosophia, nec summe de eisdem, aut de doctrina magistri David de Dinant, aut Amalrici heretici, aut Mauricii hyspani.“ Zur umstrittenen Identifikation des Mauritius vgl. bes. M. Bouyges: Connaissons-nous le „Mauricius hyspanus“ interdit par Robert de Courçon en 1215? In: Revue d’histoire ecclésiastique 29 (1933) 637–658. – M. Grabmann: I divieti (wie A. 17) S. 51 f. Zuletzt machte einen neuen interessanten, wenn auch nicht voll überzeugenden Versuch C. G. Hana: Der „Mauritius Hispanus“ in der Studienordnung der Pariser Universität aus dem Jahre 1215. In: Archiv für Kulturgeschichte 55 (1973) 352–365 (der an al-Ma[rìtì/Magritius, † 1007, denkt). 26 Vgl. c. 2 des IV. Laterankonzils, ed. C. Leonardi in: Conciliorum oecumenicorum decreta, ed. Istituto per le scienze religiose. Bologna 31973 [„COD“]. S. 233, 5–8. Eingegangen in die Dekretalen Gregors IX., vgl. X 1.1.2 (ed. E. Friedberg: Corpus Iuris Canonici. II. Leipzig 1879 [Neudruck Graz 1954]. Sp. 7). 27 Vgl. schon H. Grundmann: Religiöse Bewegungen, S. 136. – Jedenfalls hat Courson am Konzil teilgenommen, vgl. die Teilnehmerliste bei J. Werner: Nachlese aus Züricher 24
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Text des Canons selbst hinaus Urheber und Absichten dieser Verurteilung näher zu bestimmen28. Es kann keine Rede davon sein, daß in den hier besprochenen Verfahren gegen Amalrich und seine Anhänger sowie in dem Vorgehen gegen David von Dinant eine eindeutig feststellbare Prozedur verfolgt worden wäre, die alle Beteiligten zusammengeschlossen hätte. 59 Noch han | delt jede einzelne Kraft selbständig und die einzelnen Aktionen laufen eher nebeneinander als koordiniert ab. Die Aktivität der theologischen Magister der Universität verliert nach einem ersten, vom römischen Stuhl als Apellationsinstanz sogar bestätigten Auftritt in jenem Augenblick an Selbständigkeit, als in der Gruppe der Amalrikaner eine wirkliche Sekte zu Tage tritt. Die Diözesangerichtsbarkeit greift in eigener Verantwortung ein, nicht ohne die theologischen Fachleute zu Rate zu ziehen, aber ohne deren vorgängiger Aktionen im Verurteilungsbeschluß auch nur mit einem Worte Erwähnung zu tun. Das Papsttum wird unmittelbar allein tätig, als es als Appellationsinstanz angerufen wird, ohne daß seine Entscheidung automatisch Weiterungen nach sich gezogen hätte. Ob ohne die Hartnäckigkeit Roberts von Courson überhaupt noch die beiden Handschriften. In: Neues Archiv 31 (1905) 584–592, hier 584. Aus S. Kuttner, A. García García: A New Eyewitness Account of the Fourth Lateran Council. In: Traditio 20 (1964) 115–178, Text 123–129, läßt sich, so bedeutsam die Quelle auch ist, für unsere Frage wenig entnehmen. Vgl. allenfalls S. 127 f., Z. 149 bis 158. – A. García García: El gobierno de la iglesia universal en el concilio IV Laternanese de 1215. In: Annuarium historiae conciliorum 1 (1969) 50–68, bes. 59 ff. kann demgemäß gleichfalls nicht viel weiter helfen. Die Formulierung (c. 2, COD, S. 232, 4 f.: „Nos autem sacro et universali concilio approbante credimus et confitemur“) läßt über das Zustandekommen des Kanons zwar nichts Näheres erkennen, auch García (S. 63 mit A. 52) aber rechnet c. 2 zu den Canones, in denen er eine „intervención de los padres del Concilio“ vermutet. 28 Vgl. dazu auch die neuere Gesamtdarstellung von R. Foreville: Latran I, II, III et IV. (Histoire des conciles. 6). Paris 1965, S. 227–419, bes. 275 ff. Heinrich von Susa, der „Hostiensis“ will in seiner Lectura zu den Dekretalen Gregors IX. wissen, (Henrici de Segusio Commentarii in I. librum Decretalium, Venedig 1581 [Neudruck Torino 1965], ad X 1.1.2 s.v. „reprobamus“, f. 7 rb, Rdnr. 22 [vgl. auch CUP I, 107 n. 1, u. G. C. Capelle, S. 94]): „Si queras, quare dogma istud non fuit specificatum in hoc concilio? Respondeo in genere, quod Almaricus iste habuit quosdam discipulos tempore huius concilii adhuc superstites, ob quorum reverentiam suppressum exstitit dogma istud, quorum etiam nomina honestius est supprimera quam specialiter nominare. Dictum autem librum [d.i. per‹ fÊsevw] exposuit (errores singulos specialiter condemnando) venerabilis pater Odo Tusculanus [d.i. Odo von Chateauroux], a quo habuimus hanc doctrinam.“ Zur Auslegungsgeschichte vgl. die nützliche Zusammenstellung bei P. Michaud-Quantin: Commentaires sur les deux premières décrétales du recueil de Grégoire IX e au XIII e siècle. In: P. Wilpert (ed.): Die Metaphysik im Mittelalter. (Miscellanea Mediaevalia. 2). Berlin 1963. S. 103–109.
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generellen Sentenzen des Jahres 1215 zustande gekommen wären, mag dahinstehen. Der Canon des IV. Laterankonzils richtet sich zudem ausschließlich gegen Amalrich, das präsumptive Haupt einer haeretischen Sekte, ohne den Magister David noch zu nennen29. Jedenfalls hat weder der Papst, noch die Kurie in erkennbarer Weise aufgrund eigener Initiative in die Ereignisse eingegriffen. Das Bild, das wir an diesem Verfahren gewonnen haben, ändert sich auch in den folgenden Jahrzehnten des 13. Jhds. nicht grundsätzlich. Gewiß fanden die Nachfolger Innozenz’ III. auch in politisch bewegten Jahren Zeit, auf die Verhältnisse an der Universität Paris einzuwirken. Honorius III. unterstützt so die Universität in ihrem Kampf mit dem Pariser Bischof und dessen Kanzler, indem er etwa 1219 die Exkommunikation aufhebt, mit der der Bischof in Zusammenarbeit mit dem Kardinallegaten eine Einschränkung der Satzungsautonomie der Korporation hatte durchsetzen wollen30. Ein halbes Jahr später, ebenfalls 1219, erläßt derselbe Papst ein Statut31, das ausdrücklich zur Förderung der | theologischen Studien gedacht 60 ist, und das neben einigen technischen Regelungen auch ein Verbot römischrechtlicher Studien in Paris enthält32, und also schon recht empfindlich in die Ordnung der Korporation eingreift. Der ferne Beschützer, der gegen den nahen Bischof Rückhalt versprach, konnte sich und sollte sich im Laufe des 13. Jhds. in zunehmendem Maße recht spürbar zur Geltung bringen. Nicht immer sahen sich Papst und Bischof jedoch hinsichtlich der Universität in einem Gegensatz. Ein päpstliches Mandat vom Januar 1225, in dem Honorius III. die alte Schrift des Johannes Scotus Eriugena „Per‹ fÊsevw“ zu konfiszieren und feierlich zu verbrennen
29 Vgl. auch oben A. 15 u. 28. Ich halte es für wenig wahrscheinlich, daß der Name Davids nur wegen einer Protektion durch Innozenz III. fehlte. Dagegen spricht auch seine Nennung durch Robert von Courson 1215. 30 CUP I, 87–90, nrr. 30 und 31. 31 CUP I, 90–93, nr. 32 (teilweise eingegangen in die Dekretalen Gregors IX., vgl. X 5.5.5 u. X 3.50.10). Vgl. dazu auch die anregenden, wenn auch einseitigen und ergänzungsbedürftigen Bemerkungen von E. Pitz: Papstreskript und Kaiserreskript im Mittelalter. (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom. 36). Tübingen 1971. S. 171–191 (der u.a. aus der Überlieferung schließen will, daß das Statut im Sinne der These seines Buches ein impetriertes „Reskript“ sei). Dazu vgl. aber z.B. P. Landau in ZRG, kan. 59 (1973) 441–445, bes. 444. 32 Vgl. dazu insbes. S. Kuttner: Papst Honorius III. und das Studium des Zivilrechts. In: Festschrift für Martin Wolff. Tübingen 1952. S. 79–101. W. Trusen: Die Anfänge des gelehrten Rechts in Deutschland (Recht und Geschichte. 1). Wiesbaden 1962, S. 15–18.
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befiehlt33, beweist das augenscheinlich. Denn diesem Mandat war die feierliche Verurteilung des Buches auf einer Synode der Kirchenprovinz Sens vorausgegangen und wahrscheinlich war für die Synode wiederum eine förmliche Verdammung durch die theologischen Magister der Universität Voraussetzung gewesen. Was das hier greifbare, abgestufte Verfahren von den Aktionen gegen Amalrich und seine Schüler unterscheidet34, war vor allem, daß der Bischof von Paris sich, wie es scheint, mit dem Spruch der Synode nicht zufrieden gab und das päpstliche Mandat erwirkte, das uns – dank der günstigeren Überlieferungschance registrierter päpstlicher Mandate – allein noch von den Vorfällen Kunde gibt. Glaubte der Pariser Bischof, den Entscheid der Synode nur so – oder so besser – gegen die „viri scholastici novitatum forte plus quam expediat amatores“, die sich dem Studium dieses Werkes widmeten, durchsetzen zu können, oder hoffte er, die Klosterbibliotheken so leichter zur Preisgabe ihrer Handschriften bewegen zu können? Formal teilt das Mandat mit den Dokumenten zum Amalrichprozeß, daß es nicht einzelne Irrtümer verdammt, sondern mit einem Federstrich ein ganzes Buch. Den Siegeszug des Pseudodionys im Paris des 13. Jhd. sollte diese Verurteilung einer seiner Ableitungen jedenfalls ebenso61 wenig verhindern, wie es die Aristotelesverurteilungen | derselben Jahrzehnte vermochten, die Aristotelesrezeption aufzuhalten. Die Form der Koordination von Papst, Bischof und Fakultät, die hier zu finden ist, wirkte aber, vielleicht gerade weil sie das freiwillige Zusammenspiel aller Instanzen voraussetzte, nicht Maßstab setzend. Die folgenden Verfahren kehren jedenfalls, was die Mitwirkung des Papstes betrifft, zum Modell des Legatenentscheides zurück, wobei nur in dem sachlich hier nicht zu behandelnden, aber verwandten
33 CUP I, 106–107, nr. 50. Der Erlaß ist an „archiepiscopis et episcopis et aliis ecclesiarum prelatis, ad quos littere iste pervenerint“, gerichtet. H. Denifle weist (S. 107 n.) einen weiteren an den gleichen Empfängerkreis in England („. . . per regnum Anglie constitutis“) nach. Zu der Verurteilung vgl. etwa auch M. Cappuyns: Jean Scot Erigène. Sa vie, son oeuvre, sa pensée. (Universitas catholica Lovaniensis, Dissertationes . . . in facultate theologica . . . conscriptae. Series II 26). Louvain 1933 [Neudruck Bruxelles 1969]. S. 247–252. 34 Ein Zusammenhang scheint gleichwohl insofern sicher, als Amalrich sich wohl auf die Schrift des Joh. Scotus bezog. Schon der Hostiensis (wie oben A. 28) sieht beide Verurteilungen aufgrund der Mitteilungen des Odo von Chateauroux im Zusammenhang. Vgl. etwa H. Grundmann: Religiöse Bewegungen, S. 361 f.
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Fall der Talmudverfolgungen35 eine erkennbare Differenz zwischen Kurie und Legat auftritt36. Während der Pontifikate Gregors IX. und Innozenz’ IV. hatte den Pariser Bischofsstuhl der frühere Magister der Theologie Wilhelm von Auvergne (übrigens aufgrund päpstlicher Entscheidung nach einer gespaltenen Wahl) inne, ein Mann, der sich nicht nur um die gewissenhafte Verwaltung seiner Diözese, sondern auch um die Durchsetzung einer, wie er es verstehen mochte, richtigen Theologie bemühte37. Das Verbot der Pfründenhäufung, das er, wie der Dominikaner Thomas von Cantimpré lobend berichtet, im Jahre 1235, in einer feierlichen „disputatio longa valde“ mit den Magistern der Theologie vorbereitet hatte38, knüpfte noch an das Reformprogramm der Pariser Theologen um Petrus Cantor an39. Auch das erneute Mandat Papst Gregors IX., das 1228, wenige Monate nach der Einsetzung Wilhelms von Auvergne als Bischof von Paris, an die Theologen der Pariser Universität erging40, entspricht durchaus in Inhalt und Stil41 der Pariser Theologie konservativeren Zu | schnittes, wenn dort geboten 62 wird, die Theologie rein und ohne das Ferment weltlicher Wissenschaft zu lehren und insbesondere die naturphilosophischen Studien beiseite zu lassen. Es ist durchaus nicht auszuschließen, daß der neue Bischof dieses Mandat an der Kurie selbst erwirkte, um seiner Anschauung in Paris größeren Rückhalt zu verschaffen42. 35 Dazu vgl. etwa die Dokumente in Ch. Duplessis d’Argentré (wie A. 4) I, p. 146 a–156 b, oder bei CUP I, 173 f., 201 f., 202–205, 209–211 (nrr. 131, 172, 173, 178). Aus der umfänglichen Literatur sei hier bes. verwiesen auf H. Graetz: Geschichte der Juden. VII, 4. Auflage (bearb. von J. Guttmann). Leipzig o. J. (1906). Bes. S. 92 ff., 405–410. – S. W. Baron: A Social and Religious History of the Jews. IX. New York 1965. S. 63–83, 269–279. – S. Grayzel: The Church and the Jews in the XIIIth Century. New York 21966. S. 29 ff., 339 f., 341–343. – K. H. Rengstorf u. S. v. Kortzfleisch (edd.): Kirche und Synagoge. Handbuch zur Geschichte von Juden und Christen. Stuttgart 1968. S. 227 ff. (W. P. Eckert) u. 336 f. (E. I. J. Rosenthal). 36 Siehe CUP I, 202–205, nr. 173, bes. S. 204, 27 ff. 37 Vgl. N. Valois: Guillaume d’Auvergne, évêque de Paris (1228–1249). Sa vie et ses ouvrages. Paris 1880. Bes. 24 ff. (Zu seiner Einsetzung als Bischof ibid., S. 12 f.). Zur Bischofswahl vgl. auch N. Wicki: Philipp der Kanzler und die Pariser Bischofswahl 1227/28. In: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 5 (1958) 318–326. 38 Thomas Cantimpratensis: Bonum universale de apibus I. 19.5. Douais 1605. S. 67 f. (auch in CUP I, 157 f., nr. 108). 39 Vgl. dazu etwa J. W. Baldwin: Masters (wie A. 18). Bes. I, 119 f. mit II, 79–81. 40 CUP I, 114–116, nr. 59. 41 Hinweise bei M. Grabmann: I divieti (wie A. 17), 75 ff. Vgl. auch J. W. Baldwin: Masters, passim. 42 Für die kanzleimäßigen Vorgänge bei der Registrierung eines solchen Mandats im 13. Jhd. etwa bei P. Herde: Beiträge zum päpstlichen Kanzlei- und Urkundenwesen im
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Differenzen zwischen Bischof und Papst über die Politik, die der Universität gegenüber einzuschlagen war, blieben freilich nicht aus, am einschneidensten sollten sie sich angesichts der berühmten Sezession von 1229/31 zeigen, in der der Papst die Universität unterstützte und Wilhelm von Auvergne ausdrücklich wegen seines zweideutigen Verhaltens getadelt hat43. Die Konstitution Parens scientiarum von 123144, der für die Verfassungsgeschichte der Universität grundlegende Bedeutung zukommt, enthält wiederum auch einige Bestimmungen zum Lehrprogramm, insbesondere war erneut das Verbot der „libri naturales“ übernommen, allerdings diesmal mit einer bemerkenswerten Abschwächung, die eine Einwirkung der Prokuratoren der Universität auf den Inhalt des von ihnen erwirkten Privilegs bezeugen könnte45: Die „libri naturales“ sollten im Unterricht nicht „gebraucht“ werden, „quousque examinati fuerint et ab omni errorum suspitione purgati“. 10 Tage nach der Konstitution Parens scientiarum datiert das Mandat, das eine Kommission von drei Pariser Theologen zur Überprüfung der fraglichen Schriften einsetzt46. Daß die Hoffnung auf einen Aristoteles, gewissermaßen gereinigt für die 63 akademische Jugend, nicht in Erfüllung gehen konnte47, ist klar, | trotzdem verdient der Versuch einer differenzierteren Verfahrensweise Beachtung auch im Zusammenhang unserer Fragestellung nach den Theologenprozessen. Daß die pauschalen Verurteilungen nun wenigstens durch das Bemühen um Irrtumsnachweis ersetzt wurden, konnte auch bei den Verfahren eine Fortentwicklung bringen. Die Verfahren, bei denen wir etwas deutlicher das Vorgehen greifen können, bestätigen diese eben formulierte Vermutung wenigstens
13. Jh. (Münchener Historische Studien. Abt. Historische Hilfswissenschaften. 1). Kallmünz 21966. Bes. S. 241 f. 43 CUP I, 125–127, nr. 69. Eine andere Haltung als Wilhelm von Auvergne hatte der damalige Magister Odo von Chateauroux gezeigt (vgl. A. Callebaut: Le sermon historique d’Etudes de Chateauroux à Paris le 18 mai 1229. Autour de l’origine de la grève universitaire et de l’enseignement des mendiants. In: Archivum Franciscanum Historicum [„AFH“] 28, 1935, 81–114) und auch der Kanzler Philippus Cancellarius (vgl. N. Wicki in: Lexikon für Theologie und Kirche. 2. Auflage VIII, Freiburg 1963, 452 f.). 44 CUP I, 136–139, nr. 79. 45 Einer dieser Prokuratoren war der berühmte Theologe Wilhelm von Auxerre; vgl. H. Denifle: Zum päpstlichen Urkunden- und Regestenwesen des 13. und 14. Jhds. In: Archiv für Literatur- u. Kirchengeschichte des Mittelalters [„ALKG“] 3 (1887) 624–633, hier 629 f. – Vgl. auch allgemein M. Grabmann: I divieti (wie A. 17), S. 95 ff., 101 ff. 46 Unter ihnen auch Wilhelm von Auxerre (vgl. CUP I, 143–144, nr. 87). 47 Und das nicht nur deswegen, weil Wilhelm von Auxerre schon bald, noch in Rom, starb (1231. XI. 3).
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teilweise48. 1241 und 1244 trifft eine Verurteilung einen „frater Stephanus49“, d.h. wie man glaubt50, den Dominikaner Stefan von Venizy, der zusammen mit anderen Theologen (auch seines Ordens) sich in 10 Punkten eine harte Zensur zuzog. Die Prozedur dabei ist nicht mit absoluter Sicherheit zu rekonstruieren, da sich die wohl zweifache Verurteilung auf eine identische Irrtumsliste stützt und es zweifelhaft bleibt, wie weit spätere Kontamination im Protokoll und Eschatokoll die Verläßlichkeit der Berichte beeinträchtigt. Nach der plausiblen Analyse von Victorinus Doucet erfolgte am 13. Januar 1241 ein „acte magistral51“, durch den die | Pariser Magister der 64 Theologie eine Liste von 10 Irrtümern verwarfen, indem sie jedem der 10 genannten Sätze ein Bekenntnis der entgegengesetzten Wahrheit entgegenstellten: „Hunc errorum reprobamus, firmiter enim credimus, quod . . .52“. 48 Von dem Widerruf, den man dem Franziskaner Gilain 1240 abzwang, wissen wir kaum mehr, als daß es sich um Sätze aus der Gnadenlehre handelte. Der Theologe widerrief und wurde später vielleicht sogar, wenn die fragwürdige Identifikation zutrifft, Bischof von Coutances. Vgl. Gallia Christiana. XI. Neudruck Paris 1874. S. 880, nr. XLIV. 49 CUP I, 170–172, n. 123. Die hsl. überlieferten Fassungen hat aufgeteilt in Formulare (I–V) V. Doucet: La date des condammations Parisiennes dites de 1241. Fautil corriger le cartulaire de l’Université? In: Mélanges Auguste Pelzer (Université de Louvain. Recueil de travaux d’histoire de philologie. 3me série, fasc. 26) Louvain 1947. S. 183–193, hier 185–187. Zur These von der doppelten Verurteilung, nahm negativ Stellung F. Pelster: Die Pariser Verurteilung von 1241. Eine Frage der Datierung. In: Archivum Fratrum Praedicatorum [„AFP“] 18 (1948) 405–417, positiv etwa P. Glorieux: Les années 1242–1247 à la faculté de théologie de Paris. In: Recherches de théologie ancienne et mediévale [„RTAM“] 29 (1962) 234–249, hier 240. Zur theologischen Bedeutung der Auseinandersetzungen vgl. vor allem M. D. Chenu: Un dernier avatar de la théologie orientale en occident au XIII e siècle. In: Mélanges Auguste Pelzer. S. 159–181. Vgl. auch H. F. Dondaine: L’objet et le „medium“ de la vision béatifique chez les théologiens du XIII e siècle. In: RTAM 19 (1952) 60–99. – P.-M. de Contenson: La théologie de la vision de dieu au début du XIII e siècle. In: Revue de sciences philosophiques et théologiques [„RSPT“] 46 (1962) 409–444. 50 Zu dieser Identifikation vgl. V. Doucet: La date. S. 193 A. 17. Zweifelnd bleibt auch F. Pelster: Die Pariser Verurteilung, 405, 416 f. 51 V. Doucet: La date, 185 (Text I); vgl. ibid. (Text II); u. S. 190. Nur zur Datierung benutzt Bonaventura die Angabe des Bischofs (S. 186, Text III): „Hic est unus de X articulis reprobatis ab universitate magistrorum Parisiensium tempore Guillelmi et Odonis Cancellarii et fratris Alexandri de Hales . . . qui ut evitentur subscripti sunt.“ 52 Hier zitiert nach der Formel zum 2. Irrtum im Ms. Paris Arsénal 532 (V. Doucet: La date, S. 186, Text IV; Die Fassung zu Art. 1 vgl. unten Anm. 57. Zu diesem Manuskript vgl. auch F. Pelster: Die Pariser Verurteilung, 407). Vgl. in ähnlichem Sinn auch die Fassungen von Text I und II. Vor allem vgl. die von V. Doucet (S. 192 A. 13) zitierte Bemerkung des Richard von Cornwall aus Ms. Oxford, Balliol Coll. 62, f. 113 va: „. . . Parisienses sententialiter istam damnant dicentes: „Hunc errorem etc. Firmiter credimus etc. . . .“
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Mit diesem Verfahren tat man nichts anderes, als dem Usus der altkirchlichen Synoden zu folgen. Das Bekenntnis der Wahrheit wird dem festgestellten Irrtum emphatisch gegenübergestellt. Damit konstituierte sich die Versammlung der Magister gewissermaßen als synodales Gremium und postulierte für sich die Autorität der „doctores ecclesiae“, die die kirchliche Wissenschaft sonst nur den Prälaten zugestand53. Das Mittel, das diesen hohen Anspruch nicht als Usurpation erscheinen lassen sollte, war die ebenfalls im synodalen Vorbild schon vorgegebene Formulierung der Wahrheiten als „confessio“, ein Verfahren, das auch an das Vorgehen Bernhards gegen Gilbert von Poitiers auf seiner Sonderversammlung der französischen Prälaten anläßlich des Konsistoriums in Reims erinnert. Die Formulierung der Irrtümer ist ebenso thetisch wie die der „veritates oppositae“: es sind keinesfalls wörtliche Zitate aus den Schriften des Gegners, sondern auf epigrammatische Knappheit zielende Zusammenfassungen längerer Erörterungen. So wird es verständlich, daß in der Überlieferung diese Verurteilung nicht ausschließlich auf den wohl ursprünglich zunächst gemeinten Stephan allein bezogen wird, sondern z.T. anonym, z.T. auch in der späteren Fassung gegen den Magister Johannes Pagus gerichtet erscheint54. Der pneumatische Charakter dieser ersten Verurteilung von 1241, der der altchristlichen Anathematisierung vergleichbar bleibt, nahm dem Vorgehen allerdings, wie sich zeigen sollte, viel von seiner Durchschlagskraft. Offenbar war auch die gemeinsame Formulierung von Bekenntnissätzen durch die Mehrheit der Pariser Magister nicht so bindend, daß die Minderheit darauf verzichtet hätte, an ihren gegenteiligen Lehrüberzeugungen festzuhalten. Das Generalkapitel des Dominikanerordens beschloß zwar Anfang Juni in Paris, daß alle Dominikaner die „errores condempnatos per magistros Parisienses“ 65 aus ihren Schriften ausradie | ren sollten55, aber es scheint mit diesem Bemühen darum, Anstoß zu vermeiden, nicht bei allen Dominikanertheologen Anklang gefunden zu haben. Ein Magister jedenfalls, so wird uns berichtet56, verweigerte hartnäckig, sich zu fügen. 53 Vgl. dazu nur Y. M. J. Congar: L’église de Saint Augustin à l’époque moderne. (Histoire des dogmes III. 3). Paris 1970. S. 241 ff. 54 Vgl. dazu wieder V. Doucet: La date, 193. Auf Johannes Pagus bezieht die Verurteilung das Ms. Vat. lat. 692 (Formular V). 55 Vgl. bereits CUP I, 173, nr. 130; jetzt ed. B. M. Reichert: Acta capitulorum generalium Ordinis Praedicatorum, I. (Monumenta Ordinis Fratrum Praedicatorum Historica [„MOPH“]. 3) Roma 1898, S. 27, 10 sq. 56 Gerard de Frachet: Vitas fratrum, ed. B. M. Reichert (MOPH 1. Louvain 1897) S. 208.
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Ob schon bei dem ersten Akt Wilhelm von Auvergne teilgenommen hat, muß offenbleiben57. Jedenfalls scheint er in diesem Stadium seine bischöfliche Autorität noch nicht voll zur Geltung gebracht zu haben. Daß er jedoch mit dem Vorgehen der Mehrheit der Magister einverstanden war, beweist der Fortgang der Ereignisse. Anfang 1244 macht er sich in einem „acte solennel“ (um hier die glücklichen Kennzeichnungen von Victorinus Doucet aufzugreifen) den „acte magistral“ der Magister gänzlich zu eigen: Am 5. Januar 1244 „subscripti articuli in presentia universitatis magistrorum theologie Parisiensium de mandato domini Guillelmi episcopi fuerunt examinati et reprobati per cancellarium Odonem et fr. Alexandrum de Ordine fratrum Minorum, quorum primus est, quod . . . Hunc errorem prohibemus et assertores eius et defensores excommunicamus. Firmiter enim credimus et asserimus quod . . . etc.58“ Offenbar waren die Sätze selbst identisch geblieben, auch die Form der Widerlegung durch eine „confessio“ blieb gewahrt. Was neu hinzutrat, war, wenn die Rekonstruktion zutrifft, die Exkommunikation des Ortsbischofs, der damit der magistralen Entscheidung der Professoren eine Sanktion hinzufügte, die ihr rechtlich offenbar bis zu diesem Zeitpunkt gefehlt hatte. Indem sich der Bischof den Spruch der Magister zu eigen machte und ihm mittels seiner eigenen Kompetenz zur Durchsetzung ver | half, war der Schlußstrich gezogen. Die Dominikaner haben 66 noch im selben Jahr auf ihrem Generalkapitel in Bologna versucht, eine allgemeine Konsequenz aus den Geschehnissen zu ziehen, indem sie die Theologen ihres Ordens ermahnten, „keine neuen Meinungen
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Dafür könnte sprechen der Wortlaut von Formular I und II, insbesondere aber, was Roger Bacon, Opus maius II.5, ed. J. H. Bridges, III, Oxford 1900 [Neudruck Frankfurt/Main 1964], S. 47, berichtet: „Nam universitate Parisiensi convocata bis vidi et audivi venerabilem antistitem dominum Guillelmum Parisiensem episcopum felicis memoriae coram omnibus sententiare, quod . . .“ – Auf diesen Passus machte V. Doucet aufmerksam in: Alexander de Hales, Glossae in IV libros Sententiarum. I. (Bibliotheca Franciscana scholastica medii aevi. 12). Quaracchi 1951. S. 16* nota 2. Vgl. auch die Fassung des Magisterbeschlusses nach Formular IV (Ms. Paris Arsénal 532), in der Sentenz zu Art. 1: „. . . Hunc errorem reprobamus et assertores et defensores auctoritate Wilhermi episcopi excommunicamus. Firmiter autem credimus et asserrimus quod . . . (Das scheint mir doch auf eine Kontamination mit Formular V [vgl. A. 58] in dieser Fassung hinzudeuten!). 58 Formular V (S. 187 Doucet). In der zeitgenössischen Chronistik erscheint diese Verurteilung bei Matthäus Parisiensis: Chronica maiora, ed. H. R. Luard. IV (Rerum Britannicarum scriptores. 57.4). London 1877. S. 279–283, vgl. bes. 281: „. . . ecclesiarum praelati, ecclesiae et fidei Christianae praecaventes (. . .) praesumptuosos ausus eorum refraenando, fidelibus, congregatione orthodoxorum facta, fidei veritatem sanius propalarunt.“
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zu erfinden, sondern den allgemein gebräuchlichen und schon stärker anerkannten zu folgen59“. Auch in den Schriften der Franziskanertheologen läßt sich der strikte Einfluß der Zensur nachweisen60. Von einem päpstlichen Eingreifen in dieses Verfahren, unmittelbar oder auch mittelbar durch einen Legaten, war zu keiner Zeit, soweit unsere Zeugnisse Auskunft geben, die Rede. Was diese Verfahren von 1241/44 motiviert hat, bleibt mangels historischer Zeugnisse dem Bereich mehr oder minder plausibler Vermutungen überlassen. Michel-Marie Dufeil hat die Mutmaßung geäußert61, hier manifestiere sich eine Spannung zwischen Weltklerus und Bettelordenstheologen an der theologischen Fakultät, die dann in den 50er Jahren so eklatant ausufern sollte. Die Zeugnisse geben dafür wenig Anhalt62. Etwas deutlichere Hinweise haben wir aber auf den Personenkreis, der das längere Zeit ungenutzt gebliebene Instrument des Lehrzuchtverfahrens erneut mit Schärfe anzuwenden entschlossen war. Für die Irrtumsliste gegen Stephan wird übereinstimmend der Kanzler der Universität Paris, Odo von Chateauroux, verantwortlich gemacht. Er soll sie formuliert haben, seine Teilnahme an den Verurteilungen wird mehrfach hervorgehoben, und die Zukunft sollte zeigen, daß zumindest er Geschmack an diesem Vorgehen gewonnen hatte. Odo von Chateauroux63, war um 1230 zum theologischen Magister promoviert worden, seit 1234 ist er als Kanoniker 67 von Notre Dame de Paris nachweisbar, 1238 wird | er Kanzler der
59 MOPH 3, S. 29, 5–6 (CUP I, 173, nr. 130 A. 1): „Monemus lectores. quod novas opiniones non inveniant. sed communiores et magis approbatas sequantur.“ Vgl. auch unten A. 99 und 100. 60 Dazu vgl. insbes. die Angaben bei V. Doucet: La date, 188–192, aus Texten des Odo Rigaldi und der Summa Halesiana, dazu vgl. auch V. Doucet in Alexander von Hales, Summa tbeologica, edd. PP. Colegii S. Bonaventurae. IV. 1: Prolegomena. Quaracchi 1948. S. ccxxviii sq. Ohne die zeitliche Präzisierung fördern zu können, sind von Bedeutung ferner die Beispiele bei H. F. Dondaine: Hugues de Saint Cher et la condamnation de 1241. In: RSPT 33 (1949) 170–174; und derselbe: Guerric de Saint Quentin et la condamnation de 1241. In: RSPT 44 (1960) 225–242. 61 M.-M. Dufeil: Guillaume de Saint-Amour et la polémique universitaire Parisienne 1250–1259. Paris 1972. S. 56. 62 Dagegen spricht auch die starke Beteiligung, die in den Formularen III und V dem Franziskaner Alexander von Hales neben dem Kanzler zugewiesen wird. 63 Zu Odo von Chateauroux vgl. z.B. M. M. Lebreton in: Dictionnaire de spiritualité. IV. 2 (Paris 1961). Sp. 1675–1678. – M. A. Dimier in: Dictionnaire d’Histoire et de Géographie ecclésiastiques. XV (Paris 1963). Sp. 1321–1324. – Jetzt vor allem A. Paravicini Bagliani: Cardinali di curia e „ familiae“ cardinalizie dal 1227 al 1254. (Italia sacra. Studi e documenti di storia ecclesiastica. 18/19) Padova 1972. S. 198–209 (mit Lit.).
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Universität. Er hat sich vor allem als Prediger64 einen Namen gemacht, seine theologischen Leistungen treten demgegenüber, um es vorsichtig zu sagen, in den Hintergrund. Seine energische und in praktischen Geschäften offenbar sehr effektive Tätigkeit machte ihn früh zu einem einflußreichen Mann, und seine weitere Karriere beweist, daß das auch offizielle Anerkennung fand. 1244 macht ihn Innozenz IV. zum Kardinalbischof von Frascati, ein Jahr später, 1245, wird er zum päpstlichen Legaten für Frankreich ernannt, um dort den geplanten großen Kreuzzug vorzubereiten. Von 1248 bis 1254 wird er dann seinen König, Ludwig den Heiligen, nach Ägypten und Nordafrika begleiten, und bis zu seinem Tode (1273) der Kurie noch mancherlei Dienste leisten. Der große Kanonist Heinrich von Susa, der „Hostiensis“, faßte, als er seine Lectura zu den Dekretalen niederschrieb65, den Kollegen im Kardinalskollegium jedenfalls als theologischen Fachmann für Theologenprozesse auf, wie aus seinem Kommentar zur Amalrichverurteilung hervorgeht66. Und der Kardinalbischof von Ostia hätte nicht so leicht einen Mann finden können, der so wie Odo von Chateauroux mit den Pariser Vorgängen aus der intimen Kenntnis des Hauptbeteiligten vertraut gewesen wäre. Eine seiner Aktionen haben wir schon kennengelernt. Seine Haltung und führende Beteiligung im Verlauf der Talmudverfolgung und -verbrennung verdiente gleichfalls eine nähere Beleuchtung, die aber hier unterbleiben muß67. Die Akten der Universität enthalten aber aus der Zeit seiner Legation in Frankreich einen weiteren Fall, der gut illustriert, wie Odo seine genaue Vertrautheit mit den Pariser Verhältnissen in Verbindung mit den Kompetenzen seines Amtes zur Vernichtung theologischer Irrtümer einzusetzen wußte. Fünf Tage vor dem Weihnachtsfest, am Freitag, den 20. Dezember 1247, versammelt der Kardinallegat den Kanzler, die „magistri“ der Theologie und andere „probi viri“ der Stadt – der Bischof Wilhelm
64 1077 Sermones verzeichnet J. B. Schneyer: Repertorium der lateinischen „Sermones“ des Mittelalters für die Zeit von 1150 bis 1350. (Beiträge z. Gesch. der Phil. u. Theol. des MAs. XLIII). Bd. IV. Münster 1972. S. 394–483. Zur Predigt in der Krise der Universität von 1229/31 s. oben A. 43. 65 Zur Datierung der Lectura (beendet vor 1271. IV. 30) vgl. etwa Ch. Lefèbvre in: Dictionnaire de Droit Canonique. V. (Paris 1953). Sp. 1220 f. 66 Vgl. oben A. 28. 67 Vgl. oben A. 35.
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von Auvergne hatte sich offiziell krankheitshalber entschuldigen lassen – und läßt einen Kleriker vor sich bringen, der sich als rückfällig Irrender erwiesen hatte. Dieser Johannes von Brescain, so berichtet der Legat in einem Schreiben an die Magister und Scholaren der Pariser Universität, dem wir alle unsere Kenntnis verdanken68, hatte 68 schon früher vor dem | Bischof, dem Kanzler und den theologischen Magistern von Paris einigen Irrtümern in der Logik rechtsförmlich abschwören müssen. Gemäß dem Mandat des Bischofs hätte er nun, wie er es auch versprochen hatte, diese Irrtümer öffentlich widerrufen und selber bekämpfen müssen, so meint der Legat, habe aber weder das eine noch das andere getan, vielmehr habe er nur versucht, die inkriminierten Sätze zu entschuldigen oder abzuschwächen. Es nutzte dem Angeschuldigten wenig, daß er betonte, er habe diese ihm zur Last gelegten Äußerungen wohl getan, „sed sub alio intellectu, aliqua vero sub aliis predicatis et alio intellectu“. Er mußte einräumen, nach jener Abschwörung in einer öffentlichen Universitätsdisputation vor 30 Magistern als „respondens“ eine bestimmte These über die Natur des geschaffenen Lichtes vertreten zu haben, die der Zensor als „fast an den Arianismus heranreichend69“ einstufte. Aus seiner Verantwortung für die „puritas studii, que hactenus Parisius viguit“, fällte der Kardinal mit Rat und Zustimmung der anwesenden Magister und der anderen Urteilsfähigen70 – ausdrücklich erwähnt wird auch der Konsens, den der abwesende Bischof Wilhelm von Auvergne erteilt habe – den Spruch: zu der schon verwirkten Strafe, der Verpflichtung zum Widerruf mit allen Konsequenzen, soll Johannes von Brescain für immer aus Stadt und Dioezese Paris vertrieben sein; in Paris wie auch in den anderen Gebieten des Legationsbezirkes des Kardinallegaten, soll ihm verboten sein, an einer Universität öffentlich oder in privatem Zirkel zu lehren. Und damit nicht genug. Auf der gleichen Versammlung wird in Abwesenheit ein weiterer Magister, ein gewisser Remundus, zu einer – ebenfalls verschärften – Haftstrafe verurteilt. Auch hier hatte der Bischof bereits „de consilio magistrorum theologie“ den Mann mit einer Beugehaft für seine Irrtümer belegt, aber Remundus hatte sich, wie der Legat gehört hat, als nicht wirklich gebessert erwiesen, „sondern als widerspenstig, und er hatte das Gift seiner alten Irrtümer 68 69 70
CUP I, 206–208, nr. 176. Ibid. 206: „. . . que fere ad Arianam heresim accedera videbantur.“ Ibid. 207: „aliorum bonorum“.
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in wieder aufgelebter Anmaßung an einige Einfältige weitergegeben“71. Sollte man ihn ergreifen, sollte er wieder in den Kerker geworfen werden, und unter Banndrohung wird allen jegliche Kommunikation mit dem Verurteilten „in domo, mensa, doctrina“ zu Paris untersagt. Zur Frage der Prozedur in diesem Verfahren bleibt festzuhalten, daß in beiden Fällen erneut auf einen erstinstanzlichen Prozeß von Bischof, Kanzler und Magistern zurückverwiesen wird. Wann diese Vorprozesse stattgefunden haben, läßt sich nicht ermitteln, vielleicht hatte der Legat, der nun in der zweiten Phase so willig seine Kompetenz strafverschärfend zur Verfügung stellte, schon damals als Kanzler persönlich seine | Hand im Spiel? Wie bei der Verurteilung 69 von 1241/4 ergibt sich aber auch in diesen indirekt greifbaren Fällen, daß es das Ziel des Verfahrens vor dem erstinstanzlichen Gremium war, Irrtümer festzustellen. Der überführte Beschuldigte hatte dann diesen Irrtümern abzuschwören. Die Irrtumsliste ist uns meist verloren, in dem Verfahren gegen Johannes von Brescain kennen wir wenigstens den schließlich im Prozeß der zweiten Instanz strafentscheidenden Irrtum72. Der Eingriff des Legaten führt auf das Problem der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Bischof und Legat in diesen Verfahren. Es fällt auf, daß mit keinem Wort einer Intervention des Bischofs Erwähnung getan wird, durch die dieser das Eingreifen des Legaten gefordert hätte. Die Verhinderung des Bischofs bei der ausdrücklichen Betonung seines Konsenses zu dem Urteil braucht gleichwohl natürlich keine Spannung zwischen beiden anzuzeigen, wenn eine solche auch nicht auszuschließen ist. Das Verhältnis zwischen Bischof und Legat verdient unsere Beachtung aber auch in anderer Hinsicht. Der Legat entscheidet weder ganz allein kraft seiner Legationsvollmacht (wenn er sich auch auf seinen generellen Auftrag beruft, den Acker des Herrn von den Dornen der Irrtümer und Haeresien zu reinigen), noch bedient er sich einer Synode als Instrument. Er benutzt vielmehr das lokale Sondergremium der Pariser Diözese aus Prälat, Kanzler und Magistern, dessen Vorsitz er selbstverständlich übernimmt. Die Betonung des Konsenses des Ortsbischofs geschah wohl nicht ohne Rücksicht auf die Adressaten, denen jede Einrede von
71 Ibid. 207: „non correctum, sed contumacem et errorum pristinorum virus recidiva presumptione quibusdam simplicibus propinantem“. 72 Vgl. Ibid. 206, Zeile 4 f. v.u.
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vorneherein verlegt werden sollte. Eine Einschaltung der Kurie vorher oder nachher ist nicht bezeugt. Daß das Sondergremium als Pariser lokale Instanz den kasuellen Eingriff des päpstlichen Legaten überlebte, werden noch die Verfahren des Bischofs Stephan Tempier beweisen, auch wenn es in der nächst folgenden Phase der Entwicklung kaum in die Geschehnisse eingreifen wird. Das Jahrzehnt zwischen 1250 und 1260 an der Pariser Universität wird beherrscht von dem dramatischen Streit zwischen dem Weltklerus und den Bettelordenstheologen73 um die korporative Selbständigkeit der Universität74 und um die angemessene Lebensform der Kirche75. Daß in dem turbulenten Kampf auch mit der Waffe der Haeresiever70 dächtigung | auf beiden Seiten gearbeitet wurde, versteht sich angesichts der entscheidenden Fragen, um die gestritten wurde, von selbst. Hier kann es nicht darum gehen, jede einzelne solcher Verdächtigungen aufzugreifen und zu prüfen, wir wollen nur die förmlichen Verfahren oder die als Teil eines förmlichen Verfahrens gedachten Aktionen etwas näher betrachten. Schon vor Ausbruch des offenen Konflikts versuchten offenbar die enragierten Wortführer der Theologen aus dem Weltklerus die Grundlagen der Beichtpraxis der Bettelorden mittels eines Feststellungsverfahrens von der Universität Paris verurteilen zu lassen. Das Dokument, das uns über diese Aktion Aufschluß gibt76, ist aber in seinen Sachaussagen von zweideutiger Knappheit und legt sich – wohl absichtlich – in der eigentlichen Streitfrage nicht fest. Nur soviel wird deutlich, daß der Kanzler Haimericus „ceterique sacre scripture Parisienses doctores“ in einer gemeinsamen Sitzung am Jahresbeginn 1253 ein Votum verabschieden, das eine bestimmte Meinung verwirft („reprobamus, erroneum reputamus“) und eine andere als richtig akzeptiert, diesmal allerdings nicht in der Stilform einer „confessio“, 73 Vgl. dazu jetzt vor allem die farbige, reich dokumentierte Darstellung von M.-M. Dufeil: Guillaume de Saint-Amour (wie A. 61). 74 Besonders aufschlußreich hier P. Michaud-Quantin: Le droit universitaire dans le conflit Parisienne de 1252–1257. In: Studia Gratiana 8 (1962) 577–599. 75 Dazu vgl. vor allem J. Ratzinger: Der Einfluß des Bettelordensstreites auf die Entwicklung der Lehre vom päpstlichen Universalprimat. In: Theologie in Geschichte und Gegenwart (Festschrift M. Schmaus zum 60. Geb.). München 1957. S. 697–724. Y. M. J. Congar: Aspects ecclésiologiques de la querelle entre mendiants et séculiers dans la seconde moitié du XIII e siècle et le debut du XIV e. In: AHDL a. 36 t. 28 (1961) 35–151. Kürzer derselbe etwa in: L’église (wie A. 53) 248–252. 76 CUP I, 240–241, nr. 216; vgl. dazu M.-M. Dufeil: Guillaume. S. 92 f.
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sondern nur als Feststellung der übereinstimmenden Überzeugung der theologischen Fachleute („diximus et dicimus in hoc unanimiter consencientes“). Die Autorität der Theologen hatte offenbar inzwischen soweit zugenommen, daß man die pneumatische Emphase einer Bekenntnisformulierung unterließ77. Kanzler und Magister verwerfen einen Irrtum, sie verurteilen keinen Irrenden; vielleicht war es deshalb überflüssig, daß der Bischof sich an ihrer Versammlung beteiligte. So könnte man die Aktion ganz nahe mit jenem von Doucet für 1241 postulierten „act magistral“ in Analogie setzen. Die vorsichtige Entscheidung jedoch brachte in ihrer Unentschiedenheit keine Lösung des Streites; ja, sie konnte den ausbrechenden Konflikt nicht einmal beeinflussen. Auf diesen Akt wird man folgerichtig während des Konfliktes nicht mehr zurückkommen. Die Theologen des Weltklerus erblickten eine Chance, ihren Kampf gegen die Ordenstheologen für die Kurie verständlich zu machen, als ihnen im Laufe des Jahres 1254 eine Schrift des Franziskaners Gerardino de Borgo San Donnino in die Hände fällt, das Evangelium aeternum, in dem der Autor nach einem eigenen „liber introductorius“ drei Haupt | schriften des 1202 verstorbenen Calabreser Abtes Joachim 71 von Fiore noch einmal veröffentlichte78. Das eigentlich Anstößige war, daß der Franziskaner die exegetisch-spekulativen Geschichtsdeutungen Joachims in radikaler Zuspitzung zu einer Ortsbestimmung seiner Gegenwart umgedeutet hatte und für die nächste Zukunft den Anbruch der Geistkirche erwartete, die die Amtskirche, die Kirche des Neuen Testamentes, ablösen würde. Mit der Kirche würde auch
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Über das Verfahren berichtet Annibaldo Annibaldi in seinem Sentenzenkommentar (um 1260) im IV. Buch: „Semel requisiti magistri Parisienses tam in theologia quam in decretis (!) in hoc consenserunt et scripto editum fuit, cui omnes praedicti magistri apposuerunt sigilla sua, uno excepto, qui tarnen tenori litterae non contradixit, sed sigillum suum apponere noluit.“ (Hier zit. nach J. Quétif – J. Echard: Scriptores Ordinis Praedicatorum recensiti. I. Paris 1719 [Neudruck New York 1960]. S. 109 a–b). Zu Annibaldo vgl. etwa A. L. Redigonda in: Dizionario biografico degli Italiani 3 (Roma 1961) 342 a–344 b. – Für ein ähnliches Dokument vgl. unten A. 165. 78 Dazu vgl. vor allem H. Grundmann: Studien über Joachim von Fiore. (11927) Neudruck Darmstadt 1967. S. 15 f. – E. Benz: Ecclesia spiritualis. Kirchenidee und Geschichtstheologie der franziskanischen Reformation. (11934) Neudruck Darmstadt 1969. Bes. S. 244–255. – J. Moorman: A History of the Franciscan Order. Oxford 1968. S. 128 f. – M. Reeves: Prophetism in the Later Middle Ages. Oxford 1969. S. 59–70, 187–189. – M.-M. Dufeil: Guillaume. S. 126 f., 172 f. – B. Toepfer: Das kommende Reich des Friedens. Zur Entwicklung chiliastischer Zukunftshoffnungen im Hochmittelalter. (Forschungen zur mal. Geschichte. 11) S. 126–131.
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das Neue Testament selbst abgelöst vom „evangelium aeternum“, und als dieses „evangelium aeternum“ der kommenden Epoche stellt Gerardino drei Schriften des Joachim vor. Wilhelm von Saint-Amour und seine Freunde79 haben sich offenbar an die Arbeit gemacht, sobald sie den Traktat in Händen hatte. Sie formulieren eine Liste von 31 Irrtümern80, die sie teils im Introductorius des Gerardino, teils in der Concordia, der von Gerardino als erster Teil des Evangelium aeternum aufgefaßten Schrift Joachims, gefunden haben. Da Joachims Schrift überliefert ist, läßt sich die Methode der Exzerpierung gut verfolgen. Auch hier herrscht die thetische Zusammenfassung vor. Im wesentlichen lassen sich drei Hauptformen unterscheiden81. Einmal gibt es Sätze, die wie wörtliche Zitate erscheinen, von denen sich aber kein einziger als wörtlich identisch mit der Bezugstelle nachweisen läßt; vielmehr verschärfen die Exzerptoren den Sinn und spitzen die Tendenz der Aussage aufs Haeretische zu. Zweitens gibt es kurze wörtliche Zitate aus dem Joachim-Text, durch eine erläuternde Bemerkung wird aber auf gefährliche oder haeretische Konsequenzen aus diesem Zitat aufmerksam gemacht. Drittens finden sich Zusammenfassungen längerer Ausführungen Joachims zu knappen Thesen, die natürlich auch den Beweisgang zumindest pointieren. So sehr aber diese polemische Liste dem Gebräuchlichen entsprochen haben mag, die im herkömmlichen Verfahren angelegte Fortsetzung der Prozedur, die Versammlung von Kanzler und Magistern 72 und schließlich | vielleicht die Verurteilung durch Bischof, Kanzler und Magister, war den Anklägern versperrt, da ja gerade die Zugehörigkeit der Mendikanten zur „societas“ der Magister strittig war. Der Bischof 82 wagte es jedenfalls nicht, auf die gewohnte Weise zu prozedieren, und schickte das inkriminierte Buch83, vielleicht zusammen mit den Pariser Exzerpten84, an den Papst zur Überprüfung. Da
79 M.-M. Dufeil, S. 127, schreibt Wilhelm die Abfassung allein zu. Die Mitwirkung Wilhelms ist gewiß höchst plausibel, seine alleinige Verfasserschaft dürfte dagegen nicht erweislich sein. 80 Beste Edition bei E. Benz: Joachimstudien II. Die Exzerptsätze der Pariser Professoren aus dem ‚Evangelium aeternum‘. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 51 (1932) 415–455 (Text 415–426). Früher CUP I, 272–276, nr. 243. 81 Vgl. E. Benz: Joachimstudien II, 441 f. Vgl. auch bereits H. Denifle: Das „Evangelium aeternum“ und die Commission zu Anagni. In: ALKG 1 (1885) 49–142, hier 70–88. 82 Rainald von Corbeil, 1250–1268. VI. 6. 83 Vgl. CUP I, 297, nr. 257 und das Protokoll von Anagni, ed. H. Denifle (wie A. 81), 99–142, hier 99. 84 M.-M. Dufeil läßt (S. 124 f.) Wilhelm selbst die Exzerpte überbringen (dagegen
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Innozenz IV. aber am 7. Dezember 1254 starb, ohne weitere Veranlassungen treffen zu können85, blieb es die Aufgabe seines am 12. Dezember 1254 gewählten Nachfolgers Alexander IV., die Angelegenheit weiter zu verfolgen. Alexander, vor seiner Wahl Kardinalprotektor des Franziskanerordens86, hat sich im Pariser Mendikantenstreit ganz anders orientiert als sein Vorgänger, aber in dieser Frage ließ er eine genaue Untersuchung vornehmen. Er übertrug sie einer Kommission von drei Kardinälen: Odo von Chateauroux, dem Dominikaner, früheren Theologiemagister in Paris und berühmten Exegeten Hugo von Saint Cher87 und Stefan von Vancsa88. Da diese Kommission sich offenbar zu besonderer Sorgfalt verpflichtet wußte, begnügte sie sich nicht damit, die ihr nachweisbar vorliegenden Exzerpte der Pariser Professoren zu benutzen89, sondern machte sich die Mühe, die inkriminierte Schrift selbst durchzuarbeiten. Zuerst untersuchte sie Gerardinos Introductorius. Man notierte irrige Anschauungen, und schrieb dazu aus | führliche wörtliche Zitate nieder mit genauer 73 Fundstelle90. „Diese Irrtümer und Unsinnigkeiten haben wir in diesem Buch gefunden, und weil das ganze Buch mit solchen und ähnlichen
vgl. S. 172), aber das hat nur chronikalische Zeugnisse für sich, vgl. schon H. Denifle: Das „Evangelium aeternum“, 87. 85 M.-M. Dufeil läßt (S. 172) die Kommission bereits von Innozenz IV. berufen sein. Zu dieser Vermutung besteht kein Anlaß. Im Protokoll von Anagni (S. 99 Denifle) muß „eodem“ nicht Personengleichheit implizieren, da es auf institutionelle Identität abstellt. Auch das Verurteilungsdekret (wie unten A. 93) gibt keinen Anhaltspunkt für eine solche Vermutung. Die Zusammensetzung der Kommission spricht aber sehr heftig gegen sie. 86 Z. B. Philipp von Perugia: Epistola de cardinalibus protectoribus (entst. ca. 1305), ed. O. Holder-Egger in: MGH SS XXXII, 682. Vgl. dazu W. R. Thomson: The Earliest Cardinal Protectors of the Franciscan Order. A Study in Administrative History, 1210–1261. In: Studies in Medieval and Renaissance History 9 (1972) 17–80, hier 52–63. 87 Zu Hugo von Saint Cher (Magister in Paris 1230–1235, Kardinal 1244, † 1263) vgl. z.B. B. Smalley: The Study of the Bible in the Middle Ages. Oxford 21956. S. 264–355, bes. 269–275, 279. Eine gute biobibliographische Übersicht gibt A. Paravicini Bagliani: Cardinali di curia (wie A. 63) S. 256–265. 429 Sermones von ihm verzeichnet J. B. Schneyer: Repertorium (wie A. 64) II, 758–785. 88 Zu ihm vgl. wiederum bes. A. Paravicini Bagliani, S. 349–352. Stefan war später (1263) Kardinalprotektor der Franziskaner, vgl. Philipp von Perugia: Epistola (wie A. 86) 682. Da Alexander IV. zunächst nach seiner Wahl keinen Kardinalprotektor bestellen wollte (MGH SS XXXII, 681, 10 ff.) hat er vielleicht Stefan v. Vancsa seiner franziskanischen Interessen wegen in die Kommission geschickt? 89 Vgl. E. Benz: Joachimstudien II, S. 453 f. mit A. 29. 90 Der Text des Protokolls ed. H. Denifle (wie A. 83); über die 1. Sitzung berichtet S. 99–102; das folgende Zitat S. 102: „Istos errores et fatuitates invenimus in isto libro, et quia totus liber istis et consimilibus respersus est, ideo noluimus plura scribere, quia credimus ista sufficere ad cognoscendum de libro.“
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Aussagen übersät ist, wollten wir nichts weiter niederschreiben, zumal wir glauben, daß dies für ein Urteil über das Buch ausreicht“. Am 8. Juli 1255 kam die Kommission dann noch einmal zusammen91. Vor ihr erschien der Bischof von Akkon Florentius mit einem – vielleicht im Auftrag der Kardinäle – angefertigten Gutachten: „proponens quedam verba de libris Joachim extracta, suspecta sibi, ut dicebat“. Diese Ausarbeitung ist uns als Teil des Protokolls erhalten92. Sie geht in 5 Themenkomplexen vor und zieht in systematischer Anordung eine Fülle von wörtlichen und exakt lokalisierten Zitaten aus Joachims Schriften an. Die Kardinäle ließen zwei Helfer in den „originalia“ des Joachim von Fiore nachschlagen, ob die Zitate, die der Schreiber des Bischofs von Akkon verlas, auch in ihnen enthalten waren. Ohne Zweifel war das Ergebnis der Überprüfung positiv, da noch heute die Exaktheit der Zitation feststellbar bleibt. Die Kommission konnte das Ergebnis ihrer Mühen an den Papst weiterreichen. Alexander IV. hat die Verurteilung der Schrift mit einem Mandat vom 23. Oktober 1255 vorgenommen93. Dem Bischof von Paris wird mitgeteilt, der Papst sei mit den Kardinälen, also offenbar in einem Konsistorium, zum Schluß gekommen, der von der Kardinalskommission sorgfältig geprüfte Introductorius sei zu vernichten. Das Urteil wird offenbar auch auf die Exzerptsätze der Pariser Professoren ausgedehnt. Beide, der „Introductorius“, wie ironischerweise diese seine erste Anklageschrift94 sollten vom Bischof unter Exkommunikationsdrohung eingezogen und beseitigt werden. Ein Mandat, das 10 Tage später an denselben Adressaten ergeht, fordert den Bischof dann auf, „so überlegt, so vorsichtig und so umsichtig“ vorzugehen95, daß der Ruf der Franziskaner keinen Schaden nähme. Der Bischof verschob 74 zunächst den Vollzug | des Urteils. Anfang Mai 1256 wiederholte der
91 Die Kommission tagte diesmal in etwas veränderter Besetzung, da sich Stefan von Vancsa hatte entschuldigen lassen, seinen Kollegen aber Vollmacht zum Abschluß der Untersuchungen erteilt hatte. Diese zogen zu ihrer Unterstützung zwei Mendikanten bei. Vgl. das Protokoll (S. 102 Denifle), dort auch das folgende Zitat. 92 Protokoll (S. 102–142 Denifle). Über Florentius vgl. etwa H. Denifle (wie A. 81) 89 f. 93 CUP I, 297, nr. 257. 94 Die Verurteilung erfolgte allerdings nicht unzweideutig. Vielleicht erklärt es sich auch daher, daß die späteren Gutachter im Olivi-Prozeß weiterhin die Exzerptsätze, und nicht das „offizielle“ Protokoll der Kommission von Anagni zitieren, vgl. E. Benz: Joachimstudien II. S. 429 f. 95 CUP I, 298, nr. 258: „sic prudenter, sic caute, sic provide“.
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Papst den Auftrag96 mit noch genaueren Anweisungen, wie jeder Skandal zu vermeiden sei. Der Papst hat also die Zensur des Buches in einer globalen Verdammung vorgenommen, ähnlich wie Innozenz II. es gegen Abaelard nach Sens getan hatte, oder wie Honorius III. das Buch „Per‹ fÊsevw“ verurteilt hat. Die Irrtumsliste selbst, die seinem Urteil zu Grunde lag, teilt er nicht mit97. Die Schriften des Joachim dagegen, an denen die Kommission auch eine Menge von Ausstellungen gemacht hatte, hat der Papst völlig unzensiert gelassen. Die Verurteilung des Buches hatte das Problem nicht gelöst, wie mit dem Autor zu verfahren war. Aber man fand geräuschlosere Wege, als daß der Papst selber hätte Gerardino belangen oder den Bischof von Paris mit seiner Aburteilung beauftragen müssen. Der Franziskanerorden nahm sich seiner an. Gerardino wurde zuerst in seine italienische Heimatprovinz zurückbeordert und 1258 dann, zusammen mit einem Gefährten, zu dauerndem Kerker verurteilt. Achtzehn Jahre lang sollte er dort noch leben98. Durch allgemeine disziplinäre Maßnahmen versuchten die Bettelorden, für die Zukunft ähnlichen Anstoß zu vermeiden. Die Franziskaner bestimmten, hinfort solle keine Bruder irgendetwas publizieren, ohne die Billigung des Provinzialkapitels einzuholen99. Damit haben sie auf den Skandal offenbar ähnlich reagiert wie die Dominikaner
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CUP I, 315 f., nr. 277. Aber man wußte sie sich in Paris offenbar zu verschaffen: Alle Mss., in denen das Protokoll der Kommission enthalten ist, sind Pariser Provenienz (vgl. Denifle, Das Evangelium, 97 f.). Der Introductorius des Gerardino ist verlorengegangen; dagegen besitzen wir wahrscheinlich in einem verstümmelten Ms. (Breslau A. 126) noch die Textfassung des eigentlichen Evangelium aeternum des Gerardino, vgl. B. Töpfer: Eine Handschrift des „Evangelium aeternum“ des Gerardino von Borgo San Donnino. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 8 (1960) 156–163. 98 Vgl. dazu Angelo von Clareno: Historia septem tribulationum, ed. F. Ehrle in ALKG 2 (1886) S. 277 u. 283–284; ed. A. Ghinato (Sussidi e testi per la gioventù francescana. 10) Roma 1958/59. S. 115 f. u. 124–126. – Salimbene de Adam: Cronica, ed. O. Holder-Egger in: MGH SS XXXII, 237 f., 455 f. 99 Salimbene de Adam, Cronica (S. 462 Holder-Egger): „Occasione enim istius Ghirardini ordinatum est, ut de cetero nullum novum scriptum extra ordinem publicetur, nisi prius fuerit per ministrum et diffinitores in provinciali capitulo approbatum.“ Diese Bestimmung ging in die ersten Generalkonstitutionen des Ordens (Narbonne 1260) fast wörtlich ein, nur daß dort als zusätzlicher Prüfungsberechtigter der Generalminister (1260 bekanntlich Bonaventura) erscheint; vgl. die letzte Edition durch M. Bihl: Statuta generalia ordinis . . . in: AFH 34 (1941) 73 (c. VI. 21), vgl. S. 80. Dazu R. B. Brooke: Early Franciscan Government. Elias to Bonaventure. (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought. N. S. 7) Cambridge 1959. S. 230, 269, 295. 97
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schon 1243 und 1244. Auch die Dominikaner ergänzten ihre damaligen Bestimmungen auf ihrem Generalkapitel in Paris 1256 durch 75 einen Zusatz, der jede | Publikation der Vorprüfung durch eine vom Generalmagister oder den Provinzialprioren eingesetzte Kommission unterwarf 100. Hatte der Papst dadurch, daß er dem Pariser Bischof auftrug, jedes öffentliche Aufsehen bei der Exekution seiner Entscheidung zu vermeiden, verhindert, daß die Theologen aus dem Weltklerus ihren Triumph allzu spektakulär auskosten konnten, so bot sich den Mendikanten im Verlaufe des nächsten Jahres schon überdies Gelegenheit, die Waffe, die gegen einen der Ihren gebraucht worden war, nun gegen Wilhelm von Saint-Amour selbst zu kehren. Es entspricht der inneren Logik des Kampfes, daß Wilhelm sich nicht nur daran machte, seine Grundauffassung in einer eigenen Streitschrift De periculis novissimorum temporum zusammenzufassen101, sondern auch unermüdlich in Predigten und Stellungnahmen seine Thesen vor einem größeren Publikum vertrat. Die Mendikanten gingen schließlich nach mancherlei polemisch-publizistischem Schlagabtausch zum disziplinären Gegenangriff über102. Die Dominikaner veranlaßten den König von Frankreich, durch zwei seiner „clerici“ Wilhelms Traktat an die Kurie zur Überprüfung zu senden103. Dieser Umweg ist bezeichnend. Der Bischof, der sich schon bei der Durchführung des Urteils gegen den „Introductorius“ des Gerardino vorsichtiger Zurückhaltung befleißigt hatte, war offensichtlich für ein solches Vorgehen nicht zu gewin-
100 (Ed. B. M. Reichert in MOPH 3, 78, 1. 16–19): „. . . nulla scripta facta vel compilata a nostris fratribus. aliquatenus publicentur. nisi prius per fratres peritos quibus magister. vel prior provincialis commiserit, diligenter fuerint examinata.“ – Gesondert zu untersuchen wäre der Einfluß, den solche disziplinäre Folgerungen auf die Schulenbildung des späten 13. und erst recht des 14. Jhds., und damit letztlich auf die Verknöcherung der Spätcholastik im 15. Jh. gehabt haben. 101 Vielleicht aufgrund einer Aufforderung durch die Prälaten einer Synode der Kirchenprovinz Sens in Paris (1256. III. 1), wie er jedenfalls selbst in seinen Articuli berichtet (ed. E. Faral [wie A. 104], 359 f., § VI), vgl. dazu jetzt M.-M. Dufeil: Guillaume. S. 203 ff., bes. 206 ff. 102 Über die literarische Polemik, die – wie vor der Synode von Sens im 12. Jh. – beide Seiten führten, vgl. bes. Y. M. J. Congar: La querelle (wie A. 75), 44–46, 53–87, 88–114. Außerdem etwa M.-M. Dufeil: Guillaume, passim. Einzelne Autoren behandeln z.B. neuerdings Ch. Zuckermann: Aquina’s Conception of the Papal Primacy in Ecclesiastical Government. In: AHDL a. 48 t. 40 (1973) 97–134. – D. L. Douie: St. Bonaventure’s Part in the Conflict between Seculars and Mendicants in Paris. In: S. Bonaventura 1274–1974. Volumen commemorativum (. . .) cura et studio Commissions Internationalis Bonaventurianae. II. Grottafrerata (Roma) 1973, S. 585–612. 103 CUP I, 324–326, nr. 282. Vgl. M.-M. Dufeil, S. 214.
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nen. Der ungewöhnliche „Dienstweg“ der Anklage ist denn auch vereinzelt geblieben. Allerdings verzichten die Mendikanten nicht auf die Einschaltung der lokalen kirchlichen Lehraufsicht. Im Februar wird Wilhelm nach einer öffentlichen Predigt in Mâcon vor dem dortigen Bischof von den Dominikanern verklagt104, kann sich aber | 76 „coram eodem episcopo et coram clero et populo ipsius civitatis“ reinigen, indem er auf alle Anklagesätze105 zu antworten weiß. Aus seinen Predigten in Paris stellen die Dominikaner noch im gleichen Jahr wiederum eine Liste von 24 Irrtümern zusammen, die sie erneut dem König zur Weiterleitung nach Rom übermitteln106. Als der Erzbischof von Tours in einer feierlichen Predigt vor dem König und vor dem Bischof von Paris, wohl auf diese Liste gestützt, ausführlich die Auffassungen Wilhelms zu widerlegen beginnt, da entschließt sich dieser zu einem Schritt, der die Mitte hält zwischen privatem Protest und der Applikation der uns schon bekannten Magisterversammlung als Lehrzuchtinstanz. Am nächsten Sonntag bei seinem Entlastungsversuch im Atrium der Innozenzkirche brachte er zwei befreundete Magister der theologischen Fakultät mit und betonte ausdrücklich, daß alle anderen Theologen der Universität (die Magister aus den Bettelorden natürlich ausgenommen) nur zufällig außerhalb der Stadt weilten107. Er ließ sich eine große Menge von Büchern dorthin schaffen und erklärte öffentlich, daß er sich anheischig mache, mit ihrer Hilfe die Wahrheit seiner Position zu beweisen. Mit einer ironischen Wendung habe er das, wie ihm später seine Gegner vorhalten werden, ausdrücklich polemisch unterstrichen. Er soll erklärt haben: er habe dem Volk die Wahrheit gesagt und wolle sie auch künftig sagen, „sed non poterat eam confirmare per mitras, anulos et croceas, nec adducere archiepiscopos et episcopos“, darum sei er auf Argumente, und somit auf Bücher angewiesen. Nach seiner Rede aber habe er die Irrtumsliste seiner Gegner verlesen lassen und ihr Punkt für Punkt geantwortet. Da niemand widersprach und auch die theologischen Magister sich mit ihm einer
104 Die Datierung bei E. Faral (Les „Responsiones“ de Guillaume de Saint-Amour. In: AHDL a. 25/26 t. 18, 1950/51, 337–394, hier 369 f.): 1255. X–1256. II; M.-M. Dufeil datiert (S. 201) auf 1256 II. 105 Diese ursprünglichen Anklagesätze sind wohl im wesentlichen identisch mit art. 1–13 der Articuli (wie ich sie nach M.-M. Dufeil, S. 335 A. 28, nenne), vgl. S. 340–345 Faral (wie A. 104). 106 Art. 39 (S. 354 Faral), vgl. E. Faral S. 391. 107 Ibid. art. 39–42 (S. 353–355 Faral), vgl. E. Faral, S. 372 f., 382.
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Meinung erklärten, mußte er die bereitgehaltenen Bücher aber gar nicht öffnen. Man kann diesen Schritt des Theologen nur als eine taktische Meisterleistung bezeichnen. Er hatte, obwohl die herkömmlichen Instanzen arbeitsunfähig waren, den Schein einer „de-facto“-Entscheidung des Pariser Kollegiums induziert. Eine Pariser Synode der Bischöfe der Kirchenprovinzen Sens und Reims, die gleichzeitig in Paris tagte, wagte es jedenfalls nicht, von sich aus über die Streitfragen zu entscheiden108, obwohl sie vom dominikanischen Generalmagister 77 Humbert von | Romans109 dazu gedrängt wurde: ob dabei nun, wie wahrscheinlich, aber nicht erweislich ist, die Irrtumsliste in 24 Punkten eine Rolle spielte, oder nicht, die Synode schlug beiden Parteien nach ihrer Anhörung vor, die Sache auf einer gesondert dafür angesetzten Synode unter Beiziehung juristischer und theologischer Experten auch aus benachbarten Kirchenkreisen zu beraten, damit gegebenenfalls der Geltungsbereich eines Konzilsbeschlusses erweitert werde. Während Wilhelm „gern“ auf diesen Vorschlag einging, wollte sich Humbert von Romans für die Dominikaner an solchen Synodalbescheid nicht von vorneherein binden lassen. Solch ein Beschluß habe rechtlich nur in der Provinz Sens unmittelbare Geltung, und andere Provinzen brauchten sich nicht unbedingt an diese Entscheidung zu halten. Der Dominikanerorden aber, dem ja die Irrtümer am meisten schadeten, sei „per omnia regna . . . diffusus“. An dieser gescheiterten Vermittlungsaktion ist bemerkenswert, daß auf keiner der drei beteiligten Seiten vom Papst als einer möglichen Instanz auch nur die Rede ist. Weder die Bischöfe, noch auch, was besonders verwundern muß, die Dominikaner bringen die Alternative einer päpstlichen Lehrentscheidung zur Sprache, obwohl doch die Mendikanten die römische Kurie über den französischen König schon eingeschaltet wissen konnten, und ihr kurz nach diesen Verhandlungen 108 Articuli V. A. (S. 356 Faral.) Vgl. E. Faral, S. 373, u. M.-M. Dufeil: Guillaume. S. 250 f. – Nur weil Wilhelm darauf bestand, die erfolglosen Verhandlungen schriftlich zu fixieren, wird ihm ein Instrument ausgefertigt und mit den Siegeln von 12 anwesenden Bischöfen beglaubigt: CUP I, 329 f., nr. 287 (Hier auch die Zitate der Argumente beider Seiten). 109 Vgl. bes. F. Heintke: Humbert von Romans. (Historische Studien. 222). Berlin 1933. (S. 53–77 über seine Tätigkeit als Magister des Ordens). – W. A. Hinnebusch: The History of the Dominican Order. II. New York 1973. S. 288–294, 326–328. – 3 Sermones verzeichnet J. B. Schneyer: Repertorium (wie A. 64) II (1970), 818 f. – Die Bedeutung seines Predigthandbuches verfolgt A. Murray: Religion Among the Poor in 13th Century France. The Testimony of Humbert of Romans. In: Traditio 30 (1974) 285–324.
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auch die Irrtumslisten gegen Wilhelm von Saint-Amour auf demselben Wege zugeleitet haben. War es auf der Synode nicht opportun, die Einschaltung der Kurie zu ventilieren? Darüberhinaus aber zeigt sich hier erneut eine tiefe Kluft zwischen den ekklesiologischen Vorstellungen der Mendikanten und denen der Theologen des Weltklerus. Wilhelm hatte auch schon gegen die strikte päpstliche Aufforderung, die mendikantischen Professoren in die „societas“ der Magister wieder aufzunehmen, an ein Konzil appelliert110. Seine Vorstellungen von den Kompetenzen des römischen Bischofs gingen viel weniger weit, als die seiner Gegner, und er wußte sich Alexander IV. gegenüber ohne Zweifel im Recht, auch wenn er historisch schließlich seine Sache nicht siegreich durchstehen konnte. Daß all diese Konzilspläne sich nicht realisieren ließen, machte aber den Papst, der bei aller Bemühung um eine arbiträre Distanz spätestens seit seiner endgültigen organisatorischen Entscheidung in der Auseinan | dersetzung an der Pariser Universität111 Partei war, 78 zur letzten verbleibenden Instanz, von der eine autoritative Lösung der Streitfrage noch zu erwarten war. Genaue Unterlagen über das Verfahren sind nicht überliefert. Nur so viel ist deutlich112. Der Papst beauftragte wiederum eine Kardinalskommission mit der Prüfung des ihm übersandten Traktats. Auch diesmal gehörten dieser Kommission wieder Odo von Chateauroux und Hugo von Saint Cher an113. Diese Kommission hat das Buch sorgfältig gelesen, reiflich und streng
110 Vgl. Articuli, art. 37, art. 42 und resp. 37 (S. 353, 355 Faral). Dazu E. Faral, S. 379. 111 Quasi lignum vitae (1255. IV. 14) in: CUP I, 279–285, nr. 247. An diesem Spruch hat Alexander IV. stets als seinem letzten Wort in der organisatorischen Streifrage festgehalten. 112 Diese Aussagen lassen sich aus der Narratio des Verurteilungsdekrets (CUP I, 331–333, nr. 288) entnehmen. Vgl. auch die gleichlautenden Angaben im Schreiben an den König von Frankreich (CUP I, 337 f.; nr. 291, oder CUP I, 353, nr. 308). 113 Außerdem gehörten zur Kommission noch der Zisterzienserkardinal englischer Herkunft Johannes von Toledo, der zusammen mit Hugo von Saint Cher bereits den Zisterzienser Wilhelm von Aumône vor der Erteilung der theologischen „licentia“ durch den Papst geprüft hatte (vgl. CUP I, 302 f., nr. 265; dazu P. MichaudQuantin: Guy de l’Aumône, premier maître cistercien de l’Université de Paris. In: Analecta S. Ordinis Cisterciensis 15, 1959, 194–219) und Johannes Gaetano Orsini, der spätere Kardinalprotektor der Franziskaner (1263–1279), der damals besonders gute Beziehungen zum französischen König hatte und später als Nicolaus III. (von 1277. IX. 25 bis 1280. VIII. 22) Papst sein sollte. Vgl. auch A. Paravicini Bagliani: Cardinali (wie A. 63), S. 228–241 (zu Johannes von Toledo) u. S. 314–323 (zu Johannes Gaetano Orsini).
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geprüft und dem Papst darüber einen vollständigen Bericht erstattet, also offensichtlich die schon im Falle des Evangelium aeternum befolgte Prozedur wiederholt. Wieder ist der Angeklagte selbst bei der Untersuchung nicht zugegen, es wird allein aus den Akten entschieden. Wiederum nimmt der Papst in sein Verurteilungsdekret die von der Kommission erhobenen Irrtümer nicht im einzelnen auf, sondern begnügt sich mit einem sehr summarischen Hinweis auf ihre Grobgliederung, so daß wir nicht beurteilen können, wieweit die lebhafte publizistische Kontroverse von Paris her auf die Kommission eingewirkt hat114. Die chronikalischen Nachrichten geben phantastische und teilweise allein durch das feststellbare Itinerar der betroffenen Theologen ausgeschlossene Kombinationen: so sollen Thomas von Aquin ebenso wie Bonaventura für die Position ihres Ordens gestritten haben. Einzig und allein Albertus Magnus kann mit einiger Wahrscheinlichkeit beanspruchen, an dem Verfahren in Anagni wirklich beteiligt gewesen zu sein115, wenn auch die näheren Umstände seines Auftrittes nicht sicher rekonstruierbar sind. Vor der aus Akten arbeitenden 79 Kommission hat er seine | Disputation jedenfalls kaum gehalten, und eine späte Quelle, die darin aber den Usancen des 14. Jhds. folgen könnte, berichtet denn auch ausdrücklich von einem Konsistorium116, bezieht sich also entweder auf die Einsetzung der Kommission oder auf die Sitzung, in der diese ihren Bericht vorlegte. Die Prozedur im Ganzen ist dennoch einigermaßen klar. Der Papst setzt, vielleicht bereits in einem Konsistorium, die Kardinalskommission ein, die dann eine schriftliche Relation anfertigt. Wiederum in einem Konsistorium wird daraufhin das Urteil gefunden. Hier lautet es durchaus analog wie im Falle des Gerardino. Der Papst verdammt das Buch, diesmal „presente magna fidelium multitudine“117 und läßt es offenbar auch in Paris in Gegenwart des Königs öffentlich verbrennen118. Von dem Autor oder den Autoren fällt zunächst kein Wort.
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Vgl. aber die Liste der Irrtümer in den Christian von Beauvais betreffenden Urkunden (wie unten A. 119 f.). 115 Vgl. M.-M. Dufeil, S. 261 mit 281 A. 229 ff. 116 Heinrich von Herford (†1370): Liber de rebus memorabilioribus sive Chronicon (entst. 2. Hälfte des 14. Jhds.), ed A. Potthast, Göttingen 1859, S. 197 (zit. bei M.-M. Dufeil, S. 282 A. 231). 117 So die Worte Alexanders IV. in CUP I, 334,34 (nr. 289). 118 Diese vom Verfahren gegen das Evangelium aeternum (vgl. oben A. 95 f.) merklich abweichende öffentliche Verbrennung ist bezeugt bei Philipp von Perugia: Epistola
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Am 5. Oktober 1256 hatte Alexander seinen Spruch gefällt. Wenig später müssen sowohl Wilhelm von Saint-Amour, als auch die Prozeßprokuratoren der Pariser Magister aus dem Weltklerus, Odo von Douai und Christian von Beauvais, in Anagni eingetroffen sein. Der Papst benutzt dieses Zusammentreffen, um sie zur Unterwerfung zu zwingen. Zunächst lenken die Prokuratoren der Magister ein. Offenbar war mit der Durchführung der prozessualen Schritte dieselbe Kardinalskommission betraut, die sich schon für den Traktat De periculis sachkundig gemacht hatte, jedenfalls aber sind es zwei ihrer Mitglieder, Hugo von Saint Cher und Johannes Orsini, vor denen die beiden Prokuratoren am 18. Oktober zunächst einen körperlichen Eid zu leisten haben, den Urteilsspruch des Papstes gehorsam zu akzeptieren. Wenige Tage später, am 23. Oktober 1256, vollziehen sie dann vor denselben beiden Kardinälen in Gegenwart zahlreicher Zeugen und eines Notars ihre Unterwerfung119. Außer vier Auflagen, die die organisatorische Seite des Bettelordensstreites betreffen, beschwören sie auch in einem fünften Artikel, sich künftig in Predigten und öffentlichen Erklärungen von dem neulich durch den Papst verurteilten Traktat, d.h. von De periculis, zu distanzieren. Sie sollen dabei das Buch verwerfen („reprobent“) und ausdrücklich fünf besonders aufgeführte Thesen vertreten, die der Schrift Wilhelms von Saint-Amour entgegengesetzt sind. Tatsächlich besitzen wir noch ein | Instrument, 80 in dem der Vollzug dieser Auflage durch Christian von Beauvais für den August 1257 in Paris bezeugt ist120. Über den Prozeß Wilhelms haben wir kein vergleichbares Aktenstück, wenn wir auch sein weiteres Schicksal in groben Zügen ermitteln können. Zunächst wurde er offenbar vor Kardinälen – wahrscheinlich wieder derselben Kommission, die schon sein Buch untersucht hatte121 – zu den gesammelten Irrtumslisten der Dominikaner verhört und wurde dabei auch über die Synode von Paris und über seinen Anteil an der Abfassung des Traktats De periculis vernommen.
(wie A. 86) und im Catalogus generalium ministrorum o.f.m. (Archetyp ebenfalls ca. 1305), beide ed. O. Holder-Eger, in: MGH SS XXXII, 681, 19–21, bzw. 663, 5–8. 119 CUP I, 338–340, nr. 293. 120 CUP I, 364–367, nr. 317. Die ursprüngliche Auflage, auch in der Universitätsstadt Bologna den gleichen Widerruf zu vollziehen, war Christian erlassen worden, da dieser darauf verwiesen konnte, daß er des Italienischen nicht mächtig war. Einen lateinischen Widerruf hat man offensichtlich nicht erwartet. 121 Bzw. einem Teil von ihr, analog zum Fall der Prokuratoren.
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Seine Antworten, die er selbst schriftlich fixierte, sind erhalten122: offenbar fuhr die Kommission in der schriftlichen Verfahrensform fort, die sie schon früher geübt hatte. Zum Ergebnis des Verfahrens besitzen wir kein unmittelbares Dokument, aber sicher ist, daß auch Wilhelm einen Gehorsamseid leisten mußte, „de stando precise mandatis nostris“, wie der Papst später berichtet123. Es war Wilhelm daraufhin verboten worden, jemals wieder das „regnum Francie“ zu betreten, und strikt wird ihm jede Lehr- und Predigttätigkeit ohne ausdrückliche Sondererlaubnis des apostolischen Stuhls untersagt. Der Strafe für Häretiker verfiel er nicht. Für die ihm verbleibende Zeit lebt er zurückgezogen in dem Ort seiner Herkunft, Saint-Amour, am Fuße des französischen Jura, wo er am 13. September 1272 stirbt124. Im Rahmen unserer Fragestellung müssen wir festhalten, daß sich während des Mendikantenstreites zum ersten Male seit dem 12. Jhd. wieder die römische Kurie unmittelbar in die Lehrstreitigkeiten an der Pariser Universität eingeschaltet hat. Das Verfahren, das angewandt wurde, zeigt sehr deutlich die Anpassung an die besondere historische Situation, und ist zugleich davon bestimmt, daß der doktrinäre Konflikt sich von dem institutionellen kaum trennen ließ. Der Papst, der seine Entscheidung im instutionellen Streit zwar mühsam, aber schließlich doch vollständig zur Geltung bringen konnte, hat auch im Kampf der Doktrinen seine Kompetenz unmittelbar wahrgenommen, die er in den vorangehenden Verfahren in dieser Weise noch nicht genutzt hatte. Im 12. Jhd. hatte der Papst seine Entscheidung nicht ohne konziliare Vorbereitung (wie in Sens) gefällt, nur beim Urteil über den Bischof Gilbert von Poitiers hatte er selbst im Konsistorium die Untersuchung geführt. Im 13. Jhd. hatte der 81 Papst nur in dem Prozeß des Amalrich von Bena | als Appellationsinstanz entschieden, sonst nur mittelbar durch seine Legaten eingegriffen, wobei es sich von selbst versteht, daß die Legaten in diesen Fällen wohl ihre Kompetenz vom apostolischen Stuhl ableiteten, nicht aber Einzelinstruktionen von dort erhielten. Jetzt hat die Kurie selbst zu befinden, und es verwundert nicht, daß sie sich des in Paris gebräuchlichen Mittels der Untersuchung bedient: der Irrtumsliste. Der Ort der Entscheidung ist das Konsistorium, aber dieses Konsistorium ist nicht der Ort der Untersuchung. Die Kardinalskommis122 123 124
Die Articuli, ed. E. Faral (wie A. 104) 340–361, nach 4 französischen Mss. Vgl. CUP I, 362, nr. 314; CUP I, 363, nr. 315. Vgl. M.-M. Dufeil, S. XX mit A. 4, und S. 331 mit 350 A. 326.
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sion ist das eigentliche Neue und Zukunftsträchtige an den beiden Verfahren der Jahre 1255 und 1256. Unterstreichung verdient auch, daß die Irrtumsliste, zumindest im Prozeß gegen Gerardino, vielleicht gerade wegen der institutionellen Trennung von Untersuchung und Urteilsspruch eine Fortentwicklung erfährt. Das wörtliche Zitat löst zum ersten Male nachweislich das thetische Exzerpt ab. Aber alle diese Phänomene bedeuten noch nicht, daß außerhalb der extremen Ausnahmesituation, die der Bettelordensstreit heraufgeführt hatte, sich dieses neue Verfahren bereits allen Beteiligten von selber aufdrängte. Die Verurteilungen im Paris der 70er Jahre sollten zeigen, daß davon keine Rede sein kann. Kein äußeres Ereignis der Universitätsgeschichte des Mittelalters hat so vielfältige Aufmerksamkeit verschiedenster Forscher auf sich gezogen wie die beiden Verurteilungen, die der Pariser Bischof Stephan Tempier 1270 und 1277 aussprach125. Für unsere Frage, in welcher Weise sich das Kräftedreieck aus Papst, Bischof und Universität in diesen Verfahren darstellt, geben uns die spärlichen Nachrichten weit weniger unmittelbaren Aufschluß, als es wünschenwert wäre. Soviel aber ist immerhin deutlich, daß der Bischof von Paris, Stephan Tempier, der ebenfalls zuvor Magister der Theologie, Kanoniker von Notre Dame und schließlich 1263 bis 1268 Kanzler gewesen war126, in beiden Fällen auf die herkömmliche Pariser Prozedur zurückgegriffen hat. Am 10. Dezember 1270 hat er eine Liste von 13 meist averroistischen Irrtümern verurteilt. Die uns erhaltene Aufzeichnung127 spricht zwar nur von den „errores condempnati et excommunicati cum omnibus, qui | eos docuerint scienter vel asseruerint, a domino Stephano . . .“ 82 und erwähnt eine Beteiligung der theologischen Magister mit keinem Wort. Trotzdem kann kaum ein Zweifel daran bestehen, daß
125 Statt vieler vgl. insbes. P. Mandonnet: Siger de Brabant et l’averroisme latin au XIII e siècle. 2e édition. I–II. (Les philosophes Belges. 6,7) Louvain 1911 u. 1908. – Knappe Übersicht (mit neuerer Lit.) bei F. van Steenberghen: La philosophie au XIII e siècle. (Philosophes médiévaux. 9) Louvain-Paris 1966. Bes. S. 377 f., 388 f., 472–474, 483–488. – Eine ausgezeichnet dokumentierte Zusammenfassung gibt T. Schneider: Die Einheit des Menschen. (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters. N. F. 8). Münster 1973. S. 64–101. 126 Eine monographische Untersuchung über Tempier fehlt. Vgl. aber P. Glorieux in: Dictionnaire de théologie catholique XV,1. (Paris 1946) Sp. 99–107. Für sein bischöfliches Wirken vgl. das Material in: Gallia Christiana VII. Paris 1744 [Neudruck Farnborough, Hants. 1970]. Sp. 108–115. 127 CUP I, 486 f., nr. 432.
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das Urteil anläßlich einer solchen Versammlung erging. Bekanntlich ist eine Anfrage überliefert, die der junge dominikanische Bakkalar der Theologie Aegidius von Lessines an den gefeierten Theologen seines Ordens Albertus Magnus in Köln brieflich gerichtet hat128. Hier legt Aegidius Albert 15 Artikel vor, die, wie er ausdrücklich schreibt, „die Magister in Paris, die in der Philosophie die höchste Achtung genießen, im Unterricht aufstellen129“. Die ersten 13 dieser Streitpunkte sind mit der Liste Tempiers wörtlich identisch. Ich gehe weiterhin davon aus, daß die Liste des Aegidius bezeugt, daß schon vor der Verurteilung eine „cedula“ in der literarischen Polemik zirkulierte130, bevor sie vom Bischof – teilweise – sanktioniert wurde. Von einer irgendwie gearteten Beteiligung der römischen Kurie allerdings hören wir nichts131. Von einer wirklichen Beruhigung der Situation und der Debatten an der Universität wird man nicht sprechen können. Wieder einmal tobte nämlich neben den doktrinären Streitigkeiten auch ein heftiger Verfassungskonflikt zwischen den Nationen um die Wahl des Rektors, die nach einer dreijährigen Paralyse der Artes-Fakultät schließlich durch einen Schiedsspruch des päpstlichen Legaten Simon de Brie am 7. Mai 1275 entschieden wurde132. Aus einem Bericht
128 Vgl. den Text bei P. Mandonnet: Siger. II. S. 29 f. (mit dem Memorandum Alberts, ibid. 30–52). Textverbesserungen bei F. van Steenberghen: Le „De quindecim problematibus“ d’Albert le Grand. In: Mélanges Auguste Pelzer (wie A. 49). S. 415–439, bes. 420 ff. A. 15–23, dort auch S. 416 f., 438 f. zur Datierung. Knapper derselbe: La philosophie (wie A. 125), 479–481. Vgl. auch im selben Sinn etwa R. Zavalloni: Richard de Mediavilla et la controverse sur la pluralité des formes. (Philosophes médiévaux. 2). Louvain 1951, S. 506. 129 „Articulos quos proponunt magistri in scolis Parisius, qui in philosophia maiores reputantur, vestrae paternitati tamquam vere intellectuum illumatrici transmittere dignum duxi, ut eos tamen iam in multis congregationibus impugnatos, vos oris vestri spiritu interminaretis.“ (S. 29 Mandonnet). 130 Dabei brauche ich hier auf die Argumente für die Datierung des Memorandums von Albertus Magnus auf 1273–1276 nicht einzugehen, wie sie vor allem F. van Steenberghen vortrug. Schon im Mittelalter mochten gutachterliche Aufgaben, zumal für Privatleute, sich länger als geplant hinziehen. Eine Absendung des Briefes nach der Verurteilung ohne jede Erwähnung dieses Schrittes erscheint äußerst unwahrscheinlich. Dagegen bleibt die These von F. van Steenberghen, Aegidius v. Lessines hätte doch vor dem Tode des Thomas v. Aquin (1274. III. 7) diesen in Paris befragen können, ganz im Bereich der Spekulation und kann den späten Ansatz des Anfragebriefes um nichts wahrscheinlicher machen. 131 Allerdings war bekanntlich der römische Stuhl nach dem Tode Clemens’ IV. (1268. XI. 29) bis zur Wahl Gregors X. (1271. IX. 1) fast 3 Jahre lang vakant. 132 CUP I, 521–530, nr. 460; später, 1279. X. 1, wird Simon dann eine Regelung der Rektorenwahl treffen, vgl. CUP I, 576–577, nr. 492). Im einzelnen vgl. noch
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Heinrichs von Gent | wissen wir, daß sich der päpstliche Legat kurze 83 Zeit später auch in die theologisch-philosophischen Auseinandersetzungen unmittelbar einschaltete133. Heinrich von Gent selbst wurde 1276 von dem Legaten vor eine Kommission geladen, der außer dem Kardinal selbst noch der Bischof Stephan Tempier, der Kanzler Magister Johannes de Allodiis134, und der damalige Kanoniker von Notre Dame und spätere Nachfolger Stefans als Bischof von Paris, Magister Ranulf135, angehörten. Dort wurde Heinrich um Auskunft über seine Haltung in einer bestimmten Streitfrage gebeten, und nach einer kurzen Beratung mit seinen Beisitzern nahm ihn der päpstliche Legat beiseite und trug ihm auf, bei seinen Lehrveranstaltungen eine bestimmte Lösung vorzutragen. Der Legat benutzte eindeutige Worte: „Volumus et precipimus tibi, quod publice determines in scholis tuis . . .“ Simon habe drohend hinzugefügt, Heinrich solle darum besorgt sein, „clare et aperte“ die gewünschte Position zu vertreten, „quia in causa fidei nemini parcerem“136. Dieser Einschüchterungsversuch wird wohl eher zur Vorbereitung als zur Durchsetzung der für das gleiche Jahr 1276 bezeugten Magisterversammlung137 gedient haben, und es ist durchaus wahrscheinlich, daß Heinrich nicht der einzige Theologe war, den Simon zu beeinflussen versuchte. Jedenfalls mußten sich im selben Jahr 1276 „magistri omnes theologiae tam non regentes actu quam regentes, qui haberi potuerunt Parisius“ versammeln und auf Geheiß des Legaten immer P. Mandonnet, Siger I, 196–210; P. Kibre: The Nations in the Medieval Universities. (Medieval Academy of America. Publications 49). Cambridge/Mass. 1949. S. 21–25. Zum Eingreifen des Legaten 1276 (CUP I, 540–541, nr. 470) ibid., S. 88 f. 133 L. Hödl: Neue Nachrichten über die Pariser Verurteilungen der thomasischen Formenlehre. In: Scholastik 39 (1964) 178–196, hier S. 183 f. (d.i. eine später von Heinrich getilgte Passage seines Quodl. X. 5 in Ms. Paris, Bibl. Nat. lat. 15350, f. 171 va. Das Ms. stammt aus dem Besitz Gottfrieds von Fontaines, eines Schülers Heinrichs). 134 Zu seinen Gunsten traf nach Stefan Tempiers Tod (1279. IX.3) der Papst die Entscheidung nach der Kassation der Bischofswahl, aber Johannes entzog sich dem Amt, indem er dem Dominikanerorden beitrat, vgl. Gallia Christiana. VII. Sp. 115. 135 Damals Kanoniker von Notre Dame, seit 1280 Bischof von Paris, vgl. Gallia Christiana. VII. Sp. 115–118. 136 Eine Beziehung des letzten Satzes auf Thomas v. Aquin, wie sie L. Hödl: Neue Nachrichten, 189, annimmt, würde ich ausschließen. 137 Diese Versammlung bezeugt Heinrich von Gent (wie A. 133). Sein Bericht ist systematisch, nicht chronologisch aufgebaut: Heinrich will die ihm bekannten Verurteilungen des Satzes von der „unitas formae“ aufführen, und schreitet von den „damnationes per sententiam magistrorum“ zu der „damnatio per sententiam latam ab homine, qui potestatem habuit – licet non publice“ voran, darum ist die hier angenommene chronologische Reihenfolge nicht nur nicht ausgeschlossen, vielmehr sogar wahrscheinlich.
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und des Bischofs einige Artikel untersuchen. Offenbar haben die Magister mit großer Mehrheit wunschgemäß zumindest in der den 84 Legaten besonders interessierenden Frage entschieden138. | Hier also benutzte der päpstliche Legat, ähnlich wie lange vor ihm Odo von Chateauroux, die in Paris bereit liegenden Verfahrensformen, um der Universität, bzw. richtiger den theologischen Magistern Entscheidungen abzuzwingen. Vielleicht hängt mit diesen seinen Aktivitäten auch ein Brief des neuen Papstes Johannes XXI. an den Bischof von Paris zusammen139, in dem er den Auftrag gibt, über in Paris aufgetauchte Irrtümer, über ihre Urheber und über die Orte, an denen sie gelehrt würden, Erhebungen anzustellen und ihm, dem Papst, schnellstmöglich schriftlichen Bescheid zu geben. Wenn wir uns daran erinnern, daß sich Johannes XXI. vor seiner Wahl als Petrus Hispanus einen berühmten Namen als Logiklehrer gemacht und einen entscheidenden Teil seiner Karriere an der Pariser Universität durchlaufen hatte140, so wird dieser Brief verständlicher. Der Papst, der sich auch nach seiner Erhebung von seinen Büchern und Studien nie völlig trennte141, plante offenbar einen großen Auftritt
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Hödl: Neue Nachrichten, 184. CUP I, 541 f., nr. 471 (1277.I. 18). Johannes XXI. war erst 1276. IX. 8 gewählt worden. 140 Zur Biographie des Petrus Hispanus vgl. etwa R. Stapper: Papst Johannes XXI. Eine Monographie. (Kirchengeschichtliche Studien. 4). Münster 1898. – F. de Gama Caeiro: Novos elementos sobre Pedro Hispano. In: Revista protuguesa de filosofia 22 (1966) 157–174. – L. M. de Rijk: On the Life of Peter of Spain, the Author of the „Tractatus“, called afterwards „Summulae logicales“. In: Vivarium 8 (1970) 123–154. – Eine kritische Ausgabe eines Hauptwerkes legte vor L. M. de Rijk (ed.): Peter of Spain (Petrus Hispanus Portugalensis), „Tractatus“, called afterwards „Summulae logicales“. (Wijsgerige teksten en studies. 22). Assen 1972 (hier auch S. XXIV–XLIII zur Biographie). Die philosophischen Werke hat ediert M. Alonso (Madrid 1941, 1944, 1952, Lissabon 1957), vgl. dazu z.B. J. M. da Cruz Pontes: Pedro Hispano Portugalense e as controvérsias doutrinais do século XIII. A origem da alma. Coimbra 1964. – J. Kohlmeier: „Vita est actus primus“. Ein Beitrag . . . anhand der Lebensmetaphysik des Petrus Hispanus. In: Freiburger Zeitschrift für Philosophie u. Theologie 16 (1969) 40–91, 287–320. 141 Bekanntlich starb Johannes XXI. eine Woche nachdem die Decke seines neugebauten Studierzimmers („dumque nova camera legeret“ schreibt eine Chronik) über ihm eingestürzt war. Nicht alle Zeitgenossen haben seinen wissenschaftlichen Eifer begrüßt. Vgl. etwa Franciscus Pipinus, Chronicon IV. 19 (ed. L. E. Muratori: Rerum Italicarum Scriptores [„RISS“]. IX [Mailand 1726]. Sp. 723): „. . . vir literatus apprime. Magis oblectabatur quaestionibus scientiarum quam negotiis papatus, et quamquam magnus esset philosophus, fuit tamen discretione et naturali scientia vacuus.“ Tholomeus von Lucca: Historia ecclesiastica XIII.21 (RISS XI [1727], 1176): „. . . magnus . . . in scientia, modicus . . . in distinctione, preceps . . . in verbo.“ Vgl. auch die anonyme Vita aus Ms. Bergamo, Bibl. Civica, Delta IV.34 [XVs.], f. 38 v–39 r, zit. bei L. M. de Rijk: On the Life, 153 A. 3: „. . . vir ut dixi admo139
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und wollte sich die dazu unerläßlichen aktuellen Informationen vom Pariser Bischof beschaffen lassen. Daß es ihm ernst war mit diesem Vorhaben, beweist auch sein längeres Schrei | ben vom 28. April 85 1277 an denselben Adressaten142, in dem er bilderreich und ausführlich unter Berufung auf seine besondere Aufgabe in der Kirche und mit dem Hinweis auf sein eigenes Pariser Wirken denselben Auftrag präzisiert143. Der Papst möchte, wie er ausdrücklich schreibt, aufgrund des erbetenen Materials dann über die Irrtümer selbst, sowie auch über eine eventuelle Reform der Universität nach Beratung mit den Kardinälen befinden144. Aber dieser Wunsch war, was der Papst offensichtlich nicht wußte, bereits zum Zeitpunkt der Ausfertigung des zweiten Schreibens längst überholt. Ob der erste Brief den Bischof von Paris zu seinem Vorgehen erst angeregt hat (was wenig wahrscheinlich ist), oder ob sich Stephan Tempier daraufhin nur entschloß, ein schon lange geplantes Vorgehen nunmehr zu beschleunigen, ist nicht zu entscheiden. Stephan hielt sich jedenfalls nicht an das Programm des Papstes, das ihm allein die Funktion der Voruntersuchung zudachte, sondern handelte in eigener Verantwortung. Als Bischof der Pariser Kirche verurteilte er am 7. März 1277 nicht weniger als 219 einzeln aufgezählte Irrtümer und dazu noch zwei namentlich und mehrere nicht namentlich genannte Bücher145. Wer die 219 Irrtümer, oder, was realistischer klingt, einen von ihnen lehren, verteidigen oder aufrechterhalten sollte, oder
dum litteratus, sed parum prudens“. Vgl. auch Ricobaldo vom Ferrara: Historia Pontificum Romanorum, ad ann. 1277 (RISS IX, 181). 142 Flumen aquae vivae ist in der Briefsammlung des Notarius der päpstlichen Kanzlei Berard von Neapel erhalten und von A. Callebaut ( Jean Pecham, O. F. M. et l’augustinisme. Aperçus historiques 1263–1285. In: AFH 18, 1925, 441–472, hier 459–460), sowie von A. Moreira de Sá (Pedro Hispano e a crise de 1277 da Universidade de Paris. In: Boletim da Biblioteca da Universidade de Coimbra 22, 1954, 221–241, hier 236–239) ediert worden. 143 A. Callebaut ( Jean Pecham, S. 458, 461) legt großen Wert darauf, daß sich Flumen gegen Artisten u. Theologen richte und somit den Kreis der Verdächtigen ausweite, während in Tempiers Verurteilung nur die Artisten betroffen worden seien. Dieser Versuch eines Nachweises identischer Intentionen bei Papst u. Bischof scheitert m. E. daran, daß sich das erste Mandat (wie A. 139) keineswegs auf Irrtümer unter den Artisten beschränkt, sondern ganz allgemein bleibt, das zweite die Artisten aber keineswegs ausschließt. 144 „. . . ut receptis eisdem ad discussionem, determinationem seu reprobationem errorum ipsorum vel etiam ad ordinacionem quam pro ipsius integritate fidei conservanda et animarum procuranda salute, nec non et statu eiusdem studii reformando in premissis viderimus faciendam (. . .) de fratrum nostrorum consilio procedamus.“ (S. 460 Callebaut, S. 238 f. Moreira de Sá). 145 CUP I, 543–558, nr. 473 (1277.III.7).
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sich als Hörer an einer Veranstaltung dieser Art beteiligen würde, ohne den Bischof oder den Kanzler binnen einer Woche in Kenntnis gesetzt zu haben, der sollte zunächst exkommuniziert sein – über weitere Strafen wollte der Bischof, je nach der Schwere des Vergehens, befinden. Deutlich zeigt die Irrtumsliste die Zeichen eiliger Entstehung. Wahrscheinlich sind die Materialien mehrerer Gutachter – deren Namen wir nicht kennen – einfach nebeneinander gesetzt worden. 86 Jedenfalls sind recht verschiedene | Positionen von der Zensur betroffen (bekanntlich richteten sich auch einige Sätze gegen die Theologie des Thomas von Aquin), und die Irrtumsliste ist nicht ohne Widersprüche146. Auch die Anordnung ist keineswegs einsichtig. Die Irrtumsformulierungen selbst unterscheiden sich nicht von den herkömmlichen Pariser Listen: noch finden sich keine gewollt wörtlichen Zitate, sondern nur die knappen Thesen, wie sie uns bereits bekannt sind. Man hatte, wie schon 1270, die Aufzeichnung der „veritates oppositae“ unterlassen und nur ganz sporadisch ein „error“ an die Sätze angehängt147. Ausdrücklich betont das Instrument des Bischofs, daß er „tam doctorum sacre scripture quam aliorum prudentium virorum communicato consilio“ handele. Aus den Bemerkungen von Augenzeugen148 läßt sich beweisen, daß damit jene Versammlung der Pariser Theologen gemeint war, die wir als feste Institution schon kennen. Allerdings hat Aegidius Romanus später in seinem Sentenzenkommentar in einer oft zitierten Bemerkung149 ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es bei dieser Verurteilung ohne eine Manipulation der Versammlung nicht abging. „Plures de illis articulis transierunt non consilio magistrorum, sed capitositate quorundam paucorum“.
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Vgl. z.B. §§ 204 u. 219 (CUP I, 554 f.). Vgl. J. Koch: Kleine Schriften II, 435. 148 Heinrich von Gent: Quodl. II.9 (Paris 1518 [Neudruck Louvain 1961] I f. 36 v), bezogen auf § 219: „In hoc enim concordabant omnes magistri theologie congregati super hoc, quorum ego eram unus, unanimiter concedentes . . .“ Das beweist entgegen der Auffassung von Glorieux (wie A. 126, Sp. 102) nur die Teilnahme Heinrichs an der Magisterversammlung, nicht seine Mitwirkung als Gutachter bei der Vorbereitung des Syllabus (vgl. auch unten A. 163). Entgegen der Ansicht J. Kochs (Kleine Schriften II, 447) widerspricht die Angabe des Aegidius Romanus (bei A. 149) nicht der Mitteilung Heinrichs, vielmehr bestätigt sie die Magisterversammlung. 149 II Sent. d. 32 q. 2 a. 3, Ed. Venedig 1581 [Neudruck Frankfurt/Main 1968]. II. S. 471 b. Vgl. dazu auch Aegidus Romanus: Quodl. II.7: „Vellemus autem, quod maturiori consilio articuli illi ordinati essent, et adhuc forte de eis in posterum habebitur consilium sanius.“ (Hier zitiert nach E. Hocedez [wie unten A. 158] S. 55 A. 73). Vgl. auch die Edition Lovaniis 1646 [Neudruck Frankfurt/Main 1966]. S. 65 a. 147
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Aber das ist nicht weiter verwunderlich. Zumindest bei dieser Mammutliste kann es bei der Versammlung ohne eine entsprechende Vorbereitung und Regie nicht abgegangen sein. Der Pariser Syllabus von 1277 unterscheidet sich von den bisher behandelten Verfahren bei allen gezeigten Analogien in mancherlei Hinsicht. Zum ersten Male läßt sich die Konkurrenz von Bischof und Papst unmittelbar mit Händen greifen. Der Bischof führt das Verfahren durch in offenem Gegensatz zur päpstlichen Intention. Es ist klar, daß er hier auf die Magisterversammlung zurückgreift, um einem Verfahren der Kurie zuvorzukommen. Es wäre also schlechterdings irreführend, wollte man bei den Ereignissen von einem zwischen Papst und Bischof koordi | nierten Vorgehen sprechen150, und 87 auch die diese Auslegung nur graduell abschwächende Deutung, die meint, der Bischof habe nur im Übereifer mehr getan, als von ihm verlangt war151, geht fehl. Wir müssen davon ausgehen, daß Tempier mit all seiner Hartköpfigkeit, Energie und Impulsivität die Situation an der Universität, die ihn schon lange beunruhigt haben mochte, mit einem Schlage selbst in Ordnung zu bringen versuchte, ohne an eine Kooperation mit dem Papst zu denken. Daß er so viele Rechnungen auf einmal begleichen wollte, und daß er darum die überkommene Form der Irrtumsliste ins Gigantische erweiterte, machte die schriftliche Verkündung obligatorisch. Wer hätte so viele Einzelaussagen in lockerer Reihung auch behalten können? Die Liste wirkt insofern stilbildend, als schon ein Zeitgenosse auf die Idee kam, den orientierenden Wert dieser Verbotsreihen durch eine redaktionelle Umstellung der Sätze, die eine bessere Anordnung herbeiführen wollte, zu erhöhen. Wenn ihm dies auch nicht uneingeschränkt gelungen ist (und wohl auch nicht gelingen konnte), so hat er die Erfolgsaussichten seiner Sammlung doch dadurch verbessert, daß er um Tempiers Urteilsspruch anderes Material ähnlicher Art, wie etwa die englische Verurteilung von 1277 oder die Pariser Listen von 1241/44 und von 1270 herumgruppierte. Diese sog. „Collectio errorum omnium in Anglia et Parisius condemnatorum“152 hat eine recht große Verbreitung gefunden. Bis weit ins 14. und selbst
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So mit Verve A. Callebaut: Jean Pecham, 461. vgl. auch oben A. 143. So z.B. R. Zavalloni: Richard (wie A. 128) 217 A. 13. 152 Gedruckt bei C. Duplessis d’Argentré (wie A. 4), I, 184–200. Vgl. ibid. 210–215; vgl. H. Denifle in CUP I, 556 f. nota (mit Hinweisen auf abgewandelte Redaktionen). 151
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ins 15. Jhd. hinein wurde diese Kompilation immer wieder abgeschrieben oder in die entsprechenden sekundären Sammlungen übernommen153. Es sollte sich jedoch zeigen, daß die Verurteilung von 1277 sowohl ihrer Prozedur nach wie auch inhaltlich eher den Abschluß einer Epoche der Lehrzuchtverfahren bildete, als daß sie für die Zukunft neue Wege eröffnet hätte. Welche Reaktion hat die Kurie auf das Vorgehen des Pariser Bischofs gezeigt? Es ist nicht bekannt, ob Johannes XXI. selbst noch vor seinem Tode am 20. Mai 1277 von der Liste Tempiers Kenntnis erhielt. Spätestens während der Sedisvakanz aber, und d.h. noch vor dem 25. November desselben Jahres erfuhr man in Rom davon und unterband zumindest die Wiederholung solcher Eigenmächtigkeit. 88 Dem Bischof, der daran | dachte, noch verbliebene Lücken im Zaun seiner Verbote zu schließen, wurde von einigen Kardinälen bedeutet154, er solle sich um diese Lehrmeinungen solange nicht mehr kümmern, bis er ausdrücklich schriftliche Weisung durch die Kurie dazu erhielte. Man entschloß sich also zunächst einmal, dem Bischof für die Zukunft die Hände zu binden, ohne in eine Prüfung des Vergangenen einzutreten, geschweige denn, daß man das Geschehene bestätigt hätte. Das Pariser Sondergremium hatte seine Autorität bisher immer nur faktisch gehabt, rechtlich konnten seine Entscheidungen außerhalb der Universität nur mit Hilfe des Bischofs, eines Legaten, einer Synode oder der Kurie Geltung erhalten. Wenn dem Bischof Urteile verboten waren, so konnte zumindest er das Instrument nicht mehr nutzen. 153 Z. B. Konrad von Megenberg in seiner Yconomica (enst. ca. 1350) in III, tr. 1, c. 14, noch unveröffentl., vgl. aber Th. Kaeppeli in: A. Pelzer u. Th. Kaeppeli: L’Oeconomica de Conrad de Megenberg retrouvée. In: Revue d’histoire ecclésiastique 45 (1950) 559–616, hier 584 f., 602 f.; sowie S. Krüger in: Konrad von Megenberg: Ökonomik. Ed. S. Krüger. I. (MGH, Staatsschriften des späteren Mittelalters III.5.1). Stuttgart 1973. S. XXXI, XXXIII, 10 f. Die voranschreitende Edition wird in absehbarer Zeit auch den Kommentar des Konrad zur Verfügung stellen. 154 Das berichtet Johannes Peckham als Erzbischof von Canterbury in einem Brief (1284.XII.7) an Kanzler u. Magister der Universität Oxford, ed. C. T. Martin: Registrum epistolarum fratris Johannis Peckham archiepiscopi Cantuariensis. III. (Rerum Britannicarum scriptores. 77.3) London 1885. S. 864–868, nr. 622, hier 866. Bzw. ed. F. Ehrle: John Peckham über den Kampf des Augustinismus und Aristotelismus in der zweiten Hälfte des 13. Jhds. In: Zeitschrift für katholische Theologie 13 (1889) 172–193, hier 179. Außerdem CUP I, 624–626, nr. 517, hier 625, 19 ff. (Peckham war 1277 Lektor am Studium palatii der Kurie, kann also sehr wohl unterrichtet sein): „. . . cum vacante sede apostolica . . . episcopus Parisiensis Stephanus . . . ad discussionem ipsorum articulorum de consilio magistrorum (!) procedere cogitaret, mandatum fuisse dicitur eidem episcopo per quosdam Romane curie dominos reverendos, ut de facto illarum opinionum supersederet penitus, donec aliud reciperet in mandatis.“
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Diese Maßnahme der Kardinäle war so wirksam, daß man auf die Angelegenheit auch nach der Wahl des neuen Papstes Nikolaus III. nicht mehr zurückzukommen brauchte. Rein theoretisch hat die „pontificalis interdictio“, wie der Syllabus bisweilen genannt wird155, noch jahrhundertelang gegolten, mit Ausnahme der Thomas von Aquin betreffenden Sätze, die im Zusammenhang mit dessen Kanonisation durch einen Entscheid Papst Johannes’ XXII. 1325 aufgehoben wurden156. Die Theologen hüteten sich in der Regel, jedenfalls sofern sie in Paris lehrten, gegen den Wortlaut der verurteilten Irrtümer zu verstoßen, wenn auch kritische Geister, mindestens seit Mitte der 80er Jahre, immer wieder die Berechtigung der Verurteilung wenigstens für Teile der Irrtumsliste energisch bestritten157. | 89 Die Kunst der scholastischen Interpretation hat aber dazu beigetragen, einige der empfindlichen Schranken aufzuheben, die die Arbeit der Universität beengten. Besonders deutlich wird das im Zusammenhang mit einer weiteren Verurteilung, die Tempier aussprach. Wenn uns auch ihre Einzelheiten, selbst ihr genaues Datum, weitgehend unbekannt sind, so müssen wir doch auf sie eingehen, da sie im Zusammenhang unserer Frage ohnedies wichtiger wird erst in dem Augenblick, wo die Rekonziliation des Betroffenen ansteht. Aegidius Romanus158, damals noch junger Bakkalar, wurde einer der wenigen von dem Syllabus von 1277 unmittelbar tangierten Theologen. Da er es gewagt hatte, kurz nach dem Spruch des Legaten und der Magister von 1276 einen entschiedenen Verteidigungstraktat für die
155 So bei Heinrich von Gent, Quodl., IV. 18 in Ms. Vat. lat 853 f. 133 v (zit. nach E. Hocedez [wie unten A. 158], S. 55). Sonst (wie z.B. auch bei Heinrich, Quodl. II.9, Ed. Paris 1518, I. f. 36v) heißt es meist „Articuli Parisienses“. 156 CUP II [1891], 280–282, nr. 838. Zur Textgeschichte vgl. jetzt A. Maier: Der Widerruf der „Articuli Parisienses“ (1277) im Jahr 1325. In: AFP 38 (1968) 13–19. Nicht gesehen habe ich H. F. Nardone: St. Thomas and the Condemnation of 1277. (Diss. Cath. Univ. Washington 1963). 157 Die kritischen Äußerungen hat zusammengestellt etwa J. Koch: Kleine Schriften II, 425 f. – Vgl. allgemein weiterhin: M. M. McLaughlin: Paris Masters of the XIIIth and XIVth Centuries and Ideas of Intellectual Freedom. In: Church History 24 (1955) 195–211. – Für einzelne Autoren etwa M. H. Laurent: Godefroid de Fontaines et la condamnation de 1277. In: Revue thomiste 35 (1930) 273–281. – P. Tihon: Foi et théologie selon Godefroid de Fontaines. (Museum Lessianum, section théologique. 61) Paris – Bruges 1966. S. 20, 25, 29, 115 f., 230. – C. BaliÆ: Johannes Duns Scotus und die Lehrentscheidung von 1277. In: Wissenschaft und Weisheit 29 (1966) 210–229. – Ockhams Stellungnahme im Dialogus reflektiert diese frühere Diskussion, vgl. Dialogus I. 2.19–21 (Ed. Lyon 1494 [Neudruck Farnborough, Hants. 1962], f. 13ra–13va). 158 Grundlegend E. Hocedez: La condamnation de Gilles de Rome. In: RTAM 4 (1932) 34–58.
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Lehre des Thomas von Aquin über die Einheit der menschlichen Wesensform zu veröffentlichen, wurden der Bischof und seine theologischen Berater wohl auf ihn aufmerksam. Nach der Verurteilung von 1277 konnte man Aegidius offenbar auch nachweisen, in einigen Punkten die Irrtumsliste verletzt zu haben159. In einem Rückblick wird jedenfalls sehr viel später mitgeteilt160, Bischof Stephan Tempier habe Aegidius verurteilt, weil dieser einiges gesagt und geschrieben hatte, was der Bischof „per se ipsum examinans et per cancellarium Parisiensem (. . .) ac per alios theologice facultatis magistros examinari faciens censuit revocanda“, d.h. was auf einer der uns vertrauten Magisterversammlungen von Bischof und Magistern als Irrtum zurückgewiesen worden war. Aegidius aber habe sich, so fährt der Bericht fort, auf dieser Sitzung widerspenstig gezeigt, nicht widerrufen, vielmehr seine Thesen auch noch zu verteidigen gewagt. Bekanntlich mußte Aegidius deshalb auf seine Promotion in Paris zunächst verzichten. Nach Italien zurückgekehrt, ging er ganz in 90 Ordensgeschäften auf, was eine nicht | unwesentliche Grundlage seiner späteren Karriere werden sollte. An eine Lehrtätigkeit in Paris war während des Episkopats Tempiers nicht mehr zu denken. Als dann der frühere Legat Simon de Brie, mit dem Stephan 1276 kooperiert hatte, am 22. Februar 1281 als Martin IV. den Stuhl Petri bestieg, hatte Aegidius wiederum keine Chance, über den Papst seine Sache zu regeln. Aber kaum war Martin IV. am 28. März 1285 gestorben, kam die Angelegenheit wieder in Fluß. Der am 2. April 1285 gewählte Nachfolger Honorius IV. erläßt 8 Wochen nach seiner Wahl ein Mandat an den Bischof Ranulf von Paris161, Aegidius habe sich demütig erboten, Anstößiges zu widerrufen. Der Papst fordert Ranulf nun auf, in einer Versammlung mit dem Kanzler „et omnibus aliis magistris theologice facultatis Parisius commorantibus, tam actu in eadem facultate regentibus quam etiam non regentibus“
159 Diese (übliche) Datierung der Verurteilung des Aegidius (nach 1277. III.7) ist gleichwohl nicht absolut sicher. Denkbar wäre auch, daß sie dem Syllabus knapp vorausging und die Aegidius zur Last gelegten Irrtümer dann in die 219-ArtikelListe Aufnahme fanden. An der Magisterversammlung, über die Aegidius (wie A. 149) berichtet, hat er jedenfalls bestimmt nicht – selbst Augenzeugenschaft vorausgesetzt – als Magister teilgenommen. Sicherer „terminus post“ für die Verurteilung bleibt m. E. die von Heinrich von Gent bezeugte Zensur von 1276, „terminus ante“ bleibt Tempiers Tod (1279. IX.3). 160 Narratio des Mandats CUP I, 633 f., nr. 552 (1285.VI.1). 161 Wie A. 160.
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gemäß ihrem Rat vorzugehen, und Aegidius das widerrufen zu lassen, was die Mehrheit der Magister verlangen sollte. An dieser Aktion ist interessant, daß nun die Magisterversammlung vom Papst selbst – offenbar auf die Supplik des Aegidius hin – beauftragt wird, tätig zu werden. Wir wissen wiederum durch Heinrich von Gent162, daß das Gremium noch im selben Jahre 1285 zusammentrat „ad examinandum quosdam articulos de mandato Domini Honorii papae“. Es ist höchst wahrscheinlich, daß dies die Sitzung war, in der auch der Widerruf des Aegidius angenommen wurde. Immerhin interpretierte man jetzt die alten Beschlüsse nach dem neuen Wissensstand. Hatte man offenbar bereits 1276 die These von der Einheit der Wesensform als „falsch“ bezeichnet, so wiederholte man das zwar jetzt mit großer Mehrheit (wahrscheinlich mit 13 gegen 2 Stimmen bei 1 Enthaltung163); man hatte aber inzwischen gelernt, die Qualifikation „falsch“ besser von den Attributen „irrig“ oder „haeretisch“ zu unterscheiden. Heinrich von Gent selbst vertritt zwar weiterhin energisch den älteren Standpunkt, daß darin zugleich die Glaubensgefahr konstatiert worden sei; aber 1286 schon, nach der feierlichen Verurteilung des Dominikaners Richard Knapwell durch eine Prälaten | versammlung in London164 können 12 Pariser Magister 91 ein gemeinsames Instrument besiegeln, daß niemand sich daran erinnern könne, „propositionem . . . in studio Parisiensi fuisse condempnatam tamquam erroneam et haereticam165“. Damit war nicht nur die Wirkung der Londoner Verurteilung für Paris ausdrücklich ausgeschlossen, die Magister hoben mit dieser schärferen Fassung des „falsum“-Begriffs zugleich die Wirkung des Spruchs ihres Gremiums von 1276 auf – allein die herrschende Meinung über richtig und 162
L. Hödl: Neue Nachrichten (wie A. 133), 184. Diese Rechnung ergibt sich aus der Identifikation der Magisterversammlung von 1285, von der Heinrich von Gent berichtet, mit der Versammlung zur Aufnahme des Aegidius. Heinrich nennt 2 Gegenstimmen und 1 Enthaltung, für die Versammlung für Aegidius berichtet Johannes de Polliaco, ein Schüler des Gottfried von Fontaines, in seinem Quodl. (Ms. Vat. lat. 1017, f. 71r, zit. bei E. Hocedez [wie A. 158], 51), daß 16 Magister anwesend waren. Dagegen finde ich keinen Beleg dafür, daß Tempier sich bei seinem Syllabus von 1277 ebenfalls von 16 Magistern beraten ließ, wie P. Glorieux (wie A. 126), Sp. 102, behauptet, und wie es nach ihm F. van Steengerhen an verschiedenen Stellen, zuletzt in La Philosophie (wie A. 125), 483 f. (ohne Beleg), aufgegriffen hat. 164 Zu dieser Verurteilung vgl. insbes. F. Pelster: Die Sätze der Londoner Verurteilung von 1286 und die Schriften des Magisters Richard von Knapwell O.P. In: AFP 16 (1946) 83–106. S. auch T. Schneider (wie A. 125) S. 95–100. 165 L. Hödl (wie A. 133) 183 f. 163
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falsch festzustellen war nicht die ursprüngliche Intention der Versammlung gewesen. In einem anderen Punkt läßt sich diese Tendenz der aufhebenden Interpretation noch deutlicher greifen, diesmal gegen die noch rechtskräftige Liste Tempiers gerichtet. Auf derselben Sitzung des Jahres 1285, die der Reintegration des Aegidius galt, haben die Magister einen der 219 Artikel166 durch einen Beschluß geradezu suspendiert. Eine „propositio a magistris concessa“, wie sie hinfort in den Quodlibeta genannt wird, dekretiert eine umständlichere, vagere und im Modus der Negation formulierte Aussage als zulässig167, und befreite damit die Erörterung zumindest teilweise von der Auflage des Syllabus. Von der mindestens 18 Artikel umfassenden Liste168 gegen Aegidius’ Lehren, die auf dieser Sitzung der Magister offenbar niedergelegt worden ist, sind uns leider keine weiteren Bruchstücke erhalten. Wie weit auch in anderen Fällen die Tendenz zur Abschwächung, ja zur Umgehung der alten Anklagepunkte zu beobachten ist, können wir daher nicht überprüfen. Wichtig genug ist, daß in den beiden hier behandelten Fällen eine solche Absicht aufzuweisen sit. Es wird klar, daß die Magisterversammlung spätestens in den Verfahren der 80er Jahre ihre Funktion fast unmerklich, aber in entscheidender Weise verändert hat. War sie ursprünglich in Wahrnehmung synodaler Aufgaben zusammengetreten, so hat sie nun eine vornehmlich interne Funktion in der Regulierung universitärer Debatten. Besonders deutlich zeigt sich das in der kleinen Bestimmung des Papstes, der für den Beschluß der Versammlung nurmehr die Mehrheit fordert. Grundsätzlich muß für die Versammlungen der ersten Jahrhunderthälfte ein einhelliges Urteil vorausgesetzt werden. Wenn auch 92 in praxi solche pneumatische | Einmütigkeit nicht immer mechanisch als Einstimmigkeit sich dargestellt haben mag169, im Abstellen auf die Mehrheitsentscheidung verliert die Versammlung ihren ursprüngli-
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Es handelt sich um § 130 der Liste Tempiers (CUP I, 551): „Quod si ratio recta, et voluntas recta“. Vgl. bes. E. Hocedez (wie A. 158), 47 ff. 167 „Non est malitia in voluntate, nisi sit nescientia sive error in intellectu“. 168 Diese Zahl ergibt sich aus der bei E. Hocedez, S. 42, zitierten Bemerkung in Ms. Vat. lat. 853, f. 3r, wo auf „articulos 17um et ultimum“ dieser Liste Bezug genommen wird. 169 Auch Heinrich von Gent, der an der alten Funktion festhalten möchte, hat keine Bedenken, von den Gegenstimmen zu berichten, vgl. L. Hödl: Neue Nachrichten, 184.
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chen Anspruch; aus einem begeisteten Synodalgremium wird sie definitiv zu einer Gutachterkommsision von Fachleuten – jedenfalls, was die Außenwirkung ihrer Stellungnahmen anbelangt. Tendenziell war diese Entwicklung gewiß schon früher angelegt; man könnte sagen, daß sie spätestens greifbar wurde, als die Magister die „veritates oppositae“ nicht mehr als Bekenntnissätze formulierten, sondern als magistralen Lehrsatz, wie 1253. Aber jetzt ist der Funktionswandel so völlig deutlich geworden, daß auch die institutionelle Voraussetzung der ursprünglichen Aufgabe, Glaubensirrtümer in der Theologie auszuschließen, verlassen werden kann, ohne auf Widerstand zu stoßen. Um diese Entwicklung voll verständlich zu machen, müßte auf die Geschichte der Auffassungen über die Glaubenswahrheiten eingegangen werden, wie sie sich an der Begriffsentfaltung des „articulus fidei“ im 12. und 13. Jhd. ablesen läßt170, es müßte ferner auf die Juridifizierung des Haeresiebegriffs im 13. Jhd. und seine Annäherung an die disziplinäre Sphäre von Gehorsam und Ungehorsam eingegangen werden, doch das wären Themen für eigene Untersuchungen. Hier soll darum nur noch auf einige institutionelle Konsequenzen verweisen werden, die die skizzierte Entwicklung in der Folge zeitigte. Da der Ortsbischof dem übermächtig werdenden Papst gegenüber seit dem Sieg der mendikantischen Ekklesiologie im Bettelordensstreit von Paris in der Mitte des Jahrhunderts seine originäre Lehrkompetenz je länger desto weniger festhalten konnte, blieb als nicht zur Universität selbst gehörender Adressat der Magisterversammlung mehr und mehr zunächst allein der Papst übrig. Für ihn war aber die Pariser Expertenversammlung keineswegs von vorneherein mit einem Monopol ausgezeichnet. Die zweite Phase der europäischen Universitätsgeschichte des Mittelalters, die endgültige Provinzialisierung und Aufsplitterung der Hohen Schulen im 14. Jahrhundert171, machte die Konkurrenz anderer Universitäten unvermeidlich, zumal der Papst zum Gutachter in der Untersuchungs | kommission bestellen konnte, wen er wollte; 93 und er wählte in den uns bekannten Fällen zwar meist mehr oder 170 Vgl. dazu etwa L. Hödl: „Articulus fidei“. Eine begriffsgeschichtliche Arbeit. In: Einsicht und Glaube. (Festschrift für G. Söhngen, hg. von J. Ratzinger u. H. Fries). Freiburg i. B. 1962. S. 358–376. – K. J. Becker: „Articulus fidei“ (1150–1230). Von der Einführung des Wortes bis zu den Definitionen Philipps des Kanzlers. In: Gregorianum 54 (1973) 517–569. 171 Dazu vgl. insbes. A. Borst: Krise und Reform der Universitäten im frühen 14. Jh. In: Mediaevalia Bohemica 3 (1970) 123–147. (auch in: Konstanzer Blätter für Hochschulfragen H. 30 [1971] 47–62).
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minder ausgewiesene Fachleute, niemals aber ausschließlich Fachleute aus Paris aus. Insofern löst der monarchische Papat des 14. Jhds. auch auf diesem Gebiet der Lehrzuchtverfahren als Erbe der Entwicklung des 13. Jhds. die älteren, stärker korporativen Strukturen in der Kirche ab. Um die gleiche Zeit, seit den 80er Jahren des 13. Jhds., hat der Gedanke der päpstlichen Unfehlbarkeit – in paradoxer Verschränkung mit der Entfaltung des Souveränitätsanspruchs – zuerst unter franziskanischen Theologen, dann bei anderen Bettelordenstheologen an Boden gewonnen172. Hier muß ich der Versuchung widerstehen, diese Entwicklungen weiter zu verfolgen und vor allem, sie zu belegen. Ein einziger Hinweis sei noch gestattet. Bonifaz VIII., der so manche Tendenz seiner Zeit kantig und extrem zum Ausdruck brachte, hat, noch als Kardinallegat auf einer französischen Nationalsynode in Paris 1290, den stolzen Theologiemagistern mit herrischem Hohn demonstriert, was die Stunde geschlagen hatte173. Als der Kardinallegat auf der Nationalsynode selbst und einer anschließenden Sonderversammlung des Pariser Klerus jede Diskussion über die theologische Berechtigung der päpstlichen Beichtprivilegienpolitik für die Bettelorden unter Hinweis auf die definitive Entscheidung der „Romana curia“ verhinderte, hat der Magister Heinrich von Gent das alte Magistergremium zu aktivieren versucht. Es sollte gegen den Legaten Front machen: „cum liceat nobis de evangelio disputare, cur non de privilegio?“ Der Kardinal aber zitierte daraufhin zwei mendikantische Magister zu sich und beauftragte sie, Heinrich „ab officio lectionis“ zu suspendieren. „Quod et factura fuit“. Der Versuch eines selbstbewußten Theologen, ein theologisches Gutachten zu erarbeiten, wird von dem Legaten ohne jede korporative Rückendeckung durch Suspension bestraft. Und als dann am folgenden Tag eine Gruppe von Magistern
172 Das zeigt B. Tierney: Origins of Papal Infallibility. 1150–1350. A Study on the Concepts of Infallibility, Sovereignty and Tradition in the Middle Ages. (Studies in the History of Christian Thought. 6). Leiden 1972. 173 Ich folge hier dem Bericht eines Zeitgenossen, den H. Finke bei Jakob von Soest O. P. entdeckt hat. Zuletzt in: H. Finke: Aus den Tagen Bonifaz’ VIII., Funde und Forschungen. (Vorreformationsgeschichtliche Forschungen. 2). Münster 1902 [Neudruck Roma 1964]. S. III–VII. (Die Rede Benedikts S. VI sq., das Zitat S. VII). Vgl. ibid. S. 17 ff. Zu Jakob vgl. etwa die Diss. des Finke-Schülers J. H. Beckmann: Studien zum Leben und literarischen Nachlaß Jakobs von Soest O. P. (1360–1440). (Quellen u. Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens in Deutschland. 25) Leipzig 1929. Bes. S. 115 f. (zu unserem Text), S. 13 ff. (zur Biographie), S. 76 ff., 98 f., 104 f., 120 f. (zur kompilatorischen Methode).
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der Theologie, der Artes und der anderen Fakultäten, also offenbar eine Abordnung der ganzen Universität, beim Kardinal für ihren Kollegen intervenieren will, soll Benedikt eine lange schneidende Ansprache gehalten haben, von der hier nur der Schluß zitiert sei: „Ihr sollt über | nutzbringende Fragen disputieren, und stattdessen 94 nehmt ihr euch phantastische und gotteslästerliche Themen vor . . . Ich habe eure Gründe gehört, und die sind auch wahr, aber eure Gründe sind leicht aufzulösen. Denn dies ist ihre Lösung: Wir befehlen kraft des schuldigen Gehorsams bei Strafe der Amtsenthebung und des Pfründenverlustes, daß kein Magister künftig noch über das Privileg predigt, disputiert oder im Geheimen oder öffentlich darüber seine Meinung erklärt. Das Privileg der Bettelmönche soll in Kraft bleiben, und wer irgendwelche Zweifel hat, der bitte den Papst um Erläuterung. Wahrlich, ich sage euch [Luc. 21.3], bevor die römische Kurie den Bettelbrüdern dieses Privileg entzöge, würde sie eher die Pariser Universität vernichten.“ Der Berichterstatter formuliert die Wirkung dieser Rede, die deutlich machte, wo damals und wo künftig nach Meinung des Kardinals die Kompetenz in Lehrstreitigkeiten zu suchen sei, in einem knappen Satz: „Et universitas magistrorum, inclinatis capitibus, accepta benedictione, rediit ad propria.“ „Und die Abordnung der Professoren senkte den Kopf, nahm den apostolischen Segen entgegen, und ging nach Hause.“
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KAPITEL 13
GELEHRTE KETZEREI UND KIRCHLICHE DISZIPLINIERUNG DIE VERFAHREN GEGEN THEOLOGISCHE IRRLEHREN IM ZEITALTER DER SCHOLASTISCHEN WISSENSCHAFT
Matthäus von Krakau1, Theologe an der Heidelberger Universität und einer der führenden Männer im Rat des römischen Königs und Heidelberger Pfalzgrafen Ruprecht von der Pfalz, der gerade erst (um die Mitte des Jahres 1405) durch päpstliche Provision zum Bischof von Worms erhoben worden war, unterzeichnete am 2. Dezember 1405 einen „offenen Brief “2, in dem er einer interessierten Öffentlichkeit 1 Ich drucke den Text des Vortrags hier im wesentlichen unverändert ab, wie er in Göttingen am 21.11.1996 gehalten wurde. Die beigegebenen Anmerkungen streben keine vollständigen Nachweise an. Zur Biographie des Matthaeus zusammenfassend: W∑adis∑aw Se…ko, Mateusz z Krakowa, in: Polski slownik biograficzny, Bd. 20 (Breslau [usw.] 1975) Sp. 196–198; Zénon Kaluza, Matthieu de Cracovie, in: Dictionnaire de Spiritualité, Bd. 10 (Paris 1980) Sp. 804–808 (804 f.); Josef TÏríßka, Repertorium biographicum universitatis Pragensis praehussiticae 1348–1409 (Prag 1981) S. 358 f.; Franz-Josef Worstbrock, Matthäus von Krakau, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters, Verfasserlexikon2, hg. Kurt Ruh (u.a.), Bd. 6 (Berlin 1987) S. 172–182; Gerhard Fouquet, Das Speyerer Domkapitel im späten Mittelalter (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 57) Mainz 1987, S. 409 f. (nr. 77); Paul-Joachim Heinig, Matthäus von Krakau, in: Neue Deutsche Biographie 16 (Berlin 1990) S. 397 f.; zur Pfründenversorgung vor allem W∑adys∑aw Se…ko, Adam L. Szafra…ski, Materia∑y do historii teologii ≤rednowiecznej w Polsce, Bd. 1: Mateusza z Krakowa, Opuscula theologica (Textus et studia historiam theologiae in Polonia excultae spectantia, 2/1) Warschau 1974, S. 9–232, bes. S. 32 ff. Zum Datum seiner Erhebung vgl. unten (Anm. 17); das Datum seiner Obligation ist der 27. Juni 1405. 2 „Notificatio de Johanne Falkenberg“, nach den beiden bisher bekanntgewordenen Krakauer Handschriften [326 und 2264] hg. durch Gustav Sommerfeldt, Über den Verfasser und die Entstehungszeit der Traktate „De squaloribus curiae Romanae“ und „Speculum aureum de titulis beneficiorum“, in: ZGO 57 [NF 18] (1903) 417–433, hier 420–423; hier zitiert nach Mateusza z Krakowa „De praxi Romanae curiae“, ed. W∑adys∑aw Se…ko (Instytut filozofii i socjologii polskiej akademii nauk, Zaklad filozofii starozytnej i ≤redniowiecznej) Breslau, Warschau, Krakau 1969, 69–71, wo der Text erneut ediert wurde; diesen Text hat Se…ko wiederholt in: W∑adys∑aw Se…ko, Piotr Wysz z Radolina i jego dzielo „Speculum aureum“ (Studia „Przegl[du Tomistycznego“, 2), Warschau 1995, S. 183–185 (nr. 12). Auf eine inzwischen verlorengegangene (in Erfurt beheimatete) Handschrift machte aufmerksam Boockmann, Falkenberg (wie unten Anm. 11) S. 135 Anm. 28; der Brief hat also wirklich eine gewisse Verbreitung erreicht.
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mitteilt, es sei ihm zur Kenntnis gelangt, daß ein Theologiedozent an der Universität Krakau, der Dominikanermönch Johannes Falkenberg, bei öffentlichen Auftritten vor Klerikern und Laien vielfach 10 eine damals anonym umlaufende | Schrift (die heute unter dem Titel „De squaloribus curiae Romanae“ bekannt ist3) verleumdet und angegriffen habe, wobei Falkenberg sich in einer Weise geäußert habe, „die einem gelehrten und promovierten Theologen kaum ansteht, nämlich unvorsichtig, um nicht zu sagen dumm und ungebildet“, habe er sich doch zum Nachweis anerboten, daß der bewußte Traktat Ketzereien enthalte und sein Verfasser ein Ketzer sei. Diese Behauptung, so erklärt der Wormser Bischof in seinem Brief, sei, was ihn selbst, seinen Stand, seine Ehre und seinen Ruf betreffe, falsch, ja bewußt erlogen. Danach erläutert Matthäus, daß er die fragliche Schrift mit der Hilfe eines hochgelehrten Juristen (quidam 11 valentissimus utriusque iuris doctor 4) verfaßt habe. Erst | nach einer erneu3 Auf die Frage des Titels der Schrift, die im Mittelalter nicht einheitlich benannt worden ist, kann hier nicht eingegangen werden; ich bleibe bei der seit dem Basler Konzil nachweisbaren, spätestens seit dem 18. Jahrhundert allgemein üblichen Überschrift (die freilich erst bei Handschriften der „dritten Redaktion“ auftaucht) und benutze nicht die blassere vom Herausgeber gewählte, die mir nicht unbedingt besser bezeugt scheint (auch wenn sie bei den Handschriften der „zweiten Redaktion“ vorwiegend zu finden ist). Hier zitiere ich die Schrift nach dem Druck, der (zusammen mit einer deutschen Übersetzung) in Anlehnung an die Edition von Se…ko (wie vorige Anm., S. 72–122) erschienen ist in: Quellen zur Kirchenreform im Zeitalter der großen Konzilien des 15. Jahrhunderts, Erster Teil: Die Konzilien von Pisa (1409) und Konstanz (1414–1418), hgg. Jürgen Miethke und Lorenz Weinrich (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Freiherr-vom-SteinGedächtnisausgabe, 38a) Darmstadt 1995, S. 60–164 (die Edition Se…kos wurde hier unter Beiziehung von fünf Kontrollhandschriften [der dritten Redaktion] insbesondere bei den zahlreichen Allegationen korrigiert). 4 Dieser Jurist wurde von Hermann Heimpel mit guten Gründen mit Job Vener identifiziert, vgl. Der verketzerte Matthäus von Krakau, in: Festschrift Walter Schlesinger (Mitteldeutsche Forschungen, 74 II) Köln, Wien 1974, Bd. 2, S. 443–455; Heimpel, Studien zur Kirchen- und Reichsreform des 15. Jahrhunderts, Teil II: Zu zwei Kirchenreform-Traktaten des beginnenden 15. Jahrhunderts (SB Heidelberg 1974/1) Heidelberg 1974, bes. S. 10–30; zusammenfassend Heimpel, Die Vener von Gmünd und Straßburg 1162–1447, Studien und Texte zur Geschichte einer Familie sowie des gelehrten Beamtentums in der Zeit der abendländischen Kirchenspaltung und der Konzilien von Pisa, Konstanz und Basel (Veröff. des Max-PlanckInstituts für Geschichte 52 I–III) Göttingen 1982, S. 695–701. Von polnischen Forschern werden dagegen andere Namen ins Spiel gebracht, wobei neuerdings vor allem der promovierte Krakauer Kanonist und damalige Bischof von Krakau und spätere Bischof von Posen (1392–1412 bzw. 1412–1414) Peter Wysch [oder Wysz] aus Radolin benannt wird, vgl. vor allem Zenon Ka∑uΩa, Eklezjiologia Mateuza z Krákowa, Uwagi o „De praxi Romanae curiae“, in: Studia mediewistyczne 18.1 (1977) S. 51–174 (eine der beiden Handschriften, die uns die „notificatio“ des Matthäus von Krakau [wie Anm. 2] überliefern, stammt übrigens aus Peters Besitz,
gelehrte ketzerei und kirchliche disziplinierung
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ten Prüfung durch zahlreiche Theologieprofessoren und Doktoren des Kirchenrechts, alles hochgelehrte und vielfach bewährte Fachleute (doctissimi et expertissimi viri ), habe er sodann diese Gemeinschaftsarbeit einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Kein einziger der Befragten habe Einwände erhoben, vielmehr hätten sie alle den Traktat als nützlich und empfehlenswert eingeschätzt. Er müsse sich schon wundern über den Krakauer Dozenten, der doch aus eigener Kenntnis über den Zustand der Römischen Kurie kaum persönliches Wissen habe5 und vielmehr das, was erprobte Experten aus eigener Anschauung als zutreffend (verum) bestätigten, für falsch, und sogar für ketzerisch zu erklären sich erfreche.
vgl. Se…ko, Piotr Wysz, wie oben Anm. 2, S. 183–185, nr. 12!), vgl. dort allgemein die Mitteilungen und Materialien (deutsche Zusammenfassung S. 331–341); vgl. auch Mieczyslaw Markowski, von dem hier nur die jüngste Studie genannt sei: Peter Wyschs Traktate über die Reform der Kirche des beginnenden 15. Jahrhunderts, in: Studia mediewistyczne 31 (1994) S. 71–89 [dessen Argumente bei der Zuschreibung von anderen Texten an Peter Wysz aber sogar von Ka∑uΩa selbst als nicht recht tragfähig eingestuft wurden: Bulletin d’histoire des doctrines médiévales, in: Revue de sciences philosophiques et théologiques 79 (1995) S. 113–159, bes. S. 145]; besonders intensiv argumentierend Zenon Ka∑uΩa, Chronologie des premières discussions ecclésiologiques à Cracovie (1404–1407), in: Rivista di Storia della Filosofia 52 (1997) S. 111–127 Neuerlich hat sich ihnen angeschlossen Thomas Wünsch, Konziliarismus und Polen, Personen, Politik und Programme aus Polen zur Verfassungsfrage der Kirche in der Zeit der mittelalterlichen Reformkonzilien (Konziliengeschichte, Reihe B) Paderborn [usw.] 1998, bes. S. 50, freilich ohne eigene neue Argumente. Das Problem kann hier keine eingehende Diskussion und schon gar keine allseits überzeugende Lösung finden (vgl. auch unten Anm. 23); ich bin aber geneigt, an der Meinung Heimpels festzuhalten, da sie m.E. insgesamt immer noch die besseren Argumente für sich hat. Entscheidend wäre es, ein genaueres Itinerar für Matthäus zu erstellen, um so seine zahlreichen verschiedenen Aktivitäten in eine plausible chronologische Reihung zu bringen; sein Aufenthalt in Krakau am Ende der 90er Jahre z.B. ist nicht, wie Kaluza annimmt, für 1397–1399 gesichert, da Matthäus schon für Februar 1398 wieder in Heidelberg nachweisbar ist, vgl. bereits Gerhard Ritter, Die Heidelberger Universität im Mittelalter (1386–1508), Ein Stück deutscher Geschichte, [11936] 2. unveränderte Aufl., Heidelberg 1986, S. 251 mit Anm. 4, und jetzt die dort genannten Belege in: Die Rektorbücher der Universität Heidelberg, Bd. I: 1386–1410, Heft 2, hg. Jürgen Miethke, bearbeitet von Heiner Lutzmann (u.a.) Heidelberg 1990, S. 272 f., 279, 294 (nrr. 239, 240, 247, 261). Danach ist Matthäus zuletzt für den 5. März 1397 durch eine Abrechnung und für den 5. Mai 1397 durch eine von ihm ausgestellte Urkunde in Heidelberg als anwesend bezeugt, am 8. Juli 1397 ist er offenbar abwesend und für den Rest seines Rektorats (bis zur Neuwahl am 23. Juni 1397, vgl. S. 277 f. [nr. 245]) vertritt ihn Johannes de Noyt als vicerector, wieder anwesend ist Matthäus dann spätestens am 20. Februar 1398. 5 Auch hier spielt wieder die scholastische, an Aristoteles geschulte Erkenntnisund Wissenschaftstheorie mit, die als Grundlage des wissenschaftlichen Beweises die Erfahrung ansetzt.
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Unser gelehrter Bischof von Worms schließt dann eine Verteidigung seiner Schrift gegen den Ketzereivorwurf an, die Hermann Heimpel zu Recht eine „ebenso leidenschaftliche wie souveräne und theologisch tiefe Apologie“ genannt hat6, wobei formal insbesondere die (maßgebliche) Definition der Ketzerei als eines „hartnäckigen“ Irrtums in Fragen der Glaubens- oder der Sittenlehre herausgestellt wird:7 selbst falsche Tatsachenbehauptungen, ja die Aussage, der Papst selbst und ein Großteil seiner Kurialen seien der Ketzerei verfallen, wären 12 zwar, wenn man | sie, ohne einen Beweis zu führen, erhebe, sträflich, sie seien aber eben keinesfalls ketzerisch, da zweifelhafte Tatsachenaussagen gar nicht ketzerisch sein könnten. Wir übergehen hier die weiteren Argumente unseres Matthäus, die den Simonievorwurf, wie er ihn gegen die kuriale Praxis erhoben hatte, nach seiner sittlichen und theologischen Dimension analysieren. In seiner Schlußfolgerung jedenfalls ruft Matthäus die Leser seines Briefes dazu auf, die von seinem Gegner versprochene Beweisführung gelassen abzuwarten, er werde, soweit es an ihm liege, alle Argumente der Wahrheit verpflichtet und mannhaft (veraciter et viriliter) widerlegen. Niemand solle sich von Scheinargumenten blenden lassen: nur was wirklich wissenschaftlich bewiesen werde, sei bewiesen8, und darauf jedenfalls sei erst einmal zu warten. In Wahrheit warteten damals weder Matthäus noch sein Gegner Falkenberg. Der Streit um den Häresievorwurf gegen die „Squalores“ war jedenfalls mit diesem offenen Brief noch keineswegs ausgestan-
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Heimpel, Vener (wie Anm. 4) S. 697. Matthäus von Krakau hat dieses Kriterium auch entlastend gegen andere der Ketzerei Beschuldigte gelten lassen und ist damit sogar in Konflikt mit dem Inquisitor von Mainz geraten, wie die Geschichte des Wanderpredigers Johannes von Malkaw in Heidelberg zeigt: vgl. vor allem Herman Haupt, Johannes Malkaw aus Preußen und seine Verfolgung durch die Inquisition zu Straßburg und Köln (1390–1416), in: ZKG 6 (1883) S. 323–389, 580–587 [bes. S. 325–355]; Josef Beckmann, Johannes Malkaw aus Preußen, ein Streiter für die römische Obedienz während des Großen Schismas, in: Historisches Jahrbuch 48 (1928) S. 619–625; knapp auch Ritter, Heidelberger Universität (wie Anm. 4) S. 271 f. Die hier schon benutzten wichtigen Zeugnisse zur durch die Universität erreichten „Versöhnung“ Malkaws mit dem Mainzer Inquisitor, dem Dominikaner Nikolaus Bockeler, aus den Heidelberger Universitätsakten jetzt in: Rektorbücher Heidelberg, I/2 (wie Anm. 4) S. 214–216 (nr. 162), vgl. auch für ein (folgenloses) Nachspiel (in dem die Universität an ihrem einmal eingenommenen Standpunkt festhielt) ebenda, S. 245 f., 248 (nrr. 193, 196); zur Straßburger Vorgeschichte eine neue Quelle benannt hat Heimpel, Vener (wie Anm. 4) S. 89 Anm. 53. 8 Matthäus stützt sich hier offensichtlich auf einen streng aristotelisch gedachten Begriff eines „Beweises“ in der scholastischen Wissenschaft. 7
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den. Matthäus, der spätestens seit seinem Aufenthalt an der Kurie im Zuge der hochpolitischen Gesandtschaft König Ruprechts (1403) zur Einholung der päpstlichen Approbation9 der 1400 in Rhens erfolgten Wahl10 den päpstlichen Hof und seine Praktiken intensiv kennengelernt hatte, strengte jedenfalls eine förmliche Klage vor einem kurialen Richter an, der sich Falkenberg stellen mußte. Diese Klage erhob Matthäus entweder persönlich oder durch einen beauftragten procurator, d.h. einen Prozeßvertreter – offensichtlich noch vor dem Tod von Papst Innozenz VII. – und zwar klagte er gegen den Krakauer Dominikaner, der entweder wegen dieser Anklage an die Kurie berufen wurde oder im Verfolg uns nicht weiter bekannter anderer Angelegenheiten dorthin gelangte und der kurz nach der Mitte des Jahres 1406 in Rom eingetroffen sein muß11. Leider bleiben die Quellen im einzelnen unklar, wir kennen weder den | Rahmen 13 noch den Verlauf dieses Verfahrens im einzelnen, auch bleiben viele weitere Einzelfragen undeutlich; in einem Prager Codex hat sich aber ein längerer Verteidigungs-Schriftsatz Falkenbergs erhalten zusammen mit dem Entwurf eines Plaidoyers vor einem dominus auditor12, 9 Gustav Sommerfeldt, Verhandlungen König Ruprechts von der Pfalz mit Papst Innozenz VII. vom Jahre 1405, in: ZGO 60 [NF 21] (1906) S. 30–39; Akten in: Reichstagsakten (Ältere Reihe), Bd. 4–5 (hg. Julius Weizsäcker) Gotha 1882 und 1885 [Neudruck Göttingen 1956]. Eine Übersicht zur kurialen Approbationstheorie gibt Jürgen Miethke, Approbation der deutschen Königswahl, in: LThK3Bd. 1, Freiburg i.Br. 1993, Sp. 888–891. 10 Dazu in jüngerer Zeit etwa die farbige landesgeschichtlich abgestütze Darstellung von Alois Gerlich, König Ruprecht von der Pfalz, in: Pfälzische Lebensbilder, Bd. 4, hg. Hartmut Harthausen, Speyer 1987; S. 9–60, hier S. 9–20; zu den Rechtsfragen neuerlich Helmut G. Walther, Der gelehrte Jurist als politischer Ratgeber: Die Kölner Universität und die Absetzung König Wenzels 1400, in: Die Kölner Universität im Mittelalter, Geistige Wurzeln und soziale Wirklichkeit, hg. Albert Zimmermann unter Mitw. von Gudrun Vuillemin-Diem (Miscellanea mediaevalia 20) Berlin 1989, S. 467–487; zuletzt auch Derselbe, Das Problem des untauglichen Herrschers in der Theorie und Praxis des europäischen Mittelalters, in: Zeitschrift für historische Forschung 23 (1996) S. 1–28 (bes. S. 20–27). 11 Zur Chronologie Falkenbergs in dieser Zeit im einzelnen grundlegend Hartmut Boockmann, Johannes Falkenberg, der Deutsche Orden und die polnische Politik (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 45) Göttingen 1975, bes. S. 135–154; die ältere Literatur dort und auch bei Thomas Kaeppeli, Scriptores Ordinis Praedicatorum medii aevi, Bd. 2 (Rom 1975) S. 418–421, besonders zur „Monarchia“ dort Nr. 2311. Zur Redaktionsgeschichte des Traktats jetzt auch die sorgfältigen Aufstellungen von Francis Cheneval, Die Rezeption der „Monarchia“ Dantes bis zur Editio princeps im Jahre 1559, Metamorphosen eines philosophischen Werkes (Humanistische Bibliothek I/47) München 1995, S. 258–284, sowie (mit mir nicht immer einleuchtenden Ergebnissen) Ka∑uΩa, Chronologie (wie Anm. 4). 12 Ms. Prag UB VIII.C.13, fol. 103r–104v, ed. Gustav Sommerfeldt, Das Vorwort zu Johannes Falkenbergs Schrift „De monarchia mundi“ und seine Erwiderung
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in dem Falkenberg sich gegen eine Klage des Wormser Bischofs wegen Verletzung von dessen Persönlichkeitsrechten verteidigt; Matthäus hatte offenbar zu einer in Terminologie und Tradition des Römischen Rechts sogenannten actio iniuriarum13 gegriffen, was zumindest den Gedanken nahelegt, daß sich der Theologe von im römischen Recht besonders bewanderten Gelehrten, vielleicht in Heidelberg, vielleicht in Krakau hatte beraten lassen, die ihm diese spezielle Form der Verteidigung nahegebracht haben könnten. Wegen absichtlicher grober Beleidigung (iniuria magna) und Ehrabschneidung (animo et intencione iniuriandi et ipsum offendendi ac suam famam denigrandi ) verklagte Matthäus den Dominikanermönch auf eine Buße in der unglaublich hohen Summe von 20 000 Kammergulden. Das war ein ganz unerhört gewaltiger Betrag, dessen Dimension wir uns allein daran klarmachen können, daß etwa die Subsidien, die die Stadt Florenz dem römischen König Ruprecht von der Pfalz zu seinem Italienfeldzug14 beisteuern sollte, auf ganze 100 000 Gulden veranschlagt waren (sie sind jedoch niemals in Gänze ausgezahlt worden); auch die deutschen Städte haben dem König seine verschiedentlichen Forderungen auf eine gemeinsame (!) Beisteuer von 40 000 Gulden bzw. 150 000
in einem Klageverfahren vom Jahre 1406, in: HJb 27 (1906) S. 606–617, Text S. 611–617. 13 Etwa Dig. 47.10 [bes. Dig. 47.10.15.15sqq.]; Inst. 4.4; Cod. 9.35; auch X 2.27.23. Zur Voraussetzung im klassischen römischen Recht ausführlicher etwa Roland Wittmann, Die Entwicklungslinien der klassischen Injurienklage, in: ZSRG rom. 91 (1974) S. 285–359; vgl. Max Kaser, Das Römische Privatrecht, Bd. 1–2 (Handbuch der Altertumswiss. III.3.3.1–2) München 21971–21975, hier bes. Bd. 1, S. 623–625, Bd. 2, S. 439 und 605 [mit reicher Literatur]; einen (sehr knappen) Forschungsbericht zur Entwicklung dieses Rechtsinstituts durch die Jahrhunderte gab zuletzt Helge Walther, Actio iniuriarum, Der Schutz der Persönlichkeit im südafrikanischen Privatrecht (Schriften zur europäischen Verfassungsgeschichte 17) Berlin 1996, zur Lehre der mittelalterlichen gelehrten Rechte hier S. 60 ff. Den allgemeinen Rahmen skizziert Hans-Jürgen Becker, Persönlichkeitsrecht, in: HRG 3 (Berlin 1984) Sp. 1626–1628. 14 Vgl. insbes. Peter Moraw, Beamtentum und Rat König Ruprechts, in: ZGO 116 (1968) S. 59–126, hier S. 87, 112–114. Matthäus hatte – im Auftrag der Universität Prag – bereits 1379 in Rom und 1385 in Genua an der Kurie Urbans VI. geweilt, 1403 verbrachte er im Zuge der Verhandlungen um die Approbation der Wahl Ruprechts als Gesandter des Königs länger als ein halbes Jahr an der Kurie, 1405 ist er in Tivoli nachgewiesen. Für 1406 ist seine Anwesenheit in Rom nicht bezeugt; Matthäus kann aber seine Klage auch durch einen procurator angestrengt haben – er muß das jedoch nicht allzu spät nach der Ausfertigung seiner „notificatio“ (wie Anm. 2) getan haben, da nach Cod. 9.35.5 bei einer actio iniuriarum eine Verjährungsfrist von einem Jahr gilt, woran sich Matthäus in diesem Fall wohl oder übel halten mußte.
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Gulden in diesen Jahren hart | näckig abgelehnt15. Und umgekehrt 14 hält Konrad Koler von Soest als Rektor der Universität Heidelberg in einer Finanzübersicht für Pfalzgraf Ludwig III., Ruprechts Erben, im Jahre 1410 ausdrücklich fest, daß aus Mitteln der Universität an den (damals kurz zuvor gestorbenen) Bischof von Worms Matthäus von Krakau aus ihren Einkünften 70 Gulden als Beihilfe zu den von diesem an seinem Haus in Heidelberg – und also wohl doch vor seiner Erhebung zum Bischof – veranlaßten Bauarbeiten gezahlt worden seien16. Matthäus hatte demnach in seinem Leben sonst mit sehr viel kleineren Summen zu rechnen: selbst als er zum Bischof von Worms erhoben worden war, mußte er sich für das servicium commune ,nur‘ für 1000 Kammergulden verpflichten17, blieb also weit hinter der Dimension seiner Forderung gegen Johannes Falkenberg zurück. Wie immer wir die Erfolgsaussichten des Heidelberger Theologen beurteilen wollen, vom Krakauer Bettelmönch einen derart immensen Betrag zugesprochen zu erhalten und ihn dann auch realisieren zu können, interessant ist die Verteidigungslinie, die Johannes Falkenberg gegen die Klage des Wormser Bischofs aufzubauen versuchte. Das eher psychologische Argument, er könne Matthäus gar nicht 15 Ernst Schubert, Probleme der Königsherrschaft im spätmittelalterlichen Reich, Das Beispiel Ruprechts von der Pfalz, in: Das spätmittelalterliche Königtum im europäischen Vergleich, hg. Reinhard Schneider (Vorträge und Forschungen, 32), Sigmaringen 1987, S. 135–184, bes. S. 182 f.; Wolgang von Stromer, Das Zusammenspiel oberdeutscher und Florentiner Geldleute bei der Finanzierung von König Ruprechts Italienzug 1401/02, in: Öffentliche Finanzen und privates Kapital im späten Mittelalter und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hg. Hermann Kellenbenz (Forschungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 16) Stuttgart 1971, S. 50–86, bes. S. 55 f. – Ich verzichte hier auf eine – ohnedies äußerst schwierige, wenn nicht unmögliche – Umrechnung der verschiedenen Währungen aufeinander, da es hier nur auf eine ganz grobe Einschätzung der Dimension der geforderten Entschädigung ankommt. 16 Rektorbuch (wie Anm. 4) S. 450–456 (nr. 446) vom 28. Juni 1410, hier 454: De illis dati fuerunt lxx floreni domino Matheo episcopo Wormaciensi pro subsidio ad edificandum domum quam inhabitavit. Offen muß bleiben, ob in diesem Betrag die am 20. Februar 1398 (ebenda S. 294 [nr. 261]) verzeichnete Summe von 30 fl. bereits enthalten ist, die damals Matthäus für denselben Zweck – auf seine beweglichen Klagen hin (asserens se valde gravatum expensarum quantitate) – zur Verfügung gestellt worden sind, wenn das auch wahrscheinlich ist. Das Haus freilich stand Matthäus auch noch nach seiner Erhebung zum Bischof zur Verfugung, es wurde erst nach seinem Tod an dessen Freund Job Vener weiter vergeben, vgl. Urkundenbuch der Universität Heidelberg, hg. Eduard Winkelmann, Heidelberg 1886, Bd. 1, S. 103 f. (nr. 65) bzw. das Regest Bd. 2, S. 21 (nr. 174). 17 Die Obligation vom 27. Juni 1405 ist verzeichnet in: Taxae pro communibus serviciis ex libris obligationum ab anno 1295 usque ad annum 1455 confectis excerpsit Hermannus Hoberg (Studi e testi, 144) Città del Vaticano 1949, S. 134b.
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absichtlich ehrabschneiderisch beleidigt haben, da er erst in Rom 1406 überhaupt von der Identität des Verfassers der ihm zuvor nur als anonym bekannten Schrift erfahren habe, kann hier beiseite bleiben. In der Hauptsache stellt Falkenberg die Behauptung auf, er habe sich seinerzeit in Krakau ausschließlich dazu erboten, den ketzerischen Charakter der Thesen zu erweisen, weil er sich zur Verteidigung des Apostolischen Stuhls verpflichtet fühlte. Keineswegs habe er die Absicht verfolgt, den ihm damals noch unbekannten Autor 15 der Schrift zu beleidigen, vielmehr habe | er nur getan, wozu er sich durch seinen Doktoreid bei seiner Promotion18 ausdrücklich verpflichtet habe, nämlich Irrtümer als solche zu identifizieren, sie wissenschaftlich nachzuweisen und auszurotten. Solchem Vorhaben aber könne niemals beleidigende Absicht unterstellt werden, weil ja sonst auch die heiligen Kirchenlehrer in ihrem Kampf gegen Ketzereien sich beleidigender Ehrabschneidung schuldig gemacht hätten. Somit habe er mit einem Ketzereivorwurf Matthäus gar nicht beleidigen können: cum nullus teneatur nisi pro offensa facere emendam, sei die Forderung seines Gegners nach 20 000 Gulden unhaltbar und abzuweisen19. Nach dieser, wie er offenbar meint, überzeugenden Darlegung seiner Unschuld wird Falkenberg geradezu übermütig und fährt fort, er könne mit Matthäus nur Mitleid empfinden (in veritate compacior sibi ), der in seiner verblendeten Habgier lieber 20 000 Kammergulden von ihm fordere, „anstatt seine Doktorehre, die doch wertvoller ist als alles Gold der Welt, in seinem Lehrstuhl zu verteidigen“ (quam honorem magistralem qui omni auro est preciosior, in cathedra defendere). „Tausende von Gulden lassen das Wort der Wahrheit nicht erstrahlen, sondern ersticken es eher.“ Daher solle Matthäus auf die 20 000 Gulden verzichten, die doch der Wahrheit nur im Wege stünden und zur Verteidigung seiner Lehrauffassungen lieber Tausende von
18 Zum Doktoreid allgemein etwa Paolo Prodi, Il giuramento universitario tra corporazione, ideologia e confessione religiosa, in: Sapere e/è potere, Discipline, dispute e professioni nell’università medievale e moderna, Il caso bolognese a confronto, Atti del 4° Convegno, vol. 3: Dalle discipline ai ruoli sociali, a cura di Angela De Benedictis (Collana Convegni e Colloqui, n.s. 14), Bologna 1990, S. 23–35; Jürgen Miethke, Der Eid an der mittelalterlichen Universität, Formen seines Gebrauchs, Funktionen einer Institution, in: Glaube und Eid, Treueformeln, Glaubensbekenntnisse und Sozialdisziplinierung zwischen Mittelalter und Neuzeit, hg. Paolo Prodi (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, 28) München 1993, S. 49–67, bes. S. 55, 63 ff. 19 Sommerfeldt, Vorwort (wie Anm. 12) S. 613 f.
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Argumenten aufführen, wenn er das könne: er, Falkenberg, wolle dann fröhlich in den Ring steigen. Im weiteren Plädoyer versuchte Falkenberg mit einem anderen Argument seine Polemik gegen die „Squalores“ und den eilfertig erhobenen Ketzereiverdacht gegen ihren Autor als völlig übliches Verhalten darzutun, das nicht allein nicht in übler Absicht, vielmehr ausschließlich ad bonum finem et . . . bona intencione erfolgt sei: in den Hörsälen der Theologen sei es tägliche Übung, solche Behauptungen aufzustellen, entweder um eine Ketzerei zu widerlegen, um die Wahrheit zu erforschen oder, wenn es weiter keinen ernsteren Grund gäbe, auch um sich im Streit der Argumente zu üben (et quando occupacio deest utilior, intencione se exercitandi ). Für solche gegenseitige Verketzerung zu Trainingszwecken und aus pädagogischen Gründen hat unser Dominikaner sogar einen Autoritätsbeweis parat: In den Lebensbeschreibungen der Wüstenväter nämlich sei zu lesen, die Brüder hätten die Demut des Heiligen Agathon erproben wollen, indem sie ihn schließlich Ketzer nannten. Nach Auskunft dieser Quelle hatte dies dann freilich nicht ganz den erwünschten Erfolg, Agathon war zwar demütig, was die schlimmsten Vorwürfe von Hochmut und Habgier betraf, er weigerte sich jedoch strikt, den Makel der | Ketzerei 16 auf sich sitzen zu lassen. Das dann freilich wird von Johannes Falkenberg nicht mehr im einzelnen berichtet20! Wir wollen uns nicht weiter auf die Argumente unseres eilfertigen Dominikaners einlassen. Nachdem er in Krakau durch seine öffentlichen Angriffe den Konflikt vom Zaune gebrochen und seinen Gegner mit dem schweren Geschütz des Ketzereivorwurfs eingedeckt hatte, wollte er jetzt, vor dem kurialen Richter, die ganze Angelegenheit deutlich zu einer bloßen Kontroverse über unterschiedliche wissenschaftliche Auffassungen herunterspielen. Er legte seinem Richter aber zugleich als Beweisstück offenbar einen eigenen Traktat vor, „De mundi monarchia“, den er in nicht weniger als zwei Redaktionen bereits vor seiner Reise nach Rom, also vor Sommer 1406 fertiggestellt haben muß und den er nun in einer weiteren, leicht retouchierten Fassung dem Gericht zugänglich machte21. Da uns sowohl die letzte in Krakau verbreitete Fassung 20 Vgl. Rufin, Vitae patrum III.21, gedruckt in: Patrologiae cursus completus, Series Latina, ed. Jacques-Paul Migne, Bd. 73, Sp. 751 f. (Nachweis von Boockmann, Falkenberg, wie Anm. 11, S. 154 mit Anm. 100a). 21 Vgl. Cheneval (wie Anm. 11) S. 261, dessen Meinung ich freilich nicht teile, Falkenberg habe diese („dritte“) Redaktion in Rom nicht vorgelegt, sondern sie in
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(die „zweite Redaktion“), als auch die in Rom präsentierte Fassung (die „dritte Redaktion“) handschriftlich erhalten sind und sogar beide Fassungen im Druck zugänglich sind22, können wir uns ein sicheres 17 Urteil über die Unterschiede bilden. Der | wichtigste Eingriff, den Falkenberg in den Text seiner Krakauer Schrift jetzt für den römischen Richter vorgenommen hat, war, daß er die Benennung seiner Gegner weiter verschleierte. Während er die – durch ihr Incipit eindeutig gekennzeichneten – „Squalores“ und einen weiteren, ebenfalls
seiner Verteidigungsschrift „unterschlagen“: Die „3. Redaktion“ der Schrift (clm 764) unterscheidet sich von der „2. Redaktion“ (Ms. Breslau IV F 57) vor allem dadurch, daß in ihr – offenbar zum Zwecke der Verschleierung und in der Verteidigungslinie der „notificatio“ – der Name des Matthäus durchwegs durch adversarius ersetzt wurde (obwohl diese Bezeichnung auch bisweilen bereits in der älteren Fassung auftaucht) und daß jetzt als weiteres Ziel der polemischen Widerlegung bereits im Prolog die „Monarchia“ Dantes (anonym mit dem betont fiktivem Autornamen ,Petrus‘ eingeführt) genannt wird und im weiteren Verlauf des Traktats präzise Stellenangaben aus dieser Schrift eingefügt sind, wo sich Falkenberg in der früheren Fassung mit einem vagen quidam begnügt hatte (z.B. wird aus II.3, ed. Se…ko 1986 [2. Redaktion]: Sed dicunt quidam . . . in ed. Se…ko 1975 [3. Redaktion]: Sed dicit Petrus lib. III ° cap. 7° . . . – bei sonst unverändertem Text!). Weitere Unterschiede sind meist stilistischer, selten redaktioneller Art. Daß das – einzig vorhandene – Münchener Manuskript (clm 764) der sog. „3. Redaktion“ ein Widmungsexemplar an einen Papst ist (vgl. dazu Boockmann, Falkenberg [wie Anm. 11] 138 f. Anm. 39, und die schwarz-weiße Abb. des ersten Folios im Frontispiz, ebenda), spricht jedoch massiv für die Annahme, daß eine Vorlage dieses Exemplars an der Kurie zumindest geplant war. – Auch Ka∑uΩa, Chronologie (wie Anm. 4) rechnet mit einem Verwirrspiel des Falkenbergers, freilich mit einem anders gearteten. Ich kann die hier vorgeschlagene Version ebensowenig „beweisen“, wie er die seine, mir erscheint seine Rekonstruktion aber doch recht künstlich. Vor allem kann ich nicht erkennen, daß damit die Zuarbeit Peter Wyszs eindeutig nachgewiesen sei, vielmehr geht K. von einer solchen Gemeinsamkeit mit Wysz allererst aus. 22 Die „zweite Redaktion“ ist gedruckt von W∑adys∑aw Se…ko (ed.), Krakowska redakcja Jana Falkenberga „De monarchia mundi“ (Textus et studia historiam theologiae in Polonia excultae spectantia, 20) Varsoviae 1986; die dritte Redaktion hat ebenfalls ediert W∑adys∑aw Se…ko (Hg.): Johannes Falkenberg, „De monarchia mundi“ (Materialy do historii filozofii ≤reniowiecznej w Polsce 9) Wroc∑aw 1975 [zu dieser Ausgabe vgl. aber die kritischen Anmerkungen von Hartmut Boockmann in: DA 33 (1975) 235, der zu Recht moniert, daß Se…ko an wichtigen Stellen ohne Einzelnachweise einen Mischtext der beiden Redaktionen hergestellt hat; außerdem sind die Lesungen Se…kos nicht immer zuverlässig, wie u.a. bei den wörtlichen Zitaten aus den „Squalores“ (wo fehlerhafte Lesungen – insbesondere bei den Allegationen – seiner Ausgabe von 1969 wiederholt werden) ersichtlich ist; es ist also bei Vergleichen zwischen den gedruckten Texten in philologischer Absicht Vorsicht geboten]. Ka∑uΩa, Chronologie (wie Anm. 4), S. 116 f., stellte fest, daß Falkenberg die „Squalores“ nach ihrer zweiten Redaktion benutzt hat. Das erscheint nicht absolut sicher, da es sich vor allem auf die Kapitelzählung der Zitate bezieht und in einem Fall ein Textstück genannt wird, daß in den Hss. der sog. „2. Redaktion“ der „Squalores“ nicht enthalten ist, vgl. Chronologie, S. 117 Anm. 8.
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als anonym angeführten Text23, gegen den er polemisierte, in Polen klar bezeichnet hatte, die „Squalores“ sogar ausdrücklich dem Matthäus von Krakau zugeschrieben und nach ihrem Verfasser in seiner Schrift immer wieder zitiert hatte, hat er in der römischen Fassung (wie ich die „dritte Redaktion“ hier abgekürzt nennen will) diesen Namen konsequent durch ein anonymisierendes adversarius ersetzt, wohl um der in seiner Verteidigungsrede behaupteten Ahnungslosigkeit über dessen Identität einen Beleg zu liefern (und damit dem Vorwurf ehrabschneiderischer Beleidigung zu begegnen). Als weiteren – ebenfalls anonym vorgestellten – Gegner führt er jetzt zudem bereits im Prolog die „Monarchia“ Dantes an, freilich auch als anonyme, hier betont fiktiv einem „Petrus“ als Verfasser zugeschriebene Schrift, die doch damals schon mehr als drei Menschenalter zurücklag24. Im überarbeiteten Prolog der „römischen (dritten) | Redaktion“ wird Dantes 18 23
Nach dem Prolog der 2. Redaktion handelt es sich – neben den „Squalores“ – um die anonym umlaufende Schrift „Speculum aureum“ (ed. Se…ko, Piotr Wysz, wie Anm. 2, S. 73–169); deren Verfasserschaft, Datierung und Redaktionsgeschichte ist allerdings ebenfalls umstritten: der Traktat könnte entgegen den – freilich gewichtigen – chronologisch-redaktionsgeschichtlichen Argumenten von Zenon Ka∑uΩa (prägnant in: Matthieu, wie Anm. 1, Sp. 806, sowie neuerdings in Chronologie (wie Anm. 4), passim) und trotz der (wesentlich leichter wiegenden) Aufstellungen von Markowski (wie Anm. 4) m.E. weiterhin nicht Peter Wysz aus Radolin, sondern immer noch Paulus Vladimiri zukommen, was Heimpel, Kirchenreform-Traktate (wie Anm. 4) S. 31–40, im Anschluß an die ältere Forschung, aber ohne Rücksicht auf die „Kandidatur“ des Peter Wysz, zuletzt am ausführlichsten begründet hat. Dritter Gegner ist eindeutig Dantes „Monarchia“ (das ist Markowski [wie Anm. 4] zum Trotz festzuhalten): vgl. oben Anm. 21 und vor allem bereits Se…ko in seiner Ausgabe der dritten Redaktion (wie Anm. 20) pp. xxvi–xxviii, sowie insbesondere die eingehenden Darlegungen von Cheneval, Rezeption (wie Anm. 11) S. 265–271, der den redaktionsgeschichtlichen Fragen von Falkenbergs „Monarchia“ bisher die eindringlichste Behandlung hat angedeihen lassen. Vgl. auch Francis Cheneval, Jean Falkenberg et Paulus Vladimiri, Critiques de Dante, in: Société et Église, Textes et discussions dans les universités de l’Europe Centrale pendant le moyen âge tardif, Actes du colloque internationale de Cracovie, 14–16 juin 1993, organisé par la Société Internationale pour l’Étude de Philosophie médiévale, éd. Sophie W∑odek (Rencontres de Philosophie médiévale, 4), Turnhout 1995, S. 101–115, sowie Ka∑uΩa, Chronologie. Jedenfalls ist festzuhalten, daß auch bereits die zweite Redaktion der Schrift des Falkenbergers davon wußte, daß der Verfasser der „Squalores“ ein Bischof war. Das gibt einen festen und letzten Terminus ante quem für die zweite Redaktion der „Squalores“, denn Matthaeus wurde 1405 zum Bischof von Worms erhoben, vgl. oben Anm. 17. (Die „erste Redaktion“ der „Squalores“ wie der „Monarchia“ ist jeweils in ihrem Wortlaut nicht überliefert.) 24 Zur Datierung der „Monarchia“ Dantes vgl. etwa die Erörterungen von Friedrich Baethgen, Die Entstehungszeit von Dantes „Monarchia“ (SB München 1966,5) München 1966; oder die zurückhaltende Berichterstattung von Pier Giorgio Ricci in: Encyclopedia Dantesca Bd. 3 (1971 [21984]) col. 983–1004 (beide mit der älteren Lit.). Neuerdings versuchte Carlo Dolcini, Crisi di poteri e politologia in
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Text (dem ja der Falkenberger den Titel seines Traktats entnommen hat) jetzt ausdrücklich als zusätzliches Ziel seiner Polemik benannt, obwohl Falkenberg in der Sache bereits in der „Krakauer Fassung“ gegen Dantes Schrift kräftig und sachlich mit identischen Vorwürfen polemisiert hatte. Der Eindruck drängt sich auf, er habe dieses zusätzliche Ziel seiner Polemik nur deshalb ausdrücklich in seinen Prolog aufgenommen, um seine Schrift nicht vorwiegend gegen Matthäus gerichtet erscheinen zu lassen, sondern sozusagen als einen Beitrag in einer wissenschaftlichen Debatte zu kennzeichnen. Diese somit leicht in Richtung auf eine wissenschaftliche Objektivierung hin ermäßigte und durch stilistische Bearbeitung geringfügig veränderte Polemik legte Falkenberg der Kurie in der erklärten Absicht vor, die auctoritas der „Römischen Kirche“ zu verteidigen, während er in der in Polen entstandenen Fassung seiner Schrift noch, sich in beiden Fällen an dem Kanon „Quotiens“25 des „Decretum Gratiani“ als Autorität anschließend, vom Apostolischen Stuhl gesprochen hatte, dessen Urteil er sein eigenes Elaborat „in Demut zur Erörterung und Korrektur unterwirft“26. Man tut dem Dominikaner gewiß Unrecht, wenn man in dieser rein stilistischen Variation einen tieferen Sinn sucht: wo Falkenberg in seinem Traktat ausführlicher
crisi, Da Sinibaldo Fieschi a Guglielmo d’Ockham (Il mondo medievale, Sez. di storia delle istituzioni, della spiritualità e delle idee, 17) Bologna 1988, S. 427–439, erneut eine Datierung in der Nähe von Heinrichs VII. Romzug zu begründen, ohne daß mich seine Argumente überzeugt hätten. Vgl. auch etwa Ruedi Imbach, Dante, la philosophie et les laïcs, Initiations à la philosophie médiévale I (Vestigia, 21) Freiburg/Schweiz, Paris 1996, S. 145, der „avec une certaine précision“ auf 1317–1318 datiert. 25 C.24 q.1 c.12: Quotiens fidei ratio ventilatur, arbitror omnes fratres et coepiscopos nostros non nisi ad Petrum, id est sui nominis et honoris auctoritatem, referre debere (. . .) quod per totum mundum possit ecclesiis omnibus prodesse [hier zitiert nach: Corpus Iuris canonici, hg. Emil Friedberg, Bd. 1, Leipzig 1879, col. 970, was geringfügig von der im Mittelalter gebräuchlichen Vulgatafassung abweicht]. Mit etwas anderer Pointe legt Falkenberg diesen Canon auf dem Konstanzer Konzil im Verlauf der Polemiken um die Thesen des Jean Petit zum Tyrannenmord nach der Flucht und Absetzung Johannes’ XXII. aus: „Responsio ad certas propositiones publice propositas“, gedruckt in Johannes Gerson, Opera omnia, ed. Louis Ellies Du Pin, Antwerpen 1706 [Neudruck Hildesheim 1987], vol. 5, Sp. 1029–1032 (Sp. 1030Bsqq.). – Zur sonstigen spätscholastischen Diskussion vgl. nur etwa Guillelmus de Ockham, I Dialogus II 18 (im Druck von Jean Trechsel, Lyon 1494 [Neudruck als Guillelmi de Ockham Opera plurima, tom. 1, London 1962], fol. 12vb) und die Angaben in: Wilhelm von Ockham, Dialogus, Auszüge zur politischen Theorie, ausgewählt, übersetzt und hg. von Jürgen Miethke, Darmstadt 21994, S. 189 Anm. 18. 26 Vgl. „Professio auctoris“: pro defensione sedis apostolicae (ed. Se…ko 1986, S. 33), mit: pro defensione Romanae ecclesiae (ed. Se…ko 1975, S. 2).
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auf den Canon „Quotiens“ zu sprechen kommt, der auch sonst bei scholastischen Theologen häufiger erörtert worden war, hat er seine Formulierungen keineswegs von einer Redaktion zur anderen spezifisch verändert. In seiner Verteidigungsrede vor dem kurialen Richter hat Falkenberg dann ebenfalls zweimal seine Argumente als Anfrage charakterisiert, die er bei der strittigen Erörterung einer Glaubensfrage dem Apostolischen Stuhl zur Entscheidung vorlegen wolle, indem er seine Schrift zur Korrektur (ad corrigendum) einreiche. Denn nur zur Verteidigung des Apostolischen Stuhls, nicht mit der Absicht einer Belei | digung 19 habe er den Gegner als Ketzer angezeigt, wobei es ihm auf die Reinheit des katholischen Glaubens angekommen sei. Weil es eine Glaubensfrage sei, so dürfe man sich ausschließlich an den Apostolischen Stuhl und an den Apostel selber um eine Entscheidung wenden, der allein die falschen Meinungen korrigieren könne27. Lassen wir damit den Streit zwischen dem Wormser Bischof Matthäus von Krakau und dem Krakauer Dominikaner in Rom auf sich beruhen. Johannes Falkenberg, der hier den Ketzereiverdacht geradezu zum „Berufsrisiko des geistig tätigen Menschen“ erklärte (wie es Hartmut Boockmann ausgedrückt hat28), sollte später mit einer anderen Schrift, der „Satira“, eine cause célèbre der Glaubensdiskussion auf dem Konstanzer Konzil verursachen. Falkenberg ist dort zwar nicht verurteilt und schon gar nicht, wie Jan Hus, verbrannt worden, man fand aber Mittel, den früheren Krakauer Theologen den Augen und Ohren der europäischen Öffentlichkeit für eine Zeitlang zu entziehen. Erst 1424, sechs Jahre nach dem Abschluß des Konzils am Bodensee, nach langer Kerkerhaft in der Engelsburg und im Gefolge komplizierter Verhandlungen der Kurie mit dem polnischen Hof und dem Deutschen Orden wurde er schließlich entlassen, nachdem er einen – recht verklausulierten – Widerruf geleistet hatte (der in der Sache eigentlich nichts zurücknahm). Die chronologisch letzte Nachricht, die von ihm erhalten ist, zeigt ihn in einer Gruppe von Dominikanern, die einem Pfarrer von Thorn Ketzerei vorwerfen – unser Theologe hatte, so scheint es, aus seinem eigenen Geschick jedenfalls nicht die Konsequenz größerer Zurückhaltung bei der Verfolgung von theologischen Ketzereien gezogen.
27 28
Sommerfeldt, Vorwort (wie Anm. 12) S. 616 f. Boockmann, Falkenberg (wie Anm. 11) S. 154.
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Verlassen wir Johannes Falkenberg und versuchen wir, einige Schlußfolgerungen festzuhalten. Der Ketzereivorwurf, so haben wir gesehen, wird von dem Krakauer Theologen für die alleralltäglichste Sache der Welt gehalten: „Aus Übungszwekken“ in den Hörsälen und „um die fromme Demut“ der Beschuldigten zu erproben, so sagt er in seiner Apologie, kann dieser Vorwurf erhoben werden. Was der Dominikaner damit insinuieren wollte, war die Frage, was die Aufregung seines Gegners, des Wormser Bischofs, eigentlich solle. Der Entschluß des Matthäus von Krakau, daß er den aufgeregten Krakeeler mit einem Beleidigungsprozeß überzog und dabei noch die – für einen Privatmann und einen Bettelmönch wahrhaft astronomische – Summe von 20 000 Kammergulden als Schadensersatz forderte, ist andererseits offensichtlich ungewöhnlich und überraschend gewesen. Das erklärt sich zunächst einmal daraus, daß eben ein „ganz alltäglicher“ Ketzereivorwurf keineswegs ungefährlich war und ernste Folgen für den Beschuldigten haben konnte. Eine Besonderheit freilich kannte der eifrige Verteidiger päpstlicher Ansprüche in Krakau vielleicht noch gar nicht, als er zuallererst öffentlich dem Verfasser einer (später von ihm als „anonym“ ausgegebenen) Schrift die Ketzerschelle umhängen wollte. In diesem Fall war der zunächst angeblich unbekannte Gegner nicht nur dem Angreifer nach seiner scholasti20 schen Ausbildung zumindest | gleichwertig, in seinem taktischen Einfallsreichtum sogar überlegen – das wäre vielleicht auch schon allein einer genaueren Lektüre der inkriminierten Schrift, den „Squalores“, zu entnehmen gewesen. Zwei weitere Punkte machten die Auseinandersetzung hier noch zusätzlich irregulär: Matthäus von Krakau war (seit Mitte 1405) Bischof von Worms und damit nach altem kirchlichen Herkommen selbst für die reine Glaubenslehre und das lautere Glaubensleben seiner Diözese verantwortlich. Das schützte ihn freilich nicht vor Ketzereiverdacht, brachte ihn aber gewissermaßen in eine andere Kategorie von Verdächtigen und machte das üblich gewordene Verfahren gegen Theologen zwar nicht unanwendbar, aber doch politisch nicht mehr durchsetzbar. Im 12. Jahrhundert hatte ein Bernhard von Clairvaux noch den Bischof von Poitiers Gilbert de la Porrée wegen ketzereiverdächtiger Lehren angreifen können und vor einem päpstlich geleiteten Synodalgremium in Reims 1148 einer strengen Untersuchung unterziehen lassen, die freilich nicht zu einer Verurteilung geführt hatte. Seither aber hatte, soweit mir bekannt wurde, kein einziges Theologenverfahren mehr einen
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Diözesanbischof getroffen – wenn natürlich auch Verurteilungen von Bischöfen durch die päpstliche Kurie vorgefallen waren, insbesondere wegen Zauberei, die am Beginn des 14. Jahrhunderts im Pontifikat Johannes’ XXII. auch ihrerseits offiziell zur Häresie erklärt worden war. War also allein damit bereits die Ausgangslage für den eifrigen Ankläger ungünstig geworden, so entzog darüber hinaus das sogenannte Große Abendländische Schisma den Wormser Bischof als einen wichtigen Berater des deutschen Herrschers Ruprecht von der Pfalz politisch weitgehend einer papalen oder kurialen Machtdemonstration. Es ist den Texten keineswegs zu entnehmen, was bisweilen in der Forschung angenommen worden ist29, daß Matthäus seine
29 So der Entdecker des Dokuments, Sommerfeldt, Vorwort (wie Anm. 12) S. 610. Auch Worstbrock, Matthäus (wie Anm. 1) Sp. 180 schließt sich – ohne Argumente zu nennen – an, vielleicht weil Heimpel beständig dieser Ansicht gefolgt war: Der verketzerte Matthäus, S. 445 f., vgl. Kirchenreform-Traktate, S. 17 f.; Vener, S. 730 mit Anm. 26 und S. 732 (alle wie Anm. 4]) jeweils mit Hinweis auf eine zweifelhafte, keineswegs eindeutig zu verstehende (eher den „Prolog“ erläuternde als eine Zensur andeutende) Notiz vor dem Prolog der Schrift in der (relativ späten) Wiener Handschrift cvp 5125, fol. 30; der zur Unterstützung (ebenda) von Heimpel als „merkwürdige Nachbemerkung“ angeführte Satz (non constat de errore suo. Et sic dictum potest procedere, quamdiu regit secundum regulam sibi datam et non ultra, fol. 51r) ist jedoch in Wahrheit nicht mit Heimpel als kommentierende Anmerkung eines Schreibers oder Benutzers nach dem Ende des Textes zu lesen, sondern stammt unmittelbar aus der Schrift des Matthäus selbst, wo diese Worte in der „2. Redaktion“ den Abschlußsatz bilden. (Demnach muß die Version der – von Se…ko nicht benutzten und damit auch nicht eingeordneten – Wiener Handschrift dieser Redaktionsstufe zugehören.) Auch in der „3. Redaktion“ findet sich dieser Satz, in cap. 22 (S. 160 Miethke-Weinrich, S. 121 Se…ko [beide wie Anm. 4]). Das klingt somit mitnichten nach „Inquisition“ oder „Ketzereiverdacht“ (wie Heimpel annahm), die Worte sind vielmehr von Matthäus selbst auf die Frage bezogen worden, ob das klassische Zitat (dictum): quod nemo <ei> debeat dicere, Cur ita facis?‘– das Augustin zur Beschreibung von Gottes Macht gebraucht hatte – auch, wie es bei den Kanonisten üblich war, auf den Papst angewandt werden dürfe; der Theologe Matthäus erörtert somit das Problem, ob auch der Papst Gottes unumschränkte und unhinterfragbare Souveränität für sich in Anspruch nehmen dürfe, und kommt zu einer eingeschränkt positiven Antwort. – Die Annahme eines kurialen Prozesses gegen Matthäus ist somit nicht belegt. Ein weiteres Argument kann unsere Auffassung stützen: Falkenberg fordert bereits in der 2. Redaktion seiner Schrift „De mundi monarchia“ (d.h. vor seiner Reise nach Rom) eine empfindliche Bestrafung des Autors der von ihm inkriminierten Schrift (vgl. pars IV, c. 6, ed. Se…ko 1986, S. 217 f.), z.B.: (. . .) et ergo Matthaeus episcopio suo est privandus et in eam qua natus est rusticitatem revocandus; (. . .) cum enim inter Matthaeum iniuriantem et Romanam ecclesiam iniuriam passam papa habeat iudicare et ad bonum Romanae ecclesiae pertineat, quod Matthaeus puniatur propter iniuriam in ipsam commissam (. . .) non est in arbitrio nude papae paenam relaxare (. . .) – diese Sätze werden in der 3. Redaktion fast Wort für Wort ohne Verschärfung wiederholt, nur heißt hier der Gegner adversarius [vgl. ed. Se…ko 1975, S. 270 f.]. Das zeigt doch
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21 Anklage wegen | ehrabschneiderischer iniuria an der Kurie sozusagen als Entlastungsschlag im Rahmen einer kurialen Untersuchung der „Squalores“ erhoben hätte. Es ist sehr die Frage, ob eine solche Anklage wegen iniuria gegen den Denunzianten in einem förmlichen Ketzereiverfahren überhaupt zulässig gewesen wäre und von dem kurialen Richter hätte entgegengenommen werden dürfen. Die Anklage gegen den Falkenberger scheint vielmehr völlig selbständig erfolgt zu sein. Leider bleibt gänzlich dunkel, wie der kuriale Auditor schließlich entschieden hat, wenn eine Entscheidung des Gerichts überhaupt zustande gekommen ist. Als eine Beleidigung und eine iniuria ist sonst jedenfalls eine Denunziation wegen Ketzerei von einem kirchlichen Richter m.W. niemals behandelt worden, selbst dann nicht, wenn sich, was selten genug geschah, der Inquisitor von dem Angezeigten von der Haltlosigkeit der Vorwürfe überzeugen ließ! Der Vorfall, von dem wir hier ausgegangen sind, ist also in mehrfacher Hinsicht sehr eigenartig und keinesfalls repräsentativ für viele andere Vorfälle. Gleichwohl habe ich ihn als einführendes Exempel gewählt, weil er uns die Schwierigkeiten der Fallgruppe der „spätmittelalterlichen Theologenprozesse“30 veranschaulicht. Hier haben wir es einerseits mit den allgemeinen und allgemein als gültig betrachteten Regeln kirchlicher Prozeßführung zu tun, die sozusagen allezeit
deutlich, daß noch zum Zeitpunkt der Niederschrift der 3. Redaktion ein Prozeß an der Kurie gegen den Wormser Bischof nicht im Gange war, bzw. daß Falkenberg keinerlei Kenntnis von solch einem Prozeß hatte, sonst hätte sich der Dominikaner doch gewiß darauf bezogen. 30 Allgemein dazu – außer den unten Anm. 57 genannten Arbeiten von Koch – etwa Jürgen Miethke, Papst, Ortsbischof und Universität in den Pariser Theologenprozessen des 13. Jahrhunderts, in: Die Auseinandersetzungen an der Pariser Universität im 13. Jahrhundert, hg. Albert Zimmermann (Miscellanea mediaevalia, 10) Berlin, New York 1976, S. 52–94; Jürgen Miethke, Der Zugriff der kirchlichen Hierarchie auf die mittelalterliche Lehrentwicklung vom 12. bis 14. Jahrhundert (am Beispiel von Paris), in: Kyrkohistorisk ¿rsskrift 77 (1977) S. 197–204; William J. Courtenay, Inquiry and Inquisition, Academic Freedom in Medieval Universities, in: Church History 58 (1989) S. 169–182; J. M. M. Hans Thijssen, Academic Heresy and Intellectual Freedom at the University of Paris, 1200–1378, in: Centres of Learning, Learning and Location in Pre-Modern Europe and the Near East, edd. Jan Willem Drijvers, Alasdair A. McDonald (Brill’s Studies in Intellectual History, 61) Leiden, New York, Köln 1995, S. 217–228. Monographische Untersuchungen zu den Pariser Verfahren sind (vor und nach Abschluß dieses Manuskripts) erschienen: François-Xavier Putallaz, Insolente liberté, Controverses et condamnations au XIIIe siècle (Vestigia 15, 1995); J. M. M. Hans Thijssen, Censure and Heresy at the University of Paris, 1200–1400, Philadelphia, PA 1998. Vgl. jetzt auch Luca Bianchi, Censure et liberté intellectuelle à l’Université de Paris (XIIIe–XIVe siècles), Paris 1999.
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Geltung bean | spruchten, und die doch zugleich durch die beson- 22 deren Eigenschaften der betroffenen Gelehrten, ihre und ihrer Berater Schrift- und Gesetzeskunde sowie ihre Präzedenzerfahrung und Geschicklichkeit, auch ihre Bereitschaft zu differenzierter Verteidigung deutlich mitbestimmt wurden. Im Falle der Verfahren, die im Spätmittelalter gegen gelehrte Theologen wegen Häresieverdachts durchgeführt wurden, ist es somit, stärker noch als sonst, schwierig wenn nicht unmöglich, sich von vorneherein ausschließlich an den nur formalen Bedingungen dieser Verfahren zu orientieren und von den Besonderheiten des individuellen Falles abzusehen. Wir wollen das gleichwohl versuchen, wenn wir nun ganz grob einige Überlegungen anstellen zur Entstehung und Entwicklung des Problems, zu den tragenden Momenten des ausgebildeten Verfahrens, zu den Entwicklungstendenzen, die sich abzeichnen, und zu den Strömungen, die erkennbar werden. Auch im Mittelalter, wie in der Urkirche der neutestamentarischen Zeit und in der Alten Kirche der Spätantike, war der Ketzerbegriff ein polemischer Begriff, der stets den anderen und nicht die eigene Position meinte. Niemals hat ein einzelner oder eine Gruppe sich selbst von vorneherein als „Häretiker“, und d.h. als abweichend von der Wahrheit gesehen. Es sind immer die anderen, von deren verkehrter Auffassung die eigene – in der Wahrheit zutiefst verwurzelte – Meinung sich als die rechte und rechtgläubige absetzen möchte. Gleichwohl sind im Streit der Meinungen je und dann Entscheidungen getroffen worden, die bestimmte Auffassungen marginalisierten und zur abzulehnenden Abweichung von der Norm erklärten, ohne daß freilich heute ein Verfahren zur Verfügung stünde, in historischer Rekonstruktion die siegreiche Richtung in jedem Fall unfehlbar zu bestimmen: der Historiker sieht sich bei der Aufgabe einer Ketzergeschichte in der Regel außerstande, überall von vorneherein und objektiv die siegreiche Gruppierung und Meinung zu identifizieren. Wieweit er sich bei seiner eigenen Wertung an die faktisch getroffene Entscheidung der siegreichen Partei und ihre Ergebnisse halten muß, ist eine offene Frage. Terminologisch jedenfalls wird er die damals getroffene Festlegung auch dann übernehmen und von „Ketzern“ sprechen dürfen, wenn er verurteilte Häretiker meint, auch wenn er eher gescheiterte Wahrheitszeugen als verdammte Ketzer zu erkennen glaubt. Daß Streit und strittige gegenseitige Abgrenzungen innerhalb der Kirche sich an ganz unterschiedlichen Fragen entzünden konnten,
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das ist gleichfalls eine alte Erfahrung der Kirchengeschichte. Theoretische Probleme der Glaubensauslegung einerseits, Fragen der Gemeindeordnung und individuellen Lebensführung andererseits konnten erbitterte Kämpfe auslösen. Als „Ketzerei“, als „Häresie“ faßte die jeweils siegreiche Partei die gegnerische Auffassung immer in einer spezifischen Doppelung auf, die auch das Mittelalter bereits als unbefragte Festlegung aus der Antike übernommen hat. Ketzerei ist ein Glaubensirrtum, eine Abweichung von der Glaubenswahrheit. Aber dieses Kriterium reicht und reichte für sich allein genommen nicht dazu aus, einen Ketzer von einem Vertreter der Orthodoxie zu unterscheiden, da jeder durchaus das Recht auf menschlichen Irrtum stets für sich beanspruchen durfte. Hinzutreten mußte (und muß auch 23 noch heute nach den | gültigen kanonischen Bestimmungen der katholischen Kirche31) die pertinacia, die Beharrlichkeit oder Hartnäckigkeit, mit der der Irrtum oder die Abweichung gegen alle Einreden und Ermahnungen der Kirche verteidigt und festgehalten wird. Schon Augustinus und Hieronymus hatten auf diesem doppelten Merkmal bei der Definition einer Ketzerei beharrt, und Gratian hatte solche beharrliche Eigenwilligkeit als Wesensmerkmal der Ketzerei in seinen Canones mehrfach unterstrichen. Noch Matthäus von Krakau hat dieses Argument erstaunt dem Johannes Falkenberg entgegenhalten32, der sich dann pflichtschuldigst befleißigt zeigt, diesen von ihm zuvor anscheinend übersehenen oder doch im Hintergrund gelassenen Gesichtspunkt um so deutlicher zu unterstreichen33.
31 Codex Iuris Canonici Pii X pontificis maximi iussu digestus, Benedicti papae XV auctoritate promulgatus, Rom 1917, S. 257 can. 1325 [§ 2]: Post receptum baptismum si quis, nomen retinens christianum, pertinaciter aliquam ex veritatibus fide divina et catholica credendis denegat aut de ea dubitat, haereticus (. . .); Codex Iuris Canonici, auctoritate Ioannis Pauli II promulgatus, Città del Vaticano 1983, S. 138 [can. 751]: Dicitur haeresis, pertinax, post receptum baptismum, alicuius veritatis fide divina et catholica credendae denegatio, aut de eadem pertinax dubitatio (. . .). 32 Vgl. dazu auch die oben (bei Anm. 7) zitierte Vermittlung durch die Universität Heidelberg unter führender Beteiligung des Matthäus zwischen dem Mainzer Inquisitor und Johannes von Malkaw, wo es offensichtlich ebenfalls eine Rolle spielte, daß Malkaw frequenter in omnibus dictis et factis submisit se iudicio sancte matris ecclesie hodieque submittit (Rektorbücher [wie Anm. 4] 215, 18–21), also eine den Verdacht der Ketzerei ausschließende Gehorsamsbereitschaft zeigte. 33 Falkenberg in seiner Apologie, ed. Sommerfeldt, Vorwort (wie Anm. 12) S. 616: Dixi enim et est verum, quod auctor libelli pestiferi qui incipit ,Moyses sanctus‘ est hereticus, si cum doctrine eius adhereat pertinaciter, proferet dicta verba materialiter sicut partem in toto. Und im Plaidoyer (ibid. S. 616): Et quamvis verum sit quod hec verba dixi, non tamen, ut Mattheus confingit, nude sed cum hac condicione dixi, quod auctor huius libelli est hereticus, si pertinaciter doctrine eius adhereat . . .
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Wir verzichten auf eine genaue Verfolgung der Wort- und Begriffsgeschichte34. Es kommt uns auf die Anwendung dieser Ausgangslage auf die Theologen und Gelehrten an. Die Frage, ob man diejenigen, die halsstarrig von der Wahrheit abwichen, nur meiden oder vielmehr gewaltsam an einer weiteren Schädigung der Kirche und ihrer Gläubigen hindern müsse, wurde lange Zeit nicht grundsätzlich entschieden. Es lag aber schon für die Alte Kirche nahe, alle vorhandenen oder erreichbaren Mittel (also auch die kaiserliche und militärische Macht, wo sie sich dem zugänglich zeigte und zur Mitwirkung bereit war) zugunsten der siegreichen Orthodoxie einzusetzen35. Das Mittelalter hat sich dann grundsätzlich dazu entschlossen, im Häretiker nicht „nur“ den Dissidenten zu sehen, der einen eigenen Weg abseits von der Hauptstraße sucht, sondern einen Vertreter einer anderen Welt, einen Teufelsdiener und Satanshelfer, dessen Vernichtung man zwar mit medizinischen Metaphern erklären – und damit entschuldigen – mochte, man hielt sie | aber grundsätzlich 24 weithin nicht nur für gerechtfertigt, sondern für eine heilige Pflicht36. Diese grundsätzliche Entscheidung freilich machte es im Einzelfall nicht leichter, einen Ketzer als solchen zu identifizieren. Die Amtskirche in der Person des jeweiligen Bischofs fühlte sich für die Lehre in der eigenen Diözese zuständig. Der Ortsbischof nahm diese Aufgabe im Frühmittelalter auf Diözesansynoden auch mehr oder minder intensiv wahr und versuchte ihr dann im Sendgericht auch innerhalb seiner Diözese nachzukommen. Die bischöflichen Kapitularien des 9. bis 11. Jahrhunderts sind in ihrer bunten Mischung aus liturgischen Vorschriften, Anordnungen für die Lebenspraxis von Geistlichen und
34 Hinweise gibt Alexander Patschovsky, Häresie, in: LexMA 4 (1989) Sp. 1933–1937 [mit Literatur]. 35 Ein bekannter früher Fall solcher Bemühung, einige Jahrzehnte vor der konstantinischen Wende, ist der des Paulus von Samosata (268/272 n. Chr.), dazu etwa: Hans Lietzmann, Geschichte der Alten Kirche, Bd. 3: Die Reichskirche, Berlin 3 1961, S. 85–89; auch Carl Andresen, Die Kirchen der alten Christenheit (Die Religionen der Menschheit 29/1–2) bes. S. 196 f., 302 f. (und ad indicem). 36 Ockhams Kampf gegen den von ihm als häretisch identifizierten Papst ist dafür ein schlagender Beleg: Ockham will dem Ketzerpapst (und seinen Anhängern) keinerlei Schonung gewähren: vgl. etwa I Dialogus VI cap. 82 (im Druck bei Johannes Trechsel, Lyon 1494 [Neudruck als Guillelmi de Ockham Opera plurima, vol. 1, Farnborough, Hants. 1962], fol. 96r), wo als Strafe für den Papst gefordert wird: nisi ad fidei unitatem redierit, tradendus est curie seculari; si autem redierit, est perpetuo carceri mancipandus (. . .). Der Erörterung, wie mit den credentes, fautores, defensores et receptatores hereticorum zu verfahren sei, gilt das gesamte Buch VII der „prima pars“ des „Dialogus“.
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Laien und dogmatischen Basissätzen ein lebendiger und anschaulicher Spiegel dieser Bemühungen37, die freilich nicht in jeder Diözese in gleicher Intensität und in gleich umfassender Weise zum Ausdruck kamen. Bekanntlich hat sich der früh- und hochmittelalterlichen Kirche das Problem einer sektenhaften Abspaltung aus sehr verschiedenen Gründen nicht oder doch nicht mit Dringlichkeit gestellt. Erst seit der Zeit der Kirchenreform des 11. Jahrhunderts, in der sich die verschiedenen Parteiungen gegenseitig der häretischen Abweichung von der rechten Lehre beschuldigten, wird das allmählich anders, bis mit dem intensiveren Gruppenleben der Kirche auch Ketzergruppen, ja eigene Ketzerkirchen das Bild bestimmen, mit deren Bekämpfung durch Feuer und Schwert in Ketzerkreuzzug und Inquisition38 die mittelalterliche Kirche bis heute noch im allgemeinen Bewußtsein ihr Gedächtnis verdunkelt hat. Während sich die mittelalterliche Kirche jedoch mit ganzen Ketzergruppen erst relativ spät konfrontiert sah und dementsprechend auch die ihr eigentümlichen Instrumente der Bekämpfung erst zu diesem 25 späten Zeitpunkt definitiv entwickelte, | tritt das Problem der individuellen Abweichung bereits früher in ihren Gesichtskreis. Für die christliche Buchreligion war dabei die Pflicht, über die Angemessenheit von dogmatischen Texten und ihr Verständnis zu wachen, von vorneherein wichtig und naheliegend. Freilich sind Formen einer vorweggreifenden Bücherzensur zunächst nur in ganz unscheinbaren Ansätzen entwickelt worden. Der „Index librorurn prohibitorum“, der zumindest für das heutige Bewußtsein von Intellektuellen noch das Bild des Katholizismus prägt, stammt bekanntlich erst aus dem
37 Die Edition der gesammelten Texte macht das deutlich: Capitula episcoporum, Teil 1, hg. Peter Brommer, Teil 2, hgg. Rudolf Pokorny u. Martina Stratmann u. Mitwirkung von Wolf-Dieter Runge, Teil 3, hg. Rudolf Pokorny (MGH, Capitula episcoporum) Hannover 1984–1995 [es steht noch aus Teil 4, hg. Rudolf Pokorny, der die Einleitung und das Register enthalten soll]. Knapp dazu Jean Gaudemet, Les statuts épiscopaux de la première décade du IXe siècle, in: Proceedings of the 4th International Congress of Medieval Canon Law, ed. Stephan Kuttner (Monumenta iuris canonici, C.5) Città del Vaticano 1976, S. 303–349; Peter Brommer, Capitula episcoporum, Bemerkungen zu den bischöflichen Kapitulanen, in: ZKG 91 (1980) S. 207–236. 38 Neuere Übersicht in dem Sammelband: Die Anfänge der Inquisition im Mittelalter, hg. Peter Segl (Bayreuther historische Kolloquien 7) Köln, Weimar, Wien 1993; zum Ketzerkreuzzug vgl. etwa die knappe Übersicht von John RileySmith in: LexMA 5 (1991) Sp. 1508–1519 (hier Sp. 1517).
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16. Jahrhundert39. Im Mittelalter hat es solche allgemeine Vorzensur von Büchern zu keiner Zeit gegeben. In einem Zeitalter handschriftlicher Vervielfältigung von Texten wären solche Mechanismen ja auch nicht sehr sinnvoll gewesen, da es Wochen, ja Monate lang dauern konnte, bis ein bestimmter Text abgeschrieben war. Der Büchermarkt war dementsprechend nicht von den Anbietern, sondern von den Nachfragern, den Interessenten bestimmt. In der Regel wurde ein umfänglicher Text nur dann niedergeschrieben, wenn zuvor feststand, wer die Handschrift später benutzen würde. So sind uns eine ganze Reihe von Nachrichten von schreibkundigen Intellektuellen überliefert, die in ihren Briefen um die Überlassung bestimmter Textvorlagen zur Kopie bitten, selten oder niemals aber hören wir von dem Versuch, bestimmte Texte vorweg an einer Verbreitung zu hindern. Wenn auf einer Synode ein Text als häretisch verurteilt wurde, so geschah dies in der Form einer feierlichen Verfluchung der in ihm enthaltenen Irrtümer oder des gesamten Buches wegen der in ihm enthaltenen Irrtümer, womit apotropäisch der satanische Schaden gebannt werden sollte, der von dieser Schrift ausgehen könnte. | Das 26 39 Der päpstliche „Index librorum prohibitorum“, erstmals verfügt 1557 und 1559, förmlich abgeschafft 1966; vgl. die Edition in: Index de Rome, 1557, 1559, 1564. Les premiers index romains et l’index du concile de Trente, ed. Jesus Martinez de Bujanda (Index des Livres Interdits, 8) Sherbrooke/Québec, Genf 1990; dazu Franz Heinrich Reusch, Der Index der verbotenen Bücher, Ein Beitrag zur Kirchen- und Literaturgeschichte, Bd. 1–2, Bonn 1883–1885, oder zusammenfassend etwa Paul F. Grendler, Printing and Censorship, in: The Cambridge History of Renaissance Philosophy, edd. Charles B. Schmitt, Quentin Skinner, Eckhard Kessler, Jill Kraye, Cambridge [usw.] 1988, S. 25–53; J. M. de Bujanda, Le contrôle intellectuel par la censure ecclésiastique, Les difficiles rapports entre auctoritas et aequitas au moment de la publication du premier index romain de livres interdits (1559), in: Aequitas, aequalitas, auctoritas, Raison théorique et légitimation de l’autorité dans le XVIe siècle européen, éd. Danièle Letocha (De Pétrarque à Descartes, 54) Paris 1992, S. 245–254; P. F. Grendler, Index of Prohibited Books, in: The Oxford Encyclopedia of the Reformation, ed. Hans J. Hillerbrand, vol. 2, New York, Oxford 1996, S. 312a–314b [jeweils mit – vorwiegend englischer – Lit.]. Natürlich ist das Phänomen der Zensur gedruckter Bücher als solches älter als der päpstliche „Index“ und nicht auf die katholische Seite beschränkt: Für die deutschen Verhältnisse 1475–1500 vgl. etwa Rudolf Hirsch, Pre-Reformation Censorship of Printed Books, in: Library Chronicle 21 (1955) S. 100–105; für die Protestanten z.B. Georges Bonnant, Les index prohibitifs et expurgatoires contrefaits par des protestants au XVIe et au XVIIe siècle, in: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance 31 (1969) S. 611–640; zur Haltung Martin Luthers zur Buchzensur jüngst sehr förderlich Holger Flachmann, Martin Luther und das Buch, Eine historische Studie zur Bedeutung des Buches im Handeln und Denken des Reformators (Spätmittelalter und Reformation, NR 8) Tübingen 1996, bes. S. 211–219.
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betreffende Werk wurde dann auch demonstrativ und für alle Zuschauer sichtbar zerrissen oder verbrannt, eine zeichenhafte Aktion, die rechtgläubige Christen geziemend vor diesen verderblichen Abweichungen warnen sollte40. Mit dieser Aktion wurde gewiß auch das dem Gericht zugängliche Exemplar der Schrift von Abschrift und Verbreitung ausgeschlossen, für weitere Exemplare war damit eine ähnliche Vernichtung angedroht. Eine Vorwegzensur ist das jedoch insofern nicht, als keinerlei Listen von solcherart vernichteten Büchern auf uns gekommen sind (Ketzerkataloge sind ja doch etwas anderes!). Eine Vorwegzensur bestimmter Werke ist auch selbst in monastischen Kreisen, wo der einzelne Mönch durch sein Gehorsamsgelübde besonderen Bindungen unterlag, nicht zu beobachten41. Das bekannte frühe Beispiel des Sachsen Gottschalk42 mag das hier verdeutlichen, das traurige Schicksal des sächsischen Grafensohnes aus dem 9. Jahrhundert, der, nachdem er im Kindesalter etwa siebenjährig (um 814) als ein Oblate dem Kloster in Fulda übergeben worden war und später, von Abt Hrabanus Maurus ohne eigene
40 Zur (bereits antiken) Tradition der Bücherverbrennung und zur mittelalterlichen demonstrativen Vernichtung von Büchern vor allem für die Frühzeit Wolfgang Speyer, Büchervernichtung und Zensur des Geistes bei Heiden, Juden und Christen (Bibliothek des Buchwesens, 7) Stuttgart 1981; zuletzt besonders Thomas Werner, Vernichtet und vergessen? Bücherverbrennungen im Mittelalter, in: Memoria als Kultur, hg. Otto Gerhard Oexle (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 121) Göttingen 1995, S. 149–184 (vom Verfasser ist eine Monographie zu erwarten). 41 Dazu etwa Jürgen Miethke, Verschriftlichte Mönchstheologie und Zensur, in: Viva vox und ratio scripta, Mündliche und schriftliche Kommunikationsformen im Mönchs- und Ordenswesen des Mittelalters, hgg. Clemens M. Kasper, O.Cist., und Klaus Schreiner (Vita regularis, Ordnungen und Deutungen religiösen Lebens im Mittelalter, 5), Münster 1997, 177–204. Hier auch zum folgenden. 42 Zu ihm vor allem Klaus Vielhaber, Gottschalk der Sachse (Bonner historische Forschungen, 5) Bonn 1956; Jean Jolivet, Godescalc d’Orbais et la trinité, La méthode de la théologie à l’époque carolingienne (Etudes de philosophie médiévale, 47) Paris 1958; Jean Devisse, Hincmar, archevêque de Reims, 845–883, Genf 1975, Bd. 1, S. 115–186; Eckhard Freise, Studien zum Einzugsbereich der Klostergemeinschaft von Fulda, in: Die Klostergemeinschaft von Fulda im früheren Mittelalter, hg. Karl Schmid, Bd. II/3, München 1978, S. 1003–1269 (bes. S. 1021–1029); Gangolf Schrimpf, Das Werk des Johannes Scottus Eriugena im Rahmen des Wissenschaftsverständnisses seiner Zeit (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, NF 23) Münster 1982, bes. S. 72–131; Wilfried Hartmann, Die Synoden der Karolingerzeit im Frankenreich und in Italien (Konziliengeschichte, Reihe A) Paderborn [usw.] 1989, sub indice [S. 508]; zusammenfassend Knut Schäferdiek in: Theologische Realenzyklopädie, hgg. Gerhard Müller [u.a.], Bd. 14 (Berlin 1985) S. 108–110.
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Einwilligung zum Mönch gemacht, 829 auf einer Synode in Mainz43 dagegen, wie es scheint, erfolgreiche Klage geführt hatte, ohne doch den Mönchstand wirklich verlassen zu können oder zu wollen. Nachdem Gottschalk dann als Lehrer an der Klosterschule in Orbais (Erzdiözese Reims) gewirkt hatte und bei einer Wallfahrt in Südosteuropa weit (bis nach Rom, Dalmatien und Bulgarien) um | hergekommen 27 war, erregte seine Lehre von der doppelten Prädestination auf einer Mainzer Synode (848)44 Anstoß, einer Synode, die unter der Leitung seines alten Gegners, des mittlerweile zum Erzbischof von Mainz aufgestiegenen Hrabanus Maurus45 stand. Die Synode zeigte sich diesmal der Sache Gottschalks, vielleicht weil Hraban ihr präsidierte, weniger gewogen als zwanzig Jahre zuvor. Seine Lehre wurde förmlich verurteilt, er selbst aus dem ostfränkischen Reich verbannt und – da er als Mönch von Orbais der Jurisdiktion des Reimser Erzbischofs unterstellt war – an Hinkmar von Reims ausgeliefert, der Gottschalks Lehre auf einer eigenen Synode in Quierzy 84946 erneut prüfen und verdammen ließ. Gottschalk wurde auch, wie es ausdrücklich berichtet wird, im Zuge der Untersuchungen aufgrund eines Beschlusses der anwesenden Äbte gemäß der monastischen disziplinären Tradition – man berief sich dafür auf die „Regula“ des Heiligen Benedikt zur Klosterzucht47 – vor seiner Verurteilung körperlich gezüchtigt, geprügelt und absque ulla misericordia pene usque ad mortem dilaceratus 48, 43 Eine Übersicht über die Quellen in: Concilia aevi Karolini, ed. Albert Werminghoff (MGH Concilia 2/2) Hannover 1909 [Neudruck 1979], S. 601 ff., vgl. auch die Auszüge ebenda 603–605. Auch Hartmann, Die Synoden (wie Anm. 42) S. 180. 44 Quellen in: Die Konzilien der Karolingischen Teilreiche, 843–859, ed. Wilfried Hartmann (MGH Concilia 3) Hannover 1984, S. 179–184 [nr.16], hier bes. S. 180–182; eine nüchterne Darstellung bei Hartmann, Die Synoden (wie Anm. 42) S. 226 f. 45 Zu ihm zusammenfassend etwa den Sammelband: Hrabanus Maurus, Lehrer, Abt und Bischof, hgg. Raymund Kottje, Harald Zimmermann (Abhandlungen der Akad. Mainz, Geistes- u. sozialwiss. Kl., Einzelveröffentl. 4) Wiesbaden 1982, hier bes. Gangolf Schrimpf, Hraban und der Prädestinationsstreit des 9. Jahrhunderts: S. 145–153. 46 Dazu die Quellen in: Die Konzilien, ed. Hartmann (wie Anm. 44) S. 194–199 [nr. 18]. Dazu wiederum Hartmann, Die Synoden (wie Anm. 42) S. 227 f. 47 „Benedicti Regula“, c. 23.5, editio altera, ed. Rudolf Hanslik (CSEL 75) Wien 1977, S. 86: sin autem improbus est, uindictae corporali subdatur. 48 Die Konzilien, ed. Hartmann (wie Anm. 44) S. 197 § 6 (aus: Florus von Lyon, Liber de III epistolis, c. 24, MPL 121, Sp. 1027C–1028B): . . . Et propter impudissimam insoleniam suam per regulam sancti Benedicti a monachorum abbatibus vel caeteris monachis dignus flagello adiudicatus. Et quia contra canonicam institutionem civilia et ecclesiastica negotia perturbare studuit indefessus et se noluit recognoscere vel aliquo modo humiliare, profusus ab episcopis et secundum ecclesiastica iura damnatus (. . .) flagellis et caedibus (. . .) quibus omnino
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um einen Widerruf seiner Prädestinationslehre zu erzwingen. Anschließend hat Gottschalk, in rigider Klosterhaft in Hautvillers (Diöz. Epernay) gehalten, bis zu seinem Tod (zwischen 866 u. 870, wohl 868) noch etwa zwei Jahrzehnte lang unter strenger Aufsicht gelebt. Die Synode von Quierzy hatte ihn ausdrücklich zu dauerndem Schweigen verurteilt, also ihm eine weitere mündliche Kommunikation mit der Außenwelt abschneiden wollen. Offensichtlich gelang es aber dem Verurteilten, mit Freunden und Generationsgenossen wie Ratramnus von Corbie († nach 868) und Lupus von Ferrières (†862) Kontakt zu halten, auch Briefe mit ihnen und mit früheren Schülern zu wechseln, ja sich auch noch an der weiteren Diskussion der Theologen 28 zu beteili | gen: Die meisten seiner uns überkommenen Schriften stammen jedenfalls, wie es scheint, aus der Zeit seiner Klosterhaft49. Hier brauchen wir nicht zu prüfen, ob diese Erleichterungen, die dem ungebeugt an seinen Meinungen Festhaltenden zuteil wurden, vielleicht auch darin begründet sein könnten, daß das harte Urteil der Synoden in Mainz und Quiercy keineswegs den ungetrübten Beifall der zeitgenössischen Fachleute traf. Jedenfalls war Gottschalks Lehre verurteilt worden, weil er mit seinen Predigten und seinen Aussagen zur Prädestination Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Die Zernierung in Hautvillers behinderte seinen persönlichen, seinen mündlichen Kontakt mit der Außenwelt; ein Briefwechsel, ja die Abfassung eigener theologischer Schriften blieb dem Gemaßregelten möglich. Wenn wir das konstatieren, soll keineswegs das harte Schicksal beschönigt werden, das Gottschalk anscheinend bis in die Integrität seiner Person hinein getroffen hat. Vielleicht läßt sich an diesem Fall monastischer Zuchtmaßnahmen, so sehr auch persönliche Feindschaft und alte Rechnungen in ihm mitgespielt haben, doch als vorrangiges Ziel der disziplinierenden Maßnahmen die Exklusion von öffentlicher mündlicher Wirksamkeit erkennen.
fertur atrocissime et absque ulla misericordia pene usque ad mortem dilaceratus. Vgl. auch ibid. S. 196 § 4, Hinkmar von Reims, De praedestinatione, c. 2, MPL 125, Sp. 85D: (. . .) idem Gothescalcus (. . .) inventus haereticus et incorrigibilis honore presbyteriali (. . .) abiectus et pro sua inrevocabili contumacia secundum leges et Agathenses canones ac regulam sancti Benedicti ut improbus virgis caesus, sicut decreverant Germaniae provinciarum episcopi, ne aliis noceret, qui sibi prodesse nolebat, ergastulo est retrusus. 49 Geschlossen (außer den Gedichten) vorgelegt in: Oeuvres théologiques et grammaticales de Godescalc d’Orbais, éd. Cyrille Lambot (Spicilegium sacrum Lovaniense 20) Louvain 1945. Zuletzt zusammenfassend Fidel Rädle, in: VL2 Bd. 3 (1981) Sp. 189–199.
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Ein weiteres auffälliges Moment ist die lokal offenbar streng geteilte Zuständigkeit, die traditionell dem jeweiligen Ortsbischof (hier dem Metropoliten) zukam, während dem Abt des Heimatklosters nur eine sachlich ganz unwesentliche Rolle zufiel. Natürlich sind damit innerhalb von Klostermauern Konflikte nicht ausgeschlossen, doch naturgemäß schweigen darüber unsere Quellen weitgehend; wo und wie hätten Nachrichten über derartige Konflikte wohl auch aufgezeichnet werden sollen? Der zuständige Bischof oder Erzbischof aber nahm die Diözesanoder Metropolitansynode zu Hilfe bei der Lösung seiner Aufgabe und seiner Entscheidung. Damit hielt er sich an das überkommene Selbstabgrenzungsverfahren, das schon in der Alten Kirche einer Synode die Auffindung der Wahrheit und die Feststellung des Irrtums für die gesamte Gemeinde zugewiesen hatte. Sowohl Hraban als auch Hinkmar, beides hochgelehrte Leute und zu selbständigem Vorgehen sonst in der Lage und durchaus willens, haben gegen Gottschalk die Synodalversammlung ihrer jeweiligen Kirche genutzt, wenn sie dieses Instrument auch mittels ihrer persönlichen Leitung manipuliert haben können und wohl auch manipuliert haben50. Das hier in Umrissen sichtbar werdende Verfahren hat lange nachgewirkt. Überhaupt gilt ja in solchen prozeduralen Fragen die Regel, daß neue Formen die | älteren Traditionen nur selten völlig verdrän- 29 gen können. Das Neue stellt sich neben das Überkommene, deckt es zeitweilig vielleicht sogar ganz zu, aber auch die historisch „älteren“ Verfahren, selbst längst „überholt“ geglaubte Verfahrensformen können, wenn das opportun erscheint, ohne allzu große Mühe wieder hervorgeholt werden und können dann – fast zur Überraschung der Beteiligten – die ihnen ehedem zugedachte Funktion recht prägnant ausfüllen: So hat das Konzil von Konstanz Jan Hus und Hieronymus von Prag als Ketzer verurteilt und auf den Scheiterhaufen geschickt, obwohl in den beiden Jahrhunderten zuvor längst ein ganz anderes Verfahren bei der Wahrnehmung der amtskirchlichen Lehraufsicht über Theologen üblich geworden war und Elemente dieses neueren
50 Zur Technik der Synodalleitung im Früh- und Hochmittelalter demnächst auch Johannes Laudage, Folgten sie den Spuren der Väter? Geschichte und Gegenwart auf den päpstlichen Reformkonzilien (1049–1123), erscheint in: Proceedings of the 10th International Congress of Medieval Canon Law, ed. Kenneth Pennington [im Druck]. Ich bin Herrn Kollegen Laudage zu Dank verpflichtet, daß er mir Einblick in sein Ms. gewährte.
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Verfahrens in beiden Fällen bereits auch wenigstens teilweise vor dem Konzil angewandt worden waren51. Der Verfahrenstyp jedenfalls, den wir im Vorgehen gegen Gottschalk im 9. Jahrhundert angetroffen haben, läßt sich, mit wenigen Abweichungen auch noch im 11. und 12. Jahrhundert an den Verfahren etwa gegen Berengar von Tours, Peter Abaelard oder Gilbert de la Porrée52 beobachten. Die Entscheidungen werden weiter auf Synoden oder doch auf synodalen Treffen53 gefällt, sie enden im Falle der Verurteilung mit einer traditionellen Bücherverfluchung bzw. Bücherverbrennung, während der verurteilte Verfasser durch die Ablegung eines orthodoxen Glaubensbekenntnisses seine Beipflichtung kundzutun hatte. Dies alles will ich hier nicht erneut ausführlich darstellen, nur anmerken, daß in diesen Verfahren seit dem 12. Jahrhundert doch neuartige Tendenzen erkennbar werden. Einmal verliert die monastische Welt unter den Beteiligten zunehmend an Boden, da die Beklagten nunmehr ausschließlich der aufkommenden Welt der Schulen entstammen. Peter Abaelard war zwar Mönch, als er sich in Soissons (1123) und in Sens (1140)54 seinen Gegnern zu stellen hatte, seine
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Zum Husprozeß vgl. die vorwiegend auf die erzählenden Quellen gestützte Darstellung von Walter Brandmüller, Das Konzil von Konstanz, 1414–1418, Bd. 1: Bis zur Abreise Sigismunds nach Narbonne, Paderborn (usw.) 1991, S. 323–359; neuerlich auch Franti“ek Graus, Der Ketzerprozeß gegen Magister Johannes Hus (1415), in: Macht und Recht, Große Prozesse in der Geschichte, hg. Alexander Demandt, München 1991 [31993] S. 103–118, 299 f. Ferdinand Seibt, Nicht überführt und nicht geständig, Der Hus-Prozeß in Konstanz (1415), in: Große Prozesse, Recht und Gerechtigkeit in der Geschichte, hg. Uwe Schultz München 1996, S. 89–102. Zur Wertung auch Jürgen Miethke, Die Prozesse in Konstanz gegen Jan Hus und Hieronymus von Prag, ein Konflikt unter Reformern? In: Vorzeitige Reformation und Haeresie, hg. Franti“ek Smahel (Schriften des Historischen Kollegs/Kolloquien, 39) München 1998, S. 147–167. 52 Zu diesen beiden Verfahren etwa Jürgen Miethke, Theologenprozesse in der ersten Phase ihrer institutionellen Ausbildung, Die Verfahren gegen Abaelard und Gilbert von Poitiers, in: Viator 6 (1975) S. 87–116; zum Abaelardprozeß auch Lothar Kolmer, Abaelard und Bernhard von Clairvaux in Sens, in: ZSRG Kan. Abt. 98 (1981) S. 121–147. 53 Diese Einschränkung ist hier gemacht worden, weil die Verhandlung gegen Gilbert de la Porrée in Reims nicht auf einer eigentlichen Synode erfolgte, sondern auf einer Sitzung im bischöflichen Palast unter Vorsitz des Papstes im Anschluß an eine Synode. 54 An dieser Datierung mochte ich auch gegen die Einwände von Pietro Zerbi, Les différends doctrinaux, in: Bernard de Clairvaux, histoire, mentalités, spiritualité, édd. Dominique Bertrand, Guy Lobrichon (Bernard de Clairvaux, Oeuvres complètes, 1 = Sources chrétiennes 380) Paris 1992, S. 429–458 [bes. S. 432 f.], festhalten:
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„Theologia“, die | in diesen beiden Fällen verurteilt wurde55, gehört 30 aber nicht der monastischen Theologie an, sondern der künftigen Universitätstheologie, die ja als Universitäts-disziplin ihren bis heute gültigen Namen letztlich Abaelards Titelwahl für seine Schrift zu verdanken hat56. Eine weitere verfahrenstechnische Neuerung belegt der zunehmende Rekurs auf den Papst (oder einen päpstlichen Legaten), dessen zentrale Autorität jetzt auch der Wirksamkeit der Zensuren zugute kommen sollte. Seine Autorität wird dabei, durchaus unterschiedlich, einmal von den Anklägern ins Spiel gebracht, oder, wie gerade der Prozeß gegen Peter Abaelard zeigen kann, war es bisweilen auch der Angeklagte selbst, der in Rom beim Apostolischen Stuhl – in Abaelards Fall freilich vergebens – durch eine Appellation Zuflucht suchte. Die päpstliche Autorität jedenfalls blieb unumstritten und wurde immer deutlicher von allen Seiten anerkannt. Ein drittes neues Element ist zu nennen: eine gewisse Rationalisierung des Verurteilungsverfahrens. Seit dem 12. Jahrhundert verfallen zunehmend nicht mehr global „alle Lehren“ eines Theologen oder Mönchs dem synodalen Verdikt. In listenförmigen Aufstellungen57 wird vielmehr eine Reihe von mehr oder minder genau bezeichneten Irrtümern
vgl. bereits Jürgen Miethke, L’engagement politique: La seconde croisade, in: Bernard de Clairvaux [ebenda], S. 475–503 [bes. S. 483], mit Lit. 55 Die verschiedenen Fassungen der „Theologia“ Abaelards sind jetzt bequem in modernen Editionen zugänglich: „Theologia Christiana“ und „Theologia ,Scholarium‘“ [Kurzfassung], ed. Eligius Maria Buytaert, in: Petrus Abaelardus, Opera theologica, vol. 2; „Theologia ,Summi boni‘“ und „Theologia ,Scholarium‘“ [Langfassung], edd. Eligius Maria Buytaert und Constant J. Mews in: Petrus Abaelardus, Opera theologica, vol. 3 (Corpus Christianorum, Continuatio mediaevalis, 12 und 13) Turnhout 1969 bzw. 1987. 56 Eine Übersicht gibt die ,General Introduction‘ des Herausgebers Mews in: Abaelard, Opera theologica, Bd. 3 (wie Anm. 60) S. 15 ff. Zusammenfassend auch William H. Principe, Theologie, in: LexMA 8 [Lfg. 3] (1996) Sp. 650–656 [bes. Sp. 650]. 57 Grundlegend für die Gattungsgeschichte der Irrtumslisten bleiben die Forschungen von Josef Koch, der freilich seine ursprünglich geplante Monographie nicht vollenden konnte, zusammenfassend vgl. seine knappe Darstellung: Philosophische und theologische Iritumslisten von 1270–1329, Ein Beitrag zur Entwicklung der theologischen Zensuren, in: Mélanges Mandonnet, Bd. 2 (Bibliothèque thomiste, 14) Paris 1930, S. 305–329, hier zitiert nach Koch, Kleine Schriften, Bd. 1–2 (Storia e letteratura, 127–128) Rom 1973, hier Bd. 2, S. 423–450 (auch zahlreiche Einzelstudien in dieser Sammlung sind hier einschlägig). Vgl. auch Jürgen Miethke, Papst, Ortsbischof und Universität in den Pariser Theologenprozessen des 13. Jahrhunderts, in: Die Auseinandersetzungen an der Pariser Universität im 13. Jahrhundert, hg. Albert Zimmermann (Miscellanea mediaevalia, 10) Berlin, New York 1976, S. 52–94.
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verurteilt, als glaubenswidrig, irrig, „häretisch“ qualifiziert, ohne daß die jeweilige Häresie jetzt noch jedesmal mit den Ketzerkatalogen der Spätantike durch ein Etikett wie ,sabellianisch‘, ,arianisch‘ (usf.) in Beziehung gesetzt werden müßte. Als dann an der Wende zum 13. Jahrhundert endgültig die europäische Universität sichtbar wird, lagen alle Verfahrensmomente bereit, mittels derer man künftig doktrinäre Streitigkeiten regulieren 31 konnte: Die Zuständigkeit der amtskirchlichen | Hierarchie in Gestalt des Ortsbischofs oder des Papstes und seiner Kurie (sowie von päpstlichen Legaten) bleibt in ungeklärter Konkurrenz nebeneinander bestehen, auch hält man eine Beratung des jeweiligen Amtsinhabers durch eine synodale Instanz weiterhin in aller Regel für notwendig, wenn auch die Synode selbst als Ort der Entscheidung durch einen quasisynodalen Expertenkreis aus sachverständigen Theologiefachleuten abgelöst wird, der nunmehr im schriftlichen Verfahren nach der Aktenlage verhandelt. Dieser Kreis hat über eine mehr oder minder lange dürre Liste von verdächtigen ,Artikeln‘ zu entscheiden, die zunehmend exakter aus den Schriften des Inkulpierten exzerpiert worden waren. Das Urteil spricht dann auf der Grundlage solchen Expertenrates der Inhaber der kirchlichen Amtsgewalt, der Bischof oder Papst, oder der von diesem delegierte Richter. Die Irrtümer werden verboten, der Beschuldigte hat ihnen möglichst demonstrativ und weithin sichtbar abzuschwören, etwa in seinem Hörsaal, wo er seine Lehren vertreten hatte58, oder im öffentlichen Gottesdienst in der Kathedrale in Anwesenheit von Klerus und Volk der Stadt, wo man ihn kannte59. Darüber hinaus aber hatte ein solcherart Verurteilter unter dem Verdikt nicht in jedem Fall in seiner kirchlichen Karriere zu leiden, weil er ja sichtbar unter Beweis gestellt hatte, daß er an seinem Irrtum nicht halsstarrig festhielt. 58 So etwa bei dem Prozeß gegen Johannes von Pouilly, der mit der Bulle Papst Johannes’ XXII. abgeschlossen worden ist: gedruckt in Heinrich Denifle, Emil Chatelain (edd.), Chartularium universitatis Parisiensis, Bd. 1–4, Paris 1889–1898 [Neudruck Brüssel 1964], Bd. 2, S. 243 f. (nr. 798); vgl das Protokoll des Widerrufs in Paris, ebenda, S. 245 (nr. 799), auch abgedruckt (nach Trierer und Koblenzer Archivüberlieferung) in: Nova Alamanniae, Urkunden, Briefe und andere Quellen, besonders zur deutschen Geschichte des 14. Jahrhunderts, 2. Hälfte, II. Teil, hrsg. von Edmund Ernst Stengel, unter Mitwirkung von Klaus Schäfer, Hannover 1976, nr. 1273, S. 738 f. Vgl. auch das Verfahren gegen Nikolaus von Autrecourt, unten Anm. 68. 59 So z.B. bei dem Verfahren gegen Wilhelm von St. Amour und seine Anhänger, vgl. vor allem Michel-Marie Dufeil, Guillaume de Saint-Amour et la polémique universitaire parisienne, 1250–1259, Paris 1972, S. 302 ff.
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Ein bezeichnendes – und relativ spätes – Beispiel dafür ist der Theologe Nicolaus aus Autrecourt (Diöz. Verdun)60. Geboren um 1295, ist er seit den frühen 30er Jahren in der Pariser Universität nachweisbar, nachdem er – wohl ebenfalls in Paris – etwa bis 1320 die Artes studiert hatte und in ihnen graduiert worden war, um da | nach, an einem uns unbekannten Ort, die Leges (das Römische 32 Recht) bis zum Erreichen des Baccalariats zu hören. Nach Paris zurückgekehrt, hat er 1335/36 eine Sentenzenvorlesung gehalten, die Graduierung zum Bakkalar der Theologie sowie auch den Licentiaten und wohl auch 1340 den Magistergrad dieser Wissenschaft erlangt. 1333/36 begegnet er als prior des Collegium der Sorbonne61, und damit als Inhaber des Amtes von einjähriger Dauer, das für die interne Studienorganisation im Collège zu sorgen hatte. Nikolaus hatte also ein Stipendium als socius in diesem Collège, was ihm für mehrere Jahre (in den dreißiger und vierziger Jahren) ein Leben voller Studien und akademischer Übungen ermöglichte. Eine erste Pfründe hat er in Longuereroie (Diöz. Bayeux) besessen. Er erhielt dann am 4. April 1338 auch eine päpstliche Expektanz auf eine Kanonikeipfründe am Kathedralkapitel von Metz, welche er zu einem uns unbekannten Zeitpunkt62 auch definitiv realisieren konnte. So hat er also die typischen Stufen der kirchlichen Karriereleiter erklommen und zeigte sich auch auf dem Pfründenmarkt, wenn auch nicht überreichlich63, versorgt. Am 21. November 1340 zitierte Papst 60 Zuletzt vgl. die sorgfältigen Aufstellungen von Lambrecht Maria de Rijk in: Nicholas of Autrecourt, His Correspondence with Master Giles and Bernard of Arezzo (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters, 42) Leiden, New York, Köln 1994, zur Biographie bes. die gründliche Untersuchung durch Zénon Kaluza, Nicolas d’Autrécourt, ami de la vérité (Histoire Littéraire de la France, 42.1) Paris 1995 (zum Prozeß hier S. 74–128). Eine gute bibliographische Übersicht auch zuvor in: Nicolaus von Autrecourt, Briefe, hgg. Ruedi Imbach, Dominik Perler (Philosophische Bibliothek, 415) Hamburg 1988, S. LXV–LXVIII. Zum Verfahren und zur Überlieferung der Artikelliste auch William J. Courtenay, Erfurt CA 2.127 and the Censured Articles of Mirecourt and Autrecourt, in: Die Bibliotheca Amploniana, Ihre Bedeutung im Spannungsfeld von Aristotelismus, Nominalismus und Humanismus, hg. von Andreas Speer (Miscellanea Mediaevalia, 23), Berlin (usw.) 1995, S. 341–352; biographisch zu einem der im Auftrag der Kurie in Paris bei diesen Verfahren tätigen Franziskaner jetzt auch Derselbe, Pastor de Serrescuderio (d. 1356) and Ms. Saint-Omer 239, in: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du moyen âge 63 (1996) S. 325–356, bes. S. 342–346. 61 Kaluza, Nicolas (wie Anm. 60) S. 44–46. 62 Nicolaus trat sein Kanonikat wohl zu Weihnachten 1347 an – nach den peniblen Recherchen Kaluzas (wie Anm. 60) S. 131 f. u. S. 221 (§ 1). 63 Kaluza, Nicolas (wie Anm. 60) S. 29 Anm. 54, hält es für wahrscheinlich, daß Nicolaus niemals in seinem Leben mehr als eine Pfründe gleichzeitig besessen
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Benedikt XII., der selber vor seinem Pontifikat (wohl im Jahre 1311) in Paris zum Magister der Theologie promoviert worden war64, eine ganze Gruppe von Theologen, unter ihnen auch unseren Nicolaus, durch ein Schreiben an den Bischof von Paris an die Kurie nach Avignon, da ihm Verdächtiges über sie berichtet worden sei, was einer Untersuchung bedürfe65. Nicolaus muß nach Avignon gelangt sein und mußte wahrscheinlich langjährige Ungewißheit, Untersuchungsverfahren und wohl auch strenge Haft erdulden66. Durch den Tod des Papstes am 25. April 1342 freilich verzögerte sich offenbar das hiermit eingeleitete Verfahren, das dann – in der bürokratischen Gemächlichkeit, die dabei auch sonst zu beobachten ist – im Auftrag des Nachfolgers, Papst Clemens’ VI., ebenfalls eines ehemals Pariser Theologen, wahrscheinlich im Mai 1346 durch ein Urteil des Kardinals Guillaume Court67 abgeschlossen wurde. Nicolaus mußte es erleben, 33 daß nicht weniger als 66 einzeln aufgelistete Irrtümer | als falsch, fast alle zusätzlich als irrig, anstößig oder gar als haeretisch qualifiziert wurden, von denen er vier ausdrücklich öffentlich in Paris vor der versammelten Universität zu widerrufen hatte, während er bei den übrigen wenigstens durch seine Unterschrift sein Einverständnis mit dem Verdikt fixieren mußte. Sein theologischer Magistertitel wurde ihm aberkannt, und Nicolaus wurde auch für die Zukunft für promotionsunfähig erklärt68.
habe und damit dem üblichen Pfründenpluralismus des Spätmittelalters nicht verfallen sei. 64 Zusammenfassend zu den biographischen Daten Bernhard Schimmelpfennig in: LexMA 1 (1980) Sp. 1861 f. 65 Denifle-Chatelain, Chartularium (wie Anm. 58), Bd. 2, S. 505 (nr. 1041). Zu Recht charakterisiert Kaluza, Nicolas (wie Anm. 60) S. 94, diesen Brief: „Il n’y a rien de personnel dans cette lettre; au contraire, tout y est routine administrative.“ 66 Vgl. seine spätere Klage in der „cedula“ mit den bezeichnenden Anfangsworten „Ve michi! “, die im zentralen Dokument des Prozesses, dem „Instrumentum“, erhalten blieb (wie unten Anm. 68), hier § 4 (de Rijk S. 150 f.): Sed quia, sanctissime pater, innata Vobis realis clementia non sinit Vos velle mortem peccatoris, (. . .) eapropter eidem humillime supplico cum gemitibus lacrimosis (. . .) ut me ad plenitudinem sue gratie et misericordie recipere dignetur, quatinus ab infinitis miseriis, in quibus positus langueo usque ad interitum, valeam liberari. (Dazu vgl. auch Kaluza, Nicolas, wie Anm. 60, S. 96 und – zum Wortspiel mit dem Papstnamen – ebenda, S. 209 Anm. 198). 67 De Rijk, Nicholas (wie Anm. 60) 152 f. 68 Das Instrumentum (d.h. die Irrtumslisten und das Dokument der offiziellen Verurteilung) aus dem Vatikanischen Archiv zuletzt ebenfalls bei De Rijk, Nicholas, S. 146–166 (Appendix A), die Sentenz S. 162–166 (§§ 17–27); vgl. die klärende Analyse durch Kaluza, Nicolas (wie Anm. 60) S. 100–102. Parallell zu dieser Fassung vgl. auch die (listenförmige) Fassung der nichtarchivalischen Handschriften bei de
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Eineinhalb Jahre später, im November 1347, mußte er vor dem Kanzler und der gesamten Universität mündlich, aber alte et intelligibiliter, erklären, daß wegen dieser von ihm hiermit widerrufenen Sätze „und wegen anderer derartiger falscher und ketzerischer Aussagen“ seine Briefe und sein Buch verbrannt worden seien. Er beschwor, weiterhin keinen einzigen der getadelten Sätze aufrechterhalten oder im Unterricht vertreten zu wollen. Diesen Widerruf mußte er schriftlich ausführlich und ins einzelne gehend niederlegen und die von seinen Richtern gefundene Qualifikationen ( falsos, presumptuosos, etc.) eigenhändig anerkennend zu den aufgelisteten Sätzen hinzuschreiben. Exemplare dieser Niederschrift sind nicht nur im Vatikanischen Archiv, sondern darüber hinaus auch in vier weiteren Handschriften des 14. Jahrhunderts erhalten69, sie hat also ein für solche Stücke ungewöhnlich breites Echo bei den Zeitgenossen gefunden. Nicolaus selbst freilich verschwindet damit aus Paris und von der Bühne der Universität. 1350, also fünf Jahre später, finden wir ihn zum Dekan des Domkapitels von Metz gewählt wieder70, als welcher er am 16. oder 17. Juni 1369, mehr als zwanzig Jahre nach seiner Verurteilung (des weiteren offenbar ungestört), gestorben ist.71 Wir haben aus derselben Zeit noch andere Beispiele dafür, daß ein ,spektakulärer‘ Prozeß dieser Art eine künftige kirchliche Karriere nicht merklich ( jedenfalls nicht für uns merklich) behindert hat: Ein Benediktinermönch aus Cluny, Simon de Brossa72, hat in Paris um die Mitte des 14. Jahrhunderts das Lizentiat der Theo | logie erreicht; 34
Rijk, S. 168–207 (Appendix B). Daß sich Nicolaus auch weiterhin licentiatus theologiae nannte oder nennen ließ – dazu wenig überzeugend de Rijk, S. 2; wesentlich differenzierter Kaluza, S. 122 f. mit Anm. 127 – erklärt sich wohl daher, daß er und diejenigen, die ihn so betitelten, die Urteilssentenz ganz strikt auslegten und alle Graduierungen unterhalb der theologischen Promotion nicht betroffen sahen. Eingehende – etwas anders ausgerichtete – Erwägungen bei Kaluza (a.a.O.): freilich, auch wenn der abbreviator bullarum den Titel licentiatus aus der Supplik übernommen hat, so bleibt doch unbestreitbar, daß offenbar Domkapitel (und Nicolaus) den Grad licentiatus weiter gebraucht haben, was angesichts des Urteils erklärungsbedürftig bleibt. 69 Nachweis bei De Rijk, Nicholas, S. 167. 70 Kaluza, Nicolas (wie Anm. 60) S. 133 Anm. 151, weist als Datum der Wahl den 12. Juli 1350 nach. 71 Vgl. Kaluza, Nicolas (wie Anm. 60) S. 145; vgl. überhaupt den detailliert belegten farbigen Bericht dort, S. 133–146, zu Nicolaus als Dekan des Donstifts in Metz. 72 Thomas [ James] Sullivan, OSB, Benedictine Monks at the University of Paris, a.d. 1229–1500, A Biographical Register (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance, 4) Leiden, New York, Köln 1995, S. 80 f. [nr. 122].
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1351 war er zur Promotion zugelassen worden. Noch im selben Jahr 1351 ist er – wenn diese Identifikation zutrifft – dazu gezwungen worden, bestimmten Thesen abzuschwören, die er in scharf zugespitzter Form über die Gottheit Jesu und sein Menschsein anläßlich seiner ,Vesperien‘, also im Rahmen der feierlichen Disputationen im Graduierungsverfahren am Vorabend seiner eigentlichen inceptio entwickelt hatte. Das aber hat ihn später nicht daran gehindert, eine tüchtige kirchliche (und weltliche) Karriere hinter sich zu bringen. Auf Drängen des französischen Hofes wurde er 1360 zum Abt des Klosters Ferrières-en-Grattinas (in der Diözese Sens) erhoben. Als die Mönche dieses Klosters, bedingt durch Truppenbewegungen des Hundertjährigen Krieges, mit ihrem Abt vorrübergehend in Cluny Zuflucht suchten (nach 1358), wurde Simon, wiederum auf Drängen des französischen Königshofes, 1362 mit der Zustimmung des Papstes sogar zum Abt von Cluny erhoben, blieb aber weiterhin in königlichen Diensten, in Diplomatie und Verwaltung, aktiv. Sein Interesse an der Universität hat er nicht verloren, so hat er 1365 dem Collège de Cluny (gegründet ca. 1260/62) umfassende Statuten gegeben73. Am 27. Mai 1369 ist er in Paris gestorben und liegt in ,seinem‘ Collège de Cluny begraben. Ich berichte das hier nicht deswegen, weil ich das demütigende und hochnotpeinliche Zwangsritual, das ersichtlich eher auf Gehorsam als auf Einsicht setzt, hier verharmlosen oder weginterpretieren wollte. Bezeichnend genug freilich traf die Untersuchung in diesen beiden und vielen anderen Fällen, die ich hier nicht darstellen kann, einen jungen Promovierenden vor seiner abschließenden Graduierung74. Die eristische scholastische Tradition zwang oder verführte die jungen Gelehrten zu sehr zugespitzten Thesen, vielleicht zum Zwecke der Selbstprofilierung oder doch der Selbstabgrenzung. In den naturphilosophischen oder logischen Disziplinen haben sich solche überspitzten Formulierungen zu einer ganzen eigenen Literaturgattung, den sog. „Sophismata“, entwickeln können, welche nach einer mittelalterlichen Definition – orationes deceptoriae 75 – darstellten, d.h. irrefüh73 Thomas James Sullivan, The Collège de Cluny, Statutes of Abbot Simon de la Brosse (1365), in: Revue bénédictine 98 (1988) S. 169–177 [Text S. 173 ff.]. 74 Darauf hat mit Recht aufmerksam gemacht William J. Courtenay, Inquiry and Inquisition (wie Anm. 30). 75 Johannes Thorpe, „Sophismata“, zitiert nach John E. Murdoch, Mathematics and Sophisms in Late Medieval Natural Philosophy, in: Les Genres littéraires dans les sources théologiques et philosophiques médiévales (Université Catholique de
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rende paradoxe Aussagen, deren jeder Aussageteil jeweils gute Gründe für sich hatte. Der irreführende Charakter solcher Sätze besteht darin, daß sie extrem bizarre Überspitzungen suchen und bewußt eine Formulierung wählen wollen, die in jeder Hinsicht der unmittelbaren Einsicht des gesunden Menschenverstandes | zuwiderläuft oder doch 35 zuwiderzulaufen scheint. In dieser Tradition hatte Simon etwa die Sätze vertreten: haec propositio est possibilis: Jesus non est deus; oder Deus potest aliqualiter se habere, qualiter non se habet, ac etiam esse aliqualis, qualis non est 76. Nicolaus von Autrecourt, dessen Thesen über solche Begriffsspielereien hinaus auch einen eigenen metaphysisch-ontologischen Ansatz verraten, hatte seine Auffassungen in Formulierungen vorgetragen, wie z.B. der folgenden: Hec consequentia „A est et prius non fuit; igitur alia res ab A est“ non est evidens evidentia deducta ex primo principio. (Das wird – von den Richtern – als falsum et haereticum qualifiziert und von Nikolaus dann entsprechend als solches widerrufen!)77. Aber natürlich ging es bei den hier behandelten Verfahren nicht ausschließlich um solche schwierigen scholastischen Formulierungen komplizierter Sachverhalte, die als „falsch“, „irrig“, „frech“ und „ungehörig“ ( presumptuosum) oder gar als „ketzerisch“ eingestuft worden sind. Es sind auch Verfahren bekannt, die theologische Aussagen spekulativer Frömmigkeit oder auch nur kühne und ungewohnte Thesen, die zür Erläuterung des naturphilosophischen Hintergrunds gemacht worden waren, nun einer gestrengen kirchlichen Zensur unterwarfen. Der Prozeß gegen Thomas Waleys mag uns dafür als erstes Beispiel dienen. Dieser Dominikanertheologe hatte den verwegenen Mut gehabt, mitten in der päpstlichen Stadt Avignon, in der Kirche seines Ordens, am 3. Januar 1333 eine Predigt zu halten, in der er mit klaren Worten jene Auffassungen von der Gottesschau der Seligen als falsch verwarf, die damals dem Papst Johannes XXII. besonders teuer waren, obwohl die Äußerungen des Papstes unter Louvain, Publications de l’Institute d’études médiévales, II.5) Louvain-la-Neuve 1982, S. 85–100 (hier S. 85). Vgl. auch die Bemerkungen von Norman Kretzmann, Synkategoremata, exponibilia, sophismata, in: The Cambridge History of Later Medieval Philosophy, hgg. Norman Kretzmann, Anthony Kenny, Jan Pinborg, Cambridge (usw.) 1982, S. 211–245; nützlich auch die knappe Beschreibung und die Literaturangaben von Joke Spruyt in: LexMA 7 (1995) 2052–2054. 76 Vgl. die Liste von Irrtümern in der Retraktation wahrscheinlich unseres Simon in: Charles Duplessis d’Argentré (Hg.), Collectio judiciorum de novis erroribus, Paris 1728–1736 [Neudruck Brüssel 1963], Bd. 1/1, S. 370 f. Die Zitate hier § 4 und § 6. 77 De Rijk, Nicholas (wie Anm. 60) S. 174 §13.
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den theologischen Fachleuten sogleich lebhaft und meist ablehnend diskutiert worden waren. Eine Woche nach der Predigt wurde der franziskanische (!) Inquisitor des Bischofs tätig – die alten Differenzen zwischen den Bettelorden spielten also auch hier wieder hinein – und zitierte den Dominikaner vor sich. Anschließend hielt er ihn im Franziskanerkloster als Gefangenen fest. Wir können hier dem langen und ungewöhnlich umfänglich dokumentierten Prozeß nicht 36 erneut im einzelnen folgen78. Der franziskanische Inquisitor | hat sich sehr wohl von einer ganzen Gruppe von Theologen beraten lassen, die aus vier Franziskanern, zwei Karmelitern, einem Augustinereremiten und zwei Weltklerikern bestand, während der Beklagte sich vergeblich darum bemühte, die Anklageartikel und den Bericht, der zu seiner Verhaftung geführt hatte, zu Gesicht zu bekommen. Nach wochenlangen Verhören und monatelangem vergeblichen Warten auf einen Fortgang der Untersuchung gelang es dem Beschuldigten schließlich, im Oktober 1334 aus seiner Zelle eine Appellation vom bischöflichen an das päpstliche Gericht an die Außenwelt gelangen zu lassen, die er in der Haft – presentibus illis, qui testimonium dant in celo, patre et filio et spiritu sancto – niedergeschrieben hatte. Daraufhin in das Gefängnis des päpstlichen Palastes überführt, hatte der Dominikaner nun eine erneut langwierige Untersuchung durch eine Kardinals-kommission zu bestehen. Erst im August 1334, eineinhalb Jahre nach seiner
78 Thomas Kaeppeli, Le procès contre Thomas Waleys O.P., Étude et documents (Institutum historicum FF. Praedicatorum Romae, Dissertationes historicae, 6) Rom 1936; vgl. auch Christian Trottmann, La vision béatifique, Des disputes scolastiques à sa définition par Benoît XII (Bibliothèque des Ecoles françaises d’Athènes et de Rome 289) Paris 1995, bes. S. 585–602; ein Überblick auch bei Jürgen Miethke, Der Prozeß gegen Meister Eckhart im Rahmen der spätmittelalterlichen Lehrzuchtverfahren gegen Dominikanertheologen, in: Meister Eckhart: Lebensstationen, Redesituationen, hg. Klaus Jakobi (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens, NF 7) Berlin 1997, S. 353–375, hier S. 365–373. [Der Aufsatz ist von Kurt Ruh in Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 127 (1998) S. 460–472 hart getadelt worden, vgl. bes. S. 461 („mißglücktes Elaborat“), und vor allem S. 471 f. (hier wird der Vorwurf erhoben, ich hätte „den EckhartProzeß durch Vergleiche mit andern Verfahren gegen Predigerbrüder in seiner Bedeutung relativieren“ wollen, es werde ein „anmaßendes Fazit“ gezogen). Wer unbefangen liest, wird solchen Verriß nicht begreifen: es muß erlaubt sein, ein Ketzerverfahren, auch wenn es gegen Meister Eckhart gerichtet war, in seinem Verlauf und in seinem Ergebnis mit ähnlichen Verfahren zu vergleichen. Darauf allein und auf die nur so zu erreichende Konkretion des Verständnisses solcher Verfahren des 14. Jahrhunderts, nicht auf eine Verkleinerung der Bedeutung Eckharts kam es mir an! Ruh geht übrigens mit keinem Wort auf die einzelnen Ergebnisse meiner Untersuchung ein].
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Verhaftung, aber noch vier Monate vor dem Tode des Papstes, scheint er aus dem Gefängnis entlassen worden zu sein mit der üblichen Auflage, sich aus Avignon nicht ohne besondere Erlaubnis des Papstes zu entfernen79. Eine Entscheidung ist in seinem Prozeß nach dem Tod des Papstes Johannes’ XXII. nicht mehr getroffen worden. Nach England konnte Thomas Waleys wohl erst in der Regierungszeit Papst Clemens’ VI. (1342–1354) zurückkehren80. Am Ende seines Lebens war er, so wird berichtet, senio confractus paralisique graviter percussus ac amicorum subsidio destitutus 81. 1349 oder kurz danach ist er gestorben. Ebensowenig wie dieser Prozeß hatten 1305 die Untersuchungen gegen den Pariser Dominikanertheologen Jean Quidort ein greifbares Ergebnis82. Von einer Versammlung der Magister und Bakkalare der theologischen Fakultät im Beisein des Bischofs von Paris wurde ihm schließlich von dem ebenfalls anwesenden Erzbischof von Bourges – damals war das der berühmte Theologe Aegidius Romanus – und dem Bischof von Amiens wegen einiger strittiger Theorien über die genauere Interpretation der Wandlung des Altarsakraments eine weitere Lehrtätigkeit in Paris verboten. Sed ipse ad curiam appellavit, et ivit et postea ibidem obiit, so heißt es lapidar in dem einzigen Bericht, den wir darüber haben83. Johannes Quidort | hatte also denselben Weg 37 beschritten, den schon Abaelard gewählt hatte, und in dem Verfahren gegen ihn hat es, wie in jenem gegen Thomas Waleys kein eigentliches Ende der Untersuchungen gegeben. Schon 1306 ist Quidort in Bordeaux gestorben, wo sich die Kurie auf ihrer unsteten Wanderschaft durch Südfrankreich – wegen einer ernsten Erkrankung des Papstes – in dieser Zeit etwa ein ganzes Jahr lang aufhielt. 79 Marc Dykmans, A propos de Jean XXII et Benoît XII, La libération de Thomas Waleys, in: Archivum historiae pontificiae 7 (1969) S. 115–130. 80 Beryl Smalley, Thomas Waleys O.P., in: Archivum Fratrum Praedicatorum 24 (1954) S. 50–107, hier S. 57. 81 Vgl. etwa Scriptores Ordinis Praedicatorum, ed. Thomas Kaeppeli, Bd. 4. bearbeitet von Emilio Panella, Rom 1989, S. 401–408, hier S. 402. 82 Dazu Miethke, Eckhart (wie Anm. 78) S. 359–365. 83 Die Chronikkompilation des Johannes von St. Victor (aus dem Anfang des 14. Jahrhundert), die als ganze noch nicht im Druck vorliegt, vgl. etwa Repertorium fontium medii aevi, primum ab Augusto Potthast digestum, nunc cura collegii historicorum e pluribus nationibus emendatum et auctum, Bd. 6, Rom 1990, S. 385 (s.v. Iohannes Parisiensis). Der entsprechende Ausschnitt ist am leichtesten zugänglich bei Denifle-Chatelain, Chartularium (wie Anm. 58), Bd. 2, S. 120 (nr. 656); auch in: Vitae paparum Avenionensium, ed. Etienne Baluze, bearb. von Guy Mollat, Bd. 1, Paris 1916, S. 2 [„vita prima“ von Clemens V.].
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Bekanntlich hatte nicht jeder beschuldigte Theologe das zweifelhafte Glück, daß das angesteuerte Verfahren an der Kurie versikkerte und versandete. Die Mehrzahl der uns bekannt gewordenen Prozesse endete mit einem Urteil, manchmal erst nach dem Tode des Betroffenen, wie das bekanntlich im Falle des französischen Franziskaners Petrus Johannis Olivi84 und in dem des deutschen Dominikaners Meister Eckhart85 geschah, die beide die päpstliche Verurteilung einer jeweils langen Liste ihrer angeblichen Irrtümer nicht mehr erlebten. In all den untereinander sehr verschiedenen Verfahren ging es um die Feststellung von als objektivierbar aufgefaßten Irrtümern in der Glaubenslehre, die keineswegs jeweils im systematischen Zusammenhang eines bestimmten theoretischen Entwurfs gewürdigt wurden, sondern prout verba sonant, d.h. in ihrem Aussagegehalt als solche, beurteilt werden sollten, unabhängig von ihrer Begründung und ihrem Zusammenhang im einzelnen. Die Vertreter solcher Häresien oder Ketzereien waren nur in den seltensten Fällen bereit, ihre Formulierungen, und seien es auch ihnen wichtige und für ihr Denken zentrale Formulierungen, mit dem Einsatz ihres Lebens zu verteidigen. Daher zeigten sie sich willens, dem Vorwurf der pertinacia durch Widerruf und die öffentliche Bezeugung ihres Gehorsams zu begegnen. Der objektivierende Zugriff auf die Positionen der Angeklagten in den einzelnen Verfahren hatte nicht alleine bei der eigentlichen Kommissionsarbeit, der Bewertung und Qualifizierung der Thesen die geschilderten Folgen. Auch bei den Argumentationen im Umfeld, bei Gutachten, Traktaten und Polemiken gegen die angegriffenen Thesen, die meist noch vor oder bisweilen auch nach86 einer Verurteilung geschrieben wurden, brauchten sich auch nach unserer Kenntnis 38 sonst sorgfältig | arbeitende Autoren nicht mit einer Lektüre der
84 Von zahlreichen Untersuchungen nenne ich nur die ältere vorzügliche Arbeit von Edith Pasztor, Le polemiche sulla „Lectura super Apocalipsim“ di Pietro di Giovanni Olivi fino alla sua condanna, in: Bullettino dell’Istituto Storico Italiano per il Medio Evo e Archivio Muratoriano 70 (1958) S. 265–424. 85 Wichtig dazu Winfried Trusen, Der Prozeß gegen Meister Eckhart, Vorgeschichte, Verlauf und Folgen (Rechts- und staatswiss. Veröffentlichungen der GörresGesellschaft, NF 54) Paderborn [usw.] 1988; vgl. auch Miethke, Eckhart (wie Anm. 78); sowie jetzt Robert E. Lerner, New Evidence for the Condemnation of Meister Eckhart, in: Speculum 72 (1997) S. 347–366. 86 Ein schlagendes Beispiel ist dafür etwa der Traktat des Hermann Schildesche, O.P., „Contra negantes immunitatem et iurisdictionem sanctae ecclesiae“, hg. Adolar Zumkeller (Cassiciacum, 4) Würzburg 1970, S. 3–108.
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jeweiligen vollen Schriften des Gegners aufzuhalten, sie konnten unmittelbar zur Diskussion der Irrtumslisten schreiten, die sie sich irgendwie beschafft hatten. Aus den zahlreichen dafür möglichen Beispielen seien hier nur zwei eklatante Fälle genannt, einmal die Gutachten des Theologen und Zisterzienserkardinals Jacques Fournier, des späteren Papstes Benedikt XII. (1334–1342), der am Hof Johannes’ XXII. häufiger solche Artikelgutachten schrieb87, ohne daß wir je von einer Lektüre der inkulpierten Schriften durch den Zisterzienserkardinal hörten. Gewiß hat er weder den Sentenzenkommentar oder die Quodlibets Ockhams88 gelesen, noch auch einen Blick in die Schriften Meister Eckharts geworfen, über die er seine Gutachten anfertigte. Noch viel schlagender kann dasselbe Verhalten von einfachen Klerikern belegt werden durch die ganze Traube von Polemiken gegen den „Defensor Pacis“ des Marsilius von Padua. Von 1327 bis 1330 haben sich an einer anscheinend lebhaften Diskussion am päpstlichen Hof u.a. Autoren wie Sigebert von Beek, Peter von Lautern, oder Hermann von Schildesche89 beteiligt. Keine einzige ihrer Schriften läßt eine eigene Lektüre der bedeutenden und in ihren charakteristischen Thesen recht markanten Schrift des Paduaners, des „Defensor Pacis“, erkennen, gegen den allein auf der Basis einer Sechs-ArtikelListe (die in Vorbereitung der Verurteilungsbulle „Licet iuxta doctrinam“ von 132790 zusammengestellt worden war) lospolemisiert wurde. Doch kehren wir zu dem Verfahren gegen Meister Eckhart zurück, das wir kurz anzuleuchten begonnen hatten. In der Verurteilungsbulle,
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Dazu besonders Josef Koch, Der Kardinal Jacques Fournier (Benedikt XII.) als Gutachter in theologischen Prozessen (11960), jetzt in: Koch, Kleine Schriften, Bd. 2 (wie Anm. 57) S. 367–386. Zum Gutachten im visio-Streit jetzt Trottmann, La vision béatifique (wie Anm. 78) S. 745–778. 88 Jedenfalls geht das Gutachten, soweit es aus seinen fragmentarischen Resten erkennbar wird, streng nach der von der Expertenkommission aufgesetzten Irrtumsliste vor. Zum Ockhamprozeß vgl. zuletzt etwa Jürgen Miethke, Ockhamperspektiven oder Engführung in eine falsche Richtung? Eine Polemik gegen eine neuere Publikation zu Ockhams Biographie, in: Mittellateinisches Jahrbuch 29 (1994) S. 61–82. 89 Vgl. dazu die Einzelnachweise bei Jürgen Miethke, Marsilius und Ockham, Publikum und Leser ihrer politischen Schriften im späteren Mittelalter, in: Medioevo 6 (1980) S. 543–567, hier S. 549 mit Anm. 16. 90 (vom 23. Oktober 1327), mehrfach gedruckt, etwa bei d’Argentré, Collectio judiciorum (wie Anm. 76), Bd. 1, S. 304a–311b. Vgl. auch Heinrich Denzinger, Enchiridion symbolorum, definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, 37 Aufl., bearbeitet von Paul Hünermann, Freiburg i.Br. 1991, S. 398 f. (nrr. 941–946).
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die Papst Johannes XXII. gegen 28 von einer Theologenkommission aufgelistete Irrtümer Eckharts am 27. März 1329 ergehen ließ91, von 39 denen 17 als häretisch, weitere 11 als male so | nantes, temerarios et suspectos de haeresi verurteilt wurden, hielt der Papst ausdrücklich fest, er wolle bekanntmachen, daß Eckhart selbst am Ende seines Lebens durch ein Bekenntnis seinen katholischen Glauben angemessen bekannt habe und die im Prozeß kritisierten Artikel sowie alles andere von ihm Geschriebene oder Gelehrte, quae possent generare in mentibus fidelium sensum haereticum vel erroneum ac verae fidei inimicum quantum ad illum sensum (!) widerrufen und verurteilt habe, „indem er sowohl sich selbst, als auch alle seine Schriften und Aussagen der Entscheidung des Apostolischen Stuhls und der Unsrigen unterwarf “92. Die Entscheidung in Zweifelsfragen sollte also, auch nach Meinung Eckharts selber, beim obersten Richter der Kirche liegen. In dieser Überzeugung wurden die Prozesse, auch wenn sie auf lokaler Ebene begonnen hatten, letzten Endes von allen Beteiligten im Zeitalter der Scholastik geführt. Damit verwandelten sie die Wahrheitsfrage unversehens in eine Frage des Gehorsams und der willentlichen Unterwerfung, nicht freilich einer Unterwerfung unter ein wie auch immer komplexes Corpus von Schriften oder eine undurchdringliche Tradition, sondern unter einen angebbaren kirchlichen Richter, in letzter Instanz unter den Papst, der unangesehen seiner eigenen Vorbildung oder Sachkenntnis kraft seiner hierarchischen Stellung und Amtsgewalt die Kompetenz zur Entscheidung besitzt. Seine Entscheidung wird hier freilich nicht mit dem sonst in der Gerichtssphäre üblichen Wort einer sententia, sondern mit dem aus der Welt der Schulen entlehnten Begriff der magistralen determinatio belegt, was die auf Wahr91 „In agro dominico“ [vom 27 März 1329], gedruckt auch bei d’Argentré, Collectio judiciorum (wie Anm. 76), Bd. 1, S. 312b–314a; ed. M. H. Laurent, Autour du procès de Maître Eckhart, Les documents des Archives Vaticanes, in: Divus Thomas (Piacenza) 39 (1936), hier S. 436–444 [doc. VIII]; weitere Druckorte in der Vorbemerkung zu (und ein in den Rahmenpartien gekürzter Text auch bei) Denzinger-Hünermann, Enchiridion37 (wie Anm. 90) S. 399–404 (nrr. 950–980); jetzt nach einer eigenständigen Überlieferung aus der Kirchenprovinz Mainz auch bei Lerner, New Evidence (wie Anm. 85) S. 363–366. 92 (. . .) praefatus Ekardus in fine vitae suae fidem catholicam profitens praedictos viginti sex articulos, quos se praedicasse confessus extitit, necnon quaecumque alia per eum scripta et docta, sive in scholis, sive in praedicationibus, quae possent generare in mentibus fidelium sensum haereticum vel erroneum ac verae fidei inimicum, quantum ad illum sensum revocavit ac etiam reprobavit et haberi voluit pro simpliciter et totaliter rev atis, acsi illos et illa singillatim et singulariter revocasset, determinationi Apostolicae Sedis et Nostrae tam se quam scripta sua et dicta omnia summittendo. Denzinger-Hünermann, S. 404 (nr. 980).
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heitsfindung zielende Absicht des Verfahrens festhält und immer noch deutlich macht. Ich lasse eine ins einzelne gehende Interpretation dieser Terminologie und ihre Konfrontation mit der Entwicklung des kurialen Papalismus hier auf sich beruhen und wende mich nur noch der Wirkung dieser Verfahren auf die Diskussionswilligkeit und die Lehrentwicklung der scholastischen Theologie zu, die ich hier freilich auch nur eher rhapsodisch behandeln kann. Sichtbar reagiert haben zunächst die Orden, denen solche Zensuren an einzelnen ihrer Angehörigen peinlich erscheinen mochten und die dem drohenden Prestigeverlust zeitlich schon früh zu begegnen versuchten. Die Bettelorden, den Universitäten und ihrer Lehre seit ihrer Gründung eng verbunden, gingen hier voran: Kaum war 1241/1243 der Dominikaner Stephan de Venizy gezwungen worden, vor der Universität einer Liste von Irrtümern abzuschwören93, kaum hatte 1255 eine Kardinalskommission aus dem | „Evangelium aeternum“ des in Paris lehrenden Franziskaners 40 Gerardino de Borgo San Donnino eine lange Reihe von Ketzereien herausgezogen94, da nahmen sich die beiden Orden jeweils der Angeschuldigten an. Sie wurden aus Paris entfernt, von Gerardino wissen wir sogar, daß er in seine Heimatprovinz Kalabrien zurückgebracht wurde, wo er, in strenger Klosterhaft gehalten, etwa 20 Jahre später gestorben ist. Den Predigerbruder Stephan dagegen verlieren wir nicht völlig aus den Augen, sein Name ist 1247/48 auf einer Liste von magistri regentes der Theologischen Fakultät der Universität Paris aufgeführt, die die berühmte Verurteilung des Talmud unterzeichnet haben, er muß also trotz der Verurteilung die Promotion erreicht haben (wenn die Namensgleichheit eine Identität der Personen wiederspiegelt). Eine noch heute in Paris liegende Handschrift enthält neben der Zehnerliste der offiziellen Verurteilung auch die principia zu seiner Sentenzenvorlesung, d.h. die allerwichtigsten scholastischen Texte seiner theologischen Produktion. Ihm dürften also die Zensuren in seinem persönlichen Lebensweg nicht unmittelbar geschadet haben95. 93
Zu dem Verfahren vgl. knapp Miethke, Papst, Ortsbischof und Universität (wie Anm. 57) S. 63–67; vor allem jetzt aber William J. Courtenay, Dominicans and Suspect Opinion in the Thirteenth Century, The Cases of Stephen of Venizy, Peter of Tarentaise, and the Articles of 1270 and 1271, in: Vivarium 32 (1994) S. 186–195. 94 Zu diesem Verfahren knapp Miethke, Papst, Ortsbischof und Universität (wie Anm. 57) S. 69–75. 95 Talmudzensur: Denifle-Chatelain, Chartularium (wie Anm. 58) Bd. 1, S. 210 (nr. 178); Ms. Paris Bibl. Nat., lat. 15702; vgl. Courtenay, Dominicans (wie
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Bei solcher – wie ersichtlich, durchaus erfolgreicher – disziplinärer Bewältigung des Problems, die nur allzu genau den karolingerzeitlichen Vorbildern nacheiferte, ließen es die Bettelorden aber nicht bewenden. Noch um die Mitte des 13. Jahrhunderts faßten jeweils Ordensgeneral und Kapitel Beschlüsse, die nun zumindest innerhalb des Ordens eine vorauseilende Kontrolle zur Verhinderung künftigen Schadens einzurichten versuchten: 1243 haben die Dominikaner auf ihrem Generalkapitel verfügt, daß die Brüder sorgfältig alle verurteilten Irrtümer aus ihren Büchern ausradieren sollten96. Ein Jahr später, 1244, haben sie in Bologna beschlossen: Monemus lectores, quod novas opiniones non inveniant sed communiores et magis approbates sequantur 97. 1256 haben sie dann auch eifersüchtiger Mißgunst unter Brüdern mit der Aufforderung Weg gebahnt, alle ihnen verdächtigen Bücher, auch wenn sie anderen Brüdern gehören sollten, an die Ordenszentrale 41 einzuschicken98. | Sie haben diese Mahnung 1266 dann in Paris noch
Anm. 93) 188 Anm. 5; allgemein vgl. auch Werner, Bücherverbrennungen (wie Anm. 40) S. 157 ff. 96 Acta capitulorum generalium Ordinis Praedicatorum, ed. Benedictus Maria Reichert (Monumenta Ordinis Fratrum Praedicatorum Historica, III.1) Rom 1898, S. 27, 10 f.: Errores condempnatos per magistros Parisienses fratres omnes abradant de caternis. 97 Acta, ed. Reichert (wie Anm. 96) S. 29,5 f. 98 Acta, ed. Reichert (wie Anm. 96) S. 80,32–81,6: (. . .) Iniungimus omnibus fratribus, sicut olim iniunctum fuit, quod articulos condempnatos per episcopum et magistros Parisienses deleant de scriptis suis, in quibuscumque fuerint, et eciam quod priores provinciales vel socii eorum transscripta eorum portent ad provincias suas. Quicumque eciam fratrum aliquid erroneum secundum conscienciam suam in libris vel scriptis alicuius fratris invenerit, mittat illud scriptum magistro ordinis. – Daß Neid und Eifersucht eine große Rolle in diesen Verfahren spielten, stand bereits den Zeitgenossen deutlich vor Augen: das bezeugt nicht nur die zentrale Rolle, die Abaelard in seiner „Historia calamitatum“ der invidia einräumt (hier benutzt in der Edition durch Jacques Monfrin, Paris 21967, hier etwa S. 66, 69, 82, 86 [Zll. 109, 223, 680, 824]), sondern auch etwa Pierre d’Ailly, der zum Verfahren gegen Nicolaus von Autrecourt einmal bemerkt: Si vero obiciatur, quod inter articulos Parisiis condemnatos contra magistrum Nicolaum de Altricuria unus est iste (. . .), respondeo quod multa fuerunt condemnata contra eum causa invidie, que tamen postea in scholis publice sunt confessa. (Zitiert nach Kaluza, Nicolas, wie Anm. 60, S. 70 Anm. 166, wo sich auch weitere Belege zur invidia finden). Auch der Dominikanertheologe Juan de Monzon hat im päpstlichen Konsistorium 1387 gerade Ailly und der Pariser Universität vorgeworfen, der Streit um seine Thesen gegen die Unbefleckte Empfängnis Mariens sei von wenigen Leuten aus invidia vom Zaun gebrochen worden: vgl. die Konsistorialrede Ailly’s, gedruckt u.a. bei Du Pin (wie Anm. 25), Bd. 1, Sp. 706 sq., vgl. auch d’Argentré (wie Anm. 76), Bd. 1/2, S. 72b–73a: . . . Sed unum est, beatissime pater, quod nulla obstante brevitate vel festinantia, cogente veritate, diucius silere nequimus, qualiter scilicet, quam false, quam fallaciter prememoratus frater [d.i. Johannes de Monsoniis] etiam in vestre beatitudinis et vestri consistorii presencia affirmare non veritus est, omnia que adversus eum acta sunt, ex paucorum vel duorum aut trium hominum invidia atque odio processisse . . . Zum Verfahren allgemein vgl. etwa ausführlich Douglass Taber, The
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durch die Vorschrift konkretisiert und verallgemeinert: nulla scripta facta vel compilata a nostris fratribus aliquantum publicentur, nisi prius per fratres peritos, quibus magister vel prior provincialis committat, diligenter fuerint examinata99. Bei den Franziskanern wurde ähnliches angeordnet. Ausdrücklich mit den Wirren um Gerardino de Borgo San Donnino bringt Salimbene de Adam in seiner „Chronica“ die Bestimmung in Zusammenhang, daß künftig (de caetero) alle Schriften, die für die Außenwelt bestimmt würden, zuvor vom Provinzialminister und dem Provinzialkapitel ausdrücklich gebilligt werden müßten100. 1260, unter der Amtsführung Bonaventuras, wurde sogar in den ersten als Statutenkorpus verabschiedeten Ordensstatuten festgelegt, daß dem Ordensgeneral (und also zunächst Bonaventura selbst), den Provinzialministern und den Kapiteln eine derartige Vorzensur zustehe: Item inhibemus, ne de cetero aliquod scriptum novum extra ordinem publicetur, nisi prius examination fuerit diligenter per generalem ministrum vel provincialem et definitores in capitulo provinciali. Et quicumque contrafecerit, tribus diebus tantum in pane et aqua ieiunet et careat illo scripto. Und: Nullus frater audeat aliquam opinionem asserere vel approbare scienter, quae a magistris nostris communiter reprobatur, nec opinionem smgularem cuiuscumque suspectam vel calumniabilem, maxime contra fidem vel mores audeat defensare. Et qui contrafecerit, nisi admonitus per mini42 strum resipuerit, ab omnis doctrinae officio sit suspensus101. | Theologian and the Schism, A Study of the Political Thought of Jean Gerson (1363–1429), Ph.D.-Thesis Stanford Univ. 1985 (masch.), vol. 1, S. 10–34. 99 Acta, ed. Reichert (wie Anm. 96) S. 78,16–19. 100 Salimbene de Adam, Cronica, ed. Oswald Holder Egger (MGH Scriptores, 32) Hannover 1904, S. 462: Occasione enim istius Ghirardi ordinatum est, ut de caetero nullum scriptum extra ordinem publicetur, nisi prius fuerit per ministrum et diffinitores in provinciali capitulo approbatum. Wahrscheinlich war der am 2. Februar 1257 neu gewählte Ordensminister Bonaventura für diese Maßnahme verantwortlich, nicht sein damals abgesetzter Vorgänger Johannes von Parma. 101 Statuta Narbonnensia [VI §§ 21 und 22], ed. Michael Bihl, Statuta generalia ordinis edita in capitulis generalibus celebratis Narbonae anno 1260, Assisii anno 1279, atque Parisiis anno 1292 (editio critica et synoptica), in: Archivum Franciscanum historicum 34 (1941) S. 13–94, 284–358, hier S. 73 (die Wiederholungen S. 80); unmittelbar an dieses Statut schlössen sich später strenge Strafbestimmungen an gegen operationes alchimiae, necromantiae, sortilegiorum vel superstitionum quarumlibet seu maleficiorum ac alias quascumque operationes doctrinarum vel artium suspectarum quae in publico non docentur aut ab ecclesia reprobatae sint, wobei auch der Besitz und die Beschaffung entsprechender Bücher unter dieselben Strafen gestellt wurde. Die Schuldigen wurden mit Kerker und (bei Entdeckung nach ihrem Tod) mit Exhumierung bedroht; Bruder Bernard Delicieux ist in seinem Ketzereiverfahren an der Kurie (1317/1319) vom Orden bereits mit diesen Regelungen konfrontiert worden; vgl. Bihl, ebenda S. 35 f.
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Wieweit diese Bestimmungen Anwendung fanden, ist hier nicht zu untersuchen. In universitären Manuskripten jedenfalls lassen sich derartige Korrekturvermerke von Ordensoberen m.W. nicht finden. Das publicare, das hier behindert wird, scheint vor allem die Verbreitung von solchen Texten über den Kreis der Universität und ihrer Mitglieder hinaus zu meinen102. Die Orden wollten somit anscheinend jedes ,öffentliche‘ Auftreten ihrer Angehörigen zumindest im Zweifelsfall durch Ordensorgane kontrollieren. Die Universitätsmitglieder, die nicht durch Gehorsamspflicht und institutionelle Einbindung in einen Orden als disziplinierten Personenverband eingefügt waren und darum einem universitätsfremden Zugriff nicht so leicht offenstanden, blieben auf die Dauer ebenfalls von solchen Anmutungen nicht verschont, wenn auch natürlich bei ihnen subtiler verfahren werden mußte. Ängstliche Gemüter mochten sich selbst in die Linie derer einreihen, die im sicheren Gehege wohlabgegrenzter Richtigkeit ihren Standort suchten. Das mochte etwa durch die Sammlung von Irrtumslisten geschehen, die dann einen wahr102 Dafür spricht auch, was der widerspenstige Fanziskaner Roger Bacon um 1267 dem Papst Clemens IV. berichtet; um zu begründen, daß das dem Papst in Aussicht gestellte ultimative opus principale, das der Generalreform an Kirche und Welt zugrundegelegt werden sollte, nicht schon weiter gediehen war und nicht aus der Schublade gezogen werden könne, schildert Bacon die Widrigkeiten, die einer literarischen Tätigkeit in den vergangenen Jahren im Wege gestanden hätten, darunter schreibt er auch (und das wirft kein sehr günstiges Licht auf das Scriptorium der Franziskaner in Paris!): Nam in alio statu non feci scriptum aliquod philosophiae, nec in hoc, in quo sum modo [d.i. als Minderbruder] fui requisitus a prelatis meis; immo facta est constitutio gravis in contrarium sub precepto et pena amissiohnis libri et ieiunio in pane et aqua pluribus diebus, si aliquod scriptum factum apud nos aliis communicetur. Sed scribi non posset littera bona nisi per scriptores alienos a statu nostro, et illi tunc transscriberent pro se vel aliis, vellem nollem, sicut sepissime scripta per fraudes scriptorum Parisius divulgantur . . . (Roger Bacon, Opus tertium, cap. 2, ed. John S. Brewer, Fr. Rogeri Bacon Opera quaedam hactenus inedita (Rerum Britannicarum Scriptores [Rolls Series], 15), London 1859 [Reprint New York 1965], S. 13. In seinem Brief an Papst Clemens IV., den er seinem nach Rom übersandten Exemplar des „Opus maius“ vorangestellt hat, wird von den Ordensoberen nur gesagt, sie beföhlen ihm andauernd Dinge, die mit dem auf Wunsch des Papstes geheim zu behandelnden großen Auftrag nichts zu tun hätten, nicht die leiseste Andeutung einer Zensur oder eines Schreibeverbots begegnet auch da, vgl. Francis Aidan Gasquet, An Unpublished Fragment of a Work by Roger Bacon, in: The English Historical Review 12 (1897) S. 494–517, hier S. 500, bzw. 502. Insofern überziehen Alastair Crombie und John D. North, Bacon, Roger, in: Dictionary of Scientific Biography 1 (1981) S. 377–385, hier S. 378a, sowie Jeremiah Hackett, Roger Bacon: His Life, Career and Works, in: Roger Bacon and The Sciences, Commemorative Essays, ed. J. Hackett (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters, 57) Leiden/New York/Köln 1997, S. 9–23, hier S. 17 ff., beträchtlich, wenn sie Roger Bacons bekannte Schwierigkeiten mit seinen Ordensoberen auf die Zensurbestimmungen des Generalkapitels zurückführen.
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haft ansehnlichen Umfang erreichen konnten, damit sie unter Aufbietung einiger Energie sich darum bemühen konn | ten, um die reine 43 Lehre einen Zaun von Verbotstafeln zu errichten und so jeden Irrweg zu verlegen103. Institutionell haben die Universitäten bei der Gelegenheit von Promotionen im Doktoreid eine eidliche Selbstbindung ihrer Promovenden verlangt, die, wie sie der Korporation der Universität vielfach ihre Obligation durch Eid bekräftigten, nun auch bestimmte und als solche aufgelistete Irrtümer sich nicht zu eigen zu machen sich eidlich verpflichteten: „Ich selber, der ich zu Paris bei meiner Magisterpromotion in den Artes aufgrund einer Auflage des Apostolischen Stuhls einen heiligen Eid geleistet habe, daß ich die genannte Meinung für falsch halten wolle (!), daß nämlich der Kaiser den Papst einsetzen könne in der Kirche Gottes, wollte gegen diese Schrift (Ockhams) nicht allein von diesem meinen Eid gezwungen, sondern auch durch die ernsthaften Zügel in der Glaubenswahrheit dazu gebracht, jetzt in folgender Weise vorgehen“104, so schreibt der ehemalige Wiener und damalige Regensburger Domschulmeister Konrad von Megenberg
103 Etwa Konrad von Megenberg, Yconomica, III.1 cap. 13–15, ed. Sabine Krüger (MGH, Staatsschriften, III.5/3) Stuttgart 1984, S. 49–191, wo es S. 53, 7–10 einleitend zur Begründung dieses Verfahrens heißt: Ut autem magis in specie cognoscas errores precipuos, propter quos philosophi detestantur inanes, noscas omnes articulos subnotatos maturo consilio atque perspicaci collacione Parisius a magistris sacre pagine esse refutatos tamquam fidei catholice inimice. Konrad hält sich an Fassung und Reihenfolge der „Articuli Parisius et Angliae condempnati“ (wie Anm. 106), also an die Privatkollektion. 104 Konrad von Megenberg, Yconomica, II.3 cap. 2, ed. Sabine Krüger (MGH, Staatsschriften, III.5/2) Stuttgart 1977, S. 93 f.: Ego itaque qui Parisius in accipiendo professionem in artibus ex indicto sedis apostolice hoc corporale prestiti iuramentum, ut predictam conclusionem crederem esse falsam (!), videlicet quod imperator constituere haberet papam in ecclesia dei, non solum vi iuramenti coactus, sed veritate fundamentorum fidei sinceris tractus habenis contra predictam sic decrevi procedere (. . .). Ähnliches berichtet auch in polemischer Absicht Wilhelm von Ockham, Compendium errorum, cap. 7, ed. Hilary Seton Offler in: William of Ockham, Opera politica, vol. 4 (Auctores Britannici Medii Aevi, 14) London 1997, S. 71, Zl. 175–180. Vgl. auch die Eide in Denifle-Chatelain, Chartularium (wie Anm. 58) vol. 2, S. 680 (nr. 1185 § 16), oder vol. 3, S. 120–122 (nr. 1289), vol. 4, S. 57 (nr. 1781); Jean Gerson bezieht sich in seiner Rede auf dem Konstanzer Konzil „Oportet haereses esse“ auf den Eid der theologischen Sententiare zum Beleg für die Kompetenz zur Ketzerverfolgung in den einzelnen Diözesen: Stabiliamus denique quarto partem eamdem ex consuetudine laudabili in diversis diocesibus, praesertim in Parisiensi. Illic enim damnati sunt articuli et damnantur quotidie per doctores sacrae Scripturae et per episcopos; et jurant baccalaurei prius quam legant Sententias in manu cancellarii Parisiensis, quod si audierint dici in favorem articulorum Parisius condemnatorum, revelabunt infra octo dies episcopo vel Cancellario Parisiensi, qui erunt pro tempore ( Jean Gerson, Oeuvres complètes, ed. Palémon Glorieux, Bd. 5, Paris [usw.] 1963, S. 420–435, hier S. 430).
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um 1350 in seiner „Yconomica“ und belegt dadurch einmal mehr den Versuch der Universitäten, den Forderungen des Papstes zu genügen, wie zugleich auch in der bloßen Formulierung seiner Selbstbestimmung die Schwierigkeiten einer praktischen Durchsetzung solcher Auflagen. Der Versuch der institutionellen Amtskirche, auf diesem Wege die Lehrentwicklung an den Universitäten im Griff zu behalten, schlug fehl. Die Listen von glaubenswidrigen Artikeln wurden immer länger, so lang, daß man sie kaum noch oder wirklich nicht mehr 44 geschlossen zu memorieren vermochte. Eine solche Reihe er | reichte schon in dem Syllabus des Pariser Bischofs Stephan Tempier von 1277 die Zahl von 219 einzeln aufgeführten Irrtümern105. Private Sammler haben es damit noch nicht genug sein lassen, sie haben eine um einige Artikellisten weiterer Verurteilungen ergänzte, wohl als Gesamtaufstellung aller damals gültiger Verbotstafeln gedachte große Sammlung der „Articuli Angliae et Parisius damnati“ aufgestellt, die in mehreren Handschriften erhalten blieb106. Auch die offiziell hergestellten Listen erreichten dann in Zukunft wiederum derartig unhandliche Dimensionen: in Oxford hat 1411 eine Kommission von Theologen in den Schriften des 1384 verstorbenen Theologen John Wyclif nicht weniger als 267 differenziert qualifizierte Irrtümer entdeckt107. Das Konzil von Konstanz sollte schließlich noch 105 Der berühmte Syllabus Tempiers am besten zugänglich in Denifle-Chatelain, Chartularium (wie Anm. 58) vol. 1, Paris 1892, S. 543–558 (nr. 473), danach (mit Übersetzung) abgedruckt auch bei Kurt Flasch, Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277, Das Dokument des Bischofs von Paris (Excerpta classica, 6) Mainz 1989. Die eingehendste Analyse lieferte Roland Hissette, Enquête sur les 219 articles condamnés à Paris le 7 mars 1277 (Philosophes médiévaux, 22) Louvain 1977; ein gegenüber den bisherigen Annahmen leicht verändertes „scenario“ für die Verurteilung entwirft J. M. M. Hans Thijssen, What really happened on 7 March 1277? Bishop Tempier’s Condemnation and its Institutional Context, in: Texts and Contexts in Ancient and Medieval Science, Studies on the Occasion of John E. Murdoch’s Seventieth Birthday, edd. Edith Sylla and Michael McVaugh (Brill’s Studies in Intellectual History, 78), Leiden/New York/Köln 1997, 84–114. (Dazu ist hier nicht im einzelnen Stellung zu nehmen, doch scheint mir die Konzentration auf Siger von Brabant in diesem Entwurf problematisch). 106 Denifle-Chatelain, Chartularium (wie Anm. 58) vol. 1, S. 556 nota; der Text findet sich als „Collectio errorum in Anglia et Parisius condemnatorum, qui sic per capitula distinguuntur“ gedruckt auch bei d’Argentré, Collectio judiciorum (wie Anm. 75) S. 188–210. 107 Zuletzt etwa Jeremy I. Catto, Wyclif and Wycliffism at Oxford 1356–1430, in: The History of the University of Oxford, vol. 2, edd. J. I. Catto and Ralph Evans, Oxford 1992, 175–261, hier 248. Die Liste ist gedruckt in: Concilia Magnae Britanniae et Hiberniae, ed. D. Wilkins, London 1737, Bd. 3, S. 239–249. (Zu die-
gelehrte ketzerei und kirchliche disziplinierung
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260 Irrtümer des englischen Reformers verdammen108. Doch selbst bei so ausgedehnten peniblen Zensurverdichtungen gab die scholastische Kunst der Interpretation manchen Ausweg frei. Ein streamlining der Theologen und der Theologie gelang der Amtskirche, wenn überhaupt, dann immer nur vorübergehend – und niemals wirklich restlos und vollkommen. Das Instrument der Verfahren gegen gelehrte Theologen, differenziert ausgestaltet und immer wieder eingesetzt, hat die Kirche auf die Dauer keineswegs vor fundamentalen Konflikten bewahrt. Sollen wir uns darüber wundern, daß es, obwohl es, wie Johannes Falkenberg in seiner Beweisnot formulierte, ein fast alltägliches Berufsrisiko des Gelehrten geworden war, doch die eigentlich erhofften Resultate | 45 nicht zeitigte? Was das Instrument keineswegs beseitigen konnte, war die Devianz einer religiösen Bewegung, wie sie dann im Wyclifismus und Hussitismus ausgerechnet an den Universitäten von Oxford und Prag ausbrach, aber dieser Eruption gegenüber blieben auch die Konzilien von Konstanz und Basel all ihren Bemühungen zum Trotz erfolglos. Die Theologenprozesse zur Zeit der scholastischen Theologie waren und blieben ein Instrumentarium mittlerer Reichweite, konnten derartig tiefgreifende Krisen der Christenheit nicht regulierend kalmieren. Das ‚Funktionieren‘ dieses Instruments hing vom ,Mitspielen‘ aller Beteiligten in einem relativ festgelegten Rollenspiel ab. Eine Totalsteuerung der Theologie wollte und konnte auf diese Weise je länger desto weniger gelingen. Auch die „Reformation“ des 16. Jahrhunderts hat an einer Universität in Wittenberg und durch den Universitätslehrer Martin Luther ihren Anfang genommen.
ser Kompilation Ernest Fraser Jacob, Wilkins’ „Concilia“ and the XVth Century, in: Transactions of the Royal Historical Society, IVth Series 15 (1933) S. 45–90). 108 Am bequemsten mit einem Auszug von immerhin noch 58 Artikeln jetzt zugänglich in: Conciliorum oecumenicorum decreta, ed. Istituto per le scienze religiose, consultante Huberto Jedin, Bologna 31973, S. 421–426. Zum Konstanzer Verfahren Edith C. Tatnall, Die Verurteilung John Wyclifs auf dem Konzil zu Konstanz [englisch zuerst 1971], hier benutzt nach: Das Konstanzer Konzil, hg. Remigius Bäumer (Wege der Forschung, 415) Darmstadt 1977, S. 284–295.
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KAPITEL 14
DIE ANFÄNGE DER UNIVERSITÄTEN PRAG UND HEIDELBERG IN IHREM GEGENSEITIGEN VERHÄLTNIS
Zur großen Hinterlassenschaft des lateinischen Mittelalters gehört noch heute als nicht die geringste Leistung die europäische Universität, die die wesentlichen Fundamente ihrer institutionellen und operativen Strukturen im Abendland ausgebildet hat. Bis heute lebt die mittelalterliche Universität – nach manchen Metamorphosen – in den Universitäten überall in der Welt fort. Allein das Wort „Universität“1 – aber auch die Namen ihrer Ämter, Einrichtungen und Untergliederungen2, wie Rektor, Fakultäten, Dekan, Student, Doktor, Vorlesung, Promotion usw. gehen auf mittelalterliche Entwicklungen und Bezeichnungen zum Teil unmittelbar und in ungebrochener Tradition, zum Teil freilich auch (wie beim „Professor“3) nach mehr oder minder durchgreifendem Wandel zurück, vor allem aber hat die Universität in ihrer Verbindung von höherem Unterricht und einer bestimmten Organisationsform der Beteiligten, welche der Forderung nach Wissenschaftsfreiheit und Autonomie durch die Verbindung korporativer mit anstaltlichen Elementen gerecht zu werden versucht, in den mittelalterlichen Universitäten Europas ihre Wurzeln4. Höheren Unterricht 1 Pierre Michaud-Quantin, Universitas. Expressions du mouvement communautaire dans le moyen âge latin (= L’Église et l’État au moyen âge 13, Paris 1970). 2 Olga Weijers, Terminologie des universités au XIIIe siècle (= Lessico Intellettuale Europeo 39, Rom 1987). 3 Zur Entstehung und Entwicklung des Professors als sozialgeschichtlichen Typus Peter Moraw, Improvisation und Ausgleich. Der deutsche Professor tritt ans Licht, in: Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts, hg. von Rainer Christoph Schwinges (= Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 18, Berlin 1996) S. 309–326. 4 Ein neuerer Überblick zur Verfassungsgeschichte jetzt in: A History of the University in Europe, ed. Walter Rüegg, vol. I: Universities in the Middle Ages, ed. Hilde de Ridder-Simoens (Cambridge usw. 1992), in den Beiträgen von Jacques Verger, Paolo Nardi, Alexander Gieysztor, S. 35–168; dt. u. d.T.: Geschichte der Universität in Europa, Bd. 1: Mittelalter (München 1993) S. 49–157. Daß die Universität eine genuin europäische Genese hat, erhellt e contrario aus dem (gescheiterten) Versuch, einen arabischen Ursprung aufzuweisen, den erneut unternommen hat George Makdisi, Baghdad, Bologna, and Scholasticism, in: Centers of Learning, Learning and Location in Pre-Modern Europe and the Near East, edd. Jan Willem Drijvers and Alastair A. McDonald (= Brill’s Studies in Intellectual History 61, Leyden, New York und Köln 1995) S. 141–157.
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hat es auch in anderen Kulturen gegeben, in der Spätantike und in Byzanz, in der arabisch-islamischen Welt, in indischen Klosterschulen und bei der Ausbildung chinesischer Mandarine – die Leistungen all 300 dieser Einrichtungen sollen keineswegs verkleinert werden, wenn wir | konstatieren, daß die moderne Universität sich heute überall in der Welt auf jene Traditionen beruft, die in den mittelalterlichen Universitäten ihren Anfang nahmen. Hier ist es nicht unsere Aufgabe, die Entstehung der ersten Universitäten in Bologna, Paris oder Oxford in ihrem langsamen Formationsprozeß zu verfolgen. Am Ende des 12. Jahrhunderts lassen sie sich in den Quellen fassen, im Laufe des 13. Jahrhunderts haben sie dann ihre Organisation und die Formen und Rituale ihres wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens ausgebildet. Dies freilich geschah, bei allen Unterschieden zwischen den sehr weit auseinander liegenden einzelnen Universitäten europaweit in überraschend gleichmäßiger und gleichförmiger Weise. Die Basisstrukturen des akademischen Unterrichts, die wesentlichen Mechanismen der Entscheidungsfindung innerhalb einer Universität waren oder wurden doch sehr rasch einheitlich oder zumindest einander ähnlich. Die mittelalterliche Universität – der Singular ist hier berechtigt, zumindest im idealtypischen Sinn – ist wie die katholische Kirche eine im Abendland universell auffindbare Erscheinung, gehört im sonst oft so kleinräumigen lateinischen Mittelalter zu den an lokale und regionale Grenzen prinzipiell nicht exklusiv gebundenen Institutionen, wirkte und war „entgrenzend“ bereits durch ihre bloße Existenz. Der Begriff „Universität“ wird mit vollem Recht auch auf jene Hochschulen Europas angewandt, die sich den soeben genannten Universitäten von Bologna, Paris und Oxford schon im 13. Jahrhundert nacheifernd anschlossen. Die Institution der Universität wurde zu einem „Modell“, zu einem Typus, dem einzelne Hochschulen nicht nur nachstreben konnten, sondern den man auch insgesamt durch einen willkürlichen Akt, einen Gründungsbeschluß ins Werk setzen konnte. Die Universitäten des späteren Mittelalters sind nicht mehr wie ihre älteren Vorgänger allmählich gewachsen, sie verdanken ihre Existenz allesamt ohne Ausnahme einem willentlichen Gründungsakt, der bewußten Aktualisierung des Modells „Universität“ für einen bestimmten Ort5. 5 Dazu grundlegend bereits Heinrich Denifle, Die Entstehung der Universitäten des Mittelalters bis 1400 (1Berlin 1885, Nachdr. Graz 1956).
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Das römische Reich des Mittelalters hat in seinem regnum Teutonicum, d.h. in dem ausgedehnten und volkreichen deutschen Teilreich nördlich der Alpen bis weit in das Spätmittelalter hinein keine Universitäten gekannt. Prozesse spontaner Bildung von Generalstudien analog zu den Vorbildern in Paris, Oxford oder Bologna kamen nur dann und wann, z.B. in Erfurt im 13. Jahrhundert6, in Gang, führten aber niemals, oder nicht rechtzeitig zu einem stabilen Erfolg. Gründungsversuche, wie sie anderwärts in Europa seit dem 13. Jahrhundert zu registrieren sind, gab es von seiten der deutschen Herrscher, der römischen Kaiser und Könige, in dieser Zeit gar nicht, von anderen Fürsten ist nur die ganz tastende und rasch wieder versandete Absicht des Königs von Böhmen Wenzel an der Wende zum 14. Jahrhundert zu nennen, in Prag eine Universität einzurichten7. Die Konkurrenzgründungen der Bettelorden, die seit dem 13. Jahrhundert | 301 neben und unabhängig von dem äußerst weitmaschigen Netz der europäischen Universitäten ein eigenes System von mendikantischen Studieneinrichtungen über ganz Europa hin ausspannten8, haben Deutschland gewiß keineswegs ausgespart: etwa in Köln, in Magdeburg, in Straßburg, in Wien sind blühende Unterrichtsstätten entstanden. Zu Universitäten sind alle diese Ansätze aber erst sehr viel später – und nicht ohne eigenen Gründungsakt – geworden. Die Gründe für diese Entwicklungsverzögerung in Deutschland sind oft erörtert und niemals wirklich erklärt worden. Die hier angestellte Betrachtung beansprucht keinesfalls, in diese dunkle Frage Licht zu bringen. Wir wollen bescheidener nach einigen Voraussetzungen fragen, die für die ersten Gründungen im deutschen Reich nördlich der Alpen maßgeblich waren. Dabei wollen wir vergleichend 6 Dazu im einzelnen besonders Sönke Lorenz, Studium generale Erfordense. Zum Erfurter Schulleben im 13. und 14. Jahrhundert (= Monographien zur Geschichte des Mittelalters 34, Stuttgart 1989). Auch Peter Moraw, Die ältere Universität Erfurt im Rahmen der deutschen und europäischen Hochschulgeschichte, in: Erfurt, Geschichte und Gegenwart, hg. von Ulrich Weiss (= Schriften des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 2, Weimar 1995) S. 189–205. 7 Vgl. bereits Denifle, Entstehung [wie Anm. 5] S. 585 f. 8 Vgl. nur Dieter Berg, Armut und Wissenschaft, Beiträge zur Geschichte des Studienwesens der Bettelorden im 13. Jahrhundert (= Geschichte und Gesellschaft. Bochumer historische Studien 15, Düsseldorf 1977); Le scuole degli Ordini Mendicanti, secoli XIII–XIV (= Convegni del Centro di Studi sulla Spritualità Medievale 17, Todi 1978); zu den süddeutschen Franziskanerstudien zusammenfassend William J. Courtenay, The Franciscan studia in Southern Germany in the XIVth Century, in: Gesellschaftsgeschichte. Festschrift für Karl Bosl zum 80. Geb., hg. von Ferdinand Seibt (München 1988) S. 81–90.
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nach den Gründungsvorgängen in Prag und Heidelberg fragen, wobei wir unsere Aufmerksamkeit stärker auf die Gemeinsamkeiten als auf die je eigenen Bedingungen richten. Die erste erfolgreiche Begründung einer Universität in Deutschland erfolgte erst kurz vor der Mitte des 14. Jahrhunderts. Unter politisch und militärisch dramatischen Umständen hat Karl IV., kaum war er gegen den Wittelsbacher Ludwig den Bayern in Rhense am 11. Juli 1346 zum „rex Romanorum“ gewählt worden, seine intensiven Verhandlungen mit der Kurie Papst Clemens’ VI. in Avignon dazu benutzt, neben den hochpolitischen Fragen der Approbation seiner Wahl und der Durchsetzung seiner Herrschaft in Deutschland auch weiterhin für sein Königreich Böhmen und die Stadt Prag zu sorgen, denen er, schon im Vorfeld seiner Erhebung zum deutschen Gegenkönig, 1344 die Umwandlung der Diözese Prag zu einem eigenen Erzbistum erhandelt hatte9. Wenig mehr als ein Jahr nach seiner Wahl durch die Kurfürsten, mitten in dem Bürgerkrieg um die Krone eines römischen Königs mit Ludwig dem Bayern, der sich keineswegs schlagartig zugunsten des Luxemburgers anließ, am 26. Januar 1347 ist eine feierliche päpstliche Bulle datiert, in welcher Papst Clemens VI. seinem Schützling die Gründung eines „studium generale“ in Prag erlaubt, wo bisher nur eine Partikularschule existiert habe10. Wir wollen darauf verzichten, hier die genaue Bedeutung solcher päpstlichen „Gründungsbullen“ im einzelnen zu erwägen. Wir halten 302 nur so viel fest, daß der Papst | hier einen von Kanzlei- und Formelgut geprägten Text an den „rex Romanorum“ sandte, in dem er konstatierte, daß für alle künftige Zeiten in Prag ein „Generalstudium“ lebenskräftig bestehen solle, wobei als wichtigste Bestimmung darüber hinaus die Verteilung eines allgemein anerkannten „titulus magistralis“ geregelt wird, einer allgemeingültigen Doktorpromotion an diesem neuen Studium (nach einem entsprechenden „examen“ durch 9 Die Errichtungsbulle Clemens’ VI. vom 3. April 1344, in: Monumenta Vaticana res gestas Bohemicas illustrantia, tomus I: Acta Clementis VI., 1342–1352, ed. Ladislaus Klicman (Prag 1903) nr. 363, S. 209–211. Ernennung des dortigen Bischofs zum Erzbischof, ebd. nr. 364, S. 211–214. 10 Ed. Karolus Zeumer/Richardus Salomon, in: MGH Const. 8 (Hannover 1910–1926, Nachdr. 1982) nr. 161 S. 245 f.; vgl. auch den Abdruck in: Frank Rexroth, Deutsche Universitätsstiftungen von Prag bis Köln. Die Intentionen des Stifters und die Wege und Chancen ihrer Verwirklichung im spätmittelalterlichen deutschen Territorialstaat (= Archiv für Kulturgeschichte, Beiheft 34, Köln, Weimar und Wien 1992) S. 64–66, der die Vorlagen umfangreicher nachweist.
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die Doktoren des Studiums) sowie die Verleihung der licentia docendi durch den vom Papst zu diesem Zwecke zum „Kanzler“ der Universität bestimmten Prager Erzbischof 11. Mit dieser päpstlichen Urkunde war die Prager Universität noch keineswegs gegründet – kein Wort verlautet in dieser Bulle über all die anderen Fragen, die für eine künftige Universität von Interesse, ja von fundamentaler Bedeutung sein mußten, nichts hören wir über die wirtschaftliche Fundierung, über den genaueren Rechtsstatus und Gerichtsstand der Universitätsangehörigen usw., allein die Gültigkeit des Studienabschlusses und die Vergleichbarkeit der zu einem solchen Studienabschluß führenden Verfahren mit dem an anderen, hier freilich nicht eigens mehr genannten Hochschulen ist festgehalten. Es werden demnach Studienstandards bestätigt und festgesetzt, die der neuen Gründung die Anerkennung im Kreis der europäischen Universitäten sichern sollten. Das päpstliche Schreiben ist nicht der Akt der Gründung selbst, es ermöglicht vielmehr eine solche Gründung und gibt dem Plan von vorneherein formell jene Anerkennung ihrer Abschlüsse, die sich die älteren Universitäten allererst in einem langen Prozeß „ex consuetudine“ hatten erwerben müssen. Erst mehr als ein volles Jahr später hat dann Karl IV., nachdem zu seinem Glück sein Widersacher Ludwig der Bayer plötzlich verstorben war und er durch eine überlegene Diplomatie alle Versuche der Wittelsbacher Partei durchkreuzt hatte, einem wittelsbachisch gestützten Nachfolger zum Erfolg zu verhelfen, erst jetzt hat der König die Bemühungen um eine Universität in Prag fortgesetzt. Er stellte am 7. April 1348 in Prag ein großes Privileg in doppelter Ausfertigung (für die künftige Universität und für das Domkapitel)
11 Die Dispositio der Urkunde sagt, a. a. O. S. 246,13 ff. [wie vorige Anm.]: . . . statuimus, ut in dicta civitate Pragensi perpetuis futuris temporibus generale studium vigeat in qualibet licita facultate, et quod legentes et studentes ibidem omnibus privilegiis libertatibus ac immunitatibus concessis doctoribus legentibus et studentibus commorantibus in studio generali gaudeant et utantur, quodque illi qui processu temporis sciencie margaritam fuerint in illa facultate, in qua studuerint, assecuti sibique docendi licentiam, ut alios erudire valeant, ac magisterii honorem seu titulum pecierint impartiri, per magistros seu magistrum illius facultatis, in qua examinacio fuerit facienda, . . . archiepiscopo Pragensi, qui est pro tempore, presententur idem quoque archiepiscopus doctoribus et magistris in eadem facultate inibi actu regentibus convocatis illos in hiis, que in promovendis ad doctoratus seu magisterii honorem requiruntur, per se vel alium iuxta modum et consuetudinem, que super talibus in generalibus studiis observantur, examinare studeat diligenter eisque, si ad hoc sufficientes et idonei reperti fuerint huiusmodi licentiam tribuat ac honorem seu titulum conferat magistralem. (Es folgt noch die Festlegung, daß diese Promotion überall gültig sein soll.)
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aus12, das die Universität nun endgültig begründete: der König erklärte, 303 er | wolle ein Generalstudium neu errichten ( „de novo creare“ ) und stellte alle Doktoren, Magister und Scholaren für die Zeit ihrer Anund Abreise sowie ihres Verweilens an der Universität unter seinen besonderen Schutz. Auch verlieh er ihnen alle (hier nicht noch einmal einzeln aufgeführte) „Privilegien, Rechte und Freiheiten“, die Doktoren und Studenten dank königlicher Privilegierung an den Universitäten von Paris und Bologna genössen13. Damit waren alle Rechtsakte vollzogen, die zur Universitätsgründung gehörten. Man sieht, beide Urkunden, die päpstliche wie die königliche, blieben relativ pauschal. Auch in ihren Formulierungen wollten sie keineswegs originell sein. Schon das päpstliche Generalstudienprivileg hielt sich an in der päpstlichen Kurie vorhandene Mustervorlagen14, und die königliche Rechtsverbriefung hielt sich an Vorbilder, die freilich damals schon altehrwürdig waren. Wahrscheinlich hatte man sie aus dem weitverbreiteten Briefbuch des Petrus de Vinea bezogen, sich also an ein übliches Stilmuster gehalten. Jedenfalls wurden hier, wie schon vor mehr als 100 Jahren Heinrich Denifle konstatierte15, Formulierungen von drei Urkunden zum Vorbild genommen, das Gründungsprivileg, das der staufische Kaiser Friedrich II. 1224 für Neapel erlassen hatte, sowie zwei weitere Urkunden, die Friedrichs II. Sohn Konrad IV. als König von Sizilien 1252 und 1253 dem Studium in Salerno gewährt hatte. Diese enge Orientierung an teilweise lange zurückliegenden Stilmustern ist keineswegs ein bloßer Notbehelf, aus den ungewöhnli-
12 Ed. nach dem Original im Universitätsarchiv (das seit 1945 verschollen ist) in: MGH Const. 8 nr. 568, S. 580 f.; eine Transkription nach der Ausfertigung im Archiv des Metropolitankapitels jetzt durch Michal Svato“, in: Charters of Foundation and Early Documents of the Universities of the Coimbra-Group, edd. Jos. M. M. Hermans/Marc Nelissen (Groningen 1994) S. 99 f. (vgl. die – lesbare – Abb., ebd. S. 33). 13 A. a. O. [vorige Anm.]: . . . in nostra Pragensi metropolitica et amenissima civitate (. . .) instituendum ordinandum et de novo creandum (. . .) duximus studium generale (. . .) firmam fiduciam singulis oblaturi, quod privilegia, immunitates et libertates omnes, quibus tam in Parisiensi quam Bononiensi studiis doctores et scolares auctoritate regia uti gaudere sunt soliti, omnibus et singulis illuc accedere volentibus libenter impertimur et faciemus ab omnibus et singulis inviolabiliter observari. 14 Dazu im einzelnen die Nachweise bei Rexroth, Universitätsstiftungen [wie Anm. 10] S. 64 ff. 15 Denifle, Entstehung [wie Anm. 5] S. 586 f.; Rexroth, Universitätsstiftungen [wie Anm. 10] S. 75 ff.
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chen Anforderungen eines seltenen, ja bis dahin in Böhmen noch kaum vorgekommenen Privilegientyps zu erklären. Vielmehr kam es bei dem Plan des Herrschers ja zunächst vor allem darauf an, eine „richtige“ Universität auf die Beine zu stellen, ein wirklich funktionierendes Generalstudium. Weit weniger wichtig war die Ausmalung spezifischer Details oder eigenwilliger Vorstellungen, für die auch weder der Herrscher selbst, noch seine Berater damals ausreichend Zeit gehabt haben dürften. Freilich war der Generalplan, nach dem die Gründung der Prager Universität vorgenommen worden war, so allgemein gehalten, daß er die Entwicklung der jungen Einrichtung nicht endgültig zu determinieren vermochte16. Allein die Anknüpfung an die | beiden aus- 304 drücklich genannten Vorbilder Paris und Bologna gleichermaßen war alles andere als eindeutig, unterschied sich doch die Verfassung beider Hochschulen nicht unbeträchtlich, wenn auch eine funktionale Analyse ihrer wichtigen Institutionen zeigen kann, daß die Bologneser Studentenuniversität und die Pariser Magisteruniversität näher beieinander lagen, als es heute häufig zugestanden wird17. Ob mit diesem problematischen Verweis auf zwei verschiedene Vorbilder18 wirklich der Herrscher der von ihm begründeten Hochschule die Freiheit der Entscheidung im Einzelfall einräumen wollte, sich nach eigener Wahl einmal nach dem einen und ein andermal nach dem anderen Modell zu orientieren, bleibe dahingestellt. Faktisch hat diese zweideutige Bestimmung jedenfalls sehr bald zu großen Friktionen in der neuen Universität geführt, die sich in Spannungen und Kämpfen, besonders zwischen den – an Bologna orientierten – Juristen und den – an Paris Maß nehmenden – übrigen Fakultäten aufluden und schließlich 1372, noch zu Lebzeiten Karls IV. also,
16 Knapper moderner Überblick bei Peter Moraw, Die Universität Prag im Mittelalter, Grundzüge ihrer Geschichte im europäischen Zusammenhang, in: Die Universität zu Prag (= Schriften der Sudetendeutschen Akademie der Wissenschaften und Künste 7, München 1986) S. 10–134. Vgl. auch P. Moraw, Die Prager Universitäten des Mittelalters, in: Spannungen und Widersprüche. Gedenkschrift für Franti“ek Graus, hg. von S. Burghartz u.a. (Sigmaringen 1992) S. 109–123. Ausführlich auch Renate Dix, Frühgeschichte der Prager Universität. Gründung, Aufbau und Organisation, 1348–1409 (Phil. Diss. Bonn 1988); zu den Gründungsvorgängen selbst: S. 87–113. 17 Dazu etwa Arno Seiffert, Studium als soziales System, in: Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters, hg. von Johannes Fried (= Vorträge und Forschungen 30, Sigmaringen 1986) S. 601–619. 18 Rexroth, Universitätsstiftungen [wie Anm. 10] S. 78.
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zur endgültigen Spaltung der Prager Hochschule in zwei Universitäten geführt haben, die von da an nebeneinander her lebten19. Die Universität Prag war von Karl IV. ausdrücklich in seiner Doppeleigenschaft als „Romanorum rex semper Augustus et Boemiae rex“ gegründet worden, so wie der Stauferkaiser Friedrich II. die Universität Neapel als „imperator Romanorum (. . .) et Sicilie rex“ gegründet hatte20. Der Luxemburger Herrscher hatte also die offenbar nach seiner Auffassung im Interesse Böhmens liegende Entscheidung zur Universitätsgründung wie selbstverständlich auch durch die besondere Kompetenz abgestützt, die ein „König der Römer“ als künftiger Kaiser und damit als „princeps“ und Gesetzgeber im Sinne des Römischen Rechts besaß21. Es geht nicht an, heute zwischen beiden Kom305 petenzen | säuberlich unterscheiden zu wollen. Karl trat dem Adel seines Landes, der seinen p®emyslidischen Vorgänger Wenzel II. um 1294 herum an einem Universitätsplan für Prag gehindert zu haben scheint22 und der Karl IV. selbst noch den Erlaß eines neuen Landrechts in der Carolina 1355 unmöglich machen sollte23, sogleich
19 Eindringlich dazu Peter Moraw, Die Juristenuniversität in Prag (1372–1419), verfassungs- und sozialgeschichtlich betrachtet, in: Schulen und Studium im sozialen Wandel [wie Anm. 17] S. 439–486. 20 Das ist übersehen worden von Roderich Schmidt, Begründung und Bestätigung der Universität Prag durch Karl IV. und die kaiserliche Privilegierung von Generalstudien (in: BDLG 114, 1978) S. 695–719, hier S. 698; vgl. dagegen die Intitulatio der königlichen Gründungsurkunden von Prag [wie oben Anm. 12]: Karolus Dei gratia Romanorum rex semper augustus et Bohemie rex, und Neapel, bei J.-L.-A. HuillardBréholles, Historia diplomatica Friderici secundi, 6 Bde. (Paris 1852–1861), hier Bd. 2 I (1852) S. 450 nr. III von 1224: Fredericus Dei gratia Romanorum imperator et semper augustus, Jerusalem et Sicilie rex. 21 Rexroth, Universitätsstiftungen [Anm. 10] S. 86 hat erneut darauf aufmerksam gemacht, daß Karls Privileg im Zusammenhang mit einer ganzen Reihe anderer Privilegien für Böhmen steht, die unter dem gleichen Datum – und mit derselben Intitulatio – ergangen sind (vgl. Const. 8 nrr. 557–567, S. 562–580). Rexroth spricht (im Anschluß an Denifle und an die landesgeschichtliche Forschung) zu Recht von einem „(General-)Landtag“, auf dem der König seinem Adel gegenübergetreten sei. Jedenfalls hat dieser seine gesetzgeberische Kompetenz hier, wie auch später bei dem Versuch zum Erlaß der berühmten Maiestas Carolina (1355, vgl. dazu unten Anm. 23) stets auf seine Würde als Romanorum rex, bzw. Romanorum imperator, gestützt. 22 Dazu zuletzt Rexroth, Universitätsstiftungen [wie Anm. 10] S. 83. 23 Jetzt ed. Bernd-Ulrich Hergemöller, Maiestas Carolina. Der Kodifikationsversuch Karls IV. für das Königreich Böhmen von 1355 (= Veröff. des Collegium Carolinum 74, München 1995) mit eingehender Einleitung und Bibliographie. Dazu bes. etwa Armin Wolf, Gesetzgebung in Europa (München 1996) S. 278–280. P. Putzer (in: HRG 3, 1984) Sp. 176 f. – hier war ihm übrigens wenig früher sein Gegenspieler, der Wittelsbacher Ludwig der Bayer in seinem „Oberbayerischen Landrecht“ von 1346 (eine erste Fassung von 1335 ist verloren) erfolgreicher vorangegangen; Text
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im Harnisch seiner „römischen“ Herrscherwürde gegenüber: Auch in seiner weiteren Rechtsbestätigung für seine Gründung, dem Eisenacher Privileg vom 14. Januar 1349, wird er dieselbe doppelte Intitulation als Römischer und böhmischer König gebrauchen24, um nun auch noch ausdrücklich alle denkbaren Privilegien seiner eigenen Gründung zu bestätigen, auch die vom Papst gewährte Stellung als „studium generale“, wobei er dann erneut der Neugründung und ihren Angehörigen pauschal alle Vorrechte zugewiesen hat, die andere Universitäten von Römischen Kaisern und Römischen Königen erhalten hatten. Es ist keineswegs am Platz, in diesem Regen von Begünstigungen etwa den Willen zu erblicken, der Gründung eine besondere Rolle im Reich zuzuweisen, gar so etwas wie eine erste „Reichsuniversität“ (im emphatischen Sinne) ins Leben zu rufen25. Das wäre eine ganz anachronistische Vorstellung. Ganz zwanglos wird man in der wiederholten Privilegierung die konstante Absicht erkennen dürfen, die neue Hochschule wirklich von vorneherein mit allen guten Ausgangschancen zu versehen, die nur erdenkbar waren, und ausdrücklich den Geltungsbereich des königlichen Schutzes, der zunächst nur für das Königreich Böhmen gewährt worden war, nun auch für das gesamte Reich des Römischen Königs einzuräumen. All das wird nicht besonders spezifisch umschrieben, sondern nur ganz allgemein verfügt. Der König gewährte seine Gnade gewissermaßen, ohne daß er oder die königliche Kanzlei ein allzu deutliches Bild davon besessen hätten, was eine Universität war und was sie im einzelnen brauchte. | 306 Die Prager Universität kam keineswegs sofort mit den in sich selbst langgestreckten Gründungsakten in eine volle Lebenswirklichkeit:
in: Maximilian Frhr. von Freyberg, Sammlung historischer Schriften und Urkunden, geschöpft aus Handschriften, Bd. 4 (Stuttgart und Tübingen 1834) S. 381–500, hier S. 381; dazu etwa Wolf [wie eben] S. 123; Walter Jaroschka, Das oberbayerische Landrecht Kaiser Ludwigs des Bayern, in: Die Zeit der frühen Herzöge, hg. von Hubert Glaser (= Wittelsbach und Bayern 1 I, München und Zürich 1980) S. 379–387; Heinz Lieberich, Oberbayerisches Landrecht (in: HRG 3, 1984) Sp. 1129–1133; zuletzt W. Jaroschka, Ludwig der Bayer als Landesgesetzgeber (in: ZBLG 60, 1997) S. 135–142. Auch dieses (von vorneherein nur für Oberbayern geltende) Gesetzbuch ist mit kaiserlicher Gesetzgebungsvollmacht begründet. 24 Ed. (nach dem Original) durch Anton Blaschka, Das Eisenacher Diplom als Kunstwerk, in: Prager Festgabe für Theodor Mayer, hg. von Rudolf Schreiber (= Forschungen zur Geschichte und Landeskunde der Sudetenländer 1, Freilassing und Salzburg 1953) S. 3–14, hier S. 6. – Regest in: MGH Const. 9 I (ed. Margarete Kühn, Weimar 1983) nr. 125, S. 84 f. 25 Dazu vgl. auch die Nachweise und Bemerkungen von Rexroth, Universitätsstiftungen [wie Anm. 10] S. 56 ff.
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anscheinend begann der Unterricht sehr bald, wohl auf der Grundlage der vorhandenen schulischen Einrichtungen. Wir haben damit zu rechnen, daß an der Hochschule seit 1347 unterrichtet worden ist, jedoch dürfen wir kaum vor den 60er Jahren einen intensiveren Lehrbetrieb vermuten. Eine erste Graduierung ist für 1359 bezeugt, seit 1367 sind einigermaßen kontinuierliche Daten zu den Examina und Graduierungen vorhanden26. So müssen und dürfen wir mit einer sehr allmählichen Konsolidierung der Universität rechnen, einem Prozeß, an dem sich Karl IV. selbst verschiedentlich mit neuen Gunstbezeugungen und Rechtsverbriefungen beteiligt hat, insbesondere 1366 durch die Errichtung des Collegium Carolinum, einer Stiftung für Artistenmagister und Theologen, die für die wirtschaftliche Sicherung der Professoren einen wichtigen Schritt vorwärts bedeutete27. All das freilich schloß Konflikte innerhalb der Universität nicht aus. Das Füllhorn der nach dem Prinzip der Meistbegünstigungsklausel über der jungen Universität ausgeschütteten Freiheiten und Privilegien bot keine sichere Handhabe, konnten sich unterschiedliche Parteien doch nicht nur auf ihre unterschiedlichen Interessen, sondern auch auf sehr unterschiedliche fremde Modelle und Regelungen berufen. Durch erzbischöfliche „Ordinaciones“ (1360), die einen Ausgleich bei der Rektorwahl erreichen wollten28, durch Universitätsstatuten (wohl von 1368), die ein erstes Gerüst einzogen29, schließlich durch die – vom Kaiser 1372 gebilligte – Teilung des Prager Studiums in zwei Personenkörperschaften, zwei universitates, die Juristenuniversität und die sog. Dreifakultätenuniversität der übriggebliebenen Artisten, Theologen und der damals noch relativ kleinen Zahl der Mediziner30, markiert die weiteren Stufen der Entwicklung, der wir uns hier aber nicht im Detail zuwenden wollen. Es hat sich gezeigt, daß die „Gründung“ einer Universität wohl den ursprünglich langwierigen Prozeß der Selbstbehauptung und all-
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Vgl. Michal Svato“, in: Charters [wie Anm. 12] S. 32a; auch Moraw, Grundzüge [wie Anm. 16] S. 26 ff. 27 Vgl. dazu im einzelnen Moraw, Juristenuniversität [wie Anm. 19] S. 445–449; auch Dix [wie Anm. 16] S. 283–310. 28 Gedruckt in: Monumenta historica universitatis Carolo-Ferdinandeae Pragensis Bd. 1–3 (Prag 1830–1849) [künftig: MUP], hier Bd. 2, S. 229 ff., sowie: Codex iuris Bohemici, tomus 2 III, ed. H. Jire‘ek (Prag 1889) S. 258 f. 29 Codex iuris Bohemici 2 III [wie Anm. 28] S. 266–281. 30 Moraw, Grundzüge [wie Anm. 16] S. 106 f.
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gemeinen Durchsetzung der Universität sozusagen formalisieren konnte und damit durch abstrakte Vorwegnahme ungemein erleichterte, daß aber angesichts der breiteren Palette von Regelungsmöglichkeiten im einzelnen, die verschiedene historisch gewachsene Vorbilder abzugeben vermochten, der Entwicklung keine hinreichend bindende Richtschnur vorgegeben war, und daß der neu „gegründeten“ Hochschule ein eigener Weg nicht erspart geblieben ist. Wir werden aber zu beobachten haben, daß auch ein hiervon unterschiedener Weg, daß auch ein eindeutig festgesetztes Vorbild, das gewissermaßen restlos nachgeahmt werden sollte, bei seiner Applikation auf eine Neugründung dieses Problem nicht grundsätzlich beheben konnte. | 307 Rund 40 Jahre nach der Gründung von Prag wurde in Heidelberg eine Universität errichtet, die diese naheliegende Vermutung nur zu deutlich bestätigt. Die Ausgangslage allerdings war grundverschieden. Es war nicht ein römischer König oder Kaiser, der den Gründungsbeschluß faßte und durchführte, es war ein deutscher Reichsfürst, der Pfalzgraf bei Rhein, der freilich als Kurfürst spätestens seit der „Goldenen Bulle“ Karls IV. seine Stellung in der Reichsverfassung gleichsam offiziell anerkannt fand. Ruprecht I. war nicht der erste Reichsfürst, der dem Vorbild Karls IV. nacheiferte. Schon 1365 hatte der Habsburger Rudolf IV. („der Stifter“) in Wien einen ersten Anlauf genommen, der deutlich vom Prager Vorbild mitbestimmt war. Nach seinem plötzlichen und frühen Tod (im gleichen Jahr 1365) aber hatte in den Kämpfen um die Herrschaft in Österreich dieses „studium“ nur ein schwaches, nach außen hin von dem früheren Schulbetrieb an St. Stephan kaum unterscheidbares Leben gewonnen. Es bedurfte nach der Entscheidung des Bruderkrieges eines neuen Ansatzes durch Herzog Albrecht III., der 1383 durch eine weitere Urkunde die Wiener Universität endgültig entstehen ließ31. War es dieses Beispiel, das dem Wittelsbacher Pfalzgrafen den Entschluß zur Universitätsgründung erleichterte? Das ganze 14. Jahrhundert hindurch haben die Familien der Luxemburger, Habsburger und Wittelsbacher um die deutsche Herrscherwürde gerungen32. Da wurden die Aktivitäten jeweils gegenseitig scharfäugig
31 Zur Frühgeschichte Wiens zusammenfassend Rexroth, Universitätsstiftungen [wie Anm. 10] S. 108–146. 32 Alois Gerlich, Habsburg – Luxemburg – Wittelsbach im Kampf um die deutsche Königskrone (Wiesbaden 1960).
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beobachtet. Nicht ohne weiteres wollte man dem anderen in wichtigen Fragen den Vortritt lassen. Aber auch anderwärts, außerhalb der Grenzen Deutschlands hatten sich Versuche gezeigt, – eine eigene Universität aufzurichten. Schon ein Jahr vor dem ersten Wiener Versuch (1364) hatte der polnische König Kasimir der Große ein eigenes Studium nach den italienischen Vorbildern von Bologna und Padua in Krakau zu errichten versucht. Auch hier freilich ist es mehr als zweifelhaft, wie weit sich ein stabiles Universitätsleben an diesem Orte vor einem – auch hier wieder durch eine eigene Urkunde verbrieften – Neuordnungsansatz (1400) wirklich breit entfalten konnte33. Jedenfalls hat auch der Wittelsbacher Kurfürst, es muß um die Mitte der 80er Jahre des 14. Jahrhunderts gewesen sein, den Plan gefaßt – oder sich zu diesem Vorhaben überreden lassen – in Heidelberg ebenfalls eine Universität zu gründen. Über die Motive wird uns außer allerallgemeinsten Hinweisen nichts gesagt. Jedenfalls scheint es nicht primär der Wunsch nach qualifiziertem Personal für die eigene Landesverwaltung gewesen zu sein, denn Universitätsabgänger werden in der Kurpfalz in einem nennenswerten Umfang erst frühestens volle 50 Jahre später in der 308 Territorial- | administration greifbar34. An derartig lange Vorlaufzeiten politischer Planung wird man gewiß auch und gerade für das Spätmittelalter nicht denken, dürfen. Es war wohl auch nicht ausschließlich ein reines Prestigedenken, das den Wittelsbacher in einen edlen Wettstreit mit dem Luxemburger und dem Habsburger in Prag und Wien hineinsteigerte, auch wenn in einer Adelsgesellschaft die Gesichtspunkte von Prestige und Ehre niemals völlig fehlen. Wenn wir den wenigen Selbstaussagen der Urkunden glauben dürfen, so scheint es vor allem der gewaltige Erfolg gewesen zu sein, den die alten Universitäten wie Paris und Bologna sichtbar errungen hatten: man wollte solche Vorzüge im eigenen Land genießen, traute optimistisch der Wissenschaft und ihren Wirkungen Erfreuliches zu, so wie es die 33 Bereits Hastings Rashdall, The Universities of Europe in the Middle Ages, New Edition (in 3 Bdn.) by Frederick Maurice Powicke and Alfred Brotherstone Emden (Oxford 1936 u.ö.), hier Bd. 2 S. 289 f. Vgl. jetzt vor allem Peter Moraw, Die Hohe Schule in Krakau und das europäische Universitätssystem um 1400, in: Studien zum 15. Jahrhundert. Festschrift für Erich Meuthen, hg. von Johannes Helmrath u.a. (München 1994) Bd. 1 S. 521–539. 34 Das hat schlagend an den Juristen gezeigt Dietmar Willoweit, Das juristische Studium in Heidelberg und die Lizentiaten der Juristenfakultät von 1386 bis 1436, in: Semper apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, 1386–1986, Festschrift, hg. von Wilhelm Doerr (Berlin usw. 1985) Bd. 1, S. 85–135.
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päpstliche Gründungsbulle für Prag formulierte, wo es hieß, die Neugründung berechtigte zur Hoffnung, daß das Königreich „wie Silber und Gold so auch die Erzadern wichtiger Wissenschaft enthalten werde und Männer von Tugend und Wissen hervorbringe“ 35, oder um das etwas ausführlichere Formular der späteren Papsturkunde für Heidelberg zu zitieren, in der Absicht, „daß der Glaube verbreitet, den Einfältigen Bildung zuteil, im Gericht Gerechtigkeit gewahrt werde, daß die Vernunft erstarke und Geist und Sinn der Menschen aufgeklärt und erleuchtet würden“ 36. Die Gründungsurkunden der Fürsten stimmen mit in diesen Chor ein, der belegen kann, daß man hoffte, die segensreichen Folgen der scholastischen Wissenschaft auch dem täglichen Leben des eigenen Landes zugute kommen lassen zu können37. In Heidelberg wurde der Universitätsgründungsplan mit Verve in die Tat umgesetzt38, wenn hier die Verhältnisse auch ungleich schwieriger waren als in Prag | beim Regierungsantritt Karls IV. Anders als 309 Prag, das, in seinen verschiedenen Teilen zusammengenommen, eine aufstrebende Großstadt von bald über 30000 Einwohnern war, zählte Heidelberg, soeben erst durch den Kurfürsten zur dauerhaften Residenz erwählt, damals kaum mehr als viertausend Bewohner. Dem ganzen Kranz kirchlicher Einrichtungen, Klöster und Stifte Prags hatte das
35 MGH Const. 8 [Anm. 10] nr. 161, S. 246: . . . ut regnum ipsum, quod divina bonitas multitudine populi rerumque copia predotavit, fiat litterarum fertilitate fecundum ac in eo, quemadmodum auri et argenti fore dinoscitur, sic scienciarum prevalentium sit minera, ut viros producat consilii maturitate conspicuos, virtutum redimitos ornatibus ac diversarum facultatum dogmatibus eruditos, sitque ibi fons iriguus, de cuius plenitudine hauriant universi litteralibus cupientes imbui documentis . . . 36 Urkundenbuch der Universität Heidelberg, hg. von Eduard Winkelmann (Heidelberg 1886) Bd. 1, nr. 2, S. 3 f.; auch als Transkription durch Jürgen Miethke in: Charters [wie Anm. 12] S. 99 f., vgl. hier: . . . ut ibidem fides ipsa dilatetur, erudiantur simplices, equitas servetur iudicii, vigeat ratio, illuminentur mentes et intellectus hominum illustrentur . . . (Diese Formulierungen kehren in den folgenden Papstprivilegien für Universitätsgründungen fast unverändert wieder.) 37 Ausführlicher dazu auch Jürgen Miethke, Die mittelalterliche Universität in der Gesellschaft, in: Erfurt, Geschichte und Gegenwart [wie Anm. 6] S. 169–188. 38 Dazu Eike Wolgast, Die Universität Heidelberg, 1386–1986 (Berlin und Heidelberg etc. 1986) S. 1–23; Meinrad Schaab, Geschichte der Kurpfalz 1: Mittelalter (Stuttgart 1988) S. 120 ff.; Rexroth, Universitätsstiftungen [Anm. 10] S. 173–226; vgl. auch Jürgen Miethke, Universitätsgründung an der Wende zum 15. Jahrhundert. Heidelberg im Zeitalter des Schismas und des Konziliarismus, in: Die Geschichte der Universität Heidelberg (= Studium generale der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Vorträge im Wintersemester 1985/86, Heidelberg 1986) S. 9–33; sowie Ders., Ruprecht I., der Gründer der Universität Heidelberg, in: Die Sechshundertjahrfeier der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, eine Dokumentation, hg. von Eike Wolgast (Heidelberg 1987) S. 147–156.
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Städtchen am Neckar so gut wie nichts entgegenzusetzen. Eine Versorgung der Professoren mit kirchlichen Pfründen mußte später weit außerhalb von Heidelberg, in Speyer, Worms und Neuhausen, Wimpfen und Mosbach geregelt werden39. Absolut nichts ist von irgendeinem vorangegangenen Schulbetrieb in Heidelberg zu hören, auf den die junge Universität sich irgendwie hätte stützen können. Die äußeren Rahmenbedingungen waren für die Neugründung also ungünstig, weit ungünstiger als bei den anderen älteren Konkurrenten Prags Krakau und Wien, ungünstiger auch als wenig später in Erfurt oder Köln, Leipzig oder Löwen. Als entscheidend für das schließliche Gelingen des Plans erwies es sich, daß nicht nur der Kurfürst selbst sich für diese seine Entscheidung, nachdem er sie einmal getroffen hatte, tatkräftig engagiert zeigte und auch dafür zu sorgen wußte, daß seine Erben auf dieses Projekt verpflichtet wurden. Darüber hinaus wird in Heidelberg deutlicher als anderwärts sichtbar, wie wichtig auch damals schon jene Gruppe der Menschen für das Geraten oder Mißlingen des Plans wurde, die für das Funktionieren der Universität Verantwortung übernahmen, die erste Planungsgruppe und die ersten Professoren der Neugründung. Leider lassen die Quellen eine genaue Rekonstruktion nicht zu. Nur soviel ist deutlich, daß der Ausbruch des großen abendländischen Schisma 1378 auf einmal eine ganze Reihe von solchen Experten verfügbar machte, Männer, die das Paris des avignonesischen Papstes aus Überzeugung oder aus wirtschaftlichen Gründen verlassen hatten, weil sie mit ihren Pfründen im Bereich der römischen Obödienz beheimatet waren, und die nun auf neue Aufgaben warteten. Die Reihenfolge der einzelnen Akte und ihr Zusammenspiel wurde in Heidelberg jedenfalls mit großem Geschick, geradezu routiniert orchestriert40. Die päpstliche Gründungserlaubnis, ausgestellt unter dem Datum des 23. Oktober 1385 in Genua von Papst Urban VI., 39 Das geschah durch die Inkorporation der sogenannten Bonifaz-Pfründen, vgl. Winkelmann, Urkundenbuch [wie oben Anm. 36] nr. 46, S. 65–69, jetzt auch in: Acta universitatis Heidelbergensis, Tomus I; simul Acta facultatis iuridicae, tomus I, fasciculus 1 = Die Rektorbücher der Universität Heidelberg 1 I, edidit Jürgen Miethke curantibus Heiner Lutzmann, Hermann Weisert, adlaborantibus Norbert Martin, Thomas Pleier (= Libri actorum Universitatis Heidelbergensis/Die Amtsbücher der Universität Heidelberg, A 1 I, Heidelberg 1986) nr. 63, S. 128–130. 40 Wichtigste Quelle auch für die Chronologie ist außer den Urkunden selbst der bekannte Gründungsbericht, den der Gründungsrektor Marsilius von Inghen in das Rektorbuch der Universität eingetragen hat, ed. in: Winkelmann, Urkundenbuch [wie Anm. 36] nr. 1, S. 1–3, jetzt in: Amtsbücher [wie Anm. 39] nr. 72, S. 146–148.
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langte sieben Monate später, überbracht von einem Mitglied der päpstlichen Kurie, am 24. Juni 1386 in Heidelberg an. Zwei Tage später, am 26. Juni, fiel im kurfürstlichen Rat die endgültige Entscheidung, diese Lizenz auch wahrzunehmen. Bezeichnend genug wurde als erste Aktion, wiederum nach nur drei Tagen, am 29. Juni, | 310 Marsilius von Inghen, ein Artistenmagister der Universität Paris41, als geschworenes Mitglied in die „familia“ des Kurfürsten aufgenommen, „damit er sich wirksam für das Anlaufen der Universität in der ArtesFakultät einsetze“, wie er selber schreibt42, „und daß er uns unsers studium zu Heidelberg ein anheber und regirer und dem furderlich for sin sal“, wie es die pfalzgräfliche Kanzlei etwas weiter ausgreifend formuliert hat43. Ohne Zweifel aber hat Marsilius nicht allein für den großen Plan gewirkt. Schon zuvor müssen andere, deren Namen wir nicht kennen, von denen sich einige aber vermuten lassen, im Interesse der neuen Universität tätig geworden sein, und wenig später wurden vom Kurfürsten auch weitere universitätserfahrene Gründungsmitglieder durch Eidesleistung persönlich verpflichtet und gewiß auch durch Einkünfte an die kurpfälzische Residenzstadt gebunden: ein zweiter Artistenmagister Heylmann Wunnenberg aus Worms44, sowie ein studierter Zisterziensermönch, Reginald von Aulne (in der Diözese Lüttich), von dem durch Marsilius von Inghen selbst ausdrücklich in seinem Bericht festgehalten ist, daß er seinen theologischen Doktorgrad in Paris erworben hatte45, waren die ersten so hinzugewonnenen Mitglieder der neuen Gründung.
41 Zusammenfassend zu seiner Rolle bei der Gründung der Universität Heidelberg Jürgen Miethke, Marsilius von Inghen als Rektor der Universität Heidelberg, in: Ruperto Carola 76 (1987) 110–120; leicht verändert und um weitere Nachweise erweitert auch in: Marsilius of Inghen. Acts of the International Marsilius of Inghen Symposium Organized by the Nijmegen Center for Medieval Studies (CMS), Nijmegen, 18–20 December 1986, edd. Henri A. G. Braakhuis/Maarten J. F. M. Hoenen (= Artistarium, Supplementa 7, Nijmegen 1992) S. 13–37 (vgl. ebendort auch die anderen Beiträge); sowie Rexroth, Universitätsstiftungen [wie Anm. 10] S. 207 ff. 42 Amtsbücher [wie Anm. 39] S. 147,28–32: Fuitque pro tunc receptus magister Marsilius de Inghen canonicus et thesaurarius ecclesie sancti Andree Coloniensis in dicti domini ducis senioris consilium iuratum ac deinceps stipendiis largis dotatus recepit mandatum, ut pro dicti studü inchoacione in facultate arcium operam daret efficacem. 43 Winkelmann, Urkundenbuch [wie Anm. 36] nr. 3, S. 4 f. 44 Amtsbücher [wie Anm. 39] S. 147,32–35: Post quem receptus fuit venerabilis vir magister Heylmannus de Wormacia magister in artibus et baccalarius in sacra pagina, ut eciam idem studium in facultate arcium iuvaret inchoare. 45 Amtsbücher [wie Anm. 39] S. 147,36–40: Item ex post venit Heydelbergam honorabilis et religiosus vir magister Reyginaldus de alna monachus professus in monasterio de Alna
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Der Bericht verschweigt, daß bereits in dieser Dreier-Kerngruppe die Pariser Erfahrungen zwar deutlich überwogen, daß aber Heylmann Wunnenberg aus Worms seine gesamten Universitätserfahrungen der Universität Prag zu verdanken hatte, vom Grad eines Bakkalars (1373) und Magisters der Artes (1376), den er in Prag erreicht hatte, hatte er dort schließlich das Dekanat der Artistenfakultät (1382) und ein Jahr später auch das Amt eines Rektors der Dreifakultäten-Universität bekleidet46. Bei der späteren feierlichen Aufnahme des Lehrbetriebs an der Heidelberger Universität am 18. und 19. Oktober 1386 wird 311 er, als dritter Magister ausdrücklich, wenn auch etwas | abgesetzt, die erste Nachmittagsvorlesung an der Artes-Fakultät zur aristotelischen Physik übernehmen47. Als diese drei Magister vorhanden waren, veranlaßte Marsilius von Inghen, der Gründungsbeauftragte des Kurfürsten, den Pfalzgrafen zur Ausstellung einer Reihe von fünf Urkunden, die am 1. Oktober bereits in wohlabgestufter Reihe die wichtigsten Status- und Rechtsfragen der neuen Gründung festlegten48. Ausdrücklich wird festgehalten, die Heidelberger Universität solle „nach dem Vorbild des Pariser Studiums“ ( „Parisiensis ad instar studii“ ) eingerichtet werden49. Man wollte sich genau an die Pariser Vorgaben halten und ahmte das bewunderte Vorbild damals programmatisch in vielen Einzelheiten nach, die sich später als unnötig oder sogar als störend erwiesen. Unnötig und in Heidelberg nie funktionierend war die Einteilung der Artistenstudenten in vier Nationen, die auch Prag gekannt hatte, die aber in Heidelberg sich wohl mangels Masse schlicht als überflüssig
Leodinensis diocesis Cisterciensis ordinis doctor sacre theologie in universitate Parisiensi, qui per dictum dominum ducem honorifice receptus stipendiis certis est retentus, ut dictum studium iniciaret in facultate theologie. 46 Josef Tri“ka, ¥ivotopisnÿ slovník p®edhusitské pra≥ké univerzity Repertorium biographicum Universitatis Pragensis praehussiticae, 1348–1409 (Prag 1981) S. 137. 47 Amtsbücher [Anm. 39] S. 148,59–64: Et consequenter die crastino, hec est xix die mensis octobris, dictus magister Marsilius summo mane pro facultate arcium, quia illo anno lecturus erat loycam, et post dictus magister Reginaldus hora octava pro sacra theologia lecturus epistolam ad Titum, ac deinceps hora prima post meridiem dictus magister Heylmannus pro eadem facultate arcium lecturus librum physicorum, fecere principia ad honorem dei, beatissime virginis, omnium sanctorum ac tocius curie celestis, et fuit studium inchoatum. 48 Winkelmann, Urkundenbuch [wie Anm. 36] nr. 4–8, S. 5–11 (in anderer Reihenfolge auch in: Amtsbücher [wie Anm. 39] nr. 5–9, S. 33–44), eine zusammenfassende Urkunde in deutscher Sprache in: Urkundenbuch, nr. 9, S. 11–13 (auch in: Amtsbücher, nr. 58, S. 114–117). 49 Urkundenbuch [wie Anm. 36] nr. 5, S. 6,35 f., Amtsbücher [wie Anm. 39] nr. 6, S. 36,16 [„Parisiense“ dort ist fehlerhaft!].
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erwies. Auch die gemeinsame Preisbehörde aus Bürgern und Universitätsangehörigen zur Festsetzung von Mietpreisen, die vom Kurfürsten verfügt wurde, ist offenbar in Heidelberg niemals zusammengetreten. Bis in die Einzelheiten der Verfassung hielten sich Marsilius und seine Mitstreiter zunächst ebenso an das Pariser Vorbild. Als längst schon der Unterrichtsbetrieb aufgenommen worden war, fungierte immer noch der vom Fürsten eingestellte Gründungsbeauftragte als Haupt der neuen Universität, aus keinem anderen Grund als dem, daß in Paris aus historischen Gründen der Rektor von den und aus den Magistern ausschließlich der Artistenfakultät zu wählen war. Bis zum November 1386 aber waren in Heidelberg nur zwei Artistenmagister greifbar, Marsilius und Heylmann. Endlich traf ein dritter Artistenmagister ein, Dietmar Swerthe, ein Altersgenosse Heylmanns, der den Grad eines Bakkalars ebenfalls 1373 in Prag erreicht hatte, um 1375 dort seine Magisterpromotion hinter sich zu bringen – 1381 war Dietmar dem Heylmann als Dekan der Prager Artisten nachgefolgt und hatte dieses Amt auch 1384 noch einmal bekleidet: auch Dietmar also war ein erfahrener Hochschullehrer aus Prag, der in der kleinen Gruppe der ersten Besatzung den Anteil der „Prager“ Fraktion auf 50% zu steigern vermochte: Erst jetzt, da – bei Anwesenheit von drei Artisten – auch eine Artistenfakultät gebildet werden konnte – tres faciunt collegium – wurde, Pariser Usus entsprechend, von den drei Mitgliedern der Artesfakultät Marsilius von Inghen zum ersten Heidelberger Rektor gewählt. Die Gründung der 312 Universität Heidelberg war damit abgeschlossen50. | Während des ersten, etwa vierteljährlichen Rektorats des Marsilius wurden 16 Magister und 165 Scholaren in die Matrikel eingetragen, am Ende des vierten Rektorats (am 16.12.1387), also gut ein Jahr nach der Eröffnung der Hochschule, war die Gesamtzahl der Immatrikulierten auf 579 angestiegen51. Neben einigen Mitgliedern des höheren Klerus der Umgebung, die sich gleichsam ehrenhalber in diese
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Vgl. die Nachweise etwa bei Miethke, Universitätsgründung [wie Anm. 38] S. 19 f. 51 Dazu bereits Berta Scharnke, Über Zusammensetzung und soziale Verhältnisse der Heidelberger Universitätsangehörigen im 15. Jahrhundert (Phil. Diss. Heidelberg 1921 [masch.]); sowie natürlich Gerhard Ritter, Die Heidelberger Universität im Mittelalter (1386–1508). Ein Stück deutscher Geschichte (11936, Nachdr. Heidelberg 1986) S. 71 ff. Zur Sozialgeschichte der Heidelberger Universitätsbesucher jetzt auch Christoph Fuchs, Dives, pauper, nobilis, magister, frater, clericus. Sozialgeschichtliche Untersuchungen über Heidelberger Universitätsbesucher des Spätmittelalters (= Education
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Liste der Universitätsverwandten eingetragen haben, finden sich frühere Universitätserfahrungen allein bei bereits Graduierten in der Matrikel angegeben: 34 Magister und Bakkalare der höheren Fakultäten, sowie 24 weitere Personen, die sich selbst ausdrücklich als Bakkalare bezeichnen, lassen sich hier finden. Von diesen 58 Männern haben sich nicht weniger als 33 ausdrücklich als „Pragenses“ in Heidelberg intitulieren lassen, haben das also dem Rektor bei ihrer Einschreibung offenbar ausdrücklich mitgeteilt, weitere 10 Namen lassen sich auf andere Weise als frühere Prager Universitätsbesucher nachweisen. 1387/88 finden sich dann im zweiten Heidelberger Jahr weitere 10 Prager Magister und Bakkalare in der Universitätsmatrikel52. Von den 15 Rektoren der Heidelberger Universität, die von 1386 bis 1393 ausschließlich aus den Artes-Magistern gewählt werden konnten, kam nur einer, Marsilius von Inghen (mit insgesamt 8 vierteljährlichen Amtsperioden, aus Paris53, 13 dagegen (die sich in 17 Amtsperioden teilten) hatten ihren Grad in Prag erworben54, einer, Franco von Inghen, ein Verwandter des Gründungsrektors Marsilius, hatte seinen Magistergrad offensichtlich in Heidelberg erlangt55 – er war anscheinend das erste „Eigengewächs“, das in Heidelberg in das Amt eines Rektors der Universität gewählt worden ist. Der Prager Anteil scheint damit hoch, höher, als es einer „natürlichen“ Fluktuation zwischen den Universitäten entspräche. Seit mehr als einem Jahrhundert wird in der Forschung daher immer wieder auf einen Konflikt in Prag hingewiesen, der das Motiv für diese verstärkte Abwanderung abgeben könnte, auf den Streit um die Zuweisung der Pfründen am Collegium Carolinum zwischen den deutschen Nationen and Society in the Middle Ages and Renaissance 5, Leiden 1995); zur Entwicklung der regionalen Herkunft im ersten Jahrhundert: S. 6–12. 52 Hier ist zu verweisen auf die sorgfältigen Aufstellungen von Sabine Schumann, Die nationes an den Universitäten Prag, Leipzig und Wien. Ein Beitrag zur älteren Universitätsgeschichte (Phil. Diss. FU Berlin 1974), bes. S. 127 ff., an die ich mich hier halte. 53 Vgl. zu seinen Rektoraten im einzelnen Miethke, Rektor [wie Anm. 41]. 54 Vgl. die jüngste Liste bei Hermann Weisert, Die Rektoren und die Dekane der Ruperto Carola zu Heidelberg, 1386–1985, in: Semper apertus [wie Anm. 34] 4 S. 299–417, hier S. 302 f. 55 Nach dem 22. Juni 1387 wird er unter dem 3. Rektor Johannes de Berswort in Heidelberg immatrikuliert (ohne Nennung eines Grades: vgl. Toepke [unten Anm. 58] 1 S. 21), 1391 wird er als magister Franco de Inghen zum Rektor gewählt (vgl. ebd. S. 51). Ich bin Frau Dr. Dagmar Drüll-Zimmermann, die das Professorenlexikon der Universität Heidelberg bearbeitet, zu herzlichem Dank dafür verpflichtet, daß sie mir bestätigt hat, daß weitere Nachrichten über die Graduierung des Franco von Inghen nicht vorliegen.
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und der | böhmischen Nation im Jahre 1384. Unter Einschaltung 313 des Prager Erzbischofs war diese Auseinandersetzung zwar 1386 mit einem Kompromiß beigelegt worden, angesichts der späteren heftigen Konflikte zwischen den Prager Nationen, die schließlich 1409 zum Kuttenberger Dekret führten – mit allen seinen bekannten Folgen – hat man in den Auseinandersetzungen von 1384 dramatisierend immer wieder die Sturmboten des kommenden Unheils entdecken wollen56. Dazu ist hier nur festzuhalten, daß in der Tat sich in dem Streit von 1384/85 der künftige Konflikt im voraus ankündigte, freilich läßt sich nur schwer seine Wirkung auf die Abwanderungslust von Prager Magistern abschätzen. Zu bedenken bleibt jedenfalls, daß regelmäßig eine neubegründete Universität in den ersten Jahren ihrer Existenz besonders hohe Attraktivität für diejenigen Magister und Scholaren gezeigt hat, die ihrer regionalen Herkunft nach auf den Ort des neuen Studiums hin orientiert waren. Diese Regel bestätigt sich nicht allein bei der Gründung von Heidelberg in Richtung auf Prag, auch die Gründungen der Universitäten in Köln oder Erfurt, die Neubefestigung der Universität in Wien hatten diesen Effekt auf die Prager Universitätsbesucher57. Und dieser Effekt blieb nicht auf Prag beschränkt: Die Gründung der Universität Köln (1387/88) führte noch im November 1388 (zwei Jahre nach dem Beginn in Heidelberg) zu einer für die junge Heidelberger Universität schlechthin lebensbedrohlichen Abwanderung von Scholaren und Magistern, als der Heidelberger Rektor Berthold Suderdick aus Osnabrück „zusammen mit dem Magister Hartlieb aus der Grafschaft Mark und Dietrich Kerkering aus Münster zusammen mit fast sämtlichen Studenten, wobei nur vergleichsweise wenige in Heidelberg verblieben“ – so hat es Marsilius von Inghen in der Matrikel persönlich festgehalten58 – Heidelberg verließen, um sich in Zum Prager Konflikt etwa Moraw, Grundzüge [wie Anm. 16] S. 58 ff., 110–112. Dazu bereits Schumann, Nationes [wie Anm. 52] S. 126 f. (u.ö.); Rainer Christoph Schwinges, Deutsche Universitätsbesucher im 14. und 15. Jahrhundert. Studien zur Sozialgeschichte des Alten Reiches (= Veröff. des Instituts für Europäische Geschichte/ Abteilung Universalgeschichte 123; Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches 6, Stuttgart 1986), bes. S. 230–232. 58 In der Matrikel, ed. Gustav Toepke, Die Matrikel der Universität Heidelberg von 1386 bis 1662, Erster Theil, von 1386 bis 1553 (Heidelberg 1884), hier S. 34: Et citra medium rectorie recedente rectore propter epidemiam et guerras et una secum magistris Hertleuo de Marka et Theoderico de Monasterio et fere simul omnibus scolaribus paucis in comparatione demptis substitutus fuit magister Marsilius de Inghen, et intitulati sunt sub eo in parte eiusdem rectorie sequentis. – Vgl. auch unten Anm. 60. 56
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Köln niederzulassen. Allein die Herkunftsorte bei ihren Namen erklären in diesem Fall, warum sie die neugegründete Universität in Köln der Kümmerpflanze in der Neckarstadt vorzogen. Die genannten Magister waren alle drei, der damalige Heidelberger und spätere Kölner Rektor Berthold Suderdick, der wenig später zum ersten Rektor der Universität Köln gewählte Hartlevus de Marka und Dietrich Kerkering aus Münster, der dann ebenfalls sogar mehrfach Rektor in Köln sein sollte, aus Prag gekommen59, sie hatten auch 314 Heidelberg nicht als Ziel | aller Sehnsüchte erfahren, wie sie sich nicht an Prag gebunden fühlten: die erste ihnen sich bietende Gelegenheit haben sie wahrgenommen, Heidelberg zur bloßen Zwischenstation zu machen, ohne daß wir von besonders abstoßenden Umständen in Heidelberg anläßlich dieser Abwanderung erführen60. Wir werden also den in der Forschung immer wieder ausgemalten Konflikt zwischen den Böhmen und Deutschen in Prag nicht überbewerten in seiner Bedeutung für die Attraktivität einer neuen Universitätsgründung, näher an den heimatlichen Regionen, wo man sich leichteren Zugang
59 Trí“ka, ¥ivotopisnÿ [wie Anm. 46] S. 50 (Berthold Suderdick), S. 135 (Hartlevus), S. 503 (Theodoricus); vgl. auch die prosopographischen Daten in: Die Matrikel der Universität Köln 1 (1389–1475), bearb. von Hermann Keussen (Bonn 1919, Nachdr. Düsseldorf 1979) S. 2–20. Vgl. auch Schumann, Nationes [wie Anm. 52] S. 131 u. 133; Erich Meuthen, Die Alte Universität (= Kölner Universitätsgeschichte 1, Köln und Wien 1988) S. 57. 60 Die guerrae (d.h. der sogenannte Städtekrieg; dazu vgl. etwa Meinrad Schaab, Kurpfalz [wie Anm. 38] 1 S. 100 f.) und die (Pest-) Epidemie im Eintrag [wie Anm. 58] zeigen m. E. gerade in der Doppelung der beiden je für sich sonst ausreichenden Gründe für ein Verlassen der Universitätsstadt, daß sie nicht als unmittelbar und aktuell ausschlaggebend verstanden werden sollten. Marsilius selbst setzt am Rande der Matrikel in einer Marginalnotiz noch die Gründung der Universität Köln mit dem Auszug aus Heidelberg in Verbindung: Attende hic recessum rectoris propter epydemiam et guerras et fere omnium scolarium et erectionem studij Coloniensis. („Achte hier auf den Abzug des Rektors wegen der Epidemie und der Kriegswirren sowie [den Abzug] fast aller Studenten und auf die Errichtung der Kölner Universität“; Toepke, Matrikel [wie Anm. 58] S. 34 Anm. 4). Auf die Verärgerung des Marsilius wirft es ein deutliches Licht, daß er erst durch in den Codex (Ms. Vat. Pal. lat. 142, fol. 265r) eingetragene letztwillige Verfügung ein Manuskript an die Testamentsvollstrecker des (1390 verstorbenen) Hartlevus de Marka zurückgeben lassen wollte, das er sich offenbar vor dessen Auszug geliehen hatte, vgl. die Nachweise bei Jürgen Miethke, Autograph des Heidelberger Gründungsrektors Marsilius von Inghen, Lectura in Matheum, in: Bibliotheca Palatina, Katalog zur Ausstellung, Textband, hg. von Elmar Mittler in Zusammenarbeit mit Walter Berschin, Jürgen Miethke, Gottfried Seebass, Vera Trost, Wilfried Werner (Heidelberg 1986) S. 43–45; sowie Dorothea Walz, Marsilius von Inghen als Schreiber und Büchersammler, in: Marsilius von Inghen, Werk und Wirkung, Akten des Zweiten Internationalen Marsilius-von-InghenKongresses, ed. Stanis∑aw Wielgus (Lublin 1993) S. 31–71, bes. S. 35 f.
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zu den Vorteilen einer Patronage oder eines gegenwärtigen oder zukünftigen Klientelverhältnisses oder gar das Erreichen einer Pfründe versprechen mochte. Bezeichnend ist, daß die aufnehmenden Universitäten ganz ohne Bedenken und wie selbstverständlich den Zugewanderten ihre jeweilige Ämterlaufbahn weit öffneten: wie in Heidelberg Heylmann Wunnenberg – Dekan (1382) und Rektor (1383) bereits in Prag – als zweiter Rektor dem Marsilius von Inghen folgte, so wurde auch Berthold Suderdick aus Osnabrück, 1388 als Rektor der Anführer der Abwanderer aus Heidelberg, bereits 1392 wieder zum Rektor von Köln gewählt61. Konrad von Soltau, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, war 1384/85 Rektor der Dreifakultätenuniversität in Prag gewesen – unter seinem Rektorat war der Streit um den Zugang zu den Pfründen des Collegium Carolinum am heftigsten entfacht worden. Konrad von Soltau kam 1387 nach Heidelberg, wo er dann 1393 erneut zum Rektor gewählt wurde, zum allerersten Rektor, der nicht aus dem Kreis der Artistenmagister kam62. Die Beispiele ließen sich | leicht vervielfachen: zumindest an der neuen Hochschule 315 nahm man die Zuwanderer, die so wichtige Qualifikationen mitzubringen hatten wie es eine reale Universitätserfahrung und formal anerkannte Qualifikation war, jedenfalls mit offenen Armen auf. Je stärker freilich die Erfahrungen aus verschiedenen Universitäten divergierten, je unverbrüchlicher unter veränderten Umständen an einem nun nicht mehr absolut passenden Vorbild festgehalten werden sollte, desto problematischer konnte das für die neue Gründung werden. Hier möchte ich nicht erneut darauf eingehen, wie in Heidelberg die unterschiedlichen Verfassungsmodelle von Paris, unter anderem von dem mächtigen, aber keineswegs alles entscheidenden Einfluß des Marsilius von Inghen hochgehalten, mit den Prager Erfahrungen und Traditionen eines Konrad von Soltau oder eines Johannes de Noët zum Ausgleich gebracht wurden63. Das ging nicht ohne zähes
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Vgl. Anm. 59. Zu ihm vgl. außer Trí“ka, ¥ivotopisnÿ [wie Anm. 46] S. 82, auch etwa HansJürgen Brandt, Universität, Gesellschaft, Politik und Pfründen am Beispiel Konrads von Soltau († 1407), in: The Universities in the Late Middle Ages, edd. Jozef IJsewijn, Jacques Paquet (= Medievalia Lovaniensia I.6, Löwen 1978) S. 613–625; H.-J. Brandt, Konrad von Soltau (in: NDB 12, Berlin 1980) S. 531 f.; Gerhard Fouquet, Das Speyerer Domkapitel im späten Mittelalter (= Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 57, Mainz 1987) nr. 354, S. 804–806. 63 Miethke, Rektor [Anm. 41] S. 114–116 bzw. S. 23 f. 62
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Ringen und langwierige Beratungen ab. Aber am Ende standen dann auch hier Entscheidungen, die den künftigen eigenen Weg der jeweiligen Hochschule zu profilieren halfen. Der gemeinsame Fundus an Vorstellungen, Erfahrungen und Wünschen, der bei der Neugründung von Universitäten im deutschen Reich des Spätmittelalters seit der Gründung von Prag immer wieder auf verschiedene Weise in Anspruch genommen worden ist und der den persönlichen Einsatz und das Lebensgeschick einer Vielzahl von Personen bestimmt und gestaltet hat, ist dadurch in spezifischer Weise bereichert worden: wir sollten uns von den Sonderentwicklungen den Blick auf die gemeinsamen Wurzeln nicht verstellen lassen.
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MARSILIUS VON INGHEN ALS REKTOR DER UNIVERSITÄT HEIDELBERG*
Wir, Ruprecht der elter, etc. bekennen etc. daz wir meister Marsilius von Inghen zu unserem pfaffen gewonnen haben und daz er uns getruw und holt sin sal, unsern schaden zu warnen und unser bestes zu werben, und auch daz er uns unsers studium zu Heidelberg ein anheber und regirer und dem furderlich for sin sal als er uns daz alles glopt und gesworne hat, und darumb sollen wir im geben jerlichen zweihundert gulden, zu iglicher fronvasten funftzig gulden, und verschaffen im die of unser herbesture, die wir ierliche setzen of unser stat zu Heidelberg, und heissen auch unsere burger doselbes, daz sie dem selben meister Marsilien als unserm verweser des obgenanten unsers studium die obgenanten zweihundert gulden iars bevor abe geben und reichen sollen, von unserer obgenanten sture zu iglichem vorgenanten zil. Orkunde diz brif versigelt mit unserm anhangenden ingesigel 1.
Unter dem 29. Juni 1386 stellte die Kanzlei des Pfalzgrafen bei Rhein dem magister artium Marsilius von Inghen in schönstem Amtsdeutsch des 14. Jahrhunderts diese Urkunde aus. Und da es um viel Geld ging, um 200 fl. jährlich, erhielt nicht nur der Empfänger das Originalpergament ausgehändigt, sondern man schrieb den Wortlaut auch in ein Register ein. Daher kennen wir überhaupt den Text, und wissen, daß da am 29. | Juni zu einem wahrhaft fürstlichen Salär 14 ein Gründungsrektor für die Universität Heidelberg angestellt worden ist, oder, um es korrekter auszudrücken, in die familia des Pfälzer Kurfürsten aufgenommen wurde, ein Gründungsrektor, der im Auftrage des greisen damals sechsundsiebzigjährigen Pfalzgrafen Ruprecht I2. mit seinem Sachverstand und seiner Energie uns unsers studium . . . ein anheber und regirer und dem furderlich for sin sal . . . Die Bürger Heidelbergs, * Eine leicht veränderte Fassung dieses Artikels (mit einer geringeren Zahl von Nachweisen und mit größtenteils übersetzten Quellenzitaten) erschien in: Ruperto Carola 76 (1987), 110–120. 1 Urkundenbuch der Universität Heidelberg, hg. v. E. Winkelmann (Heidelberg 1886), Bd. I, nr. 3, 4–5, vgl. den ähnlichen Revers, mit dem Ruprecht II. den Matthäus von Krakau aufnimmt und verpflichtet, bei Winkelmann, Urkundenbuch I, nr. 38, 60 f. 2 Zu ihm etwa J. Miethke, Ruprecht I., der Erbauer der Stiftskirche in Neustadt a. d. W. und Gründer der Universität Heidelberg, Ruperto Carola 75 (1986), 23–30. M. Schaab, Geschichte der Kurpfalz, Bd. I (Stuttgart 1988), 91–102.
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die das hohe Jahresgehalt mit ihrem Steueraufkommen zu begleichen hatten, werden angehalten, Marsilius als unserm verweser des obgenanten unsers studium, d.h. als amtlichen Stellvertreter des Fürsten für das Studium die angewiesenen Zahlungen pünktlich zu leisten. Der derart beurkundete Auftrag blieb keineswegs papierenes Programm. Es stellte sich auch Erfolg ein: im Jahr 1986 hat die Universität Heidelberg ihr 600. Jubiläum feierlich begangen nach einer langen und wechselvollen Geschichte, die freilich hier nicht zu rekapitulieren ist. Des Kurfürsten, der die Hochschule gegründet hat, hat die Universität ausdrücklich gedacht, sie trägt als Ruprecht-KarlsUniversität noch heute seinen Namen wenigstens als Teil ihrer Selbstbezeichnung. Marsilius muß damit zufrieden sein, daß das philosophische Seminar auch heute noch am „Marsiliusplatz“ gelegen ist3. Das ist gewiß nicht wenig: man wird es den Heidelbergern hoch anrechnen, daß sie den hohen Aufwendungen der damaligen Bürger zum Trotz dem kleinen Platz diesen Namen gaben. Aber wenn man heute eine Umfrage veranstaltete danach, wer Marsilius war, wüßte es doch nur ein Kenner ungefähr zu sagen. Ich will nun keineswegs etwa ein Loch im doch schon überreichlichen Jubiläumsprogramm Heidelbergs nachträglich stopfen. Das Jubelfest ist bereits im Oktober 1986 definitiv abgeschlossen worden und bedarf keiner Nachbesserung. In Jubiläumspublikationen wurde des Gründungsrektors dabei auch schon mehrfach gedacht. Es wäre in Nijmegen auch kaum der rechte Ort zu solchem Vorhaben. Ich 15 möchte freilich auf diesem | Symposion, das dazu bestimmt ist, die theoretischen Leistungen des niederländischen Gelehrten zu würdigen, mich auf die praktische Tätigkeit des Universitätsrektors von Heidelberg konzentrieren, auf seine Aufbauerfolge und Kämpfe, seine Ziele, soweit sie erkennbar sind, und seine Ergebnisse auf jenem Felde, das auch an den heutigen Universitäten überall auf der Welt die Aufmerksamkeit der Gelehrten erfordert. Auch im Mittelalter nämlich bewegt sich die theoretische Wissenschaft nicht in einem luftleeren Raum „bloßer“ Theorien, sondern in der von Freunden, Gegnern, Konkurrenten, auch indifferenten Mitmenschen wimmelnden sozialen Welt der konkreten Geschichte. Wenn es also ein Histo3 Zuletzt D. Griesbach, A. Krämer, M. Maisant, Die neue Universität, Semper apertus, Festschrift (Heidelberg 1985), Bd. V, hg. v. P. A. Riedl, 79–112, hier 93 f., Abb. ebda. Bd. VI, Tafel 73–75 (auch selbständig u. d. T.: Die Gebäude der Universität Heidelberg, hg. von P. A. Riedl (Berlin/Heidelberg usw. 1987), Bd. 1–2).
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riker unternimmt, im illustren Kreis der Theoriegeschichte einen Einwurf zu machen und an die „politischen“ Tätigkeiten des Marsilius zu erinnern, so geschieht das, um die Rahmenbedingungen – nicht der Theorie, wohl aber – des Theoretikers in das Gedächtnis zu rufen. Dabei wird die Situation einer kleinen deutschen Universität am Ende des 14. Jahrhunderts keineswegs als logischer Auftakt im Rückblick auf 600 Jahre triumphaler Erfolge erscheinen, sondern, so ist es jedenfalls die Absicht, in ihrer Offenheit sichtbar werden. Es wird zu prüfen sein, was Marsilius bewirken wollte, was er bewirken konnte und wo er sich vergebens dem Zug der Zeit widersetzte. Über die Anfänge des Planes, im Westen des Reiches in der Kurpfalz eine Universität zu eröffnen, sind wir nur sehr unvollständig unterrichtet4. Gewiß kennen wir den Text der Privilegien, die die Verwirklichung des Planes ermöglichten und begleiteten, wir kennen darüber hinaus auch einige Daten und wissen etwa, wann die Universität ihren Lehrbetrieb eröffnete, auch wann der pfalzgräfliche Rat den endgültigen Beschluß faßte, mit der Universitätsgründung Ernst zu machen. Aber wer sich da im fürstlichen Rat mit welchen Argumenten für das Unternehmen einsetzte, wer sich mit welchen Argumenten dagegen stemmte, was letztlich für den Fürsten den Ausschlag gab und auf welche Kräfte er sich stützen konnte, all das ist uns völlig unbekannt. Das heißt nun freilich | nicht, daß darüber Historiker 16 nicht spekuliert hätten: wir wollen uns hier aber zunächst an das halten, was wir wissen können. Der Gründungsrektor selbst, Marsilius von Inghen, hat in dem (verlorenen) Rektorbuch, das er anlegte, und das nach einem Auszug gerade eben zusammenhängend gedruckt zu erscheinen beginnt5, einen Bericht über die Gründungsakte verfaßt, ut modus incepcionis dicti studii universis posteris innotescat, utque statuta que incepta et acta sunt pro eius bono regimine et ad que tenenda constringuntur et constringentur magistri 4 Grundlegend die Darstellung von G. Ritter, Die Heidelberger Universität, Ein Stück deutscher Geschichte (Heidelberg 1936; Neudruck 1986). Zuletzt dazu etwa E. Wolgast, Die Universität Heidelberg 1386–1986 (Berlin/Heidelberg usw. 1986), 1–16. G. Seebaß, Heidelberg – Universitatsgründung im Spannungsfeld des Spätmittelalters, Ruperto Carola 74 (1986), 15–21. J. Miethke, Universitätsgründung an der Wende zum 15. Jahrhundert, Heidelberg im Zeitalter des Schismas und des Konziliarismus, Die Geschichte der Universität Heidelberg, Vorträge im Wintersemester 1985/86, Studium generale (Heidelberg 1986), 9–33. Schaab, Kurpfalz (wie Anm. 2), 120–122. 5 Acta universitatis Heidelbergensis I.1, Die Rektorbücher der Universität Heidelberg, Bd. I, Heft 1, hg. v. J. Miethke, bearbeitet von H. Lutzmann u. H. Weisert (Heidelberg 1986) (künftig AUH I).
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presentes pariter et futuri, in quacumque facultate fuerint magistrati, insuper et scholares, ea sub compendio presenti libro duxi inscribenda, ne forte per ignorantiam eorum aliquis ipsis vel alicui ex eis contravenire presumat . . .6 Diese verpflichtende Kurzfassung der Gründungsgeschichte, die sozusagen modellhaft und verhaltensprägend für die Zukunft Konflikte vermeiden helfen sollte, ist natürlich kein Bericht sine ira et studio, wie Marsilius ja selber zugibt. Er liefert uns zwar eine dürre Datenliste und wenige Sätze zum Inhalt der Privilegien, macht aber ebenfalls keine Aussagen über Motive oder Parteiungen. In dieser Modellgeschichte der Universitätsgründung werden in wohlüberlegtem Ablauf die Gründungsakte einzeln hintereinander gereiht. Zuerst wird die Supplik genannt, die namens des Pfalzgrafen Ruprecht I. dem Papst der römischen Obedienz im Schisma, Urban VI., am 23. Oktober 1385 in Genua vorgelegt wurde, quatenus in opido eorum insigni de Heydelberga Wormaciensis diocesis generale studium in omnibus facultatibus ad instar studii Parisiensis omnibus privilegiis illi Parisiensi studio concessis insignitum institui dignaretur 7. Diese Supplik, deren nähere Umstände oder genauer Wortlaut Marsilius in seinen Bericht nicht aufgenommen hat, ist am 23. Oktober auch signiert, d.h. genehmigt worden. Nach Zahlung der üblichen Gebühren, wohl auch der ebenso üblichen Handsalben und Nebengebühren ist dann, so wird gesagt, das päpstliche Privileg sieben Monate 17 später, am 24. Juni | (1386) in Schloß Wersau dem Pfälzer Kurfürsten auch überbracht worden8 – wer der Überbringer war, wissen wir nicht. Auch Marsilius könnte es gewesen sein, doch steht uns kein Anhaltspunkt dafür zur Verfügung. Am 26. Juni, zwei Tage später, fiel dann im Großen Rat der endgültige Beschluß, mit dem so glatt sich abwickelnden Plan nun auch wirklich Ernst zu machen – offenbar war darüber mit der Bezahlung der gewiß nicht niedrigen Taxen und Schmiergelder zur Erlangung der päpstlichen Bulle noch keineswegs entschieden gewesen! In diesem Zusammenhang nun berichtet Marsilius in unpersönlicher Fassung auch von seinem eigenen Engagement als Gründungsrektor, von dem ich schon erzählt habe. Anläßlich dieses Beschlusses damals – und jedenfalls in engem zeitlichen Zusammenhang mit ihm, denn die zitierte pfalzgräfliche Bestellungsurkunde datiert nur drei 6 7 8
AUH I, nr. 72, 146–148, hier Zl. 4–10. Zl. 15–18. Zl. 21–24. Der Überbringer ist heute bekannt, s. oben S. 2 mit Anm. 6.
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Tage nach dem Gründungsbeschluß – sei auch Marsilius von Inghen in den geschworenen Rat Ruprechts aufgenommen worden: Fuitque pro tunc receptus magister Marsilius de Inghen . . . in dicti ducis senioris consilium iuratum ac deinceps stipendiis largis dotatus. Er habe den Auftrag erhalten, ut pro dicti studii inchoacione in facultate arcium operam daret efficacem.9 Nach Marsilius ist dann als Helfer und zweiter Artist auch der Magister Heilmann Wunnenberg (aus Prag)10 in den kurfürstlichen Rat aufgenommen worden: receptus fuit . . ., ut eciam idem studium in facultate arcium iuvaret inchoare – hier ist von einer großzügigen Bezahlung schon nicht mehr die Rede. Schließlich stieß wenig später auch ein Theologe, der Pariser Doktor der Theologie Reginald von Aulne, ein Zisterzienser aus der niederrheinischen Diözese Lüttich, zu dem Gründungskonsortium. Auch er wird unter Vertrag genommen: honorifice receptus stipendiis certis est retentus, ut dictum studium iniciaret in facultate theologie, so formuliert es Marsilius in seinem Eintrag ins Rektorbuch.11 | 18 Erst jetzt war die notwendige Dreizahl von Magistern erreicht, denn, so müssen wir ergänzen: Tres faciunt collegium12. Jetzt erst konnte man den nächsten Schritt tun. Für das zu gründende studium, für das der Papst sein Genehmigungsprivileg geschickt hatte, konnte jetzt auch der tragende Personenverband, die universitas gebildet werden. Der Pfalzgraf stattete darum nun das studium auf Drängen des Marsilius, wie ausdrücklich erwähnt wird, mit 5 großen Privilegien aus, die auf den 1. Oktober datiert sind, aber wohl erst eine Woche später, am 8. Oktober, den Magistern ausgehändigt wurden. Marsilius vergißt nicht, zwei Punkte eigens hervorzuheben: einmal sind die Urkunden von den drei Ruprechten, dem regierenden Ruprecht I. einerseits und seinen mitregierenden Verwandten Ruprecht II. und Ruprecht III. andererseits, jeweils gesiegelt worden, und sie tragen außerdem 9 Zl. 28–32. Der Auftrag im offiziellen Revers (oben bei Anm. 1) war deutlich weiter gefaßt! 10 Vgl. S. Schumann, Die nationes an den Universitäten Prag, Leipzig und Wien, Ein Beitrag zur älteren Universitätsgeschichte, Phil. Diss. FU Berlin (Berlin 1974), 129 mit Anm. 135. Auch F. Pelster, Der Heidelberger magister artium und baccalaureus theologiae Heilmann Wunnenberg als Lehrer des Marsilius von Inghen und Erklärer der Sentenzen, Scholastik 19 (1944), 83–86. 11 (Wie Anm. 6), Zl. 32–40. Vgl. H. Keußen, Die Matrikel der Universität Köln, Bd. 1, 2. Aufl., Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 8 (Bonn 1928), 8 (nr. II.1), d.h. Reginald ist nicht nur der erste Theologe, der sich in Heidelberg in die Matrikel aufnehmen ließ, er ist auch der erste, der in der Kölner Matrikel erscheint. 12 Digesten 50, 16, 85, ed. Th. Mommsen, Corpus Iuris Civilis, Bd. 1 (Berlin 1877 u.ö.), 860.
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auch das Siegel der Stadt Heidelberg. Sodann hält Marsilius fest, daß er (später) eigens eine große Archivtruhe, eine archa universitatis habe herstellen lassen, die er offenbar aus eigener Tasche bezahlt hatte und die er in der Heiliggeistkirche aufstellen ließ, um die Privilegien und andere wichtige Papiere der Universität zu verwahren13. Die universitas konnte jetzt offenbar den Lehrbetrieb aufnehmen, was auch am 18. und 19. Oktober geschah. Der Anfang war feierlich, doch kümmerlich. Die Magister teilten sich die Aufgaben. Nach einem festlichen Gottesdienst des Theologen de spiritu sancto, der den Auftakt bildete, hielten die drei Magister am folgenden Tag jeder seine Eröffnungsvorlesung. Aber wirklich vollständig konstituiert war die Universität noch immer nicht. Dafür bedurfte es noch der Wahl eines Rektors, denn die Beauftragung des Marsilius als verweser des Pfalzgrafen, als Amtsträger genügte dafür natürlich nicht. Warum man das noch weiter hinauszögerte, wird klar, wenn wir den Fortgang des von Marsilius geschilderten Verlaufs ins Auge nehmen. Wie er schreibt, stieß – endlich, so dürfen wir ergänzen – drei Wochen später als dritter Artistenmagister Dietmar Swerthe aus Prag14 zu den 19 drei Heidelbergern. | Damit war auch die Artistenfakultät mit der Mindestzahl eines Kollegiums ausgestattet und konnte gültige Wahlen vollziehen. Am 17. November 1386, genau 5 Wochen nach der Eröffnung der Lehrveranstaltungen, fand die Wahl des ersten Rektors statt. Die Magister einigten sich offenbar ohne Schwierigkeiten. Die drei Artisten ließen sogar den vierten, den Theologen Reginald von Aulne mitwählen, freilich ohne Präjudiz für die Zukunft, quia pauci adhuc erant magistri arcium15. – Zum Vergleich hat man mit Recht auf die Situation der unmittelbaren Konkurrenten Heidelbergs hingewiesen16: in Köln 1387 haben 21 Magister den ersten Rektor gewählt, in Erfurt 1392 wenigstens noch 10! Die Wahl in Heidelberg fiel jedenfalls auf Marsilius von Inghen, der damit aus einem fürstlichen Kommissar zum Rektor der Universität wurde, ohne daß er deshalb etwa seine Stellung im fürstlichen Rat 13 AUH I, nr. 72, Zl. 41–51; vgl. nr. 103, 173. Die Privilegien selbst bei Winkelmann, Urkundenbuch I, nr. 4–9, 5–13 (auch AUH I, nr. 5–9, 33–49). Zur Datierung vgl. Winkelmann, Urkundenbuch I, nr. 1, 3, Zl. 5–8. 14 Schumann, Die nationes (wie Anm. 10), 129 mit Anm. 134. 15 AUH I, nr. 73, 149 (bes. Zl. 7). 16 E. Wolgast, Sechshundert Jahre Universität Heidelberg, Ruperto Carola 75 (1986), 7–16, hier 8. Vgl. bereits Ritter, Heidelberger Universität (wie Anm. 4), 72.
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hätte aufgeben müssen17. Einen Tag später bitten der Rektor und die Artistenmagister den Pfalzgrafen um die Gewähung der nötigen Siegel. Und Ruprecht gibt das große Universitätssiegel und das kleinere Rektorsiegel auch sogleich in Auftrag18. Es geht jetzt Schlag auf Schlag – ich verzichte darauf, mich der Chronik der Tage entlang zu bewegen, wenn das auch durchaus seinen eigenen Reiz hätte. Halten wir kurz ein. Die Daten, so dürftig sie auch sind, lassen doch die Rechtsauffassungen des Marsilius von Inghen deutlich hervortreten. Einmal erfahren wir wiederum eigentlich nichts über die Personen, die handeln, über ihre Motive und Hoffnungen, über ihre Bedenken und Befürchtungen. Eine idealtypische Gründungsgeschichte wird 20 erzählt, reduziert auf den äußeren Ablauf der Akte. | Sodann sollte die Hochschule, die da gegründet wurde, sich dezidiert an das Pariser Vorbild anlehnen. Doch war diese Bestimmung natürlich eher programmatischer Natur. Schon von den vier Gründungsmagistern des Berichtes kamen nur zwei aus Paris, die anderen beiden aber aus Prag. Und dieses zunächst noch ausgewogene Verhältnis sollte sich noch bis zum Dezember 1387 nach Matrikeleintragungen sehr zu ungunsten von Paris verschlechtern: 9 Magistern und Bakkalaren der oberen Fakultäten aus Paris standen insgesamt 23 gegenüber, die aus Prag gekommen waren, nur 2 weitere aus anderen Universitäten ließen sich inskribieren. Bis 1388 lassen sich 44 Personen nachweisen, die direkt von Prag an das neugegründete Heidelberg übersiedelten19. Das ausdrücklich formulierte Programm der Anlehnung an Paris, das so offenkundig gegen die statistische Aufteilung der Ursprungsorte formuliert war, läßt vielleicht doch so etwas wie einen Gründungswillen erkennen. Man wollte jedenfalls nicht die Institutionen der Prager Universität nachahmen, die ja damals in einer tiefen Krise steckte; man verzichtete auch, anders als Prag es getan hatte, darauf, die Juristen nach dem Bologneser Vorbild in einer eigenen universitas zu
17 Dazu allgemeiner P. Moraw, Heidelberg: Universität, Hof und Stadt im ausgehenden Mittelalter, Studien zum städtischen Bildungswesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, hgg. von B. Möller, H. Patze, K. Stackmann, Abh. d. Akad. d. Wiss. in Göttingen, Philol.-hist. Kl., III.137 (Göttingen 1983), 524–552. 18 AUH I, nr. 74, 149 f. Vgl. unten Anm. 43. 19 Vgl. bereits Ritter, Heidelberger Universität, 71, sowie Schumann, Die nationes (wie Anm. 10), bes. 127–136.
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organisieren20. Man hielt sich an das Pariser Muster und richtete innerhalb der einen Universität vier Fakultäten ein, wobei der Rektor vierteljährlich (nicht, wie in Bologna oder Prag jährlich) zu wählen war, und zwar ausschließlich durch die und aus den Artistenmagistern (und zunächst nicht aus den Magistern aller vier Fakultäten). Auch andere Pariser Einrichtungen wurden übernommen: Ruprecht I. setzte durch ein eigenes Privileg eine paritätische Mietpreistaxierungskommission ein, wie sie seit dem Ende des 12. Jahrhunderts im Kirchenrecht verankert war und wie sie auch in Paris schon in den ersten Statuten des Kardinals Robert de Courçon 1215 festgesetzt worden waren21. Der Pfalzgraf gewährte den Heidelberger Stu21 denten zudem | ausdrücklich in Anlehnung an das Vorbild des Königs von Frankreich sein freies Geleit in seinen Landen und richtete ihren Gerichtsstand beim Bischof von Worms auf. Wir wollen diesen Anleihen an Pariser Usancen hier nicht näher nachgehen, die doch beweisen, daß man sich in Heidelberg zunächst fast sklavisch darum bemüht hat, nichts „falsch“ zu machen, d.h. nichts anders geschehen zu lassen, als man es in Paris gewohnt war. Aber natürlich konnte in Heidelberg kein zweites Paris entstehen, allein die Größenverhältnisse waren allzu unterschiedlich. Die Fakultät der Kirchenjuristen kam erst allmählich in Gang, die Medizinerfakultät gab es im Februar 1388 noch immer nicht in Heidelberg22, und auch später sollte sie bis lange ins 15. Jahrhundert hinein eine eher kümmerliche Existenz haben. Von einer Gliederung der Studenten in Nationen hören wir nach dem Privileg nie mehr ein Sterbenswort,
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Zur Prager Verfassung instruktiv P. Moraw, Die Juristenuniversität in Prag (1372–1419), verfassungs- und sozialgeschichtlich betrachtet, Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters, hg. v. J. Fried, Vorträge und Forschungen 30 (Sigmaringen 1986), 439–486, jetzt vgl. auch dens., Die Universität Prag im Mittelalter, Grundzüge ihrer Geschichte im europäischen Zusammenhang, Die Universität zu Prag, Schriften der Sudetendeutschen Akademie der Wissenschaften und Künste 7 (München 1986), 9–134. 21 P. Classen, Die ältesten Universitätsreformen und Universitätsgründungen des Mittelalters, Heidelberger Jahrbücher 12 (1968), 72–92, jetzt in: Classen, Studium und Gesellschaft im Mittelalter, hg. v. J. Fried, Schriften der MGH, 29 (Stuttgart 1983), 170–196, hier 180 f. (vgl. auch ebenda, 251). P. Landau, Papst Lucius III. und das Mietrecht in Bologna, Proceedings of the Fourth International Congress of Medieval Canon Law (Toronto 1972), ed. S. Kuttner, Monumenta Iuris Canonici, Series C: Subsidia 5 (Città del Vaticano 1976), 511–522. W. Maleczek, Das Papsttum und die Anfänge der Universität im Mittelalter, Römische Historische Mitteilungen 27 (1985), 85–143, hier 136 f. 22 So ausdrücklich AUH I, nr. 103, 172, Zl. 7 f.
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sie kam einfach nicht zustande. Und eine Mietpreistaxierungskommission ist ebenfalls in Heidelberg nie notwendig geworden, ist wohl auch niemals wirklich zusammengetreten. Vieles also blieb Programm. Trotzdem beweist allein dieses Programm, daß die Berater des Kurfürsten eben an der Pariser Orientierung der Neugründung stark interessiert waren. Daß Marsilius von Inghen zu diesen Beratern gehört hat, das nun freilich wissen wir von ihm selbst, wenn wir auch nicht ausmachen können, von welchem Zeitpunkt an er in Heidelberg an der Vorbereitung der Universität beteiligt war. Ebenso wenig ist überliefert, ob Freunde des Marsilius aus Paris, wie etwa der Domprobst im nahen Worms, Konrad von Gelnhausen, ihn unterstützt oder ihm gar den Weg zum Kurfürsten gebahnt haben23. Fest steht aber, | daß die Heidelberger 22 Anlehnung an Pariser Brauch und Einrichtungen damals durchaus weiter ging als nur bis zur Übernahme bestimmter Rechtsfiguren, die dann später erst oder in Heidelberg niemals mit Leben erfüllt werden konnten. Am Anfang hat sich auch der Pfälzer Hof ganz harmlos an der universalen Funktion der Pariser Universität orientiert, wenn der Kurfürst in einer der Gründungsurkunden ausdrücklich festhalten läßt, er wolle, daß ex omnibus orbis finibus scolares ad ipsum <studium> venire sollten24. Ich glaube nicht, daß der Pfälzer Kurfürst oder Marsilius von Inghen oder der Kanzleibeamte, der diese Sätze niederschrieb, im Ernst geglaubt hätte, oder auch nur gehofft haben mag, Heidelberg könne Paris ersetzen, überholen oder in den Schatten stellen, wie man ihnen das bisweilen unterstellt. Klar aber war, daß Heidelberg eine Universität werden sollte, wie Paris es war. Und dazu gehörte nun einmal auch das internationale Flair. Wann immer Marsilius tatsächlich mit dem Heidelberger Gründungsplan in Berührung kam: daß dieses Programm von ihm nicht nur durch Lippenbekenntnisse unterstützt wurde, sondern daß es sein eigenes Programm war, zeigte sich wenig später in einem Konflikt,
23 Dazu bereits die fundamentale Monographie von G. Ritter, Studien zur Spätscholastik, I: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland, SB d. Heidelb. Akad., Phil.-hist. Kl. 1921,4 (Heidelberg 1921, Neudruck Frankfurt/Main 1984), 33 f. – Die von A. Maier, Ausgehendes Mittelalter, Bd. 2, Storia e letteratura, 105 (Rom 1967), 331–333, in die Diskussion gebrachte Lehrtätigkeit des Marsilius in Padua vor seiner Ankunft in Heidelberg hat in diesem Bande W. J. Courtenay mit Recht energisch in Frage gestellt, unten, p. 44. 24 Winkelmann, Urkundenbuch I, nr. 7, 9, Zl. 7 f. (vgl. AUH I, nr. 8, Zl. 4 f., 41).
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der offenbar die kleine Neugründung heftig erschütterte. Noch während des ersten Rektorats des Marsilius im Januar 1387 war der angesehene Prager Theologe Konrad von Soltau25 eingetroffen, und hatte sich in die Matrikel der Hochschule aufnehmen lassen. Bei dem dabei zu leistenden Eid auf die Statuten und Ordnungen der Universität hatte er die geforderte Formel dem Rektor bereitwillig nachgesprochen modo expresso, hoc excepto quod super statuto domini nostri ducis, quo tenebatur quod semper rector deberet esse magister in artibus et non doctor in alia facultate, dixit se velle plenius deliberare26. Das bedeutet, daß er sofort Einwände gegen diese Übernahme des herkömmlichen 23 Pariser Modus | gemacht hatte, der übrigens in Prag auch in der theologisch-medizinisch-artistischen sogenannten Dreifakultätenuniversität nicht gegolten hat (und in der dortigen Juristenuniversität natürlich erst recht nicht). Wenig später war Konrad von Soltau nicht bei dieser stillen „reservatio mentalis“ geblieben. Es hat nämlich „viele Male und mehrfach Streitigkeiten gegeben über das vom Kurfürsten der Artistenfakultät verliehene Vorrecht, daß das Rektorat ausschließlich bei ihr bleiben solle“, denn das war einer Gruppe, und unter ihnen Konrad von Soltau, als Beleidigung der anderen Fakultäten erschienen, so berichtet wiederum Marsilius von Inghen, der die Hauptaktionen in dieser Auseinandersetzung sorgfältig im Rektorbuch verzeichnet hat27. So versammelte sich denn die Universität am 16. März 1387 in der großen stupha, der Stube des Franziskanerklosters. Es waren diesmal 8 Magister anwesend, 2 Theologen, ein einziger Jurist und 5 Artisten, unter ihnen insgesamt 2 Magister mit Pariser Hintergrund: Marsilius selbst und Reginald von Aulne, 6 dagegen hatten Prager Erfahrungen: Konrad von Soltau, der Kanonist 25 Zu ihm vgl. nach L. Schmitz, Conrad von Soltau ( Jena 1891), außer Schumann, Die nationes (wie Anm. 10), 111 mit Anm. 101, jetzt vor allem H. J. Brandt, Universität, Gesellschaft, Politik und Pfründen am Beispiel Konrads von Soltau (+1407), The Universities in the Late Middle Ages, Mediaevalia Lovaniensia I 6 (Leuven 1978), 614–627, sowie dens., K.v.S., Neue Deutsche Biographie, Bd. 12 (1980), Sp. 531 f., sowie Moraw, Universität Prag (wie Anm. 20), 107–112. (Vgl. auch unten Anm. 37). 26 AUH I, nr. 81, 155. 27 Hier AUH I, nr. 84, 157–159, der Wortlaut des Eintrags, 158, Zl. 1 ff.: Consequenter post multas altercaciones diversis vicibus de privilegio ducis concesso in favorem facultatis arcium super perpetuitate rectorie apud eandem . . . – Auch hier wieder, wie schon in nr. 81 (oben bei Anm. 26) und später noch in dem vorliegenden Text wird der Pfalzgraf als Urheber des Statuts herausgestrichen, der doch gewiß nur Vorschlägen seiner sachkundigen Berater gefolgt war.
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Johannes de Noet28, sowie Heilmann Wunnenberg, Dietmar Swerthe, Berthold von Dieburg und Friedrich von Sulzbach29. Offenbar gelang es Marsilius, die Gemüter zu besänftigen mit dem Hinweis, der von ihm auch in das Protokoll aufgenommen wurde, die besagte Bestimmung diene nicht der Herabsetzung (in contemptum) der anderen Fakultäten, sondern sei einzig zur Förderung und Erleichterung der kleinen Scholaren vom Herzog erlassen worden, denen es hart ankommen müsse, bei jeder Kleinigkeit einen Magister der Heiligen Theologie oder einen juristischen Doktor, die vielleicht mit viel | wichtigeren Dingen beschäftigt seien, um Hilfe in ihren 24 kleinen Angelegenheiten anzugehen. Das Argument ist bezeichnend und sozialgeschichtlich interessant30. Es zieht seinen Vorteil aus der Distanz der Lebensrollen zwischen einem magister artium, der noch den meisten jungen Scholaren näher stand als der ihnen weit entrückte Promovierte der höheren Fakultäten. Aber als ob die Verteidiger des Pariser Modells selber an ihre eigenen Argumente nicht glauben wollten, fügt Marsilius in seiner Niederschrift auch das formale Autoritätsargument hinzu, wenn er notiert, diese Bestimmung sei vom Kurfürsten ausdrücklich erlassen und vom Papst ja auch für Paris unter der Androhung des Kirchenbannes vorgeschrieben; sie werde dort an der Universität Paris unverbrüchlich gehalten, ad cuius Parisiensis studii similitudinem studium nostrum Heydelbergense per bullam apostolicam noscitur institutum. Wie immer die Mehrheitsverhältnisse ursprünglich gewesen sein mögen, für dieses Mal konnte Marsilius sich noch einmal durchsetzen. Die acht Magister entschieden sich zu seinen Gunsten: statutum fuit concorditer perpetuis temporibus observandum, es sei auf alle Zeiten gültig in Heidelberg, daß auch künftig der Rektor stets ausschließlich ein Magister der Artisten sein solle und daß, wer sein Magisterium oder Doktorat in einer höheren Fakultät bereits erlangt habe, nicht
28 Außer Schumann, Die nationes (wie Anm. 10), 128 mit Anm. 130, vgl. H. Heimpel, in: A. Schmidt u. H. Heimpel, Winand von Steeg (1371–1453), ein mittelrheinischer Gelehrter und Künstler, und die Bilderhandschrift über die Zollfreiheit des Bacharacher Pfarrweins auf dem Rhein, Bayer. Akad.d.Wiss., Philos.-hist. Kl., Abh., NF 81 (München 1977), 117 – vgl. auch die Abbildung dort auf Tafel 2. 29 Zu den beiden letzten vgl. wiederum Schumann, Die nationes, 129 mit Anm. 137 (Berthold) und 136 (Friedrich). 30 Vgl. R. C. Schwinges, Deutsche Universitätsbesucher im 14. und 15. Jahrhundert, Studien zur Sozialgeschichte des Alten Reiches, Veröff. des Inst. für europ. Gesch. Mainz, Abt. Universalgesch. 123 (Stuttgart 1986), 369 f., 372.
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mehr zum Rektor erwählt werden dürfe, sicut hoc Parisius est consuetum et observatum et in privilegio ducis est expressum. Zum Ausgleich gewissermaßen wurde bestimmt, künftig solle in den Universitätsversammlungen nicht mehr nach Köpfen, sondern mit je einer Fakultätsstimme abgestimmt werden, so daß der einzige Jurist ebensoviele Stimmen habe, wie selbst 20 oder 100 Artistenmagister, quia eciam ita Parisius consuetum. Diese und weitere Beschlüsse solle der Rektor in modum statuti inviolabiliter perpetuis temporibus observandi ins Rektorbuch eintragen. Man spürt förmlich, worauf es Marsilius bei seiner Notiz ankam. 25 Mehrmals steht im Text ein Hinweis auf die Bindekraft der damals | gefaßten Beschlüsse. Und ebenso sichtbar wird im Fortgang, daß Marsilius bei allem Eifer und allem Einfluß, den er zweifellos hatte, auf die Dauer, auf die er ja gerade zielte, sich nicht durchzusetzen vermochte. Auch hier verzichte ich auf eine genaue Darstellung der einzelnen Etappen, aber – zunächst auf dem Wege einer probeweisen Einführung unter Suspendierung des alten Statuts – wurde noch zu Lebzeiten des Marsilius, 1393 zunächst31 und dann über eine Verlängerung des Provisoriums immer wieder, entschieden, daß in Heidelberg deinceps eligatur rector inter omnes doctores et magistros nostre universitatis, auch sollten alle doctores et magistri der Universität die Wähler sein. Das passive wie das aktive Wahlrecht wurde damit allgemein auf die Magister und Doktoren übertragen. Außerdem wurde die Wahlperiode des Rektors neu auf ein Halbjahr festgelegt; in dieser Form sollte sie das ganze Mittelalter hindurch bis zum Jahre 1522 Bestand haben, als schließlich das andernorts schon längst übliche jährliche Rektorat auch in Heidelberg eingeführt worden ist32. Am 15. Juni 1393 war dieses Statut zum ersten Male beschlossen worden – diesmal von 18 versammelten Magistern. 12 Tage später wurde ein neuer Rektor gewählt. Kann man es als Zufall ansehen, daß Konrad von Soltau dabei das Rennen machte33? Marsilius hatte offenbar nachgeben müssen, und er hat das, wie es scheint, letztlich ohne starre Rechthaberei getan. Er hat seinen langwierigen Kampf 31 Winkelmann, Urkundenbuch I, nr. 31, 53–55 (künftig in AUH I, 2, nrr. 160–161 ). 32 H. Weisert, Die Verfassung der Universität Heidelberg 1386–1952, Abh.d. Heidelberger Akad. der Wiss., Phil.-hist.Kl. 1974, 2 (Heidelberg 1974), 21 f. u. 55 f. 33 H. Weisert, Die Rektoren und die Dekane der Ruperto Carola zu Heidelberg 1386–1985, Semper apertus, Festschrift, Bd. IV, hg. v. W. Dörr (Berlin usw. 1986), 299–417, hier: 303, nr. 28.
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um die „Pariser Lösung“ in diesem Punkte schlicht aufgegeben, denn das neue Statut ist 1393 „ohne Gegenstimme (nemine discrepante)“ beschlossen worden, und wurde 1395 erneut verlängert34, ebenfalls noch zu Lebzeiten des Marsilius. Offenbar hat Marsilius also der neuen Regelung auch 1395 nicht weiter widersprochen. Daß er sie gebilligt hätte, wird man daraus nicht ohne weiteres schließen dürfen. Aber er gab einer Entwicklung nach, die, wie sie sich auch anderwärts an den neu gegründeten Universitäten in Mitteleuropa zeigte35, | übermächtig war und überall durchaus ähnliche 26 Lösungen brachte. Das Rektorat eines Artistenmagisters war an der Pariser Universität des 13. Jahrhunderts mit ihren relativ großen Studentenzahlen durchaus funktional, entsprach damals auch der kurzfristigen Dauer akademischer Lehre in allen Fakultäten, wo man meistens nur im Durchgang zu anderen Karrieren eine Zeit lang tätig war. Die geringere Frequenz an den sich provinzialisierenden Universitäten des 14. Jahrhunderts einerseits, die zunehmende Professionalisierung aller Fakultäten, die dem Universitätslehrer eine durchaus gelungene Lebenskarriere eröffnete, andererseits, wirkten an einer Auflösung dieses alten Modells der Verfassung mit. Denn die Professionalisierung bedeutete, daß die Artistenstudenten stärker und stärker ihr Studium nicht mehr ausschließlich als Durchgangsphase für die höheren Fakultäten auffaßten. Die Artistenfakultät bestand hinfort sozusagen als Höhere Schule, die nicht überwiegend mehr ihre Fortsetzung in einem Studium der anderen Wissenschaften fand, oder sie doch dort nicht finden mußte. Andererseits wuchs damit auch die soziale Distanz zwischen den Artisten und den Dozenten der höheren Fakultäten, erst recht zwischen Artistenstudenten und den etablierten Professoren der Theologie, der Medizin oder der Rechte, was eine effiziente organisatorische Zusammenfassung einer Universität unter einem Artistenmagister als ausschließliche Modellvorstellung sehr erschwerte36. Daß dabei nicht allein das Prestige der einzelnen Wissenschaft als solcher maßgeblich war, das beweist das Aufkommen des spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Adelsrektorats an deutschen Universitäten, wo ja auch ein Rektor ohne eigentlich wissenschaftliche Qualifikationen, dafür aber
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Winkelmann, Urkundenbuch I, nr. 31, 55 (künftig AUH I, 2, nr. 161). Zur Dauer des Rektorats in Köln vgl. unten Anm. 54. Vgl. Schwinges, Universitätsbesucher (wie Anm. 30), 368 f.
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mit umso stärker ins Auge fallender sozialer Distanz an die Spitze gestellt wurde. In Heidelberg spielte außerdem ganz gewiß die Tatsache eine Rolle, daß die Artes-Fakultät in ihren bescheidenen Dimensionen einer Gliederung der Studentenschaft in Artistennationen keinen Raum gewährte. Ohne die Nationen aber fehlte einem Artistenrektor Pariser Musters eine ausreichend breite Abstützung. Die Niederlage des Marsilius war also gewiß kein Zufall. Es verdient aber unsere Beachtung, daß er offenbar, auf verlorenem Posten kämpfend, seine 27 Entscheidung durchaus seinen Einsichten anzupassen verstand37. | Die Universität Heidelberg hat ihrem Gründungsrektor im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens häufig zum Rektor gemacht. Achtmal hatte er bis 1393 das bis dahin vierteljährliche Rektorat übernommen, öfter als jeder andere Professor, denn sonst waren 1393 nur noch Heilmann Wunnenberg und Nikolaus Burgmann je dreimal und Friedrich von Sulzbach und ein Verwandter des Marsilius von Inghen, der Magister Franco von Inghen, je zweimal Rektor gewesen. Ein neuntes Rektorat mit der neuen sechsmonatigen Amtsperiode hat Marsilius dann noch einmal in seinem Todesjahr 1396 auf sich genommen. Er starb als Rektor seiner Universität am 20. August 1396. Es waren offenbar diese insgesamt fast zwei Jahre im Rektorat, die für die Stabilisierung der Universität entscheidend wurden. Marsilius hat, wie es scheint, mit zäher Zielstrebigkeit die Konsolidierung des Studiums verfolgt und mit Energie, Einsatzfreude und Phantasie Hilfestellungen gegeben, neue Möglichkeiten erkundet und realisiert und schließlich eine fast letale Krise gemeistert. Ich möchte diese Behauptungen ganz knapp beleuchten, um die Leistung des Marsilius von Inghen als Rektor der Universität Heidelberg zu illustrieren. 37 Damals hat sich Marsilius keineswegs aus der Universität oder nur von Konrad von Soltau zurückgezogen. Der Kampf der Universität um die Freilassung des in Gefangenschaft geratenen Konrad von Soltau, den Marsilius zu seinem eigenen machte, verdiente hier eine eigene Beleuchtung. Vgl. Marsilius’ eigenhändige Aufstellung über die Kosten, die ihm persönlich entstanden waren, ohne daß er wahrscheinlich sie jemals erstattet erhielt, ed. G. Töpke, Die Matrikel der Universität Heidelberg, Bd. 1 (Heidelberg 1884), 676 (Marsilius kommt auf die erhebliche Gesamtsumme von 18 Gulden und 12 Schilling); in Marsilius’ stuba versammelten sich am 2. Weihnachtsfeiertag, am 26. Dezember 1395 die wichtigsten Magister, um die Schritte der Universität zu beraten (vgl. künftig AUH I, 2, nr. 185 ). Zu den Einzelheiten des Konflikts vor allem immer noch G. Töpke, Die Harzer und deren Nachbarn auf der Universität Heidelberg in den Jahren 1386–1662, Zeitschr. des Harzvereins für Geschichte und Alterthumskunde 13 (1880), 139–189, hier 140–144. (Die wichtigsten Aktenstücke künftig in AUH I, 2).
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Seine Hilfestellung auf gewohnten Bahnen bestand etwa darin, daß er die Beschlußfassung über Statuten offenbar mit Verve voranbrachte. Das Rektorbuch zeigt in den Monaten seiner Rektorate besonders häufig nichtdisziplinäre statutarische Einträge. Natürlich war im ersten Rektorat der Regelungsbedarf auch relativ groß. Da mußte beschlossen werden über Stundenplan und Festkalender, über Matrikelliste, Immatrikulationsgebühren und Immatrikulationseide und über die Zulassung anderwärts graduierter Magister oder Doktoren. Da mußten auch die | Fakultätsstatuten der einzelnen Fakultäten erlas- 28 sen werden. Marsilius hat das nicht alles selber geplant oder gar beschlossen, seine Rektorate zeigen nur seine besondere Aufmerksamkeit für diese Fragen in den von ihm stammenden Eintragungen38. Der wirtschaftlichen Sicherung der Magister und Studenten hat gewiß nicht er allein seine Bemühungen gewidmet. Durch seine Pariser Erfahrungen gewitzt, hat er aber von Anfang an das wenige, was damals üblich war, mit Eifer in Gang gesetzt. Daß er beim Kurfürsten für die wirtschaftlichen Belange seiner Hochschule eintrat, werden wir noch sehen: in der ersten Zeit war freilich verständlicherweise da über die Erstausstattung hinaus nicht so leicht voranzukommen. Mehr Aussicht hatte es, den Weg an die Kurie anzutreten, um vom Papst entsprechende Pfründzuweisungen, oder doch wenigstens die Verleihung von Expektanzen an die Universitätsmagister und Scholaren zu erbitten, durch die dem einzelnen Universitätsmitglied Pfründeinkünfte in freilich oft trügerische Aussicht gestellt wurden. Aus Heidelberg wissen wir nur, daß die Universität unter vielen begleitenden Beratungen und Beschlüssen sofort nach ihrer Eröffnung die ältere Pariser Übung, an die Kurie einen sogenannten Supplikenrotulus abzuschicken, ohne Abstriche übernommen hat. Leider hat die Kurie der römischen Obedienz in der Schismazeit ihre Supplikenregister nicht entfernt so sorgfältig geführt, wie die avignonesische, in der die Supplikenrotuli der Pariser Universität und die der anderen französischen Universitäten im allgemeinen erhalten blieben39.
38 Da das Rektorbuch nicht im Original erhalten blieb (vgl. G. Töpke, Matrikel Heidelberg, Bd. 1, 623 f., und J. Miethke, AUH I, 6), läßt sich eine Entscheidung darüber, welcher Eintrag in ein Rektorat des Marsilius fällt, nicht immer mit absoluter Sicherheit treffen. Aus der Reihenfolge und der Zeitstellung läßt sich aber eine Zuweisung mit hinreichend großer Bestimmtheit in den meisten Fällen erreichen. 39 Vgl. J. Verger, Le recrûtement géographique des universités françaises au début du 15e siècle d’après les suppliques de 1403, Mélanges d’archéologie et d’histoire 82, 2 (1970), 855–922. Jetzt besonders H. Diener, Die Hohen Schulen, ihre Lehrer und
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Aus dem römischen päpstlichen Archiv haben wir dagegen überhaupt kaum überlieferte Akten. Immerhin sind aus dem Heidelberger Universitätsarchiv, wo eigentlich keine besondere Veranlassung bestand, diese Rotuli aufzuheben, noch hinreichend Bruchstücke und Nachrichten erhalten, die uns die besondere Aktivität der neuen Gründung 29 in diese Richtung | hin bezeugen. Offenbar hat man diese Texte vor allem deshalb festgehalten, um das „Know how“ zu speichern, wie man etwas zu tun habe, um die Aussichten auf Erfolg so günstig wie möglich zu gestalten40. So wissen wir denn für Heidelberg über die manchmal wichtige Reihenfolge der Eintragungen in dem ersten Rotulus, den die Universität an Urban VI. schickte, relativ gut Bescheid. Ein Statut darüber hat Marsilius im Rektorbuch festgehalten41. Als besonderes Kennzeichen dieser Bestimmungen kann man das Bestreben bezeichnen, als entscheidendes Kriterium der Reihenfolge vorwiegend korporationsspezifische, nicht allgemein soziale Geltung zu wählen. Das heißt, daß nach dem Rektor, den Doktoren und Lizentiaten der Theologie, denen des kanonischen Rechts und der Medizin die magistri actu regentes der Artistenfakultät folgen sollten, worauf sich die übrigen Artistenmagister und die baccalarii der höheren Fakultäten anschlossen, um schließlich mit den Bakkalaren der Artisten und den Scholaren abzuschließen. Die Reihenfolge sollte, so wird immer wieder eingeschärft, erfolgen für die Juristen „. . . nach der Reihenfolge ihrer Aufnahme in unsere Hochschule . . . (secundum ordinem sue recepcionis in studio nostro)“; für die Bakkalare der Medizin, bzw. für die Artistenbakkalare „. . . nach ihrem Graduierungsalter . . . (secundum etates suas in gradu baccalariatus, bzw. secundum ordinem etatis sue in gradu)“; für die Artistenscholaren „. . . nach ihrem Alter und der Reihenfolge ihrer Immatrikulation (secundum etates suas et inscripciones suas in matricula universitatis)“. Kein Wort bisher von kirchlichen Prälaten und vom Adel, wie Marsilius ausdrücklich notiert, der das Statut wieder einmal ins Rektorbuch
Schüler in den Registern der päpstlichen Verwaltung des 14. und 15. Jahrhunderts, Schulen und Studium (wie Anm. 20), 351–373, bes. 359–364. 40 Das gilt vor allem für AUH I, nrr. 69–71 (141–146), die zum Bestand des juristischen Dekansbuchs gehören (aus dem Rektorbuch vgl. nur die nrr. 85, 90 f., 159–161, 164 f.), während die Aufbewahrung des großen Rotulus von 1401 (Teildruck bei Winkelmann, Urkundenbuch I, nr. 54, 80–91, künftig Volldruck in AUH I, 3) sich aus diesem Motiv natürlich nicht erklären läßt. 41 AUH I, nr. 85, 159–161. Vgl. dazu die Erörterung von Schwinges, Universitätsbesucher (wie Anm. 30), 367–370.
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eingetragen hat: Advertendum est quod in premissis non est facta mentio de nobilibus et magnos status habentibus in studio nostro . . ., es solle auf ausdrücklichen Beschluß der universitas allein iuxta genus, statum, quem tenent in studio, mores ac scientiam die Reihenfolge ermittelt werden. Gewiß war die Reduktion der Ordnungskriterien auf rein inneruniversitäre Wertmaßstäbe ein Schritt, der Konflikte zurückdrängen | 30 konnte, wenn man sich auf ihn zu einigen vermochte. In Prag hatte die Diskrepanz zwischen den sozialen Ansprüchen der Juristen und dem eifersüchtigen Rangbewußtsein der Artisten und Theologen im Jahre 1372 zu einer Spaltung der Universität in zwei Universitäten geführt42. In Heidelberg wollte man ähnliche Entwicklungen wohl von vorneherein ausschließen. Man hat darüber diskutiert, ob diese Bestimmung als Zeichen eines Fortschritts im Sinne einer „Verbürgerlichung“ der Provinzuniversitäten aufzufassen sei, oder, was sicherlich richtiger ist, als utopischer Versuch, dem sonst so häufig übermächtigen Adelsprinzip einen Riegel vorzuschieben. In unserem Zusammenhang kommt es auf eine Entscheidung dieser Kontroverse nicht an. Jedenfalls wurde in Heidelberg versucht, und sei es in unzeitigem Vorgriff, die allgemeine Situation der Gesellschaft gleichsam aus der künstlichen Ordnung der Universität auszugrenzen – und damit Konflikte innerhalb der Universität zu verkleinern oder auszuschalten. Marsilius hat damals den Vorsitz geführt: hat er nicht auch das Konzept geteilt? Hatte Marsilius für die rechtliche Normierung des universitären Lebens anscheinend einen besonderen Sinn, so suchte er auch die Selbstdarstellung der Universität nach außen und innen zu bedenken. Zwei rasche Entscheidungen sind ihm zuzurechnen: noch am 18. November 1386, einen Tag nach seiner Wahl zum ersten Rektor der Universität, hat er den Kurfürsten davon überzeugt, daß die junge Korporation auch die nötigen Siegel zur Bekräftigung ihrer rechtsgeschäftlichen Willenserklärungen benötige. Ein hervorragender, uns unbekannter Goldschmied43 hat die heute noch erhaltenen Typare des großen Universitätssiegels und des kleineren Rektorsiegels auf kurfürstlichen Befehl hin hergestellt. Die Universität konnte diese
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Zuletzt Moraw, Universität Prag (wie Anm. 20), 39 f. Die Universität Heidelberg stand in Beziehungen zu dem Goldschmied Hans Flasche, der ihr am 8. Januar 1401 sein Haus mit Hof und Garten in der Augustinergasse verkaufte unter Vorbehalt eines Wohnrechts auf Lebenszeit, vgl. AUH I, nr. 67 u. 68 (138–141). 43
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unentbehrlichen Zeichen der Rechtspersönlichkeit, die nach den zeitgenössischen Anschauungen unbedingt zum Ausweis einer privilegierten Genossenschaft gehörten, somit schon bald in Gebrauch nehmen – und Marsilius hat es nicht unterlassen, diesen Entschluß des Kurfürsten, der, wie er schreibt, auf seine eigene Intervention und auf die Bitte 31 der an | deren beiden Artistenmagister hin erfolgte, im Rektorbuch säuberlich zu verzeichnen44. Wenig später dann, im Februar 1388, es war bereits sein zweites Rektorat, das er verwaltete, konnte er ebenso klar eintragen, daß auf seine Anregung hin aus den Überschüssen, die bei der Kollekte für die erste Rotulusgesandtschaft nach Rom an die Kurie übrig geblieben waren, und die ja unter verschiedenen Rektoren45 eingesammelt worden war, für die Anschaffung einer virga communis universitatis, eines Universitätsszepters ausgegeben werden sollte. Man ließ in einer prächtigen Ausführung bei einem uns wiederum unbekannten Goldschmied ein noch heute in wesentlichen Stücken existierendes Szepter herstellen, das als vergoldeter Silberstab mit einer ansehnlichen Bekrönung im Gewicht von insgesamt 561/2 Mark und einer halben Unze (d.h. von zumindest ca. 13 kg46) auch seinen erheblichen Preis hatte: 56 schwere Rheinische Taler und 2 Schilling Straßburger Pfennige – eine bedeutende Summe, die noch das Durchschnittsjahressalär eines Artistenmagisters übertraf 47. Wie wir aus der Abrech-
44 AUH I, nr. 74 (149 f.), vgl. dazu zuletzt J. M. Fritz, in: Mittelalterliche Universitätszepter, Meisterwerke europäischer Goldschmiedekunst der Gotik, Ausstellungskatalog (Heidelberg 1986), 18 f., nr. 2. – Zur Geschichte der Pariser Universitätssiegel zuletzt W. Maleczek, Papsttum (wie Anm. 21), 93, 107–109. Zum bildlichen Programm vor allem H. Boockmann, Ikonographie der Universitäten, Bemerkungen über bildliche und gegenständliche Zeugnisse der spätmittelalterlichen deutschen UniversitätenGeschichte, Schulen und Studium (wie Anm. 20), 565–599, hier 569–574. 45 Es waren neben Marsilius selbst Heilmann Wunnenberg, Johannes Berswort de Tremonia (aus Dortmund) und Johannes von Wachenheim, vgl. Weisert, Die Rektoren (wie Anm. 33), 302. 46 Vgl. H. Witthöft, Umrisse einer historischen Metrologie zum Nutzen der wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Forschung, Maß und Gewicht in Stadt und Land Lüneburg (. . .) vom 13. bis zum 19. Jahrhundert, Veröff. d. Max-Planck-Instituts f. Gesch. 60/1–2 (Göttingen 1979), z.B. 65 (Lüneburger Mark ca. 243 g), 72 (Kölner Mark ca. 230 g), 93 (schwedische Mark ca. 213 g). 47 AUH I, nr. 97, 169, zum Szepter Fritz in: Universitätszepter (wie Anm. 44), 16 f., nr. 1., Boockmann, Ikonographie (wie Anm. 44), 574 f. Zu den Zahlungen an Magister vgl. etwa den Finanzbericht des Konrad von Soest (wie unten Anm. 61), bes. 369. Einzelaufstellungen bei H. Weisert, Universität und Heiliggeiststift, Die Anfänge des Heiliggeiststifts zu Heidelberg, Ruperto Carola 64 (1980), 55–77, u. 65/66 (1981), 72–87.
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nung des Marsilius nach dem Rektorat in dieser Amtsperiode wissen, blieb die Universität ihm damals 12 Gulden und 2 Schilling schuldig48. Die Vermutung ist naheliegend, daß hier Marsilius persönlich einen Vorschuß für die gemeinschaftliche Repräsentationsaufgabe geleistet hatte. Ob er diesen Geldbetrag, von dem ein Scholar etwa ein Jahr lang leben konnte, jemals von der Universität zurück erhalten | hat, ist uns nicht bekannt. 32 Wenn Marsilius wirkungsvoll und großzügig im Amte des Rektors seine eigenen bedeutenden Mittel für seine Universität einsetzte, so tat er damit ohne Zweifel das, was man damals von einem Rektor erwartete und was andere an seiner Stelle gewiß auch zumindest angestrebt hätten. Trotzdem war es sicherlich auch ein großes Verdienst, das sich der Gründungsrektor damit erworben hat49. Er hat aber darüber hinaus in einer gefährlichen Krisensituation der jungen Gründung energisch und besonnen das schlingernde Schiff wieder auf Kurs gebracht und anschließend für eine bleibende Stabilisierung zu sorgen vermocht. Damit hat er zur endgültigen Konsolidierung der Heidelberger Gründung noch einmal entscheidend beigetragen. Marsilius war nicht Rektor, als eine Katastrophe über die junge Gründung hereinzubrechen drohte. Nach dem „Prager“ Magister Dietmar Swerthe, der an der Wahl des ersten Rektors teilgenommen hatte50, mit dem ersten Heidelberger rotulus an die Kurie gereist war und der selber das Rektorat in Heidelberg von Ende Juni bis zum 10. Oktober 1388 versehen hatte, hatten die Artisten den ebenfalls aus Prag zugewanderten Magister Berthold Suderdick aus Osnabrück51 gewählt. Kurz darauf, nur wenig mehr als einen Monat später, im November 1388, muß es zum Eklat gekommen sein. Marsilius selbst hat zornbebend in die Matrikel eingetragen52, was
48 Winkelmann, Urkundenbuch II, Reg. nr. 40, 5 – nach Töpke, Matrikel Heidelberg, I, 27. 49 Damit setzte er nur fort, was er bereits – den institutionellen Erwartungen in einer mittelalterlichen Universität voll entsprechend – in Paris getan hatte, vgl. die bereits von Ritter, Marsilius (wie Anm. 23), 14, zusammengestellten Belege (Chartularium Universitatis Parisiensis, ed. H. Denifle u. Ae. Châtelain, Bd. 3 (Paris 1894), ND Bruxelles 1964, nrr. 1338 und 1369, 166 u. 200). Zum Erwerb der Tournosen für Heidelberg vgl. unten Anm. 60–61. 50 Vgl. oben Anm. 14. Die Gesandtschaft in Rom AUH I, nr. 90 (164 f.). 51 Schumann, Die nationes (wie Anm. 10), 131 mit Anm. 146, sowie Keußen, Matrikel Köln (wie Anm. 11), 42* (nr. 16) und 11 (nr. I 22). 52 Töpke, Matrikel Heidelberg (wie Anm. 37), Bd. I, 34. Zu Hartlevus de Marka und Teodericus de Kerkering (auch er ein Rektor in Köln!) vgl. neben Schumann,
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da geschah: Rektor Berthold et una secum magistris Hertlevo de Marka et Theoderico de Monasterio et fere simul omnibus scolaribus, paucis in compa33 ratione demptis, zogen von Heidelberg fort | nach Köln, wo gerade erst im Frühjahr des Jahres 1387 eine neue, eine städtische Universität gegründet worden war. Diese Massenflucht zur niederrheinischen Konkurrenz zog nachweislich einen Großteil der wenigen Magister von Heidelberg fort, aber auch viele Studenten. Eine Teilauszählung der Matrikel erbrachte, daß von den 421 Universitätsbesuchern aus den Diözesen Köln, Lüttich, Utrecht, Cambrai und Münster, die in den 15 Jahren von 1386 bis 1401 sich in Heidelberg hatten immatrikulieren lassen, 127 sich auch in Kölns Matrikel finden, das sind ca. 30%! Fünfzehn Magister aus Heidelberg sind allein im ersten Jahr in die Kölner Matrikel eingetragen53, darunter auch das Gründungsmitglied, der Theologe Reginald von Aulne, der frühere Heidelberger Rektor Johannes Berswort, sowie der erste gewählte Rektor der Universität Köln, der Artistenmagister Hartlevus de Marka. Johannes Berswort und Dietrich Kerkering sind dann rasch in Köln zum Rektor gewählt worden und auch der flüchtige Heidelberger Rektor Berthold Suderdick hat bereits 1392/93 wieder das (in Köln zunächst ebenfalls dreimonatige) Rektorat am neuen Ort seiner Lehre übernommen54. Über die Gründe gibt Marsilius selbst eine nüchterne Auskunft: Attende hic recessum rectoris propter epydemiam et guerras et fere omnium scholarium et errectionem studii Coloniensis, so schreibt er als zusammenfassende Marginalnotiz in die Matrikel55, und die moderne Forschung ist ihm in dieser Einschätzung gefolgt. In der Tat hat die in Heidelberg aufflackernde Pest, verbunden mit dem Heidelberger Anteil am gro-
Die nationes, 146, bzw. 130 mit Anm. 254, bzw. 165, Keußen, Matrikel Köln, 42* (nr. 1) und 7 (nr. I 20), bzw. 44* (nr. 47) und 6 (nr. 16). Zu den Beziehungen des Hartlevus zu Marsilius: J. Miethke, Autograph des Heidelberger Gründungsrektors Marsilius von Inghen, Bibliotheca Palatina, Katalog zur Ausstellung, Textband, hg. v. E. Mittler (Heidelberg 1986), 43–45, hier 44b–45a. 53 Diese Zahlen hat schon G. Ritter, Universität, 72, errechnet. 54 Vgl. nur Keussen, Matrikel Köln (wie Anm. 11) 42* (nrr. 1, 7, 16, usw.), 4 (nr. I 6), 5 (nrr. I 7, 11, 12), 6 (nrr. I 14, 16), 7 (nr. 120), 8 (nr. II 1), 11 (nrr. II 22, 25, 26), usw. – zur Dauer des Rektorats vgl. die Aufstellung ebda. 42*: nur die ersten beiden Rektorate in Köln dauerten ca. 6 Monate, ab 1394 wird es zunehmend üblich (ab 1398 scheint es dann die Regel), zwei dreimonatige Rektorate hintereinander zu bekleiden. Jetzt auch E. Meuthen, Die alte Universität, Kölner Universitätsgeschichte, 1 (Köln/Wien 1988), 68 f. 55 Töpke, Matrikel Heidelberg, Bd. I, 34, Anm. 4.
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ßen Städtekrieg von 1388 zwischen Fürsten und Städten im Südwesten des Reichs, der damals noch nicht entschieden war56, die Attraktion der Kölner Neugründung ungemein verstärkt. Daß der Rektor mit | 34 fortgezogen war, war ein besonderes Problem: im Rektor verkörperte sich die universitas und man konnte die Frage stellen, ob damit nicht die ganze Universität abgezogen sei57. Hier erwies sich der Nutzen des Drängens auf gediegene Symbole: weder Siegel noch Szepter waren den Weg nach Köln mitgegangen. Erst recht war Marsilius geblieben. Vielleicht sah er keine Veranlassung, seine Position in Heidelberg zugunsten unklarer Zukunftsaussichten aufs Spiel zu setzen, obwohl er ein Kanonikat und die Dignität des Thesaurars am Kölner Stift St. Andreas innehatte58 und also auch in Köln „versorgt“ gewesen wäre: Marsilius blieb in Heidelberg und übernahm sofort interimistisch das Amt des Rektors für den – freilich nur kurzen – verbleibenden Rest dieser Amtsperiode: ob ihm dazu seine „Verweserschaft“, sein Vikariat für den Pfalzgrafen geholfen hat, das Ruprecht I. ihm seinerzeit eingeräumt hatte, wissen wir nicht. Jedenfalls leitete er anscheinend sofort energische Schritte zur Begrenzung des Schadens ein. Und in der Tat gelang es ihm, den Bestand seiner Universität zu sichern. Es kennzeichnet seine Klarsicht, daß er damit nicht schon zufrieden war, sondern daß er hinfort ständig bestrebt scheint, mit Hartnäckigkeit, Phantasie und Einsatzbereitschaft die wirtschaftlichen Grundlagen des Heidelberger Studiums zu festigen und zu erweitern. Zuerst gab der Regierungsantritt Papst Bonifaz’ IX. Anlaß zu einem neuen Supplikenrotulus, der diesesmal von Marsilius persönlich, zusammen bezeichnenderweise mit Konrad von Soltau nach Rom gebracht worden ist. Wichtige Privilegien, die Bestellung päpstlicher Konservatoren und die Inkorporation von 12 nahegelegenen Stiftspfründen, sind damals erreicht worden59.
56 Zu diesem Krieg vgl. immer noch die anschauliche Schilderung von L. Häusser, Geschichte der rheinischen Pfalz nach ihren politischen, kirchlichen und literarischen Verhältnissen, Bd. 1 (Mannheim 21856, Neudruck Speyer 1978), 182–184. Handbuchdarstellung etwa durch F. Baethgen, Schisma und Konzilszeit, Reichsreform und Habsburgs Aufstieg, Gebhardts Handbuch der Deutschen Geschichte, 9. Aufl. hg. v. H. Grundmann, Taschenbuchausgabe Bd. 6, dtv WR 4206 (München 1973 u.ö.), 24 f. 57 H. Jakobs, Auswanderungen aus der Universität Heidelberg in Pestzeiten, Das Beispiel Eppingen 1564/65, Ruperto Carola 75 (1986), 65–75, hier 69. 58 AUH I, nr. 72 (147, Zl. 29 f.). 59 Vgl. AUH I, nrr. 11 und 60 (46–49 u. 118–124).
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Nach dem Tode Ruprechts I. verstand es Marsilius zudem geschickt, den Nachfolger Ruprecht II. zu der Stiftung einer exorbitanten Summe von angeblich 3000 fl. auf einmal an seine Universität zu 35 veranlassen60, als er | dem Pfalzgrafen 1390 bei seiner Rückkehr aus Rom die Kommutation einer möglichen, aber offenbar unerwünschten Jubelwallfahrt zum Rom des päpstlichen „anno santo“ 1390 schmackhaft zu machen wußte61. Nach der Urkunde hatte der Kurfürst 3000 Gulden für kirchliche Zwecke seines Landes auszugeben und wahrscheinlich denselben Betrag an die Kurie Bonifaz’ IX. abzuführen62. Dann durfte er damit rechnen, derselben Ablässe und Indulgenzen teilhaftig zu werden, die fromme Rompilger dort anhäufen konnten. Die Universität hat aus den damals ihr vom Fürsten überschriebenen Zolleinnahmen von Bacharach und Kaiserswerth63 bis zum Jahre 1798 feste Einnahmen von beträchtlicher Höhe ziehen können64. Wie für die Pfalz allgemein waren so die Rheinzölle auch
60 Winkelmann, Urkundenbuch I, nr. 29, 50–51. Freilich ist anscheinend nicht die gesamte Summe zur Auszahlung gelangt: vgl. bereits Winkelmann, Urkundenbuch I, Nr. 29, Nachbemerkung (51) und besonders künftig AUH I, 2, nr. 156 (fol. 48r–v), wo zum November 1392/Jan. 1393 in einem Eintrag des Marsilius ausdrücklich vermerkt wird, der Pfalzgraf habe von den weiteren der Universität zur Auslösung der Tournosen zur Verfügung gestellten 2000 fl. nur 1000 fl. wirklich ausgezahlt, et alii mille sumi debebant de pecuniis, quas habebat universitas tam adhuc de aliis datis per dictum dominum ducem, quam restantibus de testamento domini prepositi [d.i. Konrad von Gelnhausen], quam eciam de pecuniis, quas recepit universitas de libris sibi ad collegium assignatis sumptis in expulsione Iudeorum. Der Pfalzgraf – es war Ruprecht II. – nutzte also offenbar die Gelegenheit zu einer Generalbereinigung der Finanzlage der Universität, bei der er zugleich auch einen erklecklichen Teil seiner Verpflichtungen einzusparen in der Lage war, indem er schon geleistete Auszahlungen nachträglich als Teil der pii usus deklarierte. 61 Die Initiative des Marsilius ist ausdrücklich bezeugt im Finanzbericht der Universität, erstattet 1410 durch den damaligen Rektor Konrad von Soest an Kurfürst Ludwig III., vorläufig (nicht ohne Fehler) gedruckt bei J. F. Hautz, Geschichte der Universität Heidelberg, Bd. II (Mannheim 1864, Neudruck Hildesheim 1980), 366–370, nr. XVIII, hier 368, Zl. 12–16 (künftig AUH I, 2 nr. 446). 62 Diese Zahlungen (über die freilich keinerlei Nachrichten überliefert sind) müssen dann vorausgesetzt werden, wenn Papst Bonifaz IX. diese besondere Gnade nicht aus politischen Gründen ohne Gegenleistung gewährt hat (worüber wir ebensowenig wissen; es widerspräche jedoch der damals üblichen Praxis), vgl. allgemein A. Esch, Bonifaz IX. und der Kirchenstaat, Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 29 (Tübingen 1969), 56–58 (mit der älteren Literatur). 63 Winkelmann, Urkundenbuch I, nr. 32 (56 f.) 64 Vgl. dazu im einzelnen etwa H. Brunn, Wirtschaftsgeschichte der Universität Heidelberg von 1558 bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, phil. Diss. (masch.) Heidelberg 1950, bes. 112–117, und G. Merkel, Wirtschaftsgeschichte der Universität Heidelberg im 18. Jahrhundert, Veröff. d. Komm. f. gesch. Landeskunde in Baden-Württemberg, B 73 (Stuttgart 1973), 4, 153–173, bes. 160 f. Zuletzt M. Vetter, Zur Finanzierung der Universität
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für die Heidelberger Universität eine wesentliche finanzielle Basis und stets sprudelnde Einnahmequelle. Ich müßte jetzt noch über die große Politik der Universität in der Schismazeit und des Marsilius Anteil daran berichten. Der Kampf in Heidelberg gegen die Pariser Lizenzen, die der dortige (natürlich im | Schisma clementistische) Kanzler erteilt hatte65, wäre da ebenso 36 zu nennen, wie andere Aktivitäten66, an denen wir unseren Marsilius als überzeugten Anhänger der römischen Obedienz eifrig beteiligt sehen. Darauf soll hier nicht mehr näher eingegangen werden. Doch ich meine wirklich nicht, eine saubere Rollenteilung zwischen dem Rektor der Universität und dem kurfürstlichen pfaffen, dem Mitglied des kurfürstlichen Rates und Hofes Marsilius vornehmen zu können. Auch auf diesem Felde hat Marsilius seine Meinungen kräftig und mehrheitsbildend in seiner Universität zu verbreiten gewußt. Wieweit er bei Hofe die politische Haltung der Pfalz mitbestimmte, das freilich entzieht sich unserer Kenntnis. Das alles bleibe hier unbehandelt. Ein kurzes Wort noch zu Marsilius’ letztem Dienst für seine Heidelberger Universität. Am 23. Juni 1396 war Marsilius zum letzten, zum 9. Male zum Rektor gewählt worden, am 20. August dieses Jahres ist er gestorben67, nicht ohne in den Monaten zuvor die Manuskripte seiner Bibliothek sorgfältig durch eigenhändige Aufschriften testamentarisch zu vergeben. Den Löwenanteil erhielt die Universität Heidelberg, die dann aber nachweislich ohne Rücksicht auf die wenigen anderen Verfügungen den ganzen Bestand in ihre Obhut nahm68, eine wichtige Quelle der
Heidelberg im Mittelalter, Die Einnahmen aus den Rheinzöllen in Bacharach und Kaiserswerth bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, Ruperto Carola 78 (1988), 59–66. 65 Vgl. vor allem AUH I, nr. 93 u. 102 (167 u. 171 f. – Einträge in das Rektorbuch, von denen nur der letzte wahrscheinlich von Marsilius stammt, der erste wohl aus dem Rektorat des Johannes Berswort). 66 Etwa die Beratungen mit Abgesandten des französischen Königs zur Kirchenfrage, zu denen die Universität eine Abordnung stellt, an der Marsilius teilnimmt, vgl. AUH I, nr. 124 (Regest; Text künftig in AUH I, 2). Auch die Errichtung eines Studienhauses der Zisterzienser römischer Observanz anstelle des Pariser Collegium Sti. Bernardi gehört hierher, vgl. etwa AUH I, nr. 56, 110 f., dazu ebenda, nr. 2, 13 f. Dazu die gediegene Untersuchung von J. M. Grothe, Cistercians and Higher Education in the Late Middle Ages with a special reference to Heidelberg, PhD-Thesis: Catholic University of America, Washington D.C. 1976 (masch.). 67 Weisert, Die Rektoren (wie Anm. 33), 303, nr. 34. 68 Das Verzeichnis seiner Bücher (237 Titel) hat die Universität sowohl ins Rektorbuch, als auch – in anderer Fassung – in die Matrikel aufgenommen, ed. Töpke,
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Schätze der Universitätsbibliothek noch in späteren Zeiten. Auch Marsilius hat damit zur materiellen Fundierung der universitas studii 37 heydelbergensis einen bemerkenswerten Beitrag geleistet. | Ich breche ab. Wir haben nur einen Auszug aus den vielfältigen Aktivitäten des Rektors Marsilius von Inghen hier behandelt. Marsilius hat, an der Grenze zwischen zwei Epochen der europäischen Universitäts-geschichte stehend, bei der Transformation Pariser Traditionen und ihrer Umgestaltung für die kleineren Verhältnisse der spätmittelalterlichen Landesuniversitäten entscheidende Weichen stellen helfen. Für Heidelberg hat er in einigen Punkten sich nicht durchsetzen können, in anderen hat er die Gestalt dieser Universität bis ins 18. und 19. Jahrhundert hinein geprägt. So haben die Folgen seiner praktischen Tätigkeiten noch längere Nachwirkungen gehabt, als seine akademischen Zweckschriften mit ihrem ohnedies großen Widerhall69. Freilich steht Marsilius in seiner praktischen Tätigkeit noch deutlicher in der Reihe seiner Zeitgenossen und spricht vor allem als Repräsentant des 14. Jahrhunderts zu uns, das in mancherlei Hinsicht uns näher ist, als wir es selber immer wissen. Vielleicht hat Marsilius nicht zuletzt dazu beigetragen, daß das so ist, wie es ist.
Matrikel Heidelberg, Bd. I, 678–685 (eine weitere Ausgabe ist für AUH I, 2 vorgesehen). Zur Mißachtung der eigenhändig in die einzelnen Manuskripte eingetragenen Verfügungen des Marsilius durch die Universität vgl. Miethke, Autograph (wie Anm. 52), 44b. 69 Stark wirkungsgeschichtlich orientiert ist der schöne Essay von R. Specht, Marsilius von Inghen, über die Bedeutung des ersten Rektors der Universität Heidelberg, Ruperto Carola 75 (1986), 17–22. Zu der handschriftlichen Überlieferung seiner Schriften jetzt die Übersicht von M. Markowski, in diesem Band.
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DIE MITTELALTERLICHEN UNIVERSITÄTEN UND DAS GESPROCHENE WORT*
Wenn die Eule der Minerva wirklich erst bei Einbruch der Dämmerung ihren Flug beginnt, so überrascht es nicht, daß uns heute die Kultur der Schrift und Schriftlichkeit in unerhörter Weise fraglich wird. Die neuen Medien der Informationsvermittlung, die neuen Möglichkeiten der Informationsverarbeitung bringen, wie wir täglich erfahren können, altgewohnte Traditionen der Behandlung von Texten wenn nicht an ein Ende, so doch zur Verwandlung. Neue Formen des Umgangs verdrängen überkommene Verhaltensweisen. Aus Erfahrung scheinbar gesicherte Chancen unserer kulturellen Überlieferung werden zugunsten anderer Instrumente beiseitegestellt: Der Kopierautomat hat längst das Exzerpt an den Rand gerückt, und der Computer hat auch in den Geisteswissenschaften, dort also, wo seine Rechenkapazitäten nicht unmittelbar zum Einsatz gebracht werden können, Zettelkästen und Konzeptmappen weitgehend abgelöst. Daß sich in den letzten Jahrzehnten auch die Fragen des schriftlich niedergelegten Textes, seiner Überlieferung, seiner Verbreitung, seiner Entstehungsbedingungen und Wirkungen in neuer Dringlichkeit in verschiedenen Wissenschaften stellten, ist demnach kein Zufall. Linguistische, ästhetische, literaturwissenschaftliche, soziologische, ethnologische und – selbstverständlich – auch historische Bemühungen gelten dem, was Schrift und Schriftlichkeit be | deuten1. Angesichts 6 * Leicht überarbeitete und durch Anmerkungen ergänzte Fassung eines Vortrages, den ich als Stipendiat des „Historischen Kollegs“ am 8. Mai 1989 in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München gehalten habe. Das Manuskript wurde im Sommer 1989 abgeschlossen. Der Charakter des gesprochenen Worts wurde bewußt bewahrt. 1 Eine eigene Bibliographie wäre erforderlich, sollten auch nur die wichtigsten Beiträge hier aufgeführt werden. Eklektisch nenne ich darum jeweils nur wenige Studien, zuerst die grundlegende Untersuchung von Herbert Grundmann, ‚Litteratus‘ – ‚illitteratus‘. Der Wandel einer Bildungsnorm vom Altertum zum Mittelalter, in: AKG 40, 1958, 1–65, jetzt auch in: ders., Ausgewählte Aufsätze. Bd. 3. (Schriften der MGH, 25/3.) Stuttgart 1978, 1–66; neuerlich etwa: Jan Assmann/Aleida Assmann/Christof Hardmeier (Hrsg.), Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation. München 1983; Paul Zumthor, ‚Litteratus‘/
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unserer Erfahrungen im gleitenden Übergang am empfundenen „Ende“ einer Epoche haben die Phasen des Anfangs, jene Zeiten des Übergangs zur Schriftlichkeit die besondere Aufmerksamkeit der Betrachter gefunden. Die Erfindung der Schrift in den Hochkulturen des Alten Orients2, die Entstehung von schriftlicher Literatur aus mündlicher Dichtung, besonders in Griechenland, aber auch in jenen volkssprachlichen Literaturen des Mittelalters, die vom Vortrag zur Niederschrift übergingen3, standen dabei im Vordergrund. Ethnographische Beobachtungen zur Vortragstechnik von Volkssängern auf dem Balkan4 oder zum Übergang von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit in afrikanischen Kulturen5 gaben wichtige Anstöße. Das Thema 7 „Mündlichkeit und | Schriftlichkeit“ erscheint heute jedenfalls aktuell: der Deutschen Forschungsgemeinschaft war es vor nicht allzu langer Zeit die Einrichtung zweier neuer Sonderforschungsbereiche, in Freiburg6 und Münster7, wert, die freilich ihre Arbeit gerade erst aufgenommen haben.
‚Illitteratus‘. Remarques sur le contexte vocal de l’écriture médiévale, in: Romania 106 (= a. 114), 1985, 1–18; Denis Howard Green, Über Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der deutschen Literatur des Mittelalters. Drei Rezeptionsweisen und ihre Erfassung, in: Philologie als Kulturwissenschaft. Studien zur Literatur und Geschichte des Mittelalters. Fschr. f. Karl Stackmann z. 65. Geb. Göttingen 1987, 1–20; Klaus Grubmüller, Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Unterricht. Zur Erforschung ihrer Interferenzen in der Literatur des Mittelalters, in: Der Deutschunterricht 41, 1989, 41–54. 2 Dazu Jan Assmann, Schrift, Tod und Identität. Das Grab als Vorschule der Literatur im alten Ägypten, in: ders./Assmann/Hardmeier (Hrsg.), Schrift und Gedächtnis (wie Anm. 1), 64–93, und erneut Jan Assmann/Aleida Assmann, Schrift, Tradition und Kultur, in: Wolfgang Raible (Hrsg.), Zwischen Festtag und Alltag. Zehn Beiträge zum Thema „Mündlichkeit und Schriftlichkeit“. (Script-Oralia, 6.) Tübingen 1988, 25–49. 3 Zum Mittelalter vor allem Michael T. Clanchy, From Memory to Written Record. England 1066–1307. London 1979; Brian Stock, The Implications of Literacy. Written Language and Models of Interpretation in the 11th and 12th Centuries. Princeton, N. J. 1983. 4 Albert Bates Lord, The Singer of Tales. Cambridge, Mass. 1960 (dt.: Der Sänger erzählt. Wie ein Epos entsteht. München 1965). 5 Vgl. allgemein: Jack Goody, Literacy in Traditional Societies. Cambridge 1968 (dt.: Literalität in traditionalen Gesellschaften. Frankfurt am Main 1981); John Miles Foley (Ed.), Comparative Research on Oral Traditions. A Memorial for Milman Parry. Columbus, Ohio 1985. 6 Sonderforschungsbereich 231: „Übergänge und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“; aus der Arbeit dieses Sonderforschungsbereichs ging u.a. hervor: Raible (Hrsg.), Zwischen Festtag und Alltag (wie Anm. 2). 7 Programmatisch mit zahlreichen Literaturhinweisen Hagen Keller, „Träger, Felder, Formen pragmatischer Schriftlichkeit im Mittelalter“. Der neue Sonderforschungsbereich 231 der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, in: FMSt 22, 1988, 388–409. Vgl. auch den in Anm. 36 zitierten Aufsatz von Jan-Dirk Müller.
das gesprochene wort
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I Hier ist nicht Bilanz zu ziehen, auch eine verantwortliche Aufnahme der sehr verschieden gerichteten Bemühungen soll hier nicht unternommen werden, die auf dem weiten Feld dieses Interesses im Gange sind. Mit unserer Frage nach dem Ort des gesprochenen Wortes an den mittelalterlichen Universitäten8 greifen wir, wie es scheint, nach einem Randphänomen der mündlichen Kommunikation, denn soviel ist doch deutlich: Wenn für Schriftlichkeit irgendeine sichere Zuordnung möglich scheint, so die zu Gelehrsamkeit, zu Wissenschaft und ihren Institutionen. Universität und Schrift gehören sozusagen ex definitione ganz unmittelbar zusammen. Und früh war man sich dessen bewußt: Schon in den frühen Anfängen der Universität, am 26. November 1229, hat Papst Gregor IX. in einem Mahnbrief an den jungen französischen König Ludwig IX. und an die damalige Regentin, seine Mutter, den Königshof dazu aufgefordert, in den Konflikten der Scholaren mit den Bewohnern von Paris vermittelnd einzugreifen: Frankreich sei an Macht, Weisheit und Güte schon lange anderen Ländern überlegen, es sei durch die Tapferkeit seiner Ritter mächtig, durch Bildung seines Klerus in der Schriftkenntnis weise und durch die milde Güte seiner Fürsten ge | segnet. In clero litterarum 8 scientia predito sapiens: Weisheit kommt aus der Begabung mit dem Wissen der litterae 9. Die Universität Paris, damals gerade erst in den Anfängen ihrer freien Entfaltung, erscheint hier als institutioneller Garant solcher Begabung. Da auch unsere gegenwärtigen Erfahrungen dem nicht widersprechen, scheint es ausgemacht, daß Universität und Schriftlichkeit zusammengehören. Die mittelalterliche Universität gilt aus sehr verständlichen Gründen als eine zentrale, wenn nicht die zentrale Institution des Spätmittelalters, wo die Schriftkultur ihre spezifische Ausprägung fand, von wo aus sie in die Gesellschaft ausstrahlte, sich ferner stehende Bereiche, wie die Verwaltung, das Gerichtswesen, auch die Literatur, die Gebrauchsliteratur und die Fachprosa zuerst, 8 Hier soll nach einer Reflexion über Universität und Schrift (I) der mündliche Universitätsunterricht in lectio (II) und quaestio (III) untersucht werden. Resümierend wird dann auf das Anforderungsprofil universitärer Graduierung eingegangen (IV). Schließlich sollen gesellschaftliche Rahmenbedingungen universitärer Existenz und Ausbildung zu unserem Thema in Beziehung gesetzt werden (V). 9 Heinrich Denifle/Emile Chatelain (Eds.), Chartularium Universitatis Parisiensis (= CUP). Vol. 1–4. Paris 1891–1899, ND Brüssel 1965, hier Vol. 1, 128 f. nr. 71.
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aber doch auch die künstlerische Produktion, wenn nicht völlig eroberte, so doch stark und bestimmend sich anverwandelte. Für die Schrifttechnik und ihre Verbreitung hatte noch die spätmittelalterliche Universität eine hohe Bedeutung. Eine als „Schul- und Buchkursive“ anschaulich bezeichnete10 besondere Bastarda-Schrift fand etwa in Deutschland im 14. und 15. Jahrhundert weite Verbreitung, die gegenüber der förmlichen Buchschrift ein flüssigeres, dabei in vielen Fällen immer noch lesbares Schriftbild, vor allem aber einen rascheren Fluß der Schriftzüge ermöglichte; sie ist aber nur ein besonders markantes Beispiel für die an Universitäten ausgeprägten Schriftarten11, die zugunsten einer höheren Effizienz ältere kalligraphische Traditionen überdeckten. Auch die berühmte „Pecien“-Technik der gewerbsmäßigen Textverleger, der stationarii in den Universitätsstädten des 13. Jahrhunderts12 9 gehört hierher. Durch Abteilung von Textabschnitten | nach mechanischen Gesichtspunkten in Teile von jeweils meist etwa vier Blättern oder acht Seiten, die von einem geübten Kopisten in einer knappen Woche Schreibarbeit zu bewältigen waren13, und durch die parallele
10 Gerhardt Powitz, „Modus scolipetarum et reportistarum“, ‚Pronunciatio‘ and Fifteenth-Century University Hands, in: Scrittura e civiltà 12, 1988, 201–211. 11 Bekanntestes Beispiel dafür dürfte die littera Bononiensis sein, jene charakteristisch gerundete Schrift, in der in Bologna zahllose (vorwiegend juristische) Codices geschrieben worden sind. „. . . sie war sehr ökonomisch und doch sehr klar“, urteilt Bernhard Bischoff, Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters. (Grundlagen der Germanistik, 41.) 2. Aufl. Berlin 1986, 177. 12 Nach Jean Destrez, La pecia dans les manuscrits universitaires du XIIIe et du XIVe siècle. Paris 1935, und Karl Christ, ‚Petia‘. Ein Kapitel mittelalterlicher Buchgeschichte, in: Zentralbl. f. d. Bibliothekswesen 55, 1938, 1–44. Vgl. auch Graham Pollard, The pecia-System in the Medieval Universities, in: Medieval Scribes, Manuscripts and Libraries. Essays presented to Neil Ripley Ker. London 1978, 145–161; zuletzt zusammenfassend Louis-Jacques Bataillon/Bertrand-Georges Guyot/Richard Hunter Rouse (Eds.), La production du livre universitaire au moyen âge. ‚Exemplar‘ et ‚pecia‘. Actes du symposium tenu au Collegio San Bonaventura de Grottaferrata en mai 1983. Paris 1988 (mit reichen Literaturhinweisen). 13 Zum durchschnittlichen Umfang einer pecia und zur durchschnittlichen Dauer der Kopierarbeit (Werte, die natürlich keineswegs durchweg Geltung haben!) vgl. Hugues V. Shooner, La production du livre par pecia, in: Bataillon/Guyot/Rouse (Eds.), La production (wie Anm. 12), 17–37, bes. 31 ff. Knapp auch Jacques Stiennon, Paléographie du moyen âge. Paris 1973, 116 f. Eine ganz andere Rechnung freilich macht eine Handschrift des XV. Jahrhunderts auf, die 3200 Buchstaben auf eine pecia – diese freilich als pure Rechengröße verstanden – zählt; da sie 45 Buchstaben pro Zeile, 35 Zeilen pro Seite zählt, sind das gerade gut zwei Seiten; vgl. Anneliese Maier, Un calcolo di petiae, in: dies., Ausgehendes Mittelalter. Bd. 2. (Storia e letteratura, 105.) Rom 1967, 57 f. Hier wird die terminologische Unschärfe der zeitgenössischen Quellen deutlich. Pecia hieß eben „Stück“ und wurde manch-
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Ausleihe dieser quasigenormten Textteile an verschiedene Schreiber gleichzeitig konnte man auch umfangreiche Schriften sozusagen ständig im Angebot halten und am Ende durch diese Mechanisierung und Rationalisierung auf dem Handschriftenmarkt der Universität Organisationsvorteile einer straff geführten monastischen Schreibstube wiederholen. So ist der allgemeine Eindruck höchst plausibel, daß in den Universitäten für die „Verschriftlichung“ der spätmittelalterlichen Welt eine gewiß nicht ausschließliche, wohl aber sicherlich wichtige, wenn nicht am Ende die das Ergebnis bestimmende Instanz gesehen werden muß. Die Mechanik der Entwicklung erscheint in dieser Auffassung beherrscht von der Durchsetzungskraft des Überlegenen, dem sich, über kurz oder lang, das Rückständige beugen mußte. Dieses glatte | und 10 in seinen Linien eindeutig ausgezogene Bild läßt sich bis hinein in Erklärungsmuster für Universitätsgründungsakte verfolgen: Die Fürsten und Städte, die sich im späten Mittelalter aufmachten, ein studium zu errichten, taten das, so wird dann gesagt, um die Verwaltung ihres Territoriums zu verbessern, zu sichern, mit qualifiziertem Personal zu versehen. Die Untersuchungen, die etwas genauer auf die soziale Biographie der Universitätsabgänger eingehen, haben aber gezeigt, daß dieser einfache Rückschluß von den Wirkungen auf die Intentionen so schlicht nicht möglich ist14. Häufig liegen gewaltige Zeiträume, ein halbes Jahrhundert und länger, zwischen dem Gründungsentschluß und dem angeblich angestrebten Effekt. Das Beispiel der Universität Heidelberg sei hier angeführt, die als älteste Universitätsgründung auf dem Boden der heutigen Bundesrepublik in dem üblichen zeitraubenden Verfahren 1385/86 eingerichtet worden ist15: Erst seit mal auch so allgemein gebraucht. Allgemein zur Wortgeschichte Olga Weijers, Terminologie des universités au XIIIe siècle. (Lessico intellettuale europeo, 39.) Rom 1987, 249–254; vgl. auch Léopold Gilissen, La composition des cahiers, le pliage du parchemin et l’imposition, in: Scriptorium 26, 1972, 3–33, bes. 7–18. Allgemein zu den Arbeitsbedingungen Louis-Jacques Bataillon, Les conditions de travail des maîtres de l’université de Paris au XIIIe siècle, in: Rev. des sciences philosophiques et théol. 67, 1983, 417–433. 14 Vgl. Jürgen Miethke, Die Kirche und die Universitäten im 13. Jahrhundert, in: Johannes Fried (Hrsg.), Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters. (VuF, 30.) Sigmaringen 1986, 285–320, bes. 292 ff. 15 Dazu zuletzt etwa Eike Wolgast, Die Universität Heidelberg 1386–1986. Heidelberg 1986, bes. 1–16; Jürgen Miethke, Universitätsgründung an der Wende zum 15. Jahrhundert. Heidelberg im Zeitalter des Schismas und des Konziliarismus, in: Geschichte der Universität Heidelberg. (Studium generale, Wintersemester 1985/ 86.) Heidelberg 1986, 9–33; ders., Ruprecht I., der Gründer der Universität Heidelberg, in: Eike Wolgast (Hrsg.), Die Sechshundertjahrfeier der Ruprecht-Karls-Universität
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der Mitte des 15. Jahrhunderts wird die Präsenz von Universitätsgraduierten in der Territorialverwaltung der Kurpfalz deutlicher greif11 bar16, wenn natürlich von Beginn | an die Universitätsprofessoren auch mit dem fürstlichen Hof in eine enge Beziehung getreten sind17. Wir wollen uns nicht auf eine genauere Erörterung dieser fundamentalen Frage einer Sozialgeschichte der spätmittelalterlichen Universitätsbesucher einlassen. Wir können aber festhalten, daß jene einlinige Modellskizze, von der wir eben ausgegangen sind, starke Differenzierungen und Korrekturen verlangt. Vielleicht kann die Frage nach der Stellung der Universitäten zum gesprochenen Wort uns helfen, auf diesem Wege zu einem genaueren Verständnis etwas voranzukommen. Ganz gewiß konnte ein Universitätsabgänger, wenn er – was durchaus vorkommen konnte – nicht unmittelbar nach seiner Immatrikulation sein Vorhaben plötzlich wieder aufgab, auch dann, wenn er nicht die gesamte Zeit eines Studienganges an der Hochschule durchlaufen hatte, nicht nur lateinische Texte lesen – das dürfen wir sogar vor seiner Immatrikulation als Regelfall voraussetzen –, sondern er verstand es in der Regel darüber hinaus, Texte auch schriftlich festzuhalten18. Über den mittelalterlichen Schreibunterricht vor dem AufHeidelberg. Eine Dokumentation. Heidelberg 1987, 147–156; Gottfried Seebaß, Heidelberg – Universitätsgründung im Spannungsfeld des Spätmittelalters, in: Ruperto Carola 74, 1986, 15–21. 16 Dietmar Willoweit, Das juristische Studium in Heidelberg und die Lizentiaten der Juristenfakultät von 1386 bis 1436, in: Wilhelm Doerr (Hrsg.), Semper apertus. 600 Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Bd. 1. Berlin/Heidelberg/New York/Tokio 1985, 85–135, bes. 120 ff. Ähnliches hat für (die spätere Gründung) Freiburg i. Br. beobachtet Dieter Mertens, Die Anfänge der Universität Freiburg, in: ZGO 131, 1983, 289–308, hier 302 f.; allgemein vor allem Ernst Schubert, Motive und Probleme deutscher Universitätsgründungen des 15. Jahrhunderts, in: Peter Baumgart/Notker Hammerstein (Hrsg.), Beiträge zu Problemen deutscher Universitätsgründungen der Frühen Neuzeit. (Wolfenbütteler Forschungen, 4.) Nendeln, Liechtenstein 1978, 13–77, bes. 21 f., 54 f. 17 Für Heidelberg vgl. besonders Peter Moraw, Heidelberg: Universität, Hof und Stadt im ausgehenden Mittelalter, in: Bernd Moeller/Hans Patze/Karl Stackmann (Hrsg.), Studien zum städtischen Bildungswesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.hist. Kl., F. 3, 137.) Göttingen 1983, 524–552. 18 Über den Unterschied von Lese- und Schreibfertigkeit vgl. etwa Alfred Wendehorst, „Monachus scribere nesciens“, in: MIÖG 71, 1963, 67–75. Im Spätmittelalter, unter geänderten Bedingungen, schimmert noch in der Differenzierung zwischen Buchschriftfertigkeit und Schreibfähigkeit diese alte Unterscheidung durch, wenn etwa Abt Ludolf von Sagan († 1422) in seinem „Catalogus abbatum Saganensium“ über seine eigene Karriere im Stift berichtet: Hic a sui ingressus exordio cancellarie abbatis et fratrum et literis in latino dictandis preerat (. . .) nescivit tamen scribere, sed aliis pronunciavit. Scripsit autem (. . .) non pauca, quamvis sub illegibili litera, quorum aliqua fratribus scribenda ore proprio dedit ad pennas (Ed. Gustav Adolf Stenzel, in: Scriptores
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schwung des Schulwesens im 15. und 16. Jahrhundert wissen wir verzweifelt wenig19, und das Wenige, was wir wissen, zeigt | fließende 12 Konturen. Es scheint jedenfalls festzustehen, daß auch an der Universität noch intensiv das Schreiben gelernt und geübt worden ist20. Schreib- und Lesefähigkeit war aber sicherlich jene Qualifikation, die man ohne weiteres auch bei jenem weitaus überwiegenden Teil der im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung ohnedies nicht übermäßig zahlreichen Studenten voraussetzen durfte, die, aus welchen Gründen auch immer, darauf verzichtet hatten oder darauf verzichten mußten, einen formellen Abschluß ihres Studiums zu erreichen. Bekanntlich war das der weitaus überwiegende Teil der Universitätsbesucher: Wo wir die Zahlen etwas genauer kennen, d.h. in den deutschen Universitäten des 15. Jahrhunderts21, sprechen sie eine recht deutliche Sprache. In der „allgemeinbildenden“ Artes-Fakultät der Universität Erfurt ließen sich im letzten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts überhaupt nur knapp 10% der Inskribierten (9,52%) auf den alleruntersten akademischen Grad, eines baccalarius artium ein, ein rerum Silesicarum. Bd. 1. Breslau 1835, 231 f.). Zu ihm vor allem Franz Machilek, Ludolf von Sagan und seine Stellung in der Auseinandersetzung um Konziliarismus und Hussitismus. (Wissenschaftliche Materialien und Beiträge zur Geschichte und Landeskunde der böhmischen Länder, 8.) München 1967. 19 Für England exemplarisch jetzt Jo Ann Hoeppner Moran, The Growth of English Schooling 1340–1548. Learning, Literacy and Laicization in Pre-Reformation York Diocese. Princeton, N.J. 1985; für das Reich siehe vor allem Moeller/Patze/ Stackmann (Hrsg.), Studien zum städtischen Bildungswesen (wie Anm. 17); für Italien jetzt Paul F. Grendler, Schooling in Renaissance Italy. Literacy and Learning, 1300–1600. (The Johns Hopkins Studies in Historical and Political Science, 107/1.) Baltimore 1989. 20 István Hajnal, L’enseignement de l’écriture aux universités médiévales (1954). 2e édition revue et augmentée par László Mezey. Budapest 1959. (Freilich haben sich bisher keine Texte oder Handschriften gefunden, die die weitgreifenden Vermutungen Hajnals in wesentlichen Zügen bestätigen könnten; jedoch sind die Überlieferungen von Schulkladden bzw. Wachstafeln mit Schülerübungen ohnedies äußerst selten.) Zum Schreibunterricht an der Universität Rolf Engelsing, Analphabetentum und Lektüre. Zur Sozialgeschichte des Lesens in Deutschland zwischen feudaler und industrieller Gesellschaft. Stuttgart 1973, 12. 21 Da außerhalb Deutschlands Matrikellisten nicht überliefert sind, ist man dort auf Schätzungen angewiesen. Vgl. immerhin für England die abgewogenen Studien von Trevor Henry Aston, Oxford’s Medieval Alumni, in: P & P 74, 1977, 3–40, sowie ders./G. D. Duncan/T. A. R. Evans, The Medieval Alumni of the University of Cambridge, in: P & P 86, 1980, 9–86. Diese beiden Arbeiten können sich auf die reichen prosopographischen Ergebnisse Alfred Brotherston Emdens stützen. Für Frankreich – außer den Studien von Jacques Verger (wie Anm. 24) – etwa Charles Vulliez, Une étape priviligiée de l’entrée dans la vie: le temps des études universitaires à travers l’exemple orléanais des derniers siècles du moyen âge, in: Les entrées dans la vie. Initiations et apprentissages. Nancy 1982, 149–181.
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Anteil, der im Laufe des 15. Jahrhunderts freilich stetig steigt: 1401–1410 auf 12,16%, 1411–1420 auf 17,69%, 1421–1431 auf 13 18,76%, um dann nach 1441 sich so kräftig zu erhö | hen, daß als Gesamtdurchschnitt für 1392–1521 ein Prozentsatz von immerhin knapp 30% (29,61%) errechnet worden ist22. Der „höhere“ Grad eines magister artium war eine Position, die für das Studium der sogenannten höheren Fakultäten gleichsam nur eine Art von Zwischenprüfung darstellte, die aber für diese Studiengebiete im allgemeinen unentbehrlich war; demnach wäre dieser Grad heute am ehesten noch mit dem Abitur zu vergleichen. Selbst diese für moderne Verhältnisse relativ bescheidene Qualifikation erreichten nur noch ein Sechstel bis ein Viertel dieser Bakkalare – im Gesamtdurchschnitt in Erfurt mit ca. 3,5% sogar noch weit weniger23. Und dementsprechend niedrig sind die Promotionszahlen der höheren Fakultäten, nicht nur in Erfurt. Auch für die südfranzösische Universität Avignon sind ähnliche Zahlen errechnet worden24. In Heidelberg, einer kleineren Universität mit durchschnittlich ca. 130 Inskriptionen jährlich25, promovierten in den ersten 50 Jahren des Bestehens insgesamt 63 Studenten zum Lizentiaten der Rechtswissenschaften, nur ein 14 Drittel von diesen wiederum zum doctor iuris | (genau gesagt 21, d.h.
22 Diese Zahlen nach Horst Rudolf Abe, Die artistische Fakultät der Universität Erfurt im Spiegel ihrer Bakkalaurei- und Magisterpromotionen der Jahre 1392–1521, in: Beitr. z. Gesch. d. Universität Erfurt 13, 1967, 33–90, hier 56 bzw. 65. Eine tabellarische Aufstellung der absoluten Zahlen von frühen artistischen Magisterpromotionen der Universitäten Prag, Wien, Heidelberg, Köln, Erfurt, Krakau und Leipzig jetzt bei Paul Uiblein, Mittelalterliches Studium an der Wiener Artistenfakultät. Kommentar zu den „Acta facultatis artium universitatis Vindobonensis“, 1385–1416. (Schriftenreihe des Universitätsarchivs, 4.) Wien 1987, 82. 23 Abe, Artistische Fakultät (wie Anm. 22), 57 f. (1392–1401: 0,69% der Immatrikulierten, 1401–1411: 2,84%, 1421–1431: 4,09%, usw.) – vgl. auch die Graphik ebd. 59. 24 Jacques Verger, Les comptes de l’université d’Avignon (1430–1512), in: Jozef Ijsewijn/Jacques Paquet (Eds.), The Universities in the Late Middle Ages. (Mediaevalia Lovaniensia, Ser. 1, Studia 6.) 2nd print Leuven 1980, 198–209, bes. die Tabellen 207 f. Vgl. ders., Sull ruolo sociale delle università: La Francia trà medioevo e Rinascimento, in: Quad. stor. 8, 1973, 313–358, hier 326: Von den Studenten der höheren Fakultäten erreichten 20 bis 30% das Bakkalariat, 5–10% die Lizenz, 1–2% den Doktorgrad; s. auch ders., Remarques sur l’enseignement des arts dans les universités du Midi à la fin du moyen âge, in: Ann. du Midi 91, 1979, 355–381. 25 Zu den Frequenzen der deutschen Universitäten zuletzt gründlich Rainer Christoph Schwinges, Deutsche Universitätsbesucher im 14. und 15. Jahrhundert. Studien zur Sozialgeschichte des Alten Reiches. (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte, 123.) Stuttgart 1986, hier zu Heidelberg 73–83 sowie die Auswertung passim.
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bestenfalls jedes zweite Jahr einer!)26. Der theologische Doktortitel war noch seltener27. Aber verlassen wir solche trockenen Zahlen. Diese Daten sollten nur exemplarisch verdeutlichen, wie gefährlich es ist, die Wirkung der mittelalterlichen Universität auf ihre soziale Umwelt quantitativ zu überschätzen. Die Graduierung war keineswegs das einzig denkbare Ziel für die Mehrzahl der Universitätsbesucher. Freilich gab es eine berufliche Karriere, für die die Graduierung von Anfang an unentbehrlich war. Ohne sich der Graduierung zu unterziehen, konnte man an der Universität nicht reussieren. Nur derjenige konnte zum Universitätslehrer werden, der die Promotion erfolgreich hinter sich brachte. Insofern zeigt sich in den Anforderungen, denen ein Promovend zu genügen hatte, doch auch ein gut Teil dessen, was die bestimmenden Kräfte an einer mittelalterlichen Universität bei den Ausbildungszielen eines Studiums für wichtig gehalten haben – wir werden darauf zurückkommen müssen. Jedenfalls lernten die Universitätsangehörigen während ihrer Zeit an den Universitäten ohne Frage, mit überlieferten Texten, ja mit Textmassen umzugehen. Die Buchwissenschaften der Scholastik haben jeweils ihren Umgang mit Texten von fast selbstverständlicher Geltung sehr rasch auf das sichere Gleis der Gewöhnung gestellt. Alle Fakultäten bildeten spätestens im 13. Jahrhundert den wesentlichen Kanon von Büchern aus, die ihrem Unterricht zugrunde lagen, und das in erstaunlicher Einheitlichkeit über ganz Eu | ropa hin28. Von Bologna aus 15 setzten sich das „Corpus Iuris Civilis“ wie das „Decretum Gratiani“ 26 Liste (mit prosopographischen Daten) bei Willoweit, Juristisches Studium (wie Anm. 16), 101–114. 27 Die Promotionsliste der Matrikel verzeichnet für die Jahre 1386–1397 überhaupt nur zwei theologische Promotionen; vgl. Gustav Toepke (Hrsg.), Die Matrikel der Universität Heidelberg. Bd. 1. Heidelberg 1884, 1–3 (Marsilius von Inghen, prom. 1395/96, und Johannes Holczsadel, prom. ca. 1396). Auch die Zahlen der Bakkalar-Liste der theologischen Fakultät, in die spätere Graduierungen bis zur Lizenz eingetragen wurden, ergibt ein entsprechendes Bild: Von 1407 bis 1437 sind 20 Lizenziaten verzeichnet; Toepke, Matrikel (wie Anm. 27), Bd. 2, 586–599. Ähnlich ist auch das Zahlenverhältnis in Leipzig, einer der „großen“ deutschen Universitäten (Schwinges, Deutsche Universitätsbesucher [wie Anm. 25], 105–117, bes. 109 ff.); vgl. die Promotionslisten in: Georg Erler (Hrsg.), Die Matrikel der Universität Leipzig. Bd. 2: Die Promotionen von 1409–1559. (Codex Diplomaticus Saxoniae, II/17.) Leipzig 1897, passim. (Bei den Theologen wurden etwa von 1428 bis 1458 nur 28 Kandidaten zur Lizenz zugelassen; vgl. ebd. 3–8.) 28 Die Untersuchungen des Lehrprogramms der einzelnen Fakultäten sind naturgemäß breit gestreut. Zu den englischen Universitäten vgl. zuletzt zusammenfassend William J. Courtenay, English Schools and Scholars. Princeton, N.J. 1986, 30–48.
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und die Dekretalensammlungen für die Juristen als maßgeblich durch, die Theologen stellten neben die Bibel die „Historia scholastica“ des Petrus Comestor und die Kompilation der patristischen Sentenzen, die Petrus Lombardus (ebenfalls in Paris kurz nach der Mitte des 12. Jahrhunderts) zusammengestellt hatte, und ordneten beide rasch fest in den Unterrichtsplan ein. Bei den Medizinern war das Corpus der maßgeblichen Schriften griechischer und arabischer Medizin auch relativ bald abgeschlossen29, und die Etablierung der Aristotelesschriften als maßgebliche Grundlage des artes-Unterrichts brauchte ebenfalls nicht lange zu warten. Fast gleichzeitig mit ihrem Bekanntwerden setzten sich die Texte des philosophus an den europäischen Hochschulen durch. Schon seit der Mitte des 13. Jahrhunderts ist kein Absolvent der artes-Fakultät mehr denkbar, der nicht wichtige Schriften des aristotelischen Korpus dort intensiv kennengelernt hätte30. Dieser Kanon der als autoritativ geltenden Schriften wurde nun nicht etwa für sich allein einer ständigen Bemühung um Aneignung und Verständnis unterworfen. Auch hier bleibt noch das Modell der schriftlichen Behandlung der Texte maßgebend. Eine erste, eine 16 grundlegende Kommentierung wurde entweder, wie bei der | Glossa ordinaria zur Bibel31 oder zu den Rechtssammlungen32, in eigenen Für die deutschen Artes-Fakultäten Sönke Lorenz, „Libri ordinarie legendi“. Eine Skizze zum Lehrplan der mitteleuropäischen Artistenfakultät um die Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert, in: Wolfram Hogrebe (Hrsg.), Argumente und Zeugnisse. (Studia philosophica et historica, 5.) Frankfurt am Main/Bern/New York 1985, 204–258. Vgl. auch unten Anm. 65. 29 Zu den Texten, die im Medizin-Unterricht eine Rolle spielten, eingehend die weitgespannte Einleitung der Herausgeber in: Gerhard Baader/Gundolf Keil (Hrsg.), Medizin im mittelalterlichen Abendland. (Wege der Forschung, 363.) Darmstadt 1982, 1–44. 30 Zur Aristotelesrezeption im einzelnen vgl. die neueren Zusammenfassungen in: Norman Kretzmann/Anthony Kenny/Jan Pinborg (Eds.), Cambridge History of Later Medieval Philosophy. Cambridge 1982, hier bes. die Beiträge von Bernard G. Dod (S. 45–79), Charles H. Lohr (S. 80–98), James A. Weisheipl (S. 531–536), Georg Wieland (S. 657–672) u. Jean Dunbabin (S. 723–737). Für das 12. Jahrhundert Marie-Thérèse d’Alverny, Translations and Translators, in: Robert L. Benson/Giles Constable (Eds.), Renaissance and Renewal. Oxford 1982, 421–462. Vgl. auch unten Anm. 74. 31 Zusammenfassend Beryl Smalley, The Study of the Bible in the Middle Ages. 3. Aufl. Oxford 1983, 46–52 (cf. p. X sq.); vgl. auch dies., Les commentaires bibliques de l’époque romane: glose ordinaire et gloses périmées, in: Cah. de Civilisation Méd. 4, 1961, 15–22, jetzt auch in: dies., Studies in Medieval Thought and Learning. From Abelard to Wyclif. (History Series, 6.) London 1981, 17–25; sowie dies., Gilbertus Universalis, Bishop of London (1128–1134) and the Problem of the glossa ordinaria, in: Rech. de théologie anc. et méd. 7, 1935, 235–262, u. 8, 1936, 24–60. Vgl. auch die gesammelten Studien von Beryl Smalley, The Gospels in the Schools
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Kommentarkompilationen des späten 12. oder frühen 13. Jahrhunderts zusammengetragen, oder – so geschah es bei den wichtigsten Schriften des aristotelischen Corpus ebenfalls noch im 13. Jahrhundert – bestimmte bereits vorliegende Kommentare setzten sich als maßgeblich durch: Hier haben bekanntlich die Kommentare des arabischen Gelehrten Ibn Rushd († 1192), von den Lateinern Averroes genannt, schon seit ca. 1240 (also nur etwa 50 Jahre nach seinem Tode) im Abendland derart kanonische Geltung erlangt, daß dieser Autor bald als „der“ Kommentator „des“ Philosophen, also gleichsam als Standardkommentar zu Aristoteles benannt wurde und bis ins 16. Jahr17 hundert hinein als solcher auch ständig gebraucht worden ist33. |
II All das, was wir eben in Betracht zogen, betrifft schriftliche Textmassen von erheblichem Umfang. Wo bleibt das gesprochene Wort? Selbstverständlich wurde auch an der mittelalterlichen Universität gesprochen, viel und oft gesprochen. Der Gebrauch der mündlichen Rede freilich unterscheidet sich in weiten Bereichen nicht von dem in anderen Redesituationen, die wir außerhalb der Universität antreffen. Auch an der Universität wurde häufig gepredigt, doch die Universitätspredigt bildet zwar eine eigene Untergruppe der mittelalterlichen Predigten, soweit das die überlieferten Sermones zeigen, doch unterscheidet sie sich nur in sehr spezifischen Details von einer allgemeinen c. 1100–c. 1280. (History Series, 41.) London 1985. Jacques Verger, L’exégèse de l’université, in: Pierre Riché/Guy Lobrichon (Eds.), Le Moyen Age et la Bible. (Bible de tous les temps, 4.) Paris 1984, 199–232. Paläographisch von der Herstellung glossierter Manuskripte her faßt die Frage neu an Christopher de Hamel, Glossed Books of the Bible and the Origins of the Paris Book Trade. Woodbridge 1984. 32 Zusammenfassend Peter Weimar in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 1. München/ Zürich 1980, Sp. 802 f. (s.v. Apparatus glossarum), und Rudolf Wiegand in: ebd. Bd. IV. München/Zürich 1988, Sp. 1503–1508 (s. vv. Glossa ordinaria, Glossatoren, Glossen). Zum Zusammenhang der Glossenapparate der Juristen mit dem gesprochenen Wort anschaulich Manlio Bellomo, Saggio sull’università nel’età del diritto comune. Neapel 1979, 64–75, bes. 73 f. 33 Etwa Fernand von Steenberghen, La philosophie au XIIIe siècle. (Philosophes médiévaux, 9.) Louvain/Paris 1966, hier 42 ff., 93 f. (dt.: Die Philosophie im 13. Jahrhundert. München/Paderborn/Wien 1977, hier 47 ff., 110 ff.). Erschöpfende bibliographische Übersicht zu Averroes selbst (nicht zum Averroismus des lateinischen Mittelalters) jetzt bei Philipp W. Rosenbaum, Averroes: A Catalogue of Editions and Scholarly Writings from 1821 Onwards, in: Bull. de Philosophie méd. 30, 1988, 153–221.
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Predigt34. Ähnlich steht es bei jenen Reden, die im späteren Mittelalter anläßlich feierlicher Universitätsversammlungen, bei den Promotionen 18 etwa35 oder bei be | sonders feierlichem Besuch eines Potentaten36, gehalten wurden. Solche Texte, wenn sie uns überliefert sind, zeigen jenseits ihrer situationsbezogenen Thematik kaum Eigenheiten, die uns hoffen lassen könnten, hier spezifische Züge des gesprochenen Wortes an den mittelalterlichen Universitäten zu erfassen. Der mündlich gehaltene Unterricht dagegen verdient unsere Aufmerksamkeit. Hier waren Magister und Studenten sozusagen täglich bei ihrer eigenen Sache. Uns bleibt zu prüfen, wieweit sich hier besondere Züge zu erkennen geben. Grundlage des Unterrichts der scholastischen Universität sind, so sagten wir, autoritative, schriftlich niedergelegte Texte oder Textcorpora,
34 Hier seien nur einige Studien zum 13. Jahrhundert genannt: Marie-Madeleine Davy, Les sermons universitaires parisiens de 1230–1231. Contribution à l’histoire de la prédication médiévale. (Etudes de philosophie médiévale, 15.) Paris 1931; Richard H. Rouse/Mary A. Rouse, Preachers, Florilegia and Sermons. Studies on the „Manipulus florum“ of Thomas of Ireland. (Studies and Texts, 47.) Toronto 1979, bes. 65 ff.; David Deanesley d’Avray, The Preaching of the Friars. Sermons Diffused from Paris before 1300. Oxford 1985, bes. 163 ff. Zum Quellenwert vgl. etwa Louis-Jacques Bataillon, Les crises de l’Université de Paris d’après les sermons universitaires, in: Albert Zimmermann (Hrsg.), Die Auseinandersetzungen an der Pariser Universität im XIII. Jahrhundert. (Miscellanea mediaevalia, 10.) Berlin/New York 1976, 155–169. Für das 14./15. Jahrhundert (und insbesondere für die deutschen Universitäten) hat interessantes Material präsentiert und ausgewertet Heinrich Rüthing, Universität und Gesellschaft im Spätmittelalter (Vortrag auf dem Historikertag in Regensburg 1972); leider ist der Vortrag nie veröffentlicht worden; vgl. das Resümee in: Bericht über die 29. Versammlung deutscher Historiker. (GWU, Beih. 29.) Stuttgart 1973, 55–57. Das Thema ist zweifellos noch weiterer Anstrengungen wert. Hier geht es aber nicht um die Aussagekraft dieser Quellengattung allgemein, sondern um ihren Wert für die Beantwortung der im Titel gestellten Frage. 35 Etwa Gérard Fransen/Domenico Maffei, Harangues universitaires du XIVe siècle, in: Studi Senesi 83, 1971, 7–22. Beispiele aus Montpellier im Volltext z.B. in: Nova Alamanniae. Urkunden, Briefe und andere Quellen besonders zur deutschen Geschichte des 14. Jahrhunderts. Hrsg. v. Edmund Ernst Stengel unter Mitwirkung v. Klaus Schäfer. Bd. 2/2. Hannover 1976, 953–965, Nr. 1661–1665. Vgl. auch die reichen Textauszüge für Bologna in: Celestino Piana, Nuove ricerche su le Università di Bologna e di Parma. (Spicilegium Bonaventurianum, 2.) Quaracchi/Florenz 1966, 8–82. 36 Vgl. nur z.B. den Bericht über den festlichen Empfang des gerade mündig gewordenen Herzogs Albrecht V. durch die Universität Wien 1411, in: Paul Uiblein (Hrsg.), Acta facultatis artium universitatis Vindobonensis. 1385–1416. (Publikationen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, Rh. 6, 2/1.) Wien 1968, 360 f. mit Anm. 34; oder etwa auch: Eduard Winkelmann (Hrsg.), Urkundenbuch der Universität Heidelberg. Bd. 2: Regesten. Heidelberg 1886, 37 Nr. 327, 40 Nr. 350 usw. Noch zur Zeit des Humanismus konnte eine Rede vor der Universität (teils sogar in Abwesenheit des Fürsten) zum Herrscherlob dienen; vgl. etwa Jan-Dirk
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die zunächst in Form von Vorlesungen37 den Studenten | vorgestellt 19 werden mußten, da keineswegs alle Studenten über die teuren und unhandlichen Bücher verfügten38. Im einzelnen geben uns die Statutenbücher der Fakultäten einigen, wenn auch recht wortkargen Aufschluß Müller, Der siegreiche Fürst im Entwurf der Gelehrten. Zu den Anfängen eines höfischen Humanismus in Heidelberg, in: August Buck (Hrsg.), Höfischer Humanismus. (Mitteilung der Kommission für Humanismusforschung, 14.) Weinheim 1989, 17–50, bes. 31 ff. 37 Zur lectio als Unterrichtsform vgl. anschaulich Alfonso Maierù, Tecniche di insegnamento, in: Le scuole degli Ordini Mendicanti (secoli XIII–XIV). (Convegni del Centro di Studi sulla Spiritualità medievale, 17.) Todi 1978, 305–352, hier 329 ff. Für Paris hat die Nachrichten sorgfältig zusammengestellt Bernd Michael, Johannes Buridan. Studien zu seinem Leben, seinen Werken und zur Rezeption seiner Theorien im Europa des späten Mittelalters. Bd. 1–2. Berlin 1985, hier Bd. 1, 240–245. – Vgl. auch Palémon Glorieux, L’enseignement au moyen âge. Techniques et méthodes en usage à la Faculté de Théologie de Paris, au XIIIe siècle, in: Arch. d’hist. doctrinale et littéraire du moyen âge 43, 1968, 65–186, bes. 115 ff. Zur Wortgeschichte das reiche Material bei Weijers, Terminologie (wie Anm. 13), hier 299–302, vor allem 324–329. – Den Übergang vom lauten (Vor-sich-hin-)Lesen der Antike und des Frühmittelalters zur stillen Lektüre des Spätmittelalters und der Neuzeit behandelt zusammenfassend Paul Saenger, Silent Reading. Its Impact on Late Medieval Script and Society, in: Viator 13, 1982, 367–414; vgl. Josef Balogh, ‚Voces paginarum‘. Beiträge zur Geschichte des lauten Lesens und Schreibens, in: Philol 82, 1927, 84–109, 202–240 (auch selbständig: Leipzig 1927); Helga Hajdu, Lesen und Schreiben im Spätmittelalter. Pécs 1931, bes. 47 ff.; Manfred Günter Scholz, Hören und Lesen. Studien zur primären Rezeption der Literatur im 12. und 13. Jahrhundert. Wiesbaden 1980. 38 Wenn den Studenten durch die Statuten das Mitbringen von Textbüchern in die Vorlesung vorgeschrieben wird, so ist das eher eine Bestätigung als ein Beleg gegen die hier vorgetragene Auffassung. Vgl. etwa die 1259 erlassenen Statuten für die dominikanischen Hörer (CUP [wie Anm. 9], Vol. 1, 385 f. Nr. 335): Item quod fratres portent ad scolas libros qui leguntur in scola si habent et non alios; auch in den 1366 von zwei Kardinälen erlassenen Statuten für Paris (CUP [wie Anm. 9], Vol. 3, 143–150 Nr. 1322) wird ausdrücklich (S. 143 f.) festgelegt, daß je zwei Studenten eine Bibel bzw. ein Sentenzenbuch in die Vorlesung mitbringen oder hinschaffen lassen müßten. Ähnlich in den Statuten des Kardinals Guilleaume d’Estouteville von 1452 (CUP [wie Anm. 9], Vol. 4, 713–734 Nr. 2690, hier 716). Ähnliche Regelungen begegnen an anderen Universitäten (vgl. Hastings Rashdall, The Universities of Europe in the Middle Ages. Ed. by Frederick Maurice Powicke and Alfred Brotherstone Emden. Vol. 1. Oxford 1936, ND Oxford 1987, 423 mit Anm. 1–2), ohne daß eine durchgängige Befolgung gesichert wäre. Noch im 14. Jahrhundert macht die juristische Fakultät in Paris den Bakkalaren zur Pflicht, die Bücher, über die sie Vorlesungen halten (!), auch in Besitz zu haben (CUP [wie Anm. 9], Vol. 3, 643 f. Nr. 1698 § 24); bezeichnend die Erörterung des Pierre Dubois, in: „De recuperatione terre sancte“ (von 1309), XLVII/75. Ed. Charles-Victor Langlois. Paris 1891, 62 f. (= Pierre Dubois, De recuperatione terre sancte, XLVII/75. Ed. Angelo Diotti. Florenz 1977, 163), wo nur die Wünschbarkeit eines Büchergebrauchs während der Vorlesungen unterstrichen wird, keineswegs eine bindende Vorschrift erfolgt, obwohl Dubois doch ein Patentrezept zur Verbesserung der Weltzustände vorlegt. – Auch bildliche Darstellungen bestätigen diese Einschätzung. In der wohl bekanntesten Abbildung einer juristischen Vorlesung, der jetzt in Berlin aufbewahrten Miniatur des Laurentius de Voltolina zu Magister Henricus de Alemannia in Bologna aus
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darüber, wie das geschah: Noch am sprechendsten sind da Bestim20 mungen der Juristen39, wo es einmal aus | drücklich heißt, die Dozenten sollten aus der Gesetzessammlung textum cum glossa . . . cum suis additionibus de verbo ad verbum intelligibiliter et utiliter scholaribus legere, also „den Wortlaut des Gesetzes zusammen mit dem Kommentar der Glossa in ihrer ergänzten Fassung Wort für Wort verständlich und den Studenten zum Nutzen laut vorlesen“, so wiederum eine Heidelberger Bestimmung vom Ende des 14. Jahrhunderts. Dem Vorleser legt dieselbe Satzung dann, bevor er zu einer eigenen Erläuterung der wissenschaftlichen Probleme des Falles gelangen konnte, auch noch zusätzliche weitere bekannte Kommentarwerke des 13. und 14. Jahrhunderts zur mündlichen Verlesung (recitare) auf, etwa den Apparat Innozenz’ IV. oder den des Johannes Andreae oder Guido de Baysio für die Dekretalen40. Ist es ein Wunder, daß die Statuten der Juristenuniversität von Perugia die Dozenten energisch dazu verpflichten mußten, eine gleichartige Vorschrift auch dann zu befolgen, wenn die Studenten gegen solche Litanei autoritativen Vorlesungsstoffes etwa protestieren sollten41? Das Verfahren bei der Vorlesung, das uns in den statuarischen Vorschriften der Juristen hier so anschaulich entgegentritt, ist frei-
dem beginnenden 15. Jahrhundert (abgebildet auch als Frontispiz bei Schwinges, Deutsche Universitätsbesucher [wie Anm. 25]; vgl. dazu ebd. 352–355) blättern nur die Hörer auf den vorderen Bänken in ihren Büchern, hinten fehlen Textexemplare. 39 Zusammenfassend Helmut Coing, Die juristische Fakultät und ihr Lehrprogramm, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte. Bd. 1. München 1973, 39–128, zur ‚lectio‘ 71–75; vgl. auch Peter Weimar, Die legistische Literatur der Glossatorenzeit, und Norbert Horn, Die legistische Literatur der Kommentatorenzeit, beide in: ebd. 129–260 bzw. 261–364, hier 168 ff. bzw. 321 ff.; vgl. auch Bellomo, Saggio (wie Anm. 31), 193 ff. Noch nicht gesehen habe ich Jean Barbey, Organisation génerale d’études et methodes d’enseignement du droit au moyen âge, in: Ann. d’hist. des facultés du droit et de la science juridique 2, 1985, 13–20. 40 Statuten der juristischen Fakultät, zuletzt in: Jürgen Miethke (Hrsg.), Die Rektorbücher der Universität Heidelberg. Bd. 1: 1386–1410 (zugleich das erste Amtsbuch der Juristischen Fakultät). Bearb. v. Heiner Lutzmann u. Hermann Weisert. Heidelberg 1986, 52–55 Nr. 18, Zit. 53 Zl. 6 f.; vgl. auch ebd. Zl. 8 f. bzw. 25 f. 41 Statuten der Universität Perugia von 1457, lib. II rubr. 9, in: G. Pandeletti (Ed.), Documenti inediti per servire alla storia delle università italiane. Contributo alla storia dello studio di Perugia nei secoli XIV e XV. Bologna 1872, 47–134, hier zit. n. Coing, Juristische Fakultät (wie Anm. 39), 73; vgl. auch Giuseppe Ermini, Storia della Università di Perugia. (Storia delle università italiane, 1.) 2., erw. Aufl. Florenz 1971, 450. Die Rigidität erklärt sich wohl nicht zuletzt aus dem ängstlichen Auftrag schon der Statuten von 1366 an die Dozenten, consuetudinem et stilum et morem studii Bononiensis et cuiuslibet alterius studii generalis zu befolgen; ebd. 107.
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lich keineswegs etwa eine späte Verfallserscheinung. Es begegnet uns in grundsätzlich gleicher Form bereits fast zwei Jahrhunderte zuvor am Beginn der Universitätsentstehung in der „Historia calamitatum“ aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts in ausgeprägter Form; dort42 berichtet Abaelard, er habe angesichts der langweili | gen 21 Erörterungen des Anselm von Laon mit seinen ständigen Vergleichen verschiedener Vätersentenzen seine Mitstudenten gefragt, was für einen litteratus, einen Schriftkundigen, zum Verständnis eines Textes außer dem Text selbst und einem Glossenapparat wohl noch nötig sein könne, und er habe die Probe aufs Exempel dadurch abgelegt, daß er über Hesekiel, gestützt auf den Bibeltext und einen zuvor festgelegten Kommentar eine Reihe von lectiones, Vorlesungen, gehalten habe, die sich, dem Bericht nach zu urteilen, höchst erfolgreich anließen: „Zur zweiten und dritten Vorlesung kamen die, welche an der ersten nicht teilgenommen hatten, geradezu um die Wette gelaufen und waren dann besonders eifrig darum bemüht, sich die Glossen abzuschreiben, mit denen ich am ersten Tage angefangen hatte.“ Lassen wir Abaelard mit seiner Hesekiel-Vorlesung allein: Die „Historia calamitatum“ berichtet zwar, daß Abaelard sich auch später in Paris noch mit einer Fortsetzung seiner in Laon so erfolgreichen Auslegung des schwierigen Textes beschäftigt habe43, doch ist es bisher nicht möglich gewesen, sie irgendwo in einer Handschrift zu identifizieren44! Das Verfahren, das noch in der kritischen Ab | setzung 22
42 Petrus Abaelardus, Historia calamitatum. Ed. Jacques Monfrin. Paris 1968, 68 f., Zit. 69 Zl. 217–221. Ich halte diesen Text weiterhin (etwa mit Peter Dronke, in: Women Writers of the Middle Ages. A Critical Study of Texts. Cambridge 1984, 117–143, 302–306) in wesentlichen Stücken für authentisch und kann mich den zuletzt nochmals von Hubert Silvestre, Die Liebesgeschichte zwischen Abelard und Heloise: Der Anteil des Romans (frz. 1985; vgl. die Ergänzungen des Autors in: Bull. de théologie anc. et méd. 14, 1987, 303–307), jetzt in: Fälschungen im Mittelalter. Bd. 5. (Schriften der MGH, 33/5.) Hannover 1988, 121–165, nachdrücklich vorgetragenen Argumenten für die Fälschungsthese nicht anschließen. Insbesondere sind die Erörterungen Silvestres über die Entwicklung des Eherechts, die seine Auffassung vornehmlich stützen sollen, m. E. so nicht haltbar. Auch die Argumente von Deborah Fraioli, The Importance of Satire in Jerome’s „Adversus Iovinianum“ as an Argument against the Authenticity of the „Historia calamitatum“, in: ebd. 167–200, können nicht überzeugen, da sie allein aus dem literarischen Genus abgeleitet werden. 43 Petrus Abaelardus, Historia calamitatum (wie Anm. 42), 70 Zl. 241–247. 44 Vgl. schon Damian van den Eynde, Les écrits perdus d’Abélard, in: Antonianum 37, 1962, 467–480, hier 467 f. Freilich begegnen keine Verweise auf diesen Kommentar in anderen Schriften Abaelards; daraus sollte man aber nicht (wie Silvestre, Liebesgeschichte [wie Anm. 42], 145, das tut) ein Argument gegen die Authentizität der
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von der Lehrpraxis frühscholastischer Theologie hier wie selbstverständlich vorausgesetzt ist, ist klar genug geworden. Die lectio macht den Text bekannt, stützt sich auf einen als maßgeblich eingeschätzten Kommentar und schreitet dann zu eigenen Erörterungen, deren Inhalt in Form einer mehr oder minder dichten glossierenden Kommentierung am Rande des Textes festgehalten werden kann, aber offenbar nicht notwendig festgehalten werden muß. Gewiß war es und blieb es wichtig, wer da zusätzlich zu den „Pflichtteilen“ der vernehmlichen Verlesung dés Textes und der Glossen seine eigenen Erörterungen hinzuzusetzen hatte. Abaelard zeigt sich an dieser Stelle, aber wahrhaftig nicht hier allein45, ersichtlich stolz auf die Entfaltung seines ingenium, das er dem öden Trott der schulischen Gewohnheit (usus) scharf gegenüberstellt. Aber wenn selbstverständlich auch im Mittelalter nicht jederzeit bei einer Vorlesung ein Abaelard den Hörern gegenübertrat, selbst in der Vorlesung, jener Unterrichtsform, die noch am engsten am überlieferten Text und am ebenfalls noch vorgegebenen traditionellen Kommentar haften blieb, war die im letzten Schritt mündlich gegebene und nicht immer zur Redaktion eines eigenen Kommentars gerinnende Erläuterung des Lehrers offenbar ein unverzichtbarer Bestandteil des Gesamtvorhabens. Schon hier ist eine starke, untilgbare Eigenbedeutung des gesprochenen Worts zu konstatieren, das sich keineswegs ohne Rest in den Dienst des schriftlichen Kommentars stellt. Es war zwar nicht ausgeschlossen, daß solche Kommentierung sich als eine weitere Glossenschicht an den Rändern und zwischen den Zeilen einer Handschrift des Textes niederschlagen mochte46, auf der anderen Seite war
„Historia calamitatum“ gewinnen wollen! Vgl. jetzt auch Julia Barrow/Charles Burnett/David Luscombe, A Checklist of the Manuscripts Containing the Writings of Peter Abelard and Heloise and Other Works Closely Associated with Abelard and His School, in: Rev. d’Hist. des Textes 14/15, 1984/85 [1986], 183–302, hier 257 f. Nr. 318. 45 Vgl. etwa Petrus Abealardus, Historia calamitatum (wie Anm. 42), 64 Zl. 45 u. 73 Zl. 353. 46 Bisweilen läßt sich das sogar zeigen; vgl. Giuseppa Nicolosi Grassi, ‚Lecturae‘ di scuola meridionale nei secoli XIII–XIV. Il manoscritto Vaticano, Arch. S. Pietro A. 32. (Università di Catania, Studi e ricerche dei „Quaderni Catanesi“, 6.) Catania 1984, bes. 67 ff. Eine Aristoteles-Hs., von der der Schreiber selbst mitteilt, daß er sie beim Zuhören glossiert hat, ist Ms. London, British Library, Royal 12 G II, fol. 1v (zit. in: Aristoteles Latinus. Bd. 1. Codices descripsit Georgius Lacombe. London 1939, 387, Nr. 317): quem librum scripsit Henricus de Renham et audivit in scholis Oxonie et emendavit et glossavit audiendo. Aber die Seltenheit solcher Belege spricht wiederum für sich.
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das aber durchaus nicht das eigentliche Ziel der Lehrveranstaltung47. | 23 Daß an diesem nichtschriftlichen Charakter der Vorlesung auch in einer Spätzeit noch energisch festgehalten werden sollte, das beweisen die Universitäts- und Fakultätsstatuten oft und immer wieder, wenn sie unermüdlich gegen den Mißbrauch der Vorlesung zu einem bloßen Gruppendiktat, gegen die lectio ad pennam, die Vorlesung zum Mitschreiben, Front machen. Streng wird, um die Terminologie eines Beschlusses der Pariser Artisten-Fakultät von 1355 aufzugreifen, die tractim vorgetragen, das langsame Mitziehen der Feder über das Pergament oder Papier erlaubende Vorlesung verboten und ein raptim gesprochener Vortrag vorgeschrieben, der rasch voranschreitet und dem Ohr nur als ganzer nachvollziehbar bleibt48. Das Verfahren des Gruppendiktats zur Vervielfältigung von Texten aber war so einleuchtend, daß ein bloßes Verbot es nicht beseitigen konnte49. Darum wurde neben der Vorlesung in der sogenannten
47 Ein fragmentarisch erhaltener Kommentar zu den „Meteora“ des Aristoteles aus dem letzten Drittel des 13. Jahrhunderts enthält die Anmerkung des Verfassers, er habe diesen Text nur geschrieben, da er ihn in Paris wegen einer Vorlesungsruhe (oder eines Streiks der Magister?) nicht mündlich habe vortragen (legere) können; vgl. Antoine Dondaine/Louis-Jacques Bataillon, Le commentaire de saint Thomas sur les Météores, in: Arch, fratrum Praedicatorum 36, 1966, 81–152, hier 150: Doctoribus Parisiensis studii vacantibus occasione regalium tempore Philippi filii piissime [lies: -i?] venerabilissime memorie Ludovici illustrissimi regis Francorum, qui decessit apud Tunem, mihi fas non erat vobis legere textum metheororum. Idcirco me rogastis, ut quod verbo non licebat, saltim conscriptione supplerem, quod quia diu cum tedio rogantium vestrorum assalitus sum, vestris amodo postulationibus coactus sum obedire (. . .). Hier ist über die Bedeutung der regalia, die schon die Herausgeber beunruhigte (vgl. ebd. 122), nicht zu entscheiden; ich würde freilich eher an eine Pause der Trauer denken (auch wegen des Gebrauchs der Vokabel fas) als an eine durch Streik verweigerte Zwangssteuer und also etwa ergänzen. 48 CUP (wie Anm. 9), Vol. 3, 39 f. Nr. 1229. 49 Ohnedies wissen wir über die Wirksamkeit nichts Genaues. Allein die ständige Wiederholung freilich stimmt skeptisch: 1362 wird den Sententiaren untersagt, außer allenfalls kleinen Gedächtnisstützen geschriebene Texte mit auf das Katheder zu nehmen (CUP [wie Anm. 9], Vol. 3, 144, Nr. 1322); ein Verbot, in den Vorlesungen zu diktieren, erscheint auch noch in den Reformstatuten des Guilleaume d’Estouteville von 1452 (CUP [wie Anm. 9], Vol. 4, Nr. 2890, S. 720 bei Anm. 30). Michael, Johannes Buridan (wie Anm. 37), Bd. 2, 608 mit Anm. 26, weist darauf hin, daß schon kurz nach dem Verbot von 1355 Albertus („Parvus“) von Sachsen seine Logikvorlesung (nach Petrus Hispanus) gemäß der Auskunft eines Stuttgarter Ms. seinen Studenten in die Feder diktiert hat: Nota. Magister Albertus Parysiensis anno domini 1360 novem tractatus dedit ad pennam Parisius. Das könnte freilich auch meinen, daß Albert das gesondert und nicht in einer lectio tat – wie 1419 in Wien Johannes von Gmunden offenbar seine astronomischen Tafeln von einem anderen Magister den Studenten diktieren läßt und sie ihnen selber erklärt (vgl. unten Anm. 50). Üblich scheinen jedenfalls später Mischformen geworden zu sein: Noch Martin Luther hat
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24 pronunciatio schließlich eine eigene Veranstaltung geschaf | fen und dem Universitätsprogramm eingegliedert, jedenfalls in den mitteleuropäischen Neugründungen des 15. Jahrhunderts. Denn dies erlaubte es, diese Form der Buchherstellung wenigstens zu kontrollieren und durch Statuten gegen allzu starken Mißbrauch abzusichern, so daß wir sie als erfolgreiche Erfindung zur Erleichterung von Buchherstellung und Textverbreitung ansehen dürfen50. Buchstäblich Hunderte von Manuskripten legen von dieser rationellen Technik einer handschriftlichen Vervielfältigung noch heute Zeugnis ab, ohne daß die Vorlesung 25 zur Textfabrikation entarten mußte51. | seine exegetischen Vorlesungen in Wittenberg nach Ausweis der erhaltenen Nachschriften teils (für den größeren Teil der Scholien) raptim, teils (für die Glossen und einige Scholien) tractim gehalten; vgl. Reinhard Schwarz, Luther. (Die Kirche in ihrer Geschichte, Bd. 3, Lfg. 1.) Göttingen 1986, 26. 50 Dazu bereits Christ, ‚Petia‘ (wie Anm. 12), 36–39; reiches Material auch bei Michael, Johannes Buridan (wie Anm. 37), Bd. 1, 263–267. Einzelne Handschriften, die sich als Ergebnis einer pronunciatio bekennen, lassen sich in jedem Band der „Manuscrits datées“ zahlreich finden. Selten freilich sind Manuskripte aus einer konkreten Veranstaltung: Bernd Michael machte (das ist der deutlichste mir bekannte Beleg) auf drei Exemplare von Buridans Quaestionen-Kommentar zur Nikomachischen Ethik aufmerksam, die alle in Prag am 21. Sept. 1382 beendet wurden: Mss. Basel, Universitätsbibliothek F V 3; Leipzig, Universitätsbibliothek 1447; Melk, Stiftsbibliothek 542; ebd. 842 f.; vgl. auch künftig ders., Publikum und Leser von Buridans moralphilosophischen Schriften im späteren Mittelalter, in: Jürgen Miethke (Hrsg.), Das Publikum politischer Theorie im späteren Mittelalter. München 1991. – Nicht nur die bekannten Standardtexte kamen in den Genuß dieser Publikationsform: 1419 und 1422 kommt der Magister Johannes von Gmunden bei der Wiener Artistenfakultät erfolgreich um eine licentia pronunciandi für von ihm selbst verfaßte tabule in astronomia ein (1419: Et dabatur licentia pronunciandi per unum magistrum ita tamen, quod ipse post per se declaret et corrigeret incorrecta), 1423 will er vortragen lassen aliqua per eum collecta et nondum completa, que successive complere proponit, ut possint interim successive pronunciari, et quod declaracio eorundem in camera sua sibi pro regencia computetur (Wien, Univ.-Archiv, „Acta facultatis artium“, t.II [1416–1447], ff. 30v, 55r, 64v, hier zitiert nach Paul Uiblein, Johannes von Gmunden, seine Tätigkeit an der Wiener Universität, in: SB Wien, Ph.-Hist. Kl. 497, Wien 1988, 11–64, hier 32, 41, 58. Auf die allgemeine Bedeutung geht ein Jürgen Miethke, Die Konzilien als Forum der öffentlichen Meinung im 15. Jahrhundert, in: DA 37, 1981, 736–773, hier 758 ff. In der Spätzeit des Basler Konzils (1443) wurde auch eine „Ars memorativa“ im französischen Quartier durch pronunciatio vervielfältigt: Incipt ars memorativa cara rara levis brevis et subtilis, pronunciata lecta et declarata realiter cum effectu, optime compilata ac finita (. . .) anno domini 1443 in palacio deputacionis Parisiensis apud fratres Augustinenses per quendam doctorem; Ms. Wien, Österr. Nationalbibliothek, cvp 4096 – dieses Ms. wurde selbst erst 1478 in Mondsee abgeschrieben; vgl. dazu jetzt Franz Unterkirchner, Die datierten Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek. (Katalog der datierten Handschriften in lateinischer Schrift in Österreich, 3/1.) Wien 1974, 112,–, fol. 240r, hier zit. n. Helga Hajdu, Das mnemotechnische Schrifttum des Mittelalters. Leipzig 1936, ND Amsterdam 1967, 93. 51 Bezeichnend dafür der langwierige Konflikt in Paris 1385/1388 zwischen dem Kanonisten Amelius de Brolio und der Juristischen Fakultät, der sich in den Texten
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Natürlich gab es aber auch früher schon den Versuch, in mehr oder weniger enger Zusammenarbeit mit dem Dozenten Nachschriften der Vorlesungen herzustellen. Seit dem Schulbetrieb des frühen 12. Jahrhunderts kennen wir solche reportationes mündlicher Lehrvorträge, eine Technik, die sich keineswegs auf eine einzige Fakultät beschränkte52. Die Vorlesungen Hugos von St. Viktor zur systematischen Theologie sind uns etwa in solcher Mitschrift erhalten53. Auch die Reportationen der Vorlesungen des bedeutenden Bologneser Juristen Odofredus über das Corpus Iuris Civilis, das römische Recht, sind ein sprechender Beleg. Hier finden sich auch noch die italienischen Wendungen und individuellen Reminiszenzen in den Text aufgenommen, mit denen der Dozent sich an die „signori“, seine Herren 26 Studenten wendet54. | Auf der anderen Seite müssen wir aber festhalten, daß es durchaus nicht der eigentliche Zweck der Lehrveranstaltung Vorlesung war, einen (wegen der mündlichen Restbestände nicht völlig ausgefeilten) schriftlichen Niederschlag zu erzeugen, der sich allein als defizitärer, weil eben nicht vollkommen ausgearbeiteter „schriftlicher“ Kommentar verstehen ließe. Die schriftliche Fixierung war keineswegs der geheime und eigentliche Hauptzweck. Auch im Mittelalter CUP (wie Anm. 9), Vol. 3, 425–439, 468–477 Nr. 1528–1531 u. 1546, spiegelt. Es ging um sehr verschiedene Punkte, u.a. aber heißt es (CUP [wie Anm. 9], Vol. 3, 436): Et pour ce que partie a fait proposer que maistre Aymés lit à la plume, qui fut pieça defendu par le pape Urban (. . .) repont qu’il lit bien et convenablement et profitablement pour les escoliers. 52 Schärfer unterscheidend, als es dem mittelalterlichen Sprachgebrauch entspricht (vgl. dazu schon Wilhelm Wattenbach, Das Schriftwesen im Mittelalter. 3. Aufl. Leipzig 1896, ND Graz 1958, 564 f., oder jetzt Michael, Johannes Buridan [wie Anm. 37], 266 f.; auch Weijers, Terminologie [wie Anm. 13], 361–365), verwende ich hier das Wort reportatio ausschließlich für die „freie“ Vorlesungs- bzw. Disputationsnachschrift, nicht für die Mitschrift im Gruppendiktat der pronunciatio. Vgl. auch unten Anm. 70. 53 Hugo von St. Viktor, „Sententiae de divinitate“; vgl. bereits Bernhard Bischoff, Aus der Schule Hugos von Sankt Viktor (1935), jetzt in: ders., Mittelalterliche Studien. Bd. 2. Stuttgart 1967, 182–187 (mit Edition des sprechenden Prologs 186 f.) 54 Mehrfach gedruckt, zuletzt als Reprint der Ausgabe Lyon 1550–1552; Opera iuridica rariora. Vol. 2–5. ND Bologna 1967–1969. Auf Odofredus stützt sich vorwiegend etwa Laurent Mayali, De usu disputationis au moyen âge, in: Rechtshist. Journ. 1, 1982, 91–103. – Auch Bartolus von Sassoferrato (†1357), dessen schriftlich redigierte „Commentaria“ später den Unterricht im Römischen Recht für Jahrhunderte bestimmen sollten, hat selber noch in seinen letzten Lebensjahren in Perugia (als seine Kommentare also bereits vorlagen) seine Vorlesungen offenbar weiterhin in der geschilderten herkömmlichen Methode gehalten; vgl. Federigo Martino, ‚Lecturae per viam additionum‘ nel ms. 317 della Biblioteca Capitolare di Lucca, in: QuFiAB 67, 1987, 462–476.
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wurden erheblich mehr Vorlesungen gehalten als schriftlich festgehalten oder gar überliefert, und wir kennen an allen Universitäten geachtete und nach ihren Schülern zu urteilen erfolgreiche akademische Lehrer, von deren Vorlesungen und wissenschaftlichen Auffassungen wir uns angesichts einer fehlenden schriftlichen Überlieferung keine rechte Vorstellung bilden können. Eine Bestätigung für diese Auffassung liefert uns die Amtskirche mit ihren vielfältigen Versuchen, die Lehrentwicklung an den Universitäten unter ihre Kontrolle zu bringen55. Niemals hat sie sich damit begnügt, etwa nur die Schriften der Theologen ihrer Zensur zu unterwerfen, immer wieder begegnet in den Zensuren selbst neben den schriftlich niedergelegten und einer Kommission gegebenenfalls zur Prüfung vorgelegten Schriften auch das gesprochene Wort, eine Predigt, eine Quaestion, eine Sentenzenvorlesung56. Und bei den Fakul27 tätseiden, mit denen man an den Universitäten in | vorauseilendem Gehorsam versucht hat, die amtskirchlichen Zensuren für die Lehre 55 Allgemein bereits Jürgen Miethke, Theologenprozesse in der ersten Phase ihrer institutionellen Ausbildung. Die Verfahren gegen Abaelard und Gilbert von Poitiers, in: Viator 6, 1975, 87–116; ders., Papst, Ortsbischof und Universität in den Pariser Theologenprozessen des 13. Jahrhunderts, in: Zimmermann (Hrsg.), Die Auseinandersetzungen (wie Anm. 34), 52–94; ders., Der Zugriff der kirchlichen Hierarchie auf die mittelalterliche Universität. Institutionelle Formen der Kontrolle über die universitäre Lehrentwicklung vom 12. bis 14. Jahrhundert (am Beispiel von Paris), in: Kyrkohistorisk Årsskrift 77, 1977, 197–204. William J. Courtenay, Inquiry and Inquisition: Academic Freedom in Medieval Universities, in: ChurchH 58, 1989, 168–181. 56 Naturgemäß lassen sich hier die Belege leicht häufen. Vgl. nur z.B. den Widerruf in dem Verfahren gegen Nikolaus von Autrecourt (CUP [wie Anm. 9], Vol. 2, 576–579 Nr. 1124; jetzt auch abgedruckt in: Nikolaus von Autrecourt, Briefe. Hrsg. u. übers. v. Ruedi Imbach u. Dominik Perler. [Philosophische Bibliothek, 413.] Hamburg 1988, 76–82), der mit dem beziehungsreichen Seufzer „Vae michi!“ beginnt und dann als Irrtümer insgesamt 31 Artikel auflistet mit der jeweiligen Einleitung: Dixi (art. 2–31) bzw. dixi et scripsi; (. . .) item dixi, proh dolor, in primo principio, quando legi sententias (art. 1), bezieht sich hier also ausdrücklich auf seine mündliche Lehre, freilich findet sich auch häufig die Formulierung: Item dixi (in) epistola . . . (z.B. art. 6–15, 17–21 usw.), was ja auf einen geschriebenen Text verweist. – Vgl. auch die päpstliche Verurteilungssentenz gegen den Pariser Magister Johannes de Polliaco vom 24. Juli 1321, in: CUP (wie Anm. 9), Vol. 2, 243 f. Nr. 797 (auch in: Extravag. comm. 5.3.2, Friedberg II 1291); die Irrtümer selbst bei Heinrich Denzinger/Adolf Schönmetzer, Enchiridion symbolorum. 32. Aufl. Freiburg/Rom/Barcelona 1963 (u.ö.), 287 Nr. 921–924): non sobrie sed perperam sapiebat infrascriptos articulos periculosos continentes errores docens publice in suis predicationibus et in scholis . . .; vgl. dazu vor allem Josef Koch, Kleine Schriften. Bd. 2. (Storia e Letteratura, 128.) Rom 1973, 394 ff., bes. 401. Einen Bezug auf mündliche Lehre und Lehrpredigt findet man im 14. Jahrhundert auch in den Verfahren gegen Meister Eckhard, Thomas Waleys, Johannes von Mirecourt, Johannes de Montosono usw.
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verbindlich zu machen57, wird selbstverständlich bereits der mündlich vorgetragenen Lehre, ja einer wissenschaftlichen Ansicht abgeschworen. Jede künstliche Trennung von Wort und Schrift wäre lebensfremd gewesen. Die Universitäten waren allein über ihren Schriftausstoß keineswegs zu disziplinieren. Zwischen dem gesprochenen Wort der lectio und dem geschriebenen Kommentar, dem commentum oder dem scriptum58 unserer Manuskripte, haben wir eine gewisse Schwebelage einer möglichen | Unentschieden- 28 heit beobachtet, die bei unserer Frage nach der Stellung der Universitäten zum gesprochenen Wort unsere genaueste Aufmerksamkeit fordert. Auch bei den mendikantischen Hilfsmitteln, den Enzyklopädien, Konkordanzen, Exemplasammlungen des 13. Jahrhunderts zeigt es sich, wie der Dienst am mündlichen Vortrag, an der mendikantischen Predigt, eine ganze Reihe von Hilfsmitteln für die Erschließung und Aufbereitung schriftlicher Traditionsmassen hervorgerufen hat. Darüber hinaus haben wir gerade hier deutliche Belege dafür, daß diese Werkzeuge in aller Regel nicht so sehr einsamem Forscherfleiß als vielmehr organisierter Teamarbeit zu verdanken sind59.
57 Vgl. dazu nur z.B. CUP (wie Anm. 9), Vol. 1, 499 f. Nr. 441 (Statut von 1272); ebd. 587 Nr. 501 (Eid von c. 1280); ebd. Vol. 2, 675 u. 680 Nr. 1185 (§ 6 u. § 16) [Eid aus dem 14. Jh.]; Konrad von Megenberg, Yconomica II.3.1. Hrsg. v. Sabine Krüger. Bd. 2. (MGH, Staatsschriften des späteren Mittelalters, Bd. 3,5,2.) Stuttgart 1977, 93 f. mit Anm. 40 (Eid von ca. 1334?). Vgl. auch die den Pariser Statuten nachgebildeten Bestimmungen der Theologischen Fakultät in Bologna von 1363; Franz Ehrle (Ed.), I più antichi statuti della Facoltà teologica dell’ Università di Bologna. (Universitatis Bononiensis monumenta, 1.) Bologna 1932, 38: Verboten ist natürlich jedes asserere, nicht nur die schriftliche Äußerung. Zu den Universitätseiden allgemein jetzt Paolo Prodi, Dall’analogia alla storia, II sacramento di potere, in: Ann. dell’Ist. stor. italo-germanico in Trento 14, 1988, 9–38, bes. 29 ff. 58 Eine zusammenfassende Studie zu dieser literarischen Form mit dem sprechenden Namen scriptum fehlt (auch Weijers, Terminologie [wie Anm. 13], behandelt es nicht). Vgl. aber etwa die Bemerkungen von Konstanty Michalski, Le criticisme et le scepticisme dans la philosophie du XIVe siècle (1936), jetzt in: ders., Opuscula philosophica. Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte. Hrsg. v. Kurt Flasch. Frankfurt am Main 1969, 67–149, hier 70 ff. Dazu auch etwa die Überlegungen der Herausgeber Gedeon Gál und Stephan Brown in: Guillelmus de Ockham, Opera theologica et philosophica. Opera theologica I. St. Bonaventure, N.Y. 1967, 33*sq. – Zum Verhältnis von Vorlesung und scriptum im Paris des 14. Jahrhunderts vgl. Anneliese Maier, Ausgehendes Mittelalter. Bd. 1. (Storia e letteratura, 97.) Rom 1964, 151 ff., 176 ff. 59 Knappe Übersicht bei Richard Hunter Rouse, L’évolution des attitudes envers l’autorité écrite: Le développement des instruments de travail au XIIIe siècle, in: Culture et travail intellectuel dans l’Occident médiéval. Paris 1981, 115–144. Zur Team-Arbeit und ihrer Wertung vgl. jetzt vor allem Yves M.-J. Congar, ‚In dulcedine societatis quaerere veritatem‘. Notes sur le travail en équipe chez St. Albert
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Ist es verwunderlich, daß sich an den Universitäten die Unentschiedenheit der Standardsituation, die wir in der lectio beobachteten, nun gleichsam zu einem Exordialtopos stilisiert, in den Prologen zahlreicher schriftlich überlieferter Kommentare der Scholastik finden läßt? Der Autor konnte damit zugleich einer mehr oder minder betonten Bescheidenheit ein mehr oder minder deutliches Eigenlob beimengen, wenn er etwa anmerkte, er gehe an das große, seine Kräfte übersteigende Werk nur deshalb, weil er aus Liebe (caritas) sich verpflichtet fühle, dem intensiven vielfachen Drängen zahlreicher schriftkundiger Männer (litterati) nachzugeben, die das, was er in seinen Vorlesungen über die Schwierigkeiten der Naturphilosophie in der Schwachheit seiner Begabung für die Studenten zu entwik29 keln pflege, für sehr gelungen hielten, und die nun mein | ten, daß es schon eine ansehnliche Leistung darstellen würde, das alles nun niederzuschreiben. Der Autor – es ist in dem zitierten Falle der Oxforder Franziskaner Wilhelm von Ockham60 – beansprucht also nichts anderes, als in seinem schriftlichen Text festzuhalten, was er in seinen mündlichen Erläuterungen im Hörsaal zu erörtern pflegte, als Gedächtnisstütze und Hörersatz gewissermaßen. Andere Autoren können noch weitergehen und diesen Gedanken noch überbieten. Der Pariser gelehrte Artist Johannes Buridan teilt, ebenfalls anläßlich einer Auslegung der Physik des Aristoteles, seinem Leser mit, er habe die Kühnheit besessen, auf die Bitte von vielen seiner Schüler und Studenten hin, einiges über die Schwierigkeiten der aristotelischen Physik niederzuschreiben und ihnen diese Niederschrift zugänglich zu machen, quia non possent – ut dicunt – multa in scholis audita sine alicuius scripturae adiutorio memoriae commendare, sie könnten, wie sie sagen, vieles was sie in den Hörsälen zu hören bekämen, ohne die Hilfe einer Schrift nicht ihrem Gedächtnis einprägen61. et chez les Prêcheurs au XIIIe siècle, in: Albertus Magnus, doctor universalis 1280/ 1980. Mainz 1980, 47–57 [auch in: ders., Thomas d’Aquin: sa vision de théologie et de l’Eglise. (Variorum reprints, CS, 190.) London 1984, Nr. I]. Knapp auch Louis-Jacques Bataillon, Status quaestionis sur les instruments et techniques de travail de Saint Thomas et Saint Bonaventure, in: 1274 – année charnière, Mutations et continuités. (Colloques internationaux du C.N.R.S., 558.) Paris 1977, 647–657, hier 653 ff. 60 „Summulae in libros physicorum“. Ed. Stephan Brown, in: Guillelmi de Ockham, Opera theologica et philosophica, Opera philosophica. Bd. 6. St. Bonaventure, N.Y. 1984, 37 Zl. 1–8. Zur verwandten literarischen Form der Summe bei den Juristen vgl. Weimar, Legistische Literatur (wie Anm. 39), 188 ff. 61 „Quaestiones in VIII libros physicorum Aristotelis [de ultima lectura]“. Hrsg. v. Johannes Dullaert. Paris, Petrus de le Dru für Denis Roce 1509, ND Frankfurt
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Hier erscheint das Buch, das Lehrbuch, sozusagen nur als mnemotechnische Eselsbrücke, als Hilfsmittel, das mündlich Vorzutragende besser zu behalten. Bezeichnenderweise freilich sind diese beiden Stimmen aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, denen sich eine ganze Reihe weiterer Zeugnisse ohne Schwierigkeiten anfügen ließe, nun nicht etwa glossierenden Wort-für-Wort-Kommentaren des Aristoteles-Textes vorangestellt, sie leiten vielmehr selbständigere, eher problemorientierte als textbegleitende Erörterungen ein. Ockhams Schrift ist mit der Überschrift „Summulae“ als systematisches Lehrbuch charakterisiert, und Buridan beginnt mit seinem Prooemium eine Sammlung von „Quaestiones in octo libros physicorum Aristotelis“, eine Schrift also, die sich gewiß nicht zufällig die andere Grundform scholastischer Bemühung um Texte als literarisches Genus zunutze | macht, die 30 quaestio62, die ebenfalls seit dem 12. Jahrhundert neben der lectio in voller Breite sich entwickelt hatte.
III Die scholastische quaestio, Herzstück scholastischen Wissenschaftsbetriebes, ist nun in sich selbst eine literarische und didaktische Form, die noch stärker als die lectio jenes starke Moment an mündlicher Rede bewahrt, das wir bereits bei der textbezogenen lectio beobachten zu können glaubten. Die quaestio, eine freie (eingeschobene) Erörterung eines an der Textlektüre sich entzündenden Problems (das sich freilich auch weit von dem konkreten Gedankengang der autoritativen Vorlage entfernen konnte) war im Unterrichtsbetrieb von der lectio schon früh unterschieden; „wenn in einem Text eine quaestio auftaucht“, so schreibt am Ende des 12. Jahrhunderts der französische Theologe Petrus Cantor, „so schreibe man sich das auf am Main 1964, hier zit. n. Michael, Johannes Buridan (wie Anm. 37), Bd. 2, 578, dort 578–609 zu Redaktionen und Überlieferungen des Textes. Zu vergleichen ist z.B. auch das oben in Anm. 47 zitierte anonyme Prooemium zu den „Meteora“ des Aristoteles. 62 Zur Geschichte dieses literarischen Genres in der Frühscholastik z.B. Artur Michael Landgraf, Zur Technik und Überlieferung der Disputation, in: Collectanea franciscana 20, 1950, 173–188. Zur Bedeutung auch Marie Dominique Chenu, La théologie au XIIe siècle. (Etudes de philosophie médiévale, 45.) Paris 1957, 337–341. Zur Wortgeschichte das ausgebreitete Material bei Weijers, Terminologie (wie Anm. 13), 335–347; vgl. auch ebd. 355–360.
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und verschiebe die Behandlung bis zur Stunde der Disputation“63. Die Disputation ist demnach schon zu Beginn der europäischen Universitätsgeschichte als Form für sich institutionalisiert. Dieser Selbständigkeit verdankt die Quästion offenbar nicht zuletzt ihre breite Entfaltung. Im durchgebildeten Betrieb der spätmittelalterlichen Universitäten treffen wir auf die quaestio auf jedem Niveau des Unterrichts. Bei den Anfängern dient sie als repetitio, der Wiederholung und Einübung des gerade Gelernten64. In der quaestio disputata begleitet sie als Veranstal31 tungsreihe mit festen Terminen die Vorlesungen | der Magister und Doktoren65. Sie soll die freie Problembehandlung und wissenschaftliche Methode in der Lösung von Fragen schulen. In den feierlichen Disputationsübungen der Fakultäten, von denen die Quodlibet-Disputationen der Theologen die bekanntesten sind, sollte auch demonstrativ die Leistungsfähigkeit der Studenten und Magister öffentlich, zumindest universitätsöffentlich zur Geltung gebracht werden66.
63 Zit. n. John W. Baldwin, Masters, Princes and Merchants. Peter the Chanter and His Circle. Vol. 1–2. Princeton, N.J. 1970, hier Vol. 2, 67 Anm. 52. 64 Anschaulich wiederum Maierù, Tecniche (wie Anm. 37), 339 ff. Vgl. dazu etwa den Oxforder ‚parvisus‘: James A. Weisheipl, Curriculum of the Faculty of Arts at Oxford in the Early Fourteenth Century, in: MedSt 26, 1964, 143–185, bes. 154; John M. Fletcher, The Teaching of Arts at Oxford, 1400 to 1520, in: Paedagogica historica 7, 1967, 417–454, hier 431 ff.; Edith Dudley Sylla, The Oxford Calculators, in: Kretzmann/Kenny/Pinborg (Eds.), Cambridge History of Late Medieval Philosophy (wie Anm. 30), bes. 542–546. 65 Zusammenfassend jetzt: Les questions disputées et les questions quodlibétiques dans les facultés de théologie, de droit et de médecine. Par Bernardo C. Bazan, John F. Wippel, Gérard Fransen, Danielle Jacquart. (Typologie des sources du moyen âge occidental, 44–45.) Turnhout 1985; dazu bereits Bernardo C. Bazan, La ‚quaestio disputata‘, in: Robert Bultot/Léopold Génicot (Eds.), Les genres littéraires dans les sources théologiques et philosophiques médiévales. Définition, critique et exploitation. (Université Catholique de Louvain, Publications de l’Institute d’Etudes Médiévales, II/5.) Louvain-la-Neuve 1982, 31–49. Vgl. auch Ludwig Hödl/Peter Weimar/Jacques Verger/L. Miller in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 3. München/Zürich 1986, 1116 bis 1120 (s.v. Disputatio[n]). Für die Juristen wiederum Manlio Bellomo, Aspetti dell’insegnamento giuridico nelle università medievali. Le ‚quaestiones disputatae‘. (Cultura giuridica medievale e moderna, 1/1.) Reggio di Calabria 1974; für die Mediziner Brian Lawn, The Salernitan Questions. An Introduction to the History of Medieval and Renaissance Problem Literature. Oxford 1963; vgl. auch Tiziana Pesenti, Genesi e pubblico della letteratura medica padovana nel tre e quattrocento, in: Università e società nei secoli XII–XVI. (Centro Italiano di studi di storia e d’arte Pistoia, Nono convegno internazionale, Postoia, 20–25 sett. 1979.) Pistoia 1982, 523–545. 66 Grundlegend Palémon Glorieux, La littérature quodlibétique. Vol. 1–2. (Bibliothèque thomiste, 5 u. 21.) Le Kain bzw. Paris 1925/1935. Vgl. jetzt die Typologie (wie Anm. 65); knapp auch John F. Wippel, The Quodlibetal Question as a Distinctive Literary Genre, in: Bultot/Génicot (Eds.), Les genres (wie Anm. 65), 67–84. – Beispielhaft hat erneut zur Erhellung der Beziehungen der Universitäten zu ihrer
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Die feierliche quaestio im Quodlibet mit ihrem komplexen Ineinander und Miteinander verschiedener Mitwirkender verdeutlicht uns die Absicht und die Erkenntnischance dieses Lehrprogramms. Vielleicht sollten wir richtiger sagen, daß sie uns die Versuchsanordnung deutlich macht, der die verschiedensten Fragen unterzogen wurden67. Die Veranstaltung fand unter dem Vorsitz eines dazu be | fugten Magisters 32 oder Doktors statt. Auf die Frage, die gestellt wurde und die als solche natürlich vom Magister anerkannt war, die aber nicht etwa vom Magister selbst auch formuliert werden mußte, antwortete zuerst einer der älteren Schüler, der respondens, der „Antworter“, indem er eine Lösung vorschlug und mit einer Reihe von Argumenten und natürlich auch Autoritäten diese seine Lösung zu stützen versuchte. Ein sogenannter opponens oder mehrere „Opponenten“ hatten dann die Aufgabe, diese gegebene Lösung ihrerseits mit Argumenten und Autoritäten anzugreifen, auch gegebenenfalls Gegenpositionen einzunehmen,
Umwelt die Quodlibets herangezogen Jacques Verger, Les universités et le deuxième concile de Lyon, in: 1274 – année charnière (wie Anm. 59), 245–259. – Zu den Quodlibet-Diskussionen an den deutschen Artisten-Fakultäten des 15. Jh.s (besonders zu Wien) zuletzt Uiblein, Mittelalterliches Studium (wie Anm. 22), 93 f. 67 Robert de Courçon spricht im Anschluß an Gregor den Großen davon, daß ein Problem nur dann voll verstanden werden könne, wenn es „vom Zahn der Disputation gebrochen“ werde; vgl. Baldwin, Masters (wie Anm. 63), Vol. 2, 68 Anm. 62: . . . nihil ad plenum intelligitur nisi dente disputationis frangatur. Sein Lehrer Petrus Cantor gebraucht fast dieselben Worte in: Verbum abbreviatum, cap. I (abgedruckt in der Version der Hss. ebd. 63 Anm. 22; in der kürzeren Fassung bei Jacques Paul Migne, Patrologiae cursus completus. Series Latina. Vol. 205. Paris 1855, Sp. 25B, fehlt der Verweis auf Gregor). – Noch im Mai 1379 erklärt Heinrich von Langenstein in Paris stolz die Disputation geradezu zu einem Prüfstand für die christliche Glaubenswahrheit: „Epistola pacis“. Ed. Hermann von der Hardt, in: „Programma“ der Academia Julia Carolina Helmstedt 1798–1799, pars lxiv [mit fortlfd. Paginierung; Teil II: Weihnachten 1798], LVIII, hier verglichen mit Ms. München, BSB, clm 26608, fol. 77v, und mit dem Druck von César Égasse Du Boulay, Historia Universitatis Parisiensis, IV. Paris 1676, zit. n. Alan E. Bernstein, Pierre d’Ailly and the Blanchard Affair. University and Chancellor of Paris at the Beginning of the Great Schism. (Studies in Medieval and Reformation Thought, 24.) Leiden 1978, 36 Anm. 46. – Georg Kreuzer machte mir dann freundlich auch die Fassung dieses Textstücks in seiner künftigen kritischen Ausgabe zugänglich; ich folge ihr mit einer Ausnahme (ich lese indicium, nicht iudicium): Numquid disputacionis iuge exercicium latentem falsitatem et fraudem detegit ultimate? Numquid hoc est quare Machometus de hiis aue sue legis sunt disputare prohibuit sciens crebrum et diligens disputatcionis ventilabrum fraudem et falsitatem diu latere non posse? Unde maximum est Christiane legis indicium, quod in ea omnia acerrimo disputationis examine a mille annis exposita sunt et cottidie exponuntur, et tamen perseverant. – Zuvor schon hat auch Wilhelm von Ockham mit seiner deutlichen Vorliebe für das Zitat aus dem Dekret Gratians, das er in seinen politischen Schriften immer wieder zur Begründung seines methodischen Vorgehens anführt, ähnliche Akzente gesetzt: veritas sepius exagitata magis splendescit in lucem (C.35 q.9 c.7 = Friedberg I, 1286).
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auf die dann der respondens eingehen mußte. Die Schlacht entschieden wurde schließlich, meist erst am folgenden Tage, durch den Magister, der nach einem knappen Rückblick auf die vorgetragenen Gründe die wissenschaftlich zuverlässige und nach seiner wissenschaft33 lich gesicherten Meinung | auch einzig zulässige Antwort mit seiner determinatio68 (wörtlich übersetzt heißt das: „Abgrenzung“) festlegte. Allein unsere schematische Zusammenfassung zeigt, daß hier verschiedene Momente ineinandergreifen und daß der tatsächliche Ablauf der Redeschlacht im einzelnen gewiß nicht immer in jener schönen Ordnung vor sich gegangen ist, die bei den Meistern des Genres aus dem 13. Jahrhundert, wie etwa Heinrich von Gent, Gottfried von Fontaines oder Thomas von Aquin die uns schriftlich überlieferten Quaestionen aufweisen. Die strittige Debatte zwischen verschiedenen Personen um das bessere Argument, geführt mit allen Mitteln einer ausgearbeiteten Logik, das dialektische Zerpflücken der gegnerischen Meinung, das dann schließlich in der magistralen determinatio eine gültige Antwort fand, war, so sehr es die Möglichkeit einer objektiven Entscheidung wissenschaftlicher Fragen überschätzen mochte, zunächst ganz und gar nicht auf schriftliche Fixierung berechnet. Und doch sind in den Universitätshandschriften fast schon unzählige Quaestionen mit und ohne Zuschreibungen an bestimmte Autoren überliefert, die uns den Diskussionsstand eines Problems in aller Regel sehr präzise erschließen. Die verschiedenen Redaktionsstufen zu unterscheiden, in der uns die Texte jeweils vorliegen69, ist freilich nicht immer einfach. Da gibt es die Mitschriften von eifrigen Zuhörern, die Reportationen des tatsächlichen Verlaufs, auch wenn diese Form relativ selten vorkommt. Da gibt es – weit häufiger – die nach der Determination des Magisters angefertigten gewissermaßen perspektivisch auf die schließliche Lösung hin durchorganisierten Rekapitulationen wirklicher Dispute, d.h. die sozusagen offizielle, vom Magister geprüfte und gebilligte oder sogar selbst niedergeschrie-
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Zur Wortgeschichte jetzt ausführlich Weijers, Terminologie (wie Anm. 13), 347–355; vgl. auch ebd. 404–407. 69 Skizze mit interessantem Material bei Jacques-Guy Bougerol, De la reportatio à la redactio (Saint Bonaventure, Qu. disp. „De perfectione evangelica“, qu. 2 a.2, dans les états successifs du texte), in: Bultot/Génicot (Eds.), Les genres (wie Anm. 65), 51–65. Vgl. Jacqueline Hamesse, ‚Reportatio‘ et transmission des textes, in: Monika Asztalos (Ed.), The Editing of Theological and Philosophical Texts from the Middle Ages. Acts of the Conference . . . Stockholm, 29–31 August 1984. (Acta Universitatis Stockholmiensis, Studia latina Stockholmiensia, 30.) Stockholm 1986, 11–34.
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bene70 Version. Und schließlich gibt es auch die systemati | schen 34 Untersuchungen in Quaestionenform, die sich das methodische Vorgehen der quaestio zunutze machen, um ein Problem zu entfalten. Die bekanntesten Texte dieser letzten, schon durchaus „schriftlichen“ Quaestionenkonzeption sind die „Summen“ des Thomas von Aquin71, die freilich in ihrer Form keineswegs allein stehen72. Wir brauchen hier nicht zu verfolgen, wie sich literargeschichtlich die quaestio seit dem 12. Jahrhundert immer stärker als Gattung für sich und als Grundform des scholastischen Traktats durchzusetzen vermochte. Vorlesungen über das Sentenzenbuch des Petrus Lombardus an der theologischen Fakultät waren spätestens seit der | Mitte des 35 13. Jahrhunderts in aller Regel eine Kette von Quaestionen, die sich in der Reihenfolge der Themen an dem systematischen Aufbau der
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Jedenfalls schreiben etwa die Statuten Bolognas vor, der Dozent habe seine ausgearbeitete Quaestion persönlich bei dem Pedell zu hinterlegen (vgl. Hermann Ulrich Kantorowicz, The ‚Quaestiones disputatae‘ of the Glossators, in: TRG 16, 1938/39, 1–67, hier 44; jetzt in: ders., Rechtshistorische Schriften. Hrsg. v. Helmut Coing u. Gerhard Immel. [Freiburger Rechts- und Staatswissenschaftliche Abhandlungen, 30.] Karlsruhe 1970, 137–185, hier 168), aber diese Bestimmung gilt ersichtlich nicht etwa einer bürokratischen Archivierung, sondern soll die Aufsicht über die Vervielfältigung durch die stationarii erleichtern. 71 Zum literarischen Genus einer „Summa“ etwa Ludwig Hödl, in: Lexikon für Theologie und Kirche. 2., völlig neu bearb. Aufl. hrsg. v. Josef Höfer u. Karl Rahner. Bd. 9. Freiburg 1964, 1164–1167 (s.v. Summa); vgl. schon Martin Grabmann, Geschichte der scholastischen Methode nach den gedruckten und ungedruckten Quellen. Bd. 1–2. Freiburg i.Br. 1909–1911, hier Bd. 2, 23 f.; ders., Einführung in die „Summa Theologiae“ des hl. Thomas von Aquin. Freiburg i.Br. 1919, bes. 3 ff.; vor allem aber Marie Dominique Chenu, Le plan de la Somme théologique de St. Thomas, in: Rev. thomiste 47, 1939, 93–107 (dt.: Der Plan der „Summa“, in: Klaus Bernath (Hrsg.), Thomas von Aquin. Bd. 1. [Wege der Forschung, Bd. 188.] Darmstadt 1978, 173–195), wiederabgedruckt in: ders., Introduction à l’étude de Saint Thomas d’Aquin. (Université de Montréal, Publications de l’Institut d’Etudes Médiévales, 11.) 2. Aufl. Paris 1954, 255–276 (dt.: Das Werk des hl. Thomas von Aquin. [Deutsche Thomas-Ausgabe. Ergänzungsbd. 2.] Heidelberg/Graz 1960, 336–365). Hier ist auf die lebhafte Diskussion im Anschluß an diese wegweisende Studie nicht einzugehen; vgl. zuletzt etwa Hermann Otto Pesch, Thomas von Aquin, Grenze und Größe mittelalterlicher Theologie. Eine Einführung. Mainz 1989, 387–400. – Zu den juristischen Summen Weimar, Legistische Literatur (wie Anm. 39), 188–213, und Horn, Legistische Literatur (wie Anm. 39), 342 ff. 72 Von Vorbildern und Vorläufern abgesehen – vgl. später etwa noch die „Summa de ecclesiastica potestate“ des Augustinus von Ancona, die in 111 Einzelquaestionen ihr Thema abschreitet. Inhaltlich zu ihr etwa Michael J. Wilks, The Problem of Sovereignty in the Later Middle Ages. The Papal Monarchy with Augustinus Triumphus and the Publicists. (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought, N.S. 9.) Cambridge 1963. (Zur literarischen Form kenne ich keine eingehende Untersuchung.)
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„Sentenzen“ des Lombarden orientierten73. Sie waren nicht mehr Vorlesungen nach der geschilderten Art der lectiones. Auch zu den Büchern des Corpus Aristotelicum wurden in der Artisten-Fakultät neben den commenta und scripta immer mehr quaestiones oder gar nur conclusiones vorgelegt und abgeschrieben, die die „Schlußfolgerungen“, die Antworten des Verfassers auf die Fragen des Textes präsentieren74. Das alles brauchen wir uns hier nicht vor Augen zu führen, es ist ein wahrhaftig ausgedehntes Feld, betrifft es doch einen wesentlichen Teil der uns überkommenen Universitätsliteratur. Natürlich soll hier nicht behauptet werden, daß all die zahllosen Quaestionen, mit denen uns jede Handschriftensammlung unweigerlich konfrontiert, sofern sie Universitätsschrifttum in mehr als marginalen Beständen enthält, daß alle in Quaestionenform niedergeschriebenen Texte auch mehr oder minder getreulich einer wirklichen mündlichen und strittig vorgetragenen mehr oder minder feierlichen Quaestion gefolgt seien. 36 Gewiß war die Situation der quaestio für viele | der Texte eher fiktiv als real75. Man wird die Absicht und das methodische Vorgehen auch dieser „schriftlichen“ Texte aber nur dann richtig verstehen, wenn man diese ihre Entstehungsbedingungen in Rechnung stellt, wenn man
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Schon Roger Bacon, der so häufig unerbittlich scharfe und scharfsichtige Kritik am Wissenschaftsbetrieb seiner Zeit übte, schreibt (an der traditionellen lectio hartnäckig festhaltend) in seinem „Opus minus“ [von ca. 1267; Ed. John Sherren Brewer, in: Roger Bacon, Opera hactenus inedita. (Rerum Britannicarum scriptores [Rolls Series], 15.) London 1859, ND New York 1964, hier 329]: . . . qui legit Sententias, disputat et pro magistro habetur. (. . .) Item impossibile est quod textus dei sciatur propter abusum Sententiarum. Nam questiones que queri deberent in textu ad expositionem textus, sicut fit in omni facultate, iam sunt separate a textu. Et vocatur curiosus qui in textu vult questiones licet necessarias et proprias theologie disputare nec audiretur, nisi esset homo magne auctoritatis aut potens in questionibus propriis et utilibus et necessariis. Et ideo qui legunt textum, non exponunt eum, quia non querunt questiones proprias et necessarias textui intelligendo (. . .) Sed non sic fit in theologia, accidit infinitum impedimentum studii. 74 Vgl. dazu nur das Material bei Charles H. Lohr, Medieval Latin Aristotle Commentaries. Authors, in: Trad 23, 1967, 313–437; 24, 1968, 149–245; 26, 1970, 135–216; 27, 1971, 251–351; 28, 1972, 281–396; 29, 1973, 93–197; 30, 1974, 119–144. Bibliographische Ergänzungen jetzt in ders., Commentateurs d’Aristote au moyen-âge latin. Bibliographie de la littérature secondaire récente. (Vestigia, 2.) Paris 1988. Für die „Politik“ jetzt die stark vermehrte Liste von Christoph Flüeler, Mittelalterliche Kommentare zur „Politik“ des Aristoteles und zur pseudoaristotelischen „Oekonomik“, in: Bull. de la philosophie méd. 29, 1987, 193–229. 75 Dafür ist Beleg genug, daß sich der scholastische Kommentar aus Quästionen zusammensetzen kann. Selbst bei den Juristen, bei denen man das zunächst nicht erwarten sollte, begegnen Mischformen zwischen lectio und quaestio: Lucia Sorrenti, Tra lecturae e quaestiones in un esemplare del „Codex“, in: Quad. Catanesi di Studi Classici e Med. 9, 1987, 103–135.
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die aus der mündlichen eristischen Debatte sich ergebenden Besonderheiten des Aufbaus und der Gedankenführung berücksichtigt.
IV Das Anforderungsprofil der quaestio an die Fähigkeiten der Kandidaten bestimmte weitgehend auch das Promotionsverfahren, wenn auch natürlich Momente der lectio daneben traditionell im Studiengang und während des Abschlußverfahrens nachgewiesen werden mußten. Die Promotionsstatuten sprechen, bei aller Formalisierung und damit Entschärfung des Promotionsaktes, doch insgesamt eine deutliche Sprache: Zeremonielle, ritualisierte Quaestionen sind in ihnen allen enthalten. Die dialektische Wendigkeit in der Behandlung des gegnerischen Arguments, die aus dem Gedächtnis prompt zu liefernde überzeugende Autorität, die strategische Anordnung der eigenen Argumente wurden im Promotionsverfahren aller Fakultäten neben dem formellen Nachweis eines ordnungsgemäßen Studiums erwartet76. Etwas überspitzt ließe sich behaupten, daß in der erfolgreich absolvierten quaestio der Promovend seine Qualifi | kationen als Magister 37 und Doctor formell noch einmal nachzuweisen hatte, bevor er in den Kreis der Promovierten aufgenommen werden konnte. Diese Anforderungen, die so eng an die Unterrichtsformen und Ausbildungsmethoden der mittelalterlichen Universität gebunden scheinen, wurden naturgemäß nicht nur im Rahmen der Prüfung demonstrativ zur Schau gestellt, sie werden als Ziele der Ausbildung und des Studiums auch sonst immer wieder unterstrichen. Das Lob der Dialektik zieht sich seit Abaelards Zeiten durch artistische Traktate. 76 Für die Juristen vgl. etwa Peter Weimar, Zur Doktorwürde der Bologneser Legisten, in: Aspekte europäischer Rechtsgeschichte. Festgabe für Helmut Coing zum 70. Geb. (Ius commune, Sonderh. 17.) Frankfurt am Main 1982, 421–443; für das 15. Jahrhundert zuletzt etwa Anna Laura Trombetti Budriesi, L’esame di laurea presso lo studio bolognese. Laureati in diritto civile nel secolo XV, in: Studenti e università degli studenti dal XII al XIX secolo, a cura di Gian Paolo Brezzi e Antonio Ivan Fini. (Studi e memorie per la storia dell’Università di Bologna, n.s. 7.) Bologna 1988, 137–191. Zu den Graduierungen der Artistenfakultät in Paris etwa die ausführlichen Erörterungen bei Michael, Johannes Buridan (wie Anm. 37), Bd. 1, 141–159. Ansonsten findet sich fast in jeder Universitätsgeschichte eine mehr oder minder farbige Darstellung der Promotion. Vgl. auch die genaue Auflistung der einzelnen Akte in: Erler (Hrsg.), Matrikel der Universität Leipzig (wie Anm. 27), Bd. 2, XVII–XIX (für die Theologen), XXVIII–XXX ( Juristen), XXXIX sq. (Mediziner), LV–LXII (Artisten).
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Noch der Kanzler der Pariser Universität an der Wende zum 15. Jahrhundert Jean Gerson zitiert ausdrücklich die hymnische Bewertung der logischen Wissenschaft, die der Pariser Professor Petrus Hispanus um die Mitte des 13. Jahrhunderts im Proömium seines „Tractatus“, seiner „Summulae logicales“ formuliert hat77. Die memoria, die Leistung des Gedächtnisses, auf die es immer wieder ankommt, wird unermüdlich unterstrichen78. Mit einer gewissen Erleichterung können wir jedoch feststellen, daß schon im Mittelalter die glänzenden und uns ganz unerreichbaren Gedächtnisleistungen mittelalterlicher Gelehrter doch auch einer deutlichen Kritik unterzogen wurden. Ein Text des 14. Jahrhunderts, der vielleicht zu Recht in der Handschrift wiederum Wilhelm von Ockham zugeschrieben 38 ist79, mokiert sich80 – offenbar nach bitteren Erfah | rungen des Autors – über angebliche Experten seines Faches, die in Wahrheit
77 Vgl. etwa „Super doctrinam Raymundi Lulli“, in: Jean Gerson, Œuvres complètes. Ed. Palémon Glorieux. Vol. 10. Paris 1973, 125. Freilich ist der Text zu berichtigen; vgl. Zenon Kaluza, Les querelles doctrinales à Paris. Nominalistes et réalistes aux confins du XIVe et du XVe siècles. (Quodlibet. Ricerche e strumenti di filosofia medievale, 2.) Bergamo 1988, 69 Anm. 15; weitere Parallelen ebd. 72 f. Anm. 34. 78 Weit über die Zeit der Universitäten hinaus reicht der Überblick von Pierre Riché, Le rôle de la mémoire dans l’enseignement médiéval, in: Bruno Roy/Paul Zumthor (Eds.), Jeux de mémoire. Aspects de la mnemotechnie médiévale. Montreal/Paris 1985, 133–148. 79 Ms. München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 4379, fol. 135ra–189vb, ausdrücklich mehrfach Ockham zugeschrieben; z.B. zweimal, am Beginn und am Ende, als loyca magistri gwilhelmi okkam ordinis fratrum minorum bezeichnet (vgl. auch ebd. fol. 197vb). Der Autor selbst nennt seinen Text im Schlußwort elementarium logice. Der Traktat bildet Teil eines Konvoluts, an dessen Ende (ebd. fol. 197vb) der Schreiber sich selber und die Zeit der Niederschrift nennt: Hec collecta sunt per fratrem Fridericum de Noerdlinga pro tempore studentem Constantie anno domini m° ccc° xlviii°. (Die Hs. stammt aus St. Ulrich und Afra in Augsburg; über den Franziskaner Friedrich von Nördlingen konnte ich nichts ermitteln; die räumliche, zeitliche und soziale Nähe des Ms. zu Ockham und seinem Lebenskreis verdient freilich Beachtung.) Vgl. bereits Philotheus Boehner, Collected Articles on Ockham. Ed. Eligius Maria Buytaert. (Franciscan Institute Publications, Philosophy Series, 12.) St. Bonaventure, N.Y. 1958, 75–81. 80 „Elementarium logicae“. Ed. Eligius Maria Buytaert, in: Franciscan Stud. 25, 1965, 170–276, und 26, 1966, 66–173, hier 275 (anläßlich einer Erörterung der Tragfähigkeit des Autoritätsbeweises): Alius locus ponitur ab auctoritate; et ille locus debilis est. (. . .) Propter quod non est necesse credere cuilibet, qui putatur expertus in scientia sua, quia in multis artibus et scientiis nullus potest esse perfectus, sed quilibet errare potest. Sunt tamen multi, qui putantur experti esse, qui non sunt, sed vel omnino sunt errantes et ignari, vel solummodo habent memoriam litterarum vel illorum, quae audierunt et viderunt, de eis certum et clarum iudicium non habentes. Multi enim vigent memoria, quae bestiis et hominibus, viris et mulieribus, pueris et adultis, stultis et sapientibus est communis; et tamen in iudicio omnino deficiunt vel habent iudicium valde debile. Vidi enim aliquos pueros et mulieres ac etiam naturaliter stultos quibusdam viris intelligentibus et profundi iudicii in potencia memoriae praevalere . . .
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Ignoranten seien und nur ein ausgezeichnetes Gedächtnis vorweisen könnten; sie hätten nur das, was sie gelesen, gehört oder gesehen haben, präsent, ohne über ein gewisses und sicheres Urteil, ein certum et clarum indicium zu verfügen. Viele hätten ein gutes Gedächtnis, aber das sei eine Gabe, die Tieren und Menschen, Männern und Frauen, Kindern und Erwachsenen, Ungebildeten und Gelehrten gemeinsam zukomme. Bisweilen besäßen solche Leute dann aber keinerlei Urteilskraft. Mit eigenen Augen habe er gesehen, sagt der Verfasser, wie (offenbar bei Jahrmarktsvorführungen) einige Knaben, Frauen und sogar offenkundig sonst Schwachsinnige sich in ihrer Gedächtniskraft gebildeten Männern von tiefgegründeter Urteilskraft überlegen zeigten. Ohne hier die Frage der Authentizität dieser Schrift näher untersuchen zu können81 und insbesondere ohne hier in eine nähere Analyse der Gedächtnisleistung und Urteilskraft Ockhams eintreten | zu 39 wollen, soviel wird doch auch ohnedies deutlich, daß selbst noch in dieser unmißverständlichen Kritik an den Grundanforderungen nicht gerüttelt werden sollte, auch wenn eine klare Akzentuierung die Selbständigkeit des Intellektuellen und seine Berufung zum eigenen Urteil in neuartiger Weise unterstreicht.
81 Boehner, Collected Articles (wie Anm. 79), 96, sowie der Herausgeber der Erstausgabe E. M. Buytaert hatten keine Bedenken, den in der Handschrift Ockham so deutlich zugewiesenen Text diesem auch zuzuerkennen, die Herausgeber der „Opera philosophica“ setzen ihn in Bd. 7 (St. Bonaventure, N.Y. 1989?) unter die „Opera dubia et spuria“. Vgl. auch die (nicht überzeugenden) Erörterungen von Gedeon Gál in: Guillelmus de Ockham, Opera philosophica. Bd. 1. St. Bonaventure, N.Y. 1974, 60*–66*: Nirgends ist dem Text, soweit ich sehen kann, zu entnehmen, daß sich die Anfeindungen, vor denen sich der Verfasser besorgt zeigt, auf den vorliegenden Logiktraktat beziehen müßten; ebensogut könnten auch (Ockhams) politische Streitschriften gemeint sein. Hier kann die Frage nicht entschieden werden. Immerhin entspricht die Haltung des Traktats zu den Autoritäten exakt derjenigen Ockhams, der sich außerdem in seinem „Dialogus“ ganz ähnlich zu memoria und iudicium geäußert hat; vgl. I Dialogus VII 73 (im „programmatischen“ Schlußkapitel der „Prima pars“, wo die Anforderungen an diejenigen erörtert werden, die sich einem häretischen Papst widersetzen können und demnach müssen; im Druck bei Johannes Trechsel, Lyon 1494 [= Hain Nr. 11939], ND Farnborough 1962, fol. 164va): Multi enim quamvis memoria vigeant, ut litteras multas retineant et prompte, que voluerint recitent et allegent, carent tamen iudicio et acumine rationis, ita ut ad verum intellectum aliquando per seipsos nesciant pervenire. (. . .) Alii sunt vigentes rationis iudicio, quamvis in memoria deficere videantur. Et illi – quamvis interdum cum magno labore et tarde – sunt idonei errores occultos et latentes ac coloratos pape heretici impugnare. (. . .) Qui autem memoria et iudicio prepollent, quod raro accidit, ut quidam estimant, qui essent in sacris litteris eruditi, essent maxime idonei impugnatores pape infecti pravitate heretica . . . (Welcher Gruppe Ockham sich selbst zugehörig fühlte, scheint deutlich.) Vgl. auch unten Anm. 89.
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Die allgemeinen Anforderungen, memoria und iudicium, Gedächtnis und Urteilskraft, die so deutlich auf die didaktische Situation des Argumentationsgeflechtes der quaestio bezogen bleiben und die in dieser institutionellen Form an der Universität ständig geübt und gepflegt worden sind, machen uns klar, daß hier die Universität sich in spezifischer Weise auf ihre eigene Situation in der Gesellschaft einstellte. Der gelehrte Absolvent einer mittelalterlichen Universität befand sich grundsätzlich in einer völlig anderen Lage als ein heutiger Universitätsabgänger. Daß der mittelalterliche Gelehrte ständig gewärtig sein mußte, auf Leute zu treffen, die des Lesens und Schreibens, die der Sprache der gelehrten Überlieferung, des Lateinischen, nicht mächtig waren, das dürfen wir keineswegs auch nur entfernt mit den neuzeitlichen Restphänomenen eines Analphabetismus in der modernen Gesellschaft gleichsetzen. Für den mittelalterlichen Universitätsabgänger mußte es selbstverständlich sein, daß er auf einflußreiche, ja mächtige und intelligente Männer traf, von deren Wohlwollen, Aufmerksamkeit und Förderung nicht zuletzt auch sein eigenes Weiterkommen abhän40 gen | konnte, die aber eben weit entfernt davon waren, litterati im technischen Sinne zu sein. Gewiß war die mögliche Spannweite der Laienbildung erstaunlich groß: wir sollten uns vor allzu primitiver Schwarzweißmalerei hüten82. Es kann aber gar keinem Zweifel unterliegen, daß die Universitäten mit ihrem Angebot an methodisch-wissenschaftlicher Problemlösung auch Adressaten gewinnen und überzeugen mußten, die für die einfachsten Grundlagen des wissenschaftlichen Vorgehens zwar ein großes Interesse, aber nur sehr geringe, wenn nicht überhaupt keine formellen Voraussetzungen mitbrachten. Die universitär Gebildeten mußten für die Nützlichkeit ihrer Tätigkeit jedenfalls allererst den Beweis erbringen. Durch die Tat und den Erfolg wie durch die Verdeutlichung ihrer Absichten mußten sie sich ihren Platz in der Gesellschaft all-
82 Vgl. etwa Alfred Wendehorst, Wer konnte im Mittelalter lesen und schreiben?, in: Fried (Hrsg.), Schulen und Studium (wie Anm. 14), 9–33, oder den umfänglichen und aspektereichen Sammelband: Rüdiger Grenzmann/Karl Stackmann (Hrsg.), Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. (Germanistische Symposien, Berichtbd. 5.) Stuttgart 1984; Klaus Schreiner, Laienbildung als Herausforderung an Kirche und Gesellschaft. Religiöse Widerstände und soziale Vorbehalte gegen die Verbreitung von Wissen im späten Mittelalter und in der Reformation, in: ZHF 11, 1984, 257–354.
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mählich erobern. Die „Verwissenschaftlichung“ der europäischen Höfe im späteren Mittelalter83 ist keineswegs ein automatisch ablaufender Prozeß, sondern er mußte durch die Bereitschaft der Universitätsabgänger begleitet und unterstützt, ja in Gang gesetzt und vorangebracht werden, die die eigenen Methoden in ihren Ergebnissen immer wieder zu demonstrieren, die Ergebnisse des eigenen Nachdenkens immer wieder so zu übersetzen hatten, daß auch nicht-literate „Laien“ zumindest den Nutzen solcher Expertenschaft anzuerkennen bereit waren. Als Beispiel mögen uns die Universitätsgründer dienen, die doch von den Vorteilen einer Universität eine gewisse Vorstellung gehabt haben müssen. Nicht alle Fürsten, die sich in Weitsicht oder in ehrgeiziger Anstrengung zu einer Universitätsgründung aufrafften und sie durch die Fährnisse der ersten Schwierigkeiten erfolg | reich 41 hindurchzubringen wußten, waren so universitätsnah erzogen worden wie der Luxemburger Karl IV., der als Römisch-deutscher König und König von Böhmen 1346/47 die Universität Prag ins Leben rief, nachdem er, wie ein hofnaher böhmischer Chronist, der Prager Domherr Benesch von Weitmühl ausdrücklich anmerkt84, bei seiner eigenen Erziehung am Hofe des französischen Königs die Universität von Paris kennengelernt und dort auch führende Gelehrte persönlich zu Freunden gewonnen hatte. 83 Davon spricht eindrucksvoll Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. 2. Aufl. Göttingen 1967, 117 f., 131 ff. Aufgegriffen hat diesen Begriff verschiedentlich Peter Moraw, etwa knapp in: Organisation und Funktion von Verwaltung im ausgehenden Mittelalter (ca. 1350–1500), in: Kurt G. A. Jeserich/Hans Pohl/GeorgChristoph von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte. Bd. 1. Stuttgart 1983, 30 f. 84 Volens ut studium Pragense ad modum et consuetudinem studii Parisiensis, in quo olim ipse rex in puerilibus constitutus annis studuerat, in omnibus et per omnia dirigeretur et regeretur (. . .); Kronika Bene“e z Weitmile, lib. IV. Ed. Josef Emler. (Fontes rerum Bohemicarum, 4.) Prag 1884, 517b. Weitere mittelalterliche Nachrichten und die Meinungen verschiedener Forscher zu den Beziehungen Karls IV. zur Universität Paris verzeichnet getreulich Renate Dix, Frühgeschichte der Prager Universität. Graduierung, Aufbau und Organisation, 1348–1409. Diss. phil. Bonn 1988, 34 ff. In Wirklichkeit war Prag gar nicht ausschließlich an Paris orientiert, schon der Stiftungsbrief nennt Paris und Bologna als Vorbilder (MGH, Constitutiones. Bd. 8. Hannover 1910–1928, 580 f. Nr. 568); vgl. Peter Moraw, Die Juristenuniversität in Prag (1372–1419) verfassungs- und sozialgeschichtlich betrachtet, in: Fried (Hrsg.), Schulen und Studium (wie Anm. 14), 439–486, hier 444 f. – Zur intendierten, fast sklavisch zu nennenden Imitation von Paris durch die junge Universität Heidelberg vgl. dagegen Jürgen Miethke, Marsilius von Inghen als Rektor der Universität Heidelberg, in: Ruperto Carola 76, 1987, 110–120, bes. 114 ff.; freilich kamen auch hier sehr bald andere, etwa das Prager Muster zum Zuge.
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Auch ohne solche lebendige Anschauung konnte ein Ruprecht I., Pfalzgraf bei Rhein, sich zur Gründung einer Universität in Heidelberg 1385/86 (also 40 Jahre nach den Prager Anfängen) bewegen lassen: Dieser Fürst hatte 1379, nur wenige Jahre vor seinem Gründungsbeschluß, in einem Brief an den französischen König schreiben lassen, die Verzögerung seiner Antwort auf französische Wünsche hinsichtlich der Haltung der Pfalz zum soeben ausgebrochenen großen Schisma möge der König verstehen. Er, Ruprecht, spreche allein seine Muttersprache, sei nur ein einfacher Laie und könne nicht schreiben – quia sola materna lingua utimur et simplex laicus sumus et litteras ignoramus –, daher müsse er sich zuerst mit gelehrten Leuten in 42 solch komplizierter Materie beraten85. Nur zum | geringen Teil ist, so scheint mir, dieses Vorbringen eine durchsichtige diplomatische Ausrede, die ein unangenehmes Geschäft vorerst auf die lange Bank der Beratungen schieben sollte. Das Argument hatte eine sinnfällige Plausibilität, und darauf allein kommt es in unserem Zusammenhang an. Ruprecht I. war im 14. Jahrhundert nicht der einzige deutsche Fürst, der sich in Ermangelung eigener gelehrter Bildung auf gelehrte Beratung und damit auf die Nutzung universitärer Kompetenz angewiesen sah. Der römische Kaiser (besonderer Prägung) Ludwig der Bayer hat sich in seiner langen und wechselvollen Auseinandersetzung mit der Kurie zwar nicht auf eine eigene Universität in seinem Lande stützen können. An seinem Hof in München lebten aber unter seinem Schutze hochrangige Gelehrte, die sich mit dem Kaiser im Kampf gegen den Papst in Avignon verbunden wußten, die seinen Schutz genossen86. Sie alle mußten sich gleichwohl am Hof in Kon85 Brief vom 10. Okt. 1379 an König Karl V. von Frankreich, in: Deutsche Reichstagsakten unter König Wenzel. 1. Abt.: 1376–1387. Hrsg. v. Julius Weizsäcker. (Deutsche Reichstagsakten, Bd. 1.) München 1867, ND Göttingen 1956, 263 Nr. 149; zit. auch bei Grundmann, ‚Litteratus‘ (wie Anm. 1), 65. – Mit ähnlichen Worten hatte schon Ludwig der Bayer versucht, sich der Kurie gegenüber von seinen gelehrten Beratern zu distanzieren; Belege bei Jürgen Miethke, Die Welt der Professoren und Studenten an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, in: Kurt Andermann (Hrsg.), Historiographie am Oberrhein im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. (Oberrheinische Studien, 7.) Sigmaringen 1988, 11–33, hier 28 Anm. 66. 86 Einen Überblick geben etwa Karl Bosl, Die ‚geistliche Hofakademie‘ Kaiser Ludwigs des Bayern im alten Franziskanerkloster zu München, in: Der Mönch im Wappen. Aus Geschichte und Gegenwart des katholischen München. München/Zürich 1960, 97–127; Alois Schütz, Der Kampf Ludwig des Bayern gegen Papst Johannes XXII. und die Rolle der Gelehrten am Münchener Hof, in: Hubert Glaser (Hrsg.), Wittelsbach und Bayern. Bd. 1/1 [Ausstellungskatalog]. München 1980, 388–397. Auf juristisch gebildete Räte in der Kanzlei des Herrschers beschränkt, dafür in
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kurrenz untereinander und mit den adligen Räten | des Herrschers in 43 einem im einzelnen schwer durchschaubaren Ringen um das geneigte Ohr des Herrschers bemühen, und darum durch die Erläuterung ihrer Meinungen um die Durchsetzung ihrer Schlußfolgerungen kämpfen. Diese Bemühungen, zu denen sich auch Träger heute noch bekannter Namen wie Wilhelm von Ockham oder Marsilius von Padua gezwungen sahen, sind, soweit ich sehen kann, niemals unmittelbar und nur im Ausnahmefall indirekt in den schriftlichen Zeugnissen der Zeit zu fassen. Natürlich sprechen fast alle politischen Schriften der Zeit von den ‚periti‘, den Experten, auf die sich die anderen verlassen müßten87. Wilhelm von Ockham etwa hat mehrfach ausdrücklich darüber nachgedacht, wie der Fürst, ohne selbst Experte in Glaubensfragen sein zu können, doch mit Hilfe seiner Experten verantwortungsbewußt eine Entscheidung im Streit der Zeit fällen könne. In seinen frühen Schriften verweist er die Herrscher mehrfach unmittelbar an ihre Ratgeber, die freilich durch Eidesleistung auf die Wahrheit, die Androhung finsterer Strafen und die Gewährung wirksamen Schutzes zu einer sachgerechten Aussage anzuhalten seien88. einem zeitlichen Längsschnitt und verwaltungsgeschichtlich fundiert Peter Moraw, Gelehrte Juristen im Dienst der deutschen Könige des späten Mittelalters (1273–1493), in: Roman Schnur (Hrsg.), Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates. Berlin 1986, 77–147, hier bes. 87–89. Vgl. auch Jürgen Miethke, Marsilius und Ockham – Publikum und Leser ihrer politischen Schriften im späteren Mittelalter, in: Medioevo 6, 1980, 534–558. – Die Verhältnisse an der zeitgenössischen Kurie Papst Johannes’ XXII. behandelt Jürgen Miethke, Das Konsistorialmemorandum „De potestate pape“ des Heinrich von Cremona von 1302 und seine handschriftliche Überlieferung, in: Alfonso Maierù/Agostino Paravicini Bagliani (Eds.), Studi sul XIV secolo in memoria di Anneliese Maier. (Storia e letteratura, 151.) Rom 1981, 421–451, bes. 443 ff. – Die kleineren, aber durchaus vergleichbaren Verhältnisse am Hof Erzbischofs Balduins von Trier beleuchtete jüngst erneut Hans-Joachim Schmidt, Politisches Handeln und politische Programmatik im Dienst der Luxemburger: Daniel von Wichterich, Bischof von Verden (†1364), in: ZHF 16, 1989, 129–150. 87 Alois Dempf, ‚Sacrum imperium‘. Geschichts- und Staatsphilosophie des Mittelalters und der politischen Renaissance. München/Berlin 1929, ND Darmstadt 1954 (u.ö.), 402 ff., spricht plastisch von den „Geistesaristokraten“, die in diesen Texten ihr Weltverständnis zum Ausdruck brächten. 88 I Dialogus VII 56 [vor 1334] (wie Anm. 81), fol. 152rb/va: wenn der Papst schwerwiegend der Häresie angeklagt wird, (. . .) reges et principes ac quedam alle publice potestates possunt sepe vocare peritos et per eos cognoscere veritatem (. . .) Publice potestates, que peritos vocaverunt, debent eis indicere iuramentum, ut dicant plenam et meram veritatem de doctrina pape (. . .) eis forte comminando, quod si a veritate et conscientia deviaverint, in perpetuum confundentur, et firmiter promittendo, quod si plenam et veram veritatem dixerint, eos honoribus premiabunt et ab omni confusione ac impugnatione defensabunt. Vgl. Contra Benedictum [vom Herbst 1337] VII 10. Ed. Hilary Seton Offler, in: Guillelmi de Ockham, Opera politica. Vol. 3. Manchester 1956, 316: (. . .) debent principes requirere consilium peritorum
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Dabei dürfen die Fürsten sich durchaus auf ihr eigenes Urteil verlassen, ja können ihren Ratgebern in der Tiefe ihres Urteils so überle44 gen sein wie oft Studenten ihren Dozenten89. | Die unterschiedlichen Ansichten dieser hochkarätigen Experten fanden wohl in der allgemeinen „publizistischen“ Debatte ihrer Zeit ihren Niederschlag; darum können wir die gegensätzlichsten Standpunkte in den Streitschriften finden. Nur ganz selten freilich wurden für die nuancierten Positionen einer Partei gleichzeitig schriftliche Memoranden ausgearbeitet90, wir wissen daher im einzelnen nur sehr unvollkommen über die Meinungskämpfe bei Hofe Bescheid91, die da offenbar auch unter Verwendung des vollen Arsenals gelehrter Argumente, aber mit steter Rücksicht auf ein ungelehrtes Publikum ausgefochten werden mußten. Die politischen Traktate, die damals in München etwa entstanden sind, geben uns freilich einigen Aufschluß über Problemformulierungen und Problemlösungsvorschläge, die 45 damals diskutiert wurden. | in fide, et facere eos iurare quod docerent veritatem (. . .) et promittere eis securitatem et defensionem, si dicerent veritatem, et comminari eis horribiles confusiones et poenas, si a veritate recederent, et conari intelligere veritatem, per scripturas legendas eis et exponendas a peritis. 89 Contra Benedictum VII 10 (wie Anm. 88), S. 316 (in unmittelbarem Anschluß an das eben Zitierte). Non enim principes sunt bestiae, ut veritatem scripturarum eis expositam a peritis nequeant intelligere; quinimmo saepe maiori vigent iudicio intellectus, ut profundius intelligant veritatem eis expositam quam illi, qui eam sibi exponunt. Saepe enim discipulus propter clarius iudicium intellectus vel rationis melius et profundius intelligit ea quae audit quam qui docet. In der „Tertia pars“ seiner Hauptschrift wird Ockham (in den 40er Jahren) diesen Gedanken verallgemeinern und in seinem kleinen „Kaiserspiegel“ ausführen (III Dialogus II i 15 [wie Anm. 81], fol. 237ra): (. . .) ille qui ceteros antecellit in peritia secularium negociorum et qui alios in sensu naturali et iudicio rationis excellit, ceteris paribus debet ante alios in imperatorem (. . .) promoveri. Sensus enim naturalis et excellens rationis iudicium intelligit quod in promovendo litteratura, facundia, eloquentia, experientia et memoria quilibet excellens videtur preferri debere, cum in promovendo ad officium temporale etiam brevi tempore duraturum excellenti iudicio rationis interdum tam litteratura quam experientia debeat anteferri (. . .). Deutlich ist, daß Ockham sich nicht für immer auf die wichtigste Eigenschaft eines geeigneten Kandidaten festlegen möchte und jedenfalls Gelehrsamkeit keineswegs unabdingbar fordert. 90 Der bekannteste Fall sind die beiden Schriftsätze „De causa matrimoniali“ mit Vorschlägen zur Lösung der Maultasch-Affäre, die Marsilius von Padua (Ed. Carlo Pincin, Marsilio. [Pubblicazioni dell’Istituto di scienze politiche dell’Università di Torino, 17.] Turin 1967, 261–283) und Wilhelm von Ockham (Ed. Hilary Seton Offler, in: Guillelmi de Ockham, Opera politica. Vol. 1. 2. Aufl. Manchester 1974, 278–286) offenbar etwa gleichzeitig (im Winter 1341/42) vorgelegt haben. Dazu am besten die Einleitung des Herausgebers Hilary Seton Offler, in: ebd. 270 ff. Beide Schriften sind übrigens im selben zeitnahen Codex unicus (Ms. Bremen, Staats- u. Universitätsbibliothek, lat. b 35, fol. 163v–171v [Marsilius] bzw. fol. 171v–176r [Ockham]) überliefert, der aus dem Nachlaß des Matthias Flacius Illyricus stammt. 91 Ein frühes Beispiel hat hell beleuchtet Hilary Seton Offler, Meinungsverschiedenheiten am Hof Ludwigs des Bayern im Herbst 1331, in: DA 11, 1954/55, 191–206.
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Der „Dialogus“, die Hauptschrift, die Ockham zu dieser politischen Publizistik beizusteuern hatte92, ist nicht zufällig in der fiktiven Situation eines Zwiegesprächs dem Publikum unterbreitet worden. Wenn auch in solchen Schriften nicht unmittelbar die Herrscher und ihre Berater aus dem Laienadel angesprochen werden konnten, das Publikum aus jener Schicht universitär gebildeter Kleriker an den Höfen ringsum konnte um so fester ins Auge gefaßt werden. Und diese in ihrer Lebenssituation dem Autor verwandten Zeitgenossen konnten je und dann ihrem Hof die in enzyklopädischer Vollständigkeit vorgetragenen Argumente auch übersetzen. Daß für die gelehrte Publizistik wie für die gelehrten Traktate auch sonst bisweilen neben dieser kasualen Übersetzung eine ausdrückliche Übersetzung in die Volkssprache vorkam93, wollen wir in unserem Zusammenhang nur
92 Druck Lyon 1494 (wie Anm. 81); zur Entstehungsgeschichte vgl. etwa Jürgen Miethke, Ockhams Weg zur Sozialphilosophie. Berlin 1969, 84 ff., 117 ff., 547 f.; zur Wirkung ders., Marsilius und Ockham (wie Anm. 86), und ders., Die Bedeutung von Ockhams politischer Philosophie für Zeitgenossen und Nachwelt, in: Wilhelm Voßenkuhl/Rolf Schönberger (Hrsg.), Die Gegenwart Ockhams. Weinheim 1990, 305–324, sowie Hilary Seton Offler, The ‚Influence‘ of Ockham’s Political Thinking. The First Century, in: ebd., 338–365. 93 Insbesondere gilt das für Marsilius von Padua, von dessen „Defensor pacis“ (beendet am 21. Juni 1324) schon bald nach der Entstehung eine französische Übersetzung jahrzehntelang in Paris umlief, die heute verloren ist (vgl. noch die Untersuchung des Inquisitors von 1375, in: CUP [wie Anm. 9], Vol. 3, 223–227 Nr. 1406). Eine etwas spätere Übersetzung aus dem Französischen ins Florentiner Volgare blieb – in 1 Ms. – erhalten: Carlo Pincin (Ed.), „Defensor pacis“ nella traduzione in volgare fiorentino del 1363. Turin 1966. Von den anderen „publizistischen“ Traktaten haben nur wenige (vor allem französische Texte aus dem Streit Philipps des Schönen mit Bonifaz VIII.) eine Übersetzung erhalten, z.B. die sog. „Quaestio in utramque partem“ durch Raoul de Presle (ca. 1375, in 3 Mss. erhalten) und (etwa gleichzeitig) die eng verwandte Quaestion „Rex pacificus“ von demselben Übersetzer (1 Ms.). Vgl. die englische Übersetzung (15. Jh.) der „Disputacio inter clericum et militem“ durch John Trevisa (Ed. Aaron Jenkins Perry. Early English Text Society, Original Series, 167.] London 1925, ND Millwood, N.Y. 1987 [6 Mss.]). Trevisa (* ca. 1342; † vor Mai 1402) hat u.a. auch eine Übersetzung von Aegidius Romanus’ „De regimine principum“ angefertigt, die in einem prächtig ausgestatteten Codex (XV.s.in.) erhalten ist: Ms. Oxford, Digby 233, fol. 1–182v; vgl. etwa Otto Pächt/Jonathan James Graham Alexander, Illuminated Manuscripts in the Bodleian Library Oxford. Vol. 1–3. Oxford 1966–1973, hier Vol. 3, 72 nr. 815 u. Tafel LXXX; vgl. auch Anthony S. G. Edwards, John Trevisa, in: ders. (Ed.), Middle English Prose. A Critical Guide to Major Authors and Genres. New Brunswick, N.J. 1984, 133, 146. Die genannten Texte aus der Kontroverse um Bonifaz VIII. sind ebenfalls unmittelbar in die große (ursprünglich lateinische) Kompilation des „Somnium viridarii“ von ca. 1376 (gedruckt z.B. bei Melchior Goldast, Monarchia Sacri Romani Imperii. Bd. 1. Hanau 1611, 58–229) eingegangen, die bereits 1378 als ganze in eine französische Fassung gebracht wurde: Le Songe du Vergier. Ed. Marion Schnerb-Lièvre. Vol. 1–2. (Source d’histoire médiévale.)
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46 als Bestätigung dafür verbuchen, daß un | sere Vermutung über das Publikum theoretischer Bemühungen94 nicht in die Irre geht. Wir haben uns von der Universität scheinbar weit entfernt. Und 47 doch sind wir beim Thema geblieben. Wir finden heute das ge | sprochene Wort, das in der Vergangenheit verklungen ist, nur in den schriftlichen Zeugnissen wieder, die uns erhalten blieben. Diese paradoxe Ausgangslage bleibt unübersteigbar. Zum Glück für den stets auf Quellen angewiesenen und quellenhungrigen Historiker haben sich die mittelalterlichen Gelehrten immer wieder dazu bringen lassen oder selbst dazu gebracht, auch wo sie sich mündlich äußern wollten und äußerten, durch Notizen und Konzepte, Aufzeichnungen Paris 1982. Überhaupt ist allgemein an die Übersetzungen für den französischen Hof Karls V. zu erinnern. Ins 15. Jahrhundert gehören – neben John Trevisa – mehrere andere Übersetzungen: Damals wurde etwa auch das „Memoriale“ des Alexander von Roes ins Deutsche übersetzt (1 Ms.), gedruckt in: Alexander von Roes, Schriften. Hrsg. v. Herbert Grundmann u. Hermann Heimpel. (MGH, Staatsschriften des späteren Mittelalters, 1.) Stuttgart 1958, ND 1985, 192–206. Auch sei auf die beiden italienischen Übersetzungen von Dantes „Monarchia“ hingewiesen, von denen die eine (anonyme) aus der Mitte des 15. Jahrhunderts stammt, die andere von Marsilio Ficino 1476/86 angefertigt wurde (beide hrsg. v. Prudence Shaw: Il volgarizzamento inedito della „Monarchia“, in: Studi danteschi 47, 1970, 59–224 [Text 127 ff.]; La versione ficiniana della „Monarchia“, in: ebd. 51, 1978, 289–408 [Text 327 ff.]). Zu Übersetzungen philosophischer Texte allgemein jetzt auch Ruedi Imbach, Laien in der Philosophie des Mittelalters. Hinweise und Anregungen zu einem vernachlässigten Thema. (Bochumer Studien zur Philosophie, 14.) Amsterdam 1989, 43–53; die linguistischen Fragen der volkssprachlichen „Fachsprache“ und das Problem einer Grammatik für die Volkssprache behandelt (für das Französische) anregend Serge Lusignan, Parler vulgairement. Les intellectuels et la langue française aux XIIIe et XIVe siècles. 2. Aufl. Montreal/Paris 1987. Wenig ergiebig dagegen für unsere Fragestellung: Jeanette Beer (Ed.), Medieval Translators and Their Craft. (Studies in Medieval Culture, 25.) Kalamazoo, Michigan 1989. 94 Schlagend kann das eine Bemerkung des Nicolaus Oresme belegen: Maistre Nicole Oresme, „Le livre de Ethiques d’Aristote“. Ed. Albert Douglas Menut. New York 1940, 99: Mais pour ce que les livres morals de Aristote furent faiz en grec, et nous les avons en latin moult fort a entendre, le Roy a voulu, pour le bien commun, faire les translater en françois, afin que il et ses conseillers et autres les puissent mieulx entendre (. . .). Vgl. auch Christine de Pisan, „Le livre des fais et bonnes meurs du sage roy Charles V“ [von 1404], III 12. Ed. pour la Société de l’Histoire de France par Suzanne Solente. Vol. 2. Paris 1940, 43 (zit. von Lusignan, Parler vulgairement [wie Anm. 93], 133), doch vgl. ebd. III 3, Vol. 2, 13. Zu den eigenen programmatischen Vorstellungen Oresme’s und seines Kreises nach Shulamith Shahar, Nicolas Oresme, un penseur politique indépendant de l’entourage du roi Charles V, in: L’information hist. 32, 1970, 203–209, sowie Susan M. Babbitt, Oresme’s „Livre de politiques“ and the France of Charles V. (Transactions of the American Philosophical Society, N.S. 75/1.) Philadelphia 1985; demnächst eindringlich Jacques Krynen, Aristotélisme et réforme de l’état, en France, au XIVe siècle, in: Miethke (Hrsg.), Das Publikum (wie Anm. 50).
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und Memoranden, und schließlich auch Traktate ihre Absichten zu verschriftlichen. Ohne die Ausgangslage zu berücksichtigen, in der diese Texte entstanden sind, werden wir sie nicht angemessen verstehen können. Hier wurde der Versuch gemacht, an der Welt der mittelalterlichen Universitäten zu zeigen, daß es nicht nur verfehlt wäre, die Universitäten des Mittelalters ausschließlich als Festung und Vorort der Schriftlichkeit und Vorposten erweiterter Verschriftlichung zu begreifen, auch wenn sie ohne Zweifel in diesem Prozeß eine unübersehbare Rolle zu spielen berufen waren. In ihrem Unterricht und gerade in ihm glaubten wir Momente zu entdecken, die das gesprochene Wort, das mündliche, wenn auch auf schriftliche Tradition gestützte, aber aktuell aus dem Gedächtnis parate mündliche Argument forderten und förderten. Die Schriftlichkeit der mittelalterlichen Universität ist darum auch nicht in die Gefahr geraten, auf Dauer zur Geheimwissenschaft der Eingeweihten zu erstarren. Der Situation der Universitäten in ihrer Gesellschaft entsprach diese schwebende Verbindung von schriftlich fixierter autoritativer Tradition und mündlicher Disputation im offenen Streit der Argumente und Autoritäten. Es wäre Aufgabe eines weiteren Untersuchungsganges zu zeigen, wie die Bildungsbewegung des Humanismus hier eine erhebliche Akzentverschiebung erzielte, indem sie in der Spätzeit der mittelalterlichen Universität das Lateinische als Schriftsprache, als Sprache Senecas und Ciceros, wieder ernst nehmen wollte und indem sie gegenüber dem technischen Umgang der Dialektik mit dem Argument den ästhetischen Umgang der Rhetorik mit dem Wort erneut ins Recht setzte. Das Zeitalter des Humanismus brachte | daher auch an den 48 Universitäten einen starken Schub zur Verschriftlichung hervor. Im Mittelalter dagegen war dem gesprochenen Wort noch eine gewichtigere Rolle zugedacht.
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BIBLIOGRAPHISCHE NACHWEISE DER ERSTPUBLIKATION
Kapitel 1 Päpstliche Universitätsgründungsprivilegien und der Begriff eines Studium generale im Römisch-Deutschen Reich des 14. Jahrhunderts In: Zwischen Wissenschaft und Politik, Studien zur deutschen Universitätsgeschichte, Festschrift für Eike Wolgast zum 65. Geburtstag, hgg. Armin Kohnle und Frank Engehausen, Stuttgart: Franz Steiner Verlag Wiesbaden, 2001, S. 1–10. Kapitel 2 Universitas und studium. Zu den Verfassungsstrukturen mittelalterlicher Universitäten In: Aevum, Rassegna di scienze storiche, linguistiche e filologiche 73 (1999) 493–511 [Verlag Vita e Pensiero, Milano]. Kapitel 3 Der Eid an der mittelalterlichen Universität, Formen seines Gebrauchs, Funktionen einer Institution In: Glaube und Eid, Treueformeln, Glaubensbekenntnisse und Sozialdisziplinierung zwischen Mittelalter und Neuzeit, hg. von Paolo Prodi (Schriften des Historischen Kollegs/Kolloquien, 28), München: Verlag R. Oldenbourg, 1993, 49–67. Kapitel 4 Bildungsstand und Freiheitsforderung (12.–14. Jahrhundert) In: Die abendländische Freiheit vom 10. zum 14. Jahrhundert, Der Wirkungszusammenhang von Idee und Wirklichkeit im europäischen Vergleich, hg. von Johannes Fried (Vorträge und Forschungen, 39), Sigmaringen: Verlag Jan Thorbecke, 1991, 221–247. Kapitel 5 Karrierechancen eines Theologiestudiums im Spätmittelalter In: Gelehrte im Reich, Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts, hg. von Rainer Christoph Schwinges (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 18), Berlin: Verlag Duncker & Humblot, 1996, 181–209. Kapitel 6 Die Studenten unterwegs In: Unterwegssein im Spätmittelalter, hg. von Peter Moraw (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 1), Berlin: Verlag Duncker & Humblot, 1985, 49–70. Kapitel 7 Kirche und Universitäten, Zur wirtschaftlichen Fundierung der deutschen Hochschulen im Spätmittelalter In: Litterae Medii Aevi, Festschrift für JOHANNE AUTENRIETH zu ihrem 65. Geburtstag, hgg. von Michael Borgolte, Herrad Spilling, Sigmaringen: Verlag Jan Thorbecke, 1988, 265–276. Kapitel 8 Die Welt der Professoren und Studenten an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit In: Historiographie am Oberrhein im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, hrsg. von Kurt Andermann (Oberrheinische Studien, 7), Sigmaringen: Verlag Jan Thorbecke, 1988, 11–33.
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bibliographische nachweise der erstpublikation
Kapitel 9 Die Kirche und die Universitäten im 13. Jahrhundert In: Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters, hrsg. von Johannes Fried (Vorträge und Forschungen, 30), Sigmaringen: Verlag Jan Thorbecke, 1986, 285–320. Kapitel 10 Zur sozialen Situation der Naturphilosophie im späteren Mittelalter In: Lebenslehren und Weltentwürfe, in: Lebenslehren und Weltentwürfe im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, Politik – Bildung – Naturkunde – Theologie, hgg. von Hartmut Boockmann, Bernd Moeller, Karl Stackmann (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, III 179), Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 1989, 249–266. Kapitel 11 Die Verfahren gegen Abaelard und Gilbert von Poitiers In: Viator 6 (1975) 87–116 [University of California Press, Berkeley-Los Angeles]. Kapitel 12 Papst, Ortsbischof und Universität in den Pariser Theologenprozessen des 13. Jahrhunderts In: Die Auseinandersetzungen an der Pariser Universität im XIII. Jahrhundert, hg. von Albert Zimmermann (Miscellanea mediaevalia, 10), Berlin/New York: Verlag Walter de Gruyter, 1976, 52–94. Kapitel 13 Gelehrte Ketzerei und kirchliche Disziplinierung, Die Verfahren gegen theologische Irrlehren im Zeitalter der scholastischen Wissenschaft In: Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, II. Teil: Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters, 1996 bis 1997, hrsg. von Hartmut Boockmann (†), Ludger Grenzmann, Bernd Moeller, Martin Staehelin (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-historische Klasse, III. Folge, Bd. 239), Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 2001, 9–45. Kapitel 14 Die Anfänge der Universitäten Prag und Heidelberg in ihrem gegenseitigen Verhältnis In: Grenzen erkennen – Begrenzungen überwinden, Festschrift für REINHARD SCHNEIDER zu seinem 65. Geb., hrsg. von Wolfgang Haubrichs, Kurt-Ulrich Jäschke, Michael Oberweis, Sigmaringen: Verlag Jan Thorbecke, 1999, 299–315. Kapitel 15 Marsilius von Inghen als Rektor der Universität Heidelberg In: Marsilius of Inghen, Acts of the International Marsilius of Inghen Symposium Organized by the Nijmegen Center for Medieval Studies (CMS), Nijmegen, 18–20 december 1986, edd. Henri A. G. Braakhuis, Maarten J. F. M. Hoenen (Artistarium, Supplementa 7), Nijmegen: Ingenium Publisher, 1992, 13–37. Kapitel 16 Die mittelalterlichen Universitäten und das gesprochene Wort In: Schriften des Historischen Kollegs/Vorträge, 23, München: Stiftung Historisches Kolleg, 1990 (= verbesserter Abdruck des erstmals in: Historische Zeitschrift 251 (1990) 1–44 [Verlag R. Oldenbourg, München] erschienenen Aufsatzes).
REGISTER DER PERSONEN- UND ORTSNAMEN SOWIE WICHTIGER SACHBETREFFE
[Namen vor dem 16. Jhd. sind unter dem Vornamen eingeordnet. Verfasser wissenschaftlicher Literatur sind nur dann aufgenommen, wenn sie im Text genannt werden, Anmerkungen bleiben in diesem Falle unberücksichtigt] Abaelard Siehe Peter Abaelard Historia calamitatum 284 Abendland 408 Ablaß 128 Abschwörung 330 f., 343, 392, 473 Abwanderung siehe Sezession actio iniuriarum 366 Adalberts II., Ebf. von Mainz 144 Adam von Petit Pont 296 Adam von Saint Denis 283 Adel 144–45, 151, 164, 184, 189–91, 224, 234–35, 414, 418, 444–45, 487 Adel des Doktor 215 Adelsrektorat 190, 441 Adelard von Bath 226 Adhemar von Saint Ruf 308 Aegidius von Lessines 346 Aegidius Romanus 78–79, 81, 84, 89–90, 263, 350, 353–56, 395, 489 Agathon (Hlg.) 369 Ägypten 329 Akademisierung 229 Alamanno Rinuccini 67 Alberich von Montecassino 279 Alberich von Reims 282–283, 301, 305 Alberich von Troisfontaines 315 Albert Krantz 125 Albertus Magnus 263, 317, 342, 346, 473 f. Albertisten 205 Albertus Parvus (von Rikmersdorf ) 169, 261, 267 f., 469 Albigenserkriege 69, 214 Albrecht III., Hg. von Österreich 4–5, 165, 417 Albrecht von Eyb 142 Alexander III. 118, 120, 159, 238–41 Alexander IV. 19, 72, 247 f., 335–37, 341–43 Alexander von Hales 327 f. Alexander von Roes 157 f., 490
Alexander de Villa Dei 261 Allegationen 202 Allerheiligen 50 Alpen 24 Altdorf 50, 169 Alte Kirche 237, 326, 377, 379, 385 Alt-Ofen 6 Amalrich von Bena 314–17, 319–22, 329, 344 Amalrikaner 314, 316–18, 320 Ambrosius von Mailand 88 Amelius de Brolio 470 Amiens 318, 395 Amtsgewalt 398 Amtsenthebung 359 Amtskirche 158, 160 f., 209, 237 f., 333, 379, 385, 388, 404 f., 472 Anagni 334, 336, 342 f. Analphabetismus 484 Anathem 277 f., 326 Andrea de’ Franceschi 137 Anerkennung 411 Angelo Clareno 337 Angers 70, 133 f., 146, 213 Annibaldi 222 Annibaldo Annibaldi 333 Anonymus von Laon 317 f. Anselm von Laon 282, 301, 467 Anstalt 34, 207, 407 Antike 158, 268 Antonius Zachariae 155 Apokalypse 251 Apostel 373 Apostolischer Stuhl 246 f., 294, 302, 306, 320, 344, 346, 368, 372 f., 387, 398, 403 Appellation 246, 292, 305 f., 320, 344, 387, 394 f. Approbation 365, 410 Aquitanien 24 Araber 268 Arabisch 250
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Archidiakone 159, 224, 235, 295 Archiv 444 Archivierung 479 Archivtruhe 178, 434 Arezzo 212 Argumente 259, 291, 477, 481, 491 Argumentieren 236 Arianismus 290, 330 Aristoteles 70, 75, 88 f., 91, 202, 227, 256 f., 259–62, 267, 271, 316 f., 319, 324, 364, 462, 468 f., 474 f., 480 Aristotelesverurteilungen 322 Aristotelesrezeption 270, 322, 462 Aristotelismus 265 Armenburse 105, 185, 186 Arnaldus „Qui-non-ridet“ 295, 304 Arrest 395 Arian 388 Ars vetus 259 Artes 25 f., 113, 118f., 123, 233, 235, 237, 257 f., 304, 389, 403 Artes-Unterricht 268 Artes-Fakultät siehe Artistenfakultät Artes-Studium 108, 262, 273 Artes-Unterricht 261, 462 Articuli Parisius et Angliae condempnati 59, 351, 403 f. articulus fidei 357 Artikel 327, 346, 348, 388, 398, 404 Artisten 27, 32, 35, 109, 111, 125, 129, 230, 349, 438–39, 445 Artistenfakultät 27, 30, 33 f., 54, 60 f., 86, 101, 142, 188, 195, 200, 257 f., 264 f., 268, 319, 346, 359, 422 f., 434, 438, 441 f., 459, 462, 469 f., 477, 480 f. Artistenkollegium 105 Artistenmagister 35, 105, 107, 114, 177, 265, 267, 416, 421 f., 424, 423, 427, 436, 440 f., 444 Artistennationen 168, 442 Artistenrektor 442 Artistenstudenten 181 Artistenuniversität 25, 27 f., 29, 54 Ärzte 193 Askese 237 Astrologie 270–71 Astronomie 271 Attraktivität 426 auctoritas 260, 287, 372 auctores 309 auditor 219, 222, 365, 376 Aufstiegschancen 195 Aufstieg 192
Augsburg 139, 150, 482 Augustinereremiten 128, 222, 394 Augustinus 375, 378 Augustinus von Ancona 110, 229, 479 Ausbildungsziele 461 Ausrottungskampagne 317 Autobiographie 280 Autonomie 45, 74, 86, 158, 207, 239, 407 Autoritäten 327, 333, 341, 387, 477, 481, 491 Averroes 463 Avesne 234 Avignon 4, 141, 143, 189, 228, 390, 393, 395, 410, 420, 460, 486 Bacharach 50, 166 Bagdad 16, 407 Bakkalare 46 f., 52, 56, 60, 76, 84, 114, 118, 125, 129, 143, 169, 192 f., 204, 259, 261 f., 272, 353, 422 f., 424, 435, 444, 459–60, 465 baccalarius formatus 118, 128 Balduin, Ebf. von Trier 487 Bamberg 236 Barcelona 6 Baron, Hans 67 Bartholomaeus v. S. Pudenziana 222 Bartolus von Sassoferrato 90, 202, 471 Basel 5, 7, 37, 108, 124, 128, 139, 165, 167, 182, 230 Basisbibliothek 120 Bastarda 456 Bauern 191 Bayeux 389 Beichtprivilegien 82, 358 Beichtpraxis 332 Beirut 16 Benedikt XII. 164, 390, 397 Benedikt XIII. 228 Benedikt von Nursia 383 Benedikt Caetani siehe Bonifaz VIII. Benesch von Weitmühl 177, 485 Beno (Kardinal) 279 Berard von Neapel 349 Berater 107–108, 126, 273, 283, 318, 354–55, 375, 377, 413, 489 Beratung 170, 287, 300, 316, 319, 347, 349, 366, 388, 394, 428, 437, 442–43, 451, 486 Berengar (Schüler Abaelards) 289, 290, 292, 301
register der personen- und ortsnamen Berengar von Tours 276–79, 305, 310, 386 Berges, Wilhelm 65–67 Bernard Delicieux 401 Bernhard von Chartres 18, 21, 135, 146, 305 Bernhard von Clairvaux 77, 94, 281, 289–309, 326, 374, 387 Bernhard von Parma 162 Bernold von Konstanz 277 Berthold Suderdick aus Osnabrück 425–27 Berthold von Dieburg 439 Bertrand de Diaux 245 Beruf 261 Berufsqualifizierung 100 Berufsrisiko 405 Bettelorden 43, 151, 164, 248 f., 262, 328, 332, 337 f., 358, 394, 399 f., 409 Bettelordensstreit 54, 72 f., 82, 152, 246 f., 250, 335, 344 f., 357 Bettelordensstudien 121, 164, 262 Bezahlung 57 Bibel 89, 93 Bibelkommentare 268 Bibelkonkordanz 219 Biberach 125 Bibliotheken 200, 218, 222, 300 biennium 101, 123, 259, 264 Bindekraft 440 Biologie 270 Bischof 111 f., 116 f., 374–75 Bischofskirche 110 Bistum 117 Boethius 296–97, 304 Boethius von Dacien 265 Böhmen 410, 413–15 Bologna 5, 7, 9, 12, 16, 19–24, 26 f., 29–32, 36, 39–41, 45, 52–55, 71, 73, 101, 103, 133 f., 138 f., 142, 146, 148 f., 152 f., 159 f., 160, 162 f., 165–67, 176, 179, 190, 203, 208, 211 f., 218, 220, 223 f., 231, 242, 245, 264, 271, 327, 343, 400, 407–409, 412 f., 418, 435 f., 456, 461, 464–66, 471, 473, 479, 481, 485 universitas citramontanorum/ ultramontanorum 23 Bonaventura von Bagnoreggio 218, 220, 248, 325, 337, 342, 401 Bonifaz VIII. 6, 82–4, 92, 218, 220, 226, 227, 233, 240, 245, 358 f., 489 Bonifaz IX., 104, 107, 420
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Boockmann, Hartmut 373 Bordeaux 318, 395 Bosl, Karl 64 Botanik 270 Bourges 318, 395 Bremen 126, 488 Breslau 236 Bretagne 6, 297 Briefe 384 Briefbuch 412 Briefmuster 149 Briefsammlungen 136 Brixen 236 Brüssel 109 Bücher 147, 185, 200 f., 282, 334–35, 339, 348 f., 400 Buchdruck 204 Buchdrucker 193 Bücherbesitz 465 Bücherkanon 461–62 Büchermarkt 149, 203, 381 Büchersammlung 124, 220, 426 Buchschrift 456 Buchschriftfertigkeit 458 Folianten 298 Bücherverbot 70 Bücherzensur 380 Bücherverbrennung 284, 293, 317, 321, 342, 382, 386, 391 Bücherzerreißung 303 Buchherstellung 148, 203, 470 siehe auch pecia Buchreligion 380 Buchwissenschaft 250, 271, 461 Bulgarien 383 bulla 239, 391, 439 Bürger 50, 69, 71, 90 f., 129, 135, 164 Bürgerfreiheit 68 Bürgerhumanismus 67 Bürgerschaft 102 Burgund 24, 204 Buridan siehe Johannes B. Burse 266 Byzanz 16, 408 Caesarius von Heisterbach 315 f. Cahors 189, 229 calculatores 263 Calixt II. 284 Cambridge 19 f., 30, 40, 70, 133 f., 139, 141, 146, 211, 213, 230, 244 f., 454, 459, 462, 467, 476, 479 Campanus von Novara 226
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Canterbury 99, 352 Capito, Wolfgang 128 causae maiores 278 Chalôns-sur-Marne 301 Champagne 24 Charles V. 199, 490 Charles VI. 51 Charles VII. 183 Chartres 18, 99, 159, 238, 283 Domschule 135 China 408 Christian von Beauvais 342 f. Christine de Pisan 490 Cicero 88, 491 Cîteaux 294 Classen, Peter 69, 71 claves discendi 44, 135 f. Clemens IV. 217, 250 f., 346, 402 Clemens V. 20, 245, 395 Clementinen 161 f., 216 Clemens VI. 4, 390, 395, 410 Clemens VII. 5, 228 Clermont 318 clerus 339 clerici 173, 225, 241, 338 Cluny 223, 293, 391 f. Cluniazenser 223 Coelestin V. 220 Coimbra 214 collationes 200 collecta 35, 56 collegium/Collegien 35, 72, 103, 126, 169, 195, 198 collegium Artistarum 105, 264, 266 collegium pauperum 186 Comes of Casate 149, 220 commentum 473, 480 Commune siehe Kommune competens litteratura 117 Compilationes antiquae 162, 242 conclusiones 480 confessio 278, 280, 285, 290, 294, 301–303, 307, 310, 325–27, 333, 357, 386, 398 Congar, Yves Marie Joseph 92 congregatio 47, 49 conservatores 243 f. consuetudines 2 contemptus 439 Conze, Werner 63 Cornificii 98 correctio canonica 288 Coutances 325 curriculum 319 Cyriacus-Stift in Neuhausen 47, 258
Dalmatien 218, 383 Damasus (Ungarus) 240 Dampière 234 Daniel von Wichterich, Bf. von Verden 487 Dante Alighieri 365, 370–72, 490 David von Dinant 316 f., 319–21 Decretum Gratiani 148, 161 f., 372 Dekan 16, 28–30, 47 f., 51, 107, 234, 257 f., 407, 422 f., 427 Dekansbuch 104, 444 Dekanspfründe 105 Dekretalen 148, 161 f., 241, 320 f., 329, 462 Dekrete 301 delegierte Richter 388 Denifle, Heinrich 412 Denunziant 376 Descartes, René 68 determinatio siehe Quodlibet Deutsche 157 deutsche Sprache 50 Deutscher Orden 139, 373 Deutschland 20, 24, 122, 142, 144, 229, 409 Dialektik 200, 205, 257 f., 260, 271, 281, 283, 291, 310, 478, 481, 491 Dietmar Swerthe 104, 423, 434, 439 Dietrich Kerkering aus Münster 426 Dietrich von Nieheim 112 Dignitäten 119, 234, 240 Dignitäre 235 Diktat 469 Dionysianum 105 Diözesangerichtsbarkeit 320 Diplomatie 392, 486 Diskussion 384 Disputation 22, 78, 83 f., 86, 110, 260, 264, 269, 283, 291 f., 300, 303, 311, 323, 330, 342, 359, 471, 476 f., 480, 491 Disputationsfreiheit 69, 82, 84 siehe auch Quodlibet Dissidenten 379 Distanz 441 f. Disziplin 186, 281, 297, 383, 400, 443 Disziplinierung 51, 62, 361 Doktor 2, 16, 31, 35, 46, 48, 51–3, 55, 61, 111, 114, 118, 125–9, 143 f., 267, 322, 407, 411 f., 439 f., 444, 476 f., 481 doctor bullatus 229, 239 doctor ecclesiae 326 doctor iuris 53, 60
register der personen- und ortsnamen doctores salariati 36, 55, 71, 103, 166 Doktoreid 52, 57, 368, 403 Doktorenkollegien 26 f., 45, 54, 245 Doktorpromotion 410 Dôle 128 Dominikaner 72, 80, 82, 150, 219, 249, 323, 325–27, 335, 337–40, 343, 346 f., 355, 362, 364, 366, 369, 373 f., 393–96, 399 f., 465 Dominikus 241 dominium 88 Domstift 118, 120, 123 f., 148, 234 Dompfarrer 128 Domprediger 128 Domschule 159 Doppelgraduierung 128 f. Doppelte Prädestination 383 f. Doppelte Wahrheit 86 Doucet, Victorinus 325, 327, 333 Dufeil, Michel-Marie 328 Duhem, Pierre 253 Dunkelziffer 141, 193 Duplessis d’Argentré, Charles 276 Eberhard von Béthune 261 ecclesia Gallicana 300 ecclesia Romana 302, 305 f., 372 Eck, Johannes 84 Exkhart siehe Meister Eckhart Edward II., Kg. von England 20 Ehre 362, 418 Eichstätt 169 Eid 47, 160, 343, 403, 421, 438, 473, 487 Amtseid 51 Eidesformel 86 siehe auch Doktoreid, Immatrikulationseid, Rektoreid Eifersucht 445 Eigentumsbegriff 88 Einkünfte 3, 104 Einmütigkeit 356 Einschließung 316 Einsicht 392 Einstimmigkeit 356 Einung 67, 85 Einzugsgebiet 180 Eisenach 31, 415 Ekklesiologie 92, 246, 248, 310, 341, 357, 363 Elementarunterricht 304 Emden, Alfred Brotherston 15 Empfehlungsschreiben 272 f. Empirie 250 Engelsburg 373
499
England 20, 25, 99, 146, 181, 197, 229, 322 Engländer 24 Entklerikalisierung 130, 172 Entscheidungsfindung 408 Entscheidungsfreiheit 413 Eon von Stella 297 Epernay 384 Epidemien 426 Episkopat 229, 231, 235, 302, 304 Epoche 454 Erfahrungen 428 Erfolge 418 Erfurt 5 f., 12, 17, 30, 33 f., 38, 41, 48, 52, 125–28, 138 f., 143, 146, 150, 165, 167, 179 f., 182, 187, 194, 204, 212, 361, 409, 419 f., 425, 459 f. Erhard Knab 271 Erläuterung 334 Ermland 271 Ernst von Pardubitz 31 Eröffnungsfeier 422 Eröffnungsvorlesung 434 Erstausstattung 443 Erste Bitten 53 Etienne Tempier 59, 77, 152, 246, 332, 345, 346 f., 349, 351–56, 404 Eucharistie 269, 279 Eugen III. 295, 296, 297 Eugen IV. 117 Euklid 226 Eulenburg, Friedrich 140 Europa 145 Eustachius von Arras 85 Eustachius von Coutance 85 Evangelium aeternum 333 f., 399 Ewiges Schweigen 293 Examen 16, 192, 229, 239, 324, 327, 338, 410, 416 siehe auch Prüfung Examensgebühren 165 examinatio 2 Exhumierung 401 exilium 21, 44, 136, 146 exul 153 Existenzfrage 309 Exkommunikation 244, 321, 327, 331, 336, 350, 439 Exordialtopos 474 Expektanzen 119, 389, 443 experientia 260 experimentum 260 Experten 77, 227, 246 f., 283, 295, 305, 310, 314, 320, 340, 357 f., 363, 384, 388, 394, 401, 420, 482, 485, 487–88
500
register der personen- und ortsnamen
expositio textus 480 Exzerpte 334–6, 345, 350 Fachleute siehe Experten Fachprosa 455 Fachsprache 490 Fahrendes Volk siehe Vaganten Fakultäten 16, 28, 48, 178, 257, 407, 439, 441, 476, 481 Fakultätsakten 210 Fakultätsstimme 440 familia 104, 222, 225, 228 familiares 37, 56, 57, 111, 227–9, 255, 267, 272, 421, 429 Familienpfründe 198 famulus 186 Fastensynode 277, 279 Ferrara 271 Ferrières-en-Grattinas 392 Festkalender 443 Feudalisierung 198 Feuertod 316, 385 Finanzierung 35–7, 74, 103, 119, 165, 167, 264 f., 367 Finanzbericht 105, 367 siehe auch collecta, Hörergelder Flasch, Kurt 68 Florentius, Bf. von Akkon 336 Florenz 165, 167 Förderung 484 Formalisierung 310 Francesco Caraccioli 110, 230 Francesco Petrarca 137 Francesco Pipino 219, 348 Francia 317 Franco von Inghen 424, 442 Frankfurt am Main 149, 150 Frankreich 20, 24 f., 57, 82 f., 107, 142, 195, 229–31, 293, 295, 302, 318, 329, 455, 459, 485–86 Franz von Assisi 93, 217 Franz von Marchia 269 Franzien 292 Franziskaner 78, 84 f., 92 f., 110, 151 f., 217 f., 220, 250, 325, 327 f., 333, 335–37, 341, 358, 389, 394, 396, 399, 401 f., 474, 482 Franziskanerkloster 438 Franziskanerstudien 409 Franzosen 157 Frascati 329 Frauenburg 271, 273 Freiburg i. B. 56, 128, 155, 181 f., 186, 201, 458
Freie 66 f., 95 Freiheit 63, 90, 95, 158 Freiheitsforderungen 87 Freising 235 Freiwilligkeit 322 Fremde 34, 66, 136, 144, 146, 153, 159 Fremdenrecht 21, 71, 73 Frequenz 138, 180, 211 f., 441, 460 Fluktuation 424 Fried, Johannes 68 Friede von Paris (1229) 69 Friedrich I. Barbarossa, röm. Ks. 10, 21, 44, 152, 182, 213, 242 siehe auch Habita Friedrich II. 8, 134, 177, 214, 412, 414 Friedrich I., („der Siegreiche“) Kurfürst 61 Friedrich von Nördlingen 482 Fridericus Rinderfeit 102 Friedrich von Sulzbach 439, 442 Frühmittelalter 237 Fulbert von Chartres 281 Fulco von Deuil 293 Fulda 382 Fundierung 238, 411 Fünfkirchen 134 Funktion 42 Funktionswandel 176, 357 Fürsten 199, 251, 409, 457 Fürstenbesuch 464 Fürstendienst 195, 197, 236 Fürstenhof 106–8, 227, 435, 437, 445, 458, 488 f. Fürstenstaat 37, 170 Fürstenspiegel 89 Gabriel Biel 127 Gallikanismus 249 Garnerius von Rochefort 314 Gasparo Barzizza 149 Gaudemet, Jean 230 Gebühren 55 f., 184, 186 f., 267, 432, 443 Gedächtnis 201, 481–4 Siehe auch memoria Gedächtnisleistung 200 Gedankenexperiment 260 Gefängnis 330, 331, 337, 394 f., 401 Gegenkönig 410 Geheimwissenschaft 491 Gehorsam 357, 359, 392, 396, 398 Gehorsamsbereitschaft 378
register der personen- und ortsnamen Gehorsamseid 344 Gehorsamsgelübde 382 Geistkirche 333 Geld 160, 166 Geldstrafen 186 Gelehrte 150, 165, 193, 198, 216, 218, 226, 251, 254, 273, 377, 379, 405, 407, 430, 483 f., 485 f., 490 Gelehrsamkeit 299, 488 Gelehrte Kultur 163 Geleit 71, 436 Generalreform 402 Generalstudium 123, 409, 413 Genossenschaft 45, 71, 153, 160 Gentry 191 Genua 3–5, 255, 420, 432 Georg Heßler 142 Gerard de Frachet 326 Gerardino de Borgo San Donnino 333–35, 337 f., 342, 345, 399, 401 siehe auch Evangelium aeternum Gerhard von Abbéville 248 Gerhoch von Reichersberg 282, 289, 310 Gerichtsbarkeit 75 Gerichtsstand 411, 436 Gerichtswesen 455 Gerlach von Homburg 105 Gesellschaft 484 Gesetzgebung 301, 414 Gewissen 56 Giacomo da Pecorara 221, 223 Giacomo dell’ Castell’Arquato 223 Giengen 124 Gilain 325 Gilbert Crispin 301 Gilbert de la Porée 59, 78, 98, 275, 294–300, 303 f., 308 f., 326, 344, 374, 386 Kleine Porretaner-Schule 308 Gilbert-Renaissance 308 Gilbertus Universalis 301, 305 Giovanni Gaetano Orsini siehe Nikolaus III. Giraldus Cambrensis 272 f. Glaubensfragen 373, 487 Glaubensgefahr 355 Glaubensirrtümer 357, 378 Glaubenslehre 58, 396 Glaubensreinheit 373 Glaubenswahrheit 309, 325, 403 Glossen 148, 162, 201, 216, 462 f., 466, 467 f., 470, 475 Godinus (Magister in Amiens) 318
501
Goethe, Johann Wolfgang von 63 Goffredo Castiglioni 222 Goslar 236 Gottesschau 393 Gottesurteil 279 Gottfried von Auxerre 288, 291, 294, 296–9, 300–4, 309 Gottfried, Bf. von Chartres 283, 287 Gottfried von Fontaines 79–81, 110, 229, 249, 347, 353, 355, 478 Gottfried von Trani 219, 223 Gottschalk der Sachse 277, 382–6, Gottschalk, Abt von Saint Martin (Diözese Arras) 297–9 Grabgeleit 22, 44, 159 Graduierte 54, 111 f., 117, 130, 215, 221–23, 225–7, 230–33, 236, 424, 458 Graduierung 1 f., 9, 42, 52, 55, 57, 61, 75, 86, 100 f., 113 f., 116, 123, 124, 128 f., 144 f., 187, 190, 192 f., 195, 216, 229, 234, 261, 271, 389, 392, 416, 455, 460 f., 481, 485 Graduierungsalter 444 Grafen von der Mark 234 Grafen von Poitou 217 Grafen von Segni 217 Grafen von Waldeck 234 Gratian 378, 477 siehe auch Decretum Gratiani Gregor der Große, Papst 477 Gregor VII. 277–9, 306 Gregor IX. 216 f., 221–5, 242, 310, 320 f., 323, 455 Gregor X. 217, 226, 233, 346 Gregor XII. 125 Gregor XIII. 7 Greifswald 140, 165 Grundmann, Herbert 64 f., 71 Grundstudium 259 Gründung 416 Gründungsakte 408, 411, 432 Gründungsbeauftragter 37, 422 Gründungsbericht 255 Gründungserlaubnis 410, 419, 420 Gründungsgeschichte 40, 435 Gründungsmitglieder 421 Gründungsprivileg 47, 49 f., 74, 180, 255 Gründungsprofessoren 57 Gründungsrektor 255, 257, 429, 431, 442 Gründungsuniversitäten 102 f., 213
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register der personen- und ortsnamen
Gründungsurkunde 1–12, 42, 102, 166, 177, 419, 437 Gründungsversuche 409 Gründungswellen 140, 209 Gründungswillen 435 Gruppendiktat 469, 471 siehe auch pronunciatio Guerric de Saint Quentin 328 Guglielmo dei XII Apostoli 223 Guglielmo Fieschi 223 Guibert von Nogent 282, 307 Guido de Baysio 466 Guilelmus Brito 315 Guillaume Court 390 Guillaume d’Estouteville 182, 201, 203, 465, 469 Guillaume de Lumbris 102 Guillelmus Duranti d. J. 116, 121 Gutachten 396, 397 Gutachter 350, 357 Guy Foucaud Le Gros siehe Clemens IV. Habita (Authentica) 153, 242 Habsburg 166, 417, 418 Hadrian V. 223 Häresie 81, 247, 396 Häresieabsage 278 Häresiebegriff 357 Häresieprozeß 277, 309, 310 Häresieverdacht 282, 318 Häresieverdachts 377 Häresieverfahren 310 siehe auch Ketzerei Häretiker 251, 276, 282, 315, 317, 319 häretisch 334, 388, 390, 398 Haftung 154 Halberstadt 236 Hamburg 125 f. Handschriften 200 handschriftliche Vervielfältigung 381 Handschriftenmarkt 457 Handwerker 191, 196 Handwerksgesellen 136 Hans Flasche 445 Hans Guldin 125 Hartlevus de Marka 426 Hauptvorlesungen 259 Haus 367 Hautvillers 384 Heidelberg 1 f., 10 f., 17, 30, 33 f., 37–9, 46–48, 50, 52 f., 55, 57, 61,
74, 83, 101–9, 112 f., 123, 134, 155, 159, 164–66, 169, 171–73, 175, 177, 179–81, 187–89, 191 f., 194, 197, 199, 201, 204, 254, 256, 258 f., 261 f., 264, 267, 271 f., 361, 363, 366 f., 378, 410, 417 ff., 457 f., 458, 460 f., 464–66, 479, 485 f., 486 Heidelberger Studentenkrieg (1406) 50 Heiliggeistkirche 169, 178, 197, 266, 434 Finanzbericht 105, 367 Heilmann Wunnenberg aus Worms 47, 55, 57, 104, 109, 256, 258, 421–23, 427, 433, 439, 442, 446 Heimat 56, 151, 153 Heimatkloster 385 Heimerich 332 Heinrich VII., röm. Ks. 372 Heinrich, Ebf. von Sens 288, 291 f. Heinrich von Cremona 227, 487 Heinrich von Gent 79, 81, 83 f., 249, 347, 350, 353–58, 478 Heinrich Geysmer 126 Heinrich Krauel Münsinger 271 Heinrich Rubenow 165 Heinrich von Herford 342 Heinrich von Langenstein 477 Heinrich von Susa siehe Hostiensis Helinand v. Froidmont 289 Helmstedt 7 Heloisa 78, 281, 290, 467, 468 Henricus de Alemannia 465 Henricus de Renham 468 Hereford 272 f. Hermann Dreine von Culenborg 54 Hermann Poll 49 Hermann von Schildesche 396, 397 Hermann der Lahme 237 Hermannus de Huxaria 257 Herrschaft 90, 170 Herrscherlob 464 Herrscherfamilie 50 Hervaeus von Bourg-Dieu 310 Heylmann siehe Heilmann Hierarchie 216, 236, 251, 278, 388, 398 Hieronymus 378 Hieronymus von Ascoli Siehe Nikolaus IV. Hieronymus von Prag 385–86 Hildebrand siehe Gregor VII. Hildesheim 122 Hinkmar von Reims 383–85
register der personen- und ortsnamen Hinrich Toke 112, 127, 244 Hof 178 Hofdienst 166, 171, 188 Hofjuristen 171 Hofkanzlei 192 Hofkapläne 166 Hofkleriker 171 Höhere Fakultäten 28–30, 101, 103, 113, 129 f., 168, 179, 188, 190, 257, 264, 268, 270 f., 424, 435, 439, 441, 444, 460 Höherer Unterricht 407 Honorius III. 160, 240, 242, 310, 321, 337 Honorius IV. 354, 355 Hörergelder 264, 267 siehe auch collecta Hostiensis 225, 230, 320, 322, 329 Hrabanus Maurus 382 f., 385 Hugo, Bf. von Auxerre 302 Hugo von Champfleurie 296 Hugo Etherianus 308 Hugo von Honau 308 Hugo von Montelais 228 Hugo, Ebf. von Rouen 290 Hugo von Saint Cher 219, 223, 226, 328, 335, 341, 343 Hugo von St. Viktor 135, 288, 471 Hugolin von Ostia siehe Gregor IX. Huguccio von Pisa 216 Humanismus 149 f., 183, 205, 464, 491 Humbert von Moyenmoutiers 277 Humbert von Romans 340 Humboldt, Wilhelm von 34 Hundertjähriger Krieg 392 Hussiten 32, 405 Ibn Rushd siehe Averroes Ile de France 99 Immatrikulation 46, 49, 55, 75, 109, 138, 140, 172 f., 424, 444, 458 Immatrikulationseid 443 imperium 94, 157 f. impetus 260, 269 inceptio 392 Index librorum prohibitorum 75, 380 f. Indien 408 ingenium 468 Ingolstadt 139, 142, 145, 179, 189, 200 iniuria 376 Inkorporation 50, 104, 168 f., 420 Innozenz II. 77, 288 f., 293, 297
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Innozenz III. 17, 22, 25, 118, 120, 216, 315, 317–9, 321 Innozenz IV. 214, 216 f., 221–3, 225, 247, 323, 329, 335, 466 Innozenz VI. 228 Innozenz VII. 365 inquisitio 284 Inquisition 58, 217, 315, 364, 375, 380 Inquisitor 364, 376, 378, 394, 489 Inskription 138, 460 Inskriptionsgebühr 46, 187 intelligentia 282 Intensivierung 267 Interpretation 353, 356 interpretes 309 invidia 21, 281, 400 Iren 23 Irrlehren 277, 290, 361 Irrtümer 314–16, 322, 324–26, 329–32, 335 f., 340, 342, 348 f., 353 f., 368, 381, 385, 387 f., 390, 396, 398, 400, 404 f., 472 Irrtumslisten 59f., 77, 288 f., 292 f., 296, 298, 307 f., 310, 313, 315, 325, 328, 331, 337, 339 f., 343–45, 350 f., 353 f., 387, 390, 393, 396 f., 399, 402–404 Islam 16, 208, 408 Italien 20, 142, 149, 182 Itinerar 363 iudicium 68, 202, 378, 482 f., 484 iuris utriusque doctor 53 Ivo von Chartres, Magister 296 Jakob Colonna 157 Jacques Fournier Siehe Benedikt XII. Jacobus de Kula 126 Jakob von Paradies 147 Jacques de Revigny 220 Jakob von Soest 82 f., 358 Jacques de Vitry 222, 232 Jakob Wimpfeling 128, 194 Jan Hus 83, 125, 373, 385 f. Jean d’Abbéville 222, 225 Jean Blanchard 28, 160, 239 Jean de Cros 228 Jean Gerson 21 f., 112, 403, 482 Jean de Monchy 226 Jean Petit 204, 239, 372 Jean de Pouilli 249, 355, 388, 472 Jean Trechsel 372 Jena 7 Jesselin de Cassagnes 162
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Joachim von Fiore 309, 333 f., 336 f. Job Vener 53 f., 189, 362, 367 Jodokus Galtz aus Ruffach 194 Johannes XXI. 217 f., 348 Johannes XXII. 20, 86, 162, 227, 245, 353, 372, 375, 388, 393, 395, 397 f., 486 Johannes XXIII. 112 Johannes de Allodiis 347 Johannes Andreae 162, 216, 466 Johannes Bouin von Saint Viktor 315, 395 Johannes Buridan 42, 86, 102, 168, 196, 201, 260, 263, 265, 267, 465, 469, 470 f., 474, 475 f. Buridanismus 263 Johannes de Berswort 424 Johannes von Brescain 330f. Johannes Duns Scotus 353 Skotisten 205 Johannes Falkenberg 361 f., 364–76, 378, 405 Johannes von Frankfurt 51, 109 Johannes Gaetano Orsini Siehe Nicolaus III. Johannes Galli 102 Johannes de Garlandia 69 f., 74 f. Johannes von Gmunden 469–70 Johannes Guldinkopf 61 Johannes Holczsadel 461 Johannes Holt aus Bremen 126 Johannes Jandun 58 Johannes Langediderik aus Wismar 126 Johannes von Malkaw 364, 378 Johannes Mesner 124 Johannes von Mirecourt 86, 275, 389, 472 Johannes de Murrovalle 84 Johannes de Noët 10, 47, 49, 104, 109, 363, 427, 439 Johannes Pagus 326 Johannes Peckham 352 Johannes Pilgrim de Bercka 126 Johannes Quidort 395 Johannes Regina von Neapel 80 Johannes Rucherat von Wesel 127 Johannes Schram 194 Johannes Scotus Eriugena 277, 321, 322, 337 Johannes Teutonicus 162, 240 Johannes von Salisbury 18, 89, 98 f., 100, 135, 292, 295, 299–302 Johannes von Toledo 223, 226, 341
Johannes Vritze von Wantzenborch 125 Johannes Wibel 124 John Dumbleton 263 John of Hesdin 102 John Peckham 310 John Trevisa 489 f., 490 John Wyclif 83, 125, 263, 275, 404 Joscelin von Soissons 305 Juan de Monzon 21, 400, 472 Jura 113 f., 117 f., 123, 231, 233 Jurastudenten 27 Juridifizierung 357 Jurisdiktion 281 Jurisdiktionsprimat 306 Jurisprudenz 205, 271 Juristen 40 f., 47, 92, 100, 105, 109, 110 f., 129, 162, 166, 179, 196, 200 f., 215 f., 219, 227, 229 f., 235, 245, 271, 314, 362, 435, 438, 440, 445, 462 f., 466, 471, 474, 476, 480 f., 487 Juristenfakultät 56 f., 112, 245, 257, 470 Juristenuniversitäten 27, 32, 53, 143 f., 177, 258, 414, 416, 436, 438, 466, 485 Juristische Promotion 190 Justinian 148 Kaiser 19, 21, 95, 214, 403 Kaisergesetz 152 Kaiserhof 486 Kaiserswerth 50, 166 Kalabrien 399 Kalo (Archidiakon in Poitiers) 295, 304 Kanoniker 128, 240 Kanonikat 127, 197, 233 Kanonisten 26, 107, 230, 241, 242, 362, 375, 436 Kanonistik 27, 129, 149, 217, 229, 257, 264, 271 f., 444 Kantor 240 Kanzlei 52, 56, 107, 190, 410, 415, 421, 429, 437 Kanzleivermerke 3 Regulae cancellariae 112 Kanzler 2, 28, 31, 44 f., 61, 159 f., 181, 220, 230, 239 f., 243, 247, 321, 328–34, 345, 347, 350, 352, 354, 391, 411, 482 Kapazität 211 Kardinäle 116 f., 219, 221, 223, 353
register der personen- und ortsnamen Kardinallegat 280 Kardinalprotektor 335, 341 Kardinalsfamilien 225 Kardinalskollegium 4, 302 f. Kardinalskommission 335 f., 341–4, 394, 399 Karl der Große 40 Karl IV. 4 f., 31 f., 36, 165, 177, 410 f., 413 f., 416 f., 419, 485 Karl V. siehe Charles V Karl VII. siehe Charles VII Karl von Anjou 8 Karmeliter 394 Karriere 109, 164, 215, 229, 261, 267, 271, 273, 329, 354, 388, 391, 441 Karrierechancen 97, 100, 130 Karrieremuster 195 Karriereschub 195, 234, 236 Kasimir der Große, Kg. von Polen 4, 165, 418 Katastrophen 172 Katechese 120 Katechismustafeln 122 Katharer 282 Kathedrale 238, 388 Kathedralschulen 237 f., 276, 278, 283 Kautionsdekret 119 Kavalierstour 145, 155 Ketzer 84, 217, 297, 361 f., 368 f., 373, 377–79, 385, 391 siehe auch Haeretiker Ketzerbegriff 310 Ketzerei 362, 364, 368, 369, 373–5, 378 f., 388, 396, 399 Ketzereiverdacht 373 ff. Ketzergericht 283, 292 Ketzergruppen 380 Ketzerkataloge 59, 310, 382, 388 Ketzerpapst 379 Ketzerverfolgung 315 Ketzereiverfahren 376 Ketzerverurteilung 319 Kirche 91, 157, 159, 209, 271, 276 kirchliches Prozeßrecht 376 Kirchenfrage 107 Kirchenherrschaft 170 Kirchenlehrer 368 Kirchenpolitik 288 Kirchenrecht 161, 436 siehe auch Compilationes antiquae, Clemens V., Decretum Gratiani, Dekretalen, Gratian, Gregor IX
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Kirchenreform 114, 115, 122, 123, 124, 380 Kirchenväter 88, 89 Kirchenvermögen 154, 167, 173, 249 Kleidung 22 Kleingruppen 150 f. Kleriker 193, 199, 276, 330, 362, 397, 489 Klerikerversorgung 167 Klerus 116, 237, 295, 318, 358, 388, 423, 455 Klerusbildung 121, 240 Klientel 195, 229, 236, 427 Kloster 148, 165, 237, 419 Klosterbibliotheken 322 Klostergut 170 Klosterhaft 293, 384, 399 Klosterschulen 237 Klosterzucht 383 f. Koblenz 388 Koch, Josef 313 Koderie 186 Kollegen 202 Kollegiatkirchen 118, 120, 164, 169 Kollegien siehe collegium kollektive Biographie 137 Köln 2, 5, 18, 30, 33 f., 38 f., 126, 130, 139, 146, 165–67, 170, 179, 182, 185, 187 f., 256, 264, 266, 272, 346, 364 f., 407, 409 f., 420, 425–27, 434, 460 Kommentare 201, 259, 262, 468, 471, 473 Kommentierung 462, 468 Kommissar 434 Kommission 347 Kommunen 21, 36, 54 f., 103, 160, 165 f., 182 Kommunikation 199 Kommunikationsverbot 331 Kompetenz 58, 115 Konflikte 4, 15, 22 f., 28, 38, 53, 87, 145, 160, 239, 246, 275, 314, 333, 385, 405, 416, 424–26, 432, 437 f., 442, 445, 455 König 21, 160, 164, 317 König von Frankreich 73, 316, 338, 339, 341 f., 436, 486 Königshof 392, 455, 485 Konjunktur 109, 145, 236 Konkurrenz 351 Konrad IV. 412 Konrad von Gelnhausen 2, 104, 106, 165, 437
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Konrad Koler von Soest 74, 105 f., 108 f., 165, 179, 188 f., 367 Konrad von Megenberg 11 f., 59, 79, 86, 111, 352, 403, 473 Konrad von Querfurt 232 Konrad von Soest siehe Konrad Koler Konrad von Soltau 49, 106, 108 f., 189, 427, 438, 440, 442 Konsens 301, 331, 333 Konsistorium 243, 294–8, 300 f., 303–5, 307, 326, 336, 342, 344, 400 Konstantinopel 16 Konstanz 108, 115, 121, 125, 236, 238, 386 Kontrolle 76, 313, 400, 470, 472, 479 Konzilien 106, 114, 148, 161, 173, 204, 340 Konzil von Ephesus 278 Konzil von Pavia 188 III. Laterankonzil 238 IV. Laterankonzil 240, 318 f., 321 Konzil von Vienne 116 Konzil von Pisa 108, 112, 115, 188 f., 362 Konzil von Konstanz 48, 52, 108, 112, 116 f., 119 f., 188, 239, 362, 372 f., 385, 403–405 Konstanzer Kautionsdekret 119 Konstanzer Konkordate 120 Konzil von Basel 108, 112, 117, 122, 127, 362, 405 Konzilsgesandte 48, 51 Konzilsnation 109 Konzilsteilnehmer 115 siehe auch Synoden Konziliarismus 95, 249 Konziliare Reform 120 Koordination 322 Kopisten 456 Korporation 67, 73, 75, 151, 153, 158, 183, 207, 239, 244, 247 f., 249, 267, 321, 332, 358, 403, 407, 444 f. Korrekturvermerke 402 Kosten 185, 216 Krakau 4, 30, 134, 142, 144, 165, 271, 362 f., 366, 368–70, 372, 374, 418, 420, 460 Kriege 426 Krisen 205, 405, 442 Kulm 5, 6 Kuno von Preneste 280, 283, 285 Kurie 5, 12, 54, 58, 60, 99, 107 f., 111 f., 119, 125, 141, 157, 168,
183, 199, 214, 216, 219, 227, 229, 234, 241, 243 f., 246, 249 f., 287, 289, 294 f., 302, 305 f., 321, 323, 332 f., 338, 340, 344, 346, 351 f., 358, 363, 365 f., 370, 372 f., 375 f., 388–90, 395–97, 401, 412, 443, 486 studium curiae 214, 352 siehe auch Rom Kurort 155 Kuttenberg 146, 425 Laa 168 Laien 122, 199, 251, 316, 362, 380, 484–6, 490 Landesdienst 57 Landesherr 56, 165, 170, 182, 183, 244 Landeskirche 170 Landesuniversität 181 Landesverwaltung 418 Landrecht 414 Landsmannschaft 22, 26 Landtag 414 Lanfranc von Bec 277 Langres 318 Laon 282, 283, 467 Latein 200, 237, 484, 491 Lateinschulen 194, 261 Lauda 50, 169 Lauffen 125 Laurentius de Voltolina 465 Lebensalter 193, 197 Lebensberuf 34 Lebensform 248 lectio 455, 465, 467–9, 473–5, 480 f., 465 ad pennam 469 tractim/raptim 469 f. siehe auch pronunciatio lectura 257 Legaten 246, 284, 305, 318, 322 f., 328–32, 344, 346–48, 352 f., 387 f. Legationsvollmacht 331 Leges 389 Legisten 26 Lehre 183, 207, 441 Lehraufsicht 313, 339 Lehrbefehl 347 Lehrbetrieb 416, 422 Lehrbücher 205, 271, 475 Lehrentscheidung 340 Lehrentwicklung 275, 399, 404, 472 Lehrfreiheit 58, 75, 82 Lehrlizenz 239
register der personen- und ortsnamen Lehrmethoden 182 Lehrprogramm 257, 324, 461, 477 Lehrstuhl 266, 368 Lehrverbot 58, 84, 285, 330, 344, 358, 395, 401 Lehrverpflichtung 170 Lehrverurteilung 77, 80 Lehrzucht 58, 76, 128, 246, 313, 328, 339, 352, 358 Lehrpredigt 295 Lehrsätze 357 Leipzig 5, 34, 38, 83 f., 127, 146 f., 165 f., 166, 169, 179, 182, 186, 191, 193, 266, 420, 460 f., 465, 470 f., 481 Fürstenkolleg 169, 266 Lektoren 309, 352, 400 Lektoralpfründen 123, 124–27, 198 Lektüreplan 319 Leo IX. 277 Léon 214 Leseauftrag 197 Lesefähigkeit 198 f., 458 f., 484 Lesen siehe lectio lex libertatis/servitutis 93 f., Liber Extra 161 f., 223, 242 Liber Sextus 161 f., 220, 240, 245 liberalitas 71 libertas 72 f., 91 libertas scholastica 69–71, 153 liberum arbitrium 68 libri naturales 70 f., 317, 324 licentia docendi 2, 44, 53, 84, 159, 216, 238, 311, 341 licentia eundi ad scolas 155 licentia pronunciandi 470 siehe auch Lizenziat Lissabon 4, 214 Litauen 143 Literatur 455 littera Bononiensis 456 litterati siehe Gelehrte Lizenziat 57, 118, 129, 144, 195, 386, 391, 444, 458, 460 f. Logik 257, 259, 330, 348, 392, 478, 482 London 355 Longuereroie 389 Loppo von Zieriksee 188 Lorenzo Medici 68 Lothringen 24 Lotulf von Novara 31, 282 f., 305 Löwen 5, 34, 146, 159, 165, 167, 185 f., 272, 420
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Loyalität 52, 57 Lucca 9 Lucius III. 162, 436 Ludolf Meistermann 125 f. Ludolf von Sagan 458, 459 Ludwig der Bayer 199, 410 f., 414 f., 486, 488 Ludwig VII., Kg. von Frankreich 99 Ludwig IX. der Heilige, Kg. von Frankreich 217, 329, 455 Ludwig III., Pfalzgraf bei Rhein 50, 74, 105, 108, 165, 367 Lübeck 125 f., 149 Lüneburg 6 Lüttich 43, 113, 139, 231, 233–36, 249, 421 Lupus von Ferrières 384 Luschin von Ebengreuth, Arnold 150 Luther, Martin 83 f., 275, 381, 405, 469 Luxemburg 417 f. Lynchjustiz 282 Mâcon 339 Magdeburg 112, 127, 409 magister 29 Magister 2, 34 f., 44–46, 48, 52, 56, 60, 71, 73, 76, 87, 101, 103, 118, 146, 153, 159, 160, 166 f., 169, 186, 215, 221–23, 234, 239 f., 247, 264, 314, 319 f., 322, 325, 331, 339, 343, 345, 352, 357, 359, 390, 412, 424–26, 435, 440, 442, 464, 476–78, 481 magister actu regens 38, 101 f., 259, 264, 267, 444 magister artium 54, 262, 264, 272, 439, 460 magisterium 281 magistri 25, 85, 224, 232, 236, 249, 276, 305, 308 f., 347 honor magistralis 368 Magistertitel 225, 231 Magisterversammlung 246, 247, 326, 329, 334, 339, 346 f., 350, 351, 354, 355–58, 395 Magisterkollegium 247 Magisteruniversität 413 Maguelone 245 Maier, Anneliese 253 Mainz 6, 108, 127 f., 364, 378, 383 f. Mainzer Stiftsfehde 127 Mandonnet, Paul 313 Mannheim 3
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Marburg 7 Margarete Maultasch 488 Marginalisierung 155, 377 Marginalität 143 Markgrafen von Baden 142 Marsilio Ficino 490 Marsilius von Inghen 3–5, 10, 33, 37, 47, 56, 57, 61, 104, 106 f., 178, 203, 255–58, 267, 420–27, 429–52, 461 Marsilius von Padua 58, 60, 91 f., 110 f., 148, 166, 230, 245, 397, 487–9 Martin IV. 346 f., 354 Martin V. 108 Martin I., Kg. von Aragón-Sizilien 115 Martin von Troppau 226–27 Mathematik 250 Matrikel 25, 46, 138, 141, 171, 178, 183–85, 184, 187–89, 193, 210, 258, 423–26, 435, 438, 443, 459, 461, 481 Matteo d’Acquasparta 220 Matthäus von Krakau 57, 106–109, 111, 189, 361–68, 370–75, 378 Matthaeus Parisiensis 327 Matthias Flacius Illyricus 488 Mauricius Hispanus 319 Maximilian II. 7 Mechanisierung 457 Medizin 27, 113 f., 118, 123, 231, 233, 245, 264, 269–71, 273, 441, 444, 462 Mediziner 27, 105, 109, 129, 229, 257, 416, 436, 462, 476 Medizinische Fakultät 178, 257, 268 Medizinstudenten 195 Mehrheit 356 Meister Eckhart 76, 275, 394, 396–98, 472 Melanchthon, Philipp 193 Memoranden 488 memoria 202, 474, 482–4 Mende 116 Mendikanten siehe Bettelorden Metaphysik 259, 319, 393 Meteorologie 260 Metropolit 385 Metropolitankapitel 118 Metz 389, 391 Michael, Bernd 265 Mietpreistaxierungskommission 179, 436 f., 423 Mietrecht 154, 162
Mißbrauch 469 f. Mitbestimmung 47 Mobilität 142, 145, 192 Modell 408, 413 siehe auch Pariser Modell Modena 212 Mönchsgelübde 281 Mondsee 470 Monopol 199, 357 Montpellier 133, 159, 189, 212, 226, 245, 318, 464 Moraw, Peter 108 f., 150 Morinie-Thérouanne (Bistum) 302 Mosbach 420 Moses 93 Motive 435 Müller, Johannes (Regiomontanus) 193 München 60, 486, 488 Mündlichkeit 200, 391, 453–55, 458, 463, 468, 472–75, 480, 490 f. Muttersprache 486 Nachfrage 381 Nachschriften 471, 478 f. Nantes 6 Narbonne 217, 337, 401 Nationalsynode siehe Konzilien Nationen 22–24, 27, 48, 54, 178, 346 f., 422, 424 f., 436 Natur 65 Naturbeobachtung 271 Naturphilosophie 258, 260, 264, 268, 271, 273, 316, 319, 323, 392, 474 Neapel 8, 11, 30, 133 f., 177, 214, 412, 414 Neid siehe invidia Neithartsche Familienbibliothek (Ulm) 148 Netz 409 Neuerungen 183, 310 Neuhausen bei Worms 420 Nikolaus II. 277 Nikolaus III. 218, 223, 341, 343, 353 Nikolaus IV. 20, 218 Nicolaus von Autrecourt 84, 275, 388–93, 400, 472 Nikolaus von Bettenberg 109 Nikolaus Bockeler 364 Nicolaus Borrel 257 Nikolaus Burgmann 53, 105, 109, 442 Nicolaus von Clairvaux 243 Nicolaus Copernicus 271–73
register der personen- und ortsnamen Nicolaus de Fulda 102 Nikolaus Justinger 128 Nikolaus von Kues 122, 272 Nicolaus von Lisieux 248 Nikolaus Magni aus Jauer 109 Nikolaus Prowin 109 Nicolaus von Tusculum 319 Nicole Oresme 490 Nijmegen 430 nobiles 118 siehe auch Adel Nordafrika 16, 329 Nordbrabant 129 Nordfrankreich 159 Normandie 24, 25 Northampton 134, 146 Not 44 Notare 193 Notariat 26 Notbehelf 412 novitates 309, 310, 322, 327 f., 400 Nürnberg 124 Oberitalien 57, 143, 146, 154 Obligation 51, 62 Oboedienz 5, 108, 146, 364, 420, 432, 443, 451 Odo von Chateauroux 220, 223, 320, 322, 324, 327–29, 335, 341, 348 Odo von Douai 343 Odo Rigaldi 328 Odofredus 471 Öffentlichkeit 115, 330, 359, 361, 363, 373, 384 Offizial 100, 196, 235, 315 Optik 260 Orbais 383 Orden 100, 102, 195, 236 Ordensgeneral 218, 338, 340, 400 Ordensschulen 43 Ordensstudien 151, 157 Generalkapitel 326, 400, 402 Provinzialkapitel 337 Provinzialminister 401 Provinzialprioren 338 Ordnung 445 Organisationsformen 408 Organon 262 Orientierung 163 originalia 336 Orléans 24, 70, 133 f., 138, 143 f., 151, 181, 213, 220, 245 Orthodoxie 79, 285, 290, 377–79 Ortsbischof 58, 76–78, 80, 157,
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159 f., 245, 247, 313 f., 321 f., 324, 327, 330 f., 333 f., 338, 357, 379, 385, 388 Ostia 329 Ottaviano Ubaldini 223 Otto der Große 237 Otto von Freising 282, 284, 290, 293, 295, 299–302, 310 Ottobuono Fieschi Siehe Hadrian V Otto von Tonengo 222 Oxford 9, 12, 19 f., 23 f., 30, 36, 40 f., 58, 70, 73, 80, 101, 133 f., 139, 141, 143, 146, 159, 176, 182, 186, 191, 211 f., 230, 243 f., 259, 262–64, 319, 352, 404 f., 408 f., 418, 459, 462, 464 f., 474, 476, 489 Australes/Boreales 23 Mertonians 263 New College 36, 165, 191, 235 University College 40 Padua 12, 20, 41, 133 f., 142, 146, 212 f., 240, 271 f., 418 Palencia 30, 133 f., 214 Pamiers 6 Papst 19, 21, 54, 58, 73, 77 f., 80, 92 f., 99, 107 f., 119–21, 157 f., 160, 170, 173, 216, 247, 250 f., 275, 278, 284, 293, 296, 298, 301–303, 305, 313 f., 317, 320–22, 324, 334, 340–44, 347 f., 356 f., 359, 370, 375, 387 f., 392, 394, 398, 403 f., 415, 439, 443 Paraclet 21 Paravicini Bagliani, Agostino 224 Parens scientiarum 324 Paris 1 f., 5, 9, 12, 17, 19–36, 40–47, 52, 54–59, 69–75, 79, 82–86, 98, 101–103, 112, 133–39, 143 f., 146, 152, 159, 163, 168, 176–79, 181 f., 197, 201, 203 f., 211, 217–19, 221–23, 231, 241–48, 257, 262–65, 277, 284, 286, 296, 298, 310, 313, 315–18, 321–23, 325 f., 329–31, 335–44, 346, 348 f., 353, 355, 357, 389–91, 395, 399, 400, 402, 407–409, 412–14, 418, 420–24, 427, 435–38, 440, 443, 455–57, 462–65, 467, 469 f., 472–82, 485, 489 f. Notre Dame de Paris 318, 328, 345, 347 Collège de Cluny 392 Saint Victor 238 Sorbonne 225, 389
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Pariser Modell 72, 245, 264, 422, 439, 441 f. Parisiensis ad instar studii 422 Parma 464 Partikularschule 410 parvisus 263 f., 476 Pastor de Serrescuderio 389 Patriarch 111, 191 Patronage 236, 427 Patronat 168 Paulus (Apostel) 88, 279 Paulus Niavis (Paul Schneevogel) 191 Paulus von Samosata 379 Paulus Vladimiri 371 pauperes 36, 55 f., 108 f., 113, 136, 184–89, 191, 240 Pavia 142, 150 pecia 76, 148, 203, 456, 470 Pedell 51, 56, 479 Pedro Fernández 115 Pension 38 Pensionspfründen 197 per iuramentum 48 peregrinatio 146 periti 487 siehe auch Experten periurium 52, 160 Personalkosten 165 pertinacia 378, 396 Perugia 24, 201, 466, 471 Pest 426 Peter Abaelard 21, 59, 77 f., 216, 275, 280–95, 298, 302, 305, 307–10, 337, 386 f., 395, 467 f., 472, 481 Peter von Andlau 230 Peter von Lautern 397 Peter Wysz 361–3, 370 f. Peterskirche (Heidelberg) 50 Petrus (Apostel) 279 Petrus Aureoli 263 Petrus Cantor 35, 288, 301, 323, 475, 477 Petrus Comestor 462 Petrus de Coppa 2 Petrus de Falco 78 Petrus de Luna siehe Benedikt XIII Petrus de Maniacoria 261 Petrus de Salinis 226 Petrus de Vinea 412 Petrus Hispanus 261, 469, 482 Siehe Johannes XXI Petrus Johannis Olivi 263, 336, 396 Petrus Lombardus 222, 268, 308, 462, 479 f.
Petrus Venerabilis 293, 294 Petrus von Capua 241 Petrus von Poitiers 293 Pfalzgraf 2 f., 37, 49, 57, 108, 166, 417 Pfarrei 50, 111, 197 Pfarrer 111, 116 Pfarrpfründe 124 Pforzheim 6 Pfründeinkünfte 105, 169, 443 Pfründen 8 f., 35, 37 f., 47, 53, 103–106, 112, 114, 116–19, 123–30, 138, 154, 167–69, 171–73, 190, 192, 195, 197, 231, 233 f., 238, 240 f., 265, 267, 273, 361, 389, 420, 424, 427, 443, 449 Pfründenhäufung 106, 323, 390 Pfründenmarkt 389 Pfründenverleihung 173 Pfründenverlust 359 Pfründvermögen 105, 172 Philipp IV. der Schöne 218, 234 Philippe de Grève 241 Philipp der Kanzler 323 f. Philipp von Perugia 335, 342 Philosophie 205, 313 Physik 202, 257–59, 261 f., 267 f., 271, 474 Piacenza 212, 221 Picardie 23–25 Pierre d’Ailly 21, 28, 110, 112, 120 f., 160, 239, 400 Pierre aus Bar-sur-Aube 223 Pierre Dubois 465 Pierre de Monchy 226 Pietro del Monte 142 Pierre de Monteruc 229 Pietro Peregrossi 220 Pierre Rebuffi 154, 240 Pierre de Sortenac 228 Pilger 136, 155 Pius X. 310 placet 301 Pleban 105 plenitudo potestatis 92 f., 250 Poitiers 244, 295, 298, 374 Polen 371 f. Politikberatung 171 Politische Theorie 69 Portugal 214 Posen 362 Powicke, Frederick Maurice 15 Prädikant 124 Prädikantenbibliothek 124
register der personen- und ortsnamen Prag 1, 4 f., 11, 30–33, 36, 38, 53, 83, 102, 107–109, 123, 125 f., 146 f., 159, 165, 169, 171, 177, 179, 185, 203, 214, 258, 365, 405, 409–19, 422–28, 435 f., 445, 460, 470, 485 f. Collegium Carolinum 36, 169, 266, 416, 424, 427 Dreifakultätenuniversität 258, 416, 427, 438 Prälatenversammlung 355 Präsentationsrecht 168 Predigten 2, 124, 148, 335, 338 f., 359, 384, 393 f., 463, 472 f. Predigtverbot 344 presentia universitatis 327 Prestige 418, 441 presumptuosum 393 Primat 306 princeps 414 prior 389, 401 Privilegien 21, 38, 42, 72, 83 f., 104, 153, 168, 178, 241, 243 f., 247, 249, 256, 324, 416, 431, 434 Privilegierung 319 privilegium fori 161 Professionalisierung 198, 265, 267, 441 Professoren 26, 210, 407, 420, 441, 458 Professur 197 Professorenuniversität 26, 29 Programm 437 Prokuratoren 24 f., 54, 324, 343, 365 Promotionen 57, 62, 113, 354, 368, 403, 407, 411, 461, 464 Promotionsakten 210 Promotionsstipendium 127 Promotionsverfahren 481 pronunciatio 76, 148, 203 f., 456, 470 f. siehe auch, Gruppendiktat, licencia pronunciandi Propädeutik 194 Prosopographie 210 Protektion 195, 198 Protest 339 Protokoll 299 Protonotar 52 f., 125 Provinzialisierung 142, 145, 180, 204, 357, 441 Provinzialsynode siehe Konzilien Provision 107 f., 119, 234 Provisorium 440 Prozeduren 276 f., 283, 286, 292, 296, 298, 300, 305 f., 310, 313 f.,
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320–22, 324, 326, 328, 331–34, 341 f., 344 f., 351, 356, 361, 385 siehe auch Verfahren Prozesse 313 f., 391, 394, 398 Prozessionen 190 Prüfung 481 Prüfungszertifikat 98 Ps.-Athanasianum 308 Ps.-Clemensbrief 80 Ps.-Dionys Areopagites 322 Ps.-Isidor 80 publicare 402 Publikation 338 Publikum 194, 338, 470, 488–90 Publizistik 488 f. Quaestionen 200, 259, 262, 265, 268 f., 472, 478 ff. quaestiones 78, 81, 455, 475, 476 f., 479–81, 484 Qualifikationen 234, 261, 427, 457, 459, 481 Qualifikationsnachweis 239 Quasi lignum vitae 341 Quierzy 383 f. Quod omnes tangit 92 Quodlibet 79, 194, 200, 268–70, 356, 397, 476 f. determinatio 60, 80, 349, 398, 478 opponens 477 respondens 330, 477 f. Radolin 362, 371 Radulf von Laon 301 Radulph, Ebf. von Reims 282 f. Rahmenbedingungen 175, 180, 254, 431, 455 Raimund IV., Graf von Toulouse 214, 217 Rainald von Jenne 222 Ranulf Bf. von Paris 135, 347, 354 Raoul de Presle 489 Rashdall, Hastings 14 Rat 3, 6, 37, 52 f., 57, 107–10, 170, 192, 199, 255, 421, 431, 434, 487 Ratgeber 487 f. ratio 260 Rationalisierung 148, 387, 457, 470 Rationalismus 147, 260 Ratramnus von Corbie 384 Raum 270 Raymund von Peñaforte 225 Raymundus Lullus 482 receptio 2, 25, 47, 52, 128, 443
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Recht 199 Rechtsakte 412 Rechtsfragen 99, 422 Rechtsnormen 163 Rechtsstatus 411 Rechtsstudenten 150 Rechtsuniversitäten 103, 264 Rechtsverbriefung 416 Rechtswahrung 153, 159 siehe auch Kirchenreicht recitare 466 recitatores 309 Redaktionsstufen 478 Redesituationen 463 Reform 61, 182 f., 201, 209, 320, 349, 490 reformare 3, 25 Reformforderungen 173 Reformkonzilien 249 Reform Kaiser Sigmunds 147 Reformprogramm 323 Reformation 205, 405 Reformpapsttum 306 regalia 469 Regensburg 6, 60, 108, 189 Reginald von Aulne 57, 104, 256, 421, 434, 438 Register 429 regnum Francie 344 regnum Teutonicum 409 Reichsuniversität 415 Reihung 444 f. Reims 70, 238, 246, 282, 284 f., 293 f., 297 f., 300 f., 305, 307, 310, 318, 326, 340, 374, 383 Reisen 137 Reiseerlebnisse 136 Rekonziliation 353 Rekrutierung 181 Rektor 15, 24–33, 38, 46–48, 51 f., 54 f., 105, 126, 160, 168, 184, 188, 258, 407, 422, 424, 426 f., 441 f., 444 Rektorbuch 17, 46, 54f., 74, 255, 363f., 367, 378, 420–22, 431, 438, 440, 443f., 466 Rektorsiegel 435, 445 Rektorwahl 23–25, 27, 29, 32 f., 49, 179, 346, 416, 423 f., 434, 436, 438–40 Remundus (Magister in Paris) 330 repeticiones 200, 476 reportationes 471, 478 Residenz 419, 421 Residenzpflicht 103, 118, 168, 240 f.
Residenzprivileg 8, 154, 162, 168, 249 Reutlingen 125 Rhaban von Helmstedt 51 Rheinzölle 166 Rhens 365, 410 Rhetorik 200, 205, 491 Rhuys (Bretagne) 286 Riccardo Annibaldi 222 Richard Billingham 263 Richard von Cornwall 325 Richard von Fournival 225 Richard Knapwell 355 Richard Swineshead 263 Richard von Saint Viktor 308 Richard von San Germano 8 Richard von Siena 220 Riedlingen 124 rigor examinis 118 Rituale 408 Robert de Courçon 25, 243, 316, 318–21, 436, 477 Robert Grosseteste 261, 268, 272 Robert von Melun 308 Robert von Somercote 222, 225 Robert de Sorbon 165 Roger Bacon 110, 200, 250 f., 261, 268, 327, 402, 480 Rom 99, 108, 243, 277, 284, 289, 292, 295, 297, 305 f., 319, 324, 339, 352, 365 f., 368, 369–71, 373, 375, 378, 383, 387, 394 f., 400, 402 Römer 157 studium curiae 214, 352 Römisches Recht 149, 233, 256, 321, 366, 389, 414 Roncaglia 242 Rostock 5, 102, 126, 127 Rotroux, Bf. von Evreux 296 Rotulusgesandte 51 Rouen 284, 318 Rückfall 330 Rudolf IV., Hzg. von Österreich 3 f., 102, 165, 417 Rudolf Losse 230 Ruprecht von der Pfalz (I.), Römischer Kg./(III.) Pfalzgraf bei Rhein 49, 53, 74, 105, 108, 165, 188 f., 361, 365, 367, 375 Ruprecht I. 1, 3, 33, 47, 50, 56, 103, 105, 107, 165, 178, 180, 199, 257, 417, 419, 429, 432 f., 436, 449, 457, 486 Ruprecht II. 50, 74, 166
register der personen- und ortsnamen Sabellius 388 Sabellianismus 290 S. Sabina 217 sacerdotium 157, 158 Säckingen 124 Saint Denis 281 Saint Médard in Soissons 285 Saint Victor de Paris 238 Saint-Amour 344 Salamanca 19, 24, 30, 133 f., 159, 214 Salerno 133, 212, 412 Salimbene de Adam aus Parma 337, 401 Salzburg 236 Samson, Ebf. von Reims 292 Sanktionen 59, 327 sapientia 251 Satzungen 47, 56 Satzungsautonomie 321 Saulgau 124 Scheffel, Viktor von 133, 155 Scheiterhaufen 385 Schiedsspruch 346 Schisma 5, 49, 74, 106 f., 138, 141, 146, 229, 235, 239, 302, 364, 375, 419 f., 432, 443, 486 Scholaren 31, 34, 44, 71, 146 f., 150, 152–54, 159, 163, 167, 176, 179, 319, 412, 455 Scholaster 234, 239, 240 Scholastik 250, 258, 260, 262, 268, 271, 361, 364, 374, 392, 398, 405, 461, 474 Scholien 470 Schotten 23 f. Schottland 24, 139 Schreiben 198, 199, 465 Schreibarbeit 456 Schreibeverbots 402 Schreibfähigkeit 458 f., 484 Schreibstube 457 Schreibunterricht 458 f. Schreiner, Klaus 62 Schriften 210 Schriftkultur 455 Schriftkundige 467 Schriftlichkeit 163, 199, 342, 351 f., 453–55, 471, 473 f., 478 f., 488, 490 f. Schrifttechnik 456 Schriftsprache 237 Schuldrecht 154 Schulen 50, 99, 386 Schulbetrieb 306 Schulkladden 459
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Schulmeister 193 Schulphilosophie 183 Schultheologie 310 Schulwesen 459 Schultheiß 49, 50 Schutz 415, 486, 487 Schweigen 384 Schwinges, Rainer Christoph 140, 150 Schwurgemeinschaft 153 scientiae lucrativae 109 f. scriptor 402 scriptorium 402 scriptum 473, 480 Seine 159 Sekte 315 f., 320 f., 380 Selbständigkeit 483 Selbstdarstellung 445 Selbstorganisation 34 Selbstauflösung 248 Selbstverpflichtung 58, 60, 62, 85 Semantik 260 Sendgericht 379 Seneca 491 Sens 77, 99, 246, 284, 288–90, 292–94, 298, 300–302, 305, 310, 316, 318, 322, 338, 340, 344, 386, 392 sententiae 282, 347, 398 Sentenzenkommentare 268, 270, 389, 397, 399 sermones 463 Servasius v. Mont St. Eloi 80 servicium commune 367 Seyfridus de Rotenburg 203 Sezessionen 42, 45 f., 73, 324, 424, 471 Sicherung 443 Siegel 17, 25, 28, 74, 435, 445 siehe auch Rektorsiegel, Universitätssiegel Siegfried Enemer 150 Siena 142, 212 f., 220, 295 Sigebert von Beek 397 Siger von Brabant 265, 345, 404 Signorie 182 Signy 287 Simon de Brie Siehe Martin IV Simon de Brossa 391–3, Simon Freron 102 Simon de Tournai 307 Sinibaldo dei Fieschi siehe Innozenz IV Sizilien 20 214 Sklaven 95 Sklaverei 66, 72, 88, 94 Smaragd von St. Mihiel 88
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societas 72, 334, 341 socius 389 Soest 82, 108 Soissons 77, 246, 280–82, 286, 293, 305, 310, 386 St. Jean-des-Vignes 281 Soldaten 193 Sondergremium 331 f., 352 sophismata 263, 392 Sorbonne (Paris) 225, 389 Souveränität 358, 375 Soziale Qualifikation 116 f., 122 f., 129 Sozialgeschichte 180 Sozialordnung 65 Spaltung 445 Spanien 229 Spätscholastik 122 Spekulation 250, 270 Speyer 122, 420, 427 Spezialisierung 267 Sprachenkenntnis 250 St. Goar 53 St. Jean-des-Vignes (Soissons) 281 Staat 171, 173 Staatlichkeit 65 Staatsaufgaben 167 Stadt 37, 182, 435, 457 Stadtarzt 124 Stadtbürger 179, 455 Stadtpfarrkirche 118 Städtelob 147 Stamford 134, 146 stationarii 148, 456, 479 Status 73, 236 Statusfragen 422 Statuten 2, 5, 17, 20, 22, 25, 27 f., 30, 32, 45 f., 48 f., 52, 54, 75 f., 84, 102, 144, 179, 184, 186, 193, 201, 203 f., 213, 241, 244 f., 259, 261 f., 262, 284, 319, 321, 392, 401, 416, 436, 438–44, 465 f., 469 f., 473, 479, 481 Statutenfiliation 179 Stefan Tempier 77 Stefan von Vancsa 335 f. Stephan von Venizy 325 f., 328, 399 Stift 123 f., 164 f., 240, 419 Stiftung 11, 31, 35, 42, 104, 164, 182 Stiftungsbrief 178 Stille Lektüre 465 Strafen 487 Straßburg 128, 139, 364, 409
Streit der Fakultäten 109, 229 Streitschriften 248 Studenten 16, 26, 49, 52, 54, 137, 146, 149, 171, 210, 266, 407, 459, 464–66, 474 Studentenbursen 184 Studentenuniversität 26, 27, 29, 177, 182, 413 Studentenzahlen 29, 30, 130 studia ex consuetudine/privilegio 19, 213, 411 Studien: Studienabschluß 411 Studienförderung 139 Studiengebühren 165 Studienhäuser 35 Studienstandards 411 Studierzimmer 348 Studium 100, 116, 118, 221, 234 studium 18–20, 27 f., 34, 56, 69 f. 72 f., 75, 136, 157, 158, 168, 180, 430, 457, 485 studium curiae 214, 352 studium generale 1 f., 5–8, 17–20, 31, 41–44, 168, 178, 212 f., 231, 257, 410, 415 translatio studii 40 Stufungen 94 Stundenplan 443 Stundung 187 Südosteuropa 383 Suger von Saint Denis 302 summa 262, 479 Summulae Logicales 259 Super speculam 162, 240–2 Suppliken 4, 6, 178, 180, 255, 432, 443 Supplikenrotuli 138, 173, 228, 443, 444 supposita 38 Sylla, Edith Dudley 263 Syndicus 100, 196 Synoden 76 f., 246, 277–80, 283, 293, 295, 305, 309, 315 f., 318, 322, 326, 331, 340 f., 343 f., 356 f., 379, 381, 383–86, 388 Nationalsynode 82, 358 Provinzialsynode 316, 318 Synodalgremium 374 siehe auch Konzilien Talmudverfolgung 323, 329, 399 Tancred von Bologna 242 Taxen 9, 55 Teamarbeit 473
register der personen- und ortsnamen Tedaldo Visconti Siehe Gregor X Teilung 416 terra aliena 153 siehe auch exilium Territorialherrschaften 231 Territorialisierung 170, 180 Territorialstaat 167 Territorium 181, 457, 458 Testamente 124 testimonium paupertatis 55, 187 Teufelsdiener 379 Texte 259, 461, 464 Textbehandlung 236 Textmassen 463 Textqualität 204 Textsituation 480 Textverbreitung 453, 469 f. Textvrständnis 380 Theobald von Bar 233 Theodosius II. 7, 40 Theologen 27, 92, 105, 107, 109 f., 117, 121, 124, 129, 179, 197, 201, 215, 219, 222, 230, 248, 270, 310, 315, 338, 342, 353, 362, 373 f., 390, 405, 416, 438, 445, 461 f., 472, 476, 481 Theologenkommission 316, 324, 396 Theologenprozesse 275 f., 286, 313, 324, 329, 376 Theologie 27, 108, 111, 113, 117, 123, 128, 144, 148, 199, 205, 231, 233, 257, 264, 267, 271, 281, 313, 323, 357, 359, 439, 441 Theologiestudenten 97, 122 Theologische Fakultät 102, 118, 268 Theoriegeschichte 253, 268 Thierry von Chartres 305 Tholomeus von Lucca 348 Thomas von Aquin 89 f., 93, 226, 248, 263, 268, 310, 342, 346 f., 350, 353 f., 474, 478 f. Thomisten 205 Thomas Bradwardine 263, 268 Thomas von Cantimpré 323 Thomas Diplovatatius 202 Thomas von Morigny 290 Thomas Waleys 393–95, 472 Thomas von York 248 Thorn 373 Titel 43 Tongerlo 139 Toulouse 30, 69–71, 133 f., 189, 213 Graf von Toulouse, 69 f.
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Touraine 24 Tournai 155 Tours 277, 339 Tradition 179, 208, 213, 282, 385, 408, 491 Traditionalismus 183 Traditionskritik 147 Traditionsmassen 473 Traktate 396, 479, 481, 489, 491 translatio studii 40 Transsubstantiation 269, 278, 395 Treueid 57 Tribunal 297 Trient 381 Trier 230, 388 Troyes 285 Tübingen 5, 62, 114, 127, 143, 155, 181, 185, 193, 201 St. Georgstift 169 Typar 445 Typologie 165 Tyrannis 70, 89 f. Tyrannenmord 89 f., 204, 372 ubique 2, 7, 19, 43 f., 100, 244 siehe auch licentia Übersetzung 489 Ulger von Angers 305 Ulm 148 Ulrich von Pottenstein 122 Ulrich Zasius 144 ultramontani 24 Unfehlbarkeit 306, 358 Unfreie 66 Ungläubige 251 universitas 17, 18, 20, 22–5, 28, 31 f., 34, 45 f., 62, 70, 74, 152 f., 407 universitas citramontanorum/ ultramontanorum 23 Universitätsabgänger 215, 241, 249, 418, 457, 458, 484, 485 Universitätsabordnung 359 Universitätsarchiv 444 Universitätsbesucher 31, 97, 115, 123, 128 f., 192, 215, 227 f., 458–61, 466 Universitätserfahrung 427 Universitätsgründer 485 Universitätsgründung 30, 36 f., 104, 134, 163, 165 f., 169, 176, 244, 255, 265, 408, 412, 419, 425 f., 431, 457 Universitätenschwemme 172 Universitätshandschriften 478
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register der personen- und ortsnamen
Universitätslehrer 266, 461 Universitätsliteratur 480 Universitätsnation 125 Universitätsöffentlichkeit 476 Universitätspfründen 169 Universitätssiegel 435, 445 Universitätsstift 37, 105, 123, 169, 170, 265 Universitätsversammlungen 257, 315, 391, 438, 440, 464 Universitätsverwandte 424 Universitäütsvermögen 168 Unterricht 182, 408, 416, 454, 461, 464, 471, 491 Unterrichtsformen 468, 481 Unterstützung 186 Urban IV. 217, 226 f., 243 Urban V. 195, 228 Urban VI. 1 f., 4–6, 9 f., 178, 180, 228, 420, 432 Urkunde 20 siehe auch Gründungsurkunde Urteilskraft 483 f., 488 Usurpation 90 usus 468
Verwaltung 171, 271, 392, 455, 457, 485 Verwandte 150 Verweildauer 101 Verwerfung 332 f., 343 Verwissenschaftlichung 485 Vesperien 392 via antiqua/via modernorum 61 siehe auch Wegestreit Vicenza 133 f., 146, 212 Vincentius Hispanus 240 Viterbo 218, 295 Vizekanzler 48, 220 Vizerektor 32, 48 voces paginarum 465 volgare/Volkssprache 489 Voraussetzungen 409 Vorbild 422 Vorkenntnisse 261 Vorlesungen 22, 118, 200, 265, 407, 465, 467, 469–74, 476, 479 f. Vorlesungsbeginn 256 Vorlesungsverbot 316 siehe auch lectio Vorzensur 284, 381
Vaganten 136, 142 f., 155 Vakuum 269 Valladolid 133–34, 214 Verbreitungskreise 147 Verbürgerlichung 445 Vercelli 134, 146, 212, 277 Verden 108, 189 Verdun 389 Verfahren 344, 348, 361, 365, 374, 376 f., 385 f., 388–90, 393–97, 399 f., 403, 405 siehe auch Prozeduren Verfall 467 Verfassung 413, 423 Verfassungskonflikt 346 Verfassungsmodelle 427 siehe auch Pariser Modell Verhör 315, 394 Verjährung 41 Verketzerung 369 siehe auch Ketzer Verknöcherung 338 Vermögen 170 Verrechtlichung 310 Verschriftlichung 457, 491 Verurteilung 293, 341 f., 353, 397 Verurteilungssentenz 472 Vervielfältigung 479
Wachstafeln 459 Wachstum 214 Wahlperiode 440 Wahlrecht 440 Wahrheit 398, 487 siehe auch Doppelte Wahrheit Wallfahrtsstätten 165 Walliser 23 Walter Burley 263 Walter Chatton 81 Walter Merton 165 Walter von Mortagne 288 Wanderungen 33, 155 Wandlung 179 Wangen 125 Wasmut von Homberg 55 Weber, Max 147 Wegestreit 61, 182, 205 Weihen 173 Weisheipl, James 268 Weisheit 98, 455 Weltkirche 158 Weltklerus/Weltkleriker 72, 102 f., 247 f., 263, 328, 332, 338, 343, 394 weltliche Wissenschaft 323 Wenzel (I.), röm. Kg./(IV.) Kg. von Böhmen 53, 146, 199, 365, 486
register der personen- und ortsnamen Wenzel II., Kg. von Böhmen 409, 414 Wersau 3, 6, 37, 432 Widerruf 128, 292, 315, 325, 330, 343, 353–55, 373, 384, 388, 390 f., 393, 396, 398, 472 Wien 1, 3 f., 9, 11 f., 27, 30, 37 f., 41, 48, 102, 122, 134, 146, 159, 165 f., 169, 185 f., 191, 193, 204, 258, 409 f., 417 f., 420, 424–26, 460, 463 f., 469 f., 477 Collegium ducale 169, 266 St. Stephan (Wien) 417 Wiener Konkordat 120 Wilhelm Ockham 60, 80 f., 86 f., 90–95, 148, 200, 202, 263, 269f., 275, 353, 372, 379, 397, 403, 474 f., 477, 482, 483, 487–89 Ockhamisten 205 Wilhelm Textoris 124 Wilhelm von Aumône 341 Wilhelm von Auvergne 323 f., 327, 330 Wilhelm von Auxerre 324 Wilhelm von Champeaux 282 William Heytesbury 263 Wilhelm von Moerbeke 226 f. Wilhelm von Saint-Amour 72, 152, 246, 248 f., 334, 338–41, 343 f., 388 Wilhelm von St. Thierry 287 f. 290, 310 William of Wykeham 165 Wimpfen 420 Winand von Steeg 48, 53, 439 Winterthur 124 Wirkungen 208, 214 f., 236, 248, 308, 311, 319, 359, 387, 431, 453, 457, 461, 469, 489 Wirkungsbereich 355
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Wismar 126 Wissen 98, 455 Wissensliteratur 122 Wissenschaft 198, 250, 260, 282, 418, 430 Wissenschaftsbetrieb 311 Wissenschaftsfreiheit 62 Wissenschaftsgeschichte 254 Witelo 226 Wittelsbach 108, 417, 418 Wittenberg 405, 470 Wohnhäuser 47, 56 Worms 47, 107 f., 127 f., 258, 361, 364, 366 f., 371, 373 f., 420, 436 f. Dompropst 2 Cyriacus-Stift in Neuhausen 47, 258 siehe auch Heilmann Wunschzeiten 40 Würzburg 5, 7, 169, 171 Wyclifismus 405 Ybbs 166 Zensur 325, 328, 337, 375, 381–82, 387, 389, 393, 399, 401–402, 405, 472 siehe auch Vorzensur Zensurdifferenzierung 355 Zisterzienser 78, 164, 221, 256, 284, 287, 289, 302, 308, 341, 397, 421 Zitate 334 f., 345, 350 Zollschreiber 50 Zoologie 270 Zugang 45 Zusammenfassung 334 Zuspitzung 334 Zuständigkeit 385 Zweifelsfragen 398 Zwingli, Huldrych 84
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EDUCATION & SOCIETY IN THE MIDDLE AGES & RENAISSANCE ISSN 0926-6070
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