Christian Junge Sozialdemokratische Union Deutschlands?
Christian Junge
Sozialdemokratische Union Deutschlands? Die ...
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Christian Junge Sozialdemokratische Union Deutschlands?
Christian Junge
Sozialdemokratische Union Deutschlands? Die Identitätskrise deutscher Volksparteien aus Sicht ihrer Mitglieder
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Zugl. Dissertation Georg-August-Universität Göttingen (2010) Gefördert durch die Deutsche Graduiertenförderung der Konrad-Adenauer-Stiftung aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch | Priska Schorlemmer VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: STRAUSS GMBH, Mörlenbach Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-18297-1
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis ............................................................................................... 5 1
Einleitende Anmerkungen ......................................................................... 9 1.1 Kurzzusammenfassung des Vorhabens .................................................. 9 1.2 Die Themenfindung ............................................................................. 10 1.3 Vorsicht: Identität! – Notizen zu einem kontroversen Begriff ............. 13 1.4 Zum Aufbau der Arbeit ........................................................................ 16
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Konzeptionelle Vorüberlegungen und Forschungsstand ...................... 19 2.1 Identität in Organisationen ................................................................... 19 2.1.1 Organizational Identity: Interpretation einer klassischen Definition ............................................................................... 21 2.1.2 Exkurs: Ein Konzept und seine Wurzeln ............................... 24 2.1.3 Zugeschriebene Funktionen organisationaler Identität .......... 31 2.1.4 Organisationale Identität im intraorganisationalen Kommunikationszusammenhang ........................................... 33 2.1.5 Vom Elitenkonstrukt zum Ordnungsschema: Tendenzen in der empirischen Forschung .................................................... 38 2.2 Diffusion organisationaler Identität in politischen Parteien? ............... 42 2.2.1 Zur möglichen Wichtigkeit organisationaler Identität für Mitgliederparteien .................................................................. 43 2.2.2 Exkurs: Sozialdemokratische Union Deutschlands? Die Perspektive der Medien .......................................................... 45 2.2.3 Identitätsdiffusion und Mitgliederkrise .................................. 50 2.3 Einordnung des Vorhabens in den Kontext der Parteienforschung ...... 53 2.3.1 Identität als Metapher in der Parteienforschung..................... 56 2.3.2 Party-Images – Erscheinungsbilder der Parteien.................... 58 2.3.3 Die Diskussion um Parteienkonvergenz ................................ 59
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Inhaltsverzeichnis 2.3.4 2.3.5 2.3.6 2.3.7 2.3.8
Parteien-Identifikation: Emotionale Verbindungen mit der Partei ...................................................................................... 64 Engagement: Handeln in und für die Partei ........................... 66 Parteienbild, Parteienbindung und Engagement im Fokus der empirischen Mitgliederstudien ......................................... 69 Lücken und Perspektiven – ein Zwischenfazit ....................... 74 Exkurs: Zur Relevanz von Mitgliederbindung und – partizipation für politische Parteien ....................................... 78
2.4 Rekapitulation der Problemstellung ..................................................... 80 3
Das Research-Design................................................................................ 85 3.1 Erkenntnisinteresse und forschungslogische Ausrichtung ................... 86 3.2 Die Methode der Datenerhebung ......................................................... 90 3.3 Triangulation bei den Methoden der Datenauswertung ....................... 95 3.3.1 Kategorielle Inhaltsanalyse .................................................... 96 3.3.2 Die sequenzielle Analyse ....................................................... 99 3.3.3 Ein wichtiger Zwischenschritt: Fall-Isolierung durch Typenbildung ....................................................................... 101 3.3.4 Zusammenfassung des methodischen Ansatzes ................... 105 3.4 Das qualitative Sampling ................................................................... 106 3.5 Feldzugang, Interviewdurchführung und Transkription..................... 108
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung ......................................... 111 4.1 Diffusion organisationaler Identität – Phänomenologie eines Unbehagens ........................................................................................ 111 4.1.1 Widersprüche im Bild von der eigenen Partei...................... 115 4.1.2 Parteienkonvergenz: Die Erosion der Unterschiede ............. 134 4.1.3 Wenn der Kern verloren geht – Zentralität als Problem....... 149 4.1.4 Ohne „roten Faden“ – schwierige Kontinuität ..................... 155 4.2 Exkurs: Narrative Bewältigung von Identitätsdiffusion ..................... 166 4.3 Exkurs: Voraussetzungen für erfolgreiche Identitätskonstruktionen . 171 4.4 Identitätsdiffusion, Identifikation und Engagement ........................... 175 4.4.1 Die Isolierung relevanter Einzelfälle durch empirisch begründete Typenbildung..................................................... 175 4.4.2 Der Fall Brehmer: „Man hat sich geärgert. Aber irgendwo, da musst du wieder“ ............................................................. 186
Inhaltsverzeichnis 4.4.3 4.4.4
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Der Fall Rohland: „Ich bin vielleicht auch zu naiv an die Sache rangegangen“ ............................................................. 206 Die Rückkehr der klassischen Faktoren – Bilanz der Einzelfallanalysen ................................................................ 224
4.5 Exkurs: Zur Relevanz innerer Ordnungsvorstellungen ...................... 227 5
Fazit, Ausblick und persönliches Resümee .......................................... 239 5.1 Zusammenfassung der wichtigsten empirischen Ergebnisse.............. 240 5.2 Interpretation der Resultate aus der empirischen Feldforschung ....... 243 5.2.1 Zur Dominanz von Konvergenz und Inkohärenz ................. 243 5.3 Beiträge zur Forschung ...................................................................... 247 5.3.1 Eine erweiterte Perspektive auf das Phänomen Parteienkonvergenz .............................................................. 248 5.3.2 Eine neue Sicht auf die Vorbedingungen von ParteiIdentifikation ........................................................................ 249 5.3.3 Ein anderer Blick auf Voraussetzungen von ParteiEngagement.......................................................................... 249 5.3.4 Beiträge zur organisationswissenschaftlichen Identitätsforschung ............................................................... 250 5.4 Anknüpfungspunkte für weitere Forschungsprojekte ........................ 252 5.4.1 Konvergenz als Wahrnehmungsproblem von Menschen ..... 254 5.4.2 Parteienkonvergenz aus neo-institutionalistischem Blickwinkel .......................................................................... 254 5.4.3 Parteiprogramme und organisationale Identität ................... 255 5.4.4 Die Rolle schematischer Vorstellungen bei parteipolitischer Aktivität ............................................................................... 257 5.4.5 Klarheit organisationaler Identität – Skizze eines quantitativen Designs ........................................................... 258 5.5 Können Parteien Diffusion organisationaler Identität bekämpfen?.... 263 5.5.1 Unterscheidung als kostenintensive Strategie ...................... 263 5.5.2 Institutionelle Rahmenbedingungen als Konvergenzfördernde Faktoren ............................................................... 266 5.5.3 Unterscheidbarkeit durch stärkere Personalisierung? .......... 269 5.5.4 Unterscheidbarkeit durch interne Kommunikation und Fortbildung ........................................................................... 271 5.5.5 Grenzen strategischer Identitätsarbeit .................................. 274 5.5.6 Identität ist wichtig – aber andere Faktoren sind es auch ..... 277
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Inhaltsverzeichnis 5.6 Sozialforschung zwischen Theorie und Praxis – ein persönlicher Rückblick ........................................................................................... 281 5.7 Danksagung........................................................................................ 283
Literaturverzeichnis ....................................................................................... 287
Kurzzusammenfassung des Vorhabens
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1 Einleitende Anmerkungen
1.1 Kurzzusammenfassung des Vorhabens Politische Parteien sind als „fortschrittlichste Organisationsform politischer Willensbildung“ bezeichnet worden (Veen 1999). Gerade in Deutschland erweisen sie sich immerhin noch als recht effektive Problemlösungsagenturen in der staatlichen Sphäre. Gleichwohl wurden Parteien stets von Kassandrarufen des Niedergangs und der Krise begleitet (Daalder 2002). Wirft man dieser Tage einen Blick in die einschlägigen politischen Magazine und Tageszeitungen, so kann man den Eindruck gewinnen, dass die Parteien nach verschiedenen Legitimitäts- und Mitgliederkrisen nun auch noch von einer Identitätskrise heimgesucht werden. Mag man auch voreiligen Krisenbefunden zu Recht skeptisch gegenüberstehen, so nimmt die Diagnose von der Identitätskrise der Parteien in der Regel doch auf ein komplexes Vermittlungsdefizit Bezug, von dem sich viele Menschen in Deutschland angesprochen fühlen dürften. Schon seit längerer Zeit wird gerade den großen Parteien hierzulande vorgeworfen, nur unzureichend ein einigermaßen widerspruchsfreies und wiedererkennbares Erscheinungsbild zu vermitteln, in dem deutlich Kerninhalte und Alleinstellungsmerkmale zum Ausdruck kommen. Zusammenfassend drückt das Martin Bell (2008) in der Marketingfachzeitschrift Werben und Verkaufen so aus: „Als Politikmarken unterscheiden sich etablierte Parteien hierzulande kaum noch. Das Bild, das sie als Marken abgeben, zeigt sich verwaschen, verfärbt und weichgespült“. Besonders die Vermittlung von Unterschieden scheint die Parteien heute vor Probleme zu stellen. Längst gehört es zu den Gemeinplätzen, dass gerade in Deutschland „überall die gleichen Parteien antreten“, so wie es Stefan Schmitz (2008) im Nachrichtenmagazin Der Stern formulierte. Auch die sozial- wie wirtschaftswissenschaftlich orientierte Organisationsforschung adressiert Fragen der Unterscheidbarkeit, der Kerneigenschaften und Konstanten von Organisationen. Das Konstrukt der organisationalen Identität bezeichnet in dieser Disziplin die zentralen, unterscheidenden und über die Zeit gleichbleibenden Eigenschaften einer Organisation aus der Sicht ihrer Mitglieder. Organisationswissenschaftler haben sich in den letzten Jahren nicht nur der theoretischen Ausarbeitung dieses Konzeptes gewidmet. Sie konnten einerseits C. Junge, Sozialdemokratische Union Deutschlands?, DOI 10.1007/978-3-531-93496-9_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Einleitende Anmerkungen
empirisch aufzeigen, dass es sich bei organisationaler Identität weniger um ein inhaltlich fixiertes Vorstellungsbild, denn um das fragile Konstrukt einer Ordnung handelt, das auch zum Problem werden kann – etwa dann, wenn die Organisation selbst widersprüchliche organisationale Selbstdarstellungen nach innen kommuniziert. Anderseits zeigen jüngste Forschungsarbeiten, dass ein diffuses Bild von der eigenen Organisation negative Effekte auf die Mitgliederidentifikation haben kann. Dieses von der Organisationsforschung beschriebene Vermittlungsdefizit zwischen der „Makroebene“ der organisationalen Führung und den von ihnen koordinierten organisationalen Selbstbeschreibungen und einer „Mikroebene“ der einfachen Mitglieder ist in der Parteienforschung kaum in Angriff genommen worden. Zwar erfährt die Identitätsdimension der Unterscheidbarkeit seit längerer Zeit eine gewisse Aufmerksamkeit durch die Parteienforscher. Im Streit um Polarisierung und Konvergenz (etwa in Parteiprogrammen) wird aber vergessen zu fragen, ob sich diese Phänomene auch und gerade in der Wahrnehmung der Mitglieder niederschlagen. Das heißt, ob – aus Sicht der Aktivitas – neben der Dimension der Unterscheidbarkeit noch andere Identitätsdimensionen „problematisch“ sein können, und ob damit (negative) Auswirkungen – z. B. auf das Gefühl der Verbundenheit mit der eigenen Partei – verknüpft sind. So interessiert sich das hier vorgestellte Projekt im Rahmen eines qualitativen Research Designs grundsätzlich für das Bild, das sich die Mitglieder der Parteien CDU und SPD von ihrer Organisation machen. Dabei sind zwei Fragen von zentraler Bedeutung. Erstens fragt das Projekt danach, ob die Mitglieder der beiden mitgliederstärksten Volksparteien (heute noch) in der Lage sind, problemlos zu benennen, was die eigene Partei im Kern ausmacht, wie und wodurch sich die eigene Partei von vergleichbaren anderen Parteien unterscheidet und was im Laufe der Zeit an der eigenen Partei gleich geblieben ist. Zweitens interessiert, welche (negativen) Konsequenzen es hinsichtlich des Mitgliederengagements und der Identifikation mit der Partei hat, wenn diese Angaben nur noch unter Schwierigkeiten oder gar nicht mehr möglich sind.1 1.2 Die Themenfindung Die Idee, Parteien aus einer Identitätsperspektive heraus zu betrachten, lässt sich bis zu meiner Magisterarbeit zurück verfolgen, die ich im Jahr 2002 an der Phi1 Ein Werkstattbericht, der einige theoretische Grundannahmen und erste empirische Ergebnisse des hier vorgestellten Forschungsprojektes aufgreift, wurde 2009 im Sammelband „Zukunft der Mitgliederpartei“ veröffentlicht, der von Uwe Jun, Oskar Niedermayer und Elmar Wiesendahl herausgegeben wurde und im Verlag Barbara Budrich erschienen ist.
Die Themenfindung
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lipps-Universität Marburg eingereicht hatte. Darin beschäftigte ich mich allerdings mit der Identität von Individuen. Im Detail ging es mir um die Fragestellung, ob die Kategorie „Raum“ bei der Konstruktion von Ich-Identität in unseren Zeiten der translokalen Lebensvollzüge und räumlichen Mobilitätsimperative noch eine Rolle spielen kann. Das Feld der sozialwissenschaftlichen Identitätstheorie hatte ich als nicht immer leicht zugängliches, ja gelegentlich hermetisch anmutendes, wenngleich doch faszinierendes Terrain kennengelernt, dem ich auch nach meinem ersten Examen weiterhin wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteilwerden lassen wollte. Allerdings beabsichtigte ich, auf eine „höhere“ analytische Ebene zu springen. In Zukunft sollte es weniger um die Identität von Individuen gehen, sondern um die Identität von Kollektiven. Gleichsam fehlte mir noch ein konkreter Bezugsgegenstand, der aber nach ersten beruflichen Tätigkeiten im Deutschen Bundestag sowie im Bereich politisches Marketing und Public Affairs schnell gefunden war: Es sollte um Parteien gehen. In meiner Arbeit für eine PublicAffairs-Agentur lernte ich viel darüber, wie die strategische Gestaltung einer „geordneten“ Außendarstellung politischer Institutionen funktioniert. Während der Arbeit in einem Abgeordnetenbüro des Deutschen Bundestages musste ich wiederum erfahren, dass diese „Identitätsarbeit“ in Bezug auf politische Parteien nicht immer erfolgreich war. Ich las immer wieder Bürgerbriefe, in denen sich die Verfasser über die Verschwommenheit des Erscheinungsbilds der eigenen Partei beschwerten. Gerade die SPD hatte es zu Beginn des Jahres 2004 nicht leicht. Die „Agenda-Politik“ der Regierung Schröder löste in vielen Teilen der Bevölkerung Unmut aus. Auch innerhalb der Organisation brachen Konflikte aus. Es dauerte nicht lange, bis im Fernsehen erste Berichte zu sehen waren, in denen enttäuschte SPD-Mitglieder wutentbrannt ihr Parteibuch an das Willy-Brandt-Haus zurückschickten. Immer öfter nahm die Berichterstattung dabei auf das Erscheinungsbild der Partei Bezug und der Begriff der „Identitätskrise“ stand im Raum. Das lies mich aufhorchen. „Zündend“ waren die Beiträge von zwei Parteienforschern, Franz Walter und Elmar Wiesendahl, die ich, eher zufällig, innerhalb einer Woche gelesen hatte. Walter (2004) schrieb im Berliner Tagesspiegel, dass den Parteien im Allgemeinen, der SPD im Besonderen, die „Idee von sich selbst“ abhanden gekommen sei. Nach Wiesendahl (2000) befanden sich die großen Volksparteien in einem Zustand fortgeschrittener „Identitätsauflösung“, aus der es im Übrigen auch kein Entrinnen gäbe. Offenbar „besaßen“ also nicht nur Individuen Identität, auch kollektiven Gebilden wie politischen Parteien schrieb man diese selbstverständlich zu. Zudem war jene Identität von Parteien in irgendeinem Sinne erodiert, bedroht, verloren. Was aber genau hatte man sich überhaupt unter der Identität von Parteien
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Einleitende Anmerkungen
vorzustellen? Konnten, durften Parteien überhaupt eine solche „haben“? Wurde die sozialwissenschaftliche Nutzung des Identitätsbegriffes in Bezug auf Individuen noch weitgehend problemlos gehandhabt (oder zumindest einigermaßen geduldet), so scheiden sich in der Anwendung des Identitätsbegriffes auf suprapersonale Sujets immer noch die Geister, wie in der Polemik von Wolf-Dieter Narr (1999: 119) anklingt: Der Ausdruck Identität (...) mag im Umkreis von Personen gerade noch angehen, wenngleich ich starke Gegenanzeigen vorweisen zu können vermeine (…) Um es klipp und klar zu sagen, ausnahmsweise ohne die fast immer beachtlichen Ambivalenzen und losen Argumentationsfäden einzuräumen: Wer von kollektiver Identität redet, der oder die tut es in einer Weise ahnungslos, das solche Naivität am Ende dieses unsäglichen Saeculums, gezählt als das 20ste, nicht mehr akzeptabel ist.
Die vor diesem Zitat genannten Fragen beschreiben die Koordinaten jenes Arbeitsfeldes, dem ich mich gerade in den ersten 12 Monaten des Projektes hauptsächlich widmete. Als Nebenfachpolitikwissenschaftler musste ich mir ferner wesentliche Sparten der Parteienforschung neu aneignen. Parteien mögen als Forschungsgegenstand weniger kontrovers erscheinen; dennoch steht der Umfang der Parteienforschungsliteratur dem des sozialwissenschaftlichen Identitätsdiskurses kaum nach. Der Einstieg in das Feld der Parteienforschung wurde von einem dezenten Gefühl des Unbehagens begleitet, das mich bis zum Abschluss der Arbeit nicht ganz verlassen sollte. Konnte man dem Forschungsgegenstand Partei ohne jahrelange theoretische Vorabexegese, vielfältige empirische Projekterfahrung und umfassendstes Kontextstudium überhaupt gerecht werden? Eine anspruchsvolle Arbeit über die CSU setzt intime Kenntnisse der regionalen historischpolitischen und religiösen Traditionen in Bayern, der spezifischen politischen Kultur und der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Bayerns voraus (...) CSU-Analyse bedeutet daher nicht weniger als die Untersuchung des politischen Systems vor dem Hintergrund der Industrialisierung, Modernisierung und des sozialen Wandels in Bayern,
schrieben Oskar Niedermayer und Richard Stöss (1993: 16). Mir wurde klar, dass die Arbeit ohne einen gewissen „Mut zur Lücke“, auch bei der Einarbeitung in das Feld der Parteienforschung, zu einer unendlichen Geschichte werden würde. Denn auch andere wissenschaftliche Teilfelder wurden durch das Erkenntnisinteresse adressiert und mussten behandelt werden. Ich beschäftigte mich mit Institutionen- und Organisationstheorie, las Arbeiten zum sozialwissenschaftlich fundierten Konstruktivismus und manchen Aufsatz aus dem Bereich politische Kommunikation und Marketing.
Vorsicht: Identität! – Notizen zu einem kontroversen Begriff
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1.3 Vorsicht: Identität! – Notizen zu einem kontroversen Begriff Wer sich in wissenschaftlicher Einstellung zum ersten Mal mit dem Begriff Identität beschäftigt, dem mag es noch befremdlich vorkommen, dass ihm beinahe von jedem Aufsatz, von jeder Monografie zuallererst Warnungen entgegentreten. Warnungen vor der Komplexität des Themas, Warnungen vor der Begrenztheit des eigenen Vorhabens angesichts einer überwältigenden konzeptionellen Vielfalt. Schnell entsteht der Eindruck, dass es in den Kultur- und Sozialwissenschaften keinen zweiten Begriff gibt, um dessen Bedeutung in solch verbissener Art und Weise gerungen wird, ohne das wohl auch in Zukunft je eine auch nur annähernd geteilte Definition zu erreichen ist. Was Augustinus einst in seinen Confessiones über die Zeit sagte, gilt heute für den Begriff der Identität.2 Umgehend weicht der Alltagsverstand, jene trügerische Sicherheit, man wisse schon, worum es gehe, solange man nicht dezidiert gefragt wird, nach dem Eintritt in die „Kampfstätte“ des Identitätsdiskurses (Keupp et al. 1999) schnell einem hartnäckigen Gefühl der Unsicherheit, dass mit der Zeit nicht besser, sondern nur schlimmer zu werden scheint. Verwunderlich ist dieser Umstand auf den zweiten Blick kaum. Identität ist ein Thema, schon immer, immer noch, gerade wieder – in der Philosophie, in der Mathematik, in der Psychologie, in der Biologie, in der Soziologie, in der Politikwissenschaft, in der Kulturwissenschaft, in der Geografie, in der Betriebswirtschaft, um nur einige wenige aus jener Reihe an Disziplinen zu benennen, die am Identitätsdiskurs partizipieren. Innerhalb dieser Disziplinen geht der Diskurs zum Teil, wie dies Hartmut Böhme (1996) am Beispiel der Philosophie gezeigt hat, bis in die Antike zurück. Unterdessen penetrieren die Vorstellungen, was unter Identität zu verstehen sei, die Fachgrenzen, z. B. zwischen Philosophie und Mathematik, oder zwischen Psychologie, Soziologie und Kulturwissenschaften. Zudem herrscht auch innerhalb einer Disziplin kaum Einigkeit darüber, was denn unter Identität nun zu verstehen sei und Identität wird auch innerhalb einer bestimmten Disziplin auf unterschiedlichen Ebenen in unterschiedlichen Zusammenhängen angewendet. It might be frustrating (…) trying to understand „what is identity“ anyway? (…) Confusion in identity research often comes from having same terms (…) refer to different conceptual objects. We believe that this conceptual confusion may potentially limit the growth and development of this perspective.
2 „Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich‘s, will ich‘s aber einem Fragenden erklären, weiß ich's nicht“.
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Einleitende Anmerkungen
Die Ursachen für dieses Problem habe ich weiter oben zu beschreiben versucht. Was aber ist aus diesen Umständen zu folgern? Teile der Scientific Community betreiben mittlerweile die Verbannung des Identitätsbegriffes von der Agenda wissenschaftlich legitimer Begriffe, da der Begriff kaum konzeptionell gebändigt und somit auch nicht für eine empirische Untersuchung zugänglich gemacht werden könne (Brubaker/Cooper 2000). Überlagert wird diese analytische Kritik des Identitätsbegriffes ohnehin von einer eher normativ fundierten, ebenso vehement geführten Identitätskritik, in der weniger heuristische denn moralische Bedenken gegenüber dem Identitätsbegriff und seinem politisch-gesellschaftlichen Missbrauch gerade im 20. Jahrhundert zum Ausdruck kommen (z. B. bei Niethammer 2000). Während man sich einer normativ fundierten Identitätskritik aus meiner Sicht durchaus stellen kann, lässt sich die logisch-analytische Kritik am Identitätsbegriff, wie sie unter anderem Rogers Brubaker und Frederick Cooper detailliert (und oft auch treffend) formuliert haben, nicht ohne Weiteres beiseiteschieben. Davon abgesehen, dass es, wie im Fall des Bandes von Rolf Eickelpasch und Claudia Rademacher (2004), ganze Monografien über Identität gibt, die ohne eine einzige Definition ihres Gegenstandes auskommen, bedarf es bis heute einiger Anstrengungen, um aus der überwältigenden Heterogenität der vielen Ansätze und Perspektiven auch nur einen ungefähren gemeinsamen Nenner zu destillieren. Über der berechtigten Kritik an den Unzulänglichkeiten des Identitätsbegriffes wird aber eines vergessen: Begriffe sind nicht nur Zweck, sondern auch Mittel. Auch ein schwieriger Begriff kann neue Perspektiven auf einen Forschungsbereich ermöglichen. Sicher wird auch kein Organisationstheoretiker behaupten, eine unangreifbare Definition von „organisationaler Identität“ entwickelt zu haben. Aber das ist vielleicht auch nicht das Entscheidende. Unter Verwendung des Begriffes organisationale Identität haben Wissenschaftler vielversprechende Erkenntnisse zutage gefördert, die durch die Nutzung einer im Detail möglicherweise schwierigen Semantik der Leitbegriffe nicht weniger vielversprechend sind. Jüngere empirische Analysen in diesem Unterfeld der Organisationsforschung konnten z. B. verdeutlichen, dass die Bindung eines Menschen an eine Organisation, in der er oder sie Mitglied ist, nicht ausschließlich mit Verdienstmöglichkeiten, Aufstiegschancen, Betriebsklima oder dem Ausmaß sozialer Integration zusammenhängt, sondern auch an der Klarheit des Erscheinungsbildes. Je deutlicher etwa die Unterschiede zu anderen Organisationen scheinen, je stimmiger das Erscheinungsbild in sich ist, desto enger wird anscheinend die Bindung an die Organisation und vermittelt auch die Bereitschaft zur intraorganisationalen Kooperation. Im Umkehrschluss legt dies auch Folgendes nahe: Kann eine Organisation nicht mehr kommunizieren, was sie im Kern aus-
Vorsicht: Identität! – Notizen zu einem kontroversen Begriff
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macht, wo sie sich von anderen unterscheidet, was sie im Laufe der Zeit auszeichnet, oder gelingt es ihr nicht, Widersprüche in Bezug auf das eigene Erscheinungsbild aufzulösen, dann lockert sich das gefühlte Band zwischen Organisation und Mitglied. Zweifellos war dies aus meiner Sicht eine attraktive Perspektive, gerade für den Organisationstypus der politischen Partei. Nicht nur, dass ein Faktor wie das Erscheinungsbild gerade für Mitglieder politischer Parteien in Abwesenheit materieller Sicherstellungen von Partizipation Relevanz hinsichtlich der Mitgliederintegration haben kann, so erscheint dieses Erscheinungsbild auch besonders problematisch, zumindest bei den deutschen Großparteien CDU und SPD. Die Parteienforschung beschäftigt sich exempli causa schon längere Zeit mit der Frage, ob sich Parteien annähern. Ein Literatur-Review ergab aber, dass die Parteienforschung trotz ihrer einmaligen Bandbreite die Auswirkungen eines „erodierten“ Bildes der Partei auf Mitgliederbindung ebenso wie praktisches Engagement noch nicht richtig in den Blick genommen hatte. Damit war der Fokus gesetzt. Insgesamt interessiert sich das hier vorgestellte Projekt für das Bild, das sich die Mitglieder der Parteien CDU und SPD von ihrer Partei machen – und beginnt bei scheinbar einfachen Fragen, die von Parteimitgliedern eigentlich selbstverständlich zu bejahen sind: Sind die Mitglieder der beiden mitgliederstärksten Volksparteien (heute noch) in der Lage, problemlos zu benennen, was die eigene Partei im Kern ausmacht, wie und wodurch sich die eigene Partei von vergleichbaren anderen Parteien unterscheidet und was im Laufe der Zeit an der eigenen Partei gleich geblieben ist? Zweitens interessiert, welche Konsequenzen es hinsichtlich der emotionalen Parteienbindung und der praktischen innerparteilichen Partizipation hat, wenn diese Angaben dem Mitglied nur noch unter Schwierigkeiten oder gar nicht mehr möglich sind. Meine Recherchen ergaben, dass (1.) die Gesamtzahl empirischer Mitgliederstudien innerhalb der Parteienforschung überhaupt recht überschaubar geblieben ist, (2.) organisationale Identität oder äquivalente Konstrukte bei den Mitgliederstudien nur marginales Interesse fanden und (3.) die Folgen eines undeutlich gewordenen Erscheinungsbildes (sprich: Diffusion organisationaler Identität), z. B. auf das innerparteiliche Engagement, weitgehend unerforscht geblieben sind. Diese drei Zwischenerkenntnisse waren für mich in der Summe mit ausschlaggebend dafür, einem qualitativen Research-Design den Vorzug zu geben. Ich begann mit einer explorativen Erfassung des Erscheinungsbildes der eigenen Partei aus Sicht der Mitglieder. Dafür befragte ich insgesamt 30 Angehörige der großen Parteien. Dabei sollte vor allem nach den Bruchstellen Ausschau gehalten werden: Auf welcher inhaltlichen Ebene gibt es bei der SPD Widersprüche? Wo verschwinden die Grenzen zwischen CDU und SPD? Der
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Einleitende Anmerkungen
zweite Teil galt möglichen negativen Effekten. Hatten die Befragten das Gefühl, sich von ihrer eigenen Organisation zu entfremden? Wenn ja: war eine Diffusion des Erscheinungsbildes als (Mit)Grund aufzufassen? Hatten sich die Befragten aus der Parteiarbeit zurückgezogen? Falls ja: Welche Rolle spielte hier Diffusion organisationaler Identität? Um diese diffizilen Querverbindungen zu durchleuchten, untersuchte ich, zusammen mit anderen Interpreten, detailliert zwei ausgewählte Einzelfälle. 1.4 Zum Aufbau der Arbeit Wer Identität als Leitbegriff nutzt, kommt nicht umhin, zu sagen, was er unter Identität versteht. So beginnt auch diese Arbeit mit begrifflichen Klarstellungen zum Leitbegriff organisationale Identität. In Teil 2 der Arbeit werde ich meine Definition von organisationaler Identität vorstellen und an einigen Beispielen zeigen, wie dieses Konzept auch im weiteren sozialwissenschaftlichen Diskurs verankert ist. Es sei schon an dieser Stelle angemerkt, dass eine umfassende Diskussion von Identität nicht geleistet werden kann und auch nicht soll. Ziel der Arbeit ist nicht eine erschöpfende theoretische Exegese des Identitätsbegriffes, sondern die durchaus kritische Erläuterung eines Begriffes, der als Leitbegriff einer empirischen Analyse dient. Im weiteren Verlauf des zweiten Teils geht es um die Darstellung aktueller empirischer Forschungsschwerpunkte in der organisationswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Identität. Dabei kommt es mir letztlich vor allem darauf an, jüngere Forschungsarbeiten vorzustellen, welche die „capability“ (in Ermangelung eines passenden deutschen Begriffs) zur Konstruktion organisationaler Identität als Einflussfaktor für organisationale Identifikation untersucht haben. Im nächsten Abschnitt dieses theoretischen Teils soll gezeigt werden, warum diese Perspektive gerade im Zusammenhang mit politischen Parteien und ihren Mitgliedern Sinn machen kann. Erstens dürfte der Faktor organisationale Identität gerade bei Mitgliedern politischer Parteien wichtig sein. Zweitens ist eine Diffusion organisationaler Identität bei Mitgliedern gerade großer politischer Parteien besonders wahrscheinlich. Drittens bietet sich mit Diffusion organisationaler Identität, zumindest im Prinzip, ein neuartiger Erklärungsfaktor für die Probleme an, die Parteien heute bei der Integration ihrer Mitglieder haben. Der theoretische Teil wird abgeschlossen mit einer Diskussion des Forschungsstandes in der Parteienforschung. Es soll gezeigt werden, dass der in der Organisationsforschung hergestellte Link zwischen Organisationswahrnehmung einerseits und Identifikation bzw. Engagement andererseits in der Parteienforschung im Großen und Ganzen weder theoretisch, noch empirisch in Angriff genommen
Zum Aufbau der Arbeit
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worden ist – und dort Forschungsbedarf besteht. Der theoretische Teil schließt mit einer Präzisierung der Problemstellung und der Forschungsfragen. Teil 3 soll darstellen, wie Erkenntnisinteresse und Forschungsfragen in ein empirisches Research-Design umgewandelt wurden. Darin begründe ich zunächst, warum eine qualitative Forschungsanlage am sinnvollsten ist und auf welche Art die Methoden der Datenerhebung und Datenauswertung zum Einsatz kommen. Dieser methodische Teil der Arbeit endet mit einigen Anmerkungen zum empirischen Sample und legt nahe, auf welche Weise im vorliegenden Projekt Zugang zum Forschungsfeld der Parteimitglieder gesucht wurde. In Teil 4 geht es um die Darstellung meiner Forschungsergebnisse. Darin will ich vor allem die Antworten auf die forschungsleitenden Fragen präsentieren: Lässt sich Diffusion organisationaler Identität bei den Mitgliedern der Parteien CDU und SPD nachweisen, wenn ja: wie ist diese Diffusion organisationaler Identität inhaltlich ausgeprägt? Lassen sich auf der Ebene einzelner Fälle, wie durch die Erkenntnisse der Organisationsforschung angedeutet wird, Anhaltspunkte für negative Auswirkungen von Diffusion organisationaler Identität auf die Bindung an die Partei und ggf. sogar auf das praktische Handeln innerhalb der Partei finden? Die zweite Hälfte von Teil IV. besteht in einer ausführlichen Darstellung von zwei ausgewählten Einzelfällen. Beide Fälle eint eine ambivalente bzw. negativ ausgeprägte Identifikation mit der Partei und Probleme beim Engagement sowie deutliche Verzerrungen im Bild von der eigenen Partei. Es wird rekonstruiert, ob, und wenn ja: wie diese Diffusion organisationaler Identität für die fallspezifischen Ausprägungen von Engagement und Identifikation verantwortlich gemacht werden kann. Eingebettet in diesen empirischen Teil sind drei Exkurse.3 Erstens fiel bei der Analyse der Daten auf, dass Mitglieder versuchen, Diffusion organisationaler Identität mit erzählerischen Mitteln zu bewältigen. Diese Strategien werden in Kapitel 4.2 skizziert. Zweitens lassen sich aus dem empirischen Material heraus Voraussetzungen benennen, die eine erfolgreiche Konstruktion von organisationaler Identität befördern (Kapitel 4.3). Drittens konnten – jenseits aller Fragen von Diffusion organisationaler Identität und deren negativen Auswirkungen – Indizien dafür gewonnen werden, dass innere Ordnungsvorstellungen grundsätzlich wichtig sein können, als Voraussetzung von Identifikation und praktischem Handeln in der Partei. Darauf soll in Kapitel 4.5 zurückgekommen werden. Teil 5 beginnt mit einer Zusammenfassung und Interpretation der empirischen Ergebnisse. Auf dieser Basis versuche ich zu zeigen, wie die gewonnenen Resultate als Ergänzung und Erweiterung des bisherigen Forschungsstandes in 3 Diese Kapitel werden als deshalb als Exkurse bezeichnet, weil sie zwar einerseits im Sinne des Vorhabens interessante Ergebnisse präsentieren, diese Ergebnisse aber andererseits (streng genommen) nicht direkt im Zusammenhang mit dem vorab explizierten Erkenntnisinteresse stehen.
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Einleitende Anmerkungen
der Parteienforschung und in der sozialwissenschaftlichen Organisationsforschung gesehen werden können. Es gehört zum Wesen qualitativer Forschung, dass die explorative Forschungsanlage auch immer Erkenntnisse hervorbringt, die in der ursprünglichen Fragestellung nicht adressiert waren. Auch in dieser Arbeit sind Einsichten gewonnen worden, die so vielversprechend sind, dass sie in weiteren zukünftigen Forschungsprojekten untersucht werden könnten. Diese Erkenntnisse und mögliche Projekte werden am Ende der Arbeit skizziert. Die Studie schließt mit einem persönlichen Resümee, das sich hauptsächlich auf die Herausforderungen bei der Implementation eines qualitativen Research-Designs bezieht.
2 Konzeptionelle Vorüberlegungen und Forschungsstand
2.1 Identität in Organisationen Aufsätze, die einen theoretischen Abriss vom Identitätsdiskurs in den Sozialwissenschaften wagen, beginnen oft mit einer einfachen Unterscheidung. Differenziert wird nach Gegenständen, analytischen Bezugsebenen oder „Trägern“ von Identität. Diesen Weg wählen etwa Peter Wagner (1998) oder Helmut Schneider (2004). Demnach beschäftigen sich die Sozialwissenschaften einerseits – und dies schon seit geraumer Zeit – mit der Identität von Individuen, die dann oft als Ich-Identität oder personale Identität bezeichnet wird. Dieser Strang der Forschung gehört seit den Gründungstagen der Soziologie zu deren Inventar und ist unter anderem mit den bekannten Namen Charles Cooley, George Herbert Mead, Erving Goffman, Erik H. Erikson und Kenneth J. Gergen verbunden. In den 1990er Jahren verstärkte sich andererseits das analytische Interesse an der Identität von Kollektiven (Cerulo 1997). Von der neuen sozialen Bewegung, dem wirtschaftlichen Unternehmen und der Non-Profit-Organisation über Mischformen wie Universitäten bis hin zum Nationalstaat und sogar supranationalen Gebilden wie der Europäischen Union (Reese-Schäfer 1999b) waren und sind dies ganz unterschiedliche Kollektive. So ist folglich von der Corporate Identity, der organisationalen Identität, der nationalen oder europäischen Identität die Rede. Es gehört zu den Kalamitäten des sozialwissenschaftlichen Identitätsdiskurses, dass selbst diese basale Differenzierung nach Trägern von Identität leichter behauptet denn konzeptionell durchgehalten wird. Wenn z. B. in Ausführungen von Wissenschaftlern das Stichwort der nationalen Identität fällt, sind oft nicht nur Eigenschaften eines Kollektivs, sondern auch Elemente der Selbstbeschreibung von Individuen gemeint. Räumliche Identität (Junge 2002), um ein weiteres Beispiel zu nennen, verweist in erster Linie nicht auf Merkmale eines Raumes, sondern auf Raumbilder als Bestandteil personaler Selbstzuschreibungen. Somit steckt man mit einem Bein rasch in jener babylonischen Sprachverwirrung, von der in der Einleitung bereits die Rede gewesen ist. In der organisationswissenschaftlichen Identitätsforschung ist zumindest diese Vermischung weitgehend ausgeblieben. Zwar besteht Konsens darin, dass organisationale Identität eine
C. Junge, Sozialdemokratische Union Deutschlands?, DOI 10.1007/978-3-531-93496-9_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Konzeptionelle Vorüberlegungen und Forschungsstand
Leistung von Menschen ist. Diese Leistung bezieht sich aber auf das Erscheinungsbild der Organisation an sich und nicht auf das Selbstbild jener Menschen, die an der Konstruktion von organisationaler Identität beteiligt sind. Personale und organisationale Identität sind in diesem Sinne voneinander zu trennen. Seit rund 25 Jahren wird, hauptsächlich im Spannungsfeld von wirtschaftsund sozialwissenschaftlich geprägter Organisationsforschung, die Identität von Organisationen diskutiert. Als Oberbegriff hat sich der Terminus technicus „organizational identity“, zu Deutsch: organisationale Identität, durchgesetzt. Die Rezeption dieses Konzepts ist bis heute auf den angloamerikanischen Bereich beschränkt geblieben. Ausnahmen wie die von Annette Zimmer und Thomas Hallmann (2001) sowie David Seidl (2005) bestätigen diese Regel. Die Diskussion um eine Theorie organisationaler Identität weist viele Charakteristika auf, die auch andere Identitätsdiskurse in angrenzenden Disziplinen kennzeichnen. Obwohl es sich bei personaler und organisationaler Identität um analytisch zu differenzierende Ebenen handelt, haben Leihgaben aus (personalen) Identitätstheorien soziologischer und sozialpsychologischer Provenienz die organisationstheoretische Arbeit am Identitätsbegriff beeinflusst (vgl. auch Kapitel 2.1.2). Diese Einflüsse werden immer wieder in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen zu dann jeweils distinkten, von Aufsatz zu Aufsatz unterschiedlichen Ansätzen synthetisiert. Das einheitliche Etikett der organisationalen Identität suggeriert also auch in der Organisationsforschung ein gemeinsames, zwischen Wissenschaftlern geteiltes Verständnis des Gegenstandsbereiches, das so nicht immer gegeben ist und, wie im vorliegenden Fall, immer wieder neu erarbeitet werden muss. Dergestalt werden konzeptionelle Klarstellungen auch in dieser Disziplin oftmals von einem warnenden Unterton begleitet. „It is important to recognize that it is (…) not necessarily easy to pin down a precise definition of this rather imprecise and multifaceted notion”, merken z. B. Hamid Bouchikhi und andere (1998: 34) an, während Stuart Albert und David M. Whetten (2004: 90) in der Einleitung ihrer einflussreichen Arbeit, von der nun gleich die Rede sein wird, überhaupt davon abraten, sich mit Identität zu beschäftigen: „The issue of identity is a profound and consequential one, and at the same time, so difficult, that it is best avoided“. Freilich mangelt es, wie im vorliegenden Fall auch, nicht an Versuchen, das Gemeinsame herauszuarbeiten. Selbstverständlich wirken diese Versuche immer willkürlich, und natürlich gibt es an dieser Willkürlichkeit auch kaum ein Vorbeikommen. Nach Davide Ravasi und Johan van Rekom (2003: 119) etwa teilten an organisationaler Identität interessierte Wissenschaftler das Ziel, “understanding how individuals in organizations perceive and categorize themselves as members of a group, an organization, or a larger encompassing community“. Diese Einschätzung ist nicht gänzlich falsch, erfasst aber einen Großteil der rele-
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vanten Definitionen nur unzureichend. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels werden wir auf die Schwerpunkte der (empirischen) Erforschung von organisationaler Identität zurückkommen. Nun aber soll zunächst der Begriff organisationale Identität einer etwas eingehenderen Betrachtung unterzogen werden. 2.1.1 Organizational Identity: Interpretation einer klassischen Definition Im Gegensatz zu den entsprechenden Diskussionen in anderen Disziplinen bietet der Identitätsdiskurs in der Organisationstheorie zumindest einen bescheidenen Vorteil. Alle Arbeiten, die bis heute zum Thema vorgelegt worden sind, lassen sich – im einen Fall mehr, im anderen Fall weniger – als Auseinandersetzung mit einem Aufsatz lesen, der als Gründungsdokument einer (immer noch zu vollendenden) Theorie organisationaler Identität verstanden werden kann: „Organizational Identity“, verfasst von den Organisationstheoretikern Albert und Whetten (2004), zuerst erschienen 1985. Beide Autoren fassen organisationale Identität als von Mitgliedern einer Organisation wahrgenommene zentrale, dauerhafte und unterscheidbare Eigenschaften, oder, in den Worten der Verfasser, als „Features“ auf, that are somehow seen as the criterion of claimed central character, (…) that distinguish the organization from others with which it may be compared and (…) that exhibit some degree of sameness or continuity over time.
Wie keine andere Arbeit hat diese von Albert und Whetten vorgeschlagene Definition im Laufe der Jahre eine ganze Reihe nachfolgender Wissenschaftler in ihrem Verständnis von der Identität einer Organisation beeinflusst. Dies lässt sich an einigen späteren Definitionen ablesen. Karen Golden-Biddle und Hayagreeva Rao (2004: 315) verstehen unter organisationaler Identität analog „the shared beliefs of members about the central, enduring, and distinctive characteristics of the organization“. Für Kevin Corley (2004: 1148) wiederum ist organisationale Identität das, was „members of an organization use as a selfdefining description of their collective based on those things perceived to be most central, distinctive about their continuing existence as an organization“. Auch hier dient diese Begriffsbestimmung als Ausgangspunkt weiterer Überlegungen. „Organizational identity“ beginnt offenbar beim Erscheinungsbild, das gerade den Mitgliedern von ihrer Organisation gegenübertritt. Schaut man genauer hin, handelt es sich (in der hier vertretenen Lesart) um zwei Komponenten in Bezug auf diese Imagination. Erstens setzt sich das Bild, das sich ein Mitglied von (s)einer Organisation macht, aus Merkmalen zusammen. Bezeichnenderweise hält sich die Organisationsforschung bei der Frage, was denn diese
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Features genau sein können, merklich zurück. Sie steht mit diesem Schweigen aber auch in einer Tradition des sozialwissenschaftlichen Identitätsdiskurses, worauf zurückzukommen ist. Wichtiger noch scheint zweitens, dass organisationale Identität weder auf diese einzelnen „Merkmale“ noch auf deren bloße Summe abzielt. Wie auch Charles Tilly (2002, 2003) deutlich gemacht hat, kann Identität (auf personaler wie kollektiver Ebene) grundsätzlich als eine bestimmte Anordnung, ein spezifisches Arrangement, als Beziehung – letztlich eine Struktur – von oder zwischen Merkmalen interpretiert werden. Zwischen beiden Grundelementen von organisationaler Identität besteht ein fundamentaler, reziproker Zusammenhang. Strukturen und Beziehungen können nicht einfach so existieren. Sie sind nur in Bezug auf Merkmale, Identitätsbausteine – eine inhaltliche Bezugsebene (im Erscheinungsbild der Organisation) denkbar. Dimensionen
Ordnungsprinzipien
Zentralität
Merkmal „a“ (Organisation a) > Merkmal „b“ (Organisation a)
Unterscheidbarkeit
Merkmal „a“ (Organisation a) Merkmal „a“ (Organisation b)
Kontinuität
Merkmal „a“ (Organisation a) Zeitpunkt t1 | Merkmal „a“ (Organisation a) Zeitpunkt t2
Kohärenz
Merkmal „a“ (Organisation a) | Merkmal „b“ (Organisation a)
Tabelle 1: Dimensionen organisationaler Identität
Im Licht dieser Perspektive kann man aus der Definition von Albert und Whetten zunächst drei unterschiedliche, durchaus eigenständige Ordnungs- oder Beziehungsprinzipien ableiten: Kontinuität, Zentralität und Unterscheidbarkeit. Das Prinzip der Kontinuität („sameness over time“) referiert auf die Beschaffenheit eines Merkmals (einer Organisation) über einen zeitlichen Verlauf hinweg. Es präsupponiert, dass Merkmale im Laufe eines Zeitabschnittes in ihrer Gestalt und in ihrem Bedeutungsgehalt gleich und damit wiedererkennbar bleiben. Zentralität („claimed central character“) bezeichnet ein weiteres Ordnungsprinzip, in dem zwischen wichtig und unwichtig unterschieden, eine Beziehung zwischen zentralen und weniger zentralen Merkmalen formuliert wird. Hier geht es um eine Hierarchie. Distinktivität („distinguish from others“) schließlich ist ein dritter sinnhafter Strukturzusammenhang, der auf Unterschiede verweist, zwischen vergleichbaren Merkmalen der eigenen und denen signifikanter anderer Organisationen. Obwohl es in der Definition von Albert und Whetten keine Rolle spielt,
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wird Kohärenz später von anderen Autoren als viertes Identitätsprinzip herangezogen und soll daher auch in das an diesem Ort geschilderte Konzept integriert werden. Hier geht es um das Verhältnis der Widerspruchslosigkeit und Stimmigkeit von Merkmalen im Bild eines Mitgliedes von der eigenen Organisation. Organisationale Identität als Verbund dieser Sinnstrukturen wird schließlich in einem konstruktiv-kognitiven Prozess von Menschen – die Organisationsforschung betont hier in erster Linie Mitglieder einer Organisation – immer wieder aufs Neue hervorgebracht. Diese Lesart von organisationaler Identität weist zweifellos eine Nähe zum Konzept des Deutungsmusters auf, dass in der Wissenssoziologie genutzt wird. Anschlussfähig ist organisationale Identität in der hier verwendeten Interpretation auch an das Konzept des Schemas, welches vor allem in der Psychologie Verwendung findet. Schemen werden gemeinhin verstanden als innere Ordnungsvorstellungen, kognitive Strukturen respektive Cluster von Wissen über Objekte, Menschen und Situationen einschließlich des Wissens über Eigenschaften und Beziehungen zwischen diesen Attributen (vgl. Wiswede 2004: 473). Der Verweis auf die Konstruiertheit organisationaler Identität fehlt in nahezu keinem der für dieses Projekt zurate gezogenen Texte. Was aber oft fehlt, ist eine genauere Beschreibung dessen, was unter dieser Konstruiertheit eigentlich genau zu verstehen ist. Eine elaborierte Verortung des Begriffes organisationale Identität im weiten Spektrum des erkenntnistheoretisch-philosophischen, (sozial)psychologischen und soziologischen Konstruktivismus steht (aus Sicht des Verfassers) immer noch aus. Organisationale Identität kann als Schema aufgefasst werden, dass gleichsam Resultat kognitiver Prozesse (z. B. des Lernens und Systematisierens) durch ein individuelles Bewusstsein ist. Dieses Verständnis erweist sich durchaus als kompatibel mit einer Prämisse des radikalen, kognitionstheoretisch fundierten Konstruktivismus (etwa in der Tradition Ernst von Glasersfelds), nach der individuelles Wissen kein Abbild einer dem individuellen Bewusstsein externen Wirklichkeit ist, sondern immer hervorgebracht, in diesem Sinn: konstruiert werden muss. Bei einer ausschließlich auf individuale Bewusstseinsprozesse fokussierten Lesart organisationaler Identität besteht aber erstens die Gefahr einer Überbetonung kognitiver Autonomie und der Geschlossenheit von Bewusstseinsprozessen. Zweitens fehlt dieser Perspektive die Sensibilität für die Tatsache, dass es in Organisationen z. B. soziale Vorgänge gibt, die darauf abzielen, individuelle Wissensbestände – in denen auch organisationale Identität abgelagert ist – zu beeinflussen oder zumindest beabsichtigen, individuellen Konstruktionen organisationaler Identität allgemein zugängliche und gültige Orientierungsmuster zur Verfügung zu stellen. Diese Prozesse und die damit verbundenen Methoden wiederum lassen sich (wie noch zu zeigen ist) eher mit dem Begriffsinventar des
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sozialen Konstruktivismus greifen, so wie er von Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1987) angelegt wurde und in der Ethnomethodologie sowie in der hermeneutischen Wissenssoziologie weiter fortgeführt wird. Aus der hier vertretenen Sicht muss zwischen beiden Spielarten des Konstruktivismus (KnorrCetina 1989) kein unüberwindbarer Widerspruch bestehen. So ist organisationale Identität als innere Ordnungsvorstellung keine independente „organisationale Prädisposition“, sondern zugleich (fragiler) Prozess und (immer vorläufiges) Ergebnis des Denkens, Handelns und Fühlens jener Menschen, die mit einer Organisation zu tun haben (Hatch/Schultz 2004). An diesem Punkt zeigen sich übrigens Unterschiede zu Konzepten der Corporate Identity und der kollektiven Identität. Das Konzept der Corporate Identity wird im Bereich Wirtschaftswissenschaft und Marketing genutzt und bezieht sich dort auf die grafisch-visuelle Außendarstellung eines Unternehmens (Balmer/Wilson 1998). Davon zu unterscheiden ist wiederum das Konzept der kollektiven Identität, das heute vor allem in der Soziologie und Politikwissenschaft präsent ist. Hier hat Identität schon wieder einen ganz anderen Bedeutungsgehalt (dazu auch Reese-Schäfer 1999a: 16f.). In der Regel sprechen Autoren von kollektiver Identität, wenn als real empfundene Ähnlichkeiten unter den Mitgliedern einer Gemeinschaft oder eines Kollektives gemeint sind (z. B. Eisenstadt/Giesen 1995). Oft wurde der Begriff kollektive Identität auf die klassischen Arbeiten von Emile Durkheim und Max Weber („Gemeinschaftsglaube“) zurückgeführt. Meist aber geht es um eine näher zu spezifizierende Gemeinsamkeit zwischen Einzelnen (so auch bei Assmann 1992). Freilich gibt es auch hier definitorische Abweichungen. Andreas Reckwitz (2001: 23) etwa fasst kollektive Identität als „Form des Selbstverstehens“ auf, „in dem sich der Einzelne als Teil eines Kollektives definiert“. Wie dem auch sei, geht es weder bei Corporate Identity noch bei kollektiver Identität um internalisierte Strukturen in Bezug auf das Erscheinungsbild eines Kollektivs. 2.1.2 Exkurs: Ein Konzept und seine Wurzeln „Angesichts der unübersehbaren Fülle von Literatur zu diesem teilweise sehr kontrovers abgehandelten Thema ist es unmöglich, hier eine eingehendere theoretische Diskussion auch nur der wichtigsten Identitätstheorien zu entfalten“, schreiben Ruth Wodak und andere (1998: 47) in den Vorbemerkungen ihrer empirischen Studie zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität. Diese Position selbst verordneter theoretischer Enthaltsamkeit wirkt auf den ersten Blick missverständlich, erweist sich aber gerade bei empirischen Studien als angebracht und sollte daher nicht als analytische Nachlässigkeit gelesen werden.
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Angesichts der bereits mehrfach beschriebenen Komplexität des Themenbereiches besteht die Gefahr, sich in theoretischen Argumentationsschleifen zu verlieren. Dabei gerät der Zweck einer theoretischen Begriffsbestimmung im Rahmen einer empirischen Arbeit aus dem Blick. Dieser geht es weniger um eine erschöpfende Begriffsgeschichte denn um eine begriffliche Bestimmung jenes theoretischen Konzeptes, welches seinerseits als Orientierung bei der empirischen Forschung dient. Dennoch soll in diesem Abschnitt in der gebotenen Kürze skizziert werden, wie sich das Konzept organisationaler Identität in den weiteren Kontext des sozialwissenschaftlichen Identitätsdiskurses einordnen lässt. Denn auch organisationale Identität als Konzept ist nicht voraussetzungslos, sondern weist, wie u. a. Dennis Gioia (1998) beschrieben hat, durchaus einige Parallelen zum Theorem der personalen Identität auf, auch wenn beide Konzepte grundsätzlich als getrennt voneinander zu sehen sind. Deutlich wird die Verankerung von organisationaler Identität im sozialwissenschaftlichen Diskurs nicht nur, aber vor allem in den Annahmen vom Primat der Struktur, der Konstruiertheit von Identität und der Zuweisung von Funktionen.4 Auch wenn, wie Walter Reese-Schäfer (1999a: 15) zu Recht anmerkt, philosophische und sozialwissenschaftliche Identitätsbegrifflichkeiten nach Möglichkeit getrennt betrachtet werden sollten, so geht das Begriffsverständnis aus der Philosophie, wenngleich „vermittelt“ (Reckwitz 2001: 22), wohl doch in das gegenwärtige Verständnis von Identität mit ein. Dieser Zusammenhang wird an der Identitätsdimension „Kontinuität“ recht gut deutlich. Wie Hartmut Böhme (1996: 324ff.) dargestellt hat, lässt sich das Problem von Identität als Aufgabe eines Individuums, im zeitlichen Verlauf dasselbe zu bleiben, bis zum Symposion Platons zurückverfolgen. Die Denkfigur von Identität als Kontinuität kehrt in der modernen Vorstellung personaler Identität eines Erik H. Erikson (1973) wieder. Nach Jürgen Straub (1998: 75; Hervorhebung durch den Verfasser) legt Erikson nahe, „personale Identität als jene Einheit und Nämlichkeit einer Person aufzufassen, welche auf aktive, psychische Synthetisierungs- oder Integrationsleistungen zurückzuführen ist, durch die sich die betreffende Person der Kontinuität und Kohärenz ihrer Lebenspraxis zu vergewissern sucht“. Von dort hat das Prinzip der Kontinuität ganz offensichtlich in die Idee organisationaler Identität Eingang gefunden, wobei freilich das Gleichbleiben (der Merkmale) einer Organisation, und nicht einer Person gemeint ist. Kontinuität als Beziehung zwischen zwei Merkmalen in einem zeitlichen Kontinuum dient als Beispiel für die insgesamt struktural-relationale Schlagseite von Identität (auch Wodak et al. 1998). Wirft man einen Blick auf den Identi4 Auch die Prinzipien der Selbst- und Fremdzuschreibung sowie das Prinzip der narrativen Konstruktion von Identität wurden auf der Ebene personaler Identität diskutiert und haben (später) auch Eingang in den organisationswissenschaftlichen Identitätsdiskurs gefunden.
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tätsdiskurs in den Sozialwissenschaften, so entsteht der Eindruck, dass diese abstrakte Ebene strukturaler oder relationaler Prinzipien immer Priorität genossen hat. Auf dem analytischen Level von personaler Identität ist dies von Straub (1998: 88ff.) veranschaulicht worden. Identität ist als theoretische Kategorie – im Pragmatismus, im symbolischen Interaktionismus, in der Psychoanalyse, der Theorie des kommunikativen Handelns und anderen Ansätzen – ein im Wesentlichen formaltheoretischer Begriff. Auf theoretischer Ebene geht es eben nicht um qualitative Bestimmungsmerkmale der Identität konkreter Menschen, sondern um formale Strukturmerkmale eines spezifischen Selbst- und Weltverhältnisses von Personen (…) Der Identitätsbegriff sowie die diesen Begriff erläuternden Unterbegriffe Kohärenz und Kontinuität bezeichnen allein die interne Stimmigkeit und Dauer einer Form oder Struktur.
Auch auf der Ebene von Kollektiven findet sich dieser auf den ersten Blick eigentümlich anmutende Primat der Struktur. Charles Tilly legt Wert darauf, dass Identität mit Relationen zu tun hat, ja Relationen die „Identität der Identität“ auch bei Kollektiven darstellen. In einer seiner Arbeiten beschreibt Tilly (2002) das Manifest einer sozialen Bewegung und listet die darin vorkommenden, klassischen Elemente der kollektiven Selbstrepräsentation auf. Wichtig ist Tilly der Hinweis, dass die beschriebene Identität nicht aus der Summe ihrer einzelnen Elemente bestehe, sondern sich letztlich als „relational“ definiere. Für ihn bestehen gerade Identitäten kollektiver Art aus Grenzen, welche „uns“ von „ihnen“ trennen, eine Reihe von Beziehungen innerhalb dieser Grenzen, eine Reihe von Beziehungen, die sich über diese Grenzen hinweg abspielen, sowie Geschichten über die Grenzen und ihre Beziehungen (Tilly 2003). Nebenbei sei angemerkt, dass sich vor allem die (sozial)philosophische und soziologische Postmoderne seit den 1980er und 1990er Jahren mit Verve an einer Aktualisierung des Identitätsbegriffes versucht. De facto haben Autoren wie Joas (1996) sowie Eickelpasch und Rademacher (2004) eine Verabschiedung von jenen scheinbar zwanghaften und überkommenen Strukturprinzipien und deren wichtiger Funktion betrieben, ohne dabei letztlich überzeugende Alternativen aufbieten zu können. Zutreffend ist mit Sicherheit die Erkenntnis, dass Identitätsarbeit für Subjekte unter den Bedingungen einer spätmodernen Gesellschaft schwieriger geworden ist. Somit muss von dem noch von Erikson vertretenen Gedanken einer finalen Erreichbarkeit von Kontinuität und Kohärenz nach Beendigung einer bestimmten Lebensphase Abstand genommen werden. Eine Vorstellung von Identität ohne die Vorstellung der Arbeit an einer Struktur oder einer Ordnung lässt sich schwerlich halten, ohne das Konzept der Identität gänzlich infrage zu stellen. In diesem Sinne ist die kritische Argumentation von Brubaker und Cooper (2000: 1) zutreffend: „We argue that (…) the attempt to soften the term (…) by stipulating that identities are constructed, fluid and multiple – leaves us without a rationale for talking about ‘identities’ at al“.
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Der oben erwähnte Primat der Struktur auf beiden, für die Sozialwissenschaften relevanten Analyseebenen der Person und der Kollektive ist ganz sicher mit dafür verantwortlich, dass dem Begriff der Identität immer wieder Unschärfe unterstellt worden ist. Bei genauerer Betrachtung hat dieses Problem zwei Gesichter. Durch die lange Begriffsgeschichte des Terminus Identität und die sich daraus zwangsläufig ergebenden interdisziplinären „Befruchtungen“ hat sich erstens ein gleichberechtigtes Nebeneinander verschiedener Strukturprinzipien ergeben. Hier bietet, wie wir sehen werden, die Definition von Albert und Whetten eine mögliche Lösung an. Zweitens ist die Frage der inhaltlichen Präzisierung, die Frage, auf welcher inhaltlichen Ebene diese Strukturen realisiert werden, weder auf personaler, noch auf kollektiver Ebene beantwortet. Die Gleichzeitigkeit eigentlich independenter Strukturprinzipien zeigt sich bereits im Diskurs um personale Identität. Hat personale Identität nun auch mit Abgrenzung zu tun, oder geht es doch „nur“, wie in der Konzeption Eriksons (1973), um Kontinuität und Kohärenz als fundamentale Prozessziele personaler Identitätskonstruktion? Auf der Ebene von Kollektiven ist das nicht anders. Die Autoren variieren dabei in der Relevanz, die der jeweiligen Identitätsdimension zugesprochen wird. So spielt das Kriterium der Zentralität bei Manuel Castells (2002) eine wichtige Rolle. Die semantische Verknüpfung des Begriffes Identität mit der Metapher des „Kerns“ (eines Vorstellungsbildes) findet sich u. a. in der betriebswissenschaftlichen und soziologischen Theorie der Marke. Der Soziologe Kai-Uwe Hellmann verdeutlicht den Zusammenhang von Image und Identität:5 Image ist ein bestimmtes Assoziationsgefüge, ein Geflecht von Bedeutungen, das sich aus Sicht aller Beteiligten um eine Marke herum ausbildet, das heißt durch die Kommunikation über das Produkt. Das wäre sozusagen der größere Begriff. Das Image ist die Gesamtheit all dessen. Die Identität der Marke betrifft die Kernmetapher. Also die Unterscheidung zwischen Kern und Rand oder Zentrum und Peripherie. Die Identität ist das, was im Mittelpunkt dieses Geflechts von Bedeutungen steht. Nicht alle Bedeutungen, die wir mit einem Image verbinden würden, sind gleichermaßen relevant. Die relevanten Bedeutungen des Images würden die Identität der Marke betreffen.
Tilly wiederum (2003) betont in seinem Konzept die Idee der Grenzziehung und Distinktivität, die Identität schaffe. Auch Reese-Schäfer (1999a: 16) notiert, das im wissenschaftlichen Diskurs oft angenommen werde, dass „jede Identitätsform eine Abgrenzung“ benötige. Ebenso setzen Karen Cerulo (1997), Andrew Gingrich (2004) sowie Patricia Goff und Kevin Dunn (2004) auf das Kriterium der Unterscheidbarkeit. Wer sich auf die Suche nach dem Ursprung einer Auffassung von Identität als und durch Differenz begibt, wird überrascht sein. Auch 5 Kai-Uwe Hellmann im Gespräch mit Celine Heesch, unter: http://www.markeninstitut.de.
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wenn beide Begriffe im alltäglichen und wissenschaftlichen Sprachgebrauch selbstverständlich synonym gebraucht werden, ist eine begriffsgeschichtliche Rekonstruktion von Identität als Differenz gar nicht so einfach; ganz abgesehen von der Tatsache, dass man Identität und Differenz in der Tradition Martin Heideggers auch als völlig verschiedene Topoi auffassen kann. Einerseits, so scheint es, nimmt Differenz eine wichtige Stelle in der Social Identity Theory ein, die in der Sozialpsychologie seit längerer Zeit diskutiert wird. Henri Tajfel (1982) argumentierte, das Gruppen-Identitäten aufrecht erhalten werden durch „intergroup comparisons“. Ein positives Selbstwertgefühl werde durch Abgrenzung von anderen Gruppen erreicht. Eine andere Spur führt hinein in die kulturwissenschaftliche Anthropologie und das Feld der Cultural Studies. So schreibt Gingrich (2004: 4): „Certain anthropological debates about identity, however, are still dominated by one of two tendencies (…) One tendency discusses identity primarily, if not indeed exclusively, in terms of difference (…) Sometimes, it represents identity only in terms of difference”. Andere Autoren hingegen verweisen auf die Wichtigkeit von „consistency in value and action“ (Gioia 1998: 22); so auch George Cheney und Lars Christensen (2001), Uwe Schimank (2000) und Robert Hettlage (1997), für den Identitätsmanagement in Organisationen in der Herstellung von Homogenität und Kohärenz besteht. Während an anderem Ort immer noch darüber gestritten wird, ob nun ausschließlich Unterscheidbarkeit mit Identität zu tun hat oder ob Identität doch letztlich nur alleinig eine Frage der Kontinuität ist, werden bei Albert und Whetten die gängigen Identitätsprinzipien schlicht in einem Konzept zusammengefasst. Das ist nicht unbedingt elegant, wohl aber die einzige Lösung eines theoretischen Dilemmas, das zwischen eigenständigen Strukturprinzipien nicht entscheiden kann. Wenn der Wunsch nach der Entscheidung für eine einzige Identitätsdimension zwangsläufig nur zu einem theoretischen Regress führen kann, da grundsätzlich jedem Identitätsprinzip über theoretische Argumentationen Priorität vor anderen zugeschrieben werden kann, dann liegt die einzig mögliche Lösung nicht in einer logisch-analytischen Exklusion jener Prinzipien, die „eigentlich“ nichts mit Identität zu tun haben, sondern in der Subsumption aller Identitätsdimensionen begründet. Auch wenn eine Entscheidung schwerfallen mag, so kann doch die Anzahl der sich im theoretischen Umlauf befindlichen Identitätsdimensionen auf vier (Zentralität, Kontinuität, Kohärenz, Differenz) reduziert werden. Hinsichtlich der Anzahl und Art möglicher Merkmalstypen und Identitätsbausteine, zwischen denen diese vier Strukturprinzipien hergestellt werden sollen, ist das nicht so einfach. Auf diesen Umstand hat bereits Straub (1998: 92) in Bezug auf personale Identität aufmerksam gemacht. So sei die nähere inhaltliche Bestimmung „qualitativer Beschreibungen“ schwierig, denn „im Prinzip kann etwa eine Per-
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son über alles Mögliche sprechen, um ihre Identität inhaltlich zu charakterisieren“. Auch diese Problematik kehrt auf der analytischen Ebene von Organisationen wieder. Die Achillesferse, oder, mit anderen Worten, die „open issue“ (Ravasi/van Rekom 2003) des Konzepts organisationale Identität besteht augenscheinlich darin, dass es weniger auf der strukturalen, wohl aber auf der „inhaltlichen“ Ebene der Merkmale unbestimmt ist. Während Ordnungsprinzipien wie Unterscheidbarkeit noch benannt werden können, scheint es auch auf organisationaler Ebene schwierig zu sein, ex ante zu bestimmen, was denn diese „Features“ genau sind, zwischen denen Strukturzusammenhänge hergestellt werden sollen. Geht es bei der Identität von Kollektiven um „values“ (Gioia/Schultz/ Corley 2000), um „beliefs“ (Bouchikhi et al. 1998) oder um „Normen, Modelle, Symbole, für verbindlich gehaltene Werte, die die jeweilige Lebensgemeinschaft definieren“ (Hettlage 1997: 10)? Einige Autoren gehen über diese Problematik nonchalant hinweg. „There is actually no need to further specify the list of acceptable identity features“, meinen Bertrand Moingeon und Guillaume Soenen (2003: 25). Man kann diese Unbestimmtheit als Hypothek auffassen. Letztlich lässt sich eine inhaltliche Zuspitzung auf der Ebene personaler wie organisationaler Identität wohl nur in der empirischen Auseinandersetzung mit den Trägern von Identität, bei organisationaler Identität konkreten Organisationen und ihren Mitgliedern, leisten. In der eingangs vorgenommenen Begriffsbestimmung wurde organisationale Identität als Leistung von Menschen bezeichnet. Albert und Whetten hatten diese Interpretation in ihrer Arbeit nicht unbedingt angelegt, wenngleich sie später von den meisten Adepten übernommen wurde. Hier zeigt sich eine weitere deutliche Verbindung zum sozialwissenschaftlichen Identitätsdiskurs der Gegenwart. Gerade in der Nachfolge interaktionistischer Perspektiven auf Identität, so wie sie in den Arbeiten von George Herbert Mead, Anselm Strauss und Erving Goffman anklingen, wird personale Identität nicht (mehr) als inhaltlich unveränderbare Disposition, als eingeborener Charakter von Menschen aufgefasst, sondern als persistenter Arbeitsprozess am eigenen Selbstbild, dass bestimmten Prozesszielen folgt und dabei Einwürfe der sozialen Umwelt integriert (Keupp et al. 1999). Theoretiker organisationaler Identität haben auch diese Denkfigur in Grundzügen übernommen (Hatch/Schulz 2004). Nur geht es nicht mehr um die Eigenschaften einer Person, sondern eben einer Organisation. Im Sinne von Hettlage (1997: 10ff.) kann auch organisationale Identität als Produkt aufgefasst werden, das „Definitions- und Konstruktionsvorgängen“ entspringt: In ihm [dem Konstruktionsvorgang] wird ein Selbstkonzept der Mitglieder einer Gruppe dadurch explizit gemacht und bewusst zur Grundlage der Zugehörigkeit erhoben, dass bestimmte gemeinsame Merkmale ausgewählt werden, um sich selbst zu benennen, abzugrenzen und nach au-
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Konzeptionelle Vorüberlegungen und Forschungsstand ßen darzustellen. Das kollektive Selbst ist kein automatisches Ergebnis objektiver Lagen und Bedingungen (Rasse, Produktionsweise, Geografie) sondern wird erst durch einen Artikulationsprozess zur Wirklichkeit.
Diese letztlich konstruktivistische Denkart (vgl. Kapitel 2.1.1) von Identität wird heute als Gemeinplatz bezeichnet (Reese-Schäfer 1999a: 7). Eine solche Einschätzung ist vor allem dann berechtigt, wenn die Emphase der Konstruiertheit die faktische Wirkmächtigkeit von Identitätskonstruktionen negiert. Dennoch bleibt der Verweis auf die konstruktivistische Fundierung von Identität, gerade im Zusammenhang mit Kollektiven, pro forma wichtig. Denn nur über diese konstruktivistische Fundierung ist die Identität einer Organisation denkbar, ohne diese zu anthropomorphisieren (Hatch/Schulz 2004) und so die Existenz eines organisationalen, kollektiven Leviathans zu implizieren (Narr 1999). Eine weitere in unserem Zusammenhang wichtige Parallele zwischen personaler Identität und organisationaler Identität besteht schließlich in den Funktionen, die der erfolgreichen Konstruktion von Identität zugeschrieben wird. Die Leistung von Kontinuität und Kohärenz, die Behauptung „synchroner und diachroner Relationen“ (Willems/Hahn 1999) in Bezug auf das Bild einer Person von sich selbst, in der Auseinandersetzung mit den Zuschreibungen einer externen Sozialwelt, ist in der Theorie personaler Identität kein Selbstzweck, sondern sie stabilisiert wesentlich die soziale Kommunikations- und Interaktionsfähigkeit eines Menschen, gerade unter den (post)modernen Bedingungen beständigen Wandels. Strukturen der Kohärenz und Kontinuität in Bezug auf das eigene Selbstbild herzustellen, ist also nicht nur wichtig für das subjektive Wohlbefinden und Selbstbewusstsein. Lothar Krappmann (1988: 9) hat (im Verweis auf die lange Tradition interaktionistisch geprägter Identitätstheorie in der Soziologie) herausgearbeitet, wie sehr die beharrliche Arbeit an einem stimmigen und beständigen Selbstbild die Voraussetzung zur Teilnahme an Interaktionsprozessen bildet: Damit das Individuum mit anderen in Beziehung treten kann, muss es sich in seiner Identität präsentieren; durch sie zeigt es, wer es ist. Diese Identität interpretiert das Individuum im Hinblick auf die aktuelle Situation und unter Berücksichtigung des Erwartungshorizontes seiner Partner.
Die Darstellung des personalen Selbstverständnisses nach außen ist wichtig, damit andere Interaktionsteilnehmer auf der Basis dieses performativen Selbstbildes ihrerseits die gemeinsame Situation definieren und folgend ihre Handlungsstrategien daran ausrichten können (auch Hettlage 2000). Wie zu zeigen ist, schreibt auch die Organisationsforschung der Konstruktion organisationaler Identität Funktionen zu. Da diese Annahme nicht unwichtig ist für den Wert des
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Konzeptes insgesamt, soll im nächsten Kapitel detaillierter auf diese Funktionen eingegangen werden. 2.1.3 Zugeschriebene Funktionen organisationaler Identität Wenn in einer wissenschaftlichen Disziplin wie der Organisationsforschung, der gerade in ihrem wirtschaftswissenschaftlichen Habitus sicher keine ausgeprägte Affinität zur Diskussion ambivalenter Begrifflichkeiten und schillernder Schlagworte nachgesagt werden kann, seit nun fast 25 Jahren mit einem durchaus widerborstigen Begriff wie Identität gerungen wird, so müssen dafür triftige Gründe vorliegen. Einer dieser Gründe mag darin bestehen, dass viele Organisationstheoretiker organisationale Identität als „Ressource“ entdeckt haben, die wichtige Funktionen erfüllt (Cole/Bruch 2006), nicht zuletzt die Stabilisierung einer Organisation von innen heraus. Bei genauerem Blick werden organisationaler Identität, die wir bis zu diesem Punkt als inneres Ordnungsschema eines Mitgliedes in Bezug auf die Merkmale im Erscheinungsbild (s)einer Organisation kennengelernt haben, zwei unterschiedliche Funktionen zugewiesen. Aus einer eher soziologischen Perspektive wird organisationale Identität als Voraussetzung von Handeln aufgefasst. In sozialpsychologischer Lesart gilt organisationale Identität als Grundlage von Akten der Identifikation. Das Verfügen über zentrale, dauerhafte und unterscheidbare Merkmale einer Organisation kann einerseits als „Tacit Knowledge“ aufgefasst werden, dass in vielen alltäglichen Situationen als „Rahmen der Interpretation“ (GoldenBiddle/Rao 2004) dient und Menschen hilft, „Sinn aus ihrer organisationalen Umgebung“ (Glynn 1998) zu machen und als „ordnungsbildende Kraft im Inneren“ (Schimank 2000) auch das „Handeln (…) der Angehörigen eines Kollektivs (…) strukturiert“ (Straub 1998: 102). Gerade in Zeiten organisationalen Wandelns sei organisationale Identität wichtig, wie Stuart Albert, Blake Ashforth und Jane Dutton (2000: 13) betonen: Increasingly, and organization must reside in the heads and hearts of its members. Thus, in absence of an externalized bureaucratic structure, it becomes more important to have an internalized cognitive structure of what the organization stands for and where it intends to go – in short, a clear sense of the organizations identity.
Neben ihrer Funktion als (praktischer) Handlungsorientierung weisen Organisationstheoretiker organisationaler Identität eine weitere Funktion zu, nämlich die der Grundlage für Akte der Identifikation. In der Tat ist das Erscheinungsbild eines Kollektives, so Reese-Schäfer (1999a: 16), kognitive Grundlage dafür, um eine Verbindung mit dieser einzugehen:
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Konzeptionelle Vorüberlegungen und Forschungsstand Der Einzelne kann sich mit einem Kollektiv identifizieren oder auch nicht. Im Falle der Identifikation wird dann eine von den Individuen durchweg unterschiedlich aufgefasste Imagination dessen, was sie für dieses Kollektiv halten und was sie an ihm wichtig finden, zu einem Bestandteil ihrer eigenen Identität.
Ähnlich verdeutlichen Mary Jo Hatch und Majken Schultz (2000: 16), das organisationale Identität mit organisationaler Identifizierung verbunden ist: Concern with the „identity of“ the organization is not unrelated to that of identification, for the identity of the organization is believed to create a basis for member identification with the organization. That is, as the object of belonging and commitment, organizational identity provides a cognitive and emotional foundation on which organizational members built attachments and with they create meaningful relationships with their organization.
Wenn Organisationen auf Handlungszusammenhänge reduziert werden, die nur aufgrund deren persistenter Wiederholung bestehen können, zu der letztlich auch eine emotionale Bindung beiträgt, und wenn organisationale Identität zur Aufrechterhaltung von Identifikation und Engagement beiträgt, dann handelt es sich bei organisationaler Identität letztlich um eine Ressource, die zur Stabilisierung der Organisation von innen heraus beiträgt. Eingeräumt werden muss allerdings auch, dass gerade die Beziehung zwischen organisationaler Identität, Handeln und Identifikation – Jane Dutton et al. (1994: 239ff.) sprechen ebenso davon, dass die Identifikation mit einer Organisation wesentlich mit den zentralen, dauerhaften und distinktiven Merkmalen einer Organisation zu tun habe – lange Zeit leichter aufgestellt als tatsächlich erklärt worden ist. Insbesondere blieb lange unklar, welche der durchaus verschiedenen Identitätsdimensionen auf welcher inhaltlichen Ebene wichtig sind, damit sich Mitglieder in einer Organisation engagieren und sich mit dieser verbunden fühlen. Wie muss das Erscheinungsbild einer Organisation beschaffen sein, damit sich die Mitglieder einer Organisation mit ihr identifizieren? Da wir mit Merkmalen und Beziehungen zwei Bestandteile von organisationaler Identität ausgemacht haben, ergeben sich hier im Prinzip zwei Anschlussmöglichkeiten. Organisationale Identifikation – verstanden als Aufbau einer emotionalen Beziehung zu einer Organisation – könnte zum einen auf die „Attraktivität“ einzelner Identitätsmerkmale Bezug nehmen, die ihnen auch von externen Instanzen (Medien usw.) zugeschrieben wird. In diese Richtung tendieren Faktoren wie „Organizational Prestige“ (Elsbach 1998) oder „Reflected Glory” (Glynn 1998, ferner: Gialcone/Rosenfeld 1989). Bezogen auf den relationalen Unterton des Begriffes von organisationaler Identität kann es hier weniger um die „Attraktivität“ einzelner Merkmale gehen (wie es etwa Konzepte des Begriffes Image immer wieder nahe legen), sondern um das Vermögen, im durch das Mitglied einer Organisation wahrgenommene
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Bild der Organisation Relationen zu erkennen, Beziehungen zu realisieren. Reese-Schäfer (1999a: 16) z. B. misst den Identitätsdimensionen der Differenz und Kontinuität eine Bedeutung zu hinsichtlich der Identifikation eines Menschen mit einem Kollektiv: „Das Kollektiv seinerseits muss (…) als solches identifiziert werden können, d. h., es muss im Raum lokalisierbar und über die Zeit wiedererkennbar sein“. Generalisiert bedeutet dies am Beispiel des Merkmalstypus „Wert“: Sind in Beziehung auf das Erscheinungsbild einer Organisation zentrale Werte zu erkennen, die Priorität vor anderen genießen? Stehen die Werte, die mit einer Organisation in Verbindung gebracht werden, in einem stimmigen, widerspruchslosen Verhältnis zu anderen Werten, mit denen die Organisation verbunden wird? Weisen die Werte, die mit den Organisationen verbunden werden, eine temporale Kontinuität auf? Unterscheiden sich die Werte, die mit Organisationen verbunden werden, von denen der anderen Organisationen? Können diese Fragen durch das Mitglied einer Organisation positiv beantwortet werden, scheint es eher möglich zu sein, sich mit der Organisation zu identifizieren (ähnlich auch Dutton et al. 1994). 2.1.4 Organisationale Identität im intraorganisationalen Kommunikationszusammenhang Jede Organisation hat ein Interesse daran, dass Mitglieder eine positive Bindung zur Organisation aufbauen, dass die Organisation zum Teil der personalen Identität wird, aus dieser Bindung wiederum Engagement und Motivation erwächst. Dennoch tat und tut sich die Organisationsforschung mit der Frage schwer, ob Organisationen z. B. eine Identifikation ihrer Mitglieder mit der Organisation strategisch steuern können. „Our key-questions – can an organization manage identification? How should an organization manage identification? – are not yet answerable“, räumte James Barker zumindest noch 1998 (266) ein. Aus Sicht der Perspektive dieser Arbeit liegt das Feilen und Schleifen am Erscheinungsbild der Organisation nahe. Begreifen wir das Verhältnis zwischen Organisation und einzelnem Mitglied als Verhältnis von Sinnangebot und Sinnnachfrage, so muss, wenn Ordnung offenbar nachgefragt wird, das Sinnangebot vor allem Ordnung vermitteln, im Sinne unserer „Identitätsdimensionen“ also ein nach den Kriterien von Zentralität und/oder Kohärenz und/oder Dauerhaftigkeit und/oder Unterschiedlichkeit geordnetes Bild. Im Zusammenhang von Organisationen zeigt sich, dass die Kategorien von „Identität und Interesse“ (ReeseSchäfer 1999a) kein Gegensatz sein müssen. Die Sicherstellung einer erfolgreichen Konstruktion organisationaler Identität auf der Mitgliederebene ist im Interesse von Organisationen.
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Konzeptionelle Vorüberlegungen und Forschungsstand
Organisationale Führungsebene
Identitätsarbeit
Identitätsmanifestationen als Bezugspunkt
Konstruktion organisationaler Identität
Mitgliederebene
Identifikation
Funktionen
Handlungsorientierung
Abbildung 1: Identität in Organisationen
Wie aber können Organisationen sicherstellen, dass Mitglieder mit ihrer Organisation immer wieder Merkmale verbinden und diese nach den Kriterien der Zentralität, Dauerhaftigkeit, Kohärenz und Distinktivität ordnen können? Aus dem bisher Skizzierten ergibt sich jedenfalls für Organisationen die Notwendigkeit, ein nach oben genannten Kriterien strukturiertes Sinnangebot „selbst“ hervorzubringen, dass ihren Mitgliedern Identifikation ermöglicht und Orientierung schafft. Alle damit verbundenen Aktivitäten, die eine Organisation in diesem Sinne anstrengt, können als organisationale Identitätsarbeit bezeichnet werden. Organisationale Identitätsarbeit kann als Versuch angesehen werden, der eigenen Organisation Merkmale zuzuschreiben und diese organisationalen Selbstbeschreibungen nach den Kriterien der Zentralität, Kohärenz, Kontinuität und Distinktivität zu arrangieren (ähnlich Dutton et al. 1994).
Identität in Organisationen
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Hettlage (2000) hat angemerkt, dass Nachdenken über Identität schon immer Sache von Eliten gewesen sei. Wenn Identität als wichtige Ressource für Organisationen dient, dann ist naheliegend, dass sich um deren „Bereitstellung“ vor allem die Verantwortungsträger in Organisationen zu kümmern haben. Folglich betont die Forschung in diesem Zusammenhang immer wieder die Rolle organisationaler Eliten bei der Durchführung organisationaler Identitätsarbeit (z. B. Ginzel/Kramer/Sutton 2004, Pratt/Foreman 2000, Sillince/Jarzabkowski 2004), seien dies Mitglieder des Managements, führende Mitarbeiter der Presseund Öffentlichkeitsarbeit von Unternehmen, also Experten der internen und externen Selbstdarstellung oder Leiter von Universitäten. Bei organisationaler Identitätsarbeit geht es nicht nur um die Behauptung von Relationen zwischen Merkmalen, sondern nach Hettlage (1997: 11) ist der Erfolg entsprechender Konstruktionsprozesse erst dann gesichert, wenn es gelingt, die gewünschten Identitäten so in die gesellschaftliche Kommunikation einzulagern, dass sie den Anschein des Traditionalen, Unabänderlichen und des seit jeher Verbürgten und im Alltag Unhinterfragbaren bekommen.
Aus diesem Zitat geht hervor, dass Identitätsarbeit in kollektiven Einheiten eine komplexe Verzahnung unterschiedlicher Praxen zu umfassen scheint, die sich, bei genauerer Betrachtung (und jenseits aller inhaltlichen Konkretisierung der verwendeten Merkmale), nicht in den Methoden der Selbstzuschreibung, Ordnungsgenerierung und –präsentation erschöpfen. Das Ordnungsarrangement muss durch entsprechende Methoden in seiner Geltung abgesichert werden (Reese-Schäfer 1999a: 18). Das ethnomethodologische Programm der Soziologie bezeichnet mit dem Begriff der „Politics of Reality“ (Patzelt 1998: 255) jene Methoden der Sicherung, Entproblematisierung und Ausgrenzung, die von „Ethnien“ im Kampf um die Aufrechterhaltung bzw. Veränderung von Wissensbeständen und Normalitätsvorstellungen, um die Sicherung oder Erschütterung von Selbstverständlichkeiten eingesetzt werden. Dazu gehören: Entproblematisierung, Legitimation und Erklärung, die auch in direkter Auseinandersetzung mit störenden Fremdzuschreibungen und deren Quellen erfolgt. Diese Passage deutet an, dass sich mit der Annahme einer externen „organizational audience“, die Identitätsentwürfe einer Organisation im weiteren Sinn beeinflusst, eine weitere Analogie zum Diskurs um personale Identität zeigt. Identität, so verdeutlicht Heiner Keupp, entsteht „in einem dialogischen Prozess, wird aber in unserer Kultur monologisch gedeutet und erzählt: „Ich habe und ich bin“ – diese ideologische Ichbezogenheit und –befangenheit unterschlägt die große Bedeutung der Anderen/ des Anderen und die Prozesse der dialogischen Anerkennung, die in Ich-Du oder Ich-Wir-Bezügen begründet sind“ (1996: 381). Entsprechend heißt es bei Hatch und Schulz (2004: 384): „Just as individuals form their identities in
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Konzeptionelle Vorüberlegungen und Forschungsstand
relation to both internal and external definitions of self, organizations form theirs in relation to culture and image”. Es kann nur am Rande festgehalten werden, dass die Forschung in letzter Zeit die Verbindung von Identität und Narrationen (Kraus 2000) betont. Damit ergeben sich abermals Anknüpfungspunkte zum Diskurs um die Konstruktion personaler Identität. „At the most basic level, the point is simply that people actively produce identity through their talk”, notiert Judith Howard (2000: 372) und Kenneth Gergen (2005: 110) schreibt analog: „To be identified as this or that person, to be in possession of various attributes, and to be self-referential are fundamentally moves in language. It is largely through discourse that we achieve the sense of individuated selves with particular attributes and self-referential capacities”. Diese Feststellungen scheinen naheliegend, denn in (der Grammatik) der Sprache liegt ein fundamentales Instrumentarium begründet, mit der Merkmalen Bedeutungen zugeschrieben und sinnhafte Beziehungen zwischen diesen Merkmalen zum Ausdruck gebracht werden können. Diese Grundannahme findet sich auch in Arbeiten, in denen es um die Konstruktion der Identität von Organisationen (Czarniawska 1998, Boje 1998, Sonsino 2002) oder politischen Kollektiven geht. Also geschehen auch der Entwurf eines organisationalen Selbstbildes und deren Absicherung vor allem durch Sprache und Erzählung. In jedem Kollektiv, auch in jeder Organisation finden sich, in der Diktion Tillys (2003: 26), „Unternehmer“, „that draw together credible stories from available cultural materials, similarly create we-they boundaries, activate both stories and boundaries as a function of current political circumstances, and maneuver to suppress competing models”. Organisationale Narrationen ermöglichen es offenbar, vielfältige, differente, zum Teil widersprüchliche Merkmale in eine zusammenhängende Temporalstruktur zu integrieren. Narrativ hervorgebrachte organisationale Selbstbeschreibungen manifestieren sich in unterschiedlicher Form, in schriftlichen, ebenso wie in grafischen Darstellungen oder audiovisuellen Materialitäten. Klassischerweise finden sie sich bei Unternehmen auf deren Internetpräsenz unter dem Menüpunkt „wer wir sind“. Bei politischen Parteien dienen die Programme als Visitenkarte und Identitätsausweis. An diesem Punkt der Ausführungen ist es überfällig, auf einen sich anbahnenden Widerspruch einzugehen, der dem Leser bereits aufgefallen sein mag. Zu Beginn wurde organisationale Identität als „interne“ Struktur in Bezug auf das Erscheinungsbild der eigenen Organisation auf der Mitgliederebene konzeptioniert. Dann, in diesem Abschnitt, erscheint organisationale Identität als narratives Konstrukt organisationaler Eliten. Hinter diesem scheinbaren Widerspruch verbergen sich auf den ersten Blick zwei unterschiedliche Vorstellungen über den „Ort“ von organisationaler Identität, die in der Forschung immer noch vor-
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herrschen. Urs Jaeger und Matthias Mittlechner (2005: 2) verdeutlichen diesen Umstand auf ihre Weise: Researchers in the cognitive tradition view identities as organizational building blocks which are held by individual organizational members. Second, structuralistic approaches locate organizational identities in social phenomena such as cultural values, organizational stories, and organizational use of language.
Nach dieser Logik unterscheiden auch Bertrand Moingeon und Guillaume Soenen (2003: 17) zwischen einer „projected identity“ und einer „experienced identity“. Die projizierte Identität beziehe sich auf jene Elemente und Strukturen, die eine Organisation benutzt, um sich bei bestimmten Akteuren und Akteursgruppen (tatsächlich) darzustellen und die in (offizieller) Kommunikation und Symbolen zum Ausdruck kommt. Die erfahrene Identität sei im Bild der Organisation zu lokalisieren, so wie sie von den Mitgliedern einer Organisation erfahren wird und in Repräsentationen, z. B. in Form kognitiver Strukturen und unbewussten Glaubenssätzen auf der Mitgliederebene zum Ausdruck kommt. Vorgeschlagen wird hier, beide Ebenen als Teil derselben Medaille zu sehen. Mitglieder einer Organisation beziehen sich zumindest zu einem gewissen Maß auch auf jene „organisationalen Autobiografien“, die von der Führungsebene einer Organisation erarbeitet und zum Zweck der Orientierung zur Verfügung gestellt werden (Scott/Lane 2000). Damit rückt organisationale Identität insgesamt auch in die Nähe des Konzepts des „Tatbestands“ in der soziologischen Theorie der Ethnomethodologie. Die Ethnomethodologie kann als soziologisches Forschungsprogramm aufgefasst werden, das jene Tatbestände in den Blick nimmt, die innerhalb einer kollektiven Einheit (in der Sprache der Ethnomethodologie: einer „Ethnie“) als selbstverständlich, als objektiv wirklich gelten (Patzelt 1998, Patzelt 2000, Patzelt 2002). Als solche wirken Tatbestände einerseits unbewusst als Orientierungspunkt menschlichen Denkens, Handelns und Fühlens, bedürfen aber andererseits permanenter Hervorbringung. Dieser Dualismus von Struktur und Handlung, der bereits von Peter Berger und Thomas Luckmann (1987) formuliert wurde, trifft ebenso auf kollektive, mithin organisationale Identität zu. Sie ist, wie Bernhard Giesen (2001) zutreffend formuliert hat, Konstruktion und Voraussetzung zugleich. So schreiben Michael Pratt und Peter Foreman (2000a: 21) in Bezug auf die Identität von Organisationen: „Just as organizational identities can influence individual behavior, individual behavior can influence organizational identity“. Auf der Mikroebene kann kollektive Identität als Bestandteil alltagsrelevanten „Orientierungswissens“ (Hettlage 2000: 11) gesehen werden. Anderseits ist kollektive Identität als Bild einer kollektiven Einheit immer auch Resultat kollektiver Identitätsarbeit durch Eliten.
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Konzeptionelle Vorüberlegungen und Forschungsstand
2.1.5 Vom Elitenkonstrukt zum Ordnungsschema: Tendenzen in der empirischen Forschung Im Laufe seiner rund 25-jährigen Geschichte hat sich der Diskurs um Identität in der Organisationsforschung ausdifferenziert, gleichsam lassen sich Schwerpunkte ausmachen, die heute z. T. nebeneinander bestehen. In ihrer Anfangszeit hatte die Diskussion um organisationale Identität mit Sicherheit einen deutlichen theoretischen Akzent. So spielten konzeptionelle Fragen der „richtigen“ und „falschen“ Definition eine wichtige Rolle. Diese Linie setzt sich allerdings bis in die Gegenwart fort und hat durchaus an Schärfe gewonnen (Cornelissen 2002). Empirische Studien blieben lange Zeit eher die Ausnahme denn der Regelfall (Gioia 1998). Betrachtet man den im letzten Abschnitt beschriebenen dualen Charakter organisationaler Identität im intraorganisationalen Kommunikationszusammenhang, so ergeben sich im Prinzip zwei Foki empirischer Aufmerksamkeit: einerseits die Hervorbringung organisationaler Identität durch Eliten, andererseits organisationale Identität auf der Mitgliederebene als Voraussetzung von Identifikation bzw. Praxis. Und in der Tat lassen sich die meisten empirischen Forschungsarbeiten einer dieser beiden analytischen Ebenen zuordnen. Noch bis Ende der 1990er Jahre konzentrierte sich die empirische Forschung auf die erste Ebene (z. B. Ginzel/Kramer/Sutton 1993, Alvesson 1994, Elsbach/Kramer 1996), also im Großen und Ganzen auf Strategien organisationaler Selbstpräsentation durch Eliten. Dieser Fokus auf organisationale Identität als Elitenkonstruktion hatte den Nachteil, dass die wichtigen Annahmen zur Funktion von organisationaler Identität (auf der Mitgliederebene) zwar theoretisch behauptet wurden, aber kaum empirisch unterlegt worden waren. Es war also gerade empirisch weitgehend ungeklärt, ob organisationale Identität wirklich als Vorbedingung von Identifikation und „Commitment“ gesehen werden kann. Zum Ende der 1990er Jahre war damit der Identitätsdiskurs in der Organisationsforschung auch an einem Scheideweg angelangt: Handelte es sich bei organisationaler Identität tatsächlich um einen relevanten Faktor, um eine wichtige Voraussetzung der Bindung an eine Organisation oder Praxisvorbedingung? Oder war, wie Kritiker behaupteten, organisationale Identität letztlich doch nur ein reizvolles, wenngleich ambivalentes theoretisches Muster ohne echten empirischen Wert? Kritisch bewertet wurde zunehmend auch die stillschweigende Akzeptanz eines geschlossenen Kommunikationsmodells. So hat es den Anschein, dass es sich bei Identität in Organisationen de facto um einen problemlosen Kommunikationszusammenhang zwischen unterschiedlichen Hierarchieebenen innerhalb einer Organisation handelt (Cheney/Christensen 2001), den ähnlich auch Tilly beschrieben (und kritisiert) hat. Organisationale Eliten haben als „identity-
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entrepreneurs“ ein Interesse am Selbsterhalt ihrer Organisation und wissen, dass organisationale Identität eine wichtige Rolle dafür spielt. Somit werden aus verfügbaren kulturellen Materialien Merkmale ausgewählt und durch Techniken der Narration oder des „organizational storytelling“ (Boje/Luhmann/Baack 1998) der eigenen Organisation zugeschrieben. Aus diesen Narrationen lesen die Mitglieder auf der Mikroebene organisationaler Interaktion zentrale, dauerhafte und unterscheidbare Merkmale ab, die ihnen wiederum als Orientierungsrahmen des Handelns und Basis emotionaler Koppelung dienen. Somit wird Handlungskoordination und Kooperation gestärkt, was wiederum zur Stabilisierung der Organisation von innen heraus dient. Problematisch ist an dieser Vorstellung, dass die Theorie eine fraglose Koppelung von organisationaler Identität als Konstruktion durch Eliten und Voraussetzung bei Mitgliedern annimmt, die so in der Praxis offenbar nicht gegeben ist. Ab Ende der 1990er Jahre wurden erste Forschungsarbeiten durchgeführt, die organisationale Identität als Problem thematisieren. Denn Organisationen bzw. deren Eliten waren keinesfalls immer in der Lage, stimmige organisationale Autobiografien zu entwerfen. Pratt und Foreman (2000) prägten dafür den Terminus der „multiple organizational identities“, während Samia Chrein (2003) von „dissonances in organizational identities“ spricht. Pratt und Foreman gingen davon aus, dass die Frage nach der Identität einer Organisation – „für was steht (m)eine Organisation“ – nicht immer eindeutig beantwortet werden kann: „within a single entity, there may exist multiple answers and multiple identities“ (Pratt und Foreman 2000: 18). Multiple organisationale Identitäten lägen dann vor, wenn „different conceptions exist regarding what is central, distinctive, and enduring about the organization“. Im weiteren Verlauf der Arbeit wenden sich die Autoren dann aber jenen Strategien zu, die organisationale Eliten anwenden können, um diese multiplen Identitäten zu „managen“. Die Auswirkung dieser multiplen Identitäten auf die Partizipations- und Identifikationsbereitschaft innerhalb der betroffenen Organisationen wurde hingegen nicht untersucht. Auch Chrein (2003) beschäftigte sich mit einem ähnlichen Phänomen, dass sie als „identity dissonance“ bezeichnet. Identitätsdissonanz entsteht hier durch Brüche zwischen Identitätskonstruktionen der Organisation und Fremdzuschreibungen durch externe Akteure. Auch hier geht es eher darum, diskursive Strategien der Identitätsarbeit von Eliten zu beleuchten, während kein Augenmerk auf die Auswirkung von Identitätsdissonanz auf Mitglieder geworfen wird. Diese evidente Lücke mag das Einsetzen einer ganzen Reihe von empirischen Studien in jüngster Zeit erklären (Dukerich/Golden/Shortell 2002, Foreman/Whetten 2002, Kreiner/Ashforth 2004, Cole/Bruch 2006, Bartels et al. 2007), die sich letztlich mit der Funktion von organisationaler Identität auf Mitgliederebene beschäftigen. Freilich zeigt sich auch bei diesen Abhandlungen eine
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von Fall zu Fall teils unterschiedliche Konzeption von Identität, die einer unmittelbaren Vergleichbarkeit der Arbeiten gewisse Grenzen setzt. Und dennoch können diese Studien als erster Versuch gelesen werden, die (bis dato nur theoretisch präsupponierte) Tauglichkeit und Relevanz organisationaler Identität als Bedingungsfaktor von emotionaler Bindung und organisationalem Engagement empirisch auf die Spur zu kommen. Aus den empirischen Arbeiten kristallisiert sich heraus, dass organisationale Identität als Kommunikationszusammenhang zwischen unterschiedlichen organisationalen Hierarchieebenen kein reibungsloses „top-down“ Kommunikationsverhältnis darstellt, sondern eine lose und störanfällige Koppelung beschreibt. Die Forschungen legen nahe, dass es trotz elaborierter Strategien internen Imageund Identitätsmanagements durch Eliten (z. B. Pratt/Foreman 2000a) zur Diffusion organisationaler Identität auf der Mitgliederebene kommen kann. Mit diesem wichtigen Arbeitsbegriff sollen hier die Probleme eines Organisationsmitgliedes bei der Hervorbringung einer basalen inneren Ordnungsvorstellung in Bezug auf das Bild von der eigenen Organisation bezeichnet werden. Bezogen auf den Organisationstypus einer politischen Partei werden diese Probleme dann virulent, wenn z. B. ein Parteimitglied Schwierigkeiten damit hat, zu benennen, welche Werte eigentlich zum Kern der eigenen Partei gehören, angesichts welcher Normen sich die eigene Partei von anderen unterscheidet und welche Zielvorstellungen im Laufe der Zeit gleich geblieben sind. In jüngster Zeit hat sich die Organisationsforschung auch mit den Auswirkungen solch „verwaschener“ Bilder von der eigenen Organisation beschäftigt. Sendet eine Organisation etwa widersprüchliche Signale aus, „regarding what it stands for and why”, so schlägt sich dieses Vermittlungsproblem auch im Mitgliederbild von der eigenen Organisation nieder (Kreiner/Ashforth 2004). Während eine gelingende Identitätsarbeit auf individueller Ebene, eine klare Vorstellung von jenen Dingen, die bei einer Organisation zentral sind, wie sich die Organisation von anderen unterscheidet und was im Laufe der Zeit gleich bleibt – von Kreiner und Ashforth als „organizational identity strength“ bezeichnet – sich positiv auf die Identifikation auswirkt, bewirkt „organizational identity incongruence“ eine innere Distanzierung der Mitglieder von ihrer Organisation. Betrachtet man die Studien im Detail, so kann augenscheinlich insbesondere den Dimensionen der Unterscheidbarkeit und der Kohärenz eine Bedeutung zugeschrieben werden. Einen Zusammenhang zwischen der Attraktivität organisationaler Identität – die auch das Maß wahrgenommener Differenz zwischen der eigenen und den anderen Organisationen umfasst – und den Variablen der Identifikation und des Commitments haben Janet Dukerich, Brian Golden und Steven Shortell 2002 nachgewiesen. Michael Cole und Heike Bruch (2006) untersuchten Effekte des Konstrukts der „organizational identity strength“. Dieses Konzept
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reflektiert den Grad, bis zu dem die Mitglieder einer Organisation die Identität als besonders oder einzigartig wahrnehmen (Cole/Bruch 2006: 587). Es zeigt sich, dass Mitglieder, die ihre Organisation als einzigartig wahrnehmen, eine geringere Bereitschaft haben, diese Organisation zu verlassen. Negative Effekte auf Identifikation zeigen sich bei „organizational identity incongruence“, die dann vorliegt, wenn Mitglieder einer Organisation Aussagen zustimmen wie „my organization stands for contradictory things“, „the values of my organization are not compatible with each other” oder „the major beliefs of my organization are inconsistent”. Auf diese Ergebnisse der Arbeit von Glenn Kreiner und Blake Ashforth (2004) wurde bereits verwiesen. Immer wieder ist organisationale Identität mit Absicht als Konzept oder Theorem bezeichnet worden. Denn noch immer ist ein in sich geschlossenes, empirisch „überprüftes“ und von weiten Kreisen der Scientific Community geteiltes Aussagensystem über organisationale Identität – eine Theorie also – nicht wirklich in Sicht. Noch immer steht die Identitätsforschung der Organisationswissenschaften am Beginn. Erst 2004 gaben Hatch und Schultz bei Oxford University Press eine Anthologie heraus, welche die wichtigsten Aufsätze sammelte und einer breiteren Fachöffentlichkeit zugänglich machen sollte. Auch die hier vorliegenden Aussagen über organisationale Identität sind kein längeres Zitat aus einem Lehrbuch, sondern Ausdruck eines eigenständigen Versuches, Ordnung in das zeitweilige Durcheinander des organisationswissenschaftlichen Identitätsdiskurses zu bringen. Trotzdem geben gerade die jüngeren Forschungsarbeiten Anlass zur Hoffnung, dass es sich bei organisationaler Identität nicht nur um ein interessantes Theorem handelt, sondern um einen praxisrelevanten Faktor, der sich auch im Hinblick auf politische Organisationen – sprich: Parteien – gewinnbringend anwenden lassen könnte. Betrachtet man den Forschungsstand im Bereich organisationale Identität abschließend, so bleibt bemerkenswert, dass die Frage nach der Funktion von organisationaler Identität z. B. sehr oft an wirtschaftliche Unternehmen herangetragen wurde, wo sich doch gerade politische Organisationen wie Parteien als Fallbeispiel eignen dürften. Während Unternehmen bei der Sicherstellung von Engagement, von Motivation und „Commitment“ letztlich immer die Möglichkeit haben, materielle Ressourcen zum Einsatz zu bringen, dürften „weichere“ Faktoren wie organisationale Identität gerade bei Parteien eine ungleich größere Rolle spielen. Untersuchungen zum Engagement in politischen Parteien behaupten, dass z. B. Werte, Normen, politische Leitideen und Ideologien eine heute unterschätzte, de facto jedoch beim alltäglichen parteipolitischen Engagement eine nach wie vor wichtige Rolle spielen. Was aber passiert, wenn ein Parteimitglied Schwierigkeiten hat, die zentralen Werte seiner oder ihrer Partei zu benennen? Wie wirkt es sich aus, wenn zwar zentrale Werte zugeordnet
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werden können, sich diese jedoch in eigener Perspektive nicht mehr von denen der politischen Konkurrenz unterscheiden? Welche Konsequenzen hat es, wenn die Bedeutung eines zentralen Wertes, der immer für die Partei gestanden hat, sich im Laufe der Zeit mehrmals in seinem Bedeutungsgehalt ändert? 2.2 Diffusion organisationaler Identität in politischen Parteien? Aufgrund ihrer teils langen Geschichte, ihrer internen Ausdifferenzierung, ihren vielfältigen Funktionen, ihrem Wirken auf unterschiedlichen Policy-Ebenen und ihrer zentralen Stellung im politischen System vieler Länder insgesamt stellen Parteien einen sehr komplexen Organisationstypus dar. Dergestalt erweisen sich Parteien in besonderer Weise unzugänglich und sperrig gegenüber den Informationsbedürfnissen von Wissenschaftlern, wie Oskar Niedermayer und Richard Stöss (1993: 16) zutreffend angemerkt haben. Vielleicht ist dieses natürliche Zugangsproblem ein Grund dafür, dass das Konzept der organisationalen Identität in Bezug auf den Organisationstypus der politischen Partei noch nicht zur Anwendung gekommen ist. Nichtsdestotrotz müssen auch und gerade politische Kollektive „Identitätsarbeit“ leisten. Dazu heißt es bei Uwe Schimank (2000: 127f.): Identitätslos kann auf die Dauer niemand leben. Dieser für Personen als individuelle Akteure geltende Sachverhalt lässt sich auch auf kollektive und korporative Akteure übertragen (...) Inzwischen legen sich immer mehr Großunternehmen auch bestimmte Selbstansprüche auf (…) Noch expliziter leisten all jene Organisationen „Identitätsarbeit“, die sich als Interessenorganisationen bestimmten politischen Belangen verschrieben haben. Kein Interessenverband beschränkt sich darauf, lapidar die von ihm aktuell verfolgten Interessen aufzulisten. Dies wird vielmehr überall in einen überwölbenden Begründungszusammenhang gefügt, der den Kern der Identität dieses korporativen Akteurs ausmacht. Und wenn ein solcher substanzieller Begründungszusammenhang ausdünnt, der korporative Akteur nicht länger zu sagen vermag, wofür und wogegen er eigentlich steht, gerät er in eine ebensolche Identitätskrise, wie sie auch Personen durchmachen können. Ein Beispiel (...) ist der Wandel der alten „Weltanschauungs-“ zu den heutigen „Allerweltsparteien“.
In der Tat überlassen gerade die deutschen Großparteien ihr Erscheinungsbild nach innen und außen längst nicht mehr dem Zufall. Die Arbeit an der projizierten Identität, um den Begriff von Moingeon und Soenen wieder aufzugreifen, ist eine professionelle Angelegenheit geworden, die hauptsächlich von der „Party in Central Office“ koordiniert wird und dabei unterschiedliche Ausdrucksmaterialitäten nutzt.6 Was eine Partei im Kern ausmacht, worin sie sich unterscheidet und 6 Richard Katz und Peter Mair (2002) unterscheiden drei „Gesichter“ politischer Parteien. Die „Party on the Ground” kann mit der Basis gleichgesetzt werden. Die „Party in Central Office” ist die Par-
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was an einer Partei im Lauf der Zeit gleich bleibt, wird von den Parteien nicht verborgen. Im Gegenteil. Die Identität einer Partei wird in Reden des Vorsitzenden, in der grundsätzlichen Programmatik, in aktuellen Wahlprogrammen oder auch in Sonderbeilagen der Mitgliederzeitschriften immer wieder an die Bezugsgruppen der Parteien, Mitglieder und Wähler kommuniziert. Und dennoch müssen sich gerade die Großparteien mehr denn je den Vorwurf eines umfangreichen Vermittlungsdefizits stellen, das im Kern darin besteht, dass die großen Parteien trotz bester Anstrengungen eben nicht mehr vermitteln können, welche Inhalte von herausgehobener Bedeutung im Vergleich zu anderen Inhalten sind, welche Inhalte im Laufe der Zeit gleich geblieben sind und welche Inhalte die eigene Partei von vergleichbaren anderen Parteien unterscheidet. Insbesondere eine augenscheinliche Unfähigkeit zur Vermittlung von Differenz hat, wie noch gezeigt werden wird, in den Medien große Aufmerksamkeit erfahren. Sollte sich dieses Vermittlungsdefizit auch organisationsintern, gewissermaßen in der „perceived identity“, als Diffusion organisationaler Identität manifestieren, so wäre das für Parteien durchaus ein Problem. Denn das „Verfügen“ über die Identität der eigenen Organisation dürfte gerade Mitgliedern politischer Parteien wichtig sein. 2.2.1 Zur möglichen Wichtigkeit organisationaler Identität für Mitgliederparteien Die Partizipation von Mitgliedern in politischen Parteien ist freiwillig, meist ehrenamtlich, damit oft unentgeltlich und steht in ständiger Konkurrenz zu anderen Freizeitaktivitäten; sie ist mit hohen Opportunitätskosten verbunden und steht damit insgesamt auf brüchigem Fundament. Im Gegensatz zu wirtschaftlichen Unternehmungen fehlt Parteien die Möglichkeit, zumindest Partizipation (ggf. auch Identifikation) durch den Einsatz direkter materieller Anreize (Gehalt, Prämien etc.) sicherzustellen. Damit wird das Sinnangebot, dass Parteien anbieten, mehr noch als bei Unternehmen zu einer relevanten Ressource bei der Sicherstellung der Partizipation und der emotionalen Bindung. Vielmehr noch als wirtschaftliche Organisationen dürften gerade Parteien „Identitätsorganisationen“ (Gutman 2003) sein. Kritiker mögen hier einwenden, dass einem allzu idealistischen Bild parteipolitischen Engagements Folge geleistet wird. Sind heute nicht instrumentelle Motivationen ausschlaggebend, die auf persönliche Vorteile und die Generierung von Netzwerken abzielen, die z. B. dem eigenen professionellen Fortkommen teiverwaltung und Parteiführung. Als „Party in Public Office“ fungieren in Deutschland die Fraktionen auf Bundes- und Landesebene.
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dienen, oder dem Aufstieg innerhalb der Partei? Aktuelle Befunde der Partizipationsforschung konnten aufzeigen, dass materielle und instrumentelle Beweggründe des Parteibeitritts und des parteipolitischen Engagements zwar eine Rolle spielen (Klein 2006), aber eben auch sinnhafte Orientierungen, Werte, Normen, „die Identifikation mit politischen Utopien“ von großer Bedeutung sind (Heinrich/Lübker/Biehl 2002). Wenn wir wissen, dass Werte und Normen wichtig sind, wenn zumindest einige Theoretiker meinen, dass Werte und Normen zu den Bausteinen organisationaler Identität gehören, dann ist es kein großer Schritt mehr zu der Überlegung, dass auch organisationale Identität als Faktor der Bindung bei Parteimitgliedern eine Rolle spielen dürfte. Vielleicht lässt sich an drei fiktionalen Beispielen verdeutlichen, dass das Wissen um scheinbar abstrakte Beziehungen in Bezug auf das Erscheinungsbild der eigenen Organisation durchaus praktische Relevanz besitzen könnte. Günther Gebauer (56) ist Mitglied in einem Ostberliner CDU Ortsverband. Zu seinen Aufgaben gehört in Zeiten der Wahl die (dort besonders schwierige) Arbeit des geduldigen Werbens nach Wählern an einem Stand, der den Ausläufern des Prenzlauer Berges aufgebaut ist. Dort muss Herr Gebauer in der Lage sein, potenziellen Wählern in kurzer Zeit ohne Widersprüche die zentralen, dauerhaften und unterscheidenden Merkmale seiner Partei zu vermitteln. Damit geht es weniger um die Inhalte an sich, als um das Wissen von Strukturen, so wie es das Konzept von organisationaler Identität impliziert. SPD-Mitglied Petra Meier (32) geht zur Bundestagswahl. Um ihre Wahlentscheidung treffen zu können, macht sich Frau Meier am Vorabend der Wahl bzw. auf dem Weg zum Wahllokal im benachbarten Kindergarten Gedanken über die zentralen Eigenschaften der Parteien. Der Grünen-Unterstützer Falk Ritter (30) ärgert sich immer stärker über die Politikverdrossenheit in seinem Freundes- und Bekanntenkreis. Auf dem Weg nach Hause von seiner Arbeit fällt ihm spontan ein, dass er es eigentlich besser machen könnte, indem er einer Partei beitritt. Welche Partei es aber werden soll, ist ihm noch nicht ganz klar. Um seine Entscheidung zu treffen, denkt er über die Eigenschaften der Parteien nach, die für ihn infrage kommen. Diese kleinen Beispiele sollen zeigen, dass organisationale Identität als innere Ordnungsvorstellung in Bezug auf das Erscheinungsbild der Partei gerade in Bezug auf das praktische Handeln in der Partei, genauer: als Beitrittsstimulus (auch wenn der Begriff Stimulus hier nicht ganz passt) und Bindungsmotiv gedacht werden kann. Exemplarisch wurden alltägliche Situationen verdeutlicht, in denen wichtige Typen alltäglichen Handelns durchgeführt werden oder werden sollen, auf deren mikroweltlich-persistenter Wiederholung eine Partei als MakroOrganisation wesentlich angewiesen ist: (1.) Wahlkampf, (2.) Wählen sowie (3.) parteipolitisches Engagement. In allen drei Alltagssituationen greifen Akteure
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dabei auf die Identität der Partei zurück, die ihnen bei der Durchführung der jeweiligen Handlung hilfreich sein soll. Funktioniert dieser Rückgriff auf ein inneres Ordnungsschema nicht mehr, können damit negative Konsequenzen verbunden sein. Wenn Herr Gebauer nicht mehr in der Lage ist, Passanten die zentralen, dauerhaften und unterscheidbaren Eigenschaften der CDU zu erklären oder er auf seine Erklärungsversuche wiederholt nur Kopfschütteln oder Unverständnis erntet, dann wird er sich vielleicht überlegen, welchen Sinn es überhaupt macht, sich morgens – unentgeltlich – in die Kälte vor das Einkaufzentrum zu stellen. Wenn Frau Meier Schwierigkeiten damit hat, die zentralen, dauerhaften Merkmale ihrer Partei zu identifizieren, wenn sie den Eindruck hat, dass viele Merkmale der Partei, die sie in den letzten Wochen gehört hat, eigentlich nicht „zueinanderpassen“, oder gleichzeitig sich in den letzten Jahren immer wieder rapide verändert haben, dann wird sich Frau Meier doch letztlich spontan dazu entscheiden, am Sonntagmorgen über den Flohmarkt zu spazieren und nicht den zudem umständlichen Weg zum Wahllokal zu wählen. Wenn Herr Ritter zwar die Grünen favorisiert, aber bei näherer Betrachtung feststellt, dass ihm nicht mehr recht klar scheint, „wofür“ die Grünen eigentlich heute stehen und sich ohnehin in manchen Bereichen der SPD und in manchen Feldern sogar – noch schlimmer – der CDU annähern, dann wird sich Herr Ritter doch letztlich dafür entscheiden, seine knappe Freizeit mit ehrenamtlichem Jugendtraining bei seinem Fußballverein auszufüllen, anstatt sich diese in abendlichen Parteisitzungen um die Ohren zu schlagen. Nicht auszudenken, wenn nicht nur unsere drei Beispielfälle, sondern viele Menschen gleichzeitig ähnliche Probleme hätten und die gleichen Konsequenzen aus ihnen ziehen würden. 2.2.2
Exkurs: Sozialdemokratische Union Deutschlands? Die Perspektive der Medien
Wie im letzten Kapitel gezeigt wurde, kann auch die Identitätskrise politischer Parteien im Sinne organisationaler Identität insgesamt vier unterschiedliche Gesichter annehmen. Sie kann darin bestehen, x x x x
dass es schwierig wird, den inhaltlichen Kern der Partei zu erfassen dass es zum Problem wird, den inhaltlichen roten Faden zu identifizieren dass das Erscheinungsbild der Partei durch Widersprüche geprägt ist dass die Unterschiede zwischen den Parteien kaum noch, oder gar nicht mehr sichtbar sind
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Wir haben diese Probleme auch als Diffusion organisationaler Identität bezeichnet. Auf diese letzte Ebene der problematischen Unterschiede haben die Medien besondere Aufmerksamkeit gerichtet. In der Berichterstattung erscheint das Identitäts- als ein Differenzproblem. Identität und Differenz werden oft synonym gebraucht, wie in dem Zitat von Corinna Emundts (2006) aus Die Zeit online zum Ausdruck kommt. Die Journalistin berichtet vom Grundwerteparteitag der CDU: Nein, das Unbehagen erzeugen nicht die Journalisten. Es sind die Parteien selbst. In diesen Wochen, in denen sie es zaghaft wagen, an ihre Grundsätze zu gehen, wirken sie im Innersten entleert und unsicher. Man spürt das in den Gesprächen. Auch das Unbehagen, nach neuer Identität und Orientierung zu suchen unter Bedingungen der Großen Koalition, in der die CDU-Kanzlerin nicht viel anders klingt als der SPD-Vizekanzler. Sie sind am Kabinettstisch gezwungen, eine gemeinsame Mitte zu finden, außerhalb wächst das Bedürfnis auf beiden Seiten, sich abzugrenzen. Kein anderer Satz wurde diese Woche öfter wiederholt, in kleinen und großen Runden, im von der SPD angemieteten Berliner Kongresszentrum und dem Adenauer-Haus der CDU. Abgrenzen í nur wie?
Zunächst wird deutlich, dass es im medialen Diskurs um das Verwischen der Unterschiede von Parteien fast ausschließlich um die beiden „Volksparteien“ CDU und SPD geht und diese Debatte bereits vor der Großen Koalition eingesetzt hat. Schon 2003, noch vor der politischen Zwangsehe zwischen CDU und SPD, mahnte Richard Herzinger in der Wochenzeitung Die Zeit: Sollte es zu einer formalen Regierungszusammenarbeit zwischen Union und SPD kommen, würde das den Erosionsprozess der politischen Unterschiede zwischen den großen weltanschaulichen Lagern weiter beschleunigen. Doch auch jetzt schon, da wir faktisch von einer rot-grünschwarzen Koalition regiert werden, sind die Differenzen nur noch mit Mühe erkennbar. Sie zeigen sich allenfalls noch in den Details praktischer Umsetzung, kaum mehr in den programmatischen Zielvorgaben. Genauer gesagt: Solche langfristigen Zielvorstellungen werden immer verschwommener und verblassen vor den Anforderungen der Tagespolitik.
Im Lauf der Zeit scheint sich diese allgemeine Verunsicherung über das Profil der großen Parteien nicht gebessert zu haben. Stefan-Andreas Casdorff schreibt im August 2007 in der Tageszeitung Der Tagesspiegel mit Anklängen Ernst Jandls: Was ist konservativ? Was ist links? Lechts, rinks, alles eins – eigentlich könnten die beiden Parteien fusionieren, anstatt zu koalieren. Ein merger of equals, zur SDU, der Sozialdemokratischen Union Deutschlands. Da passen sie alle rein, Merkel, Müntefering, der gelernte Oberministrant. Und dann können sie auch koalieren, mit wem sie wollen.
Das Zusammenrücken von Christdemokraten und Sozialdemokraten stellt keine Exklusivmeinung von Top-Journalisten dar. Als Kurt Beck 2006 nach dem
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Schwächeanfall von Matthias Platzeck zum Vorsitzenden der SPD berufen wird, richtet Spiegel Online zum Thema neue SPD-Führung ein Diskussionsforum ein. Die dort zu findenden, meist kritischen Stimmen beziehen sich nicht nur auf die fachliche Eignung des neuen Vorsitzenden, sondern auch auf den Zustand der Parteien im Allgemeinen. Dazu meint User „Kerlon“: „Nachdem sich SPD und CDU/CSU sowieso immer mehr in Richtung NED (Neue Einheitspartei Deutschlands) entwickeln, ist es völlig gleichgültig, wer an der Spitze der ‚Volksparteien‘ steht“.
Abbildung 2: Plakatmotiv der SPD aus dem Bundestagswahlkampf 20057 Zur gleichen Zeit kursieren in den Medien Umfragen, die diese Einschätzungen auch mit wissenschaftlichen Methoden zu stützen scheinen. Spiegel Online zitiert im September 2007 aus einer Umfrage, nach der Wähler „große programmatische Unterschiede zwischen Union und SPD nur noch schwer erkennen könnten“. Lediglich 17 Prozent der Befragten würden starke Differenzen bei den 7 Quelle: http://www.bamberg-gewinnt.de/wordpress/archives/236.
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Programmen von CDU und SPD ausmachen. Dagegen meint nahezu ein Viertel der Befragten, dass Unterschiede völlig verschwunden seien. Dies auf die Unwissenheit eines von Politik, Parteien und Demokratie entfremdeten Elektorats zu schieben, ist naheliegend, aber voreilig. Auch die parteipolitischen Akteure selbst haben ihre Schwierigkeiten. Hans Koberstein und Thomas Reichart, Journalisten beim ZDF-Magazin Frontal 21, waren 2002 im Vorfeld der Bundestagswahl in Sachen „Programmtest“ unterwegs. Die Mission: „Wir lesen Politikern Zitate aus den Arbeitsmarktprogrammen von Union und SPD vor. Was die Abgeordneten nicht wissen: Das jeweilige Zitat stammt vom politischen Gegner“. Das Ergebnis: „Sozialdemokraten warnen vor dem eigenen Wahlprogramm. Dagegen finden Unionsabgeordnete die SPD-Pläne zum Niedriglohn ganz hervorragend. Solange sie nicht wissen, dass sie von der SPD sind“.8 Obwohl die Gründe für das Annähern der Parteien vielfältig sein können, ist bemerkenswert, dass die Medien mögliche Ursachen vor allem in den Eigenheiten einzelner Akteure ausgemacht haben wollen. In diesem Zusammenhang steht hauptsächlich Bundeskanzlerin Angela Merkel im Fadenkreuz der Journalisten. Liest man Glossen wie die von Gabor Steingart im Spiegel, so ist die Profilverwässerung zumindest der CDU beinahe ausschließlich ein Verdienst Merkels. Steingart porträtiert in der betreffenden Glosse die Medienpräsenz von Barack Obama, um dann anschließend vom Olymp amerikanischer Politikommunikation in die Niederungen des deutschen Politikersprechs hinabzusteigen: Obamas Rede vor dem amerikanischen Kongress, als er sein Konjunkturprogramm vorstellte, klang so: „Ihr braucht nicht noch eine Statistik, um zu wissen, dass unsere Wirtschaft in der Krise steckt. Ihr erlebt es jeden Tag. Das sind die Sorgen, mit denen Ihr aufwacht. Das ist der Grund Eurer schlaflosen Nächte. Die Wirkungen der Rezession sind real, und sie sind überall“. Merkel benutzt Sprache anders. Sie will nicht wärmen, sie will sich verstecken. Ihre „Fahnenworte“, wie Erhard Eppler die Erkennungsvokabeln eines jeden Politikers nennt, sind kaum zu entziffern. Kraftlos baumeln sie an ihrem Mast. Sie hält das für klug. Wo Obama Klarheit bietet, setzt sie auf Unschärfe. Er geht auf die Bürger zu, sie tritt lieber einen Schritt zurück. Je weniger sie von sich zu erkennen gibt, desto höher wird die Zustimmung sein, die sich am Wahltag im Herbst dieses Jahres erzielen lässt, glaubt sie. Merkel hat sich verschleiert. Sie will diesmal in beiden politischen Lagern abkassieren. Die einen sollen jene Merkel wählen, welche die anderen nicht mal grüßen würden - und umgekehrt. Sie nennt das „Erneuerung der Union“. In Wahrheit kommt es einer Selbstauflösung gleich.
Auch die in praktischer Politik sich andeutende Konvergenz ist seitens der CDU auf die Absichten der Person Angela Merkel zurückzuführen. Diesen Eindruck gewinnt der Leser bei der Lektüre von Kommentaren in liberalen wie konservativen Publikationen. So schreibt die Süddeutsche Zeitung: 8 Vgl. dazu http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/28/0,1872,2015100,00.html.
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Die Bundeskanzlerin würde am liebsten alles gleichzeitig sein, neoliberal-konservativ und christsozial. Entsprechend verwirrend ist ihr Reden und Tun. Zuletzt zeigte sich das beim Mindestlohn: Erst hat sie ihn als Verstoß gegen die Marktgesetze verdammt, aber dann dessen Einführung bei den Postlern, als einem Gebot der Sozialstaatlichkeit, doch zugestimmt.
Das Politikmagazin Cicero kommt zu diesem Schluss: Eigentlich findet jeder die RTL-Dschungelshow unmöglich. Tatsächlich schauen sie Millionen mit großem Vergnügen. Eigentlich ist Angela Merkel die CDU-Vorsitzende. Tatsächlich betreibt sie eine sozialdemokratische Politik.
Aber auch Gerhard Schröder findet Erwähnung. Seltener zwar, aber immerhin. Dazu noch einmal Herzinger in Die Zeit: Von der großen Medienöffentlichkeit kaum bemerkt hat der SPD-Vorsitzende Schröder im Frühjahr eine Art kopernikanische Wende im politisch-philosophischen Selbstverständnis der Traditionspartei eingeleitet. In einer Grundsatzrede erklärte er, die Freiheit sei der höchste Wert der Sozialdemokratie, aus der sich ihre übrigen Grundwerte wie Solidarität und Gerechtigkeit ableiteten. Diese Verlagerung des ideellen Schwerpunkts von Bebel zu Hayek, vom Restbestand des sozialistischen Egalitarismus zum Credo liberaler Sozialphilosophie, die die Bewegungsfreiheit des Einzelnen in den Mittelpunkt stellt, verschiebt das gesamte programmatische Koordinatensystem der einstigen Arbeiter- und Gewerkschaftspartei.
Eine weitere, durchaus nicht zu unterschlagende Komponente im öffentlichen Diskurs um Unterschiede zwischen den Großparteien ist nicht nur die Beobachtung, dass diese Unterschiede immer geringer werden, sondern auch, dass diese Unterschiede wichtig sind. Stefan-Andreas Casdorff macht das im Berliner Tagesspiegel ganz deutlich: Die Unterscheidbarkeit der großen Parteien wieder herzustellen, die Nivellierung, auf das sich niemand bei den Unterschieden zu sehr erschrecke, aufzugeben – das ist das Wichtigste, das am nächsten Liegende.
Warum sind Unterschiede so wichtig? Damit Wahlentscheidungen getroffen werden können. Karl-Josef Laumann, ehemaliger Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales in Nordrhein-Westfalen, hatte 2005 eine einfache Erklärung für das enttäuschende Abschneiden seiner Partei: „Die Union hat die Wahl verloren, weil sie es nicht geschafft hat, die zentralen Unterschiede zwischen ihr und den anderen Parteien zu verdeutlichen“. Stehen die Umfragewerte im Keller, muss die „Abgrenzung zur SPD viel deutlicher werden“. Das jedenfalls meinten CDUMinisterpräsidenten in einem Bericht von Spiegel Online aus dem März 2009. In anderen Stellungnahmen gehen die Relevanzzuschreibungen für Differenz ins Grundsätzliche und bleiben nicht auf die Gruppe der Wähler beschränkt. Dazu schreibt Franz Walter bei Spiegel Online:
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Konzeptionelle Vorüberlegungen und Forschungsstand Irgendwie erwarten aber nicht ganz wenige Menschen nach wie vor von Politikern/Parteien, dass sie - auch durch gegenseitige Abgrenzung - orientieren, dass sie pointiert ihre jeweiligen Zielpunkte markieren, dass sie Bilder von Zukunft entwerfen, dass sie Alternativen präsentieren und repräsentieren. Das spricht wiederum dafür, dass es jenseits der Mitte auch scharf konturierte Profilpartien geben sollte. Mitte und Profil - auf beide Eigenschaften ist der Parlamentarismus in Deutschland angewiesen.
Verschwimmen die Unterschiede, drohten, so Johannes Kuppe (2004) in Das Parlament, weitreichende Konsequenzen. Es ist wie in der Malerei: Verschwimmende Konturen schaffen neue Freiheiten der Betrachtung und Interpretation. Doch wehe, wenn man sich fragen muss, ob das Bild nicht einfach verkehrt herum aufgehängt wurde. Wer da nicht über genügend eigene, innere Orientierung verfügt, wird die Galerie enttäuscht verlassen. Im politischen Haus Deutschland hätte aber eine derartige Flucht (in die politische Abstinenz) desaströse Folgen.
Wie sieht es mit den Mitgliedern aus? Im Diskurs um die Identitätskrise der Parteien und um das Verschwimmen der Unterschiede kommt diese Gruppe in den Medien interessanterweise nur am Rande vor. Zumindest kennt Jörg Schönbohm (CDU), Brandenburgs ehemaliger Innenminister, die Gefühlslage seiner Partei; „Aus vielen Gesprächen weiß ich, dass es an der CDU-Basis Verunsicherung gibt. Wir machen nicht mehr deutlich, was wir eigentlich wollen“. 2.2.3
Identitätsdiffusion und Mitgliederkrise
Treffen die Einschätzungen des Mediendiskurses zu und addieren wir diese mit den Überlegungen aus der Organisationsforschung, die nahelegen, dass auch kognitive Ordnungsstrukturen in Bezug auf das Erscheinungsbild von der eigenen Organisation wichtig sind, dann drängt sich die Verbindung von zwei Krisen auf. Es stellt sich die Frage, ob die eben partiell beschriebene Identitäts- oder Profilkrise nicht auch zu einem bestimmten Teil für die Integrations- und Mitgliederkrise der großen Parteien CDU und SPD verantwortlich gemacht werden kann, denn gerade den großen Parteien fällt es immer schwerer, „Bindungen und Loyalitäten zu erzeugen“ (Jun 2000: 347). Auch Junge und Lempp (2008: 13f.) haben beschrieben, dass entgegen aller Szenarien zum Siegeszug sozialer Bewegungen und non-governmentaler Organisationen die Parteien in vielen politischen Systemen westlicher Demokratien das Monopol staatlicher Gestaltungsmacht inne haben (Bartolini/Mair 2001). Ja, manchen Experten sie sind selbst zu quasi-staatlichen Instanzen geworden. Mögen viele Kritiker der Parteien dies auch bemängeln: Kaum etwas geht im politischen Betrieb ohne sie, wenngleich auch ihre Gestaltungskraft in Zeiten suprana-
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tionaler Integration und einer globalisierten Ökonomie geringer geworden ist. Hier also kann kaum vom Bedeutungsverlust der Parteien die Rede sein. Wohl aber, und das ist die andere Seite der Medaille, lösen sich viele Parteien, nicht nur, aber auch in Deutschland, seit einiger Zeit schon von ihrer gesellschaftlichen Basis ab (Korte 2003). Natürlich ist dieses Problem nicht ganz neu (von Alemann 1990), stellt sich aber in diesen Tagen anscheinend in neuer Dringlichkeit, wie Umfragen zeigen.9 Franz Walter fasst die Lage zusammen: Es ist schon paradox: In den 70er Jahren führt eine ganze Generation gern und oft den Slogan von den „Legitimationsproblemen des bürgerlichen Staates und der Demokratien“ im Mund und auf den Transparenten. Nur: Damals existierte dieses Legitimationsproblem gar nicht. Denn das Gros der Wahlbürger war mit der Demokratie und den staatlichen Einrichtungen, selbst mit den schnöden, vom Souverän nie leidenschaftlich geliebten Parteien im Großen und Ganzen recht zufrieden. In jüngster Zeit aber hat sich die Einstellung der Deutschen fundamental gewandelt. Die Akzeptanz vieler demokratischer Institutionen, besonders aber der Parteien und der Regenten, ist nahezu erdrutschartig zusammengestürzt.
Jenseits von Parteienakzeptanz und Parteienvertrauen lassen sich eine ganze Reihe weiterer Indikatoren für die These der – je nach Standpunkt mehr oder weniger schnell vonstattengehende – Entkoppelung von Gesellschaft und Parteien finden, die in der Fachwelt als Dealignment bezeichnet wird. Auch bei der Integration ihrer Mitglieder haben die Parteien Probleme.10 Nach einigen zyklischen Auf- und Abbewegungen der Nachkriegszeit ist spätestens seit Mitte der 1990er Jahre in Deutschland ein kontinuierlicher Rückgang der Mitgliederzahlen zu beobachten, von dem die beiden Großparteien CDU und SPD gleichermaßen
9 Im Datenreport 2006 etwa, einer Studie des Statistischen Bundesamtes in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und dem Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA), zeigt sich, dass die Demokratie als Staatsform in Deutschland an Akzeptanz eingebüßt hat, insbesondere in Ostdeutschland. Nur 60 Prozent der Ostdeutschen waren überzeugt, dass die Demokratie in Deutschland die beste Staatsform ist (Weitere Informationen unter: www.destatis.de). Nach einer anderen Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Forsa, die 2006 im Auftrag des Nachrichtenmagazins Stern durchgeführt wurde, trauen über 60 Prozent der Befragten den politischen Parteien in Deutschland nicht mehr zu, zentrale und relevante Probleme zu lösen. Im Saarland sowie in Teilen Ostdeutschlands erreicht der Vertrauensverlust sogar Werte um 70 Prozent. Mit dem GfK-Vertrauensindex erfasst das Meinungsforschungsinstitut GfK seit 2003 jährlich das Vertrauen der Bürger in verschiedene Berufsgruppen. Während 80 Prozent der Befragten Mediziner und Lehrer für vertrauenswürdig erachten, belegen Politiker regelmäßig abgeschlagen die letzten Plätze. Insgesamt haben nur 17 Prozent der europaweit Befragten Vertrauen in ihre politischen Führungskräfte, in Deutschland sind es sogar lediglich unterdurchschnittliche 10 Prozent. 10 Dass es sich hier nicht um die wissenschaftlich fundierte Variante allgemeiner Parteienverdrossenheit handelt, sondern um empirisch nachweisbare Phänomene, die auf viele europäische Länder zutrifft, verdeutlicht z. B. die vergleichende Studie von Webb, Farrell und Holliday (insbesondere Webb 2002: 438ff.).
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betroffen sind.11 Die SPD verlor alleine zwischen 1991 und 2004 über 330.000, die CDU etwa 180.000 Mitglieder. Innerhalb von knapp 15 Jahren brach beiden Parteien damit je ein Drittel ihrer Mitgliedschaft weg. Den Sozialdemokraten gehen jeden Tag 70 Mitglieder verloren, bei der CDU sind es 35. Neben dem personellen Aderlass müssen sich die Parteien einem weiteren Problem stellen. Innerhalb einer allmählich austrocknenden Parteiorganisation vor Ort ist nur noch eine Minderheit der Mitgliederschaft parteipolitisch aktiv. In Bezug auf die Organisationswirklichkeit der CDU in den 1990er Jahren schreibt Thomas von Winter (1992: 5): Das innerparteiliche Geschehen auf Orts- und Kreisverbandsebene ist weitgehend von Apathie und Resignation gekennzeichnet. Unter dem Eindruck von Wahlniederlagen haben vielfach auch die ehemals aktiven Mitglieder den Rückzug aus der Parteiarbeit angetreten.
Empirische Erhebungen können diese Einschätzung im Grundsatz parteiübergreifend für die Gegenwart bestätigen (vgl. Heinrich/Lübker/Biehl 2002). Zwar halten Mitglieder nach eigenen Angaben mehrheitlich Kontakt zu ihren Parteien. Allerdings gibt es in beiden großen Volksparteien eine große Gruppe von passiven Mitgliedern, die dem Parteileben vollständig fern bleibt und bei einer Befragung angab, keinerlei Zeit für die Partei aufzubringen. Für diese Parteimitglieder ist die Mitgliedschaft lediglich Ausdruck finanzieller und symbolischer Unterstützung. Klein (2006: 54) geht davon aus, dass insgesamt rund 70 Prozent der deutschen Parteimitglieder innerparteilich keinerlei Engagement zeigen und wenn doch, die innerparteiliche Aktivität auf den vereinzelten Besuch von Parteiveranstaltungen beschränkt ist. Aus der CDU-Mitgliederstudie von Viola Neu (2007: 18ff.) lässt sich wiederum herauslesen, dass der Anteil der vollständig passiven Mitglieder im Vergleich zu 1977 gewachsen ist. Obwohl zunächst keine Paneldaten lokalisiert werden konnten, die eine genaue Entwicklung von Partei-Identifikation speziell bei Mitgliedern umfassen, wird gesamtgesellschaftlich durchaus eine emotionale Entkoppelung der Bürger von den Parteien deutlich. Obgleich die Befunde von Land zu Land variieren (Berglund et al. 2005), zeigt sich unter dem Strich doch eine quantitative Abnahme der Partei-Identifikation in westlichen Demokratien (Clarke/Stewart 1998, Dalton 2000, Wattenberg 2002, Dalton/Weldon 2005). Arzheimer (2006) konnte in einer empirischen Studie nachweisen, dass sich in Deutschland keine rapide, wohl aber eine langfristig gleichbleibende Abnahme von ParteiIdentifikation zeigt.
11 Oskar Niedermayer erfasst die Mitgliederdaten der Parteien regelmäßig. Die aktuelle Version der „Parteimitglieder in Deutschland“ findet sich unter: http://www.polsoz.fu-berlin.de.
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Parteien sehen sich also mit zwei Problemen konfrontiert. Einerseits haben die großen Parteien Schwierigkeiten, ein Erscheinungsbild an ihre Bezugsgruppen (auch Mitglieder) zu vermitteln, das den Kriterien organisationaler Identität entspricht. Die Medien haben auf dieses Kommunikationsdefizit mit dem Begriff der Identitätskrise reagiert und dort vor allem den Verlust von Unterscheidbarkeit diskutiert. Andererseits fällt es den großen Parteien auch schwer, dass sich Menschen mit der Partei identifizieren, sowohl darüber hinaus eine aktive, kontinuierliche Mitgliedschaft anstreben. Die Erkenntnisse der Organisationsforschung können als Scharnier fungieren. Es liegt nahe, dass diese Profilkrise nachteilig ist, vor allem für die Bindung an die Partei, vielleicht auch für das aktive Engagement. Im nächsten Kapitel soll diskutiert werden, ob und wenn ja: wie die Parteienforschung auf diese sich andeutende Querverbindung reagiert hat. 2.3 Einordnung des Vorhabens in den Kontext der Parteienforschung Obwohl Parteien heute regelmäßig als „Interessenorganisationen in eigener Sache“ (Steffani 1988) bezeichnet werden, können ihnen politische Zielsetzungen unterstellt werden, welche die Parteien in die Tat umsetzen wollen. Zur Durchsetzung dieser politischen Ziele streben sie nach Macht und Einfluss, den sie durch die Übernahme von Regierungsverantwortung sicherstellen können. In demokratischen Systemen wiederum hängt die Übernahme von Regierungsverantwortung vom Abschneiden bei demokratischen Wahlen ab, bei denen Parteien in der Regel eine Maximierung von Wählerstimmen anstreben. Mit den Zielsetzungen politischer Parteien überschneiden sich ihre Funktionen, verstanden als nützliche Leistungen für ihre Umwelt, die Parteien erbringen sollen und in vielen Fällen auch tatsächlich erbringen (von Beyme 2000, Diamond/Gunther 2001, Niclaus 2001, Montero/Gunther 2002, von Alemann 2003, Wiesendahl 2006). Parteien leisten dabei weit mehr als den verfassungsmäßigen Auftrag entsprechenden Beitrag zur Willensbildung, wie Christian Junge und Jakob Lempp (2008: 11) zusammengefasst haben: Sie vernetzen das zentrale politische Entscheidungssystem mit der Gesellschaft und die verschiedenen gesellschaftlichen Subsysteme untereinander (Linkage-Funktion), sie sammeln die in der Gesellschaft formulierten Interessen, Forderungen und Wünsche, bündeln diese und tragen sie schließlich in das zentrale politische Entscheidungssystem hinein. Dadurch sichern die Parteien die Responsivität des politischen Systems. Gleichzeitig kommt ihnen aber auch die Funktion der politischen und kommunikativen Führung der Gesellschaft zu. Parteien müssen Szenarien möglicher zukünftiger Problemlagen abschätzen, Lösungsvorschläge erarbeiten und schließlich versuchen, diese auch durchzusetzen. Parteien dürfen nicht lediglich auf gesellschaftlichen Input warten, sie müssen sich auch aktiv am politischen Diskurs einer Gesellschaft beteiligen. Darüber
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Konzeptionelle Vorüberlegungen und Forschungsstand hinaus hat es das politische System in Deutschland weitgehend den Parteien überlassen, das politische Personal zu rekrutieren, jenes so zu sozialisieren, dass es schließlich auch für das praktische Politikmachen in geeigneterweise vorbereitet ist und es schließlich in Wahlen dem Bürger zu präsentieren.
Bereits Thomas von Winter (1982: 450) wies darauf hin, dass die Parteientheorie in der Erforschung von Funktionen aufgehe, die Parteien für einen Gesellschaftstypus erbringen. Zu einem nicht unwesentlichen Teil besteht Parteienforschung heute immer noch darin, Zielsetzungen von Parteien zu bestimmen, ihnen bestimmte Funktionen zuzuweisen und die Effizienz der Funktionserfüllung zu untersuchen (dazu kritisch Stöss/Niedermayer 1993, auch Winkler 2002). Eng damit verbunden ist die Aufgabe, Parteien überhaupt zu definieren, wobei die Aussage, was eine Partei ist, noch nichts darüber aussagen muss, welche Zielsetzungen sie verfolgt, und welche Funktionen ihnen tatsächlich zukommen. In allen drei miteinander verknüpften Bereichen (Definition, Ziele, Funktionen) wird heute Realismus großgeschrieben. Von der Vorstellung einer perfekten Definition, des einen besten Funktionskataloges oder einer allgemeinen Theorie von Parteien nimmt man Abstand. „We fear that the search of for a general theory of parties (or politics) may prove to be as fruitless as the search for the Holy Grail“, notieren José Montero und Richard Gunther (2002: 16). Zusammengeführt wurden und werden Definitionen, Ziele und Funktionen politischer Parteien in Typologien; die Arbeit an der theoretischen Erstellung und empirischen Überprüfung von Parteientypologien, also zu einer bestimmten Zeit in bestimmten Staaten und Gesellschaften dominierende Arten politischer Parteien, darf als weiteres Charakteristikum der Parteienforschung bezeichnet werden. Parteien haben danach vier Entwicklungsstadien durchlaufen: von der Kader- und Rahmenpartei zur Massenintegrationspartei, von dieser zur Volksund schließlich dann zur wahlprofessionalisierten Partei (dazu z. B. Grabow 2000). Jeder dieser vier Typen verweist auf eine spezifische Konfiguration sozialer Einbindung, interner Organisation und Rolle in der staatlichen Sphäre. Freilich haben auch die Parteientypologien Kritik erfahren (Eurozentrik, Willkür der Kriterien usw.), auch hier herrscht heute ein Bild des Nebeneinanders und der Überschneidung verschiedener Typologien, wobei sich die Forschung insbesondere bei der zeitlichen Abfolge der letzten beiden Typen uneins ist; mithin befinden sich neben der wahlprofessionalisierten Partei mit der Neokaderpartei, der Kartellpartei oder der Netzwerkpartei eine ganze Reihe weiterer Modelle im Umlauf (vgl. dazu auch Kapitel 5.5.1). Heute werden immer wieder Versuche unternommen, die Komplexität der Parteienforschung zu reduzieren. Jürgen Winkler (2002: 213) zufolge operiere die Parteienforschung gegenwärtig auf den drei Ebenen Parteien als Organisation, Parteien in der Regierung und Parteien im Elektorat. Bei genauerer Betrach-
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tung gliedern sich auch diese Felder in mannigfaltige Subebenen auf. Hinzu kommt, dass Parteien politische Organisationsformen mit langer Geschichte sind. Bereits im 17. Jahrhundert kam es im britischen Parlament zur Formierung parlamentarischer Gruppen, die als Vorläufer moderner Parteien gelten. Nach der Konstituierung der Frankfurter Nationalversammlung entstanden Mitte des 19. Jahrhunderts auch in Deutschland die ersten Parteien. Dementsprechend gehört die Wissenschaft von den Parteien zu den traditionsreichsten Zweigen der Sozial-, insbesondere natürlich der Politikwissenschaften. Komplexität und Geschichte des Forschungsgegenstandes haben im Laufe der Zeit eine wahre „Flut“ (Niedermayer/Stöss 1993: 7) an theoretischen Monografien sowie empirischfundierten Einzelfall- und Vergleichsstudien hervorgebracht, die heute auch von Experten kaum noch überblickt werden kann. Die letzte bekannte (und wohl bisher einzige) quantitative Erfassung des Bestandes legten Daniele Caramani und Simon Hug (1998) vor. Beide Autoren lokalisierten 11.500 Arbeiten, die sich alleine seit Ende des Zweiten Weltkrieges mit politischen Parteien in Europa beschäftigen. Natürlich ist diese Zahl in den vergangenen 12 Jahren weiter gewachsen. - Organisationsforschung Identifikation Organisationale Identität Handeln
- Parteienforschung -
Partei-Identität
ParteiIdentifikation
Party-Images Parteienkonvergenz
Abbildung 3: Diskussion des Forschungsstandes
Innerparteiliches Engagement
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Der umfangreiche Bestand an Literatur und die anhaltende Konjunktur des Forschungsgegenstandes Partei machen es schwer, den Stand der Forschung zu einer in der Parteienforschung ansiedelbaren Fragestellung überhaupt angemessen und abschließend zu diskutieren. Umso mehr gilt dies für die hier vorliegende Fragestellung, die in der Parteienforschung gleich mehrere Subfelder adressiert. Um das Erkenntnisinteresse des Vorhabens – die Frage nach der Erosion des Erscheinungsbildes der Parteien aus Mitgliedersicht und deren Auswirkungen – in den Kontext der Parteienforschung zu stellen, sollen nun nacheinander die Bereiche Partei-Identität, Party-Image, Parteienkonvergenz, Identifikation und Engagement diskutiert werden. Die obige Abbildung soll verdeutlichen, dass sich die Auswahl dieser fünf Felder an jenen Variablen und Zusammenhängen orientiert, die von der Organisationsforschung gewissermaßen vorgegeben werden. Im Kern sind dies einerseits die Variablen Organisationswahrnehmung der Mitglieder (unter dem Aspekt organisationaler Identität und deren Diffusion), sowie andererseits die Bereiche organisationale Identifikation und innerorganisationale Aktivität. Dem Bereich Organisationswahrnehmung (unter dem Aspekt organisationaler Identität) entspricht am ehesten noch der Bereich der Party-Image-Forschung. Zudem kommt die Problematik der Erosion von Parteienbildern im Diskurs um Parteienkonvergenz gut zum Ausdruck. Andererseits hat sich die Parteienforschung natürlich auch mit der Frage beschäftigt, warum sich Menschen mit einer Partei verbunden fühlen und welche Bedingungen gegeben sein müssen, dass Menschen einer Partei beitreten und sich in ihrer engagieren. Hier wäre herauszufinden, ob in der Parteienforschung Einflussgrößen auf Identifikation und Engagement zu finden sind, die dem Konzept organisationale Identität entsprechen. Da der Begriff Identität bei vielen Parteienforschern Verwendung findet, soll die Diskussion des Forschungsstandes damit beginnen, dass wir uns die Verwendung des Identitätsbegriffes in der Parteienforschung etwas genauer anschauen. 2.3.1 Identität als Metapher in der Parteienforschung Auch in der Parteienforschung wird der Begriff Identität im Zusammenhang mit Parteien benutzt (beispielsweise bei Ishiyama/Shafqat 2000, von Beyme 2000, Schmitter 2001, Stöss 2002, Reichhart-Dreyer 2002, von Alemann 2003, Buckow/Rammelt 2003, Jun 2004a, Burkhardt 2005). Setzt man die Anzahl entsprechender Aufsätze allerdings in Beziehung zum Output der Parteienforschung insgesamt, so stellt der Diskurs um „Partei-Identität“ – falls man überhaupt von einem Diskurs sprechen kann – nicht einmal eine Fußnote im dicken Buch der Parteienforschung dar. Schwerer noch wiegt, dass sich im Vergleich zu
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anderen Bereichen der Sozialwissenschaften keine elaborierten Konzepte und nur selten überhaupt dezidierte Definitionen dessen finden lassen, was „ParteiIdentität“ sein könnte (vgl. Fine 1994). Vergleicht man schließlich die vorliegenden Begriffsbestimmungen, so zeigt sich, dass ein Begriff für ganz unterschiedliche empirische Referenten genutzt wird. So kommt Elmar Wiesendahl (2000) der Verdienst zu, in einem Aufsatz erstmals dezidiert auf die „Identitätsauflösung“ politischer Parteien hingewiesen zu haben. Dennoch konkurriert seine spätere Lesart von Partei-Identität (2000: 275f.) als „symbolisches Einverständnisverhältnis“ zwischen Partei und ihren Bezugsgruppen z. B. mit Thomas Falkners Achtpunktemodell, das beim Mitgliederselbstverständnis beginnt und mit der „kulturellen Ausstrahlung“ der Partei endet (Falkner 2000: 230). Erst im Jahr 2004 ist von Helmut Schneider eine empirische Studie vorgestellt worden, die einerseits eine weiterführende parteienbezogene Definition von Identität anbietet und andererseits – analog zu dieser Studie – den Versuch unternimmt, Identität als unabhängige Variable zu konzeptionieren und deren Auswirkungen – im Unterschied zu dieser Studie – auf „Wählerverhalten“ zu untersuchen. Schneiders theoretisches Kernkonstrukt stellt – in Anlehnung an die Arbeiten von Heribert Meffert – der Begriff der Marke dar. Eine Marke ist nach Schneider ein „in der Psyche des Konsumenten verankertes, unverwechselbares Vorstellungsbild von einem Produkt oder einer Dienstleistung“ (2004: 5). Ähnlich dem Begriff der organisationalen Identität, so werden auch der Marke nützliche Funktionen zugeschrieben. Sie erleichterten Identifikation von und mit der angebotenen Leistung (in diesem Sinne der Partei) und dienten ferner als Orientierungshilfe in Form eines „Information Chunk“ (Schneider 2004: 7). Ebenfalls ähnlich zur hier skizzierten Forschung und den Dimensionen Zentralität und Distinktivität operationalisierte Schneider in einem deduktiv-nomologischen Research-Design die Faktoren Markenklarheit, Markeneinzigartigkeit und Markendifferenziertheit, um sie den „traditionellen“ soziologischen, sozialpsychologischen und ökonomischen Erklärungsfaktoren von politischem Wahlverhalten zur Seite zu stellen. Sind Marken „wahlverhaltensrelevant“? Schneider beurteilt seine Ergebnisse insgesamt als „ambivalent“ (2004: 235): „Insgesamt induzierten die empirischen Ergebnisse einen erheblichen Einfluss von Politikmarken auf das Wahlverhalten und damit einen eingehenderen Forschungsbedarf“. Positiv zu bewerten ist an der Arbeit von Schneider, dass eine Identitätsdefinition geliefert wird, die für die politikwissenschaftliche Parteienforschung ungewöhnlich ausführlich ist. Zudem wendet sich Schneider auch der Frage zu, welche Funktionen Identität haben kann. Entscheidend aber ist Schneiders Perspektivwechsel, weg von der Frage der Markenkonstruktion hin zu einem Erkenntnisinteresse, das sich auf die Markenperzeption konzentriert und diese in Bezug zu menschlichem Verhalten, in diesem Fall Wählerverhalten, setzt. Auf
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der anderen Seite fehlt eine gewisse Sensibilität für Marke als Konstrukt, die in einem Prozess hervorgebracht wird. Problematisch scheint auch, dass im Rahmen einer deduktiv-nomologischen Forschungsanlage Annahmen zur Funktion von Marken präsupponiert werden, die aber noch nicht den Status einer Theorie beanspruchen können. So wirkt das Erkenntnisinteresse überzeugend, aber die Umsetzung setzt zu früh auf Repräsentativität. Mithin bleiben, und das ist für den Zusammenhang der hier vorgestellten Forschung wichtig, Parteimitglieder als Zielgruppe der Untersuchung ausgeklammert. 2.3.2
Party-Images – Erscheinungsbilder der Parteien
Auch wenn sich in der Parteienforschung kein Identitätsbegriff findet, der dem Begriff der organisationalen Identität nahe kommt, so findet sich doch ein Konzept, dass gewisse Ähnlichkeiten aufweist. In ihrem Aufsatz definieren Kenneth Janda und andere (1995: 171) „the identity of a political party as the image that citizens have in mind when they think about that party”. In der Tat werden die Begriffe Identität und Image in der Parteienforschung oft im gleichen Atemzug gebraucht. In gewisser Art und Weise entspricht die Vorstellung von organisationaler Identität als kognitiver Realisation von zentralen, unterscheidbaren und Dauer besitzenden Merkmalen also zunächst der Idee des „Party-Image“. Die Erforschung von Party Images – von Trilling (1975: 285) definiert als „mental picture an individual has about a political party“ – entsprang der USamerikanischen, empirisch ausgerichteten Parteienforschung (vgl. bereits Crane 1959, Matthews/Prothro 1966), beschränkt sich bis heute beinahe ausschließlich auf sie (als Ausnahme: Klingemann/Wattenberg 1992) und hat seit ihrem Ursprung zu Beginn der 1960er Jahre den für viele wissenschaftlichen Begriffe typischen Konjunkturzyklus erfahren (z. B. bei Sanders 1988, Baumer/Gold 1995, Chiung-Chu 2005). Worum geht es der Party-Image-Forschung? Diese Disziplin beschäftigt sich mit der Wahrnehmung von Parteien durch das Elektorat. Die Mitgliederebene bleibt auch hier ausgeblendet. Dabei wurden und werden in methodischer Hinsicht von Forschern meist ex ante inhaltliche Kategorien (Werte, Positionen zu Politikfeldern) aufgestellt, die von den Befragten mit den Parteien in Verbindung gebracht werden sollen, und deren Verteilung in Typen zusammengefasst. Im Ergebnis konnten – so zumindest für die USA – für bestimmte Parteien Typen von Images rekonstruiert werden, wobei deren Tendenz, erodierende Images (Trilling 1975, Sanders 1988, Klingemann/Wattenberg 1992, Wattenberg 2002) versus klare Images (Baumer/Gold 1995), uneinheitlich bleibt.
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Die Konzepte des Party-Image und der organisationalen Identität weisen zunächst denselben Startpunkt auf. Beide beschäftigen sich mit der kognitiven Repräsentation jener Inhalte, die Menschen mit einer Partei in Verbindung bringen. Darüber hinaus gibt es aber auch Unterschiede. Während organisationale Identität – neben den Inhalten – vor allem die Prinzipien der Ordnung von Inhalten und der Relationen zwischen Inhalten betont, bleibt die Idee vom Primat der Strukturen in der Party-Image-Forschung unterrepräsentiert. Zwar verwies gerade Wendy Rahn (1993) in ihrer Studie auf die alltäglich orientierende Wirkung von Partei-Bildern bei Wahlentscheidungen. Aber lediglich Jim Josefson (2000) geht über diese Diagnose hinaus und deutet an, dass Bilder oder Stereotypen einen gewissen Aggregatszustand brauchen, um als Handlungsorientierung herangezogen werden zu können. Dabei spielen offenbar nicht nur die Merkmale an sich in ihrer inhaltlichen Qualität eine Rolle, sondern vor allem ihr Arrangement: „Not only does it matter just what meanings citizens attach to the parties but also the character of those meanings matter as well“ (Josefson 2000: 300). 2.3.3 Die Diskussion um Parteienkonvergenz Weil sich organisationale Identität in der hier vorgeschlagenen Lesart auf vier Dimensionen bezieht, kann auch Diffusion organisationaler Identität vier unterschiedliche Gesichter annehmen. Wie in Abschnitt 2.2.2 dargestellt, wird die Identitätskrise der Parteien im medialen Diskurs vornehmlich in Bezug auf die Dimension Differenz verhandelt. Dieser logische Nexus findet sich auch in der Forschung. Wenn Parteienwissenschaftler von den Identitätsproblemen der Parteien sprechen, so sind, nicht immer, aber doch häufig, Probleme der Unterscheidbarkeit gemeint. „Mit der Annäherung der Parteien im ideologischen Wettbewerbsraum wird die Frage der Identität der Parteien akut“, notiert z. B. Klaus von Beyme (2000: 95). Tatsächlich diskutieren Experten seit längerer Zeit, ob es noch deutliche Unterschiede zwischen den Parteien gibt – oder ob sich das Phänomen der Parteienkonvergenz fortsetzt. Mit Konvergenz ist ein Prozess der Annäherung von Parteien oder Parteienfamilien innerhalb eines Parteiensystems gemeint, der sich in der Regel sowohl auf die Politikformulierung in programmatischen Schriften als auch die politische Performanz von Parteien in Regierungsverantwortung beziehen kann. Heute scheint der Befund klar zu sein. „It is becoming increasingly difficult to clearly distinguish between the policy of the Social Democrats and those of the Christian Democrats as both seek to appropriate for themselves what is referred to as the new centre”, behauptet Karl-Rudolf Korte im Fall Deutschland
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(2003: 112). Anschaulich werde dieses Problem auch bei den programmatischen Schriften der Parteien. So sekundiert Johannes Kuppe (2004) in Das Parlament: Für alle Parteien korrodieren die Grenzen großer Teile ihrer Programme bis hin zur Unkenntlichkeit. In vielen Bereichen, vom zugrunde liegenden Menschenbild bis zu den Zielvorstellungen von Frieden, sozialer Gerechtigkeit und Schutz der Menschenwürde gibt es so große Schnittmengen, sodass unterscheidende Spezifikationen nur noch nach tiefschürfenden Erklärungen verständlich werden.
Im Aufsatz von Korte klingt eine Argumentationsfigur an, die oft zur Erklärung von Parteienkonvergenz genutzt wird. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich die soziale Zusammensetzung Deutschlands und vieler anderer europäischer Staaten. Mit der Transformation sozialer Milieus (Geißler 1996), der Erosion althergebrachter gesellschaftspolitischer Konfliktlagen (Lipset/Rokkan 1967) wandelte sich zwangsläufig die gesellschaftliche Basis der Parteien. Dieser neuen sozialen Wirklichkeit mussten sich die Parteien anpassen. Der unvermeidliche Adaptionsprozess war durch einen Strategiewechsel geprägt, durch eine Revidierung zentraler Parteiziele. Bald ging es Parteien offenbar weniger darum, die Interessen eines fest umrissenen Milieus zu vertreten, sondern nun bestand das wichtigste Ziel darin, Stimmen zu maximieren (Puhle 2002). Aus Kaderorganisationen und Massenintegrationsparteien wurden – nach dem „Zerfall ihrer Voraussetzungen“ (Dürr 1999) – „Allerweltsparteien“ (Kirchheimer 1964), die sich der Maximierung von Wählerstimmen verschreiben mussten, um zu überleben. Die Integration der Anhängerschaft und die exklusive Interessenvertretung distinkter sozial-moralischer Milieus waren als Ziele nachrangig geworden. Diese Entwicklung hat sich in gegenwärtigen Parteientypen wie der professionalisierten Wählerpartei und der Kartellpartei weiter fortgesetzt. Im Kern dieser Modelle (zu denen heute auch die Großparteien CDU und SPD gerechnet werden) steht die Überlegung, dass die allmählich absterbende Verwurzelung der Parteien in der Gesellschaft durch eine Hinwendung zur staatlichen Sphäre und eine möglichst professionalisierte Wähleransprache kompensiert werden soll. Bei der Gestaltung eines nachfrageorientierten Politikangebotes bleibt die Orientierung am Wähler der Mitte, dem „median voter“ (Downs 1957, Black 1958) eine gewinnbringende, zielführende Strategie. Andrew Hindmoor (2004: 5) hat diese Argumentation griffig zusammengefasst: Voters have preferences. These preferences can, it is assumed, be ordered from left to right in a manner agreed upon by all voters. Within the one-dimensional space, parties select policies, individuals then are voting for the party ‘closest’ to them. Left-wing voters vote for left wing parties (…) Parties can only maximize their vote by adopting policies appeal to the median voter. The median voter is that person whose preferences are such that they have as many others to their left as to their right. There is no successful electoral alternative to this position. Parties that opt for ideological purity over compromise will be defeated.
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Unter dem Gesichtspunkt der Unterscheidbarkeit macht die inhaltliche Orientierung der Parteien am Medianwähler eine differente Positionierung in Werte- und Policyfragen nicht per se unmöglich. Allerdings wächst die Gefahr, dass sich diese Positionierungen überschneiden, weil sich alle Parteien an den Präferenzen desselben sozialen Segments orientieren. Ferner kann es sich für stimmenmaximierende Parteien als gewinnbringende Strategie erweisen, überhaupt auf Positionierungen zu verzichten. Gerade aus einer wettbewerbsdemokratischen Perspektive erscheint diese Strategie auf den ersten Blick paradox, denn einerseits ist die Herstellung von Unterscheidbarkeit wichtig, um „electoral decidability“ (Bartolini 2002) zu realisieren, also Wahlentscheidungen gerade möglich zu machen. Andererseits ist der Parteien-Wettbewerb – gerade unter den Bedingungen sozialer Transformationen und damit verbundener elektoraler Volatilität – mit geringer Vorhersehbarkeit und hohen Risiken verbunden, die sich umgehend in plötzlichen Wahlniederlagen niederschlagen können. Diese Situation ständiger Verletzlichkeit der Parteien im permanenten Wahlkampf hat seine Auswirkung auf organisationale Selbstbeschreibungen und Positionierungen. So schreibt Stefano Bartolini (2002: 107): In situations of high vulnerability, established parties may be unwilling to take the risk of identifying clearly with policies and issues (…) In these situations, there is a strong incentive to define issues in such a way that no opposing sides are identifiable.
Aus Angst vor Nachteilen auf dem Wählermarkt kommt es also bei offiziellen Selbstbeschreibungen zur Nutzung von Merkmalen, die in ihrem Bedeutungsgehalt unscharf sind, um sich der Umwelt (Gesellschaft, Wähler) anpassungsfähig zu halten. Gleichzeitig nutzen Parteien zur Selbstdarstellung Merkmale, die auch von anderen Konkurrenten im Feld zur Selbstdarstellung genutzt werden, weil man sich strategisch an identischen Teilen des Elektorats, sprich: der (alten oder neuen) Mitte orientiert. Auf seiner Rede vor der Grundwertekonferenz der CDU in Berlin am 20. Februar 2006 beschrieb der damalige CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla seine Partei folgendermaßen: „Die CDU ist die Partei der Mitte. Das wird so bleiben!“ Dasselbe Merkmal nutzte Kurt Beck, Parteivorsitzender der SPD, in einem Interview mit der Berliner Zeitung im September 2006 zur Charakterisierung der SPD. Bereits 1998 hatte die SPD als Partei der „Neuen Mitte“ den Bundestagswahlkampf für sich entscheiden können. Auf dem traditionellen Dreikönigstreffen der FDP Anfang Januar 2007 reklamierte Guido Westerwelle
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für seine FDP, „Anwalt der Mitte“ zu sein.12 Walter (2006b) fasst den hier skizzierten Zusammenhang prononciert wie kritisch zusammen: Viel Sex-Appeal besitzt diese politische Ortsbezeichnung nicht mehr: Mitte. Trotzdem drängen alle Formationen im deutschen Parteiensystem dorthin (…) Mitte-Parteien dürfen keine scharfen programmatischen Ecken und Kanten haben. Sie wollen schließlich möglichst viele anziehen und nur wenige abstoßen. Doch damit flacht ihr Profil zunehmend ab. Ihre Aussagen werden vage, ungefähr, schwammig, verlieren an Kontur, Eindeutigkeit, Konsistenz und markanter Zielorientierung. Wer mit möglichst vielen Kräften quer im Spektrum des Parteiensystems koalitionsfähig sein möchte, darf sich eine präzise Zielrichtung nicht leisten. Eben deshalb aber verlieren oft gerade und paradoxerweise Mitteparteien, ohne feste programmatische Substanz, ihren Charakter als Groß- und Volkspartei. Denn sie verlieren an innerer Kraft, an Verve und Spannung, was aber alles nötig ist, um nach außen anziehend zu wirken, um kluge und ehrgeizige Köpfe zu gewinnen, auch um Kraft- und Führungsnaturen zu rekrutieren und sie irgendwann einmal an die Spitze von Partei und Politik zu hieven.
Für andere Autoren dagegen ist das Phänomen der Parteienkonvergenz weniger auf die strategische Positionierung der Parteien, denn auf die institutionelle Architektonik des jeweiligen politischen Systems zurückzuführen. Bei Manfred G. Schmidt (2001) ist die Frage der Parteienkonvergenz eher eine Frage der „Sichtbarkeit“. Schmidt geht davon aus, dass die Sichtbarkeit von Parteieffekten im Wesentlichen mit dem Demokratietypus eines Staates und dessen institutionellem Arrangement verknüpft ist. Für Deutschland attestiert Schmidt bestenfalls „mittlere Sichtverhältnisse“. Bei der gerade durch die föderale Politikverflechtung in Deutschland (weiterführend Scharpf 1999) gegebene, mehr oder weniger starke Mitwirkung der Oppositionsparteien an der Regierungspolitik versickerten die Politikunterschiede zwar nicht vollends, allerdings seien „die verbleibenden Unterschiede zwischen den Parteien in der Staatstätigkeit weniger sichtbar“ (Schmidt 2001: 546). Neben der theoretischen Erklärung hat sich die Parteienforschung auch mit der empirischen Fundierung der These von der Parteienkonvergenz beschäftigt. In diesem Bereich dominieren nach wie vor standardisierte inhaltsanalytische Auswertungen von Parteiprogrammen und Regierungserklärungen (Poguntke 2003). Die Frage nach der Annäherung politischer Parteien wird oft im Rückgriff auf räumliche Modelle der Parteienbewertung diskutiert (dazu im Detail Herrmann 2005; siehe auch Metz/Schmidt/Zulic 2003: 17ff.). Die Grundannahme besteht darin, dass Parteien Positionen in einem politischen Raum einnehmen. Obwohl im Prinzip viele Kriterien herangezogen werden können, um diesen politischen Raum zu dimensionalisieren, dominiert in der Forschung nach wie 12 Dass das Phänomen der Mitte dabei nicht auf Deutschland beschränkt ist, zeigt Hindmoors interessante Arbeit über New Labour in Großbritannien: „In presenting itself as being a party at and of the centre, New Labour is only doing what others have done before“ (Hindmoor 2004: 4).
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vor das „Links-rechts-Modell“ (Ladner 2004: 133). Auch bei der Parteiprogramm-Analyse kommt dieses Schema zum Einsatz. Hans-Dieter Klingemann und Andrea Volkens (2001: 514ff.) identifizierten bei der Analyse der Programme von deutschen Parteien zunächst vier zentrale Politikbereiche: Staats-, Wirtschafts-, Gesellschafts- und Außenpolitik. Zu jedem dieser Politikbereiche definierten die beiden Wissenschaftler typisch „linke“ und typisch „rechte“ Positionierungen. Im weiteren Verlauf der Analyse fassten Klingemann und Volkens die getrennt betrachteten Informationen zu linken und rechten Positionen der Parteien zusammen, um Parteien insgesamt, nach ihrer Programmatik, auf einer Links-rechts-Achse zu verorten. Dazu wurde die Summe der Prozentanteile für die linken Positionen von denen der rechten abgezogen. So ergaben sich Werte zwischen +100 (maximale rechte Position) und –100 (maximale linke Position). Um zu bestimmen, wie weit die einzelnen Parteien programmatisch voneinander entfernt waren, bildeten sie den Mittelwert aus den absoluten Distanzen zwischen den Links-rechts-Positionen (vgl. Metz/Schmidt/Zulic 2003: 17). Es finden sich insgesamt umfassende, komparativ ausgerichtete Analysen der Programmatik führender Parteien aus 45 OECD-Staaten (etwa Budge/Robertson/Hearl 1987) ebenso wie Studien, die sich auf die nationalstaatliche Ebene beschränken (Spiliotes/Vavreck 2002, Goot 2002, Goot 2004). Eine Studie, die sowohl programmatische Positionen als auch „party performances“ integriert, wurde von Miki Caul und Mark Gray (2000) durchgeführt. Ein einheitlicher Tenor zeigt sich indes nicht. Einerseits sei – zu diesem Schluss kommt jüngst auch Michelle Williams (2008) – die These von der Konvergenz politischer Parteien in Deutschland hin zu moderaten Positionen empirisch nicht belegbar. Caul und Gray andererseits sehen die Annahme von Konvergenz im Grundsatz bestätigt, sowohl in Bezug auf die Programmatik, wie auch hinsichtlich der Implementation politischer Problemlösungsstrategien. Aus der Perspektive des hier vorliegenden Projekts liegt das Problem bei der Erforschung von Konvergenz weniger in der Problematik von richtigen und falschen theoretischen Erklärungsansätzen (vgl. Jun 2000) und auch nicht darin, ob nun Konvergenz durch eine quantitative Analyse von Wahlprogrammen nachgewiesen werden kann, oder auch nicht. Das Defizit besteht darin, dass bei der Analyse von Konvergenz die Wahrnehmung zentraler Bezugsgruppen wie der Wähler, vor allem aber auch der Mitglieder ausgeblendet ist. Die Frage, ob auch Mitglieder unter Konvergenz „leiden“, welche Ausformung diese Konvergenz hat und welche Folgen damit verbunden sind – dies alles sind interessante Fragen, die in der Parteienforschung bislang kaum behandelt worden sind. Erst im Rahmen der Stuttgarter Parteimitgliederstudie haben sich Jochen Welter und Michael Lateier (2004) dieses Defizits angenommen. Auf die Ergebnisse ihrer Arbeit soll in Kapitel 2.3.6 eingegangen werden. Unter dem Strich erstaunt diese
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Forschungslücke auch deswegen ein wenig, da Unterscheidbarkeit sowohl im öffentlichen wie wissenschaftlichen Diskurs immer wieder wichtige Funktionen zugeschrieben werden und die Frage nach Negativeffekten auf der Hand liegt. Vielleicht hat die Negierung der Mitgliederebene bei der Diskussion von Konvergenz aber auch damit zu tun, dass die Mitgliederebene generell, das meinen zumindest die Forscher, an Bedeutung verliert. Warum also sich mit Erscheinungsformen und Effekten von Konvergenz auf der Mitgliederebene beschäftigen, wenn Mitglieder für Parteien ohnehin eher ein lästiges Anhängsel (geworden) sind? Wir werden am Ende dieses Kapitels darauf zurückkommen. 2.3.4
Parteien-Identifikation: Emotionale Verbindungen mit der Partei
„It is assumed that many people associate themselves psychologically with one or the other of parties“, schreiben Russel Dalton, Ian McAllister und Martin Wattenberg (2002: 21). Diese psychische, oft als emotional oder kognitiv beschriebene Koppelung eines Menschen an eine Partei wird in der Regel als „party-identification“ definiert (Gabriel 2001: 230) und in der Parteien- und Wahlforschung in zweifacher Hinsicht genutzt. Zum einen als Prädiktor für Wahlentscheidungen, zum Zweiten als Indikator für die generelle Verankerung der Parteien in der Gesellschaft. Dabei wird meist die Intensität und Stabilität der Parteienbindung in repräsentativen Umfragen erhoben und statistisch ausgewertet. Die Erforschung der Identifikation von Menschen mit Parteien insgesamt gehört seit den wegweisenden Arbeiten von Angus Campbell et al. (1960) über den „American Voter“ durchaus zu den traditionsreicheren Zweigen der Parteienforschung. Dennoch kommen John Bartle und Paolo Belucci (2006: 1, Hervorhebung durch den Verfasser) zu dem Schluss, dass although most analysts of electoral behavior use this concept in their accounts of vote decisions and electoral outcomes, there is surprisingly little consensus about its definition, the precise nature of the loyalty, the forces shaping these predispositions and the measurement of the construct.
In der Tat weist der theoretische wie empirische Umgang mit dem Konstrukt Identifikation einige Probleme auf. Zunächst einmal scheint die Nutzung des Theorems der Identifikation lediglich auf die Gruppe der Wähler beschränkt geblieben zu sein. Während zwar Parteienidentifikation von Steven Finkel und Karl-Dieter Opp (1991) als Voraussetzung parteipolitischen Engagements bezeichnet worden ist, spielt die Verbindung von Identifikation und parteipolitischer Praxis, das Verhältnis von Identifikation und Parteimitglied, deren Vorbedingungen, in der Forschungspraxis keine besondere Rolle.
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Neben der Vernachlässigung des Mitglieds, von dem offenbar angenommen wird, dass es sich ganz selbstverständlich immer mit seiner Partei identifiziert, zeigt eine Literaturdurchsicht, dass Faktoren wie organisationale Identität bis jetzt, im Gegensatz zur Organisationsforschung, nicht als Einflussgröße von Partei-Identifikation in Erwägung gezogen worden sind. Diese Nichtberücksichtigung hat auch damit zu tun, dass Identifikation selbst lange per definitionem keine Vorbedingungen hatte. Als wichtige Hintergrundannahme des Konzepts von Parteiidentifizierung galt nämlich für lange Zeit, dass die emotionale Bindung eines Menschen langfristig ist und „Partei-Identifizierer“ auch trotz temporal gegenteiliger Überzeugungen in der Regel mittel- und langfristig für ihre Partei stimmen (Blais et al. 2001). Oft wurde davon ausgegangen, dass diese emotionale Koppelung im Prozess der Sozialisation entsteht. Menschen identifizierten sich naturgegeben mit ihrer sozialen Klasse, der sie entstammen und den Parteien, welche die Interessen dieser, ihrer Klasse vertreten (Sanders et al. 2002). Dergestalt erschien Identifikation als lebenslange Konstante, die neben Themen und Persönlichkeiten wesentlich die Entscheidungen von Wählern beeinflusse. Nur in geringfügiger Art und Weise könnte Partei-Identifikation, wenn überhaupt, durch andere Faktoren verändert werden (Butler/Stokes 1974, Miller/Shanks 1996). Im Gegensatz hierzu hatte z. B. die Organisationsforschung – die sich ebenfalls mit Identifikationsprozessen beschäftigte – Identifikation schon lange als dynamischer Parameter konzeptioniert (z. B. Glynn 1998). Schließlich wurden auch in der Parteienforschung Stimmen laut, die dem „stabilen“ Modell von Parteienidentifikation eine Alternativkonzeption entgegensetzten, welche die grundsätzliche Idee der emotionalen Parteienbindung beibehielt, diese jedoch von Einflussgrößen abhängig machte. In diesen „revisionist modells“ (Franklin 1992) wurde Identifikation nicht mehr als Frage des kompletten Vorhandenseins oder der vollständigen Abwesenheit thematisiert, sondern als „variable Größe“ (Arzheimer/Schoen 2005, ähnlich auch Puhle 2002) gefasst, welche in Stabilität und Intensität variieren kann und von anderen Faktoren abhängig ist. Kai Arzheimer und Harald Schoen (2005: 631ff.) unterscheiden grob drei potenzielle Einflussgrößen, welche die Identifizierung eines Menschen mit der Partei beeinflussen können. Erstens sind Faktoren beim einzelnen Bürger zu suchen. Zweitens kann die soziale Nahumgebung die Stabilität der ParteiIdentifikation beeinflussen. Die politische Färbung seiner sozialen Umgebung hat einen Einfluss darauf, welche politischen Informationen einen Menschen erreichen. Die Stabilität von Partei-Identifikation scheint drittens mit dem politischen Geschehen auf der Makroebene und der Medienberichterstattung darüber zusammenzuhängen. Obwohl Identifikation heute als dynamisches Konzept gesehen wird, das von externen Faktoren in seiner Intensität variieren kann, bleiben zwei Lücken in
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der Forschung. Erstens wird, weil vielleicht als selbstverständlich vorausgesetzt, die Identifikation auf Mitgliederebene weitgehend ausgeblendet.13 Zweitens ist organisationale Identität keine relevante Einflussgröße auf die Intensität der emotionalen Bindung eines Mitgliedes an die Partei. 2.3.5
Engagement: Handeln in und für die Partei
Identifikation ist nicht gleichbedeutend mit parteipolitischem Engagement. Eine gefühlte emotionale Bindung kann, muss aber nicht zum Parteibeitritt führen und ebenso wenig zwangsläufig in einer dauerhaften Teilnahme an innerparteilichen Aktivitäten münden. Engagement wird hier als kontinuierlich-aktive Teilnahme von Mitgliedern an parteiinternen Arbeitsabläufen aufgefasst. Zu diesen Aktivitäten können karitative Tätigkeiten zählen, aber auch das Verfassen von Beiträgen für Parteizeitungen und die Pflege der Homepage; und nicht zu vergessen ist natürlich die Mitarbeit in Parteigremien, das obligatorische Kleben von Plakaten und das Verteilen von Informationsmaterial sowie schließlich die Planung und Durchführung von Wahlkampfmaßnahmen vor Ort und die Mitgliederwerbung (vgl. Heinrich/Lübker/Biehl 2002: 30). Damit ist der Begriff des Engagements grundsätzlich auf einer niedrigeren Ebene angesetzt, als z. B. der Begriff der Partizipation. Obwohl beide Notionen oft synonym verwendet werden, impliziert Letzterer doch eher das Ausmaß der Teilhabe am parteiinternen Willensbildungsprozess. Engagement und Partizipation können natürlich überlappen, sind aber, streng genommen, nicht deckungsgleich. Vergleicht man, wie die Parteienforschung in theoretischer Hinsicht mit den Variablen Identifikation und Engagement umgegangen ist, so lässt sich sagen, dass der Variable Engagement deutlich mehr Aufmerksamkeit, vor allem im Bezug auf ihre Vorbedingungen, entgegen gebracht worden ist. Während ParteiIdentifikation für lange Zeit als sozial-struktureller Effekt betrachtet wurde (und sich die Frage möglicher Einflussfaktoren damit erübrigte), existieren gleich mehrere theoretische Modelle zur Erklärung parteipolitischen Engagements. Die Parteienforschung unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen der Frage, warum ein Bürger einer Partei beitritt – und der Frage, warum aus dem passiven Mitglied ein Aktivist werden kann. Dementsprechend findet sich bei Oskar Niedermayer (2001: 298ff.) eine Differenzierung von Beitrittsstimuli und Bin13 Dieses Defizit ist mittlerweile in Angriff genommen worden. Im Jahr 2009 schloss das Institut für Psychologie (Abteilung Sozialpsychologie) der Goethe-Universität Frankfurt die Datenerhebung für das Projekt „PART-Identifikation“ ab, eine der – nach Einschätzung des Verfassers – ersten detaillierten Untersuchungen der Identifikation von Mitgliedern mit ihrer Partei überhaupt (vgl. http://www.partei-identifikation.de).
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dungsmotiven. Zu den Beitrittsstimuli werden besondere persönliche Lebensumstände addiert, ebenso wie die Emergenz besonders charismatischer Führungspersönlichkeiten, die Menschen dazu bewegen können, einer Partei beizutreten. Warum aber binden sich Menschen längerfristig an eine Partei und werden schließlich in ihr aktiv? In der Parteienforschung konkurrieren gegenwärtig drei theoretische Perspektiven auf (innerparteiliches) Engagement (so insbesondere Biehl 2005, ferner auch Calvet/Cochliardou/Milz 2004, Klein 2006). Die sozialstrukturalistische Perspektive betrachtet – an die Arbeiten von Sidney Verba und Norman Nie (1972) anschließend – das Wirken in einer Partei zunächst als prinzipiell anspruchsvolle Tätigkeit. Um die verschiedenen Verrichtungen innerhalb einer Partei zu bewältigen, ist die Ausstattung eines (potenziellen) Aktivisten mit bestimmten Ressourcen vorteilhaft, die in einer Gesellschaft allerdings ungleich verteilt sind. Ein großes Einkommen, ein hohes Bildungsniveau und ausgeprägtes soziales Kapital tragen zur Ausbildung von „civil skills“ bei, die zum Handeln in einer Partei wichtig sind. Aus sozialpsychologischer Sicht ist parteipolitisches Engagement weniger Resultat von sozio-ökonomisch determinierten Partizipationsmöglichkeiten. Es entspringt Einstellungen und Haltungen des Einzelnen. So trägt die unmittelbare Betroffenheit eines Bürgers von politischen Entscheidungen zur Ausbildung von politischem Interesse bei. Je größer das politische Interesse ist, desto intensiver fällt die Ausprägung auch parteipolitischer Partizipation aus. Große Bedeutung kommt ebenfalls der persönlichen Einschätzung von der Wirksamkeit der eigenen politischen Aktivitäten zu: Kann mein parteipolitisches Handeln auf der Mikroebene zur Lösung gesellschaftlich relevanter Probleme auf der Makroebene beitragen? Schließlich befördert auch die starke Identifikation eines Bürgers mit einer Partei als mentale und emotionale Mitgliedschaft die Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit in einer Partei. Wissenschaftler, die wiederum Theorien des rationalen Wahlhandelns folgen, führen parteipolitisches Engagement in erster Linie auf Kosten/Nutzen-Kalkulationen der Bürger zurück. Individuen sind hier in erster Linie Inhaber von bestimmten Präferenzen. Präferenzhierarchien prägen die Kosten-Nutzen-Abwägung jeder Handlungssituation. So erscheint auch das Engagement in einer Partei als Handlungstypus, dass Individuen Kosten verursacht, aber auch Nutzen stiftet. Insbesondere die Begrifflichkeit des Rational-Choice-Ansatzes (Präferenzen, Anreize) findet sich in vielen Modellen zur Prognose parteipolitischer Aktivität – und sicher lässt sich, wie in anderen Bereichen der Parteienforschung auch, eine leichte Dominanz dieser Perspektive ausmachen. Nichtsdestotrotz erweisen sich die drei geschilderten Ansätze durchaus als untereinander anschlussfähig und werden dementsprechend bei (z. T. sehr umfangreichen) Modellen zur empirischen Erforschung der Hintergründe parteipolitischer Aktivität
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kombiniert. Niedermayer (2001: 301ff.) zufolge speist sich innerparteiliches Engagement aus expressiven und instrumentellen Motivationen. Expressive Bindungsmotive können „affektiv“ oder „normativ“ sein. Affektive Bindungsmotive liegen vor, wenn durch die Mitgliedschaft bestimmte psychische Präferenzen befriedigt werden. Von normativen Bindungsmotiven ist nach Niedermayer dann zu sprechen, wenn z. B. gruppenspezifische Normen ein parteipolitisches Engagement „nahe legen“. Für Parteimitglieder mit „instrumentellen Bindungsmotiven“ steht der „Mittelcharakter“ einer Mitgliedschaft im Vordergrund, um bestimmte Ziele zu erreichen. Niedermayer differenziert zwischen materiellen und politischen Zielen. Im ersten Fall steht das Erreichen materieller Vorteile (z. B. für Beruf und Karriere) im Vordergrund, im zweiten Fall bedingt das Streben nach der Lösung eines politischen Problems das parteipolitische Engagement eines Mitgliedes. Auch Patrick Seyd und Paul Whiteley (1992) konzipieren parteipolitisches Engagement zunächst als Handlungstypus, bei dem spezifische Kosten (z. B. Verlust von Freizeit) instrumentellen sowie nicht-instrumentellen „Nutzenvorteilen“ gegenüberstehen. Nach Heinrich, Lübker und Biehl (2002: 1ff.) stellt sich bei ersteren der Nutzen als Folge der Mitgliedschaft bzw. der Parteiarbeit ein. Geht es um politische Forderungen, folgt das Mitglied kollektiven Anreizen. Von selektiven Anreizen ist zu sprechen, wenn private Ambitionen im Vordergrund stehen, wie eine politische Karriere bzw. der Aufbau eines beruflich nutzbaren Kontaktnetzwerkes (ergebnisorientierte Anreize) oder der Kontakt mit Gleichgesinnten bzw. die Suche nach exklusiven politischen Informationen (prozessorientierte Anreize). Von nicht-instrumentellen Anreizen kann demgegenüber gesprochen werden, wenn der Zweck der eigenen Mitgliedschaft bereits in der Mitgliedschaft bzw. der Mitarbeit selbst angelegt ist. In diesem Fall erhöht die Mitgliedschaft oder die Aktivität in der Partei das Selbstwertgefühl des Bürgers, weil er damit wichtigen inneren Verpflichtungen nachkommt. Solche Verpflichtungen können sich aus verinnerlichten Beteiligungsnormen oder von außen herangetragenen Erwartungen der Familie bzw. des Freundeskreises ableiten (normative Anreize), ebenso aber aus gesellschaftspolitischen Visionen und Utopien (altruistische Anreize). Denkbar ist schließlich auch, dass eine starke emotionale Nähe zur Partei, Sympathien gegenüber Spitzenpolitikern oder aber einfach Spaß an der politischen Arbeit Mitgliedschaft und Engagement nahe legen (expressive Anreize). Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, die Vor- und Nachteile dieser theoretischen Ansätze und Modelle ausführlich zu diskutieren. Dies hat z. B. Heiko Biehl (2005: 57ff.) getan. Festzuhalten bleibt allerdings, dass organisationale Identität auf den ersten Blick in keiner der drei Schulen zur Erklärung parteipolitischen Engagements explizit Erwähnung findet und es ebenso etwas
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schwer fällt, organisationale Identität auf Anhieb einer der drei Perspektiven auf Engagement zuzuschlagen. Organisationale Identität als Anreiz zu umschreiben, wirkt deplatziert; auch die sozialpsychologische Schublade scheint nicht recht zu passen. Am ehesten bietet sich wohl der Ressourcenansatz als Anschlussmöglichkeit an, zumindest dann, wenn nach dieser Perspektive politisches Engagement auf „kognitiven Fähigkeiten“ basiert, um „Sachverhalte und Informationen zu strukturieren“ (Biehl 2005: 59). Organisationale Identität kann durchaus als solche Ressource aufgefasst werden, die wiederum auf dem Vorhandensein eines Wissensvorrates basiert, dessen Ausformung von anderen Ressourcen (Art der Bildung) abhängt. Vielleicht muss hier von einer Perspektive des theoretischen Entweder-oder Abstand genommen werden. So kann die grundsätzliche Motivation zum innerparteilichen Engagement bei einem Mitglied im Ursprung durchaus instrumentellen Überlegungen folgen. Gleichzeitig hängt in bestimmten, immer wiederkehrenden Situationen innerhalb der Partei der Vollzug einer Handlung auch davon ab, über organisationale Identität zu verfügen. Erodieren oder diffundieren wiederum diese handlungsleitenden Selbstverständlichkeiten und Orientierungsmuster, so kann die Folge auch darin bestehen, dass der Vollzug bestimmter Handlungen zum Problem wird. Geht man dann noch davon aus, dass die Fähigkeit zur Konstruktion von organisationaler Identität auf Wissensbeständen beruht, die durch Ressourcen wie Zeit und die Art der Ausbildung bestimmt werden, so fügt sich organisationale Identität als handlungsorientierendes Schema zwischen ressourcenbasierte Ansätze und Entscheidungstheorien. Organisationale Identität als handlungsleitendes Orientierungsmuster sollte in jedem Fall weniger als Gegenentwurf etwa zu Kosten-Nutzen-Entwürfen, wohl aber als deren sinnvolle Ergänzung verstanden werden. 2.3.6 Parteienbild, Parteienbindung und Engagement im Fokus der empirischen Mitgliederstudien Um einen ersten Eindruck davon zu erhalten, ob es bereits Studien gibt, die eine Erosion des Erscheinungsbildes der Parteien aus der Sicht ihrer Mitglieder dezidiert in den Blick nehmen und darüber Fragen nach den Konsequenzen dieser Erosion stellen, wurden die Felder Partei-Identität, Party-Images, Identifikation und Engagement besprochen. So zielt die Party-Image-Forschung auf das Erscheinungsbild der Parteien ab und räumt die Möglichkeit der Erosion von PartyImages ein. Zu einer Untersuchung der Auswirkungen dieser Erosionen ist es aber – gerade in Bezug auf Mitglieder von (deutschen) Parteien – nicht gekommen. Andererseits berücksichtigen Perspektiven auf Identifikation und Engage-
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ment den Einflussfaktor Identität kaum, obwohl sich, wie gezeigt, organisationale Identität durchaus im Rahmen bisheriger Erklärungsansätze (Ressourcenansatz) von parteipolitischem Engagement verwenden lässt. Zwischen Klarheit des Erscheinungsbilds, Parteienbindung und Aktivität der Mitglieder tut sich eine theoretische Lücke auf, die sich folgerichtig auch in den empirischen Mitgliederstudien wiederfindet. Obwohl in vielen der gegenwärtig diskutierten Parteitypologien ein Bedeutungsverlust der Mitgliederebene zum Ausdruck kommt und die Mitgliederebene der Parteien nach hier vertretener Meinung nicht (mehr) zu den prioritären Forschungsgebieten der Parteienwissenschaft gehört, so sind Mitglieder der Parteien in den letzten Jahrzehnten immer wieder zum Gegenstand empirischer Studien geworden. An der Universität Potsdam kam 2002 eine große Mitgliederbefragung zum Abschluss. Jüngst wurden die ersten Pretests zur „Parteienmitgliederstudie 2009“ beendet, die vom Institut für deutsches und europäisches Parteienrecht und Parteienforschung (Universität Düsseldorf) und dem Arbeitsbereich politische Soziologie der Universität Hannover koordiniert wird. Vor sechs Jahren hat Melanie Walter-Rogg (2004: 313ff.) eine hilfreiche Inventarisierung deutscher Mitgliederstudien vorgenommen. Diese Synopse zeigt, dass seit den späten 1950er Jahren (bis Mitte der 2000er Jahre) 24 empirische Forschungsprojekte durchgeführt wurden, die sich mit der „party on the ground“ im weiteren Sinn auseinandergesetzt haben. Die große Zahl der Studien konzentriert sich in der Regel auf die etablierten, in Bundestag und Länderparlamenten vertretenen Parteien. Dabei finden sich Mitgliederstudien, die eine Partei exklusiv in den Blick nehmen, ebenso wie Studien, die Mitglieder mehrerer Parteien vergleichend in ihr Sample integriert haben. Der Stichprobenumfang liegt bei den allermeisten Studien im vierstelligen, teilweise sogar im fünfstelligen Bereich. Qualitativ-orientierte Mitgliederstudien mit geringerer Samplegröße sind hingegen kaum zu verzeichnen; die Mitgliederforschung ist auf dem qualitativen Auge nach wie vor blind (vgl. Greven 1987). Umfangreich erscheinen auch die Erkenntnisinteressen und Zielsetzungen der Mitgliederstudien. Als thematische Konstanten können – neben der Erfassung sozialstruktureller und demografischer Merkmale – am ehesten noch die Analyse von Beitrittsmotiven und Bindungsgründen genannt werden. Auch Formen innerparteilicher Aktivität wurden im Lauf der Jahre immer wieder untersucht. Weniger regelmäßig, aber doch immer wieder anzutreffen sind ferner Studien, in denen das Interesse der emotionalen Parteienbindung der Mitglieder, ihrer politischen Sozialisation und politischen Einstellungen, Wahlmotiven, Informationsverhalten und Einschätzungen des Führungspersonals gilt. Trotz dieser Vielfalt der Fragestellungen und Perspektiven haben auch die empirischen Mitgliederanalysen bislang kaum auf die oft unterstellte und in
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dieser Arbeit bereits skizzierte Profilkrise der Parteien reagiert und die Frage nach ihren Effekten gestellt. Dieser Eindruck entsteht, wenn man sich die Bilanzierung von CDU- und SPD-Mitgliederstudien der späten 1970er, 1980er und frühen 1990er Jahre ansieht, so wie sie von Siegfried Heimann (1993) und Thomas von Winter (1993) vorgelegt wurden – und er verfestigt sich im Blick auf aktuelle Mitgliederanalysen. Im Vorfeld dieser Arbeit konnten nicht alle empirischen Arbeiten über deutsche Parteimitglieder durchgearbeitet werden, die in den letzten 40 Jahren vorgelegt worden sind. Eine gute Zusammenfassung der CDU-Mitgliederanalysen aus den späten 1970er, 1980er und frühen 1990er Jahren findet sich bei von Winter (1993: 60ff.); im selben Band geht Heimann (1993: 171ff.) – etwas knapper – auch auf Studien ein, die sich, im selben Zeitraum, mit den Mitgliedern der SPD beschäftigen. Von Winter bezieht sich in seinem Literatur-Review vor allem auf die Studien von Wolfgang Falke und Wulf Schönbohm. Während in der ersten Studie („Die Mitglieder der CDU“) hauptsächlich Beitrittsgründe, Rollenverständnis und Erwartungen der Mitglieder dargelegt werden, ist die Mitgliederebene in der Analyse von Schönbohm („Die CDU wird moderne Volkspartei“) eher in ihrer „Bedeutung für die Entwicklung des Parteiapparates“ bedeutsam. Mitgliederstand und temporäre Entwicklung werden bei Schönbohm erfasst, ebenso die demografischen und sozialstrukturellen Merkmale der Mitglieder. Zudem geht es bei Schönbohm auch um die CDU-interne Organisationsreform der späten 1970er und frühen 1980er Jahre, die insgesamt zu einer Demokratisierung der innerparteilichen Willensbildung geführt habe. Heimann kommt zunächst zu dem, für eine traditionsreiche Partei wie die SPD etwas überraschenden Ergebnis, das Mitgliederstudien über die Sozialdemokratie in Deutschland insgesamt „sehr selten“ zu finden sind. Zu Beginn der 1980er Jahre sei der Tätigkeit konkurrierender, innerparteilicher Gruppen große Bedeutung zugemessen worden, die jedoch aus späterer Sicht übertrieben wirkt. Mehr noch als bei den vergleichbaren CDU-Studien scheinen sich empirische SPD-Analysen in den 1980er Jahren vor allem auf die Sozialstruktur der Basis und ihre Transformation der letzten Zeit konzentriert zu haben. Aber auch hier finden sich Arbeiten wie die von Niedermayer („Neumitglieder in der SPD“), die auch auf die innerparteiliche Mitglieder-Partizipation innerhalb der SPD abzielen. Festzuhalten bleibt, dass – zumindest anhand der von Heimann und von Winter gegebenen Übersichten – keine der damaligen Mitgliederstudien dezidiert einen Faktor untersucht, der dem Konzept organisationaler Identität entspricht. Im Jahr 2000 wurden von Karl Schmitt die Ergebnisse einer Studie vorgestellt, die sich mit Parteimitgliedern in Thüringen beschäftigt. Zwischen 1997 und 1998 waren im mitteldeutschen Bundesland insgesamt fast 6000 Mitglieder von CDU, FDP, SPD und PDS befragt worden. Die Thüringer Parteienstudie
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beginnt mit einem Blick auf die Mitgliederentwicklung der Parteien seit der Wende. Im nächsten Abschnitt werden die sozialstrukturellen Merkmale der Parteimitglieder (z. B. nach den Faktoren Bildung und Konfession) aufgeschlüsselt. Potenziell interessant wären die Abschnitte Parteienbindungen und Parteienaktivität. Es wurde nämlich ermittelt, wie viele Mitglieder eine jeweils starke, mittlere oder schwache Parteienbindung aufweisen und wie viele Mitglieder der Parteien eine hohe, mittlere oder geringe Aktivität zeigen. Leider werden die Ursachen für diese unterschiedlichen Intensitätsstufen der Parteienbindung und des parteipolitischen Engagements nicht weiter untersucht. Daher fällt auch der Einfluss des Faktors organisationale Identität unter den Tisch. Ohnehin spielte die Parteienwahrnehmung durch die Mitglieder in der Thüringer Mitgliederstudie keine Rolle. Die Parteimitglieder im Nachbarbundesland Sachsen-Anhalt wurden 1998 von der Forschergruppe um Bernhard Boll und Everhard Holtmann befragt. Das Sample umfasste jeweils 1000 Mitglieder von CDU, SPD, PDS, FDP und den Grünen. Auch diese Studie zielte in einem ersten Schritt auf die Ermittlung von Informationen zur Sozialstruktur und den politischen Einstellungen der Basis ab. Ferner enthält der spätere Forschungsbericht eine Ausarbeitung zu Formen innerparteilicher Partizipation, die zu einer Mitgliedertypologie ausdifferenziert wurden sowie eine empirische Analyse zur Organisationsstruktur der Parteien. Schließlich wurden auch Gründe des Parteibeitritts und Voraussetzungen der parteipolitischen Aktivität untersucht. Bei den Beitrittsgründen (Boll/Holtmann 2001: 19ff.) wird an die theoretische Systematik Niedermayers (s. o.) angeknüpft, indem zwischen expressiven (z. B. Führungspersönlichkeiten, Spaß an politischem Geschehen) und instrumentellen Motiven (monetäre Leistungen, berufliche Kontakte und Karrierevorteile) unterschieden wird. Im weiteren Verlauf der Studie geben die Wissenschaftler auch darüber Auskunft, welche Bestimmungsgründe aus ihrer Sicht für das Ausmaß innerparteilicher Partizipation infrage kommen. Insgesamt werden vier Meta-Faktoren unterschieden: (1.) Ressourcen (Geschlecht, Bildung, Alter, Haushaltsnettoeinkommen, sozioökonomischer Status und soziale Kontakte), (2.) Politische Wertorientierungen der Mitglieder (Links-rechts-Verortung, Materialismus-Postmaterialismus), (3.) der biografische Hintergrund der Mitglieder sowie wie (4.) politische Einstellungen der Mitglieder (politisches Interesse, politische Eigenkompetenz und Demokratiezufriedenheit). Obwohl die Ressourcenausstattung der Mitglieder in Erwägung gezogen wird, gehören kognitive Fähigkeiten wie die Konstruktion organisationaler Identität nicht zum Portfolio möglicher Einflussfaktoren. Auch das Erscheinungsbild der Parteien in der Mitgliederperspektive findet bei Boll und Holtmann keine weitere Berücksichtigung.
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Mit einer Samplegröße im fünfstelligen Bereich stellt die Potsdamer Mitgliederstudie (Heinrich/Lübker/Biehl 2002) sicher eine der größten Befragungen ihrer Art in den letzten Jahren dar. In der Studie geht es auch um die Wahrnehmung der eigenen Partei. Die Mitglieder von CDU, SPD, Bündnis 90/Grüne, FDP und PDS wurden aber lediglich danach gefragt, wie sie die eigene Partei auf einem Rechts-links-Schema einordnen. Eine Erosion des Parteiprofils ist nicht im Design angelegt. Als Voraussetzungen des innerparteilichen Engagements zählen in der Potsdamer Mitgliederstudie wiederum der Wille, den Einfluss der Partei zu stärken, das Vorhaben, sich für die Ziele der Partei einzusetzen, die Sympathie zur eigenen Partei, sowie das Gefühl, als Bürger zu einer Mitgliedschaft verpflichtet zu sein. Die Klarheit des Mitglieder-Parteienbildes wird nicht als Einflussfaktor behandelt. Die weiteren Elemente der Analyse bestehen in der Ermittlung der politischen Einstellungen der Mitglieder, ihrer Sozialstruktur, sowie Formen des Engagements und Einstellungen der Mitglieder zu Parteienreformen. Die von Melanie Walter-Rogg und Oscar W. Gabriel (2004) herausgegebene Studie „Parteien, Parteieliten und Mitglieder in einer Großstadt“ basiert auf einer Befragung von insgesamt 1300 Mitgliedern der Stuttgarter Kreisverbände von CDU, SPD, FDP und den Grünen. Der analytische Fokus der Stuttgarter Mitgliederstudie ist dabei weit gespannt und reicht von der obligatorischen Sozialstruktur der Mitglieder über die Formen außerparteilichen Engagements bis hin zu einer umfangreichen Erfassung verschiedenster politischer Einstellungen der Mitglieder. Interessant ist die Studie deswegen, weil sich erstmals Anknüpfungspunkte zum hier vorgestellten Projekt ergeben: Die Stuttgarter Mitglieder wurden auch danach befragt, ob sie Unterschiede zwischen den Parteien wahrnehmen können. Darüber hinaus wurde die Tauglichkeit wahrgenommener interparteilicher Differenz als Bestimmungsgröße innerparteilicher Aktivität in den Blick genommen, denn das Verhalten von Parteimitgliedern könne, so Jochen Welter und Michael Lateier (2004: 229), auch von der inhaltlichen Abgrenzung zu konkurrierenden Parteien beeinflusst werden. So dient die wahrgenommene Policy-Position von anderen Parteien eventuell als indirekter Anreiz, sich in der eigenen Partei zu engagieren (…) Perzipierte programmatische Gegensätze wirken demnach identitätsstiftend und partizipationsfördernd.
Was die Unterscheidbarkeit der Parteien anbelangt, so konnte die Stuttgarter Parteienmitgliederstudie die These von der inhaltlichen Konvergenz gerade zwischen den großen Parteien nicht bestätigen. Schwer fiel den Forschern auch, eine Verbindung zwischen wahrgenommener Unterscheidbarkeit und der Beteiligung der Mitglieder auszumachen. Welter und Lateier (2004: 231) kommen zu dem Schluss, dass an diesem Punkt weiter Forschungsbedarf besteht:
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Konzeptionelle Vorüberlegungen und Forschungsstand Die Verursacher programmatischer Konvergenz sind (…) ebenso schwer auszumachen, wie die möglichen Folgen für das Innenleben der Parteien. Weder sind es immer die Eliten, die die Parteiideale durch immer moderatere Policy-Positionen verkaufen, noch kann eine klare PolicyDistanz zum politischen Gegner die Beteiligung der Mitglieder verlässlich erhöhen.
Die Konrad-Adenauer-Stiftung nahm schließlich im Jahr 2006 eine umfassende Befragung von insgesamt 25.000 CDU-Mitgliedern vor (Neu 2007). Das Erscheinungsbild (dort: „Image“) der Parteien aus Mitgliedersicht nimmt in der Studie vergleichsweise viel Platz ein. In Gestalt von Likert-Items werden die Mitglieder danach gefragt, inwieweit sie bestimmte Adjektive (kompetent, wirtschaftsnah, glaubwürdig) und Substantive (Solidarität, Freiheit, Kapitalismus) mit der eigenen Partei verbinden. Durch die Frageanordnung können zwar Rückschlüsse auf den Markenkern der CDU gezogen werden (Wert der Freiheit). Dennoch bleibt unklar, wodurch sich die CDU von anderen Parteien unterscheidet und was an der Partei im Laufe der Zeit gleich geblieben ist. Ferner wird dieses Image der Parteien nicht als Problem konzeptioniert. Ob es leicht ist, zentrale Werte zu bestimmen, die Unterschiede zu definieren, ob Widersprüche zwischen Eigenschaften bestehen und der rote Faden zum Problem geworden ist, ist in der CDU-Studie der KAS nicht von Belang. Die Adenauer-Analyse untersucht neben den Ausprägungen der ParteiAktivität (Bereitschaft zur Aktivität, Arten des Engagements) auch persönliche Hintergründe des parteipolitischen Engagements der christdemokratischen Parteimitglieder. Bessere Informationen über politische Zusammenhänge, das Interesse an politischen Problemlösungen und sozialen Kontakten im Ortsverband, sowie sonstige Nutzenkalkulationen führen zum Einstieg in der Partei. Als Einflussvariablen auf die weitere Aktivität erscheinen die Gestaltung von Politik, soziale Anerkennung und eine Kosten-Nutzen-Bilanzierung. Ob auch ein deutliches Erscheinungsbild der CDU wichtig ist, um sich dauerhaft zu engagieren, ist nicht ersichtlich. Neben Informationen zur Demografie der CDU-Mitglieder (Alter, Geschlecht, Konfession, Werte, Beruf und Bildung) werden ferner Einstellungen zu Organisationsreformen abgefragt. 2.3.7
Lücken und Perspektiven – ein Zwischenfazit
Organisationale Identität kann als Fähigkeit der Mitglieder einer Organisation verstanden werden, im Erscheinungsbild der eigenen Organisation den inhaltlichen Kern zu bestimmen, die Unterschiede zu definieren und den inhaltlichen roten Faden auszumachen. Die Organisationsforschung zeigt, dass es trotz internen Identitätsmanagements durch Eliten auf der Mitgliederebene zu Diffusion organisationaler Identität kommen kann. Diffusion organisationaler Identität
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besteht dann, wenn der Kern nicht mehr ohne Weiteres zu bestimmen ist, die Abgrenzung zu anderen Organisationen nur noch schwer oder gar nicht mehr gelingt, sich die Organisation in wesentlichen Punkten immer wieder ändert, sodass die Wiedererkennungsmerkmale nicht mehr ausgemacht werden können, und die Eigenschaften, mit denen eine Organisation in Verbindung gebracht wird, zueinander im Widerspruch stehen. Die organisationswissenschaftliche Identitätsforschung arbeitet derzeit daran, die Effekte dieser Diffusion näher zu untersuchen. Empirische Studien legen nahe, dass sich vor allem ein Verlust an Differenz und Kohärenz negativ auf die emotionale Mitgliederbindung auswirken kann. Auch ein Negativeffekt auf das Handeln der Mitglieder in der Organisation scheint denkbar, obwohl dieser Link bisher eher theoretisch reflektiert, denn empirisch untersucht wurde. Die in diesem Kapitel vorgenommene Durchsicht wissenschaftlicher Forschungsbereiche, die in der Parteienforschung prinzipiell mit dem Bereich organisationale Identität korrespondieren können, zeigt, dass diese Zusammenhänge in der Parteienforschung noch nicht richtig in Angriff genommen worden sind. Obwohl Diagnosen von der Identitätsauflösung gerade der deutschen Großparteien bereits gestellt worden sind, ist diese Auflösung (auf der Mitgliederebene) in Gestalt und Auswirkungen weder theoretisch noch empirisch in einer der Organisationsforschung vergleichbaren Art und Weise vorgenommen worden. Das hat zunächst damit zu tun, dass es, in der Parteienforschung nie zu einer Ausarbeitung eines Konzeptes von „Parteien-Identität“ gekommen ist, obwohl der Begriff als Metapher immer wieder Verwendung findet. Eine gewisse Verwandtschaft zu „Partei-Identität“ weist der Terminus „Party Image“ auf. Forschungen konnten zeigen, dass es zur Erosion von Party-Images kommen kann. Leider unterbleibt die Frage nach den Auswirkungen dieser Erosionsprozesse gerade in Bezug auf die Mitglieder deutscher Parteien. Schließlich hat sich die Parteienforschung auch mit den Vorbedingungen einer emotionalen Parteienbindung ebenso wie mit innerparteilichem Engagement auseinandergesetzt. Das Vorhandensein eines inneren Ordnungsmusters in Bezug auf das Erscheinungsbild der Partei spielt in diesem Zusammenhang noch keine Rolle. Zwar kann man organisationale Identität als Ressource auffassen – und so wäre organisationale Identität auch in bereits bestehende Perspektiven auf Engagement integrierbar. De facto wurde dieser Ansatz nicht ausgebaut. Als relevante Ressourcen erscheinen mehr denn je klassische Indikatoren wie Bildung und Einkommen. Das umrissene Defizit findet in den empirischen Mitgliederstudien seine Fortsetzung. Dies ist überraschend, denn ein Blick auf die aktuellen Mitgliederanalysen zeigt zunächst, dass das deutsche Parteimitglied für die Parteienforschung alles andere als ein unbekanntes Wesen ist; man stellte ihm im Lauf der
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Konzeptionelle Vorüberlegungen und Forschungsstand
Jahre allerhand Fragen, nach dem Alter, der Konfession, nach Art der Ausbildung und des ausgeübten Berufs, nach seinem Einkommen, nach seiner Einstellung zu geplanten Parteireformen, seinem politischen Interesse, nach seiner Zufriedenheit mit der Staatsform Demokratie, nach der Einschätzung gesellschaftlich relevanter Probleme – aber auch nach seinem Verbundenheitsgefühl mit der eigenen Partei, nach den Beweggründen des Partei-Beitritts, nach der Art seines innerparteilichen Engagements. Auch nach dem Bild der eigenen Partei wurden und werden die Mitglieder befragt. Dennoch bleiben scheinbar einfache Fragen weitgehend ungestellt, nämlich die, ob Unterschiede zwischen den Parteien existent sind, wie einfach es ist, den Kern der eigenen Partei zu erfassen, die Frage nach den Konstanten im Lauf der Zeit. Es unterbleibt auch die Frage nach den Auswirkungen, wenn diese Leistungen nicht mehr richtig funktionieren. Dimensionen organisationaler Identität
Dimension grundsätzlich thematisiert?
Dimension als Problem operationalisiert?
Frage nach möglichen Effekten gestellt?
Zentralität
5 (Neu 2007)
6
6
Differenz
5 (Welter/Lateier 2004)
5 (Konvergenz)
5 (keine Effekte auf Beteiligung)
Kontinuität
6
6
6
6
6
6
Kohärenz
Tabelle 2: Diffusion organisationaler Identität als Thema in Mitgliederstudien Die Adenauer-Studie ermöglicht zwar eine inhaltliche Bestimmung des Markenkerns der CDU. Wie schwer es aber ist, diesen Kern überhaupt zu bestimmen, kann anhand der vorliegenden Daten nicht geklärt werden. Erst die Stuttgarter Mitgliederstudie hat eine Dimension von organisationaler Identität, Unterscheidbarkeit, in den Fokus genommen. Obwohl gute Gründe für ein Annähern der Parteien gefunden werden können, scheint sich das Phänomen Kon-
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vergenz nicht in der Wahrnehmung der Mitglieder niederzuschlagen. Die anderen Dimensionen organisationaler Identität werden hingegen nicht thematisiert. Neben dem Ausmaß von Konvergenz hat die Stuttgarter Mitgliederstudie auch die grundsätzliche Relevanz von Unterscheidbarkeit untersucht. Die Ergebnisse sind uneindeutig. Obwohl Unterscheidbarkeit im öffentlichen Diskurs immer wieder als relevant eingestuft wird, konnte der Nachweis von Unterscheidbarkeit als wichtigem Bestimmungsfaktor von innerparteilicher Beteiligung im Rahmen des vorhandenen Research-Designs nicht geführt werden. Dementsprechend taucht auch in den direkten Erklärungen von Mitgliederkrisen und abnehmender Partei-Identifikation der Faktor organisationale Identität nicht auf. Die (freilich nicht auf Mitglieder beschränkte) Abschwächung einer emotionalen Bindung an die Parteien wird vor allem durch die Erosion sozialer Milieus und politische Skandale erklärt, die das Ansehen aller Parteien gefährdet hätten (Arzheimer/Schoen 2005: 631). Um zu erklären, warum es den Parteien heute immer weniger gelingt, Mitglieder zu binden, unterscheiden Gabriel und Niedermayer (2001: 277ff.) neben auf eine bestimmte Partei ganz spezifisch zutreffende Faktoren exemplarisch drei allgemeine Ursachenkomplexe. Erstens gehe es um die allgemeine Transformation der Sozialstruktur. Die Erosion tradierter Milieus, so die beiden Autoren, führe einerseits dazu, dass gruppen- und milieubezogene Bindungsentscheidungen wegfallen und damit der milieuspezifische soziale Druck auf Eintritt in eine bestimmte, der Schichtung verbundenen Partei. Zweitens entsprächen die Partizipationsformen einer politischen Partei heute kaum noch den allgemein üblichen gesellschaftlichen Lebenspraxen der Bürger. Drittens schließlich könne die „Machtbesessenheit der Parteieliten“ als „wesentliche Ursache für Unterstützungsentzug durch die Bevölkerung, also Parteienverdrossenheit, angesehen werden“ (ebd.: 281). Warum ist der Faktor „Klarheit des Erscheinungsbildes“ in der Erforschung von Bindungen und Engagement bisher kaum berücksichtigt worden? Parteien als solche können prinzipiell in viele theoretische Systeme eingepasst werden. Nach von Winter (1982: 439) wurden Parteien hauptsächlich im angelsächsischen Bereich unter der Fragestellung betrachtet, inwieweit Parteien zur Funktionsfähigkeit und Stabilität westlich-demokratischer Systeme beitragen können, bevor diese Perspektive in den 1970er Jahren von klassentheoretisch und politökonomisch angeleiteten Ansätzen abgelöst wurde. Heute scheint eher der „rational choice institutionalism“ (Hall/Taylor 1996) zu dominieren; vereinzelt finden sich sogar Arbeiten, die Parteien im Rahmen einer systemtheoretischen Begrifflichkeit analytisch in Angriff nehmen (Reese-Schäfer 2002). Während aber auf dieser Makroebene ein gewisser Theoriepluralismus auszumachen ist, kam es auf der Mikroebene der Erforschung von Identifikation und Mitglieder-Engagement zu einer hegemonialen Stellung bestimmter theoretischer Ansätze. Während sich
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das Konzept Partei-Identifikation immer noch aus seinen sozial-strukturelldeterministischen Fesseln befreien muss, zeigt die Erforschung von Engagement die Dominanz von Sozialstrukturalismus und dem Paradigma des rationalen Wahlhandelns. Freilich ist an diesen Perspektiven grundsätzlich nichts auszusetzen. Je länger aber ein theoretisches Paradigma eine solche Dominanz ausübt, so wie es gerade jenes des rationalen Wahlhandelns in der Politik- und Parteienwissenschaft lange getan hat, desto schwerer wird es für alternative Ansätze, zumindest ihre Tauglichkeit zu beweisen. Eine vorherrschende theoretische Perspektive definiert stark das Erkenntnisinteresse nachfolgender empirischer Forschungsarbeiten sowie die Art wissenschaftlich legitimer Probleme der Zukunft. Diese Art einer theoretischen und empirischen Pfadabhängigkeit wird dann zum Problem, wenn damit systematisch bestimmte Realitätsbereiche von einer wissenschaftlichen Untersuchung ausgeschlossen werden. Vielleicht ist auch die wahrgenommene Deutlichkeit des Bildes einer Partei wichtig, damit sich die Mitglieder für die Partei einsetzen. Weil aber das vorherrschende Paradigma keine Begrifflichkeit anbietet, mittels derer der Faktor Erscheinungsbild untersucht werden kann und gleichsam wahlverwandte Theoriemodelle wie der Sozialkonstruktivismus kaum Legitimität besitzen, bleibt der Faktor Erscheinungsbild außen vor. Solche Verfestigungen können langfristig die Innovativität und Sensibilität einer wissenschaftlichen Disziplin wie der Parteienforschung beeinträchtigen. In diesem Sinne erscheint es durchaus plausibel, dass Autoren wie etwa Uwe Jun (2004: 163) trotz eines ungeheueren theoretischen Outputs der politikwissenschaftlichen Parteienforschung immer noch von einem „Theoriedefizit“ sprechen. 2.3.8
Exkurs: Zur Relevanz von Mitgliederbindung und –partizipation für politische Parteien
Obwohl in Deutschland immer wieder empirische Untersuchungen vorgelegt worden sind, die sich mit den Mitgliedern gerade der etablierten Parteien beschäftigen (vgl. Kapitel 2.3.6), gehört die Basis der Parteien heute nicht zu den vordringlichen Bereichen der Parteienforschung. „Eines der meisterforschtesten rätselhaften Wesen der Politik ist der Wähler. Selten hingegen wurde das Parteimitglied mit ähnlicher Sorgfalt bedacht“, schreibt von Beyme (2004: 143). In den aktuellen Jahrgängen gerade internationaler Zeitschriften wie etwa Party Politics finden sich Mitgliederstudien nur selten. Fast hat es den Anschein, dass eine wissenschaftliche Arbeit, die sich, auf welcher Ebene auch immer, mit Parteimitgliedern beschäftigen will, heute schnell unter Rechtfertigungszwang gerät. „Alle Macht den Profis“ (von Alemann 2003: 2000) – so charakterisiert die Par-
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teienforschung dieser Tage das Innenleben der Parteien. Schon in Otto Kirchheimers Modell der „Allerweltspartei“ (1964) dominierten Parteiführung und die Partei im öffentlichen Amt. In nachfolgenden Parteientheorien hat sich dieser Trend fortgesetzt. Ganz gleich, ob man im Detail von der „professionalisierten Wählerpartei“ oder der „Kartellpartei“ ausgeht, so umschreiben doch sehr viele der gegenwärtig diskutierten Typologien den Bedeutungsverlust der Parteibasis und schwächer werdende vertikale Verbindungen zwischen „party on the ground“ und Führung, bei gleichzeitiger strategischer Ausrichtung auf das Elektorat mit dem Ziel der Stimmenmaximierung bei Wahlen. Die Notwendigkeit einer umfassenden Integration der Basis scheint heute fast ein Relikt aus vergangenen Zeiten der Massenparteien zu sein. Von der Regierungsteilhabe ausgeschlossen, suchten damals gerade politische Außenseiter wie die Arbeiterbewegung ihre fehlende Basis im Staat durch eine schlagkräftige Organisation innerhalb der Gesellschaft aufzuwiegen: „Der Schlüssel zur Macht lag in einer umfassenden Integration der klassengebundenen Anhängerschaft“ (Decker 1999: 356). Natürlich sind diese Zeiten vorüber. Und dennoch notiert von Winter (1992: 5) zu Recht, dass eine hochkomplexe Organisation wie etwa die CDU auf Dauer nur dann handlungs- und überlebensfähig ist, wenn sie über eine breite Mitglieder- und Funktionärsbasis verfügt. Diese Einschätzung trifft nicht nur auf die CDU zu. Gegenwärtig besteht eher die Gefahr, dass aus zu Recht kritischen Parteientheorien (gerade in Bezug auf die Mitgliederebene) allzu schnell „doom and gloom treaties on political parties“ werden (Strom/Svasand 1997). Denn „parties without partisans“ (Dalton/Wattenberg 2000) haben Schwierigkeiten damit, für ihre gesellschaftliche Umwelt nützliche Leistungen zu erbringen und auch, wenn man Parteien in erster Linie als „Interessenvertreter in eigener Sache“ (Steffani 1988) auffasst, sind Parteien immer noch auf eine starke Mitgliederorganisation angewiesen. Parteien tragen ganz wesentlich dazu bei, Gesellschaft und Staat zu verbinden. Diese „Linkpage-Funktion“ gilt in der Parteienforschung als Schlüsselleistung, die Parteien für ihre Umwelt erbringen sollen (Poguntke 2002). Eine Art und Weise, diese Verbindung herzustellen, besteht darin, dass Parteien dauerhaft Bürger als Mitglieder für ihre Partei gewinnen (Klein 2006). Eine (Rück)Koppelung von Gesellschaft und Staat können Parteien aber auch durch Wahlen leisten. Die Realisation von Wahlen, welche mithin in einer Gesellschaft auch der Interessenaggregation und –Selektion dienen, braucht engagiertes politisches Personal, das z. B. ehrenamtlich die vielfältigen Vorfeldarbeiten im Wahlkampf leistet. In der staatlichen Sphäre wiederum betätigen sich Parteien als „Problemlösungsagenturen“ (Karl-Rudolf Korte). Dafür müssen diese aus den eigenen Reihen politisches Personal rekrutieren, sozialisieren und auf zukünftige politische Rollen und Ämter vorbereiten. Damit ist nur die Bundes- und
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Europa-Ebene gemeint. Auch und gerade die kommunale Selbstverwaltung ist auf den Zufluss von geeignetem politischen Personal angewiesen, das den Parteien, ihren Landes-, Kreis- und Ortsorganisationen entspringt. Schließlich tragen die Mitglieder nicht nur dazu bei, dass Parteien in der Lage sind, für ihre Umwelt, für ihre Gesellschaft die ihnen zugeschriebenen und selbst auferlegten Funktionen zu erfüllen. Auch für den „profanen“ Selbsterhalt einer Partei von innen heraus ist die dauerhafte Anbindung möglichst vieler Mitglieder überaus wichtig. Entgegen vieler Annahmen macht die Mitgliederfinanzierung nach wie vor einen erheblichen Teil der Parteienfinanzierung in Deutschland aus (Hamacher 2001, Wiesendahl 2006). Über 50 Prozent der Einnahmen speisen sich aus Beiträgen der Parteimitglieder. Insgesamt also lassen sich diese und weitere Gründe (Ware 1996, Immer fall 1998, Poguntke 2002) aufführen, die illustrieren können, warum es für Parteien immer noch starke Anreize gibt, sich um die Integration ihrer Mitglieder zu kümmern. Unter dem Titel „Lob des Ortsvereins“ veröffentlichte Die Zeit im November 2006 einen Leitartikel. Gedacht als Rückblick auf das Auslaufmodell der Mitgliederpartei, verdeutlichte der Artikel vor allem eines, nämlich die Lücke, welche die Parteien als Mitgliederorganisationen nach ihrem „Verschwinden“ hinterlassen werden. Matthias Krupa schreibt: Die Parteien, ungeliebt und gern verachtet, haben bislang den Rahmen abgesteckt, in dem sich unsere Demokratie entwickelt hat. Weniger Mitglieder bedeuten aber auch weniger Engagement, weniger Debatten, weniger Repräsentativität, kurzum: eine geringere Verankerung der Politik in der Bevölkerung. Man mag die Welt der Ortsvereine grauslich finden, man mag die Nase rümpfen über ihr Milieu, kleinbürgerlich oder proletarisch, über Parteisoldatentum und Funktionärsgewese – unter dem Strich haben sie ihre Aufgabe als Ort, an dem Politik organisiert und diskutiert wurde, ganz gut erfüllt. Wie schwer es die Demokratie ohne ein solches Wurzelgeflecht hat, kann man in vielen ostdeutschen Regionen beobachten, wo CDU und SPD seit jeher wenige Mitglieder haben und schon heute vielfach die Kandidaten für öffentliche Ämter fehlen. Im Westen wird es schon bald ähnlich sein.
2.4 Rekapitulation der Problemstellung In Abschnitt 2.1.4 ist Identität in Organisationen (in toto) als Kommunikationszusammenhang bezeichnet worden, der zwischen unterschiedlichen Hierarchieebenen einer Organisation besteht. Klar geworden ist auch, dass es sich bei Parteien um einen Organisationstypus handelt, bei dem dieser Kommunikationszusammenhang zwischen Basis und Führung mehr als fragil ist. Der Diskurs um Parteienkonvergenz hat dies hoffentlich etwas veranschaulicht. Offenbar operieren Parteien unter institutionellen Rahmenbedingungen, bei denen es sich als rational sinnvolle Strategie erweisen kann, auf die Formulierung von Unter-
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schieden, auf einen „polarizing talk“ (Reese-Schäfer 1999a: 37) zu verzichten. Was sich aber auf einem unübersichtlichen Wählermarkt als gewinnbringendes Vorgehen erweisen kann, da diffuse Selbstbeschreibungen sich im Prinzip als anschlussfähig bei verschiedenen Milieus eines heterogenen Elektorates erweisen können, wird anderseits teuer erkauft – durch die Erosion von Differenz, die wohl auch von Mitgliedern bemerkt wird. Diese defensive Kommunikationsstrategie findet ihren Niederschlag in den klassischen Identitätsmanifestationen wie Programmen. Andere Rahmungen führen dazu, dass Parteien auch in der praktischen Politik Schwierigkeiten haben, Unterschiede zu vermitteln. Konvergenz besteht augenscheinlich nicht nur darin, was Parteien sagen, sondern auch in dem, was sie tun. Obwohl die Parteienforschung das Identitätsproblem vor allem in mangelnden Unterschieden untersucht hat, sind darüber hinaus auch weitere Dimensionen organisationaler Identität in Parteien als im Prinzip problematisch zu bezeichnen. So dürfte, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, auch die Kommunikation von Kohärenz im Erscheinungsbild die großen Parteien vor Herausforderungen stellen. Im Rahmen der „institutionellen Analyse“ diskutiert Werner Patzelt (2001) am Beispiel von Parlamenten deren instrumentelle und symbolische Funktionen. Durch die Erfüllung ihrer instrumentellen Funktion sichern Institutionen wie Parlamente ihren Bestand, wenn man so will, von ihrer Steuerungsaufgabe her, indem sie Effizienz entfalten und sich ihren Akteuren und Adressaten als nützlich erweisen. Von der Integrationsseite wiederum her sichern Institutionen ihren Bestand ganz wesentlich durch die Erfüllung ihrer symbolischen Funktionen, indem sie durch die Kommunikation von Leitideen die Tiefenschicht emotionaler Verbundenheit ansprechen. Zwischen beiden Funktionen gibt es, so Patzelt, Konfliktpotenzial. Viel stärker noch als Parlamente dürften Parteien unter diesem Konflikt leiden, bedenken wir Ziele und Funktionen von Parteien, so wie sie eingangs angerissen worden sind. Im Kern steht also hier ein latentes Spannungsverhältnis zwischen offiziellen Selbstbeschreibungen (im Sinne Patzelts der symbolischen Funktion), wie sie z. B. in programmatischen Schriften zum Ausdruck kommen, und parteipolitischem Handeln (instrumentelle Funktion). Auch hier besteht die Gefahr von Brüchen entlang der Grenzlinie zwischen Identitätsarbeit und Realpolitik, die überall dort virulent zu werden scheinen, wo sich Parteien in Regierungsverantwortung befinden. Viele, wenngleich nicht alle Parteien streben nach Macht, und erreichen dies durch die Übernahme von Regierungsverantwortung nach erfolgreichen Wahlen. Als demokratisch legitimierte Akteure in der staatlichen Sphäre erarbeiten sie Lösungskonzeptionen gesellschaftlich relevanter Probleme und setzen diese mit von ihnen selegiertem, möglichst geeigneten politischen Personal um, müssen aber dabei eine Reihe handlungsbeschränken-
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der Rahmenbedingungen berücksichtigen. Unter „Identitätsgesichtspunkten“ besteht in dieser Situation immer die Gefahr des Widerspruchs. Uns soll an dieser Stelle ein kleines, mehr oder weniger fiktives Beispiel genügen, um die Problematik zu verdeutlichen. An mehreren Punkten einer Grundsatzrede bezeichnet der Generalsekretär einer großen Partei diese als „christliche Partei“. Zudem ist Christlichkeit ein Kernpunkt im Wahlprogramm. Gleichzeitig aber wirkt die gleiche Partei durch Regierungsbeteiligung auf der Bundesebene mit an der Umsetzung einer Richtlinie der Europäischen Union zur Verbannung von religiösen Symbolen aus Klassenzimmern und Schulen, zu denen auch das christliche Kreuz gehört. Journalisten der großen Politikmagazine und Tageszeitungen greifen die Thematik auf und inszenieren den Widerspruch, der darin besteht, dass die Partei zur gleichen Zeit ein christliches wie unchristliches Bild an seine Bezugsgruppen vermittelt. Fassen wir diese Überlegungen zusammen und übertragen wir diese Erkenntnisse auf die Metapher von Identität als intraorganisationalem Tatbestand, so zeigt sich, dass sich das Identitätsproblem bis jetzt als Problem im Sinnangebot äußert. Bis jetzt können wir sagen, warum und worin sich die Probleme in der „projected identity“ äußern. Werden z. B. Programme und Policies als Indikatoren von Parteienkonvergenz genutzt, so steht damit implizit das Identitätsmanagement der Parteieliten, nämlich Party in Public bzw. in Central Office im Fokus der Aufmerksamkeit. Parteien aber haben noch ein drittes Gesicht: die Party on the Ground. Die Perspektive der Basis allerdings wird in der Parteienforschung nicht berücksichtigt. Dieses Defizit hat bereits Michael Th. Greven (1987: 54) umschrieben: Beschreibung und Analyse des Bewusstseins von Parteimitgliedern ist in der wissenschaftlichen Literatur eine vernachlässigte Dimension, wenn es darum geht, inhaltliche Aussagen über Position und Profil der Parteien in ihrer Differenz zu treffen (…) Häufig wird der Unterschied zwischen den Parteien nur aus ihrer verschiedenen Programmatik, ihrem politischen Wollen (…) abgeleitet.
Somit bleibt eine zentrale Frage offen: Gibt es eigentlich auch in der Wahrnehmung der Parteimitglieder ein Identitätsproblem der Parteien? Wenn ja: Wie ist dieses Problem ausgeprägt? Wie wirkt sich etwa die Konvergenz von Sinnangeboten (z. B. Programme) auf die individuelle Konstruktion organisationaler Identität bei Parteimitgliedern aus? Lassen sich neben Unterscheidbarkeit weitere problematische Identitätsdimensionen ausmachen? Wie einfach ist es etwa für ein Parteimitglied, aus der täglichen Informationsflut der Medien, aus dem komplexen Informationsangebot der eigenen Partei immer wieder jene Merkmale herauszufiltern, die von zentraler Bedeutung sind? Wie einfach ist es, an der eigenen Partei Wiedererkennungsmerkmale zu identifizieren – in Zeiten, in de-
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nen sich Parteien immer schneller an eine sich rasch wandelnde Umwelt anpassen müssen? Schließlich last, but not least: Lassen sich – wie von der Organisationsforschung angedeutet – zwischen bestimmten Identitätsproblemen und Disidentifikation oder gar problematischem Engagement konkret Verbindungen herstellen? Vor diesem Hintergrund ergeben sich zwei miteinander verbundene Erkenntnisinteressen und Fragestellungen. Erstens lässt sich fragen, ob sich die Vermittlungsprobleme der Parteien in einer Diffusion organisationaler Identität auf der Mitgliederebene äußern und wie diese Diffusion beschaffen ist. Zweitens wäre von Interesse, den Zusammenhang zwischen Diffusion organisationaler Identität und emotionaler Bindung an, ebenso wie das praktische Handeln in der Partei in den Blick zu nehmen. Zieht man die Erkenntnisse der Parteienforschung und der Organisationstheorie zusammen, so begleiten uns folgende Annahmen (die, wie im nächsten Kapitel zu sehen sein wird, nicht den Status von Hypothesen im Sinne falsifikatorischer Research-Designs beanspruchen werden) in die empirische Forschung hinein: 1. Politische Parteien haben ein Problem bei der Kommunikation organisationaler Identität nach innen. 2. Aus der Parteienforschung heraus erscheinen die Identitätsdimensionen der Differenz und Kohärenz als besonders problematisch, wenngleich sie nicht die einzig denkbaren problematischen Dimensionen darstellen. 3. Praktisch äußert sich das Problem der Konvergenz in wenig trennscharfen organisationalen Selbstbeschreibungen (Programmen) und wird durch die Konvergenz in der politischen Praxis verstärkt. Widersprüche ergeben sich aus dem Konflikt zwischen organisationalen Selbstbeschreibungen und politischer Praxis. 4. In der Organisationsforschung wurde die Erkenntnis erarbeitet, dass sich Probleme der Konstruktion von Identität auf Eliteebene auch auf der Mitgliederebene zeigen können. Dies betrifft im Prinzip auch den Organisationstypus Partei und seine Mitglieder. Allerdings gibt es hier keine automatische Verbindung zwischen Makro- und Mikroebene. Eine empirische Studie legt nahe, dass die Mitglieder der großen Parteien angeben können, was die Parteien unterscheidet. 5. Die Organisationsforschung hat ferner gezeigt, dass vor allem die Identitätsdimensionen der Kohärenz und Differenz als Bedingungsfaktoren von organisationaler Identifikation erscheinen. Dies bedeutet auch, dass sich Probleme bei der Konstruktion von Kohärenz und Differenz negativ auf die emotionale Bindung an die Organisation auswirken.
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6. Übertragen auf den Organisationstypus Partei bedeutet dies, dass sich Diffusion organisationaler Identität als problematische Kohärenz und Differenz negativ auf die Bindung eines Mitgliedes an (s)eine Partei auswirken kann.
3 Das Research-Design
Im Rahmen seines Soziologiestudiums weilte der Verfasser dieser Arbeit vor einigen Jahren an der University of Manchester und nahm dort an einem Seminar teil, in dem die Studierenden die Durchführung eines sozialwissenschaftlichen Forschungsprozesses lernen sollten. Zu Beginn der ersten Sitzung schrieb der Dozent, Professor Peter Halfpenny, einen Satz an die Tafel, der ein wenig nach einem englischen Frauennamen klang: „Taana“. Nach kurzer Bedenkzeit klärte Halfpenny seinen stutzig gewordenen Kurs auf. Taana sei eine Abkürzung. Der Begriff stehe für den Satz: „There are always numerous alternatives“. Das Kürzel bezog sich auf eine Grundproblematik bei der Ausgestaltung von Forschungsanlagen. Auch wer seine Forschungsfrage kennt, sich Gedanken über das grundlegende Erkenntnisinteresse gemacht hat und somit in der Lage ist, sein Projekt prinzipiell dem „qualitativen“ oder „quantitativen“ Lager der empirischen Sozialforschung zuzurechnen, steht innerhalb dieser Lager vor der Aufgabe, sich zwischen Methoden der Erhebung und Analyse zu entscheiden und insgesamt ein angemessenes Research-Design zusammenzubauen. Im Grunde genommen ist der ganze sozialwissenschaftliche Forschungsprozess eine Abfolge wiederkehrender Entscheidungssituationen, in denen beständig zwischen Alternativen gewählt werden muss. In diesem Teil der Arbeit soll es vor allem darum gehen, die Methoden der Datenerhebung und Datenauswertung vorzustellen und explizit zu machen, warum die entsprechenden Strategien ausgesucht wurden. Die gleich folgende Methodenexplikation mag gerade im Vergleich zu quantitativen Verfahren ungewöhnlich ausführlich erscheinen. Das ist kein Zufall. Gerade bei qualitativen Projekten wie diesem, deren Qualität nicht an Kriterien wie der Repräsentativität von statistischen Messinstrumenten festgemacht werden kann, gehört die intersubjektive Nachvollziehbarkeit zu den wesentlichen Gütekriterien (Steinke 2000). Also muss gerade bei qualitativen Forschungsprojekten offengelegt werden, warum aufgrund welcher Entscheidungskriterien eine bestimmte Methode angewendet wurde und warum man ihr den Vorrang gegenüber anderen Methoden eingeräumt hat. Die Suche nach einer passenden Methodik musste kleinere Hürden überwinden: Manche Methodenbände suggerierten von ihrem Titel her eine systematische Synopse unterschiedlicher Strategien, wo de facto nur eine einzige AusC. Junge, Sozialdemokratische Union Deutschlands?, DOI 10.1007/978-3-531-93496-9_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Das Research-Design
wertungsmethode vorgestellt wurde (Strauss 1998). Andere Unterscheidungsversuche zogen Methoden heran, die in der Forschungspraxis kaum mehr eine Rolle spielen (Gerhard 1986). Größer aber war – gerade in Bezug auf Methoden der Datenauswertung – das Manko, dass speziell viele der qualitativen Lehrbücher arg im Groben verblieben. Konkrete Anwendungsbeispiele, etwa zum wichtigen Arbeitsschritt der Gestaltung empirischer Codes, sind nach wie vor kaum zu finden (so auch Mayring 2000). Dafür war und ist an vielen Stellen von der „Kunstlehre qualitative Sozialforschung“ die Rede. Zwar trifft diese Redewendung zu, sie suggeriert aber im gleichen Atemzug ein esoterisches Methodenverständnis, welches der Legitimität qualitativer Ansätze (gerade in skeptischen Umfeldern wie der Politikwissenschaft) nicht eben zuträglich ist. Meistens findet sich die Konkretisierung einer bestimmten qualitativen Auswertungsmethode, die dann als hilfreiches Vorbild dienen könnte, lediglich in konkreten Feldstudien anderer Wissenschaftler, die aber ohne explizite Kenntnisse in speziellen Forschungsfeldern (Sozialpsychologie, Arbeitssoziologie usw.) schwer zu lokalisieren sind. 3.1 Erkenntnisinteresse und forschungslogische Ausrichtung Wie auch in Abschnitt 2.3.3 beschrieben, erscheint die Identitätskrise der Parteien in der Parteienforschung vor allem als Problem der Differenzsetzung. Ein Nachweis von Konvergenz wurde hauptsächlich anhand von Programmen unternommen. Im Gegensatz zu dieser Praxis in der Parteienforschung erweitert das hier beschriebene Vorhaben den Begriff von Identität als Differenz um drei weitere Ebenen (siehe Kapitel 2.1.1). Ferner wird nicht auf der Ebene der Identitätsarbeit von Eliten angesetzt, sondern weiter „unten“, an der Basis der Parteien. Das Identitätsproblem politischer Parteien soll hier nicht durch quantitative Inhaltsanalysen von Parteiprogrammen erforscht werden, sondern aus der Sicht ihrer Mitglieder. Der erste Forschungsfokus zielt so auf das Bild ab, das Mitglieder von ihrer eigenen Partei haben. Ein besonderes Augenmerk soll dabei der möglichen Diffusion organisationaler Identität gelten: Haben Mitglieder Schwierigkeiten, Unterschiede auszumachen, den Kern der Partei zu identifizieren, Konstanten zu benennen oder Widersprüche aufzulösen? Der zweite Forschungsfokus nimmt die individuellen Ausprägungen der emotionalen Bindung an die Partei und Formen des Engagements in den Blick. Ziel ist es hier, Verbindungen zwischen negativen Ausprägungen im ersten und zweiten Fokus auszuloten: Hat also der Rückzug eines SPD-Mitgliedes aus der aktiven Parteiarbeit auch damit zu tun, dass es ihm kaum noch gelingt, die zentralen Werte seiner Partei auszumachen? Ist die Abkühlung der emotionalen Bindung eines CDU-Mitgliedes an
Erkenntnisinteresse und forschungslogische Ausrichtung
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die eigene Partei auch darauf zurückzuführen, dass für ihn die Unterschiede zwischen den Programmen von CDU und SPD nicht mehr deutlich sind? Zweck der empirischen Feldforschung ist somit die Klärung dieser zwei forschungsleitenden Fragen: Finden sich (1.) Anzeichen des im vorangegangenen theoretischen Kapitel skizzierten Phänomens Diffusion organisationaler Identität unter Mitgliedern der Parteien CDU und SPD, wenn ja: Wie ist dieses Phänomen ausgeprägt? Lassen sich (2.) (auf der Ebene einzelner Fälle) Anhaltspunkte finden für negative Auswirkungen von Diffusion organisationaler Identität auf (emotionale) Parteienbindung und/oder parteipolitisches Engagement?
Erster Forschungsfokus
Diffusion organisationaler Identität?
Zweiter Forschungsfokus ParteiIdentifikation negative Effekte auf Engagement
Beschreiben
Erklären
Abbildung 4: Variablen, Forschungsfoki und Erkenntnisinteresse Für den Leser mögen einige Formulierungen aus den Forschungsfragen defensiv wirken. Da ist nicht von Hypothesen die Rede, sondern von „forschungsleitenden Fragen“. Es geht auch nicht um Beweise, oder korrekter: Falsifikationen, sondern um die „Klärung“ von Sachverhalten. Diese Formulierungen kommen nicht von ungefähr. Sie sind Ausdruck eines qualitativen Research-Designs, in dem heuristische Instrumente wie Hypothesen keine Verwendung finden und das insgesamt als passende empirische Strategie für das hier beschriebene Vorhaben erscheint. Die Entscheidung für eine qualitative oder quantitative Ausgestaltung der Forschungsanlage hat Anklänge einer Glaubensfrage. Während der qualitativen Sozialforschung mangelnde Repräsentativität und Willkürlichkeit durch intransparent-subjektive Interpretationsakte vorgeworfen wird, bekommen Statistiker
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Das Research-Design
den Vorwurf grundsätzlicher Zahlenversessenheit zu hören. Dem gegenüber soll hier die Auffassung vertreten werden, dass es nicht die eine gute, richtige Methodologie an sich gibt. Vielmehr lassen sich Kriterien aufstellen, denen die Gestaltung eines Research-Designs zu folgen hat. Die Konstruktion des Research-Designs (vor allem die klassische Frage: qualitative oder quantitative Forschungsanlage) richtet sich nach den Forschungsfragen, nach der „Beschaffenheit“ des Forschungsgegenstandes sowie dem Vorabwissen, dass wir über die Variablen und die Beziehungen zwischen ihnen haben. Da im hier vorliegenden Fall Variablen benannt werden können, beginnt die Erhebung nicht vollends bei null. Ferner interessieren Beziehungen, genauer gesagt Effekte, zwischen Variablen. Wären uns nur diese Fakten bekannt, spräche nichts gegen ein nomologisch-deduktives, in diesem Sinne „quantitatives“ Vorgehen. Mögliche Zusammenhänge zwischen Variablen würden in Hypothesen gepackt, anschließend könnte man zur Konstruktion der Skalenniveaus übergehen. Es folgt eine statistische Erhebung zur Falsifizierung von Hypothesen (Popper 1978). In diesem Zusammenhang ist allerdings die Generierung von Hypothesen von entscheidender Wichtigkeit. Denn eine quantitative Forschung ist nur dann praktikabel, wenn vorab Hypothesen formuliert werden können. Die Bildung dieser Hypothesen wiederum ist nur dann möglich, wenn theoretische Aussagen vorliegen, hinsichtlich der Variablen und jenem Zusammenhang, der für den Forscher von Interesse ist. In der Wissenschaftstheorie finden sich weite und enge Definitionen des Begriffs Theorie. So kann eine Theorie lediglich eine Konzeptionalisierung oder Beschreibung eines Phänomens bezeichnen, die versucht, verfügbares Wissen zu integrieren und es in ein schlüssiges Konzept zu überführen (Marczyk/ DeMatteo/Festinger 2005: 15). Andere, (str)enger gefasste Konzeptionen wiederum betonen, dass Theorien Aussagen sind, die Zusammenhänge zwischen theoretischen Begriffen beschreiben (Berg 2007). Schließlich bezeichnen Rainer Schnell, Paul Hill und Elke Esser (1995: 51f.) Theorien als Systeme von Aussagen, die Gesetze umfassen, also empirisch – durch statistische Verfahren an der Realität überprüfte – „wenn- dann“ und „je-desto“ Aussagen. Je strenger der Theoriebegriff ausgelegt wird, desto schwerer wird es, die Aussagen zu organisationaler Identität, Diffusion und möglichen Effekten im Vorfeld als Theorie zu bezeichnen. Betrachtet man organisationale Identität unter dem Brennglas eines strengen Theoriebegriffs, so könnte im konkreten Fall vom Vorliegen einer Theorie gesprochen werden, wenn es in Bezug auf den konkreten Organisationstypus politische Partei eine Reihe von schlüssigen wie teilweise empirisch „getesteten“ Aussagen gibt, die einerseits das Phänomen der Identitätsdiffusion beschreiben sowie andererseits insbesondere den Zusammenhang von Diffusion organisationaler Identität auf der einen sowie parteipolitischem Engagement und Identifika-
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tion durch Mitglieder auf der anderen Seite beschreiben und darüber hinaus erklären. Wie insbesondere die Ausführungen in Abschnitt 2.3.6 gezeigt haben, fehlen weitgehend empirische Mitgliederstudien, die Parteien dezidiert aus der Perspektive organisationaler Identität in den Blick nehmen. Zwar liegt eine empirische Parteienmitgliederstudie vor, die Unterscheidbarkeit als Problem thematisiert und nach den Auswirkungen fragt. Damit ist aber nur eine von vier möglichen Dimensionen organisationaler Identität abgedeckt. Unter dem Strich können die Vorabkenntnisse als lückenhaft bezeichnet werden. Sie nehmen insgesamt weniger den Status einer Theorie, denn eines Konzepts an, um einen Begriff von Bruce Berg (2007: 36ff.) zu verwenden. Berg meint damit ganz rudimentär abstrakte Elemente, welche die Eigenschaften von Objekten bezeichnen. Unzweifelhaft trifft diese Bezeichnung auf die Variablen organisationale Identität bzw. Diffusion organisationaler Identität weitestgehend zu. Ein wichtiger Grund, der gegen ein quantitatives, und für ein qualitatives Verfahren spricht, ist nun dieser: Mit Konzepten kann zwar, wie zu zeigen ist, durchaus empirisch gearbeitet werden. Nur ist die Deduktion von Hypothesen als möglichst präzisen, zugespitzten wenn-dann Statements aus überwiegend abstrakten Konzepten wie organisationaler Identität oder Diffusion organisationaler Identität willkürlich und würde zur belastenden Hypothek einer Forschung. Sie ginge zulasten der Validität der Ergebnisse. Ohne Kenntnisse dahin gehend, aus was organisationale Identität im konkreten Bezug auf die CDU und SPD eigentlich besteht, ohne Einsichten darin, worin sich Diffusion organisationaler Identität äußert, wie das Problem beschaffen ist und auf welche inhaltlichen Dimensionen sich das Problem bezieht, ohne zumindest ungefähre, empirisch fundierte Erkenntnisse dahin gehend, wie sich diese Probleme im konkreten Organisationstypus der politischen Partei auf die Mitglieder auswirken, ist eine Hypothesentestende, und damit quantitative Strategie in Bezug auf die in diesem Vorhaben interessierenden Variablen schwer zu rechtfertigen. Dementsprechend zielt das Vorhaben nicht darauf ab, eine Theorie mit statistischen Methoden der Erhebung und Auswertung zu überprüfen. Es geht, mithilfe von Konzepten, eher um die Generierung von empirisch-fundierten Aussagen am Ende des Forschungsprozesses, die dann freilich auch in quantitativer Manier weiter verfolgt werden können (siehe dazu auch Teil 5 der Arbeit). Das erste Erkenntnisinteresse besteht darin, grundsätzliche Informationen über Diffusion organisationaler Identität zu sammeln, auszuloten, ob und wenn ja auf welche theoretischen Dimensionen sich das Phänomen ausbreitet, wie es beschaffen ist. Erst dann ist zu klären, ob negative Ausprägungen von Identifikation und Engagement auch mit Diffusion organisationaler Identität erklärt werden können. Die Vokabel „Erklären“ wird hier mit aller Vorsicht gebraucht. Es geht hier nicht um einen Beweis anhand statistischer Verfahren, sondern um eine Rekonstrukti-
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on von Ausprägungen und Zusammenhängen durch letztlich hermeneutische Verstehensoperationen. Im nächsten Abschnitt wird noch deutlicher werden, dass auch der Beschaffenheit des Forschungsgegenstandes organisationale Identität am besten mit einem methodischen Instrumentarium Rechnung getragen werden kann, das dem Arsenal der qualitativen Sozialforschung zuzuordnen ist. 3.2 Die Methode der Datenerhebung „Die Aufgabe qualitativer Forschung“, schreibt Arthur Cropley (2002: 40), „ist es, herauszufinden, wie Menschen dem Strom von Erfahrungen und Aktionen, die sie tagtäglich erleben, Ordnung und Sinn verleihen“. Aufgabe dieser konkreten Forschung ist es, so könnte im Anschluss an Cropley formuliert werden, die Klärung der Fragen, wie Parteimitglieder organisationale Identität als Ordnung erschaffen, wann diese Ordnung zum Problem wird und welche Konsequenzen dies hat. Hierzu muss sich der Forscher in erster Linie jenen Konstruktionsprozess zugänglich machen, aus dem heraus organisationale Identität entsteht. Theoretische Vorüberlegungen (vgl. Kapitel 2.1.4) zum Forschungsgegenstand organisationale Identität legen nahe, dass sinnhafte Ordnungszusammenhänge wie Identitäten, sowohl die personale, wie auch die von Organisationen, durch Narrationen zum Ausdruck gebracht werden können. Wenn also „qualitative Forschung u. a. dadurch charakterisiert [ist], dass die jeweiligen Untersuchungsgegenstände die Auswahl bzw. Konstruktion der Forschungsmethoden bestimmen und nicht umgekehrt“ (Steinke 2000: 216), dann gilt es, durch den Einsatz adäquater Methoden Narrationen im Forschungsprozess als Datensorte zu generieren, um an und in ihnen – gemäß des explizierten Forschungsinteresses – Sinnsetzungsprozesse wie Identitätskonstruktionen nachvollziehen zu können. Es sei am Rande erwähnt, dass auch Ausprägungen von Engagement und Identifikationen über Erzählungen erfasst werden können. Schließlich ist es dem Forscher möglich, in Erzählungen durch die Rekonstruktion von Argumentationen und Begründungen kausale Sinnzusammenhänge sichtbar zu machen. Im Vergleich zu diesen qualitativen Daten erscheinen quantitative Datensorten (Punch 2005: 40ff.), bei denen Informationen über die Welt letztlich in der Form von Mengen und Häufigkeiten aufbereitet sind, für eine „Rekonstruktion der Konstruktion“ (Soeffner 1999) von organisationaler Identität als nicht geeignet.14 14 In diesen Zusammenhang kann auch Michael Th. Grevens Kritik an der Dominanz von Repräsentativumfragen in der Parteimitgliederforschung eingefügt werden. Den „speziellen Interessen und Bedürfnissen einer auf die bewusstseinsmäßigen Prozesse innerhalb von Parteien angelegten Untersuchung“ könnten Daten aus quantitativen Projekten „freilich in der Regel nicht entsprechen“ (Greven 1987: 13). Warum aber dann Greven selbst – dem es nach eigenem Anspruch immer
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Die naheliegendste Verbindung zwischen Erkenntnisinteresse, Spezifik des Forschungsgegenstandes und Methode der Erhebung wäre nun jene von Identitätsrekonstruktionen und narrativen Interviews.15 Gleichwohl ist die Methode des narrativen Interviews auch mit Risiken verbunden, vor allem deswegen, weil sie wesentlich auf die „narrative Kompetenz“ des Gegenübers angewiesen ist. Es bedarf keiner großen Fantasie, um sich vorzustellen, wie z. B. aufgrund persönlicher Dispositionen oder wegen einer für den Befragten sensiblen Thematik ausführliche Narrationen entweder nicht zustande kommen oder sich die Narrationen schnell Themenbereiche suchen, die nicht im Forschungsinteresse liegen. Diese Probleme werden dann von der methodologisch bestimmten, selbst auferlegten Zurückhaltung des Forschers in fataler Weise ergänzt. Während der Befragte nicht ins Detail gehen will oder kann, so darf der Forscher, der reinen Lehre wegen, nicht ins Detail vordringen, um die Relevanzsetzungen der Feldmitglieder nicht zu beeinträchtigen. Solchermaßen kann sich die selbst auferlegte Zurückhaltung des Forschers gerade bei komplexeren Fragestellungen als kontraproduktiv erweisen: Je umfangreicher die Forschungsthematik, der Gegenstand des Interesses, die Anzahl der Variablen (s. o.) sind, desto größer wird prinzipiell die Gefahr, das relevante Punkte durch den Erzähler nicht vollständig berücksichtigt werden. Ganz zu schweigen von der Schwierigkeit, eine komplexere Fragestellung in einer einzigen konzisen Erzählaufforderung so zu komprimieren und zu formulieren, dass der Befragte diese auch verstehen kann. Zum narrativen Interview stellen Leitfadeninterviews eine Alternative dar, die eine mittlere Strukturierungsqualität sowohl aufseiten des Interviewten wie auch aufseiten des Interviewers aufweisen (Marotzki 2003).16 Ein Leitfaden wieder um eine „Phänomenologie“ des „politischen Alltagsbewusstseins in Parteien“ geht – eine Art Repräsentativstudie durchführt, an deren Ende quantitative Datensorten produziert werden, mit denen ein wie auch immer geartetes phänomenologisches Erkenntnisinteresse gerade nicht eingelöst werden kann, ist nur schwer nachvollziehbar. 15 Auf der analytischen Ebene personaler Identität ist dieser Zusammenhang von Gabriele LuciusHoene und Arnulf Deppermann (2005) gut aufgearbeitet worden. Beim narrativen Interview handelt es sich um eine Befragungsform, die dem Leitprinzip folgt, den Befragten ein Maximum an gestalterischer Freiheit zuzugestehen, das jeweilige Thema auszubuchstabieren. Subjektive Sinnzusammenhänge sollen sich in Stegreiferzählungen (Schütze 1983) entfalten, die im Idealfall möglichst ausführlich und umfassend auf eine singuläre, durch den Forscher vorgebrachte Erzählaufforderung hin einsetzen. Der Forscher hält sich mit seiner Strukturierung der Befragungssituation weitestgehend zurück und hat lediglich am Ende des Gespräches die Möglichkeit, weggelassene, für die Forschung wichtige Punkte zu thematisieren. So kann das narrative Interview als jene Methode begriffen werden, die am ehesten in der Lage ist, subjektive Relevanzsetzungen – mithin auch Identitätskonstruktionen – verbal-narrativ, vom Forscher möglichst „unverfälscht“ sichtbar zu machen. 16 Als exakter Gattungsbegriff ist der Terminus des Leitfadeninterviews begrenzt tauglich (Ullrich 1999), da er beinahe auf jeden Typus der Befragung angewendet werden kann, der nicht weitestgehend, wie narrative Interviews, auf eine Strukturierung der Befragungssituation verzichtet. Die-
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besteht aus (in der Erhebungssituation mehr oder weniger flexibel gehandhabten) Fragen, die einerseits sicherstellen, dass bestimmte Themenbereiche angesprochen werden, die aber andererseits so offen formuliert sind, dass narrative Potenziale des Informanten dadurch genutzt werden können und der Befragte immer noch die Möglichkeit hat, gerade im Vergleich zu standardisierten Verfahren der Datenerhebung, seine Sicht der Dinge zu vermitteln. Diese Kompromissposition ist der zentrale Grund, warum hier dem Leitfadeninterview der Vorzug gegeben wurde. Im Vergleich zum narrativen Interview ist das Leitfadeninterview weniger riskant. Es besteht genügend Raum, um den explorativen Charakter des Forschungsinteresses Rechnung zu tragen. Andererseits gibt der Forscher die Kontrolle des Gespräches nicht auf, sondern hat die Möglichkeit, auch komplexere Fragestellungen mit mehreren Themenblöcken über den Leitfaden adressieren zu können. Was die Konstruktion des Interviewleitfadens anbelangte, so ergaben sich aus der Fragestellung (vgl. Kapitel 2.4 und 3.1) drei übergeordnete Themenbereiche, die ihren Niederschlag im Leitfaden finden mussten. Das war (1.) das Bild von der eigenen Partei unter dem Gesichtspunkt organisationaler Identität und Diffusion organisationaler Identität, (2.) der Bereich Engagement und Aktivität sowie (3.) das Feld der emotionalen Bindung und Identifikation mit der eigenen Partei. Im ersten Bereich mussten Leitfragen formuliert werden, die einerseits das Parteibild des Befragten sichtbar – und andererseits Diffusion organisationaler Identität greifbar machen. In den anderen beiden Feldern galt es Fragen zu entwickeln, welche vor allem die aktuelle Ausprägung und Entwicklungstendenz von Aktivität und Bindung rekonstruierbar machen. Zu jedem Themenfeld wurden also eine Reihe von möglichst unmissverständlichen, dennoch Raum gebenden Fragen entworfen, die allerdings in der konkreten Befragungssituation weder immer wortwörtlich, noch sklavisch in der Reihenfolge eingehalten wurden, wenn dadurch eine grobe Unterbrechung des Rede- und Gedankenflusses beim Befragten verbunden gewesen wäre. Insgesamt folgte die Anordnung der im Leitfaden angelegten Themenblöcke und demnach der einzelnen Fragen einer bewussten Reihenfolge. Persönliche Erfahrungen des Verfassers zeigten, dass viele Menschen in den ersten Minuten eines Interviews Anlaufschwierigkeiten haben, die sich dann typischerweise in eingangs sehr kurzen, abgehackten Antworten zeigen. Vor diesem Hintergrund erschien es sinnvoll, den Themenblock Engagement an den Beginn der Fragese weite Definition von Leitfadeninterviews lässt also Platz für die Subsumption unterschiedlicher Spielarten. Es können mindestens vier Typen unterschieden werden, nämlich das fokussierte Interview (Merton/Kendall 1979), das problemzentrierte Interview (Witzel 2000), das Interview zur Erfassung subjektiver Theorien (Scheele/Groeben 1988) sowie das diskursive Interview (Ullrich 1999).
Die Methode der Datenerhebung
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runde zu stellen. Das Thema sollte als „Eisbrecher“ dienen. Die Erfahrungen aus dem Pretest zeigten, dass die Parteimitglieder in der Regel gerne auf die Fragen nach ihrer persönlichen Parteiengeschichte antworteten und durchaus mit Freude auf Fragen nach dem Grund des Eintritts eingingen – auch wenn Engagement und Identifikation nicht immer einen guten Verlauf hatten.17 Solchermaßen „aufgewärmt“ wurde die Diskussion rund um das Parteienbild als Kernthema in der Mitte des Gespräches platziert. Dieser Teil folgte in der Regel 15 bis 20 Minuten nach Beginn des Interviews. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die meisten Befragten an die Interviewsituation gewöhnt, Sprech- und Erzählhemmungen waren abgebaut. Im letzten Teil des Gesprächs wurden Fragen nach Identifikation des Mitglieds mit seiner Partei gestellt. In Anlehnung an das Modell des narrativen Interviews wurde am Schluss des Leitfadeninterviews nachgehakt, um noch einmal dezidiert mögliche Auswirkungen von Diffusion organisationaler Identität zu thematisieren. Gab es während der Schilderungen von Diffusion Anzeichen für mögliche Effekte auf Denken, Handeln und Fühlen gegenüber der Partei, wurde dies während des Gespräches notiert und ganz am Schluss im Nachfrageteil nochmals thematisiert. Das Einfügen dieses inoffiziellen vierten Teils zeigt, dass der Fragebogen zu Beginn nicht statisch war, sondern auch nach dem Pretest im Laufe der Zeit immer wieder optimiert wurde. Angepasst wurde schließlich nicht nur die Reihenfolge der Themen (durch das Einfügen eines separaten abschließenden Nachfrageteils zum Thema Effekte) sondern auch die Art der Gesprächsführung. Schon bei den ersten Interviews zeigte sich, dass Diffusion organisationaler Identität oft entweder (a.) als persönliches Wissensdefizit oder (b.) als Schwäche der Partei als solcher empfunden wurde. In beiden Fällen war die Konsequenz bald absehbar. Das Einräumen von mangelnden Unterschieden oder Widersprüchen im Parteienbild wurde als unangenehm empfunden und folglich möglichst knappgehalten. Verstärkt wurde diese Abwehrhaltung durch einen professionalisierten Kommunikationshabitus, der nicht nur Spitzenpolitikern im Bund, sondern auch Funktionären an der Basis durchaus zueigen ist (Klein/ Diekmannshenke 1996). Dieser Duktus wurde in den geführten Interviews von impliziten Maximen wie diesen bestimmt: Keine Schwächen zeigen, immer positiv argumentieren, die Partei immer in gutem Licht erscheinen lassen, kritische Fragen sind zu spiegeln usw. Ergaben sich während des Gespräches deutliche Anzeichen dafür, dass eine Diffusion organisationaler Identität „vorliegt“, diese aber nicht eingeräumt wird, so wurde die klassisch qualitative Zurückhal17 Um die Methode des Leitfadeninterviews und die Praktikabilität des Leitfadens zu testen, wurden im Frühjahr 2007 vor dem Beginn der eigentlichen Erhebungsphase zwei Testinterviews durchgeführt. Entgegen ursprünglicher Mutmaßungen erwiesen sich die Ergebnisse als gut, sodass sie bei der Abschlussauswertung berücksichtigt wurden.
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tung des Interviewers punktuell aufgegeben zugunsten einer offensiveren Gesprächsführung mit Wissensfragen, Stellungnahmen und Begründungsaufforderungen, die vor allem in der Sonderform des diskursiven Interviews (Ullrich 1999) vorgesehen ist.18 Mit der Entscheidung für Interviews ist prinzipiell eine Entscheidung für eine (eigens zum Zweck der vorliegenden Arbeit durchzuführende) Erhebung von Primärdaten gefällt und damit implizit auch eine Entscheidung gegen die Heranziehung von Sekundärdaten getroffen. Mit Sekundärdaten sind jene Daten gemeint, die nicht direkt vom Forscher generiert werden, sondern bereits im Forschungsfeld selbst vorhanden sind. Tatsächlich wurde in Erwägung gezogen, eine Triangulation der Datensorten vorzunehmen. Letztlich ist es dazu nicht gekommen. Denn hier steht der Forscher immer vor dem Problem des erheblichen zeitlichen Mehraufwandes, ohne das damit zwingend ein Mehrwert hinsichtlich der Ergebnisse verbunden ist. Es soll hier eingeräumt werden, dass eine Auswertung von Sekundärdaten auch im vorliegenden Projekt durchaus denkbar gewesen wäre. Vielversprechend erschien z. B. die Analyse von Nutzerbeiträgen im Intranet der jeweiligen Parteien. Dort gab bzw. gibt es mehr denn je „Threads“ zum Selbstverständnis der Parteien. Gegen die Nutzung dieser Daten sprach, dass nur ein Teil der Fragestellung (Frage nach Diffusion organisationaler Identität) einlösbar wäre, aber nicht unbedingt die Frage nach den Effekten. Daher gab es eine Entscheidung pro Erzeugung von Primärdaten per Interview. Auch wenn es sich bei Befragungen immer um künstliche Situationen handelt, kann der Forscher durch den Leitfaden bis zu einem gewissen Grad sicherstellen, dass auch das zur Sprache kommt, was interessiert. So blieb es unter dem Strich bei der „konservativen Form“ der Datenerhebung, der Generierung von Narrationen über Parteienbilder, Aktivitäten und Bindungen durch den Einsatz von Leitfadeninterviews, die in puncto Interviewführung abschnittsweise an die Sonderform des diskursiven Interviews nach Carsten Ullrich anknüpften.
18 Nach Carsten Ullrich zielt das diskursive Interview auf die Aufdeckung sozialer Deutungsmuster ab. Das Verfahren nutzt den Umstand, dass die Wahrscheinlichkeit eines Rückgriffs auf soziale Deutungsmuster in Form von Derivationen dann am höchsten ist, wenn einer impliziten oder expliziten Begründungsaufforderung nachgekommen wird. Hierzu sei, so Ullrich, eine Befragungstechnik erforderlich, die dazu geeignet ist, im gewünschten Maße Derivationen zu evozieren. Hier reichten herkömmlich-zurückhaltende Formen der Gesprächsführung nicht aus, „denn auch bei einem günstigen Interviewsetting, wie es für offene Interviewverfahren typisch ist, muss damit gerechnet werden, dass Befragte in Einzelfällen nicht bereit oder in der Lage sind, sich zu zentralen Fragen explizit zu äußern. Die Technik des diskursiven Interviews ermöglicht es daher, Befragte direkt oder indirekt zur Begründung ihrer Handlungen, Handlungsorientierungen und Situationsdefinitionen zu veranlassen und sie darüber hinaus systematisch mit Widersprüchen und Inkonsistenzen in ihren Selbstdarstellungen zu konfrontieren“ (Ullrich 1999: 15).
Triangulation bei den Methoden der Datenauswertung
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3.3 Triangulation bei den Methoden der Datenauswertung Auch wenn es immer wieder Wahlverwandtschaften zwischen bestimmten Methoden der Datenerhebung und –auswertung gibt, oft ist beispielsweise eine Kombination von narrativ-biografischen Interviews und sequenziellen Analysestrategien zu finden, so sind Datenerhebung und Datenanalyse im methodologischen Sinne doch zwei unterschiedliche Paar Schuhe. Auch die Methode der Datenauswertung muss also gesondert begründet werden, was im Folgenden geschehen soll. Oberstes Kriterium bei der Wahl der Datenauswertungsmethode war es, dass das vorab formulierte Erkenntnisinteresse durch die Methode der Datenauswertung eingelöst werden kann. Gegenstand und Ausgangspunkt der Datenanalyse sind Erzählungen über Engagement, Identifikation und das Parteienbild der Befragten. In Bezug auf diese Narrationen hat die Art und Weise der Datenanalyse zwei verschiedene Ziele einzulösen. Einerseits muss sie ermöglichen, subjektive Sinnsetzungsprozesse und Ordnungsentwürfe analytisch nachzuvollziehen und aufzubereiten sowie die Beschreibung von organisationaler Identität und der jeweils subjektiven Ausprägung von Identitätsdiffusion auf organisationaler Ebene beschreibend zu systematisieren. Das Erkenntnisinteresse geht aber über die bloße systematisierende Deskription des Phänomens Diffusion organisationaler Identität hinaus. Es wird andererseits verfolgt, Diffusion mit jeweils subjektiven Ausprägungen von Identifikation und spezifischen Mustern parteipolitischer Partizipation in Verbindung zu setzen – und idealerweise Letzteres durch Erstes zu erklären. Um diese Erkenntnisinteressen zu bedienen, wurde eine Entscheidung zugunsten einer intermethodologischen Triangulation getroffen. In der qualitativen Sozialforschung bedeutet Triangulation gemäß Uwe Flick (2008: 12) in aller Regel die „Einnahme unterschiedlicher Perspektiven auf einen untersuchten Gegenstand oder allgemeiner: bei der Beantwortung von Forschungsfragen. Diese Perspektiven können sich in unterschiedlichen Methoden, die angewandt werden und/oder unterschiedlichen gewählten theoretischen Zugängen konkretisieren“. Die hier vorgenommene Art der Triangulation stellt insofern einen Sonderfall dar, als dass nicht, wie z. B. bei Norman K. Denzin (1978) klassischerweise vorgesehen, unterschiedliche Theorien, unterschiedliche Datenquellen, unterschiedliche Forscher oder Methoden der Datenerhebung kombiniert werden, sondern unterschiedliche Methoden der Datenauswertung. Um ein komplexes Phänomen wie Diffusion organisationaler Identität beschreibend zu erfassen und zu systematisieren, gab es keine echte Alternative zur Methode der kategoriellen Inhaltsanalyse. Zumal zwar keine Theorie, aber durchaus ein Konzept von organisationaler Identität vorlag, mit dessen Hilfe die Konstruktion wenngleich basaler Codes möglich wurde. Nun eignet sich eine
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kategorielle Inhaltsanalyse gut zur sukzessiven analytischen Ausdifferenzierung eines Phänomens, so wie es Diffusion organisationaler Identität darstellt. Allerdings gelangt das Verfahren aus der Sicht des Verfassers dort an seine Grenzen, wo es um die Rekonstruktion von (kausalen) Zusammenhängen zwischen unterschiedlichen Phänomenen, im konkreten Fall zwischen Diffusion organisationaler Identität einer-, sowie Identifikation und Engagement andererseits geht. Genau nach diesen Zusammenhängen aber fragt Leitfrage Nummer zwei. Im Rahmen eines qualitativen Designs, das auf entsprechenden Datensorten gebaut ist, muss, um Zusammenhänge zwischen Variablen in den Blick zu nehmen, ausgehend von der kategoriellen Inhaltsanalyse ein zweifacher Perspektivwechsel vorgenommen werden. Erstens von einer Makroebene, die alle Fälle eines Samples in den Blick nimmt, hin zu einer Ebene ausgewählter Einzelfälle. Zweitens geht es um einen Blickwechsel von einer Ebene der Subsumptionslogik, der die kategorielle Inhaltsanalyse folgt, hin zu einer Rekonstruktionslogik, die z. B. durch eine sequenzielle Analyse eingelöst wird. Erst eine Hinwendung zur Argumentation, zur Logik und vor allem Chronologie eines Falles als Entität, die eben von der kategoriellen Inhaltsanalyse forschungslogisch nicht geleistet werden kann, lassen sich auch Kausalitäten erfassen. Mit anderen Worten ist eine explorative Vermessung von Diffusion organisationaler Identität mittels einer kategoriellen Inhaltsanalyse aller Fälle im Sample möglich, eventuellen Negativeffekten von Diffusion organisationaler Identität ist aber besser durch eine Sequenzanalyse ausgewählter Einzelfälle nachzuspüren. Hinter dieser Kombination steht die Annahme, dass sich beide Ansätze nicht ausschließen, sondern hinsichtlich der Forschungsfrage gut ergänzen. Folglich ist die Kombination beider Analysevorgehensweisen ein Beitrag zur Erhöhung der Validität des Vorhabens insgesamt (Denzin 1978). Im Folgenden sollen zunächst beide Arten der Datenauswertung in Grundzügen und hinsichtlich der konkreten Operationalisierung vorgestellt werden. 3.3.1
Kategorielle Inhaltsanalyse
Die kategorielle Inhaltsanalyse ist in der (qualitativen) Sozialforschung ein gängiges Verfahren zur Auswertung von Primär- und Sekundärdaten. Ebenso wie aber der Terminus Leitfadeninterview als Oberbegriff für unterschiedliche Varianten der semi-strukturierten Interviewführung fungiert, so existieren auch unter dem Label Inhaltsanalyse viele alternierende Spielarten. Es gibt aber gemeinsame Nenner. Alle Arten der qualitativ-kategoriellen Inhaltsanalyse haben erstens ein Primärinteresse am Verstehen von Sinn, es geht also, was das Erkenntnisinteresse betrifft, im Gegensatz zu quantitativen Inhaltsanalysen um hermeneutische
Triangulation bei den Methoden der Datenauswertung
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Operationen und nicht um die bloße Ermittlung von Frequenzen. Zweitens besteht, trotz Fokus auf Sinn und Verstehen, kein primäres Interesse an der chronologischen Rekonstruktion von Sinnzusammenhängen anhand einzelner Fälle. Dagegen nutzen Forscher die Inhaltsanalyse zu einer einzelfallübergreifenden Erfassung und Systematisierung der Ausprägungen von Phänomenen. Die kategorielle Inhaltsanalyse ist ein brauchbares Instrument zur Reduktion von inhaltlich-thematischer Komplexität, die gerade bei qualitativen Datensorten sehr ausgeprägt ist und den Forscher oft vor kapitale Probleme stellen kann (Südmersen 1983). Um dieses Ziel zu erreichen, operieren kategorielle Inhaltsanalysen, wie der Name bereits andeutet, mit Kategorien. Die Nutzung von Kategorien wäre demnach die dritte Gemeinsamkeit jener Schiffe, die unter der Flagge der Inhaltsanalyse segeln. Kategorien können am besten als sich aus dem Erkenntnisinteresse, der Fragestellung und theoretischen Vorannahmen herleitenden Schubfächer beschrieben werden, denen während des Prozesses der Codierung entsprechende, passende Textstellen zugeordnet werden können. Während eine Inhaltsanalyse für manche Autoren bereits mit dem Prozess der Kategorisierung mehr oder weniger abgeschlossen ist (Mayring 2000), schließt sich bei anderen Spielarten noch der Arbeitsschritt der Typenbildung an (Kelle/Kluge 1999). Typen können als Gruppierungen von Einzelfällen angesehen werden, die intern, in Bezug auf bestimmte Merkmalsausprägungen und Merkmalskombinationen Ähnlichkeiten aufweisen und sich dadurch extern von anderen Typen unterscheiden. In Bezug auf das hier vorgestellte Forschungsprojekt konnten unter Berücksichtigung der Fragestellung drei Kategorien identifiziert werden, die zunächst im Zentrum der Aufmerksamkeit standen: (1.) Diffusion organisationaler Identität, (2.) Engagement sowie (3.) Identifikation. Vordringliche Aufgabe der kategoriellen Inhaltsanalyse war es, diese Kategorien durch die Zuordnung entsprechender Textstellen intern auszudifferenzieren. Um Codierungen vornehmen zu können, müssen die entsprechenden Kategorien im Vorfeld näher bestimmt werden. Zu dieser Definition wurde das theoretische Vorwissen herangezogen. Eine rein induktive, auf eine Vorabdefinition der Kategorien verzichtende Vorgehensweise, die als solche in manchem Methodentext als Idealtypus einer kategoriellen Analyse durchscheint, dürfte sich in der Forschungspraxis als ein schwieriges Unterfangen herausstellen.19 Eine kategorielle Inhaltsanalyse braucht vorab definierte Kategorien, auch wenn diese begriffliche Definition –
19 „Woher sollten wir wissen oder erkennen“, so merken Nadine Schöneck und Werner Voß (2006: 57) treffend an, „ob der Baum ein Baum ist, hätten wir nicht ein theoretisches Vorverständnis – und sei es nur implizit oder unbewusst – darüber, was einen Baum von einem Tier oder einen Baum von einem Busch unterscheidet?“. Dem ist nichts hinzuzufügen.
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im Gegensatz zu quantitativen Inhaltsanalysen – nicht bis ins letzte Detail vorgenommen werden muss. Als Erstes stand die Operationalisierung der Kategorie Diffusion organisationaler Identität auf dem Programm. Zwar lag mit organisationaler Identität bereits ein theoretisches Konzept vor. Gleichzeitig wirkte das Konzept, um als Vorlage einer empirischen Datenauswertung zu dienen, allgemein. Ein Umstand, der Statistikern Schweißperlen auf die Stirn getrieben hätte, etwa bei der Konstruktion von Variablen und messbaren Indikatoren, muss allerdings im Rahmen eines qualitativen Designs nicht unbedingt als Nachteil gelten. In Bezug auf die methodologischen Arbeiten des Soziologen Herbert Blumer behaupten Udo Kelle und Susann Kluge (1999: 34) sogar, dass allgemeine, abstrakte, empirisch gehaltlose Konzepte „in idealer Weise als Heuristiken einsetzbar“ seien. Der harte Kern von allgemeinen Begriffen fungiere als Achse der Kategorienbildung, als eine Art theoretisches Skelett, zu dem das Fleisch empirisch gehaltvoller Beobachtungen hinzugefügt wird. Aus dem harten Kern des Begriffs von organisationaler Identität konnten vor Beginn der Verschlagwortung vier Dimensionen von Diffusion organisationaler Identität gewonnen werden. Diffusion organisationaler Identität kann empirisch als Diffusion von (1.) Kontinuität, (2.) Zentralität, (3.) Unterscheidbarkeit und (4.) Kohärenz auftreten. In Vorbereitung der Codierung schien nach dieser Maßgabe das Anlegen eines Codierplans sinnvoll. Dort wurden die Dimensionen der Kategorie Diffusion organisationaler Identität, soweit dies möglich und sinnvoll erschien, vorab definiert. Der Codierplan erwies sich vor allem in der ersten Zeit der Datenauswertung als wertvolles Hilfsmittel. Mit der Hilfe des Planes konnte der Realitätsschock nach dem ersten Kontakt mit den empirischen Daten besser bewältigt werden. Er half, angesichts der großen Datenmengen nicht den Überblick zu verlieren. Bei der hier vorliegenden Variante der kategoriellen Inhaltsanalyse erfolgt der Erkenntnisfortschritt im Wesentlichen dadurch, dass die beschriebenen Kategorien bzw. ihre Unterkategorien nach erfolgter Zuordnung der Textpassagen intern geordnet und sukzessive ausdifferenziert werden. Also wurde innerhalb der Kategorien nach Mustern gesucht.20 Zur Anwendung kam hier das Computerprogramm ATLAS/ti.21 Diese Software ermöglichte ein nahezu reibungsloses 20 Dies passierte dort, wo es kompliziert wurde, zum Teil noch ganz altmodisch per Hand. In diesen Fällen wurden Zitate einer Subkategorie auf einem DIN A 4 Blatt Papier ausgedruckt, die Textpassagen auf einem Blatt einzeln ausgeschnitten, um so auf einem großen Tisch immer wieder umgruppiert zu werden, bis eine Ordnung erkennbar war. Diese Technik kann freilich nicht bei allen Interviews und nicht bei allen Kategorien zur Anwendung kommen. 21 ATLAS/ti ist eine in der qualitativen Sozialforschung bekannte Software zur Aufarbeitung von Textmaterial. Ursprünglich an der Methodologie der Grounded Theory ausgerichtet, dient ATLAS/ti heute als vielseitig einsetzbares Werkzeug in der gesamten Bandbreite der qualitativen
Triangulation bei den Methoden der Datenauswertung
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Codieren von Textpassagen und weiterhin auch die Ausdifferenzierung der Kategorien. 3.3.2
Die sequenzielle Analyse
Bis zu diesem Punkt wurde die Methode der kategoriellen Inhaltsanalyse nach Kelle und Kluge weitgehend ausgereizt. Die Technik war uns dahin gehend hilfreich, Ordnung in das Phänomen Diffusion organisationaler Identität zu bringen. Allerdings stößt die Methode der kategoriellen Inhaltsanalyse dort an ihre Grenze, wo es um die Frage der Effekte geht. Im Rahmen eines qualitativen Research-Designs kann diese subsumptionslogische Vorgehensweise die Frage nach den Auswirkungen nicht gut beantworten. Geboten ist nun ein Verfahren, was eher rekonstruktionslogisch verfährt. Dafür kommt die Sequenzanalyse infrage. Die Sequenzanalyse ist ein auf die Arbeiten des Soziologen Ulrich Oevermann (1996) zurückgehendes, universell einsetzbares Verfahren zur Interpretation von Texten, wobei der Begriff des Textes durchaus im allerweitesten Sinne zu verstehen ist (Kraimer 2000).22 Bei der Sequenzanalyse muss sich der Forscher die „Handlung“, die er verstehen möchte, über eine Aufzeichnung (z. B. als verbal-sprachlichen Text) zugänglich machen. Dieses Protokoll bildet die zukunftsoffene Selektivität eines alltäglichen Handlungsablaufes ab. Regeln Sozialforschung. ATLAS/ti ist ein durchaus komplexes Programm. Um den Zweck einer Herausarbeitung von Strukturen und Zusammenhängen aus qualitativem Datenmaterial zu erreichen, stehen bei ATLAS/ti eine Vielzahl von Mitteln und Werkzeugen zur Verfügung, wie z. B. der Netzwerkeditor oder die Autocoding-Funktion, die aber im vorliegenden Fall nicht alle benutzt wurden und deshalb an dieser Stelle auch nicht weiterführend dargestellt werden sollen (zu ATLAS/ti weiterführend Strübing 1997, Legewie 2003). Vor allem ist ATLAS/ti ein sehr nützliches Hilfsmittel bei der Verwaltung von Texten und Zitaten, der Verschlagwortung umfangreicher Textmengen und Kategorienausdifferenzierung. Als solches Utensil wurde das Programm hier eingesetzt. 22 Mit einer Sequenzanalyse werden in der Forschungspraxis nicht nur schriftliche Äußerungen aller Art ausgewertet, sondern z. B. auch Bilder und Filmmaterial. Streng genommen ist aber die Sequenzanalyse kein eigenständiges Verfahren, sondern gewissermaßen der technische Kern der Objektiven bzw. Strukturalen Hermeneutik, einer sozialwissenschaftlichen „Metamethode“, die ebenso umfangreiche wie rigide Annahmen über die Beschaffenheit der sozialen Welt mit umfasst (en détail Oevermann 1996, Wernet 2000). Zu den zentralen Prämissen der Methode gehört die Regelgeleitetheit menschlicher Interaktionspraxis. Menschliches Denken, Handeln und Fühlen ist immer Ausdruck der Anwendung von Regeln, über deren Bedeutungsgehalt schon im „Vorhinein“ entschieden wurde. Somit weisen auch die Manifestationen menschlicher Praxis (eben Texte) immer eine Art „Bedeutungsüberschuss“ auf, der nicht im subjektiv gemeinten Sinn des Akteurs aufgeht. Dieser Bedeutungsüberschuss wird in der objektiven Hermeneutik mit dem Begriff der „objektiven Sinnstrukturen“ gefasst. Der objektiven Hermeneutik geht es um das Erschließen dieser objektiven Sinnstrukturen, die nicht mit dem subjektiv gemeinten Sinn des Urhebers von Texten gleichzusetzen sind.
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Das Research-Design
geben in jeder Aktion Handlungsoptionen vor. Der Akteur entscheidet sich für bestimmte Optionen, ebenso wie er andere außer Acht lässt. Eine Handlung erscheint so als Abfolge von Handlungssequenzen, die von Entscheidungs- und Anschlussoptionen durchsetzt sind. Der Interpret rekonstruiert diese Sequenzialität. Er isoliert eine erste Sequenz der protokollierten Handlung. Nun werden an dieser ersten Sequenz die bedeutungsschaffenden Regeln geltend gemacht in der Gestalt von Lesarten, welche den Normalkontext beschreiben, in dessen Rahmen die Sequenz sinnvoll erscheint. Dies sollen mehrere Lesarten sein. Hier stellt sich der Interpret die Frage: Im Licht welcher Lesart erscheint die Sequenz pragmatisch angemessen, sozial akzeptabel oder vernünftig? Im weiteren Verlauf der Analyse wird Sequenz für Sequenz der protokollierten Handlung nachvollzogen. Durch eine sukzessive Falsifikation – Oevermann reklamiert für die Objektive Hermeneutik die konsequente Anwendung der Popperschen Methodologie – werden nun die Lesarten aussortiert, welche im Sinn der o. g. Frage nicht haltbar sind. Am Ende sollte eine gültige Lesart übrig bleiben. Sie bezeichnet den regelgenerierten Sinnkontext, indem die protokollierte Handlung sinnvoll erscheint. Der Interpret hat sein Ziel erreicht. Die latentobjektive Sinnstruktur einer Handlung ist ohne Rückgriff auf die Intentionen der an der Handlung beteiligten Subjekte herausgearbeitet worden. Soviel zu den allgemeinen Prämissen der Sequenzanalyse, wie sie in den einschlägigen Lehrbüchern zu finden sind. Im vorliegenden Projekt wurden keinesfalls alle Prämissen der objektiven Hermeneutik übernommen. Die Methode der Sequenzanalyse ist auch und gerade wegen ihrer ganz praktischen Vorzüge interessant: In erster Linie scheint der in der Sequenzanalyse angelegte hermeneutisch-interpretative Nachvollzug einer Lebensäußerung eine der besten Strategien zu sein, um die Frage nach den negativen Effekten von Diffusion organisationaler Identität adäquat zu verfolgen. Durch die chronologische Vorgehensweise wird eine willkürliche Paraphrase von Textpassagen vermieden und der Gefahr vorgebeugt, wichtige Textstellen zu übersehen. Zudem erlaubt die Sequenzanalyse dezidiert den Einsatz mehrerer Interpreten. Durch diese perspektivische Triangulation wird vorschnellen und/ oder einseitigen Interpretationen vorgebeugt. Die Einzelfälle dieser Arbeit wurden von Teams mit je drei Interpreten durchgesehen. Dabei ging es weniger um die Rekonstruktion einer allgemeinabstrakten Fallstruktur, sondern um das Nachverfolgen einer konkreten Forschungsfrage. Es sollte im dialogischen Zusammenspiel der Interpreten eine Falllesart herausgearbeitet werden, die am besten erklären kann, warum das Engagement und/oder die Identifikation im vorliegenden Einzelfall negativ ausgeprägt ist. Von entscheidender Wichtigkeit war in diesem Zusammenhang die Klärung der Frage, ob die im Einzelfall vorab diagnostizierte Diffusion organisationaler Identität tatsächlich als intersubjektiv plausibler Erklärungsfaktor für
Triangulation bei den Methoden der Datenauswertung
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negative Ausprägungen von Identifikation und Engagement angesehen werden kann – oder doch andere Faktoren (persönliche Konflikte, fehlendes Zeitbudget, fehlende Partizipationsangebote) wichtiger sind. Die Interpretation begann beim ersten Satz der Eingangserzählung. Thema war dort in der Regel die Voraussetzung des parteipolitischen Engagements, also ein Themenbereich, den die meisten Befragten ausführlich beantworteten. Vom ersten Satz der Eingangserzählung aus wurde eine Sequenz abgesteckt.23 Nach dem Ende der ersten Sequenz wurden erste Hypothesen zur Struktur des Falles aufgestellt: Welche Voraussetzungen des Engagements sind zu erkennen? Lassen sich Gründe aufführen, die ein Zurückführen des Engagements erklären können? Im weiteren Verlauf des Interviews wurden konkurrierende Lesarten herausgearbeitet: Bis zum Ende der Eingangserzählung konnte eine plausible Strukturhypothese angelegt werden. Dann wurde verfolgt, ob diese Hypothese haltbar ist. Am Ende konnten in beiden Fällen Lesarten entwickelt werden, die eine sinnvolle Erklärung anbieten, warum im Einzelfall sowohl Engagement und Identifikation zum Problem geworden sind und welche Rolle dabei Diffusion organisationaler Identität spielt. 3.3.3
Ein wichtiger Zwischenschritt: Fall-Isolierung durch Typenbildung
Es wurde bereits angedeutet, dass sich mit der Anwendung der Sequenzanalyse ein Wechsel im analytischen Fokus vollzieht. Während das kategorielle Verfahren durchaus alle Fälle des Sample berücksichtigen kann und soll, konzentriert sich die Sequenzanalyse auf den Einzelfall und seine Spezifik. Der Fokus auf den einzelnen Fall hat nun aber nicht nur mit dem eigenen forschungslogischen Anspruch zu tun. Die bei objektiv-hermeneutischen Arbeiten anzutreffende, geringe Zahl der Fälle im Sample folgt nicht nur den theoretischen Rahmenannahmen seiner Apologeten, sondern ist, weitaus banaler, der Forschungsökonomie geschuldet. Die sequenzielle Analyse erweist sich in der Praxis als äußerst zeitintensives Verfahren. Auch wenn diese Methode (hier) nicht mit voller Konsequenz in allen Ansprüchen angewendet wurde, werden durch sie auch in reduzierter Form Ressourcen gebunden. Die Ursachen mögen in der chronologischen Rekonstruktion, der selbst auferlegten Intensität der Interpretation auch kürzester Sinneinheiten, der Ausarbeitung unterschiedlicher Lesarten im Verbund mit anderen Wissenschaftlern (und den damit verbundenen Diskussionsprozessen) und dem sich zugänglich machen von Kontextwissen zu tun haben. Jedenfalls ist 23 Als Sequenz wird hier eine Sinneinheit innerhalb der Erzählung bezeichnet, die sich durch ein identifizierbares Thema auszeichnet. Eine Sequenz endet meistens mit einer kurzen Gesprächspause, einer Nachfrage oder einem thematischen Wechsel durch den Interviewpartner.
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Das Research-Design
eine sequenzielle Analyse, die alle Fälle eines durchschnittlichen qualitativen Samples von n = 30 berücksichtigt, gerade im Rahmen einer Dissertation nicht zu realisieren. Für die hier vorliegende Forschung ergibt sich daraus ein Problem. Zwar wurden 30 Interviews geführt – von denen 25 in die Endauswertung eingingen – aber es konnten nicht alle 25 Fälle einer sequenziellen Analyse unterzogen werden. Daraus folgten zwei Fragen: Welche Eigenschaften sollen die Einzelfälle aufweisen, die für die Sequenzanalyse herangezogen werden? Wie viele Einzelfälle können, sollten und müssten Berücksichtigung finden? Die letzte Frage zumindest ließ sich recht schnell beantworten. Eine Reduktion der Fälle auf ein wesentlich geringeres Maß sollte forschungslogisch kein Problem darstellen, da es dieser Forschung hinsichtlich der logischen Ausrichtung und Zielsetzung ohnehin nicht um Repräsentativität geht. Da sich die meisten methodischen Leittexte in diesen profan wirkenden, dennoch forschungspraktisch wichtigen Fragen ausschweigen, musste die Zahl der zu analysierenden Einzelfälle auf der Basis von eigenen Erfahrungswerten und konkret vorliegenden forschungsökonomischen Beschränkungen kalkuliert werden. Daraus ergab sich eine Zahl von zwei Fällen, die berücksichtigt werden sollten. Das mag auf den ersten Blick eine kleine Fallzahl sein, entspricht aber in der Größe der strukturalhermeneutischen Forschungspraxis (z. B. Daniels/Franzmann/Jung 2006). Welche Fälle aber sollten es sein, nach welchen Kriterien sollten die zwei Fälle bestimmt werden? Groß mag an dieser Stelle die Versuchung sein, solche Fälle auszuwählen, die intuitiv am ergiebigsten sind, die man am besten verstanden hat, jene Fälle zu selektieren, welche die passendsten Textstellen haben – kurz: jene Fälle auszusuchen, die dem Forscher am besten „in den Kram passen“, optimalerweise noch ohne dabei über die Kriterien der Reduktion Auskunft zu geben. Nur: Wissenschaftlich ist diese Vorgehensweise nicht. Eine solche Praxis der Fallauswahl würde dem Generalverdacht der Willkürlichkeit Vorschub leisten, welcher der qualitativen Sozialforschung ohnehin anhängt. Also kam nur infrage, die Auswahl der Fälle methodisch kontrolliert, nach intersubjektiv nachvollziehbaren Kriterien vorzunehmen. Blicken wir dazu zurück auf das Forschungsinteresse. Dort ging es um die Frage nach den Effekten. Aber es standen nicht beliebige Effekte im Fokus, sondern es interessieren vor allem negative Auswirkungen: Führt eine Diffusion organisationaler Identität im Einzelfall zu einem Rückzug aus der Partei oder dazu, sich nicht mehr aktiv zu engagieren? Führt Diffusion organisationaler Identität dazu, dass eine innere Distanz (Disidentifikation) entsteht, die das Mitglied gegenüber seiner Partei spürt? Vorgenommen wurde in einem ersten Schritt sinnvollerweise eine sukzessive Reduzierung des qualitativen Samples auf jene Fälle, bei denen Engagement und Identifikation negativ ausgeprägt sind. Denn bei Fällen, in denen das Engagement und/oder die Identi-
Triangulation bei den Methoden der Datenauswertung
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fikation kein Problem darstellen, können auch keine negativen Effekte untersucht werden. Zudem sollte es sich um Fälle handeln, in denen Diffusion organisationaler Identität vorliegt und diese von den Mitgliedern auch als Problem wahrgenommen wird. Anders herum nämlich eignen sich auch Fälle, in denen zwar Engagement und Identifikation negativ ausgeprägt sind, aber keine Diffusion vorliegt und/oder diese nicht als Problem gesehen wird, kaum zur Rekonstruktion eventueller Negativwirkungen dieses Phänomens auf Aktivität und Parteienbindung.Diese Reduktion des Samples auf im Sinne des Forschungsinteresses „interessante“ bzw. „vielversprechende“ Einzelfälle kann mit dem Schritt der Typenbildung erreicht werden, der bei Kelle und Kluge (1999) die Methode der kategoriellen Inhaltsanalyse abschließt. Wie bereits beschrieben, so können Typen als Gruppierungen von Einzelfällen angesehen werden, die intern, in Bezug auf bestimmte Merkmalsausprägungen und Merkmalskombinationen Ähnlichkeiten aufweisen und sich dadurch extern von anderen Typen unterscheiden. Konkret wurde eine Bildung von Typen in Bezug auf vier Bereiche vorgenommen: Engagement, Identifikation, Intensität und Bewertung von Diffusion organisationaler Identität. Wie in Kapitel 4.4 noch ausführlich dargelegt werden wird, sollte nach der Vorgabe bestimmter Vergleichskriterien in allen drei Bereichen eine Trennung von Spreu und Weizen vorgenommen werden. Das bedeutet im Fokus Engagement eine Trennung von Fällen, in denen Engagement hinsichtlich bestimmter Kriterien „unproblematisch“ ist von jenen, in denen Engagement hinsichtlich von bestimmten Vergleichskriterien zum Problem geworden ist. Das impliziert für den Fokus Identifikation nach bestimmten Kriterien eine Trennung jener Fälle, in denen sich Mitglieder mit der Partei identifizieren von denen, in denen Identifikation zum Problem geworden ist. Das bedeutet schließlich eine Trennung jener Fälle, für die Diffusion organisationaler Identität ein Problem darstellt von denen, die dieses Problem nicht oder nur selten als Problem sehen. Das verlangt mithin eine Trennung jener Fälle, bei denen Diffusion organisationaler Identität nach bestimmten Kriterien schwach ausgeprägt war von jenen, in denen Diffusion organisationaler Identität in unterschiedlichen Dimensionen stark war. Die Abbildung 5 zeigt überblicksweise die Typenbildung und Typenkombination mit dem Ziel der Herausarbeitung eines Clusters, der Fälle umfasst, die für die Tiefenanalye als besonders gewinnbringend oder auch relevant bezeichnet werden können. Im abschließenden Cluster befinden sich Fälle, bei denen negative Effekte zumindest erwartbarer sind als bei jenen Fällen, die nicht diesem Cluster angehören. Denn im Cluster stecken einerseits Fälle, welche die interessierenden Ausprägungen aufweisen, nämlich negatives Engagement und Identifikation. Die gleichen Fälle verkörpern nun auch die möglichen Ursachen in deutlicher Ausprägung, nämlich starke Diffusion organisationaler Identität.
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Das Research-Design
Schließlich, und dies ist von besonderer Wichtigkeit, ist durch die Berücksichtigung des Faktors Bewertung auch sicher gestellt, dass bereits eine kausale Verbindung zwischen diesen Ursachen und Ausprägungen zumindest prinzipiell angelegt ist. Der sequenziellen Analyse fällt nun die Aufgabe zu, diese Verbindung auf Herz und Nieren zu prüfen und in den Zusammenhang möglicher alternativer konkurrierender Erklärungsfaktoren zu setzen. Typus aI umfasst Fälle, in denen Engagement unproblematisch ausgeprägt ist Typus bI umfasst Fälle, in denen Identifikation unproblematisch ausgeprägt ist Typus cI umfasst Fälle, in denen Diffusion organisationaler Identität gar nicht oder neutral bewertet wird Typus dI umfasst Fälle, in denen Diffusion organisationaler Identität gar nicht oder nur schwach ausgeprägt ist
Typus aII umfasst Fälle, in denen Engagement ambivalent ausgeprägt ist
Typus aIII umfasst Fälle, in denen Engagement problematisch ausgeprägt ist
Typus bII umfasst Fälle, in denen Identifikation ambivalent ausgeprägt ist
Typus bIII umfasst Fälle, in denen Identifikation negativ ausgeprägt ist
Typus cII umfasst Fälle, in denen Diffusion organisationaler Identität allgemein negativ bewertet wird Typus dII umfasst Fälle, in denen Diffusion organisationaler Identität mittelstark ausgeprägt ist
Typus cIII umfasst Fälle, in denen Diffusion organisationaler Identität auf Bezug auf die eigene Person negativ bewertet wird Typus dIII umfasst Fälle, in denen Diffusion organisationaler Identität stark ausgeprägt ist
Cluster Typen aIII, bIII, cIII & dIII Abbildung 5: Isolierung relevanter Einzelfälle
Triangulation bei den Methoden der Datenauswertung 3.3.4
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Zusammenfassung des methodischen Ansatzes
Um zu klären, ob Diffusion organisationaler Identität vorliegt, wie sie ausgeprägt ist und ob es Anzeichen dafür gibt, dass Diffusion organisationaler Identität im Einzelfall negative Effekte hat, also für Rückzug aus der Parteiarbeit, Passivität oder emotionaler Distanz verantwortlich gemacht werden kann, wurde eine Entscheidung für die Erzeugung von Primärdaten mittels diskursiver Leitfadeninterviews als Methode der Datenerhebung getroffen. Gegenüber anderen Formen der Befragung stellt das Leitfadeninterview einen der Forschungspraxis entgegenkommenden Kompromiss zwischen einer Gegenstands- und Gesprächsstrukturierung durch den Forscher dar und einer Gewährung nötigen Freiraums für den Gesprächspartner. Leitfadeninterviews Mitglieder der CDU Ziel: Exploratives Ausloten von Diffusion organisationaler Identität
Ziel: Auswahl passender Einzelfälle
Ziel: Rekonstruktion von negativen Effekten
Abbildung 6: Das Research-Design
Mitglieder der SPD
Mittel: Kategorielle Inhaltsanalyse
Mittel: Empirisch begründete Typenbildung
Mittel: Sequenzanalyse ausgewählter Einzelfälle
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Das Research-Design
Die Primärdatensorte der Narrationen erlaubt eine Rekonstruktion der Konstruktion von organisationaler Identität und den damit verbundenen Schwierigkeiten, die in dieser Arbeit mit dem Arbeitsbegriff Diffusion organisationaler Identität belegt worden sind. Die Datenauswertungsstrategie setzt auf eine Kombination subsumptions- und rekonstruktionslogischer Verfahren. So kann das Erkenntnisinteresse am besten eingelöst werden. Zur Vermessung von Diffusion organisationaler Identität soll die kategorielle Inhaltsanalyse zum Einsatz kommen. Die Rekonstruktion möglicher Negativeffekte kann mit einer Sequenzanalyse angemessen verfolgt werden. Die dafür erforderliche Isolierung relevanter Einzelfälle lässt sich methodisch kontrolliert über eine empirisch begründete Typenbildung und kreuztabellarische Typenkombination erreichen, an deren Ende ein Fallcluster steht, deren Bestandteile die im Fokus stehenden negativen Effekte zumindest mit einer gewissen Probabilität erwarten lassen. 3.4 Das qualitative Sampling Gleich welcher methodologischen Ausrichtung ein Forschungsvorhaben auch folgen mag, so wird recht schnell die Frage virulent werden, was, oder besser gesagt: wer als Untersuchungseinheit der Erhebung infrage kommt, und wie diese Untersuchungseinheiten zu bestimmen sind. Denn sowohl quantitative als auch qualitative Forschungsvorhaben können in der Regel keine Vollerhebung vornehmen. Die Anzahl der Personen, die grundsätzlich interessant sind (Grundgesamtheit) und z. B. für eine Befragung geeignet erscheinen, ist immer größer als die Zahl der Menschen, die angesichts forschungsökonomischer Beschränkungen (Zeitbudget, finanzielle Ressourcen, Personal) tatsächlich befragt werden können. Folglich muss aus der Grundgesamtheit eine Stichprobe gezogen werden. In der quantitativen Sozialforschung ist die Repräsentativität der Stichprobe ein zentrales Qualitätskriterium. Eine Stichprobe ist dann repräsentativ, wenn sie ein unverzerrtes Abbild der Grundgesamtheit darstellt. Dies ist die Voraussetzung, um von einer untersuchten Stichprobe mit einer gewissen Irrtumswahrscheinlichkeit auf die Gesamtpopulation schließen zu können. Um ein repräsentatives Ergebnis zu erhalten, genügt demoskopischen Instituten wie Allensbach heutzutage bundesweit ein Sample von n = 1000. Dieser Personenkreis wird in der Regel durch „Random Sampling“ Verfahren bestimmt. Während in der quantitativen Methodenliteratur die Konstruktion von Zufallsstichproben übersichtlich und en détail beschrieben wird (z. B. Schnell/Hill/ Esser 1995: 259ff.), bleibt der Leser qualitativer Methodenliteratur auf der Suche nach weiterführenden Angaben zum „wie“ der Fallauswahl oft etwas ratlos zurück, als ob sich dieses Problem hier gar nicht stelle. Da Repräsentativität nicht
Das qualitative Sampling
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angestrebt werden kann und soll, spielen Methoden der Zufallsauswahl in der qualitativen Sozialforschung keine besondere Rolle. Dagegen wird häufig von theoretischen Samplings (Kromrey 1995) gesprochen. In diesen Fällen werden die zu Befragenden bewusst ausgewählt, wobei theoretische Vorannahmen grundsätzlich die Merkmale der potenziellen Kandidaten definieren. Bei der Ziehung dieser qualitativen Samples ist dabei zweierlei zu bedenken. Erstens muss bei der Auswahl der Gesprächspartner sichergestellt werden, dass nicht an der Fragestellung „vorbei geforscht“ wird. Jene Phänomene und Zusammenhänge, die vom Forschungsinteresse adressiert werden, sollten bei den zu Befragenden prinzipiell „vorhanden sein“ (Kelle/Kluge 1999: 40, ähnlich Cropley 2002). Zweitens ist aber auch wichtig, die Heterogenität der Auswahlgesamtheit im Sample zu berücksichtigen. Theoretisch-konzeptionelle Überlegungen legen nahe, dass das Problem der Diffusion von organisationaler Identität nicht auf alle Typen politischer Parteien (und folglich deren Mitglieder) zutrifft. Als besonders gefährdet können insbesondere jene Parteien und deren Mitglieder angesehen werden, die dem Primat der Stimmenmaximierung folgen, die über eine komplexe interne Organisationsstruktur verfügen sowie Parteien, die sich in kontinuierlicher/längerer Regierungsbeteiligung, vor allem auf Bundesebene, befinden oder befunden haben. Wendet man diese Kriterien an, so empfehlen sich vor allem die CDU und die SPD als Untersuchungsobjekte. Ihre Mitglieder definieren die (potenzielle) Grundgesamtheit der zu Befragenden. Aus der Fragestellung lässt sich ableiten, dass vor allem Identitätsdiffusion in Auswirkung auf parteipolitisches Engagement analysiert werden soll. Dies bedeutet eine weitere Einengung der Grundgesamtheit. In Betracht für die Auswahl kommen vor allem Mitglieder, die aktiv sind, bzw. aktiv waren. Neben dem Kriterium aktive bzw. ehemals aktive Mitgliedschaft in CDU und SPD galt die Maxime, die Vielfalt des Feldes abzubilden, ohne dabei natürlich auf Repräsentativität abzielen zu wollen und zu können. So wurde die Fallauswahl nach vier Kriterien – Geschlecht, Alter, regionale Herkunft und Position innerhalb der Partei – vorgenommen. Demnach sollte die Stichprobe männliche und weibliche sowie junge und alte Mitglieder umfassen. Ferner sollten die Mitglieder nicht alle einer bestimmten Region entstammen, sondern aus Ost- und Westdeutschland, ebenso wie aus städtischen und ländlich geprägten Regionen kommen. Schließlich galt es, Mitglieder zu finden, die ebenfalls verschiedene Positionen und Aufgaben innerhalb der lokalen Parteiorganisation einnehmen. Wie viele Parteimitglieder sollen befragt werden? Wann ist eine ausreichende Zahl an Interviews gefunden? Studien, die eine strikt objektivhermeneutische Perspektive verfolgen, weisen oft einen sehr kleinen Stichprobenumfang aus, weil nach den theoretischen Vorüberlegungen der Methode
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Das Research-Design
streng genommen bereits ein einziger Fall ausreichend ist, um gültige Aussagen zu treffen. Im vorliegenden Fall wurde der Stichprobenumfang auf n = 30 festgelegt. Er entspricht damit dem Durchschnitt vergleichbarer qualitativer Studien (Lamnek 2005: 3, Holloway/Wheeler 1998: 93). Von den insgesamt 30 Interviews wurden 15 Mitglieder der SPD und 15 Mitglieder der CDU befragt. Bei der CDU wurden Mitglieder aus Kreisverbänden in Ostdeutschland (Ost-Berlin), Süddeutschland (Baden-Württemberg) und Westdeutschland (Hessen) interviewt. Bei der SPD konnten Mitglieder von Kreisverbänden und Abteilungen in Ostdeutschland (Ost-Berlin, Brandenburg) und Westdeutschland (Hessen) als Gesprächs- und Interviewpartner gewonnen werden. Die Interviews wurden im Zeitraum zwischen März und August 2007 geführt.24 3.5 Feldzugang, Interviewdurchführung und Transkription Um Kontakt mit potenziellen Gesprächskandidaten aufzunehmen, stehen dem Forscher verschiedene Vorgehensweisen zur Verfügung, wie etwa Aglaya Przyborski und Monika Wohlrab-Sahr (2008: 72ff.) aufgezeigt haben. Man kann z. B. in Zeitungen Anzeigen schalten, man kann Handzettel verteilen oder auch Massenmailings über geeignete Verteiler versenden. Im hier vorgestellten Projekt machte sich der Forscher den Umstand zunutze, dass bereits Kontakte in das Forschungsfeld hinein existent waren. In beiden Parteien wurden jeweils direkt (persönlich bekannte) „Gatekeeper“ angesprochen, also Personen, die selbst Teilnehmer des Forschungsfeldes sind, dort über Netzwerke verfügten und den Kontakt zu weiteren Personen herstellen konnten. Wurde über einen solchen Gewährsmann ein Kontakt realisiert und das entsprechende Interview durchgeführt, griff an dessen Ende das Schneeballprinzip bzw. das sog. Kettensampling (Miles/Huberman 1994): Als das Gespräch vorüber war, wurden die Gesprächs24 Wie bereits erwähnt, gingen von den 30 Interviews 25 in die abschließende Auswertung ein. Bei zwei Interviews wurde nachträglich die Freigabe zur wissenschaftlichen Verwertung durch die Befragten zurückgezogen. Bei drei weiteren Interviews wurden im Zuge der späteren Verschriftlichung sukzessive inhaltliche Lücken offenkundig, die auf technische Probleme bei der Interviewaufzeichnung zurückzuführen sind. In diesen drei Fällen konnten wichtige Passagen z. B. zur Ausprägung des parteipolitischen Engagements nicht transkribiert werden, weil die Befragten auf der Aufzeichnung phasenweise schlicht nicht zu verstehen waren. Diese unvollständigen Interviews werden spätestens bei der empirischen Typenbildung zum Problem: Um einem Typus zugeordnet zu werden, müssen alle Interviews in Bezug auf die Vergleichskriterien Engagement, Identifikation, Bewertung und Intensität von Diffusion organisationaler Identität verwertbare Aussagen aufweisen. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Sind die Aussagen in einem Einzelfall zu den genannten Vergleichskriterien nur unvollständig oder ganz fehlend, können diese nicht einem Typus zugeordnet werden. Vor diesem Hintergrund wurden die drei betreffenden Interviews aussortiert.
Feldzugang, Interviewdurchführung und Transkription
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partner gefragt, ob ihnen weitere potenzielle Kontakte bekannt sind, die eventuell an einem Interview Interesse hätten. Auf diese Weise erschloss sich recht schnell ein Personenkreis von 30 Interviewpartnern. Insgesamt hat sich das Gewährsmannprinzip als richtige Wahl der Kontaktaufnahme herausgestellt. Einerseits zeigten vorab ausprobierte alternative Formen der Kontaktaufnahme – wie z. B. das Anschreiben lokaler Parteiorganisationen bzw. einzelner Personen ohne vorherige Bekanntschaft per E-Mail – geringe Rücklaufquoten. Obwohl das Feld der Ortsvereine und Abteilungen nicht gerade als besonders schwer zugängliches Milieu bezeichnet werden kann, bestätigten viele Befragte im Vorfeld bzw. Anschluss des Interviews, dass sie nur aufgrund persönlicher Bekanntschaft eingewilligt hatten, ein Interview zu führen. So begann die Kontaktaufnahme, indem Gespräche mit den Gewährsleuten geführt wurden. Danach hörten sich diese in ihrem parteiinternen Bekanntenund Freundeskreis um. In der Regel erhielt der Forscher dann nach einigen Tagen eine Rückmeldung mit E-Mail-Adressen oder Telefonnummern interessierter Parteimitglieder. Dann erfolgte die Kontaktherstellung per Telefon oder E-Mail. Bei Telefonaten wurde versucht, bereits vorab Informationen über Forscher, Forschungsvorhaben und den Ablauf des Interviews mitzuteilen. Für die Kontaktaufnahme per Mail wurde im Vorfeld ein Textbaustein erarbeitet, der in entsprechender Kürze und Prägnanz Auskunft über die Doktorarbeit und die Art des Gesprächs liefern sollte. Die Interviewpartner wurden darum gebeten, ein ausreichendes Zeitfenster für das Gespräch bereitzuhalten. Bei der Ortswahl richtete sich alles nach den Präferenzen der Interviewpartner. Sie sollten sich wohlfühlen. Daher fanden die meisten Befragungen in der Privatwohnung der Gesprächspartner statt.25 Die Interviews selbst begannen mit einer Erklärung des Vorhabens und einer Präzisierung des Interviewablaufs. Früh wurde in diesem Zusammenhang über den Einsatz eines Bandgerätes informiert. Wichtig erschien vor allem, über den Charakter des Interviews aufzuklären. Für viele Mitglieder waren Interviews vor allem möglichst knappe Frage-Antwort-Spiele, so wie sie heute in Sendungen wie Anne Will oder Hart aber Fair gepflegt werden. Dem entgegen wurde immer wieder auf die Möglichkeit verwiesen, sich beim Erzählen Zeit zu lassen und alle Dinge anzusprechen, die dem Gesprächspartner zu einem Topos durch den Kopf gehen. Wenn keine Verständnisfragen vorlagen, erfolgte das Interview entlang 25 In seltenen Fällen fanden die Interviews auf Wunsch der Parteimitglieder auch am Arbeitsplatz statt oder in Kneipen und Straßencafés. Letzteres war insofern nachteilig, als dass Geräuschkulisse und die Fluktuation der Gäste immer wieder für Ablenkung sorgten und die Tonqualität der Aufzeichnung entsprechend war. In einem Fall musste das Gespräch in einem Berliner Straßencafé viermal wegen lauter Straßenmusikanten unterbrochen werden. Auch dies gehört zu den alltäglichen Hürden der qualitativen Sozialforschung!
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Das Research-Design
der drei Themenblöcke, wie oben beschrieben. Die Dauer der Gespräche war sehr unterschiedlich. Das kürzeste Interview dauerte 45 Minuten, das längste knapp drei Stunden. Unmittelbar nach dem Gespräch wurden die wichtigsten Eindrücke aus dem Interview in einem Forschungstagebuch festgehalten. Nachdem alle Befragungen dann aufgezeichnet waren, mussten die Interviews noch verschriftlicht werden. Diese Transkription wurde mittels eines speziellen Bandabspielgerätes vorgenommen, das über einen Fußschalter zum Anhalten und Weiterabspielen verfügte. Die Niederschrift erfolgte dann nach Wortlaut, allerdings ohne eine zusätzliche Kennzeichnung von Redepausen und ähnlichen phonetischen Besonderheiten. Auf diesen Verschriftlichungsprozess, der gemeinhin als eine nicht weiter erwähnenswerte Routinetätigkeit erscheint und daher in vielen Methodenlehrbüchern und Forschungsberichten kaum Erwähnung findet, wird hier auch deswegen kurz eingegangen, weil die Transkription des Datenmaterials sehr viel Zeit in Anspruch genommen hat. In diesem Projekt verschlang die manuelle Verschriftlichung von 25 Interviews fast drei Monate Nettoarbeitszeit, in denen von morgens bis abends nur Tastatur des Computers und Fußschalter des Bandgerätes zum Einsatz kamen. Insgesamt entstanden Primärdaten im Umfang von über 600 Seiten reinem Text.
4 Ergebnisse der empirischen Feldforschung
4.1 Diffusion organisationaler Identität – Phänomenologie eines Unbehagens Ebenso wie der Gang in das Feld, so begann auch die Auswertung der empirischen Daten mit einem mulmigen Gefühl. Das hatte nicht zuletzt mit der Beschaffenheit des zentralen konzeptionellen Konstrukts – Diffusion organisationaler Identität – zu tun. Jede Idee von Identität hat, wie in Kapitel 2.1.2 erörtert wurde, eine „strukturelle Schlagseite“, die zwangsläufig zulasten einer inhaltlichen Präzisierung geht. Zwar gab es Autoren, welche die Offenheit eines Konzeptes als besonderen Vorzug bezeichneten (Kelle/ Kluge 1999). Aber in der Praxis wurde das erstmalige „Anfahren“ des Datenanalyseprogramms durchaus von allerhand Fragezeichen begleitet: Gab es Textpassagen, die eine inhaltliche Ausdifferenzierung erlaubten? Konnte das Ziel eingelöst werden, ein abstraktes Konzept wie Diffusion organisationaler Identität zu veranschaulichen? Schon bei der Codierung lösten sich die größten Fragezeichen auf. So wurde rasch klar, dass der erste Teil von Forschungsfrage Nr. 1 bejaht werden muss. Diffusion organisationaler Identität ist vorhanden. Das Phänomen kann im empirischen Material rekonstruiert werden. Denn es war grundsätzlich gelungen, zu allen drei vorab definierten Kategorien (nach Urdefinition von Albert und Whetten) Textpassagen zuzuordnen. Das klingt wie eine Selbstverständlichkeit. Wäre aber die Ausbeute an passenden Zitaten mager gewesen, oder wäre es nur unter Schwierigkeiten gelungen, überhaupt Zitate zuzuordnen, so wäre es unausweichlich gewesen, das theoretische Konstrukt Diffusion organisationaler Identität und seine Evidenz frühzeitig kritisch zu überdenken. Neben der Zuordnung von Zitaten zu bereits definierten Kategorien gehört es zur (spezifisch qualitativen) Stärke der kategoriellen Inhaltsanalyse, nicht nur bereits vorab definierte Kategorien auszuarbeiten, sondern aus dem Material heraus auch neue Kategorien zu deduzieren. So erwies sich die Kategorie der (problematischen) Kohärenz im empirischen Material als stark ausgeprägt, obwohl sie streng genommen nicht zu den ursprünglichen Identitätsdimensionen des Albert/Whetten-Konzeptes gehört. Als zweite „neue“ und damit insgesamt fünfte Ausprägung von Identitätsdiffusion wurde die Kategorie „Diffusion mehrdeutig“ aus dem empirischen Material heraus rekonstruiert. Unter diese C. Junge, Sozialdemokratische Union Deutschlands?, DOI 10.1007/978-3-531-93496-9_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
Rubrik fielen Zitate, die zwar eine Beziehung zum Konzept der Identitätsdiffusion haben, aber nicht eindeutig einer ganz bestimmten der bisherigen Kategorien zugeordnet werden konnten. Eine entsprechende Einordnung wurde z. B. dann vorgenommen, wenn von einem „unklaren“ Erscheinungsbild der Partei gesprochen wurde.26 Bevor mit der Präsentation der empirischen Ergebnisse fortgefahren wird, noch eine Zwischenbemerkung. Bei der Vorstellung der Resultate wird auf zweierlei Wert gelegt. Einerseits soll skizziert werden, wie sich die abstrakten Kategorien organisationaler Identitätsdiffusion konkret und inhaltlich im empirischen Datenmaterial darstellen. Um diese Ausprägungen anschaulich zu machen, werden immer wieder Zitate aus den jeweiligen Gesprächen wiedergegeben.27 Damit soll eine Stärke qualitativen Datenmaterials ausgenutzt werden. Denn gerade bei quantitativen Forschungsprojekten gibt es selten „O-Töne“ der Befragten. Die Forschungsobjekte verschwinden mit ihrer Sicht der Dinge ein wenig hinter Tabellen, Häufigkeitsverteilungen und Diagrammen. Neben dieser inhaltlichen Ebene existiert obendrein eine zweite Ebene. Sie gibt an, wie sich Ausprägungen von Identitätsdiffusion innerhalb des Samples quantitativ verteilen. Auch die verwendeten Häufigkeitsangaben (z. B. Anzahl der Zitate pro Dimension) sollen dabei hauptsächlich einen plastischen Eindruck des empirischen Materials vermitteln. Pro forma sei klargestellt, dass diese Angaben natürlich keinerlei Anspruch auf Repräsentativität erheben können. Verschaffen wir uns nun einen ersten Überblick. Die Gesamtzahl der dem Forschungsfokus Diffusion organisationaler Identität und seiner Dimensionen zugeordneten Zitate liegt im dreistelligen Bereich. Insgesamt handelt es sich um 122 Textpassagen. Die Länge der Zitate ist sehr unterschiedlich. Sie variiert zwischen einem einzeiligen Halbsatz und Passagen, die sich über mehr als 10 Zeilen erstrecken. In Tabelle 3 ist die Verteilung der 122 Zitate auf die insgesamt fünf Subdimensionen dargestellt. Betrachtet man die Gesamtzahl der zugeordneten Zitate, so fällt auf, dass nicht alle Dimensionen von Diffusion organisationaler Identität gleich „tief“ im empirischen Material verankert sind. Insbesondere zwei Dimensionen stechen hervor. Dabei handelt es sich um die Dimensionen der problema26 Um die Übersichtlichkeit der Darstellung nicht zu gefährden, wurde diese Dimension bei der Diskussion der Forschungsergebnisse nicht weiter berücksichtigt. 27 Alle Zitate wurden anonymisiert. Die im Folgenden verwendeten Namen sind Pseudonyme. Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die Zitate immer im Wortlaut wiedergegeben werden, um den Bedeutungsgehalt der Aussagen so unverfälscht wie möglich zum Ausdruck zu bringen, auch wenn dies im Einzelfall zulasten der Lesbarkeit gehen kann. Um die Lesbarkeit des Textes zu gewährleisten, wird bei der Wiedergabe von Zitaten ferner darauf verzichtet, bei jeder Nennung die Fundstelle und Quelle des Zitates im originalen Interview-Transkript anzugeben (etwa: Interview Nr. 17 mit Wilhelm Donsbach aus Dorfhausen vom 02. Juni 2007, Seite 6, Zeilen 7 – 15).
Diffusion organisationaler Identität – Phänomenologie eines Unbehagens
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tischen Kohärenz und der problematischen Differenz. Sie weisen, um einen Begriff aus der qualitativen Sozialforschung zu nutzen, eine besondere „Groundedness“ auf. Nimmt man diese „Gegründetheit“ als einen Indikator für die prinzipielle Relevanz einer Kategorie, so lässt sich die These aufstellen, dass Diffusion organisationaler Identität vor allem in einer wahrgenommenen Widersprüchlichkeit im Bild von der eigenen Partei und im Problem des (zunehmenden) Verschwindens von Unterschieden besteht.28 Kategorien Diffusion Zitate gesamt
Fälle gesamt
Fälle CDU
Fälle SPD
Problematische Kohärenz
38
16
9
7
Problematische Differenz
35
17
8
9
[18]
[8]
[5]
[3]
Problematische Zentralität
17
12
9
3
Problematische Kontinuität
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5
7
[Diffusion mehrdeutig]
Tabelle 3: Empirische Ausprägungen von Diffusion organisationaler Identität Gemessen an der Gesamtzahl der zugeordneten Textstellen fallen die anderen Dimensionen von Diffusion organisationaler Identität ab. Vor allem für das Problem der Konstruktion von Kontinuität finden sich vergleichsweise wenige „Quotes“. Darüber hinaus zeigt die Abbildung auch, dass es – mit Ausnahme der Dimension problematische Zentralität – kaum Unterschiede zwischen den Mitgliedergruppen der beiden Großparteien gibt. Es verhält sich also nicht so, dass gewissermaßen Mitglieder der einen Partei besondere Schwierigkeiten haben mit der Diffusionsdimension Konvergenz, während Mitglieder der anderen Partei vor allem mit der Diffusionsdimension Kohärenz ein Problem haben. Diffusion organisationaler Identität ist in diesem Sinn ein gerecht verteiltes Problem. 28 Der logische Schluss von der Anzahl der Zitate auf eine Relevanz der entsprechenden Dimensionen insgesamt ist nicht ohne Probleme. Eine Ungleichverteilung kann auch auf methodische Verzerrungen zurückzuführen sein; bestimmte Themen befinden sich oft am Schluss des Interviews, daher sind Aussagen hier in der Regel kürzer. Die Zahl der Zitate kann deswegen abfallen (vgl. Kapitel 5.2) Grundsätzlich ist aber Anzahl der Zitate ein gutes Tendenzmaß.
114
Ergebnisse der empirischen Feldforschung
Die erste Tabelle gibt nur einen vereinfachten Blick auf die tatsächliche Verteilung von Diffusion organisationaler Identität im qualitativen Sample. Es verhält sich nicht so, dass je Einzelfall nur eine Dimension problematisch ist. Im empirischen Feld weist jeder Einzelfall eine spezifische Kombination problematischer Identitätsdimensionen auf. Eine andere Möglichkeit, einen Überblick über die Ausprägungen von Identitätsdiffusion zu erhalten, besteht daraus folgend darin, auf der Ebene der Einzelfälle die Anzahl jeweils problematischer Dimensionen organisationaler Identität zu erfassen. Gruppiert man diese Anzahl problematischer Dimensionen, so lässt sich eine Art „Intensitätsskala“ erarbeiten. Problematische Dimensionen je Einzelfall
Fälle gesamt
Fälle CDU
Fälle SPD
Diffusion „schwach“ (bis zwei Dimensionen problematisch)
9
5
4
Diffusion „mittel“ (drei Dimensionen problematisch)
12
Diffusion „stark“ (vier Dimensionen problematisch)
4
2
2
Diffusion „sehr stark“ (fünf Dimensionen problematisch)
-
-
-
7
5
Tabelle 4: „Intensität“ von Diffusion organisationaler Identität Die Übersicht in Tabelle 4 zeigt, dass bei fast allen Einzelfällen mindestens zwei Dimensionen organisationaler Identität problematisch sind. Immer noch deutlich mehr als 50 Prozent der Befragten haben Probleme damit, drei Ordnungsprinzipien zu konstruieren. Bei einem knappen Viertel der Interviewpartner waren sogar vier Dimensionen organisationaler Identität problematisch. Lediglich für die Gruppierung „sehr starke Diffusion“, bei der alle aus dem Datenmaterial des Samples herausgearbeiteten Dimensionen organisationaler Identität problematisch hätten sein müssen, konnte kein entsprechender Einzelfall gefunden werden. „Problematische Zentralität“, „problematische Kohärenz“ – bis dato sind uns nur diese allgemeinen Begriffe als Konkretisierung des Phänomens von Diffusion organisationaler Identität bekannt. Daher soll nun in den nächsten vier Abschnitten eine ausführliche Schilderung dessen erfolgen, was es mit dieser
Diffusion organisationaler Identität – Phänomenologie eines Unbehagens
115
Diffusion im Detail auf sich hat, was sich hinter den hier eingangs schon angedeuteten Dimensionen inhaltlich verbirgt. Dabei wird mit jenen beiden Dimensionen begonnen, die besonders stark im Material verankert sind. 4.1.1 Widersprüche im Bild von der eigenen Partei „Noch ist es der CDU nicht gelungen, eine kohärente Erzählung von sich selbst zu finden. Noch schillert die Marke“. Zu dieser Einschätzung kam die Tageszeitung Die Welt (Lau 2009) in einem Artikel über die Lage der Christdemokraten anno 2009. Ganz zutreffend ist die Diagnose nicht, zumindest nicht in einer Hinsicht. Denn nicht nur die CDU ringt um eine „kohärente Erzählung“ von sich selbst, auch die Konkurrentin SPD hat mit Widersprüchen im Erscheinungsbild zu kämpfen. Auch und gerade nach der Einschätzung der eigenen Mitgliederschaft. Das ist ein wichtiges empirisches Ergebnis der vorliegenden Studie. Berücksichtigt man die Definition organisationaler Identität von Stuart Albert und David Whetten, dann ergeben sich eigentlich nur drei Dimensionen von Diffusion organisationaler Identität als Verlust des Kerns, der Unterschiede, als Bruch in der Kontinuität. Widersprüche tauchen dagegen als Kategorie nicht auf. Allerdings wird diese Dimension in anderen Operationalisierungen von organisationaler Identität (z. B. Chrein 2003, Kreiner/Ashforth 2004) genutzt, denn Kohärenz ist neben Differenz eine Dimension des sozialwissenschaftlichen Identitätsbegriffes, die von Albert und Whetten übersehen wurde. Kohärenz umschreibt die Widerspruchsfreiheit einer Aussage mit anderen sachverhaltsbezogenen Aussagen. Das Gegenteil von Kohärenz ist Widersprüchlichkeit. Wenn organisationale Identität also auch eine Stimmigkeit im Erscheinungsbild der Partei umfasst, dann kann Widersprüchlichkeit im Erscheinungsbild der Partei als ein Teil von Diffusion organisationaler Identität bezeichnet werden. Der Widerspruch ist ein Prinzip, das der klassischen Logik entstammt. Es kann auf die Philosophie von Aristoteles zurückgeführt werden. In der aristotelischen Metaphysik (Aristoteles 1951: 116) findet sich der bekannte Satz vom Widerspruch: Dass es eine solche sicherste Grundlage geben muss, ist also wohl einzusehen, welches sie ist, wollen wir jetzt sagen: es ist der Satz, dass ein und dasselbe demselben Gegenstande in der selben Bedeutung nicht zugleich zugesprochen und abgesprochen werden könne (…) Es ist nämlich nicht möglich, dass irgend jemand vom gleichen Gegenstande annehmen kann, er sei, und zugleich, er sei nicht.
116
Ergebnisse der empirischen Feldforschung
Wenn es um Widersprüchlichkeit in Bezug auf Parteien geht, ist der Ausgangspunkt wiederum das Erscheinungsbild der Parteien aus der Sicht ihrer Mitglieder. Widersprüchlichkeit kann dann vorliegen, wenn eine Partei aus der Sicht ihrer Mitglieder zum gleichen Zeitpunkt Eigenschaften (z. B. Werte) auf sich vereint, die sich logisch ausschließen (Beispiel SPD zur gleichen Zeit „sozial gerecht“ und „sozial ungerecht“). Zu berücksichtigen ist in diesem Kontext, dass auch Widersprüchlichkeit letztlich ein hermeneutisches Problem darstellt, da es um Sinn und Bedeutung geht. Ob zwei Aussagen, etwa zwei Werte in Bezug auf das Erscheinungsbild einer Partei zueinander kontradiktorisch sind, hängt hauptsächlich von der inhaltlichen Bedeutung der beteiligten Prädikatoren (z. B. sozial gerecht) aus der Sicht des Beobachters ab. Widersprüche Unterkategorien „Werte“
Zitate gesamt 15
Fälle gesamt 9
Fälle CDU 4
Fälle SPD 5
7
5
4
1
[6]
[3]
[1]
[2]
„Policies“
4
4
2
2
„Zusammensetzung“
3
3
-
3
„Image“
2
1
1
-
„Programme“ [unklar / allgemein]
Tabelle 5: Die Diffusionsdimension Widersprüchlichkeit und ihre Subkategorien Bei der Datenanalyse wurden 38 Zitate identifiziert, die sich im weiteren Sinn mit Widersprüchen im Bild der Partei beschäftigen. Diese Zitate stammen aus 16 unterschiedlichen Einzelfällen. Somit lässt sich sagen, dass sowohl angesichts der Zitatezahl, als auch anhand der Zahl der „betroffenen“ Fälle insgesamt Widersprüchlichkeit zusammen mit Konvergenz die stärkste Dimension von Diffusion organisationaler Identität im Material darstellt. 16 Einzelfälle machen rund 60 Prozent der Interviewten aus. Über die Hälfte der befragten Mitglieder finden also im Bild von der eigenen Partei Widersprüche. Neun dieser Einzelfälle sind CDU-Mitglieder, sieben Mitglieder gehören der SPD an. Indes treten die Widersprüche bei der SPD deutlicher zutage, sie können durch den Interpreten besser ausbuchstabiert werden. Die Anzahl der Zitate pro Einzelfall variiert dagegen mehr. Die Spanne reicht von einem Zitat bis sieben Zitate pro Fall. Im Einzelfall kann also das Gefühl der Widersprüchlichkeit sehr stark ausgeprägt sein.
Diffusion organisationaler Identität – Phänomenologie eines Unbehagens
117
Wie lässt sich nun die Kategorie Widersprüchlichkeit etwas konkreter fassen? Die kategorielle Inhaltsanalyse brachte insgesamt sechs Unterebenen von Widersprüchlichkeit hervor, von denen hier fünf vorgestellt werden sollen.29 Widersprüche gehen erstens auf Werte bzw. Wertkomplexe (z. B. Solidarität) zurück, mit denen die Parteien in Verbindung gebracht werden. Widersprüche entzünden sich zweitens am Programm der Partei oder drittens an deren praktischen politischen Handeln (Policy-Ebene). Widersprüche können auch viertens mit der sozialen Zusammensetzung der Partei zu tun haben. Fünftens geht es um das Image der Partei, also jenes Bild, was die Partei an Mitglieder und Wähler vermitteln will. Nimmt man die Anzahl der zugeordneten Zitate als Maßgabe, so kreisen die Widersprüche im Parteienbild hauptsächlich um Werte. Hier finden sich rund doppelt so viele Zitate und betroffene Fälle, als bei der zweitstärksten Bezugsebene der Widersprüche, den Programmen. Analytisch ließ sich diese Ebene der Widersprüche in Bezug auf Werte auch recht gut ausdifferenzieren. Beginnen wir also die Diskussion von Widersprüchlichkeit bei den Werte-bezogenen Kontradiktionen. 4.1.1.1 Kernwerte im Konflikt mit dem politischen Handeln der Parteien Vielen politischen Parteien dienen Werte als Kompass ihres Handelns. Parteien stehen für diese Werte ein und werden dann auch von ihrem Umfeld mit ihnen in Verbindung gebracht. Im vorliegenden Sample sind es genau diese Werte, an denen sich Widersprüche vornehmlich aufhängen. In unserer Stichprobe handelt es sich im Fall der SPD um die Werte der „sozialen Gerechtigkeit“ und der „Solidarität“. Bei der CDU geht es, im Vergleich zur SPD etwas weniger deutlich ausgeprägt, um die Werte der „Christlichkeit“ bzw. um das „christliche Menschenbild“. Andere Werte kommen bei den Mitgliedern nicht zur Sprache, wenn es um das Problem Widerspruch geht. Der Widerspruch in Bezug auf Werte im Erscheinungsbild der eigenen Partei besteht nun darin, dass viele Mitglieder beider Parteien den Eindruck haben, dass die eben angesprochenen Werte für die Partei „gelten“ und gleichzeitig nicht „gelten“. Anders ausgedrückt herrschen (zu einem Zeitpunkt t1) Eigenschaften oder konkreter: Werte vor, die sich auf einer logischen Ebene gegenseitig ausschließen, zumindest als sich ausschließend empfunden werden können. 29 Schließlich kam bei der Inhaltsanalyse auch eine Kategorie „unklar“ heraus. In den dort versammelten Passagen ist ein Bezug zu Widersprüchlichkeit auszumachen, aber der Widerspruch kann nicht auf eine bestimmte inhaltliche Ebene hin präzisiert werden. Bei der Auswertung wurde diese letzte Kategorie deswegen nicht weiter berücksichtigt.
118
Ergebnisse der empirischen Feldforschung
So ist die SPD aus der Sicht ihrer Mitgliedschaft einerseits „sozial gerecht“, andererseits wirkt sie zur gleichen Zeit als Partei der sozialen Ungerechtigkeit. Es bedeutet zudem, dass die SPD von einigen ihrer Mitglieder als Partei der „Solidarität“ gesehen wird, gleichzeitig aber auch als unsolidarische Partei wirkt. Die CDU erscheint ihren Mitgliedern wiederum einerseits als „christliche Partei“. Andererseits erweist sich die Partei zum selben Zeitpunkt als „unchristlich“, als Partei, die sozusagen ein Problem mit ihrem „großen C“ hat. Widersprüche ergeben sich dann, wenn Kernwerte in Berührung mit der „Wirklichkeit“ kommen. Genauer gesagt entstehen die Reibungspunkte auf unterschiedlichen Stufen. Auf der Basis der klassifizierten Textstellen lassen sich drei Konfliktebenen benennen. Die Werte einer Partei geraten erstens in einen (logischen) Konflikt mit der Wirklichkeit „an sich“. Widersprüche entstehen zweitens im Kontakt der Werte mit der politischen Praxis einer Partei in Regierungsverantwortung. Kontradiktionen resultieren drittens auch durch die Konfrontation mit dem, was hier „Organisationswirklichkeit“ genannt werden soll, also dem sozialen Gesicht der Partei an der Basis, in den regionalen, kommunalen und lokalen Organisationseinheiten. Widersprüche Werteebene
Zitate gesamt
Fälle gesamt
Kernwerte vs. politische Praxis der Partei
Fälle CDU
Fälle SPD
11
7
3
4
Kernwerte vs. „Organisationswirklichkeit“
2
2
1
1
Kernwerte vs. „Realität an sich“
1
1
1
-
Tabelle 6: Übersicht Kontradiktionen im Parteienbild auf der Werteebene Wie die Übersicht zeigen soll, kann man auch diese drei Konfliktebenen danach ordnen, wie viele Zitate auf sie entfallen. Hier zeigt sich deutlich, dass eine Ebene ganz klar dominiert. Widersprüche entstehen hauptsächlich dann, wenn das Bild von der eigenen Partei in Konflikt gerät mit dem, was die Parteien in der Praxis tun. Es geht hier um das Handeln der Parteien in Regierungsverantwortung, auf der Ebene des Bundes, seltener aber auch auf der Länderebene. Besonders bei den Sozialdemokraten lässt sich diese Konfliktebene auf einen Nenner bringen: die Agenda 2010.
Diffusion organisationaler Identität – Phänomenologie eines Unbehagens
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4.1.1.1.1 Ist die SPD sozial gerecht? Das Nachbeben der Agenda 2010 „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen“. Diese Worte finden sich in der Regierungserklärung von Gerhard Schröder vor dem Plenum des Deutschen Bundestages. Der damalige Kanzler umschreibt am 14. März 2003 die Konturen eines Konzeptes zur Reform des deutschen Sozialsystems und Arbeitsmarktes, dass unter dem Label „Agenda 2010“ rasch in aller Munde sein wird.
Abbildung 7: „Komm schon“ - Karikatur von Klaus Stuttmann In der Erklärung stellt Schröder die Einzelmaßnahmen seines Plans vor, die dem „Hartz-Konzept“ entnommen sind. Das Hartz-Konzept fungiert als Bezeichnung für die Vorschläge der Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, die nach dem Wunsch der Bundesregierung Vorschläge dazu unterbreiten sollte, wie die Arbeitsmarktpolitik in Deutschland effizienter gestaltet und die staatliche Arbeitsvermittlung reformiert werden kann (dazu ausführlicher Hickel 2003). Die Ideen der Kommission wurden später von der rot-grünen Bun-
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
desregierung in vier Phasen („Hartz I“ bis „Hartz IV“) umgesetzt. Hartz IV trat mit Wirkung vom 1. Januar 2005 als „Viertes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ in Kraft und beinhaltete die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe (Hilfe zum Lebensunterhalt) zum Arbeitslosengeld II auf der Höhe des bisherigen Sozialhilfesatzes. Heute, einige Jahre nach dem Entschluss zu einer der größten Sozialreformen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, bewerten viele Experten die Maßnahmen der Agenda 2010 positiv. Christian Dreher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) glaubt an die Wirkung der Agenda. „Den besonders starken Anstieg an Beschäftigung während des aktuellen Aufschwungs ist sicherlich auch den Arbeitsmarktreformen zuzuschreiben“, sagt der Wirtschaftsforscher (Wisdorff 2008). Selbst Angela Merkel, die der Agenda im Jahr 2003 wenn nicht ablehnend, so doch indifferent gegenüberstand, lobte 2007 vor dem Deutschen Bundestag den Kurs der Vorgängerregierung unter Gerhard Schröder. Der Aufschwung sei auch ein Lohn der mit der „Agenda 2010“ eingeleiteten Reformen gewesen. Jenseits aller tatsächlichen und eventuellen Effekte der Agenda 2010 und der mit ihr verbundenen Reformen musste die SPD für den eingeleiteten Modernisierungskurs einen hohen Preis zahlen. Mit der Agendapolitik begann ein Abwärtstrend in der Wählergunst, während die damalige PDS gestärkt wurde. Auch der Aderlass der Mitgliederschaft nahm an Geschwindigkeit zu. Beim verbliebenen Rest verstärkten sich Spaltungstendenzen. „Schröderianer“ und Agendabefürworter aus dem Seeheimer Kreis standen der Parlamentarischen Linken und anderen Gruppierungen gegenüber, die eine skeptische bis ablehnende Haltung hinsichtlich der Agendapolitik einte. Letzter Höhepunkt dieser Entwicklung: die dramatisch verlorene Bundestagswahl im Herbst 2009. Für viele „Genossen“ ist die Agenda 2010 noch heute ein rotes Tuch. Die kritischen Stimmen unter den befragten Mitgliedern beklagten weniger mangelnde Effizienz und technische Umsetzung der Reform. Viele Mitglieder der SPD wurden von einem Gefühl des Unbehagens heimgesucht. Sie hatten Angst, dass die SPD mit der Reformpolitik ihren zentralen Identitätsbaustein, den Wert der sozialen Gerechtigkeit, unterminiere. Noch ein Jahr nach Schröders AgendaRede im Bundestag nahmen 76 Prozent der SPD-Wähler die Agenda als sozial ungerecht wahr. An dieser Einschätzung scheint sich bis heute nichts Grundlegendes geändert zu haben. Das belegen zumindest die Interviews, die für diese Studie geführt wurden. Was das Erscheinungsbild der Partei betrifft, so scheint (spätestens) mit der Agenda-Politik ein festsitzender Widerspruch in die Welt gekommen zu sein. Frank Schattschneider z. B. ist Mitglied der Berliner SPD seit den frühen 1980er Jahren. Für ihn gilt soziale Gerechtigkeit sowohl als Kern
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der Partei, als auch als jene inhaltliche Konstante, welche die Partei im Lauf der Zeit wiedererkennbar macht: Wenn ich so um mich herum schaue, die Mitglieder der SPD. Man merkt es schon, es ist zumindest der Wunsch da, ein relativ gerechtes System zu etablieren. Dieses klappt natürlich da und da nicht. Aber es ist ein Wunsch da. Also diese Vision, denke ich, der sozialen Gerechtigkeit, das hat die SPD immer noch.
Leider bricht sich das Bild von der SPD als Partei der sozialen Gerechtigkeit an einer als sozial ungerecht wahrgenommenen Politik, welche die SPD spätestens seit 2003 verfolgt. Auf die Frage: „Sie haben eben gesagt, dass die SPD für Sie die Partei der sozialen Gerechtigkeit ist. Gibt es da manchmal auch Situationen des Zweifels?“ antwortet Schattschneider: Soziale Gerechtigkeit, dass macht die SPD für mich ganz wichtig aus. Gleichzeitig gibt es Momente, wo man zweifelt. Das drängt sich auf, in den letzten Jahren hatten wir große Diskussionen um Hartz IV. Da haben sich viele gefragt, was hat das noch mit sozialer Gerechtigkeit zu tun? (…) Also ich finde, diese 1-Euro-Jobs, das ist keine befriedigende Lösung. Das ist ganz klar, da muss man sagen, da ist diese soziale Gerechtigkeit mit Sicherheit zu kurz gekommen. Eindeutig.
SPD-Mann Schattschneider kritisiert die 1-Euro-Jobs. Als „Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung“ wurden sie 2005 im Zuge der HartzReformen eingeführt, waren aber de facto die Weiterführung der seit Jahrzehnten bestehenden gemeinnützigen zusätzlichen Arbeit. Empfänger des Arbeitslosengelds II können sich mit diesen Tätigkeiten etwas zu ihrer Arbeitslosenhilfe hinzuverdienen. Dabei sollen die „1-Euro-Jobber“ vor allem für Arbeiten im öffentlichen Sektor eingesetzt werden, die ohne diese Arbeitskräfte nicht möglich wären. Auf diese Weise wollte der Gesetzgeber verhindern, dass die gering entlohnten Arbeitslosen mit regulären Arbeitsplätzen konkurrieren. Diese Tätigkeiten können in vielerlei Hinsicht als sozial ungerecht interpretiert werden, etwa dann, wenn „1-Euro-Jobs“ z. B. in Kommunen auch bei nicht-zusätzlicher Arbeit eingesetzt werden. In diesem Fall führen die „1-Euro-Jobber“ reguläre Arbeiten aus, werden aber nicht regulär bezahlt. Schließlich werden vor allem die Regelungen zum Arbeitslosengeld I und II als sozial ungerecht empfunden. Genauer gesagt kritisieren die Befragten die Verkürzung der Arbeitslosengeld-I-Zahlungen auf ein Jahr. Bekanntlich haben nur jene Personen, die beim Verlust ihrer Arbeit 55 Jahre alt sind, Anspruch auf eine Leistungsdauer von 18 Monaten. Danach droht statt rund 60 Prozent des letzten Nettogehaltes der Hartz IV-Regelsatz von 359 Euro im Monat (Stand 2010). Vor Einführung der Hartz-Gesetze galten andere Regelungen für den Bezug von Arbeitslosengeld. Ältere Arbeitnehmer hatten einen erheblich länge-
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
ren Anspruch auf eine Unterstützung, wenn sie ihre Festanstellung verloren hatten. Als sozial ungerecht wird in diesem Zusammenhang empfunden, wenn z. B. Arbeitnehmer, die 35 Jahre gearbeitet und in die Kassen eingezahlt haben, nach einer bestimmten Zeit den gleichen Satz an Leistungen erhalten, wie ein junger Erwachsener, der nur zwei Jahre Berufserfahrung vorweisen kann. Neben Hartz IV lassen sich weitere Politikfelder finden, in denen die SPD bei ihren Mitgliedern den nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat, dass Verrat am Kernwert der sozialen Gerechtigkeit begangen wurde. Dazu gehört auch die rotgrüne Unternehmenssteuerreform, die im Sommer 2000 verabschiedet wurde. Das Reformwerk sah eine neue steuerliche Freiheit von Veräußerungsgewinnen vor. Das bedeutete, dass deutsche Kapitalgesellschaften keine Steuern mehr auf Gewinne zahlen brauchten, die sie beim Verkauf von Aktienpaketen oder ganzen Tochterunternehmen erzielten. Später kommentiert Wilfried Herz (2005) in der Wochenzeitung Die Zeit: Die Überraschung war perfekt. Ausgerechnet eine SPD-geführte Regierung erfüllte die Wünsche der Wirtschaft in einem Maße, wie es sich die Manager kaum je erträumt hatten. Kein Wunder, dass Allianz-Chef Henning Schulte-Noelle und Deutsche-Bank-Sprecher Rolf E. Breuer voll des Lobes für Rot-Grün waren.
Die Erinnerung an diese und vergleichbare Reformen einer SPD geführten Bundesregierung hallt bei vielen Mitgliedern noch lange Zeit nach. Auch hier verstrickt sich die SPD in Widersprüche: Einerseits Anwalt des kleines Mannes, andererseits, zugespitzt, Erfüllungsgehilfe des Großkapitals. Joachim Bork, Mitglied der Berliner SPD, sagt: Und natürlich gibt es jetzt im praktischen Handeln der SPD als Regierungspartei Sachen, wo ich sage: Scheiße, das sollten die eigentlich nicht mitmachen. Sei es, irgendwelche Real-InvestmentTrusts, oder sei es irgendwie mit der Unternehmenssteuerreform, da wirklich unter dem Strich bei einer Riesensumme zu landen, die einem Unternehmen auch noch hinterher geschmissen wird. Zum Beispiel. Also das ist vielleicht ein gutes, aktuelles Beispiel. Was nicht nötig ist, oder zumindest in der Art und Weise, in der es jetzt passiert, eigentlich, also mir nicht erschließt, warum das ausgerechnet ein Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit ist, ja?
4.1.1.1.2 Ein Kreuz mit dem „C“? Die CDU nach der Stammzellendebatte Wie wir gesehen haben, besteht der Widerspruch bei der SPD auf der Ebene der Werte vor allem darin, dass dem internen Image der SPD als „eigentlich“ sozial gerechter Partei in der Wahrnehmung der Mitglieder die Altlast einer Arbeitsmarkt-, Sozial- und Finanzpolitik aus der Ära Schröder gegenübersteht, die damals wie heute als sozial ungerecht empfunden wird. So wirkt die SPD bei ihren
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Mitgliedern als Partei, die gleichzeitig für soziale Gerechtigkeit – als auch für ihr Gegenteil steht. Nun lässt sich auch bei der CDU ein Wertewiderspruch lokalisieren, der freilich nicht so deutlich ausgeprägt ist. Im Juni 2009 legte der Journalist Martin Lohmann ein Buch vor, dass den Titel „Das Kreuz mit dem C – wie christlich ist die Union?“ trägt. Das Werk traf den Nerv vieler CDU-affiner Leser. Im Forum eines Internet-Versandhauses fand sich eine Kundenrezension: Das Kreuz mit dem C beschreibt einen Erosionsprozess am Beispiel der CDU, einer Partei, die das C betont, fundamentale christliche Werte aber seit Langem dem eigenem Machterwerb und Machterhalt unterordnet. Das Buch war überfällig. Ihm ist eine breite Leserschaft zu wünschen.
1945 betrat die Christlich-Demokratische Union Deutschlands die Bühne der deutschen Politik und entwickelte sich im jungen bundesrepublikanischen Parteiensystem rasch zu einer festen Größe (dazu weiterführend auch Bösch 2002). Der Name Christliche Union war hier durchaus Programm. Insbesondere im Rheinland und in Berlin fanden kurz nach Kriegsende Menschen zusammen, die zuallererst eine christliche Werteorientierung verband. Die Union brachte dabei Katholiken, die vorher in der Zentrumspartei organisiert waren, mit Protestanten zusammen. Die CDU ist seit dieser Zeit, dem eigenen Anspruch nach, geprägt von einer undogmatischen Ausrichtung am christlichen Menschenbild, welches die unantastbare Würde des Menschen als Basis politischen Handelns betont. Dieses Fundament findet sich auch im Programm „Freiheit und Sicherheit. Grundsätze für Deutschland“, dass im Dezember 2007 in Hannover beschlossen wurde. Dort heißt es: Unsere Politik beruht auf dem christlichen Verständnis vom Menschen und seiner Verantwortung vor Gott. Das christliche Verständnis vom Menschen gibt uns die ethische Grundlage für verantwortliche Politik (…) Für uns ist der Mensch von Gott nach seinem Bilde geschaffen. Aus dem christlichen Bild vom Menschen folgt, dass wir uns zu seiner unantastbaren Würde bekennen. Die Würde aller Menschen ist gleich, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Nationalität, Alter, von religiöser und politischer Überzeugung, von Behinderung, Gesundheit und Leistungskraft, von Erfolg oder Misserfolg und vom Urteil anderer. Wir achten jeden Menschen als einmalige und unverfügbare Person in allen Lebensphasen. Die Würde des Menschen – auch des ungeborenen und des sterbenden – ist unantastbar. Aus der Würde des Menschen erwächst sein Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit und zugleich die Verantwortung gegenüber dem Nächsten. Der Mensch besitzt die Freiheit zur sittlichen Entscheidung. Er steht nach christlichem Verständnis in der Verantwortung vor Gott und vor seinem Gewissen und ist auf Gemeinschaft mit seinen Mitmenschen angelegt.
Das christliche Menschenbild gehört auch heute noch zu den zentralen Identitätsbausteinen der CDU aus der Sicht der Mitglieder. Auf die Frage, was den Kern der CDU aus seiner Sicht ausmache, antwortet z. B. Reiner Müller (CDUHessen): „Ganz einfache Frage. Das „C“. Also, wobei ich – ich muss ein biss-
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
chen langsam machen. Für mich persönlich ist das „C“ an der CDU sehr wichtig“. Eine ähnliche Antwort gibt seine Parteifreundin Christa Weidner, ebenfalls aus der hessischen CDU: Und dann muss ich sagen: Das war das christliche Menschenbild. Damit ist die Entscheidung gefallen. Also das war für mich der Kristallisationspunkt. Wo ich auch sage: Andere Parteien haben sich auch so viel, dass ich denke: Das ist ein guter Ansatzpunkt. Nur wenn es hart auf hart kommt, wenn es um den Kern der Dinge geht, worauf würdest Du Dich dann berufen? Und das ist einfach das christliche Menschenbild, was die CDU vertritt, und damit identifiziere ich mich.
Der Widerspruch auf der Werteebene besteht bei der CDU darin, dass sie ihren Mitgliedern gleichzeitig christlich wie auch nicht christlich erscheint. Auch bei der CDU und ihren Mitgliedern wird das persönliche Parteienbild vor allem durch die Tagespolitik herausgefordert. Allerdings ist der Widerspruch bei der CDU eher angedeutet, inhaltlich vage und viel weniger konkret als bei der SPD. Dass der Konflikt und die Widersprüche um das christliche Menschenbild bei den Mitgliedern der CDU eher angedeutet denn ausformuliert wird, ist durchaus überraschend. Denn Beispiele hätte es gegeben, z. B. die politische Debatte um die Stammzellenforschung, die viele CDU Mitglieder umtrieb. Joachim Kardinal Meisner formulierte eine christliche Position in der Diskussion, die sicher nicht von allen, aber vielen christlichen Mitgliedern in der CDU geteilt wurde (Meisner 2002). Wie wir gesehen haben, kann es Ausdruck einer christlichen Politik sein, die Würde des Menschen zu schützen. Und nach der Definition Meisners ist bereits ein(e) Embryo(nale Stammzelle) ein Mensch, denn „es ist seit Jahrzehnten wissenschaftlich unstreitig, dass von der Befruchtung der Eizelle an ein höchst individueller unverwechselbarer Mensch sich entwickelt“. Eine Forschung mit Stammzellen widerspräche nach Meisners Auffassung den christlichen Grundwerten: „Die Stimmung geht dahin, dass man meint, für die Gesundheit erwachsener Menschen ganz kleine Menschen töten zu dürfen“. Dieser Definition einer christlichen Position stehen Positionen von Vertretern der CDU im Deutschen Bundestag entgegen, die sich klar für eine Forschung an embryonalen Stammzellen aussprechen. Unter ihnen die heutige Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner sowie Julia Klöckner und Katharina Reiche. Im Sinne Meisners wären diese Politikerinnen wohl Vertreter einer Partei auf Irrwegen. Sie wären Repräsentantinnen einer Partei, die das „C“ im Namen trägt, aber eine Politik macht, die das Gegenteil des „C“ impliziert. Kardinal Meisner hatte seine Kritik bereits im Jahr 2002 formuliert. Die Debatte um die Stammzellenforschung hatte eine lange Vorlaufzeit. Aktuell wurde sie aber erst im Frühjahr 2008, als verschiedene Anträge zum Thema zur Verabschiedung im Bundestag anstanden. Die Interviews für diese Forschung wurden ein halbes Jahr früher geführt. Die Diskussion zur Stammzellenfor-
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schung stand im Sommer 2007 noch nicht auf der Agenda. Dies kann als mögliche Erklärung dafür dienen, warum dieses Thema in den Interviews kaum virulent war. In den Gesprächen geht es vor allem darum, dass sich das christliche Menschenbild nicht in der Politik „wiederfindet“, so wie es ein Mitglied ausdrückt. Ein Widerspruch ist möglich, wird aber nicht vollends ausformuliert. Christa Weidner von der CDU Hessen sagt: „Die CDU ist für mich die Partei, die vor allem für das christliche Menschenbild steht. Aber wo will man das christliche Menschenbild dann praktisch in der Steuerpolitik ausmachen? Ist es christlich, wenn man die Mehrwertsteuer erhöht, oder ist es das nicht?“ Ganz ähnlich äußert sich Stefan Schmitt aus Berlin: Aber die Grundgedanken des christlichen Menschenbildes, dass der Mensch Sozialwesen und Individualwesen zugleich ist, aber nicht darin alleine aufgeht, sondern auch noch im Wesentlichen das Wesen der Transzendenz ist und seine Verantwortung hat, diese Dreigliedrigkeit des christlichen Menschenbildes oder Dreieinigkeit, müsste ich fast sagen, das müsste eben auch in ganz vielen Einzelentscheidungen nachvollziehbar sein. Und da habe ich doch auch meine Zweifel, inwieweit die, nehmen die hier, Politik an der Spitze betreiben, wirklich immer so klar sind, was eigentlich das christliche Menschenbild wirklich bedeutet.
Im Gegensatz also zu den Mitgliedern der SPD, die den Widerspruch um soziale Gerechtigkeit an konkreten Politikfeldern und Themen festmachen, fällt bei den Mitgliedern der CDU nur ein Beispiel, wenn es um den Widerspruch in Bezug auf das christliche Menschenbild geht. Es geht um das Thema Sterbehilfe. „Also, für mich ist das christliche Verständnis vom Menschen natürlich das zentrale“, fährt Schmitt fort. Und wenn sich meine Partei z. B. für, ja, nehmen wir mal an, man würde sich in der Sterbehilfe, oder so, doch sehr weit entfernen würde von dem, was mit dem christlichen Menschenbild verbunden wird, wären das z. B. schon Dinge, wo ich sagen würde, die kann ich nicht mehr mittragen. Und da müsste ich mich einer anderen Partei zuwenden.
Was hier hypothetisch verpackt nur angedeutet wird, hat zwei konkrete Hintergründe. Einerseits wird auf die Debatte um Roger Kusch angespielt, der von 2001 bis 2006 Justizsenator der Freien und Hansestadt Hamburg gewesen ist. Noch 2005, zu seiner aktiven Zeit als Senator und als Repräsentant der CDU, unternahm Kusch öffentlichkeitswirksame Vorstöße zur Legalisierung der aktiven Sterbehilfe. Andererseits wird die Diskussion um die Patientenverfügung als inhaltlicher Referenzpunkt von Schmitt fungieren. Das Thema Patientenverfügungen beschäftigt die Politik seit sechs Jahren. 2004 befasste sich die EnquêteKommission des Deutschen Bundestags erstmals mit dem Thema. Nach langer Vorarbeit verabschiedete das Parlament 2009 eine gesetzliche Regelung der
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
Patientenverfügung. In Deutschland können Patienten heute verbindlich entscheiden, ob und wie lange sie durch Ärzte am Leben gehalten werden. Diese Verfügungen sollen für Ärzte verpflichtend sein, wenn sich ein Patient nicht mehr selbst äußern kann. Mit klarer Mehrheit setzte sich der Antrag einer Gruppe um den SPD-Rechtspolitiker Joachim Stünker durch, der auch von CDUAbgeordneten mitgetragen wurde. Auch dieses Verhalten könnte als „unchristlich“ aufgefasst werden. Nämlich dann, wenn Schutz des Lebens höchstes Gut ist, dass es zu schützen gilt, unabhängig vom Willen des Patienten. 4.1.1.2 Kernwerte im Konflikt mit der Organisationswirklichkeit Wie wir gesehen haben, brechen sich Werte, die gleichzeitig zentrale Bausteine der organisationalen Identität der Partei aus der Sicht der Mitglieder sind, immer wieder am Regierungshandeln der Partei, wobei dort vor allem die Mitglieder der SPD ihre Probleme haben. Aber nicht nur das Regierungshandeln ist Quell des Widerspruches. Auch das menschliche Gesicht, das die Partei in den Ortsverbänden und Abteilungen zeigt, kann Unstimmigkeiten hervorrufen. Diese Konfliktlinie ist nicht so stark ausgeprägt, wenn man die Anzahl der Zitate als Grundlage für eine Relevanz nimmt. Jene Widerspruchsebene trifft auf Mitglieder beider politischen Parteien zu. Werfen wir zunächst einen Blick auf die SPD. Viele ihrer Mitglieder verbinden mit der SPD den Wert der Solidarität. Ina-Maria Völkel von der SPD Berlin skizziert ihr Parteienbild. „Ja klar. Im Kern stehen Sachen wie Gerechtigkeit, aber auch Solidarität. Aufpassen, auf den anderen. Ein Auge auf den, auf das Geld. Also auf die Bosse, sozusagen“. „Aber“, so fährt die junge Frau fort, das gehört, glaube ich, noch zum ersten Teil des Interviews. Nämlich zu der Familiengeschichte. Wo das auch so innerhalb der Familie kolportiert wurde, könnte man fast sagen. Wenn ich es genau bedenke, habe ich es in Gesprächen auch so erlebt. Aber letztlich in der Partei selber, oder in meinen Erlebnissen, meinen Erfahrungen, eigentlich nicht. Das eher nicht. Im Gegenteil. In der SPD, das ist ja auch eine Erkenntnis, die nicht neu ist und trotzdem bitter: da läuft auch viel Diskriminierung. Natürlich hörst du da Sprüche über Frauen. Natürlich hörst du da Sprüche über Schwule, wie in jeder anderen Organisation auch. Das hat mit Solidarität nichts zu tun.
Wir sehen hier einen Widerspruch in Bezug auf den Wert der Solidarität, der von den Mitgliedern wie Ina-Maria Völkel mit der Partei in Verbindung gebracht wird. Die Partei erscheint zum gleichen Zeitpunkt solidarisch und unsolidarisch. Diesmal fungiert als Auslöser dieses Widerspruchs nicht die Politik in der Praxis, sondern das Verhalten der Menschen, der anderen Mitglieder, der Genossen und Parteifreunde vor Ort in der lokalen Parteiorganisation. Eine ähnliche Konfliktlinie zwischen Parteienbild und der Realität der Ortsvereine findet sich z. B.
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auch bei einem jungen Berliner CDU Mitglied. Jürgen Rohland erzählt von den ersten Erfahrungen in einem Westberliner Ortsverband. „Ich war überrascht, als ich 1998 noch erfahren habe, wie eine Frau von den Erlebnissen berichtet hat, wie sie mal ‚rüber‘ gefahren ist. Da dachte ich mir: hoppla. In der Partei der Einheit, das hat die CDU für mich immer zentral ausgemacht. Das hat mich dann doch etwas befremdet.“ Mit diesem Zitat soll illustriert werden, dass persönliche Kerninhalte (CDU als „Partei der Einheit“) in Konflikt mit der Realität vor Ort (CDU als Partei der fortgesetzten Trennung von Ost und West) geraten können. 4.1.1.3 Widersprüche und Programmatik In diesem Abschnitt geht es um das Verhältnis von dem, was Parteien als Zielvorstellungen in einem Programm ankündigen, es geht um die Ankündigung bestimmter Reformen und Maßnahmen, und es geht um das, was Parteien dann daraus machen, wenn sie die Gelegenheit dazu haben. In jedem Fall empfinden viele Mitglieder hier einen tiefen Spalt, einen Widerspruch zwischen Programm und politischer Praxis. Für Außenstehende, so meint Markus Zähringer von der CDU Baden-Württemberg, seien Programme wichtig: „wo ganz klar zu erkennen ist: in die und die Richtung will man. Wenn man allerdings verfolgt, was man von der Programmatik umgesetzt hat, egal ob bei uns oder bei wem auch immer, wird man sicher auf differierende Ergebnisse stoßen“. Liest man die Interviews mit den Mitgliedern, so ist die CDU hin- und hergerissen zwischen ideologischem Antrieb im Programm und praktischer Vernunft im Regierungshandeln. Mit den umschriebenen Konsequenzen, wie Sebastian Dreier von der CDU Baden-Württemberg schreibt. „Ja ich hoffe doch mal, dass wir nach Vernunft regieren und nicht mehr so nach Ideologien. Freilich entstehen dadurch auch, sagen wir mal, Positionen, die nicht unbedingt mit dem Grundsatzprogramm vereinbar sind“. Auch bei der SPD ist dieser Spalt erkennbar, wie Annegret Bott (SPD Hessen) erzählt. In Programmen sei vieles enthalten, was ich finde, was beide Parteien in der Praxis gar nicht so umsetzen. Was sie in ihrem Bild gar nicht so vermitteln. Zumindest, was die Politiker der Partei machen (…) Ich würde, ich versuche manchmal, das Grundsatzprogramm dafür zu nehmen und zu vergleichen, wenn ich nicht mehr ganz sicher bin, ob die alles, was die machen, vereinbar ist, damit. Also manchmal sehe ich was, das stößt mir persönlich auf, was aus der SPD kommt und dann schaue ich noch mal nach, wo ich dachte: Mensch, hast du das unterschrieben, als du eingetreten bist?
Vor Beginn der Datenauswertung herrschte die Vermutung vor, dass der Widerspruch zwischen Programm und politischer Praxis als klassische Ebene des Wi-
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derspruches in Bezug auf das Erscheinungsbild der eigenen Partei gut rekonstruiert werden könnte. Dem entgegen ist die Kategorie, gemessen an den zugeordneten Zitaten wie auch an deren inhaltlichem Gehalt, vergleichsweise schwach ausgeprägt. Das kann wiederum damit zu tun haben, dass Parteiprogramme grundsätzlich an Bedeutung für die Mitglieder verloren haben. Mit der Konsequenz, dass ein echter Vergleich zwischen Programm und Praxis eigentlich gar nicht vorgenommen werden kann, weil das Wissen um Inhalte des Programms fehlt. Wahrscheinlich ist dieser Widerspruch aber auch schon so normal, dass sich Mitglieder wie Jürgen Rohland daran gewöhnt haben. Der CDU-Mann sagt: „Was die Programmdebatte betrifft, da bin ich sowieso skeptisch. Geschrieben wird eh immer sehr viel. In der realen Politik sieht es ganz anders aus. Und von daher mache ich mir gar nicht so die Mühe, das Programm der Partei zu studieren“. 4.1.1.4 Widersprüchliche Positionierungen in Politikfeldern Widersprüche können entstehen, wenn Parteien in praktischen Politikfeldern zu bestimmten Issues unterschiedliche, mithin widersprüchliche Positionen einnehmen oder diese Positionen zumindest als solchermaßen widersprüchlich medial vermittelt werden. Wobei diese Positionen nicht zur organisationalen Identität im Parteienbild gehören, also nicht zum Kernbestand, zu den Alleinstellungsmerkmalen und den Konstanten. Dennoch soll diese Ebene hier Erwähnung finden. In diesem Unterfeld sind Mitglieder beider Parteien vertreten. Es gibt ebenfalls keine erkennbaren Schwerpunkte hin zu einer bestimmten Partei. Angesprochen sind Felder hauptsächlich auf der bundespolitischen Ebene. Es geht um Familienpolitik, Außenpolitik, Sozialpolitik und Arbeitsmarktpolitik. Andere Textpassagen verweisen auf Widersprüche zwischen der bundespolitischen und der landespolitischen Ebene. Parteien nehmen auf der bundespolitischen Ebene in einem bestimmten Politikfeld gegensätzliche, konträre Positionen ein. Als Beispiel dient die Haltung der SPD zur Entsendung von Aufklärungsflugzeugen nach Afghanistan. Dazu Ina-Maria Völkel von der SPD Berlin: Das Letzte, was ich gehört habe, diese Aufklärungsflugzeuge, nach Afghanistan zu schicken. Da war die eigentliche Nachricht nicht, dass das der Fall ist. Wo ich auch nicht genau weiß, ob die CDU recht hat, damit, dass uns eher hilft, oder die SPD, damit, dass sie sagt: Damit bringen wir uns ins Visier. Ich glaube, da sind auch die Parteien selbst nicht homogen in ihren Meinungen.
Von widersprüchlichen Positionierungen ist natürlich nicht nur das Feld der Außenpolitik betroffen, sondern auch das Feld der Arbeitsmarktpolitik. Manch-
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mal machen sich Widersprüche bereits am kommunikativen Verhalten eines einzigen Politikers fest. Marius Löffler von der SPD Berlin spricht eine widersprüchliche Positionierung der SPD – durch Franz Müntefering – am Beispiel Antidiskriminierungsgesetz an: Ich erinnere mich sehr gut an eine Veranstaltung im Willy Brandt Haus, wo Münte gesagt hat: Das Antidiskriminierungsgesetz, was soll der Quatsch? Wir haben Artikel 3 Grundgesetz, und damit hat es sich. Und da dachte ich: Junge, du hast ja wohl eine Meise am Laufen! Das kann ja wohl nicht wahr sein! Das denke ich bei ihm öfters, obwohl die Grundeinstellung richtig ist. Wo haben wir denn die Gleichbehandlung im Arbeitsmarkt? In Führungspositionen, in der Bezahlung? Das Grundgesetz kannst du dir ans Knie nageln. Da steht überhaupt nix. Also brauchen wir mehr? Und dann plötzlich war das, auch beim Streit mit der CDU dann, für Münte das Wichtigste überhaupt auf der Welt. Der hat seine Meinung zu dem Thema innerhalb von zwei Wochen so was von geändert. Einfach aus, vielleicht ist er klüger geworden, ich weiß es nicht. Oder, es war nicht mehr die Politik, die er vertreten wollte. Und natürlich wurmt es einen. Aber: Die Grundeinstellung ist ja richtig. Bei Münte. Es wurmt mich schon. Weil, wenn jemand sagt: Brauchen wir nicht, Artikel 3 GG. Das war dumm. Der hat da nicht weiter nachgedacht, als er das von sich gab. Und naja, er ist klüger geworden. Dieser Widerspruch, schon bei einer Person.
In Anlehnung an Alf Minzel bezeichnet Thomas von Winter (1992: 4) große Volksparteien wie die CDU in organisationsstruktureller Hinsicht als komplexe Gebilde, die sich durch strukturell-funktionale Ausdifferenzierung, horizontale Fragmentierung und eine eher lose Verkoppelung der Systemelemente darstellen. Mit dieser Organisationswirklichkeit, die durch das Dreigesichtermodell streng genommen nur unzureichend abgebildet wird, da mindestens auch parteinahe Organisationen und Vereinigungen berücksichtigt werden müssen (von Winter 1993: 64f.), besteht ständig die Gefahr, dass Repräsentanten dieser Ebenen in der Öffentlichkeit inkohärente Aussagen (etwa zu bestimmten Politikfeldern, aber auch zum Bedeutungsgehalt von Grundwerten) treffen. Dies beginnt bereits auf der Ebene der CDU-Landesorganisationen. Ingrid Herrmann, ein Mitglied der CDU Hessen, sagt: Ja, wenn unterschiedliche Meinungen vertreten werden. Wenn in Nordrhein-Westfalen der also, zum Beispiel in der Familienpolitik, eine andere Meinung vertritt, als die Bayern, dann sehe ich das eigentlich von der Person aus. Oder von der Position aus, die er hat. Er ist da Ministerpräsident. Und wenn er im Wahlkampf und in seiner Regierungserklärung oder in seinem Stil diese Werte mit den Werten, dort Erfolg hat. Es ist ja dieser Spagat, immer zu machen.
Schließlich kann eine Partei widersprüchlich erscheinen, wenn sich ein führender Parteirepräsentant auf der Landes- und Bundesebene in einem Politikfeld unterschiedlich, in diesem Sinne: widersprüchlich positioniert. Reiner Müller aus der CDU Hessen holt als Beispiel den damaligen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers, heran:
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Wenn man mal Rüttgers sieht, der mit den Leuten in Nordrhein-Westfalen recht rabiat umgeht, aber gleichzeitig auf der Bundesebene sagt: Wir müssen sozialer sein, wir müssen viel mehr Wärme geben. Und gleichzeitig eine andere Theorie verfolgt, die besagt, wir müssen den Sozialstaat abschießen.
4.1.1.5 Widersprüche in Bezug auf die soziale Zusammensetzung der Partei Widersprüche bestehen nicht nur in Bezug auf Werte wie Gerechtigkeit, Solidarität und Christlichkeit, die sich vor allem im Konflikt zwischen Parteibild einerseits und dem Handeln der Parteien in der Praxis bzw. der Organisationswirklichkeit an der Basis andererseits spiegeln. Es geht auch um einen Widerspruch hinsichtlich ihrer sozialen Zusammensetzung. Von dieser Inhaltsebene ist vor allem die SPD betroffen. Es geht um das Bild von der SPD als Partei der Arbeiter, das in vielen Köpfen noch präsent ist. Der Widerspruch besteht darin, dass die SPD einerseits, zur gleichen Zeit, als Arbeiterpartei erscheint, auf der anderen Seite aber hinsichtlich ihrer sozialen Zusammensetzung den Status als Arbeiterpartei längst verspielt hat (zur SPD grundlegend Walter 2009a). Die Arbeiterschicht ist in Deutschland heute eine vielfältig differenzierte soziale Lage (en détail Geißler 1996: 166f.). Ihr gehörten bis 1960 die meisten Bürger an. Mitte der 1990er Jahre hingegen rechneten Demografen nur noch 36 Prozent der Bundesbürger dieser Schicht zu. Die Arbeiterschicht war zugleich das klassische Milieu der SPD. Ebenso wie der gesamtgesellschaftliche Anteil der Arbeiter rückläufig war, so verringerte sich auch der Anteil der Arbeiter an der Mitgliedschaft der SPD. Noch zur Mitte der 1950er Jahre entstammte fast die Hälfte aller Mitglieder der SPD dem Arbeitermilieu. Dagegen waren nur 27 Prozent der „Genossen“ Angestellte und 10 Prozent Beamte (von Alemann 2003: 143). Damals konnte man – der Sozialstruktur nach – durchaus behaupten, dass die SPD eine „Arbeiterpartei“ ist. Heute ist das anders, wie Peter Lösche (2003) verdeutlicht: Im Vergleich zur einstigen Solidargemeinschaft der Arbeiter ist die soziale Zusammensetzung der Mitglieder und der Funktionäre der zeitgenössischen SPD heute äußerst heterogen. Facharbeiter bestimmen jedenfalls nicht mehr die Sozialstruktur. Ihr Anteil war bis 1999 auf rund 20 Prozent abgesunken. Heute findet sich eine bunte Mischung von Arbeitern mit blauem, weißem und grauem Kragen, von Akademikern, von Kleinunternehmern, von einigen Managern transnationaler Konzerne, von (wenigen) Studenten, von Hausfrauen und (vielen) Rentnern und Pensionären.
Interessant ist, dass die Imagination der Arbeiterpartei gerade bei den jüngeren SPD-Mitgliedern fest verankert ist, obwohl sich, wie geschildert, die reale Sozi-
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alstruktur längst weiterentwickelt hat. So sind Widersprüche vorprogrammiert. Ute Bürger aus der SPD Brandenburg sagt dazu: Die Partei als solche, die historischen Wurzeln beleuchtet, wir sind schon eine Arbeiterpartei. Das ist ja kein Geheimnis. Was mich aber mittlerweile mehr und mehr wundert, zuweilen auch erstaunt, ist die Tatsache, dass auch unsere Mandatsträger, die wir haben, bei dem Ehrenamt ist das durchmischt, da sind nur noch Akademiker unterwegs.
Annegret Bott aus der hessischen SPD ergänzt: Also ich sage immer noch, dass die SPD eine Arbeitnehmerpartei ist. Und auch bleiben soll. Ganz deutlich. Aber was in real ist, man hat auch oft von den Grünen den Eindruck, dass sie die Partei der kleinen Leute sind. Aber die meisten haben promoviert, die ganzen 68er. Die hatten die höchsten Nettoeinkommen. In real aber erfüllt die SPD das meiner Meinung nach auch nicht.
Dass die CDU in diesem Zusammenhang nicht vorkommt, dürfte daran liegen, dass sie ihrer Herkunft nach immer schon wesentlich vielfältiger war, als die SPD. Die Mitglieder und Wähler der CDU kommen aus allen Schichten der Bevölkerung, wobei Selbstständige, Katholiken und Menschen aus ländlichen Gegenden überdurchschnittlich vertreten sind (Bösch 2002: 191ff.). Im Gegensatz zur SPD gab es nie ein singuläres Milieu, eine singuläre Berufsgruppe, keine singuläre soziale Schicht, die in vergleichbarer Weise Zusammensetzung, Auftrag und Gesicht der Partei dominierte wie die Arbeiter in der SPD. 4.1.1.6 Widersprüche in Bezug auf das angestrebte Image der Partei Die Steuerung eines bestimmten Images ist den Parteien wichtig geworden. So wichtig, dass man es schon seit längerer Zeit in fremde Hände gibt, in die Hände professioneller Werber, junger Kreativer aus Kommunikationsagenturen, denen man eine dynamischere Konzeption des Selbstbilds zutraut als den entsprechenden Abteilungen in der Parteizentrale. So wurde die Kampagne zum CDUBundestagswahlkampf 2005 von der Agentur McCann Erickson geplant. 2009 übernahm die Werbeagentur Kolle Rebbe diese Aufgabe. Die Partneragentur Shipyard kümmerte sich um die Gegnerbeobachtung und die interne Kommunikation. Diese professionellen Strukturen überraschten den Korrespondenten der Rhein-Zeitung (Strauß 2009) bei einem Besuch im Konrad-Adenauer-Haus: Alles sehr transparent, alles sehr ‚hip‘, wie man heute so schön sagt. Die beiden Werbeagenturen, die die CDU verpflichtet hat, haben dafür ganze Arbeit geleistet: Acht Bildschirme unter der Decke für den schnellen Blick auf die Planungen, die Spots, die Kampagne-Elemente; im Besprechungsraum stehen coole Sessel und Lampen, in der Ecke ein großer Fernseher mit ange-
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schlossener Playstation. Die Union verstaubt und veraltet? Man kommt sich vor wie bei MTV oder Viva.
Nicht nur die externe Kommunikation in Richtung Elektorat ist seit längerer Zeit professionalisiert. Auch die Ansprache der Mitglieder hat einen Relaunch erfahren. Vor einiger Zeit sorgte die Agentur Shipyard mit der kessen MitgliederKampagne „Farbe bekennen“ für Aufsehen. Generalüberholt wurde schließlich auch das Mitglieder-Magazin UNION. Nach einer mehrjährigen Publikationspause installierte die Parteiführung eine kleine, zweiköpfige Kernredaktion im Konrad-Adenauer-Haus. Sie verantwortet ein vierteljährlich erscheinendes Magazin, das nach eigenen Angaben „den Mitgliedern auf 44 Seiten Meldungen, Analysen und Hintergründe aus der Partei“ bietet. Umgesetzt wird die Zeitschrift nicht in Berlin, sondern in München, beim Verlag BurdaYukom, in den Worten von Ronald Pofalla „ein erfahrener Partner für unser Vorhaben, inhaltlich fundierte und gut lesbare Artikel mit modernem Layout zu kombinieren“.30 So liegt die Idee nicht fern, dass die CDU durch Mitgliederkampagnen und dem neuen Mitgliedermagazin im „modernen Layout“ im Erscheinungsbild „cool und sexy“ gemacht werden soll, wie das Mariam Lau in der Tageszeitung Die Welt ausgedrückt hat. Das Problem ist nur, dass dieses „desired Image“ der CDU nicht zu dem passt, was an anderer Stelle schon zusammenfassend als „Organisationswirklichkeit“ beschrieben wurde. Ein Zitat von Erik Immels aus der CDU Baden-Württemberg bringt es auf den Punkt: „Wir sind, wollen modern, cool sein, auch inhaltlich, aber wir sind es eigentlich gar nicht.“ Dieses kleine Zitat deutet an, dass Widersprüche nicht nur mit Werten, nicht nur in Bezug auf Positionierung in Programmen und praktischen Politikfeldern, sondern letztendlich auch in Bezug auf das Image, das Parteien nach innen und außen kommunizieren wollen, entstehen können. Es handelt sich hier um die kleinste Kategorie mit nur zwei Zitaten. Da es aber nicht um Repräsentativität geht, sondern darum, möglichst alle Facetten eines Phänomens zu erfassen, hat auch diese Kategorie ihre Berechtigung und soll hier dargestellt werden. „Wir geben uns diesen hippen Anstrich, sind es aber im Grunde gar nicht. Wir sind gar keine hippe Partei in meinen Augen, weil wir einfach überaltert sind“, erzählt Immels. Augenscheinlich wird dieser Umstand für das junge CDUMitglied eben am neuen Mitgliedermagazin. „Es gab immer diese Mitgliederzeitschrift ‚Union in Deutschland‘. Das haben sie abgeschafft, dass Ding heißt jetzt UNION“, erläutert Immels.
30 Vgl. http://www.burda.de/ geschaeftsfelder/ corporate_publishing/ neues_cdu_magazin__ 10791.
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Das ist hochklassig, eine super Zeitschrift. Aber es ist eben so superhip und sieht so nach GQ aus, aber es passt nicht zur Basis der CDU-Mitglieder. Da sieht man diesen Widerspruch. Wir sind modern, cool, auch inhaltlich, aber wir sind es eigentlich gar nicht.
Nach außen und nach innen will man das Bild einer jungen, dynamischen CDU vermitteln. Es handelt sich um ein Bild, welches leider nicht der Organisationswirklichkeit entspricht, oder dem, was die Mitglieder dafür halten. Immels Vergleich des Mitgliedermagazins UNION mit dem Gentlemen‘s Quarterly (GQ), einem angelsächsischen Männermagazin in Hochglanzoptik mag etwas gewagt erscheinen, aber der Widerspruch zwischen einer CDU, die einerseits jung und modern sein soll, andererseits aber eigentlich eine Seniorenpartei ist, bei der fast die Hälfte der Wähler und Mitglieder die 60 überschritten haben, ist nachvollziehbar, wenn man sich die Altersstruktur der CDU betrachtet.
Abbildung 8: Mitgliedermagazin UNION – Image vs. Organisationsrealität31 In der Tat kann durchaus davon gesprochen werden, dass die Volksparteien, um eine große Tageszeitung zu zitieren, unter einer „fortschreitenden Vergreisung ihrer Mitgliedschaft“ leiden, da die Minderheit der eingeschriebenen JungMitglieder inzwischen immer deutlicher von „Langzeit-Parteibuchinhabern aus der obersten Senioren-Kategorie überflügelt“ werde. Besonders trifft diese Diag31 Quellen: http://www.cdu-kaltenkirchen.de/page/4/; http://www.union-magazin.de.
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nose auf die Partei Die Linke und eben die CDU zu. Viele junge Mitglieder haben mit dieser Überalterung zu kämpfen. Dazu gehört auch Reiner Müller (CDUHessen). Wenn man sich (…) anschaut, da hat man einen Bürgermeister, der 20 Jahre CDU Vorsitzender war und 10 Jahre Bürgermeister, dann ist der Bericht des Vorsitzenden der Bericht des Bürgermeisters. Innerparteilich passiert da nichts. Bei 40 aufwärts kochen die dann im eigenen Saft. Da werden Junge reingeholt, die dann illoyal ihrer Generation gegenüber sind, weil sie die Alten reproduzieren (…) Das sind die eigenen Legitimationsjugendlichen. Die sollen nach außen verdeutlichen: Wir haben doch ein paar Junge dabei. Der Wahlkampf in (…) war grauenhaft. Da hast du nur Grauschöpfe. Und du hast zwei, drei mit braunem, dunklem Haar. Da ist so die Wahrnehmung. Dann gibt es noch eine CDU bei uns, wo der Altersschnitt 50 plus ist, manchmal sogar 70 plus.
Viola Neu (2007: 9ff) spricht von einer Verschiebung der Altersstrukturen der CDU-Mitglieder. Der Anteil der jungen Mitglieder geht seit 1993 zurück, der Anteil der über 60jährigen ist gestiegen. War 1993 etwa ein Drittel der CDUMitglieder über 60 Jahre alt, so ist es 2006 knapp die Hälfte. Nur gut fünf Prozent der CDU Mitglieder sind unter 30 Jahre alt. Diese Tendenzen zeigen sich auch hinsichtlich der Wählerschaft. Rund 42 Prozent der CDU-Wähler waren bei der letzten Bundestagswahl über 60 Jahre alt. Dagegen betrug der Anteil der Wähler in der Altersgruppe zwischen 18 bis 35 Jahre zusammengenommen lediglich 16 Prozent. Von dieser Organisationswirklichkeit ist das angestrebte Image der Partei, so wie es im modernen Mitgliedermagazin UNION zum Ausdruck kommt, weit entfernt. 4.1.2 Parteienkonvergenz: Die Erosion der Unterschiede Wer sich öffentliche Äußerungen führender Politiker gerade zu Wahlzeiten genauer anhört, wird analog zum Mediendiskurs (vgl. Kapitel 2.2.2) feststellen, dass der Unterscheidbarkeit von Parteien eine äußerst große Bedeutung beigemessen wird. So seien Parteiprogramme dafür da, die Unterschiede zwischen den Parteien deutlich zu machen. TV-Duelle müssten von den Parteivertretern dazu genutzt werden, die Unterschiede deutlich zu machen. Geht eine Wahl verloren, wird dies oft damit erklärt, dass Unterschiede nicht deutlich genug herausgestellt worden seien. Werden Politiker nach Rezepten gefragt, wie die Mitgliederzahl der Parteien gesteigert werden kann, wird oft eine stärkere Abgrenzung der eigenen Partei von den anderen angemahnt. Und selbstverständlich ist Unterscheidbarkeit wichtig, um die eigenen Reihen zu schließen. Die Frage nach der Unterscheidbarkeit der Parteien beschäftigt auch die Parteienforschung. Dabei blieb die Perspektive der Mitglieder weitgehend aus-
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geblendet. Man untersuchte vor allem Parteiprogramme, um die Frage der Annäherung zu klären. Wie dem auch immer sei: Unter den befragten Mitgliedern spielt das Problem der mangelnden Unterscheidbarkeit eine große Rolle. Abgesehen von der Diffusionsdimension Kohärenz entfielen die meisten Zitate im Forschungsfokus Diffusion organisationaler Identität auf diese Dimension. Mitglieder beider Parteien haben Schwierigkeiten bei der Konstruktion von Differenz. Konvergenz Subkategorien
Zitate gesamt
Fälle gesamt
Fälle CDU
Fälle SPD
Konvergenz allgemein
15
10
4
6
Konvergenz Policies
12
9
5
4
Konvergenz Programme
5
5
1
4
[3]
[2]
[2]
[-]
[Konvergenz sonstige]
Tabelle 7: Problematische Unterschiede Die kategorieinterne Ausdifferenzierung führte bei der Diffusionsdimension „problematische Unterscheidbarkeit“ insgesamt zur Bildung von drei maßgeblichen Subkategorien. Erstens war ein allgemeines Gefühl mangelnder Unterscheidbarkeit evident. Zweitens ging es konkret(er) um die Ebene der Politikfelder. Drittens wurde auf die Ebene der Programme verwiesen.32 4.1.2.1 Allgemeine Konvergenz Der Begriff Konvergenz leitet sich von dem lateinischen Verb „convergere“ ab, dass man mit „sich hinneigen“ oder „zusammenkommen“ übersetzen kann. Dabei ist von einem Prozess der Annäherung die Rede, der noch nicht abgeschlossen ist. Der Endpunkt dieses Prozesses wäre Kongruenz, also eine völlige Deckungsgleichheit von zwei Elementen. Diese semantische Unterscheidung von Konvergenz und Kongruenz ist auch im Sample wichtig. Beim überwiegenden 32 Unter der Rubrik „Konvergenz sonstige“ wurden Zitate gesammelt, die von einer Annäherung von Werten und von einer Konvergenz politischer Führungspersönlichkeiten der Parteien zeugten. Sie sollen hier der Übersichtlichkeit wegen nicht weiter berücksichtigt werden.
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Teil der Passagen wird eine Annäherung, aber noch keine Deckungsgleichheit beschrieben. Insgesamt handelt es sich um 15 Zitate, die 10 Einzelfällen entstammen. Dabei sind die SPD-Mitglieder mit sechs Fällen leicht im Übergewicht. Von 25 Fällen haben 10 Fälle den Eindruck, dass sich die (großen) Parteien im Allgemeinen annähern, das es schwierig bzw. unmöglich geworden ist, die Parteien richtig auseinanderzuhalten. Das sind 40 Prozent der Befragten. Bei genauerer Betrachtung ließe sich die Kategorie „Konvergenz allgemein“ noch einmal in zwei Unterkategorien einteilen. Denn einerseits berichteten die Mitglieder von einem Eindruck grundsätzlicher Annäherung der deutschen Parteien an sich, ohne dass die betroffenen Parteien benannt wurden. Konvergenz kann also über die Parteien CDU und SPD hinausgehen. Anderseits wurde ein Verlust der Unterschiede zwischen CDU und SPD beschrieben, aber auch hier, ohne dass Konvergenz näher an konkreten Beispielen (Werten, Normen, Positionen usw.) festgemacht wurde. So erzählt Jürgen Rohland von der CDUBerlin: „Der Trend geht nun mal leider dahin, alles weichzuspülen und rund zu lutschen, damit es ja keine Ecken gibt“. „Politik“, so fährt der Mann fort, „wird auch in Zukunft von Parteien gemacht werden – aber die Unterschiede zwischen den Parteien werden verwischen“. Marius Löffler von der Berliner SPD spitzt diese Einschätzung auf das Verhältnis von CDU und SPD zu. „Da noch einen Unterschied festzulegen zwischen SPD und CDU, das ist wirklich recht schwierig (…) Das stimmt. Es ist nicht leicht auseinanderzuhalten. Zu dividieren“. Oft müssen die Befragten mit sich ringen, um das Problem der Unterscheidbarkeit einzuräumen, weil das Eingeständnis von Konvergenz als unangenehm empfunden wird (vgl. auch Kapitel 5.2.2). Im Zitat von Herrn Schattschneider von der Berliner SPD klingt an, wie schwer es sein kann, die Problematik „zuzugeben“: Was jetzt die Frage weitergehend, was jetzt Identitätskrise, Partei. Dass die Unterschiede nicht mehr so klar sind. Das ist schon richtig. Man, gerade jetzt natürlich nicht als Krise, aber genau. Ein Wort, was schwierig ist [Pause] Also ich kann das auf jeden Fall nachvollziehen. Und ich glaube auch, dass das schwer ist. Ich glaube vor allem, dass das schwer ist.
4.1.2.2 Konvergenz in Politikfeldern Neben dieser allgemeinen Ebene haben es Mitglieder beider Parteien nicht leicht damit, Differenzen anhand unterschiedlicher Positionen in den praktischen Politikfeldern herzustellen. Policy-Konvergenz ist fast gleich stark im empirischen Material verankert. Wenn man diese Unterkategorie weiter ausdifferenziert, können vier Politikfelder ausgemacht werden, in denen sich die Parteien stark annähern. Besonders häufig wird das Politikfeld Familie als illustratives Beispiel
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bemüht. In einem Zitat kommentiert Ute Bürger, ein SPD-Mitglied aus Brandenburg, die neue Familienpolitik der Union: Dass nun eine Ursula von der Leyen an der Stelle Elterngeld, eine SPD-Politik macht, ist für uns ein Riesenvorteil. Ist an der Stelle, wo es darum geht, was Du ja im Fokus hattest, Parteien zu unterscheiden, ein Riesenproblem. Weil, das war immer ein SPD-Thema (…) Und dann kommt eine Frau von der Leyen, die ihre Kinder von allen betreuen hat lassen, nur nicht von sich selbst, weil sie einfach das Geld hat und drückt SPD-Politik durch und versucht, so quasi mit aller Macht, die sie dann hat, SPD-Politik zu machen. Vielleicht sollte man sie mal fragen, bei uns einzutreten.
Ferner finden sich Konvergenzprozesse aus Sicht der Mitglieder auch in den Bereichen Finanzen, Gesundheit und Erbschaftssteuer. So dient der ehemalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück in der eigenen Partei als Versinnbildlichung der Annäherung von schwarz und rot in Finanzfragen, und das noch vor dem Ausbruch der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise. „Wenn man sieht, heute, ich unseren Finanzminister sehe, der vertritt ja da die Sache, aber wenn es da um Sachen geht, jetzt, also ich glaube, das wird ein CDU-Mann auch nicht anders machen“, sagt Berta Brehmer von der hessischen SPD. Bei näherer Betrachtung lassen sich in Sachen Policy-Konvergenz nicht nur (horizontale) Politikfelder, sondern auch verschiedene vertikale Ebenen der politischen Praxis unterscheiden. Es zeigt sich, dass von Konvergenz zwar vor allem, aber nicht nur die Ebene der Bundespolitik betroffen ist. Acht der zwölf Zitate fallen auf die Ebene des Bundes, vier Zitate beziehen sich auf die Länderebene. So sagt ein Mitglied der CDU Hessen, Wilhelm Donsbach: Nach außen hin tun sie so, als wenn Welten dazwischen liegen, zwischen den Parteien. Aber im Grunde genommen könnte ich mir vorstellen, dass, wenn in Hessen die SPD wieder in die Regierung kommt, dass da auch nicht viel anderes gemacht wird.
Auch in anderen Bundesländern lässt sich die Annäherung von CDU und SPD beobachten. „Das ist vielleicht was anderes, wenn man das jetzt nicht nur auf die Volksparteien stützt“, sagt Joachim Bork von der SPD Berlin. Weil die natürlich dann immer an der Regierung sind. Entweder SPD oder CDU, manchmal wechselt es auch. Hamburg, lange SPD, dann CDU. Man wird sich schwer tun, im täglichen politischen Leben einen Unterschied festzumachen. Da müsste man dann schon tiefer gehen.
4.1.2.3 Programmatische Annäherung Neben einem allgemeinen Konvergenzgefühl und schwieriger Unterscheidbarkeit in der praktischen Politik sind drittens auch die Programme oft kaum hilf-
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
reich dabei, Unterschiede zu markieren. Berta Brehmer von der hessischen SPD kommt nach eingehender Lektüre des neuen Grundsatzprogramms zu dieser Einschätzung: „Die nähern sich an, die Programme. Also, wo siehst Du da noch Unterschiede?“ Wenn man sich die Zitate von der inhaltlichen Seite her anschaut, wird man feststellen, dass die entsprechenden Textstellen (auch hier) zu einem gewissen Grad vage bleiben. Es wird zwar von einer programmatischen Annäherung gesprochen, aber diese wird dann doch kaum näher ausgeführt. Am ehesten noch wird auf politische Zielvorstellungen in Programmen verwiesen, so wie es, Frank Schattschneider, ein Berliner SPD-Mitglied, tut: „Dann steht da zwar natürlich: Wir wollen eine friedliche Welt. Das wollen andere auch“. Also muss konstatiert werden, dass selten ein dezidierter Vergleich von Werten, Positionen, Normen, zwischen politischen Zielsetzungen und Positionen in konkreten Politikfeldern, die ja in programmatischen Schriften nun einmal enthalten sind, vorgenommen wird.
Abbildung 9: „Die neue Mode“ – Karikatur von Klaus Stuttmann Insgesamt kann die Kategorie „programmatische Konvergenz“ nur wenige Zitate verbuchen. Das überrascht, denn die Parteienforschung hat sich intensiv mit der
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These von programmatischer Konvergenz beschäftigt. Programme fungieren dort als zentrale Datenquelle, als wichtigster Indikator zur Analyse von Parteienkonvergenz. Diese Relevanz schlägt sich nicht unbedingt in der Wahrnehmung der Mitglieder nieder. Insgesamt finden sich hier „nur“ fünf Zitate von fünf Fällen. Numerisch wären das 20 Prozent der Befragten. Wenn man sich die Fälle anschaut, kann man sagen, dass hier die SPD-Mitglieder in der Mehrzahl sind. Das bedeutet, dass die programmatische Konvergenz im Sample von den SPD-Mitgliedern sehr viel stärker wahrgenommen wird als von den CDU-Mitgliedern. Für die Erklärung dieser inhaltlichen Unschärfe und vergleichsweise schwachen Verankerung von programmatischer Konvergenz im Sample drängt sich eine bekannte Erklärung auf. Die Mitglieder äußern sich deswegen nicht zu diesem Konvergenzbereich, weil die Programme der Parteien in ganz grundsätzlicher Art und Weise keine herausragende Rolle mehr bei den Mitgliedern spielen. Wenn es jenseits der interessierenden Variablen im empirischen Material interessante Nebenerkenntnisse gab, dann die, dass Programme nicht mehr wichtig sind. Im Alltag haben sie an Bedeutung eingebüßt. Angesprochen auf die Programmdebatte und die persönliche Bedeutung des Programms antworten viele Mitglieder ausweichend. Manche fühlen sich regelrecht „ertappt“: „Da habe ich mich nicht so beteiligt und kenne mich nicht so aus. Also ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die nächste Frage stellen würden“, sagt ein Mitglied der CDU aus Baden-Württemberg. Bezeichnenderweise hat auch das Prozedere die Programmdiskussion, die ja dezidiert darauf abstellte, die Mitglieder an der Identitätsarbeit der Partei zu beteiligen, die Distanz vergrößert. Aber das ist wieder ein anderes Thema. Hingegen können die wenigen Aussagen zur programmatischen Konvergenz durchaus Validität beanspruchen. Denn überraschenderweise sind gerade für jene fünf Parteimitglieder, die von programmatischer Konvergenz sprechen, die Parteiprogramme durchaus wichtig. Das ergibt ein Blick auf die entsprechenden Interviews. Da ist z. B. Dieter Kowalsky, Mitglied der Berliner SPD. Als promovierter Chemiker im beruflichen Ruhestand hat er sich aus der aktiven Parteiarbeit zurückgezogen. Er findet aber genügend Zeit, sich mit Politik zu beschäftigen. Dazu gehören auch die vergleichende Lektüre der Parteiprogramme und das Partizipieren an der Programmfindungsdebatte in der SPD. „Ich habe an der Umfrage teilgenommen“, berichtet der Berliner Sozialdemokrat. Für das SPD-Programm. Das Programm ist weitgehend unpräzise. Es sind solche Sachen, wo jeder zustimmen kann. Allgemeinplätze. Und eigentlich muss ich sagen: Niveaulos wird sie. Plätschert so dahin, eine wie die andere. Die CDU kann das gleiche Programm genauso schreiben.
Ein anderes Beispiel ist Annegret Bott. Frau Bott ist eine junge Sozialdemokratin aus Hessen. Schon in der Schule gehörte der Vergleich der Programme zum
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Lehrplan im Leistungskurs Gesellschaftskunde. Vor dem Eintritt kommen die Programme bei Annegret Bott noch einmal auf den Prüfstand: Und dann habe ich mir verschiedene Parteiprogrammatiken ausgesucht (…) Also ich habe CDU und SPD rausgesucht, zwischen den Grünen, und die Grünen habe ich relativ schnell wieder weg, weil ich fand, das war hier für mich sehr schlecht organisiert und, nein, hat mir irgendwie nicht. Und dann habe ich bei den anderen zweien geguckt, und habe so ein bisschen, habe durchgeblättert, habe die aktuelle politische Diskussion verfolgt.
Gerade im Vergleich der Programmschriften festigt sich der Eindruck, dass sich die Parteien annähern. Auf die Frage des Interviewers: „Ich hake bei den Programmen ein. Es gibt den Vorwurf an die Parteien, dass sich die Parteien annähern. Hattest Du, als Du die Programme damals durchgesehen hast, vor Deinem Eintritt, auch einen ähnlichen Eindruck?“ antwortet Annegret Bott: „Also ich fand viel Wischiwaschi drin, was sehr ähnlich war“. 4.1.2.4 Exkurs: Warum die Unterschiede verschwinden – zur Erklärung von Parteienkonvergenz Eigentlich geht es bei dieser Arbeit laut Fragestellung nur um Ausprägungen und Effekte der Diffusion organisationaler Identität. Bei der Durchsicht der Interviews wurde aber deutlich, dass viele Mitglieder das Verlangen haben, Identitätsbrüche nicht nur einzuräumen und zu illustrieren, sondern auch ursächlich zu erklären. Diese erklärenden Textpassagen wurden daraufhin in einer eigenen Kategorie erfasst. Vor allem die Problematik der verschwindenden Unterschiede zwischen den großen Parteien lag den Mitgliedern auf der Seele. Am Ende der Verschlagwortung des empirischen Materials zeigte sich, dass in beinahe 30 Textstellen erklärend auf das Phänomen Konvergenz eingegangen wurde.33 Auf den ersten Blick wirkte die Kategorie intern sehr heterogen. Schwerpunkte konnten aber herausgearbeitet werden, wie Tabelle 8 verdeutlichen wird. Zieht man einen Vergleich der Erklärungsfaktoren, so ragt ein Schlagwort besonders heraus: Große Koalition. Das verwundert nicht, denn zum Zeitpunkt der Befragung zog die Regierungsallianz unter Führung von Angela Merkel 33 An diesem Punkt ist nochmals auf die Spezifik qualitativer Forschungsprojekte hinzuweisen. Da es dieser Methodologie vor allem um den Standpunkt des Befragten geht, bilden die vorliegenden Ergebnisse die Relevanzsetzungen der Befragten und nicht des Forschers ab. Dazu gehört, dass die Befragten zu manchen Themenbereichen umfassende Angaben machen, während andere Bereiche nur knapp abgehandelt werden. Während Konvergenz von den Mitgliedern sehr ausführlich erklärt worden ist, wurde das Problem der Wiedererkennbarkeit z. B. kaum ursächlich erklärt. Die hier folgende ausführliche Erklärung von Konvergenz bildet somit lediglich die Relevanzen des Forschungsfeldes ab – und ist damit keine willkürliche Schwerpunktsetzung des Forschers.
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gerade ihre Halbzeitbilanz. Dabei handelte es sich nicht um die erste Regierungskoalition von SPD und CDU. Von 1966 bis 1969 hatte es den ersten Versuch gegeben, nachdem die FDP wegen Steuererhöhungsplänen der Union aus dem gemeinsamen Bündnis austrat. Nach dem Rücktritt der FDP-Minister nahm die Union Verhandlungen mit der SPD auf, die sich schließlich für eine Kooperation mit der CDU entschied. 43 Jahre später, nach der vorgezogenen Bundestagswahl vom 18. September 2005, konnte weder eine schwarz-gelbe Koalition, noch ein rot-grünes Bündnis die absolute Mehrheit der Bundestagsmandate erreichen. Andere Optionen schieden aus, da keine der etablierten Parteien mit der heutigen Partei Die Linke zusammengehen wollte. Nach kurzen Sondierungsgesprächen, den kategorischen Absagen der FDP an eine Ampelkoalition, der Absage von SPD und Bündnis 90/Die Grünen an eine Koalition unter Tolerierung durch Die Linke standen alle Zeichen auf Schwarz-rot. Am 18. November 2005 wurde der Koalitionsvertrag von den Vorsitzenden der drei Parteien unterzeichnet, vier Tage später wählte man Angela Merkel zur Bundeskanzlerin.34 Erklärungen Konvergenz
Zitate gesamt
Fälle gesamt
Fälle CDU
Fälle SPD
„Große Koalition“
10
7
5
2
„Positionierungsangst“
4
3
2
1
„Themenpolitik“
3
3
3
-
„Komplexität“
4
4
2
2
„Informationsdefizite“
3
2
1
1
Tabelle 8: Erklärung von Konvergenz durch die Mitglieder der Parteien Große Koalitionen werden in Deutschland als Verlegenheitslösung betrachtet, obwohl sie sich in politischen Krisenzeiten als Glücksfall erweisen können. Die internationale Wirtschafts- und Finanzmarktkrise wäre ein Beispiel. Einen Kollateralschaden aber können Parteien dabei kaum verhindern: Auf das Erscheinungsbild der Parteien wirkt sich eine Große Koalition negativ aus. Aus der Sicht der Mitglieder verlieren die Parteien merklich an eigenständigem Profil. Das Kernproblem der Großen Koalition scheint in dieser Hinsicht darin zu be34 Vgl. hierzu: http://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fe_Koalition.
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
stehen, dass gerade jene Parteien, die im Parteiensystem historisch oft entgegengesetzte Pole darstellten, nun zwingend darauf angewiesen sind, in den unterschiedlichen Politikfeldern zu kooperieren. Just diese inhaltliche Kooperation führt im Ergebnis offenbar dazu, dass die Parteien in der Wahrnehmung ihrer Mitglieder an Distinktivität verlieren. Ohnehin kann in Koalitionen keine Partei ihre Position 1:1 durchsetzen. Weil nun aber auch noch der traditionell größte Konkurrent mit im Regierungsboot sitzt, fallen die Zugeständnisse gefühlt noch größer aus, als wenn man mit einem politisch nahestehenden Juniorpartner ein Bündnis eingegangen wäre. Am Ende stehen die Parteien für eine Reform B im Politikfeld A ein, deren Urheberschaft nicht mehr mit einer der beiden Parteien alleine in Verbindung gebracht werden kann. Im Gegenteil hat an der Reform der frühere politische Gegner mitgewirkt, von dem man sich sonst immer abgehoben hat. So ist etwa für Markus Zähringer, ein CDU-Mitglied aus Baden-Württemberg klar, dass sich während der Großen Koalition die Parteien in einer gewissen Form und Weise einander annähern müssen, um dann regierungsfähig zu sein. Der Sinn einer Großen Koalition ist eigentlich, dass man zwei Meinungen miteinander verbindet. Jetzt kann man sagen: den besten oder den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden. Insofern ist das immer ein gegenseitiges Geben und Nehmen.
Die Konsequenzen sind für ihn ebenso unausweichlich: „Nach außen wird sich das sicherlich so darstellen, dass ein gemeinsames Annähern der Parteien stattfindet. Das kann ich von außen sicherlich verstehen“. Bezogen auf die Gesamtzahl aller Zitate ist die Unterkategorie „Konvergenz durch Große Koalition“ die dominierende Erklärungsvariante. Diese zehn Zitate entstammen sieben Einzelfällen. Knapp 30 Prozent der Fälle sehen also die Große Koalition als mächtigen Vereinheitlicher. Interessant ist noch, dass die CDUMitglieder diesen Faktor besonders häufig als Erklärung heranziehen. Große weitere inhaltliche Besonderheiten lassen sich aus den vorliegenden Zitaten fürs Erste nicht gewinnen. Während sich der Erklärungsfaktor Große Koalition auf das politische Handeln der Parteien in benennbaren Politikfeldern wie Gesundheit oder Finanzen bezieht, zielen die Faktoren „Positionierungsangst“ und „Themenpolitik“ eher noch auf die politische Kommunikation der Parteien und ihrer Protagonisten ab. Positionierungsangst bedeutet hier, dass Parteien schwer unterschieden werden können, weil ihre führenden Repräsentanten aus der Sicht der befragten Mitglieder deutliche Positionierungen überhaupt vermeiden. Genauer gesagt mag es sich um die kommunikative Vermeidung von sogenannten Positions-Issues handeln (oder auch die Umwandlung von Positions- in Valenz-Issues), also von Themenbereichen, in denen eindeutig konträre Positionen der Parteien wahr-
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nehmbar sind. Auch eine Umwandlung von Positions- in Valenz-Issues kann sich auf einem schwierig zu überschauenden Wählermarkt als gute Wettbewerbsstrategie erweisen. Das wird vielen Mitgliedern gerade zu Wahlzeiten deutlich. Um die aus seiner Sicht evidente Angst der großen Parteien vor der differenzierenden Polarisierung heute zu verdeutlichen, greift Gerd Feuerbach von der CDU Baden-Württemberg zunächst auf historische Beispiele zurück. Ihm sind noch gut die CDU-Plakate aus der Adenauer-Zeit in Erinnerung geblieben. Also, ich versuche, mir noch mal die Wahlplakate der frühen Bundesrepublik vorzustellen. Unvermeidlich, da gebe ich Ihnen recht, ist das Plakative. Es wird immer zu Vereinfachungen unvermeidlich kommen. Aber: Interessant ist doch, auch und gerade, wenn man heute auf gewisse Weise darüber lächelt, haben die nicht damals die Plakate den Mut gehabt, die Dramatisierung zuzulassen? Ja sogar bis in die Zuspitzung. Man hat sich nicht gescheut, ich sage das jetzt mal so: den Leuten auch Angst zu machen? Und was hat eine, und ist nicht sogar, sogar die Grünen sind in ihrer frühen Zeit mit dunklen Prophezeiungen reüssiert.
Wer zwei Jahre später die Wahlkampfauftritte, die Gestaltung der Wahlplakate und die Botschaften von CDU und SPD zur Bundestagswahl 2009 einer genaueren Betrachtung unterzieht, kann Feuerbachs Argumentation nachvollziehen. Zwar war die SPD im gleichen Jahr mit einer negativen Polarisierungskampagne („Heiße Luft würde die Linke wählen“) in die Europawahl gezogen. Doch die Kampagne verfing beim Wähler nicht: Mit dem historischen Tief von 20,8 Prozent unterbot die SPD noch ihr desaströses Wahlergebnis von 2004. Daher schwiegen die Waffen im Herbst 2009 wieder. Von einem „polarizing talk“, der eindeutige Unterscheidbarkeit ermöglicht, konnte kaum die Rede sein. Dagegen war die Angst, durch Zuspitzungen Fehler zu machen, mit den Händen greifbar. Deutliche inhaltliche Absetzbewegungen vom politischen Gegner blieben bis kurz vor Schluss aus. Das als Showdown vor der Wahl angekündigte Rededuell Merkel gegen Steinmeier wurde von Beobachtern als ermüdender Plausch unter politischen Freunden (Schlagzeile der Bild-Zeitung: „Yes, we gähn“) bezeichnet. Dagegen waren im Wahlkampf viele Überschneidungen zu beobachten, bis hinein in das Wording der zentralen Claims und Slogans. Konnte man bei der SPD z. B. von einer „Wirtschaft mit Maß“ lesen, sprach die CDU von „Wirtschaft mit Vernunft“. Ging die CDU „gemeinsam für unser Land“ voran, versuchte die SPD mit dem Claim „Unser Land kann es besser“ zu punkten. Diese Claims und Slogans der Großparteien aus dem Wahlkampf 2009 deuten zumindest an, dass es in der öffentlichen Kommunikation nicht nur das Problem der Positionsvermeidung, sondern auch der Einnahme von als gleich empfundenen Positionen kommen kann. Dieser Eindruck kann entstehen, weil Parteien immer wieder die gleichen Themen besetzen. Damit wäre der Faktor „Themenpolitik“ angesprochen: „Und heute gibt es Parteien, die schon da sind,
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
die neue Themen besetzen müssen. Aber es gibt in dem Sinne Themen, und jeder versucht, sich strategisch so zu besetzen, dass alle in den gleichen Kern reinstoßen“. Das sagt Reiner Müller von der CDU Hessen. Sein Zitat verweist auch auf die Schwierigkeit der Parteien, überhaupt eigene Themen zu setzen. Während das eigenständige Agenda-Building, die Arbeit am eigenständigen Themen-Profil bei Parteien oft nur mäßig erfolgreich ist, machen Parteien ihre Selbstpräsentation gerade während des Wahlkampfs von den Issues abhängig, die ohnehin gerade die Agenda der Medien bestimmten. Somit greifen, grob gesagt, alle Parteien die gleichen Themen auf, sie surfen gemeinsam auf der medialen Agenda (Eilders et al. 2004: 238). Dieses strategische Verhalten der Parteien ist ihrer Unterscheidbarkeit nicht dienlich.
Abbildung 10: Vorsicht Verwechslungsgefahr – Claims im Wahlkampf 200935 Die Benutzung von gleichen Begriffen ist kein Problem, das nur in Wahlkampfzeiten virulent wird. Einige Mitglieder sehen darin ein wiederkehrendes Muster. 35 Quellen: http://www.homopoliticus.de/ 2009/ 08/ 14/ wahlplakate-2009, http:// wahlen- inmd.blog.de/2009/09/15/kanzlerplakatduell-6971803/, http://www.cdu.de/ portal2009 /27919.htm, http://www.cdu.de/doc/ pdfc/090628- beschluss- regierungsprogramm-cducsu.pdf.
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So meint Müller: „Die Benutzung von Begriffen, die sonst ideologisch aufgeladen sind, von und durch alle Parteien, führt dazu, dass von den Menschen keine Unterschiede mehr wahrgenommen werden. Das vielleicht als Idee“. Elmar Wiesendahl (2000: 285ff.) schreibt in diesem Zusammenhang, dass Parteien mit Hilfe von Schlüsselbegriffen mit positivem Symbolwert und kräftigem Signalcharakter um ihre Unterscheidbarkeit rängen. Sobald man in der Außendarstellung mit einem Begriff Erfolg hat, übernehme der Gegner die Losung. Es kommt in den Worten von Wiesendahl zum „Zeichenklau“. Große Parteien befinden sich hier in einem Zwiespalt, der schwer aufzulösen scheint. Während die Parteien einerseits Unterscheidbarkeit ermöglichen müssen, auch um nach innen hinein für eine Integration der Mitglieder zu sorgen, scheint die Markierung allzu deutlicher Unterscheidungen nach außen hin nicht immer erfolgreich zu sein. Und da die strategische Orientierung an Medianwähler-Präferenzen zu den Grundprinzipien der gegenwärtig dominierenden Parteientypen gehört, entscheiden sich Parteien angesichts eines unübersichtlichen gesellschaftlichen Umfelds für die Strategie des undeutlichen Erscheinungsbildes. Hans-Peter Reller von der CDU Baden-Württemberg resümiert: Und die CDU ist eben nicht die bessere FDP. Muss man auch mal so sehen. Aber auch keine bessere SPD. Die müssen nicht versuchen, zu kopieren, sondern einen eigenständigen Weg zu verfolgen. Dann wird man Erfolg haben. Aber die, Thema war ja klare Linie vorgeben, die die Konturen schärfen. Da würde ich auch sagen: es ist richtig, dass man in gewissen Bereichen schon sagen muss, dafür stehen wir, andere Sachen darf man jetzt aber eben nicht zu extrem darstellen, ja? Der Wähler honoriert das nicht. Der Wähler ist ein ganz seltsames Tier.
Joachim Bork (SPD-Berlin) sieht das ähnlich: „Es ist natürlich schon richtig, dass man nicht zu sehr zuspitzen darf. Weil, dann, sicherlich die Gefahr besteht, dass man eine wichtige, große Gruppe der Gesellschaft verstößt. Gerade wenn gewählt wird“. Wenn Parteien in der Großen Koalition zusammenarbeiten, wenn Parteien bzw. ihre Akteure zu dem Schluss kommen, dass es in „wahltaktischer Hinsicht“ erfolgsversprechender ist, auf Zuspitzungen und Angriffe auf den Gegner zu verzichten und Positions- als sog. Valenz-Issues zu kommunizieren, dann handelt es sich damit um Konvergenzfaktoren, die unabhängig sind vom Handeln des einzelnen Mitgliedes. Aber auch dort, auf einer eher individuellen Ebene, können Ursachen wahrgenommener Konvergenz begründet liegen. So wurde bei der Datenauswertung deutlich, dass in den Begründungen von wahrgenommener Parteienkonvergenz von einer grundsätzlichen Schwierigkeit bei der individuellen Bewältigung von Komplexität politischer Zusammenhänge die Rede ist. Es ist einfach schwierig geworden, Dinge auf einfache Unterschiede hin zu reduzieren. Dazu sagt Hans-Peter Reller von der CDU Baden-Württemberg:
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Es wird zunehmend komplexer und komplizierter in unserer Welt, solche Probleme wirklich zu analysieren. Das muss nicht nur damit zusammenhängen, dass die Probleme tatsächlich komplizierter sind, sondern das hat in meinen Augen was damit zu tun, dass wir mit sehr, sehr viel mehr Informationen zugebrettert und geschüttet werden und du zunächst auch mal sortieren musst, und nicht nur Informationen, sondern auch Meinungen. Es werden ja Meinungen mit Informationen mit transportiert. Und dass man dann abschichten muss. Wo wird ein bisschen geschönt und Nebel gemacht, bevor man dann möglicherweise an den Kern der Geschichten dran kommt. Ich denke, es ist einfach schwieriger heute, es erfordert mehr Aufwand, die Unterschiede zu erkennen.
Zuträglich ist der Konstruktion von Differenz die Ressource Wissen (siehe dazu ausführlicher Kapitel 4.3). Umgekehrt kann Konvergenz dann empfunden werden, wenn die entsprechenden Informationen fehlen. Hierzu sagt Erik Immels von der badischen CDU: Das wird mir nicht so richtig deutlich, weil sich auch niemand profund mit der Materie beschäftigt, von den normalen Durchschnittsbürgern. Also vier Millionen Auflage hat die Bild-Zeitung. Lesen tun sie zehn, online noch mal zwei. 12 Millionen Menschen lesen die Bild-Zeitung in Deutschland, und die lesen irgendwie die. Das ist ja nur eine Schicht oben. Wird ja nie über Programme diskutiert.
So bietet es sich auch an, zwischen „Mikrofaktoren“ und „Makrofaktoren“ zu unterscheiden. Makrofaktoren zielen auf das Verhalten der Parteien und deren Rahmungen ab. Bei Mikrofaktoren sind individuelle Ressourcen der Mitglieder angesprochen. Hier zeigt sich, dass die Makrofaktoren in der Überzahl sind. Das verwundert natürlich nicht ganz, denn kein Parteimitglied gibt gerne zu: „Obwohl ich eigentlich seit Jahren Mitglied meiner Partei bin, kenne ich die Unterschiede zwischen den Parteien nicht, weil ich mich eigentlich gar nicht mehr so recht für Tagespolitik interessiere“. Eine zweite Unterscheidung könnte, um einen Gedankengang von weiter oben aufzugreifen, auch nach temporären und strukturellen Faktoren unterschieden werden. Temporär oder dynamisch wären solche Konvergenzfaktoren, die nur über einen bestimmten, begrenzten Zeitraum vorherrschen. Dazu könnte man den Faktor der Großen Koalition zählen. Bis jetzt ist eine Zusammenarbeit der großen Parteien in Deutschland die Ausnahme geblieben, die Große Koalition von 2005 wurde 2009 zugunsten einer schwarz-gelben Koalition abgelöst. Als strukturell wären jene Faktoren zu werten, deren Änderung eher unwahrscheinlich ist. Da die Große Koalition auch das größte Problem in Sachen Unterscheidbarkeit ist, der Faktor gleichzeitig aber zeitlich begrenzt, könnten Parteien wieder mehr an Profil gewinnen, wenn der Regelfall, eine Koalition mit dem politisch näheren Juniorpartner, wieder ansteht.
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4.1.2.5 Exkurs: Die Macht der Kunstgewerbler – oder: Isomorphismus durch Berater? Werfen wir noch einmal einen kurzen Blick zurück auf die letzte Tabelle. In der vertikalen Spalte ist nach den Faktoren „Große Koalition“, „Positionierungsangst“, „Themenpolitik“, „Komplexität“ und „Informationsdefizite“ noch die Kategorie „Sonstiges“ zu finden. Aus dieser Kategorie sollen ein Faktor umrissen werden, der durchaus einer eigenen Forschung bedürfen. Es geht um den homogenisierenden Einfluss externer Berater auf die Selbstdarstellung der Parteien. Auf diesen Faktor wurde der Autor der vorliegenden Arbeit durch ein Zitat von Gerd Feuerbach (CDU Baden-Württemberg) aufmerksam. Das Gespräch drehte sich an der besagten Stelle um den Einfluss externer Berater auf die Politik. In diesem Zusammenhang merkte Feuerbach an: Weil das Kunstgewerbler sind, und sie wissen, Kunstgewerbler haben einen merklichen Hang zur Ähnlichkeit. Sie sind nicht originär, sondern sie inszenieren, sie interpretieren und inszenieren in den Zeitgeist hinein und die Überlegung ist ja immer: Kommt das gut an? Lässt sich das gut verkaufen? Also, Kunstgewerbler aller Parteien, vereinigt euch! Deshalb ähneln die sich immer mehr.
Was meinte Feuerbach mit den „Kunstgewerblern“ und ihrem „merkwürdigen Hang zur Ähnlichkeit“? Vorgeschlagen wird, diese Passage als Beispiel für den homogenisierenden Einfluss bestimmter Professionen auf die Selbstdarstellung von politischen Parteien zu sehen. Nach Auffassung der Soziologen Paul DiMaggio und Walter Powell (1983, 1991, 2000) geschieht organisationaler Wandel dadurch, dass Organisationen sich immer ähnlicher werden, ohne dass dabei zwingend Effizienzsteigerungen zu beobachten sind. Angeleitet werden diese Prozesse der interorganisationalen Angleichung von der Strukturierung organisationaler Felder, die homogene Handlungsbedingungen für Organisationen, die miteinander in Beziehung stehen und die in ihrer Funktion ähnlich sind, vorgeben: „Hochstrukturierte organisationale Felder bilden einen Kontext, in welchem das Zusammenwirken der individuellen Versuche, mit Ungewissheit und Zwängen rational umzugehen, in der Gesamtheit häufig zu einer Homogenisierung in Struktur, Kultur und Output führen“ (DiMaggio/Powell 2000: 148). Diese Homogenisierung, die Angleichung von Organisationen, wird von den Autoren als Isomorphismus bezeichnet. Vor allem ist der Einfluss bestimmter Professionen interessant. Organisationen tendierten dazu, Menschen mit ähnlichem Hintergrund einzustellen, der vor allem an Universitäten vermittelt werde, etwa in bestimmten Managementmodellen: “Such mechanisms create a pool of almost interchangeable individuals who occupy similar positions across a range of organizations and possess a simi-
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
larity of orientation and disposition that may override variations in tradition and control that might otherwise shape organizational behavior” (1983: 149). Verbreitung fänden diese Modelle durch Netzwerke in organisationalen Feldern. Im Zuge der Professionalisierung politischer Parteien kam es nun – in einigen Fällen bereits in den 1930er Jahren des letzten Jahrhunderts (Wring 2001) – zur Konsultation externer Berater. Diese externe Beratung – extern in jenem Sinne, als das Beratungsdienstleitungen von Akteuren oder deren Zusammenschlüssen erbracht werden, die nicht (mehr) den offiziellen Organisationsstrukturen einer Partei angehören – prägte (neben Optimierungen der Finanzverwaltung oder der Organisation) seit Beginn an vor allem den Bereich der politischen Kommunikation. Dieser Trend hat sich vor allem in Großbritannien und den Vereinigten Staaten, aber in den letzten Jahren auch in Deutschland durchgesetzt, sodass Oskar Niedermayer bereits Ende der 1990er Jahre eine umfassende „Auslagerung des Politikvermittlungsmanagements auf kommerzielle Dienstleister in Form von politischen Marketingagenturen und Wahlkampfberatern“ diagnostizierte (1999: 344), die Parteien selbst als Reaktion auf Veränderungen der Umwelt, namentlich der Bedeutungszunahme von Printmedien, vor allem aber von Funk und Fernsehen bei der medialen Politikvermittlung vorgenommen hatten (von Alemann/Marschall 2002). Was haben die externen Berater nun mit dem Phänomen der Parteienkonvergenz zu tun? Denkbar wäre dies: Obwohl für historisch sehr unterschiedliche „Kunden“ tätig, verfügen die Berater über einen ähnlichen Background, was berufliche und akademische Qualifikationen betrifft, haben also ähnliche Vorstellungen, was die „best practice“ der Präsentation von Parteien sowohl nach innen – hin zu den Parteimitgliedern – als auch nach außen – hin zu Sympathisanten und Wählern betrifft. In Berlin hat sich um Regierung und die politischen Institutionen längst ein Netzwerk externer Berater ausdifferenziert, deren Ausläufer hineinreichen in den politischen Bereich. Es entsteht das Bild einer informellen Zirkulation von Beraterpersonal zwischen Dienstleistern und den politischen Institutionen. Der Karriereweg führt oft von Agenturen wie fischerappelt Kommunikation, Ketchum Pleon oder Scholz & Friends hin zu offiziellen Stabsstellen und Kommunikationseinrichtungen und von dort wieder zurück in die private Wirtschaft. Die Kernthese ist also die, dass der Einsatz von externen Beratern zu einer Homogenisierung von Praxen der Identitätskonstruktion und damit auch zu einer Homogenisierung des Outputs – Identität als Konstrukt organisationaler bzw. institutioneller Eliten – führt. Obwohl nicht von Parteien, sondern Politikern die Rede ist, mag das Zitat von Bruce Newman (2001: 969) als Illustration des Gesagten dienen: It is interesting to note that in recent US-presidential elections, most of the winning candidates (including George W. Bush and his father, Bill Clinton, Ronald Reagan, Jimmy Carter, and Ge-
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rald Ford) have all worn cowboy boots. This could just be a coincidence, or it could be a natural selection process as a nation looks for a leader that embodies „right qualities”. It could be, though, a strategic endeavor, on the part of image consultants, who try to manufacture an image of a „rugged” John Wayne like hero figure who they think will sell in the political marketplace.
4.1.3 Wenn der Kern verloren geht – Zentralität als Problem Wer am 27. September 2009 in der Wahlkabine stand, wird sich wieder einmal gewundert haben, wie vielfältig doch die deutsche Parteienlandschaft ist. Wenn man auf dem Wahlzettel weiter nach unten blickte, folgten den etablierten Kräften CDU und CSU, SPD, FDP, Die Linke und Grüne noch 21 weitere Parteien. Zu ihnen zählt z. B. auch die Tierschutzpartei. Seit Mitte der 1990er Jahre tritt sie zu Kommunal- wie Bundestagswahlen an. Auch wenn der Einzug in den Bundestag weiterhin ein Wunschtraum bleiben wird, auch wenn die Tierschützer um Mitglieder, Finanzierung ebenso wie um Aufmerksamkeit ringen müssen, so hat die Partei im Vergleich mit der etablierten Konkurrenz doch einen Vorteil. Es kann unterstellt werden, dass die knapp 800 Mitglieder der Tierschutzpartei einigermaßen problemlos benennen können, was den Markenkern der eigenen Partei ausmacht. Denn die Tierschutzpartei ist eine Single-Issue-Partei. Sie tritt ausschließlich für Tierschutz und Tierrechte ein. Das Erscheinungsbild der Partei ist überschaubar. Die zusammengenommen rund 1,1 Millionen Mitglieder der CDU und SPD dürften es in dieser Hinsicht schwerer haben. Als selbst erklärte Volksparteien stehen CDU und SPD weder für die Interessen einer ganz bestimmten sozialen Gruppe ein, noch wird ihr Handeln durch ein singuläres Thema bestimmt. Im Gegenteil. Ihr Anspruch ist es, möglichst viele Menschen unterschiedlicher Herkunft, Ausbildung, sozialem Status und Konfession anzusprechen. Dementsprechend vielfältig ist das inhaltliche Angebot der Parteien, dementsprechend unübersichtlich ihr Erscheinungsbild. In diesem Zusammenhang drängte sich folgende Hypothese auf: Je länger es eine Partei gibt, je mehr offizielle und inoffizielle Selbstbeschreibungen der Partei sich im Umlauf befinden, je länger und umfangreicher diese Selbstbeschreibungen sind, je größer eine Partei ist, je mehr Personen und offizielle Repräsentanten für die Partei in der Öffentlichkeit sprechen, je länger sich eine Partei in Regierungsverantwortung befindet, je mehr politische Ebenen und Arenen von einer Partei abgedeckt werden, je länger und intensiver eine politische Partei im medialen Fokus der Öffentlichkeit steht, je länger also eine Partei den Status einer Volkspartei hat, desto größer wird die „Anzahl“ jener Eigenschaften sein, die im Erscheinungsbild einer Partei vorhanden sind und mit denen man eine Partei in Verbindung bringen kann.
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
Aus dieser Vielfalt kann für den Betrachter einer Partei, z. B. das Mitglied, das Problem entstehen, innerhalb dieses Erscheinungsbildes eine basale Relevanzordnung herzustellen. Es kann zumindest eine Herausforderung werden zu sagen, welche Eigenschaften zum Kernbestand, zum viel zitierten Markenkern gehören und welche Merkmale vielleicht weniger wichtig sind. Die Konstruktion organisationaler Identität ist eine Strukturgenerierung, die zwischen wichtigen und unwichtigen bzw. zwischen zentralen und marginalen Eigenschaften im Bild von der eigenen Partei unterscheidet. So entsteht das, was Zentralität genannt werden kann. Das Problem Diffusion käme dann ins Spiel, wenn (je nach theoretischer Perspektive) die Zuschreibung der Bedeutung „zentral“ zu bestimmten Merkmalen nicht mehr vorgenommen werden kann bzw. es schwierig wird, zwischen wichtigen und unwichtigen Merkmalen der Partei zu unterscheiden.
Abbildung 11: „Wortwolken“ zu den Begriffen CDU und SPD36 Vielleicht sollte in diesem Zusammenhang auch noch vermerkt werden, dass es sich bei problematischer Zentralität weniger um das Problem handelt, dass sich die Mitglieder auf eine bestimmte, benennbare Eigenschaft (soziale Gerechtigkeit) als Kern einigen können. Es geht ergo nicht um das Problem, einen organisationsinternen Konsens, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Sondern es geht darum, überhaupt eine Relevanzordnung herzustellen, überhaupt sagen zu können: Im Erscheinungsbild der SPD sind (mir) die Merkmale „a“ und „b“ und „c“ wichtig, im Gegensatz zu den Merkmalen „h“, „i“ und „j“. Die Ausdifferenzierung der Kategorie „problematische Zentralität“ deckte eine interessante inhaltliche Unwucht auf, die auch in der Abbildung deutlich wird. Während es schwierig war, anhand der gefundenen Textstellen das „Problem Zentralität“ in seiner Gestalt auszuarbeiten, konnten die Ursachen des Prob36 Quelle: http://www.spd.de/linkableblob/1778/data/hamburger_programm.pdf.
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lems sehr wohl ausdifferenziert werden. Mit anderen Worten sagten die Mitglieder wenig über das Problem „an sich“, dafür aber mehr über dessen Zustandekommen. Insgesamt fanden sich 12 Zitate, in denen die befragten Parteimitglieder das Problem einräumten, dass es schwierig geworden ist, im Erscheinungsbild von der eigenen Partei jene Merkmale zu definieren, die den Kern konstituieren. Diese 12 Zitate stammen von 12 unterschiedlichen Fällen, damit sind 48 Prozent der befragten Mitglieder betroffen. Die CDU-Mitglieder sind besonders häufig vertreten. Während Konvergenz gleich auf beide Parteien verteilt ist, Widersprüche vor allem für die SPD und ihre Mitglieder ein Problem sind, haben besonders Mitglieder der CDU Probleme, den Kern der eigenen Partei auszumachen. Nimmt man nun, wie anderenorts bereits praktiziert, die Anzahl der zugeordneten Zitate als Indikator für ihren grundsätzlichen Stellenwert im Sample, so kann die Kategorie „problematische Zentralität“ bestenfalls einen Mittelfeldplatz beanspruchen. Die „Kernfindung“ ist also durchaus ein Problem, das allerdings im qualitativen Sample nicht jene starke Verankerung aufweist, wie etwa die bereits vorgestellten Kategorien Konvergenz oder Widersprüchlichkeit. Diffusion Kern Unterkategorien Problembeschreibung generell Problemerklärung davon Kontingenz intern davon interne Kommunikation davon Kontingenz extern davon Komplexität
Zitate gesamt 12
Fälle gesamt 12
Fälle CDU 9
Fälle SPD 3
10
7
6
4
4
3
3
-
4
4
1
3
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1
-
1
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1
Tabelle 9: Diffusion Kern Unterkategorien Eingangs wurde geschrieben, dass das Problem mit der Reduktion des Erscheinungsbildes auf einen inhaltlichen Kern hin „eingeräumt“ wurde. Das Verb des Einräumens wurde nicht zufällig gewählt. Bei fast allen der angesprochenen 12 Zitate handelte es sich nicht um ausführliche Umschreibungen eines Problems, so wie man es beispielsweise aus der Kategorie Konvergenz kannte. Eher stellten die gefundenen Textpassagen ein Zugeben oder Zugestehen eines abstrakten
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
Problems dar. Oft äußerte sich „problematische Zentralität“ nicht in verbalen Aussagen, sondern z. B. in langen Nachdenkpausen, wie z. B. bei Wilhelm Donsbach von der CDU Hessen. Er wurde gefragt, was denn die CDU persönlich im Kern ausmache. Die Antwort lautete: „Mhm [längere Pause] Ja, wie soll ich, wo soll ich anfangen?“ Daraufhin der Interviewer: „Einfach spontan“. Dann Donsbach: „[längere Pause] Wo soll ich da anfangen?“. Meistens waren die erfassten Zitate direkte Antworten auf die Fragen des Interviewers. Wie sollte man mit solch knappen Antworten, die in der zweiten Spalte der Tabelle nachzulesen sind, umgehen? Wie bereits mehrfach angesprochen, ist der Forscher in qualitativen Designs den Relevanzsetzungen des Feldes ausgeliefert und muss akzeptieren, wenn manche Themenbereiche nur knapp angesprochen werden. Zunächst wurde noch überlegt, eine Trennung in zwei weitere Unterkategorien („gegenständlich“ und „abstrakt“) vorzunehmen. Wobei es bei näherer Analyse nicht gelingen wollte, überhaupt noch eine gegenständliche Ebene auszumachen. Am ehesten war dies noch in einem Zitat von Sebastian Dreier von der CDU Baden-Württemberg der Fall, der von „der Bundesebene“ sprach. Das war aber das einzige Zitat. Unter diesen Voraussetzungen machte eine Trennung in Kategorien wenig Sinn. Es fiel auf, dass Mitglieder überhaupt Schwierigkeiten damit zu haben schienen, die Problematik in Worte zu fassen. Als Beispiel sei das Zitat von Erik Immels angeführt: „Manchmal, ja [Pause] aber wenn man sich, also, spontan, wenn man, würde ich sagen: manchmal ja“. Im Vergleich gab es andere Diffusionsdimensionen, die leichter „über die Lippen gingen“. Bedenkt man nun noch die Tatsache, dass relevante Textstellen meistens auf direkte Nachfragen des Interviewers entstanden, besteht die Möglichkeit, dass das Phänomen vielleicht gar nicht existent ist und nur durch die Nachfragen erzeugt wurde. Denn die Spielart des diskursiven Interviews nach Carsten Ullrich birgt das Risiko, dass durch ein situativ erforderliches offensives Nachfragen eine Suggestivkraft entfaltet wird, der sich die Befragten nicht entziehen können (dazu auch Kapitel 3.2). Die Möglichkeit einer Verzerrung durch den Befragten soll hier offen eingeräumt werden. Dagegen spricht allerdings, dass zwar die Beschreibung des Kernproblems durch die knappen Zitate schwierig bleibt, es aber durchaus längere Textpassagen gibt, in denen das Problem erklärt wird. Insgesamt lassen sich aus dem empirischen Material drei Unterkategorien herausschälen. Da wäre erstens die Unterkategorie Grundsätzliche Komplexität. Basale politische Zusammenhänge erscheinen als so kompliziert, dass es überhaupt schwer ist, einen Kern auszumachen in der Partei. Ferner könnte man zweitens von einer Unterkategorie sprechen, die den Namen Kontingenz trägt. Eine Relevanzordnung kann demnach zwar in Bezug auf die Eigenschaften im Erscheinungsbild der eigenen
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Partei hergestellt werden. Gleichsam aber kommt dieser Ordnungskonstruktion keine rechte „Geltung“ mehr zu, sie erscheint variabel, andere Ordnungen wären möglich, in diesem Sinne erscheint die Ordnung kontingent. Das kann Gründe haben, die (2.1) innerhalb oder (2.2) außerhalb der Partei liegen. Schließlich wäre (3.) von Problemen in der internen Kommunikation zu sprechen. In diesen Zitaten wird, auch wenn der Begriff etwas zu scharf erscheint, auf das „Versagen“ interner Kommunikation im Sinne interner Komplexitätsreduktion verwiesen. Komplexität meint auf der Basis des vorgefundenen empirischen Materials vor allem eine Unübersichtlichkeit von politischen Zusammenhängen in der praktischen Politik. Im Gegensatz zu Kleinparteien mit Single-IssueOrientierung sind gerade die Volksparteien seit langer Zeit mit allen vertikalen Ebenen politischer Praxis verknüpft. Sie agieren sowohl auf der Ebene der Europapolitik über ihre Beteiligung an Fraktionen (Progressive Allianz der Sozialisten und Demokraten im Europäischen Parlament, Europäische Volkspartei), auf der Ebene des Bundes als Mitglied der Regierungskoalition (es gab bislang keine Regierung ohne Beteiligung mindestens einer Volkspartei), auf der Ebene der Länder (auch dort sind keine Regierung ohne Beteiligung von CDU oder SPD zu finden) und der Kommune. Auch wenn es auf der untersten Ebene spätestens durch die Freien Wähler zu einem Verlust des Gestaltungsmonopols der Volksparteien gekommen ist, sind die Volksparteien weiter wichtige Akteure in der kommunalen Selbstverwaltung. Auf jeder dieser Ebenen wirken Parteien in den unterschiedlichsten Politikfeldern, von der Politikverflechtung im politischen Mehrebenensystem der Bundesrepublik gar nicht zu sprechen. Ein Beobachter muss von dieser Vielfältigkeit überwältigt sein. Zumindest wird es für ihn schwierig, diese Wirklichkeit so zu verarbeiten, dass eine Partei auf einen inhaltlichen Kern hin reduziert werden kann. In diesem Sinn wurde das Zitat von Rico Bach interpretiert, einem Mitglied der SPD Brandenburg: Hinzu kommt also, dass Politik, bis herunter auf die kommunale Ebene, eine solche Komplexität erreicht hat, die für viele Konsumenten schwer zu erfassen ist. Und für Bürger, die sich bloß in Teilgebieten noch einbringen, für die nur noch das Teilgebiet voll erfassbar ist. Auch nicht mehr in der großen Spannbreite. Diese ganz extreme Spezialisierung, die Einzug gehalten hat, die macht so einer Volkspartei natürlich extrem zu schaffen. Eigentlich könnten wir für alles sein.
Der Begriff der Kontingenz ist in der Soziologie durch Niklas Luhmann bekannt geworden. Nach Luhmann (1984: 152) ist Kontingenz „etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (zu Erfahrendes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen“.
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
Kontingent kann auch die Vorstellung vom „Wesenskern“ der eigenen Partei sein. Zwar kann ein Kernelement benannt werden, ob nun soziale Gerechtigkeit oder Christlichkeit. Gleichsam aber ist auch ein ganz anderer Kern möglich, denkbar. So ist die eigene Idee vom Kern immer in ihrer „Geltung“ bedroht. Für diese Erosion von Geltung finden sich Anhaltspunkte im empirischen Material, die sowohl parteiextern als auch parteiintern zu suchen sind. Die Kategorie der „parteiexternen“ Gründe ist eindeutig schwächer im empirischen Material verankert. Es geht hier nur um das Einräumen, dass es „dort draußen“ auch noch andere Vorstellungen vom Kern der Partei gibt. Gefragt nach dem Kern der CDU, aus seiner persönlichen Sicht, antwortet Mike Möllenhauer von der CDU Berlin: „Das ist natürlich ein Problem. Weil jeder seinen ganz persönlichen Kern sieht. Der eine sieht in der CDU etwas ganz anderes als der andere“. Die Vorstellung, dass außer dem eigenen Identitätskonzept noch andere Identitätskonzepte existieren, führt zu einem „Problem“. Es geht in dem Zitat nicht unbedingt nur um Mitglieder der CDU. Überraschenderweise wird der Einfluss der Medien nicht thematisiert. Das Gefühl von Kontingenz in Bezug auf die eigene Konstruktion von Zentralität resultiert auch aus Dynamiken, die innerhalb des Kosmos Volkspartei zu suchen sind. So ist die Position bzw. der Rang jener Werte, die aus persönlicher Sicht zum Kernbestand der eigenen Partei gehören, innerhalb der Partei nicht zementiert, sondern unterliegt immer wieder parteiinternen Aushandlungsprozessen, ist in diesem Sinn Verhandlungssache. Deutlich wird das an der Diskussion um die Grundsatzprogramme, z. B. bei der CDU. Für Mike Möllenhauer (CDU Berlin) gehört der Wert der „Gerechtigkeit“ zum Kernbestand der CDU. Gleichsam muss das Mitglied einräumen: „Wobei auch gerade dieser Punkt der Gerechtigkeit, da wird schon wieder gestritten, wo der nun im Programm seinen Platz hat“. Die eigene Vorstellung vom Kern der Partei, der man angehört, muss nicht mit den Vorstellungen anderer Menschen in der Partei übereinstimmen. Schließlich ist das Meinungsspektrum innerhalb einer großen Volkspartei sehr breit. „Es ist überhaupt schwierig zu sagen, für was eine Partei, oder welche Maxime eine Partei tatsächlich als ganz harte Aussagen vertritt und zwar dann auch in großer Geschlossenheit“, sagt Hans-Peter Reller (CDU BadenWürttemberg). In der CDU gebe es „eben nicht die eine CDU-Meinung schlechthin. Sondern das ist eine Bandbreite. Und die ist in einer Volkspartei sehr, sehr weit“. Das merkt Stefan Schmitt (CDU-Berlin) an. Es folgt der Wunsch nach interner Komplexitätsreduktion: Und dann ist es, für eine Partei ist es wichtig, dass einige grundlegende Ansätze auch sehr dezidiert vertreten werden, damit ein solcher Meinungsbildungsprozess immer wieder voranzutreiben. Wenn es den nicht gibt, dann erlahmt alles. Und nivelliert sich in einem merkwürdigen Grau.
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Die Konstruktion von Zentralität kann schließlich auch dann zum Problem werden, wenn diese im Vorgängerzitat angesprochene und angemahnte Komplexitätsreduktion nicht mehr richtig funktioniert. Es zeigt sich, dass die parteiinterne Kommunikation, eigentlich mit der impliziten Funktion interner Komplexitätsreduktion ausgestattet, de facto einen „Informationsoverkill“ herbeiführt.37 Annegret Bott (SPD Hessen) präzisiert dieses Problem hinsichtlich ihrer Partei. Weil ich auch finde, dass die SPD so eine ‚Zumüllpartei‘ ist, wie ich sagen würde. Die schickt mir dauernd irgendwelche Heftchen, andauernd. Fraktion intern, dann die SPD-Fraktion im Bundestag, die Landesfraktion, dann den Vorwärts und dann das Heftchen, dann wieder ein Magazin, dann einen Spendenaufruf. Die müllen, also ich finde, die müllt mich schon ganz schön zu.
Von ähnlichen Problemen weiß auch ein anderes SPD-Mitglied, Marius Löffler, zu berichten. Da gibt es die Homepage der Abteilung, der Kreis, das Land hat eine, dann SPD-online. Die Mitglieder der SPD haben eine. Beim Wahlkampf ist das ganz problematisch. Mit den Förderkreisen. Und Künstler für die SPD, oder Unternehmer für die SPD. Da hat jeder seine Homepage. Da wird so was von verlinkt. Wenn ich SPD bei Google eingebe. Die Medienpräsenz ist einer der ganz wichtigen Punkte.
4.1.4
Ohne „roten Faden“ – schwierige Kontinuität
Organisationale Identität besteht auch in jenen Eigenschaften und Merkmalen, die an einer Organisation im Laufe der Zeit „gleich bleiben“, zumindest im Auge des Betrachters. Eine Diffusion kommt in Bezug auf die Identitätsdimension Kontinuität dann ins Spiel, wenn sich Merkmale und Eigenschaften im Erscheinungsbild der Partei verändern, und zwar in der Weise, dass ein Wiedererkennen (dieser Merkmale) durch die „Beobachter“ der Partei schwierig wird. Damit geht es letztlich um den Wandel von Parteien und die Frage, wie Mitglieder diesen 37 Erfolgreiche Komplexitätsreduktion wird durch eine Einfachheit der Sprache befördert. Auch hier sind die Parteien nicht richtig erfolgreich. Eine Studie der Universität Hohenheim untersuchte die Wahlprogramme zur Bundestagswahl 2009. Die Wissenschaftler kamen zu dem Schluss, dass der Großteil der Programme vollkommen unverständlich sei. Die Parteien gäben sich wenig Mühe, den Wählerinnen und Wählern ihre Politik verständlich zu machen. Die Programme wirkten, als nutzten die Parteien dieses wichtige Mittel der Kommunikation mit den Bürgern gerade dazu, ihre Absichten zu verschleiern. Als Verstöße gegen sprachliche Klarheit werteten die Forscher u. a. Schachtelsätze, Fachsprache, eine Häufung von Fremdwörtern, zu hohe Ideendichte und begriffliche Inkonsistenzen. Begriffe wie „Konversionsprogramme“ (Linke) und "Corporate Social Responsibility" (SPD) verstünden nach Auffassung der Forscher nur wenige. Ebenso wenig sei klar, was Deutschland als „landwirtschaftlichen Gunststandort“ (FDP) auszeichne oder warum der „Mittelstandsbauch“ nun eigentlich „abgeflacht“ (Union) gehöre (vgl. https://komm.unihohenheim.de).
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
Wandel wahrnehmen. An den Haaren herbeigezogen ist diese Problemstellung nicht, denn die inhaltliche Wandlungsfähigkeit einer Partei gehört zu ihren Überlebensvoraussetzungen. „Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, dass sich alles verändert“, heißt es im Roman Der Leopard von Giuseppe Tomasi di Lampedusa. Diese Maxime, die der italienische Schriftsteller als Überlebensstrategie des sizilianischen Landadels im Strudel des Risorgimento formulierte, darf auch für die politischen Parteien der Gegenwart gelten. Wollen Parteien Macht und Einfluss wahren, kann es notwendig werden, Grundwerte, konstitutive Normen, gesellschaftliche Idealvorstellungen, Programmatik und Positionen in Politikfeldern einer Generalüberholung zu unterziehen. Dieser (in der Parteienforschung viel diskutierte) „Party Change“ kann im Prinzip durch Partei-interne Impulse (z. B. Wechsel des Führungspersonals) und Partei-externe Impulse (soziale, ökonomische oder politische Veränderungen in der Umwelt der Partei) vorangetrieben werden. Robert Harmel und Kenneth Janda (1994: 267ff.) vertreten die Auffassung, dass sich die weitreichendsten Veränderungen einer Partei tatsächlich durch Reaktionen auf „externe Schocks“ vollziehen. Ein Schock kann als Ereignis aufgefasst werden, das sich auf zentrale Zielsetzungen der Partei auswirkt und dazu führt, dass Parteien die Modi der Zielerreichung überdenken. Der Wandel von Parteien ist also auch an die Art der Parteiziele geknüpft. Besteht das vorrangige Ziel einer Partei darin, auf dem Wählermarkt möglichst erfolgreich zu sein, kann ein Schock in (als bedeutend aufgefassten) Verlusten an Wählerstimmen bestehen. Janda und andere (1995: 189ff.) wiesen in einer empirischen Studie nach, dass sich eine „party identity“ auch an Wahlergebnissen ausrichtet. Wahlniederlagen führten zwar nicht zwangsläufig zu einer Änderung der „programmatischen Identität“ einer Partei, aber wenn es zu einem solchen Wechsel komme, sei ein schlechtes Abschneiden bei der vergangenen Wahl vorausgegangen. Der programmatisch-inhaltliche Wandel der beiden deutschen Großparteien CDU und SPD kann an dieser Stelle kaum angemessen diskutiert werden. Was die Ursachen des Wandels anbelangt, so hat die These von Harmel und Janda auch in der jüngeren Vergangenheit einiges für sich. Die CDU rutschte bei den Bundestagswahlen 1998 mit 35,1 Prozent der Stimmen erstmals seit 1949 unter die 40-Prozent-Marke und fand sich nach 16 Jahren ununterbrochener Regierungsverantwortung auf der harten Oppositionsbank wieder. Diese Niederlage beförderte nicht nur einen personellen Neubeginn – der natürlich durch einen internen Impuls, den Parteispendenskandal, beschleunigt wurde. Die Schlappe von 1998 wurde auch zum Startpunkt einer inhaltlichen Neuorientierung, die einige Wendungen nahm und bis heute nicht abgeschlossen ist. Deutlich werden die Häutungen der CDU z. B. an ihrer Auffassung zur Rolle des Staates im wirt-
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schaftlichen Subsystem. Die Beschlüsse des Leipziger Parteitags von 2003 waren noch von der Maxime geprägt, dass sich der Staat aus den Bereichen der Wirtschafts- und Sozialpolitik zurückziehen müsse. Diese Position wurde nach dem knappen Wahlausgang 2005 und der weltweiten Wirtschafts- und Finanzmarktkrise 2008 sukzessive revidiert. Inhaltliche Bruchlinien zeigt die CDU der Gegenwart auch in den Politikfeldern Familie und Umwelt. Noch 1979 erklärte der damalige Oppositionsführer Helmut Kohl: „Die Gegner der Atomenergie sind Reaktionäre. Sie wenden sich gegen den Fortschritt“. Bis in die 1980er Jahre hinein wurde die Entwicklung der Kerntechnik von Schwarz-gelb massiv subventioniert. Heute bekennt sich die CDU zu ambitionierten Klimaschutzzielen und weist der Atomkraft bestenfalls eine „Brückenfunktion“ zu, bis andere, saubere Energieträger ähnliche Leistungen erbringen. Auch die inhaltlichen Wandlungen der SPD lassen sich als Reaktion auf externe Schocks lesen. Die Agenda-Politik der Regierung Schröder war allerdings keine Replik auf eine Wahlniederlage, sondern eine zumindest als alternativlos empfundene Reaktion auf die Überlastung der Sozialsysteme. Zu Beginn der 2000er Jahre befanden sich die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland, wie fast in allen westlichen Demokratien, im Finanzierungsnotstand. Hintergrund dieser Situation war das Zusammenfallen von zwei Faktoren. Einerseits beschrieb die demografische Entwicklung eine zunehmende Alterung der Gesellschaft, die zur Folge hat, dass die Bezugsdauer von Renten und Pensionen immer länger wird. Andererseits nahm die Zahl der Beschäftigten ab. Im Agenda-Jahr lag die Arbeitslosenquote bei 11,6 Prozent. 2005 wurde der Rekordwert von 13 Prozent erreicht. Diese Gemengelage ließ den Reformdruck für die Regierungsparteien immer weiter steigen. In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag erklärte Gerhard Schröder im Jahr 2003 die Agenda 2010: Die Struktur unserer Sozialsysteme ist seit 50 Jahren praktisch unverändert geblieben. An manchen Stellen, etwa bei der Belastung der Arbeitskosten, führen Instrumente der sozialen Sicherheit heute sogar zu Ungerechtigkeiten. Zwischen 1982 und 1998 sind allein die Lohnnebenkosten von 34 auf fast 42 Prozent gestiegen. Daraus ergibt sich nur eine Konsequenz: Der Umbau des Sozialstaates und seine Erneuerung sind unabweisbar geworden. Dabei geht es nicht darum, ihm den Todesstoß zu geben, sondern ausschließlich darum, die Substanz des Sozialstaates zu erhalten. Deshalb brauchen wir durchgreifende Veränderungen.
Wurde der Agenda-Kurs der rot-grünen Bundesregierung von Kritikern als neoliberale Wende der SPD begriffen, die ihre ideologische Entsprechung im sog. „Schröder-Blair-Papier“ hatte, so sprechen in diesen Tagen viele politische Beobachter von einer gegenläufigen Bewegung. Nach dem „Schock“ durch die Bundestagwahl 2009 – die SPD erzielte mit 23 Prozent ihr schlechtestes Bundestagswahlergebnis überhaupt – gerieten viele politische Positionen auf den Prüfstand. Schon auf dem ersten SPD-Parteitag nach der Wahlniederlage, dem Par-
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
teitag der Berliner SPD im Oktober 2009, diskutierten die Mitglieder über Änderungen bei Hartz IV, eine Abkehr von der Rente mit 67 und eine Öffnung zur Linkspartei auf Bundesebene.
Abbildung 12: Wandel statt Stillstand – Karikatur von Klaus Stuttmann Obwohl Parteien in der Literatur gerne als Dinosaurier, mindestens aber als konservative und träge Organisationen bezeichnet werden, die gute Gründe haben, sich Wandlungsprozessen zu verschließen (Harmel 2002), so müssen Parteien sich wandeln, um zu bestehen. Die deutschen Großparteien CDU und SPD sind hier, wie gerade angedeutet, sicher keine Ausnahme. Dieser Wandel kann in neuen programmatischen Schwerpunkten zum Ausdruck kommen, ebenso im Wandel grundsätzlicher Einstellungen bei abgrenzbaren politischen Themen. Auch das Besetzen neuer Themen, die früher kaum mit einer Partei in Verbindung gebracht wurden, kann Ausdruck von „Party Change“ sein – und natürlich auch der bewusst vorangetriebene Bedeutungswandel zentraler Leitbegriffe, vom christlichen Menschenbild bis zur sozialen Gerechtigkeit. Da nun aber „Party Change“, ebenso wie die Termini Wandel, Kontinuität und Identität, ein abstrakter Begriff ist, der an sich keine inhaltlichen Ebenen vorgibt, müssen die Schat-
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tierungen des Wandels aus der Wahrnehmung der Mitglieder herausgearbeitet werden. Bei der Perzeption von „Party Change“ durch die Mitglieder ist vorab zu konstatieren, dass der Wandel von Parteieigenschaften auf vielen denkbaren Ebenen kein großes Thema bei den befragten Mitgliedern ist. So konnten der Kategorie „problematische Kontinuität“ nur 14 Zitate zugeordnet werden. Diese 14 Textpassagen stammen von insgesamt 12 Einzelfällen. Dies wären zwar 48 Prozent der Befragten. Verglichen mit den anderen Kategorien belegt die Kategorie „problematische Kontinuität“ nach der Anzahl der ihr insgesamt zugeordneten Zitate mit Abstand einen hinteren Rang. Bei der Perzeption von „Party Change“ durch die Mitglieder ist vorab zu konstatieren, dass der Wandel von Parteieigenschaften auf vielen denkbaren Ebenen kein großes Thema bei den befragten Mitgliedern ist. So konnten der Kategorie „problematische Kontinuität“ nur 14 Zitate zugeordnet werden. Diese 14 Textpassagen stammen von insgesamt 12 Einzelfällen. Dies wären zwar 48 Prozent der Befragten. Verglichen mit den anderen Kategorien belegt die Kategorie „problematische Kontinuität“ nach der Anzahl der ihr insgesamt zugeordneten Zitate mit Abstand einen hinteren Rang. Diffusion Kontinuität
Zitate gesamt 5
Fälle gesamt 5
Fälle CDU 2
Fälle SPD 3
Beziehung zu Gruppen
4
4
-
4
Positionen in Politikfeldern
2
2
2
-
Positionen in programmatischen Schriften
2
2
1
1
Grundwerte der Partei
1
1
1
-
Allgemein
Tabelle 10: Diffusion Kontinuität Wie die Übersicht aufzeigt, gibt es in Bezug auf die Kategorie „problematische Kontinuität“ fünf inhaltliche Ebenen. Wie bei anderen Dimensionen von Diffusion organisationaler Identität auch, so findet sich erstens eine allgemeine Ebene. Sodann wurde zweitens eine Ebene der Grundwerte identifiziert. Drittens findet sich eine Veränderung in den wahrgenommenen Positionen der Parteien in aktuellen Politikfeldern sowie viertens in Positionen im Programm. Schließlich kann fünftens auch von einer Ebene des Wandels gesprochen werden, die mit der Beziehung der Parteien zu wichtigen Bezugsgruppen zu tun hat. Nichtsdestotrotz spielen, was die Anzahl der zugeordneten Zitate anbelangt, faktisch nur zwei
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
Ebenen eine Rolle. Dabei handelt es sich um die „allgemeine“ Ebene und die Beziehung der Partei zu bestimmten Bezugsgruppen. Bemerkenswert ist, dass in dieser zweiten dominanten Kategorie überwiegend Zitate von SPD-Mitgliedern zu finden sind. Ein Gefühl, das sich die Parteien geändert haben, lässt sich bei einigen Mitgliedern rekonstruieren. Allerdings bleibt diese gefühlte Transformation inhaltlich vage: Wenn Mitglieder während der Interviews davon sprachen, dass es ihnen schwerfällt, den roten Faden in Bezug auf das Erscheinungsbild der eigenen Partei zu beschreiben, dann war dies in den meisten Fällen ein genereller Eindruck, der nicht weiter an Beispielen festgemacht wurde. „Ich denke, diese Partei verändert sich kontinuierlich und man kann nicht sagen, die hat sich auch in früheren Jahren verändert. Verändert hat die sich schon“, erzählt Berta Brehmer von der Hessen-SPD. Ein ähnlich unbestimmtes Gefühl kommt im Zitat von Jürgen Rohland (CDU Berlin) zum Ausdruck. „Und so ihr eigenes Profil, mehr Wiedererkennbarkeit zu verschaffen. Den sehe ich im Moment weder bei der SPD, noch bei der CDU, so richtig. Und ich weiß aber auch nicht, wo da jetzt die große Trendwende kommen wird [lacht]“. Eine Domäne der SPD und ihrer Mitglieder ist die Ebene „Bezug zu wichtigen Gruppen“. Parteien können zu Gruppen in weitestem Sinn – seien dies Institutionen oder soziale Milieus – besondere Beziehungen aufbauen. Auch diese Beziehungen können einer Veränderung anheimfallen. Die Mitglieder der SPD haben hier eindeutig die Institution der Gewerkschaften und die Schicht der Arbeiter im Blick. Vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren gab es einen Schulterschluss mit den Gewerkschaften, den bekam keiner auseinander. Mittlerweile ist die Frage, ist das ganz schwierig, mit den Gewerkschaften irgendwie einen Modus zu finden, miteinander zu reden,
erzählt Ute Bürger (SPD-Brandenburg). Ihr Parteifreund Joachim Bork von der Hauptstadt-SPD sieht diesen Sachverhalt ähnlich: „Und das ist eigentlich eine Konstante, dass die SPD und die Gewerkschaften verwoben sind. Oder dass es da diese Traditionslinie gibt. Und auf der anderen Seite ist diese Konstante natürlich ganz stark in der Auflösung“. Neben den Beziehungen zur Gewerkschaft hat sich auch der Bezug zur sozialen Schicht der Arbeiter verändert. Während sich Kontinuitätsbrüche im Erscheinungsbild der Partei für die SPD-Mitglieder vor allem im Wandel der Beziehungen zu (sozialen) Gruppen manifestieren, nehmen die Mitglieder der CDU vor allem den Wandel in Politikfeldern wahr, auch wenn dieser Wandel angesichts von nur zwei Zitaten nicht wirklich tief im Material verankert ist. Allerdings überschneiden sich beide Passagen inhaltlich. Es geht um die Familienpolitik der Union. Dazu sagt Ingrid Herrmann von der hessischen CDU: „Die von der Leyen bringt andere Muster hinein, und was im Bewusstsein der Bevölkerung auch legalisiert ist heute. Die-
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ses lockere Zusammenleben ohne Trauschein. Das war noch vor 30 Jahren undenkbar, naja.“ Leider umschreibt Frau Herrmann diese Muster nicht weiter. „Bei dem Programm sind Themen angesprochen, gerade was die Außenpolitik, ist ja auch völlig neu, definiert, im Vergleich zum letzten. Die Einsätze der Bundeswehr waren damals völlig undenkbar. Das ist natürlich im Grundsatzprogramm jetzt auch verändert“, erklärt Frank Schattschneider von der SPD Berlin. So vollzieht sich der Wandel im Erscheinungsbild der SPD aus der Sicht ihrer Mitglieder nicht nur in Bezug auf tagespolitisch aktuelle Themen, sondern auch hinsichtlich grundlegenderer programmatischer Positionen. Die CDU-Mitglieder haben hier zwar andere inhaltliche Schwerpunkte, aber die Ebene des programmatischen Wandels bleibt gleich. „Das sind Kernbegriffe, die sind richtig, auch heute noch. Das ist aber durch den Wahlkampf 2005 und dem knappen Wahlsieg verloren gegangen“. Matthäus Daininger meint damit u. a. das Eintreten der CDU für eine deutsche Leitkultur und eine Politik, die auf eine deutliche Entlastung des Faktors Arbeit setzt. Beide Punkte seien früher wichtige Elemente in der Selbstdarstellung der Partei gewesen. Heute hingegen lege die eigene Partei auf diese Punkte keinen Wert mehr. Es bleibt zu erwähnen, dass die Transformation des Erscheinungsbildes einer Partei so gut wie gar nicht in Bezug auf Grundwerte und etwa deren möglichen Bedeutungswandel diskutiert wird. Nur im Zitat von Gert Feuerbach (CDU Baden-Württemberg) taucht diese Ebene auf. Und im Grunde hätte dieses „C“ und auch diese christliche Grundorientierung beinhaltet eine unheimliche Chance, weil, wenn Sie so wollen, noch immer was in sich trägt, was [?] werden muss. Aber es wird eben nicht reichen, in Gleichnis, und soundso vielen Talenten sie zu vergraben, und dann in der Not, wenn der Herr nach Hause kommt, zu sagen, ich grabe es wieder aus. Ich habe es noch, ich habe es eben [betont] nicht mehr. Das ist die Aussage. Du hast es nicht mehr. Du hast es nicht mehr, weil du es nur, weil du gemeint hast, es reicht aus, es irgendwo unter einen Glassturz zu stellen.
Den Satz „ich habe es noch, ich habe es eben nicht mehr“ kann so gelesen werden, als das es hier um einen Wandlungsprozess geht. Das, was sich aus Sicht von Herrn Feuerbach verändert hat, ist, dass die CDU früher eine christliche Grundorientierung hatte. Heute ist diese christliche Grundorientierung nicht mehr zu erkennen. Kontinuitätsbrüche im Erscheinungsbild der Parteien werden nicht nur eingeräumt, sondern – zumindest in Ansätzen – auch erklärt. Die Mitglieder beider Parteien sehen den Wandel der eigenen Partei vornehmlich durch den Wandel des gesellschaftlichen Umfeldes der Parteien veranlasst, also in der Sprache der Parteienforschung eher durch externe Impulse. Dort vollziehen sich Transformationsprozesse, denen sich die Parteien nolens volens anpassen müssen. Für die CDU-Mitglieder haben sich vor allem die gesellschaftlichen Strukturen oder genauer: die Vorstellungen und Praxen des zwischenmenschlichen Zusammenlebens gewandelt. Hauptsächlich die Architektur der Institutionen Ehe
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
und Familie habe sich verändert. Diesen Veränderungsprozess („neue Familienstrukturen“) muss die eigene Partei zwangsläufig in ihrem Programm, aber auch im praktischen Handeln abbilden. Mitglieder der SPD thematisieren hingegen eher sozialstrukturelle Transformationsprozesse, weg von einer klaren Klassenstrukturierung mit einer deutlich identifizierbaren Arbeiterschicht hin zu einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft der „Neuen Mitte“. Die eigene Partei müsse auf diese Veränderung zwangsläufig reagieren und Positionen der Neuen Mitte aufnehmen. Dabei bleiben Zweifel zurück, wie Marius Löffler (SPD Berlin) anmerkt: „Und der, was sich verändert hat, ist, das ist vielleicht ein Fehler der SPD, die Arbeiterschaft ist weggebrochen, und da hat sie sich nicht schnell genug drauf eingestellt. Und ob die ‚Neue Mitte‘ ein Ersatz ist für unsere alte Klientel, ist eine große Frage“. 4.1.5 Bilanz der kategoriellen Inhaltsanalyse Es gehörte auch 2009 zu den Alltagsroutinen der politischen Parteien im Wahlkampf, dass sich ihre Protagonisten gegenseitig mit Vorwürfen überzogen. Bei den Attacken ging es nicht nur um unterstellte Inkompetenzen in bestimmten Politikfeldern oder um angebliche Reformverweigerungen. So rief Angela Merkel ihren Anhängern auf der Wahlkampfauftaktveranstaltung der CDU in Düsseldorf im September 2009 zu, dass die SPD unter einer „Identitätskrise“ leide. „Sie befinden sich in einem Identitätskampf zwischen Ampel, Rot-Rot-Grün, Großer Koalition und einer riesigen inneren Zerrissenheit in sich selbst“, sagte Merkel. Ihr selbstbewusstes Fazit: „Gönnen wir ihnen eine Pause und zwar in der Opposition“. Die Delegierten klatschten laut.38 Etwa zur gleichen Zeit gab Franz Müntefering der Tageszeitung Die Welt ein Interview. Darin warf der damalige SPD-Vorsitzende Angela Merkel vor, dass die Bundeskanzlerin ihre eigene Partei in eine „Identitätskrise“ stürze. Zwar hätten alle politischen Parteien immer wieder Klärungsbedarf, was ihre Identität angehe. „Aber bei der CDU/CSU geht das tiefer. Und das Versagen von Frau Merkel ist es, dass sie diese Diffusion bei der Union vergrößert“. Wir wissen natürlich nicht, was genau Angela Merkel und Franz Müntefering unter Identität im Zusammenhang von politischen Parteien verstehen. Aber zutreffend sind beide Einschätzungen. Beide Parteien haben tatsächlich ein Identitätsproblem. Zumindest dann, wenn man das Konzept der organisationalen Identität als Leitbegriff auswählt und eine Identitätskrise als Diffusion organisationaler Identität operationalisiert, die darin besteht, dass relevante Bezugsgruppen der Parteien, wie z. B. Mitglieder, Schwierigkeiten mit der 38 Vgl. http://www.cdu.de/archiv/2370_28539.html.
Diffusion organisationaler Identität – Phänomenologie eines Unbehagens
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Konstruktion von Zentralität, Differenz, Kontinuität und Kohärenz in Bezug auf das Erscheinungsbild der eigenen Partei haben. In der hier vorgestellten Untersuchung wurden die Großparteien CDU und SPD einer eingehenden Betrachtung unterzogen. Genauer gesagt wurde das Parteienbild der Mitglieder unter die Lupe genommen. Es war überraschend, dass Diffusion organisationaler Identität in dieser Intensität gerade bei jenen 2,5 Prozent der wahlberechtigten Deutschen vorhanden ist, deren politisches Interesse und Engagement sogar zu einem Parteieintritt und aktiver Parteiarbeit geführt hat. Eine Diffusion organisationaler Identität hätte man vielleicht gerade bei „politikfernen“ Segmenten des Elektorates erwartet. Man mag sich kaum vorstellen, wie es um das Parteienbild im Rest der Gesellschaft bestellt ist. Von einem klaren Vorstellungsbild der Bürger von ihren Parteien (vgl. Köcher 2006) mag angesichts der hier vorliegenden Pilotstudie zumindest in Bezug auf aktive Parteimitglieder nicht mehr mit dem Unterton der Selbstverständlichkeit gesprochen werden. So wie der Begriff der organisationalen Identität nach der hier verwendeten Lesart kein eindimensionaler Terminus ist, kann auch das Phänomen Diffusion organisationaler Identität mehrere Gesichter haben. Empirische Evidenz besteht in Bezug auf vier Unterdimensionen. Es gibt ein empirisch nachweisbares Problem bei Mitgliedern der politischen Parteien CDU und SPD damit, den (inhaltlichen) Kern der eigenen Partei bestimmen. Es gibt bei Mitgliedern ein empirisch nachweisbares Problem damit, die eigene Partei von den anderen Parteien (insbesondere vom jeweils anderen großen Konterpart) zu unterscheiden. Es gibt bei den Aktiven beider Parteien ein Problem damit, die eigene Partei im Lauf der Zeit als „ein und dieselbe“ wiederzuerkennen. Und es gibt ein Problem damit, das Erscheinungsbild der eigenen Partei als homogen im Sinne von widerspruchslos wahrzunehmen. Obgleich alle vier Dimensionen von Diffusion organisationaler Identität durch das Zuordnen von Textstellen zu den entsprechenden Kategorien als evident bezeichnet werden können, so ist doch ihre Evidenz, wenn man so will, unterschiedlich stark ausgeprägt. Nimmt man die Anzahl der jeweils zugeordneten Zitate als Indikator für die Relevanz der Kategorie insgesamt, so ist eine Zweiteilung zu beobachten. Wichtig scheinen vor allem die Kategorien der Differenz und der Kontradiktion zu sein. Alle anderen Dimensionen sind (unter diesem numerischen Aspekt) weniger bedeutsam. Rekurrierend auf das in Kapiteln 2.4 und 3.1 explizierte Erkenntnisinteresse kann Forschungsfrage Nr. 1 demnach wie folgt beantwortet werden: Ja, eine Diffusion organisationaler Identität ist unter den Mitgliedern beider großer Parteien nachzuweisen und sie besteht vor allem in verschwimmenden Unterschieden zwischen den Parteien als auch in Widersprüchen im Erscheinungsbild der Parteien. Im Rahmen eines qualitativen Research-Designs mit seiner vergleichsweise kleinen Zahl an Untersuchungseinheiten darf die Bedeutung von Zahlenwerten
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
und Häufigkeiten nicht überschätzt werden. Dennoch wurde, um die empirischen Ergebnisse insgesamt besser zu veranschaulichen, bei der Analyse auch auf die Anzahl der Einzelfälle geblickt. Demnach haben 16 Einzelfälle ein Problem mit den Widersprüchen im Erscheinungsbild der Partei, 17 Einzelfälle sind von Konvergenz „betroffen“. Das sind über 60 Prozent des qualitativen Samples. Auch die anderen Diffusionsdimensionen haben eine Verbreitung von 38 bis 50 Prozent der Befragten. Das zeigt deutlich: Diffusion organisationaler Identität ist keine Marginalie im Sample, sondern ein Problem, welches viele der befragten Mitglieder betrifft. Bei den (betroffenen) Mitgliedern tritt es zudem in unterschiedlicher Intensität auf. In einzelnen Fällen können sogar drei bis vier Dimensionen problematisch sein. Nur die extremen Ausprägungen minimal (keine Dimension problematisch) sowie alle vier Dimensionen problematisch, kommen im Sample nicht vor. Jenseits dieser eher numerischen Ausdifferenzierung gelang es, die Diffusionsdimensionen inhaltlich aufzugliedern. Bei der Analyse der entsprechenden Textpassagen fiel auf, dass einerseits ein allgemeines Gefühl etwa von Konvergenz oder problematischer Zentralität vorhanden war. In den übrig bleibenden Zitaten konnten je Diffusionsdimension unterschiedliche Ausprägungsebenen ausdifferenziert werden. Interessant war dabei, dass bei allen vier Diffusionsdimensionen immer wieder ein Set an fünf bis sechs Gegenstandsbereichen auftauchte, auf das sich Diffusion organisationaler Identität bezieht. Es geht um Werte, Positionen in Politikfeldern, Programmatik, konstituierende Bezugsgruppen der Parteien. Um diese inhaltlichen Eckpfeiler herum dreht sich das Identitätsproblem der Parteien. Wie diese inhaltlichen Ebenen herausgearbeitet wurden, sei am Beispiel der jeweils stärksten Dimensionen Konvergenz und problematische Kohärenz kurz dargestellt. Das Problem der Konvergenz wurde in vier Ebenen zusammengefasst. Erstens eine allgemeine Ebene, zweitens eine Ebene der Positionen in Politikfeldern, Programmatik und sonstige. Hier waren wiederum die Subebenen eins und zwei am deutlichsten ausgeprägt. Wenn es um Widersprüche geht, sind zu einem großen Teil Wertewidersprüche gemeint. In Bezug auf die Werte der SPD besteht das Widerspruchspaar in der Formel „sozial gerecht / sozial ungerecht“. Bei der CDU handelt es sich, in abgeschwächter Form, um das Gegensatzpaar „christlich / unchristlich“. Diese Widersprüche treten dann zutage, wenn die Mitglieder-Vorstellung von dem, was die eigene Partei im Kern eigentlich ausmacht (also gleichzeitig Kern von Identität) mit dem konfrontiert wird, was die Partei in der Regierungsverantwortung (in der Regel auf Bundesebene) tut. Die SPD-Mitglieder können diese Politikbereiche zum Teil sehr genau benennen. Vor allem das Reformpaket Hartz IV hat diese Widersprüche hervorgerufen, aber auch die politische Praxis im Feld der Finanzpolitik ist daran nicht unschuldig. Bei der CDU und ihren
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Mitgliedern hingegen ist das weniger einfach. Hier steht das christliche Menschenbild aber ebenso oft in Konkurrenz zur „unchristlichen“ Lösung gesellschaftlich relevanter Probleme. Zwar existieren auch Widersprüche auf der Ebene von Programmen (Programm vs. politische Praxis), auf der Ebene der Politik (eine Partei, zwei Meinungen), auf der Ebene von Bezugsgruppen und dem Außenimage der Partei. Betrachtet man aber die Gesamtzahl der Zitate im Vergleich, spielen die anderen Ebenen im empirischen Material im Vergleich zur Werteebene eine weniger wichtige Rolle. Dennoch sind sie porträtiert worden. Obwohl ursprünglich nicht durch die Fragestellung adressiert, gibt das empirische Material auch Hinweise auf mögliche Ursachenkomplexe für die Diffusion organisationaler Identität. Erfasst wurden im empirischen Material subjektive Erklärungen für die jeweiligen Diffusionsprobleme. Dabei musste in Kauf genommen werden, dass manche Diffusionsdimensionen ausführlich kommentiert wurden, während andere gar nicht oder nur sehr knapp zum Zuge kamen. Die Diffusionsdimension Konvergenz wurde besonders ausführlich kommen-tiert. Dabei kommt ein Faktor besonders zum Tragen. Es geht hier um die Zusammenarbeit der großen Parteien in der Großen Koalition, die von 2005 bis 2009 andauerte. Dieser mitgliederseitige Erklärungsansatz nährt zunächst die Vermutung, dass Diffusion organisationaler Identität der großen Parteien in der Perspektive der Mitglieder ein temporäres Phänomen darstellt, welches sich dann löst, wenn wieder „normale Verhältnisse“ hergestellt sind, insofern, dass Parteien alleine oder mit ihrem Wunschpartner regieren. Hier müssen verschiedene Einwände vorgebracht werden. Angesichts eines fluiden Fünf-Parteiensystems in West- und Ostdeutschland wird es für einzelne Parteien immer schwerer werden, eine Alleinregierung zu bilden. Interessante, heute noch ungewöhnliche Koalitionskombinationen werden in Zukunft mehr denn je an der Tagesordnung sein. Zudem ist zu vermuten, dass sich gerade auch die anderen Erklärungsfaktoren von Konvergenz, wie z. B. Positionierungsangst und Themenpolitik angesichts des Primates des Elektorates (bei den heute gängigen Parteientypen) bei einem gleichzeitig immer schwerer kalkulierbaren Wählermarkt (viele Beobachter gehen davon aus, dass die elektorale Volatilität in Deutschland in den letzten Jahren zugenommen hat und auch in Zukunft stärker werden wird) mehr denn je als eine für Parteien naheliegende Kommunikationsstrategien darstellen, die allerdings zulasten des Parteiprofils gehen werden. Die Zusammenarbeit der Parteien CDU und SPD im Rahmen der Großen Koalition führte nicht nur zum Verschwinden der Unterschiede, sondern erklärt auch zu einem gewissen Teil die Widersprüche im Erscheinungsbild der Parteien. Für die Widersprüche hingegen ist darüber hinaus auch die komplexe interne Organisationsstruktur verantwortlich. Letztere wiederum ist schuld daran, dass
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
es schwerer wird, den Kern der Parteien auszumachen. Wie auch immer man den unterschiedlichen Dimensionen von Diffusion organisationaler Identität bestimmte Ursachenkomplexe zuschreiben wird, so erscheinen diese Ursachenkomplexe alle als Makrofaktoren in dem Sinn, als das zumindest der Einflusssphäre des einzelnen Mitgliedes entzogen sind. So erscheint Diffusion organisationaler Identität à première vue als Top-Down-Wirkmechanismus, als Determinismus, indem Makrodynamiken wie Kommunikationsstrategien, programmatische Annäherungen und die Zusammenarbeit der Parteien in Politikfeldern automatisch zu jenen Konstruktionsproblemen auf der Mikroebene einzelner Mitglieder führen, die im Zusammenhang dieser Arbeit als Diffusion organisationaler Identität bezeichnet wurden. Wenn dem so wäre, müsste Diffusion organisationaler Identität bei allen Mitgliedern zu finden sein. Und in der Tat zeigt sich, wie oben schon angesprochen, dass Diffusion organisationaler Identität einen breiten Niederschlag gefunden hat. Allerdings ist Diffusion organisationaler Identität, wie wir ebenso gesehen haben, auf den Ebenen der Einzelfälle in ganz unterschiedlicher Intensität ausgeprägt. Vor diesem Hintergrund soll hier angesichts dieser empirischen Ergebnisse die Hypothese aufgestellt werden, dass es sich bei Diffusion organisationaler Identität nicht um einen Automatismus (gewissermaßen von oben nach unten) handelt, sondern dass Art und vor allem Intensität der Ausprägung von Diffusion organisationaler Identität auch vom Verfügen über individuelle Ressourcen abhängig sind. Dazu zählen Art der Ausbildung und derzeitige Profession, die spezifische Art des Engagements und das Verfügen über zeitliche Ressourcen. Wer genügend Zeit zur politischen Information hat, wer wissenschaftlich ausgebildet wurde und Arbeit im politischen Bereich gefunden hat, wer sich ferner aktiv im politischen Bereich engagiert, kann über diese Wege ein Wissen akkumulieren, dass zur Konstruktion von organisationale Identität unabdingbar ist. Ferner ist zu vermuten, dass bestimmte narrative Coping-Strategien dazu beitragen, Diffusion organisationaler Identität durch Operationen zu entproblematisieren, sodass sie keine Folgen haben oder Konsequenzen abgeschwächt werden. Auf diese Beobachtung soll im nächsten Abschnitt kurz eingegangen werden. 4.2 Exkurs: Narrative Bewältigung von Identitätsdiffusion Es wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass die Stärke qualitativer Auswertungsverfahren auch darin besteht, aus dem Material heraus Zusammenhänge zu extrahieren, die man zu Beginn der Forschung noch nicht antizipieren konnte. So herrschte anfangs eine Vorstellung von Diffusion organisationaler Identität als Problem vor, das man als Mitglied entweder hat oder nicht hat, deren inhaltliche
Exkurs: Narrative Bewältigung von Identitätsdiffusion
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Ausprägungen und Schwerpunkte sich näher beschreiben lassen und das auch durch die Mitglieder erklärt werden kann. Bereits bei der Codierung des Datenmaterials zeichnete sich ab, dass Erklärungen nicht immer nur immer als bloßer Verweis auf jene Ursachenkomplexe zu verstehen sind, die für Diffusion organisationaler Identität verantwortlich gemacht werden können. Es wurden Erklärungsmuster gefunden, die einen Sekundärzweck erfüllen sollen. Der Zweck, um den es geht, ist eine Entproblematisierung von Diffusion organisationaler Identität. Das Mittel ist der Einsatz von bestimmten narrativen Strategien, die hier in einem Arbeitsbegriff als „narrative Coping-Strategien“ bezeichnet werden sollen. Der Begriff Coping findet hauptsächlich in der Psychologie Verwendung. Er leitet sich vom englischen Verb „to cope“ ab, das mit „bewältigen“ bzw. „überwinden“ übersetzt werden kann. Coping bezeichnet gemeinhin die Art des Umgangs mit einem als bedeutsam und schwierig empfundenen Lebensereignis oder einer Lebensphase bis zu deren Bewältigung.39Auf der Basis des generierten Datenmaterials besteht Anlass zur Vermutung, dass Erzählungen nicht bloß ein Basisinstrument zur Konstruktion von organisationaler Identität darstellen. Sie sind auch ein Mittel, um Probleme bei der Konstruktion organisationaler Identität abzuschwächen und damit Diffusion erzählerisch, im Dialog mit anderen oder auch im Selbstdialog, zu entproblematisieren bzw. zu bewältigen. Es sollen folgend zwei dieser Strategien vorgestellt werden. Zwar finden sich Anzeichen weiterer narrativer Entproblematisierungsstrategien, auf die hier aber nicht weiter eingegangen werden soll.40 Denn grundsätzlich standen während der Auswertung andere Bereiche der Fragestellung im Fokus der Aufmerksamkeit. Am Ende 39 Vgl. http://www.stangl.eu/psychologie/definition/Coping.shtml. 40 Weitere Strategien könnte man als „Temporalisierung“ und „Personalisierung“ bezeichnen. Temporalisierung bedeutet, dass Identitätsprobleme der Parteien als zeitlich begrenztes Phänomen gesehen werden, das in der Zukunft verschwinden kann und daher auch für die Gegenwart als unproblematisch angesehen werden kann. Dazu sagt Matthäus Daininger von der CDU Berlin: „Das ist meine Überzeugung, dass Substanz sich letztlich durchsetzen wird. Bevor diese Substanzlosigkeit dem Parteiapparat den Todesstoß versetzt und in die Beliebigkeit schickt, quasi, wird sich dieser Apparat erneuern. Daher sehe ich das als gewisse Zeitphase, durch die wir jetzt gehen“. Schließlich soll Personalisierung als narrative Strategie aufgefasst werden, in der eine Partei als Organisation menschliche Züge verliehen werden, wenn Probleme der Diffusion organisationaler Identität nicht mehr aufgelöst werden können. So mag sich die SPD von anderen Parteien kaum noch unterscheiden und den Widerspruch, zu gleichen Teilen „sozial gerecht“ und „sozial ungerecht“ zu sein, nicht mehr auflösen können, aber „für mich ist die SPD auch irgendwo ein Held. Ja. Und zwar deswegen, weil die sich wirklich aufreiben für dieses Land. Ist ja nun mal so die, die [betont] reiben sich auf für dieses Land. Ohne Witz. Hätten ja nach der letzten Wahl sagen können, wir machen rot-rot grün, oder wir machen gar nix, wir gehen in die Opposition, macht doch, was Ihr wollt. [betont] nein, sie hat Verantwortung übernommen. Und dann auch noch, was selbstmörderisch war, Finanzministerium, Arbeits- und Sozialministerium, und was war das dritte Scheißressort, habe ich jetzt vergessen. Vor allem diese Ressorts. Kannst Du keinen Blumentopf mit gewinnen“ (so Joachim Bork von der SPD Berlin).
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
fehlte die Zeit für eine weiterführende Analyse des Bereiches „Copingstrategien“. Deswegen soll dieser kurze Abschnitt als Exkurs aufgefasst werden. Allerdings hat dieser Bereich Potenzial. Die erste narrative Bewältigungsstrategie kann als „Historisierung“ bezeichnet werden. Hier werden Probleme bei der Konstruktion organisationaler Identität eingeräumt. Gleichzeitig folgt dieser Passage eine oft längere Textstelle, in der versucht wird, entsprechende Bruchstellen durch den Verweis auf die jeweilige Geschichte der eigenen Partei zu erklären und dadurch den Bruch selbst zu entproblematisieren. Schauen wir uns in diesen Zusammenhang das Interview mit Matthäus Daininger von der Berliner CDU etwas genauer an. Die Textstelle, der unsere Aufmerksamkeit gelten soll, beginnt damit, dass der Befragte das Programm der CDU kritisiert. In dieser Kritik tauchen ganz typische Figuren auf, die als Diffusion organisationaler Identität bezeichnet werden können. So geht es z. B. um die Diffusionsdimension der Widersprüchlichkeit in Bezug auf unterschiedliche Wertausrichtungen. In der darauf folgenden Sequenz wird überraschend erklärt, dass dies „für die Union auch kein Problem“ sei. Es folgt dann ein Rekurs auf die Geschichte der CDU. Coping
Textpassage
Daininger: Deswegen kann man sagen, dass die Grundsatzprogramme, vor allem das der CDU, extrem Wischiwaschi sind, ja? Extrem oberflächlich, versuchen, alles unter einen Hut zu bekommen, niemanden gegen das Schienenbein treten, sowohl liberale Positionen mit aufzunehmen, als auch traditionelle und wertkonservative Positionen, und so alles miteinander Indikator für Coping- zu verquicken und zu versöhnen (…) Was für die Effekt Union an und für sich auch in Ordnung ist, weil Entproblematisierung die Union auch unter dieser Voraussetzung gegründet durch Historisierung wurde, als Unionspartei. Die Grundidee, Protestanten und Katholiken, ja, Nationale und Liberale unter ein Dach zu bringen. Eine Partei zu haben, unter der sich alle, mit der sich alle identifizieren können. Weil einfach nur ein Konsens verschiedener gesellschaftlicher Gruppen auch in der Lage, dass das die Voraussetzung ist, überhaupt eine Gesellschaft lebensfähig zu machen. Insofern war die Idee der Union schon eine
Exkurs: Narrative Bewältigung von Identitätsdiffusion
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Partei zu haben, die staatstragend sein könnte. Also quasi das, was ein Parlament machen muss, soll auch die Partei leisten können. Nicht nur im Interview mit Matthäus Daininger finden sich Anhaltspunkte für dieses entlastende Historisierungsmanöver. Auch das Gespräch mit Sebastian Dreier (CDU Baden-Württemberg) ist zur Illustrierung des Zusammenhangs hilfreich. Coping
Textpassage
Indikator für Coping- Junge: Gibt es Widersprüche, die Sie stören? Effekt Dreier: Das würde ich jetzt nicht sagen. Entproblematisierung Ob man das historisch mal betrachtet, ist die CDU durch Historisierung schon immer eine Sammelpartei [gewesen]. Das war immer eine Partei mit verschiedenen Ansichten, mit vielen Ansichten, und immer intern auch großen Diskursen. Was auch wichtig ist. Das zeigt den Grad der Demokratie. Folglich gibt es keine großen Widersprüche, sondern Meinungen und Mehrheiten. Und diese Mehrheit wird dann natürlich weitergetragen. Natürlich darf man die Minderheiten nicht vergessen, was die sagen. Die werden immer einen gewissen Einfluss haben und die werden auch in gewissen Positionen sich befinden. Ich meine, da habe ich keine Probleme, ist ganz demokratisch. Sollte auch so Entproblematisierung sein. Ob jetzt dort große, sagen wir große Differenzen durch Externalisiebestehen zum Grundsatzprogramm und Entscheidunrung gen, könnte ich jetzt nicht sagen. Weil es um ein Gezänk, extern geht. Was machen wir mit den anderen? Intern herrscht doch immer fast eine einstimmige Meinung. Auch in diesem Fall werden die Widersprüche im Erscheinungsbild der Parteien thematisiert. Auch hier geht es um die CDU. Auch hier haben wir es mit einem jungen Mann zu tun. Zwar werden die Widersprüche eingeräumt. Gleichzeitig aber scheint das widersprüchliche Erscheinungsbild der CDU den jungen Mann kaum zu stören (Junge: „Gibt es Widersprüche, die Sie stören?“ Dreier: „Das würde ich jetzt nicht sagen“). In der folgenden Sequenz wird ebenso wie bei der
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
ersten Passage aus dem Einzelfall Daininger auf die Geschichte der CDU Bezug genommen. Denn nach ihren Wurzeln sei die CDU eben immer schon eine „Sammelpartei“ gewesen. Die unterschiedlichen Teile dieser Sammelpartei hätten sich schon immer miteinander gestritten. So komme es zwar heute zu Widersprüchen. Diese sind aber geschichtlich bedingt, also „natürlich“ gegeben und deswegen kein „echtes“ Problem. In der gerade diskutierten Textstelle von Dreier gibt es bereits einen Hinweis auf das zweite narrative Entproblematisierungsverfahren, dass im Material zu finden war. Dieses soll hier mit dem Terminus „Externalisierung“ belegt werden. Externalisierung beginnt auch beim Einräumen von Identitätsbrüchen. Diese werden aber gleichzeitig als „Erfindung“ externer Akteure bezeichnet. Solchermaßen erscheint Diffusion organisationaler Identität in seiner jeweiligen Auswirkung als gemacht und nicht real – und damit als unproblematisch. Bei Sebastian Dreier werden Widersprüche extern als „Gezänk“ inszeniert. Innerhalb der Partei hingegen „herrscht doch fast immer eine Meinung“. Diese Strategie der Externalisierung wird auch von Wilhelm Donsbach von der Hessen-CDU angewendet. Coping
Textpassage Junge: Wie ist das denn angesichts der alltäglichen Informationsflut? Kann man da noch rausziehen, was die CDU im Kern ausmacht oder ist das problematisch geworden?
Indikator für CopingEffekt
Entproblematisierung durch Externalisierung
Donsbach: Ach nein, das kann ich nicht sagen. Ich kann die CDU doch schon irgendwie erkennen. Doch. Ich meine, dass die Diskussionen da sind, das ist klar. Das muss ja auch so sein.
Aber schlimm ist es natürlich, wenn heute ein, wenn der Schäuble irgendwas mal sagt, ist ja eigentlich auch egal, wer, und am nächsten Tag steht dann gleich: Streit in der CDU. Das ärgert mich immer maßlos. Dann sage ich: Was ist denn da Streit? Und ich mit meinem Kollegen, als Beispiel damals, wir hatten zwei unterschiedliche Meinungen und einer kann nachher nur richtig sein. Deswegen muss das ja nicht eine Feindschaft sein. Die Medien inszenieren das, um die Leute auszuspielen. Tabellen 11a, 11b, 11c: Narrative Bewältigung von Identitätsdiffusion
Exkurs: Voraussetzungen für erfolgreiche Identitätskonstruktionen
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4.3 Exkurs: Voraussetzungen für erfolgreiche Identitätskonstruktionen Die Idee zu diesem Kapitel folgte aus der Beobachtung, dass Ausführungen zur organisationalen Identität der Partei oft in Aussagen eingebettet waren, in denen die Befragten präzisieren, warum man eben gerade in der Lage ist zu sagen, was z. B. die eigene Partei einzigartig macht und wie sie sich von anderen Parteien unterscheidet. Die vorliegenden empirischen Daten sprechen dafür, dass über das Gelingen von Konstruktionen organisationaler Identität vor allem das Vorliegen bzw. Fehlen individueller Wissensressourcen entscheidet, die z. B. durch die Ausbildung oder die Art des Engagements generiert werden können. Betrachtet man die 15 Textpassagen der Kategorie „erfolgreiche Voraussetzungen“, so können zunächst zwei grundlegende Unterscheidungen getroffen werden. Einerseits werden günstige Rahmenbedingungen für die Konstruktion organisationaler Identität sichtbar, die unabhängig sind vom Denken, Handeln und Fühlen der einzelnen Mitglieder. Andererseits ist eine gelingende Konstruktion von organisationaler Identität aber auch von Faktoren abhängig, die auf individuelle „Dispositionen“ der entsprechenden Mitglieder zurückzuführen sind. Schauen wir uns das zahlenmäßige Verhältnis der Zitate an, die den entsprechenden Kategorien zugeordnet wurden, so muss konstatiert werden, dass interessanterweise die individuellen Faktoren deutlicher ausgeprägt sind. Zur ersten Kategorie gehört vor allem das Informations- und Kommunikationsmanagement der eigenen Partei. So können hervorgebrachte Selbstbeschreibungen das klare Vorstellungsbild von der eigenen Organisation fördern. Darunter fallen auch die von den Mitgliedern oft kritisierten und geschmähten Programme der eigenen Partei. Das zeigt sich am Zitat von Cornelia Bergmann (CDU Berlin, kursiv durch den Interpreten): Aber ich denke mal, wenn man sich an das letzte Wahlprogramm hält, da war ja eigentlich die Hauptrichtung gewesen, dass man, ich sage mal, den Kahn nur aus dem Dreck ziehen kann, wenn [betont] alle anpacken. Wenn alle ein paar Federn lassen und was geben, aber am Ende auch allen wieder etwas zurückgegeben werden kann.
Gerade führende Repräsentanten der Parteien beschwören immer wieder die Bedeutung der Grundsatz- und Wahlprogramme als Orientierungsmarke für die Parteimitglieder. Gemessen an dieser zugeschriebenen Relevanz ist die im konkreten Projekt empirisch rekonstruierte, „tatsächliche“ Relevanz von Programmschriften gering. Wenn die Mitglieder davon sprechen, warum es mit den Unterschieden klappt, warum Kernwerte ausgemacht werden können, warum Konstanten erkannt werden können, ist auf den ersten Blick erstaunlich selten – genau gesagt: nur ein einziges Mal (s. o.) – vom Programm die Rede. Überraschend ist das auf den zweiten Blick freilich kaum, denn die Programme selbst sind, wie an
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
anderen Stellen bereits erwähnt wurde, insgesamt von geringer Bedeutung für die Mitglieder (vgl. auch Kapitel 5.4.3). Zum Glück haben Parteien als Visitenkarte ihres Selbstbildes nicht nur Programme. Auch durch andere Medien versuchen sie, ihr Profil sowohl nach außen, in Richtung der Wähler, aber eben auch nach innen, im Hinblick auf ihre Mitglieder, weiter zuzuspitzen. Bei der CDU gibt es z. B. die Mitgliederzeitschrift UNION. Über die Homepage kann ein Newsletter abonniert werden. Zahlreiche Unterorganisationen der Parteien vertreiben immer wieder Selbstdarstellungen der CDU und auch Publikationen wie die Politische Meinung der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung sollte in diesem Zusammenhang genannt werden. Diese Informationsangebote sind in der Regel nicht so umfangreich wie ein Parteiprogramm. Gerade in ihrer gestrafften Form können sie aber augenscheinlich Orientierung bieten. Christa Weidner von der Hessen-CDU lobt die Nützlichkeit der „Idee-Heftchen“: Also das ist wirklich so, wenn ich jetzt, gestern hatte ich noch so ein Idee-Heftchen in der Hand, jetzt heißt es anders, jedenfalls kommt es von der Bundespartei, meistens blättere ich es nur durch, ob was Interessantes drin steht, bin darüber gestolpert. Weil, es war wirklich zu den Leitgedanken, ich dachte: In der Kürze der Zeit kannst Du das wenigstens überfliegen.
Und weiter heißt es: Deshalb freut es mich, wenn ich einfach nur diese Zusammenfassungen bekomme. Es ist ja nicht so, dass ich nicht gerne lese, nur: Es, es ist für mich für, um den Überblick zu behalten, da schaue ich dann schon ganz gezielt. Wo habe ich jetzt diesen 10-Punkte-Plan? So etwas finde ich genial. Für mich gehört so was als Plakat gedruckt und in den Schaukasten gehangen. Ja! Das wäre etwas, wo man sagen könnte: „Das sind wir! Das könnte man auch mal klarmachen“.
Parteien können also mit einem entsprechenden Informationsprogramm dazu beitragen, dass Mitglieder eine klare Vorstellung von der eigenen Partei haben. Aber es kommt auch darauf an, wie diese Quellen genutzt werden, wie mit ihnen umgegangen wird, angesichts bestimmter Ressourcen werden kann. Dabei steht ein Wort im Zentrum. Es geht um Wissen. Die erfolgreiche Konstruktion von organisationaler Identität hängt, so SPD-Mitglied Joachim Bork, vom Verfügen über relevante Wissensarten ab: Und, naja, entweder man kennt sich aus mit der Thematik, oder nicht. Und wenn man sich nicht auskennt, ist man weg von der Partei. Und weg von der Stange. Und wenn man sich auskennt und weiß, welche Prozesse waren da alle am Laufen, was ist jetzt in der Öffentlichkeit auch nicht so angekommen, was ist irgendwie wie vermittelt worden, was war der Kern, was nicht? Wo sind die Unterschiede?
Exkurs: Voraussetzungen für erfolgreiche Identitätskonstruktionen
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Die Füllung des individuellen Wissensvorrates – dies ergibt sich aus dem empirischen Material – ist von vier Faktoren abhängig. Es geht um: x x x x
die Art der Ausbildung die Art des Berufes die Art des parteipolitischen Engagements das Vorhandensein eines zeitlichen Budgets
Positiv auf das Vermögen, organisationale Identität zu konstruieren, kann sich auswirken, wenn ein bestimmtes Wissen durch eine akademische Ausbildung, durch ein entsprechendes Studium gewonnen wird. Joachim Bork von der SPD Berlin sieht sich selbst als „privilegierten Politikwissenschaftler“. Aber im Fall Bork kommt auch die gegenwärtige Profession zum Tragen. Bork arbeitet zur Zeit der Befragung als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag. Auch diese Arbeit im politiknahen Bereich birgt Vorteile. Ich bin da super-privilegiert. Weil ich mich täglich damit auseinandersetze und das auch kann. Auch beruflich, ja? Ich bin mir deswegen auch manchmal nicht sicher, ob ich dann zu viel von den Leuten verlange, wenn ich sage, jeder müsste das [die organisationale Identität der SPD, d. Verfasser] erkennen können. Wobei ich schon denke, dass wir eine unwahrscheinliche Gedankenlosigkeit in der Gesellschaft haben. Dass so ganz viele Leute von sich aus abschalten und nicht den Versuch unternehmen, und wir leben in den Zeiten des Internets, Informationen sind da, sich zu informieren. So, aber ich bin privilegiert.
Diese Trennung von Privilegierten mit Zugriff auf identitätsrelevantes Wissen und „Externen“ wird auch von Mitgliedern vorgebracht, die selbst nicht direkt hauptberuflich im Feld der Politik unterwegs sind. „Ich denke, da muss man mal unterscheiden von innen oder außen“ sagt Hans-Peter Reller von der badenwürttembergischen CDU, hauptberuflich Rechtsanwalt und Notar. Wie es von draußen aussieht. Wenn Sie dabei sind, die Innenansicht, denke ich, sicherlich, werden die Profis da in jedem Bereich Unterschiede ihnen sehr schnell definieren können, bis in gewisse Sachfragen hinein.
Die Generierung von relevantem Wissen funktioniert nicht nur, wenn der Befragte im Deutschen Bundestag arbeitet. Dieter Kowalsky z. B. war Chemiker. Für ihn gibt es die Unterschiede zwischen den Parteien vor allem im Bereich der Gesundheitspolitik. Denn dort „kenne ich mich halt aus“, sagt der Berliner SPDMann. Neben dem Beruf bleibt die Art des parteipolitischen Engagements ein wichtiger Bestimmungsfaktor. Förderlich wirkt sich eine aktive Arbeit in den Parteigremien aus, vor allem aber auch im kommunalpolitischen Bereich, denn
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
nicht zuletzt diese Tätigkeiten schaffen identitätsrelevantes Wissen. Das wurde weiter oben schon deutlich. Unterschiede zwischen den Parteien werden gerade nicht nur auf der bundespolitischen Ebene festgemacht. Auf die Frage, ob es leichter fällt, Unterschiede zu erkennen, weil man in der Politik arbeitet, antwortet Markus Zähringer (CDU Baden-Württemberg): Ja klar. Selbstverständlich. Nicht alles, was man in den Medien bekommt, ist das, was die Parteien machen. Unabhängig, ob wir das sind oder die anderen. Sondern es geht wahrscheinlich allen Parteien so. Die Medien sind sicher mittlerweile ein Mittel geworden, Politik zu machen, die nicht immer unbedingt von den Parteien gemacht wird. Alles was wir wissen, wissen wir aus den Medien – genau!
Das letzte Zitat zeigt auch, dass die Medien als Problem wahrgenommen werden. Aus der Sicht einiger Mitglieder verzerren sie regelrecht das Erscheinungsbild der Parteien, sie tragen zu einer Diffusion organisationaler Identität bei. Medien suggerierten Kontingenz, wo „eigentlich“ klare inhaltliche Schwerpunkte zu erkennen seien. Medien schafften Konvergenz, wo „eigentlich“ die Unterschiede zwischen den Parteien zu erkennen sein müssten. Medien inszenierten Widersprüchlichkeit, wo „eigentlich“ keine wären. Agglomeriertes Wissen, am besten aus eigenem Erleben, macht hier unabhängiger von der Übermächtigkeit der medialen Politik- und Parteieninszenierung. Dazu Joachim Bork: Also ich glaube, dass das meinen Blick auf die SPD ganz maßgeblich prägt. Weil. Wenn man sich einfach nur die mediale Landschaft anschaut und wie die SPD, wie alle Parteien eigentlich dort präsentiert werden, das folgt so vielen Klischees. Und so vielen eindimensionalen Betrachtungsweisen, das ist ganz was anderes, wenn du von inside kommst.
Letztlich ist aber alles auch eine Frage der Zeit. Wie viel Zeit steht zur Generierung von Wissen zur Verfügung? Wie viel Zeit will ich investieren, um mich über Politik zu informieren? Welche Zeit lassen Familie und Beruf zur politischen Informationsbeschaffung? Alles hängt auch damit zusammen, wie intensiv man sich als Mitglied mit Sachfragen beschäftigt. Dazu merkt Sebastian Dreier von der CDU Baden-Württemberg an: Im Prinzip ist es momentan, habe ich das Gefühl, ein Kompromiss zwischen CDU und SPD und da ist immer die Frage, wie viel ist von welcher Partei in diese Entscheidung hinein geflossen. Das kann man vielleicht auch nur wissen, wenn man Zeit hat, sich mit der Materie intensiv auseinandersetzt.
Identitätsdiffusion, Identifikation und Engagement
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4.4 Identitätsdiffusion, Identifikation und Engagement Im letzten Kapitel zeigten sich die Ergebnisse des Versuchs, dass theoretische Konstrukt Diffusion organisationaler Identität mit empirischen Daten auszudifferenzieren. Dabei wurde auch deutlich, dass die befragten Mitglieder einzelne Diffusionsdimensionen auch mit Ursachenkomplexen in Verbindung brachten. Besonders deutlich wurde dies an der Identitätsdimension Unterscheidbarkeit. Viele Mitglieder sehen einen Zusammenhang zwischen einer wahrgenommenen Annäherung beider Parteien und der Zusammenarbeit von CDU und SPD in der Großen Koalition. Ferner ist in Exkursen skizziert worden, dass Diffusion organisationaler Identität nicht nur einen passiven Zustand darstellt, der in gewisser Weise „ertragen“ werden muss. Es lassen sich Strategien einer narrativen Bewältigung von Diffusion organisationaler Identität benennen, die Mitglieder der Parteien zur Anwendung bringen können. Schließlich wurde darauf verwiesen, dass es bestimmte Voraussetzungen geben kann, welche die Konstruktion organisationaler Identität erleichtern kann. Dazu zählt auch das individuelle Verfügungen über identitätsrelevantes Wissen. Diese Ausführungen beziehen sich im Großen und Ganzen auf Teil eins der Fragestellung. Blicken wir zurück auf die Kapitel 2.4 und 3.1, so wird dort, im zweiten Teil der Fragestellung, auch nach möglichen negativen Effekten von Diffusion organisationaler Identität auf Engagement und/oder Identifikation gefragt. Gibt es also Anzeichen dafür, dass Diffusion organisationaler Identität zum Rückzug aus der aktiven Arbeit führt, gar mit einem Rückzug aus der Partei in Zusammenhang steht? Ist mit Diffusion organisationaler Identität eine negative Veränderung der Identifikation verbunden, ein Abkühlen der emotionalen Bindung an die eigene Partei? Diese Fragen wurden anhand einer Tiefenanalyse ausgewählter Einzelfälle weiter verfolgt. Die Ergebnisse können in den Kapiteln 4.4.2 und 4.4.3 nachgelesen werden. Um diese Analyse durchführen zu können, müssen vorab auf methodisch kontrollierte Art und Weise Fälle bestimmt werden, die für diese Analyse infrage kommen. Der jetzt unmittelbar folgende Abschnitt 4.4.1 wird auf das Prozedere dieses formal wichtigen Auswahlprozesses eingehen. 4.4.1
Die Isolierung relevanter Einzelfälle durch empirisch begründete Typenbildung
Der Fragestellung zweiter Teil impliziert die Analyse von spezifischen Zusammenhängen zwischen Variablen. Im konkreten Fall geht es um die Rekonstruktion eventueller negativer Auswirkungen der Variable Diffusion organisationaler
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
Identität auf die Variablen Engagement und/oder Identifikation. Dieses Erkenntnisinteresse kann auf der Basis qualitativer Daten, im Rahmen eines qualitativen Research Designs, am besten auf der analytischen Ebene einzelner Fälle und dort mit der Auswertungsmethode der Sequenzanalyse untersucht werden. In Kapitel 3.3 ist das ausführlich dargestellt worden. Im gleichen Kapitel findet sich der Hinweis darauf, dass es sich bei der Sequenzanalyse um eine aufwendige Methode der Datenauswertung handelt, der wiederum begrenzte Ressourcen des Forschers gegenüberstanden. Selbst bei einem durchschnittlichen qualitativen Sample von n = 30 kann keine Sequenzanalyse durchgeführt werden, die alle Fälle einer solchen Stichprobe abdeckt. Dieser Umstand machte eine Konzentration auf wenige Fälle erforderlich, die freilich in einem methodisch begründbaren, nicht willkürlich erscheinenden Auswahlverfahren bestimmt werden sollten. Hier empfiehlt sich die Methode der empirischen Typenbildung, so wie sie von Udo Kelle und Susann Kluge (1999) ausgearbeitet worden ist. Da es vorzugsweise um das Nachspüren negativer Effekte geht, soll die Typenbildung das Herausfiltern jener Fälle sicher stellen, bei denen negative Auswirkungen zumindest zu einem bestimmten Grad wahrscheinlich sind. Dazu wurden Typologien in Bezug auf diese vier Indikatoren gebildet: x x x x
Ausprägung von Engagement Ausprägung von Identifikation Bewertung von Diffusion organisationaler Identität Intensität von Diffusion organisationaler Identität im Einzelfall
Um einen Cluster mit potenziell relevanten Fällen für die Sequenzanalyse zu bestimmen, wurden aus jeder der vier Typologien so genannte „Härtefälle“ extrahiert und dann über eine Kreuztabelle miteinander kombiniert. Dergestalt wies der abschließende Fallcluster Einzelfälle auf, deren Engagement schwierig geworden ist, die Probleme in ihrer emotionalen Parteienbindung haben, bei denen Diffusion organisationaler Identität deutlich ausgeprägt ist und diese Probleme auch negativ (in Bezug auf die eigene Person) gesehen werden. 4.4.1.1 Eine Typologie von parteipolitischem Engagement Im zweiten Teil der Fragestellung, die in diesem Kapitel beantwortet werden soll, geht es also um die Rekonstruktion negativer Effekte von Diffusion organisationaler Identität (nicht nur, aber auch) auf Engagement im Rahmen einer sequenziellen Einzelfallanalyse. Ergo benötigt die Sequenzanalyse zunächst einmal solche Einzelfälle, in denen Engagement negativ ausgeprägt ist. Anders formu-
Identitätsdiffusion, Identifikation und Engagement
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liert bringt eine Untersuchung etwaiger negativer Auswirkungen von Diffusion organisationaler Identität auf Engagement wenig auf der Basis solcher Einzelfälle, bei denen Engagement positiv ausgeprägt ist. Vor diesem Hintergrund bestand das Ziel darin, eine Trennung der Spreu vom Weizen vorzunehmen und eine Typologie zu erschaffen, die unterschiedliche Gruppierungen von Fällen aufweist, in denen Engagement entweder positiv, oder negativ oder ggf. auch ambivalent ausgeprägt ist. Ausprägungen
Ausprägung „positiv“
Ausprägung „ambivalent“
Ausprägung „negativ“
Indikator Entwicklung der Ämter Prognose künftige Aktivität Bedeutung im Vergleich Antrieb gegenwärtig Zufriedenheit gegenwärtig Abbildung 13: Einzelfall aus dem Typus „Die Engagierten“ Es gibt nun kein „an sich“ negatives, kein „an sich“ ambivalentes und auch kein „an sich“ positives Engagement. Was es geben kann, sind vom Forscher ausgewählte Indikatoren für negatives, ambivalentes oder positives Engagement. So galt es, vor der Verschlagwortung des empirischen Materials solche Indikatoren zu finden, die einerseits eine valide Erfassung unterschiedlicher Ebenen von Engagement gewährleisten, deren jeweilige Ausprägungen anderseits eine Aufteilung in positiv, ambivalent und negativ ermöglichten. So wurde, um ein Beispiel zu nennen, zur Bestimmung der unterschiedlichen Ausprägung von parteipolitischem Engagement unter anderem der Indikator „Prognose“ herangezogen. Mit diesem Indikator sollte ermittelt werden, ob sich die befragten Mitglieder in der Zukunft ein parteipolitisches Engagement vorstellen können. Eine unproblematische oder positive Ausprägung lag bei diesem Indikator dann vor, wenn der oder die Befragte auch in der Zukunft weiterhin auf nennenswertem Niveau weiter in der Partei arbeiten will. Von einer ambivalenten Ausprägung kann dann gesprochen werden, wenn der oder die Befragte immer wieder schwankt, ob das
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
Engagement in Zukunft eher ausgebaut, beibehalten oder zurückgefahren werden soll. Eine problematische Ausprägung wäre dann gegeben, wenn das Mitglied weiterhin völlig passiv bleiben will oder nach eigenen Angaben plant, das Engagement in der Partei in Zukunft zu reduzieren. Insgesamt wurden zur Ermittlung des parteipolitischen Engagements sowohl „objektive“, als auch „subjektive“ Indikatoren herangezogen. Als objektiv sollen solche Kategorien bezeichnet werden, die im Prinzip von der Interpretation des Befragten unabhängig sind. Dazu zählten z. B. die Anzahl ausgeübter Ämter und deren quantitative Entwicklung über die Zeit. Hingegen kann die persönliche Motivation als ein subjektives Kriterium bezeichnet werden. Zudem wurde das temporale Kriterium bedacht, also aktuelle Dispositionen ebenso wie Entwicklungstendenzen über einen längeren Zeitpunkt hinweg. Unter Verwendung dieser Indikatoren weist jeder Einzelfall hinsichtlich des eigenen parteipolitischen Engagements eine typische Verlaufskurve auf, die in Abbildung 13 veranschaulicht wird. In dieser Darstellung ist ein (idealtypischer) Einzelfall zu sehen, der hinsichtlich der zur Anwendung gebrachten Indikatoren von Engagement mehrheitlich „unproblematische“ Ausprägungen auf sich vereint und deswegen in den Typus „Die Engagierten“ eingegliedert werden kann. Die Tabelle deutet mithin an, wie die Bildung der Typologie im Bereich Engagement (und analog auch die Typologie im Bereich Identifikation) vonstattenging. Es sollten jene Fälle zusammengefasst werden, die bei allen unterschiedlichen Indikatoren insgesamt mehrheitlich Textpassagen positiver oder ambivalenter oder negativer Ausprägung haben. Nach diesen Vorgaben konnten im weiteren Verlauf der Auswertung zwei Typen von Engagement aus dem empirischen Material herausgearbeitet werden.41 Erstens waren das „Die Engagierten“. Die diesem Typus zugeordneten Einzelfälle hatten folgende Eigenschaften gemein: In der Vergangenheit ist das Engagement eher auf nennenswertem Niveau gleich geblieben oder hat sogar zugenommen, in der Zukunft soll das Engagement eher auf nennenswertem Niveau weiter geführt werden bzw. sogar noch ausgebaut werden, den Befragten ist das Engagement auch im Vergleich zu anderen Aktivitäten eher wichtig, man ist eher motiviert und das Engagement bereitet eher Freude. Der zweite Typus wurde mit dem Namen „Die Organisationsmüden“ belegt. Darin finden sich Einzelfälle, bei denen das Engagement in der Vergangenheit eher zurückgegangen oder im Moment der Befragung gar nicht mehr vorhanden ist. Zudem geht es um Fälle, bei denen das Engagement in der Zukunft eher zurückgefahren werden soll, oder es im Vergleich zu anderen Aktivitäten grundsätzlich weniger wichtig ist, Spaß und Motivation eher nicht vorhanden sind bzw. in der letzten Zeit eher abgenommen 41 Typologien von Parteimitgliedern, die z. B. nach Intensität innerparteilicher Aktivität differenzieren, finden sich auch in anderen Mitgliederuntersuchungen (vgl. Caleta/Cochliaridou/Milz 2004).
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haben. Alles in allem konnten dem Typus „Engagierte“ 18 Einzelfälle zugeordnet werden. Auf den Typus „Organisationsmüde“ entfielen 7 Einzelfälle. Diese Verteilung macht nebenbei auch deutlich, dass die Mehrheit der befragten Mitglieder kein Problem mit ihrem Engagement in der Partei hat. Nur sieben Fälle weisen deutliche Spuren einer negativen Ausprägung von Engagement auf. Für das Forschungsinteresse haben diese sieben Fälle freilich eine wichtige Bedeutung. 4.4.1.2 Eine Typologie von Partei-Identifikation Partei-Identifikation gehört in der Parteienforschung zu den häufig genutzten Konzepten. Trotzdem sind dezidierte Definitionen dessen, was ParteiIdentifikation ist, gerade im Vergleich mit dem Konzept Engagement nicht sehr häufig zu finden (vgl. Kapitel 2.3.4). Das machte die Operationalisierung des Begriffes nicht einfach. Um Indikatoren zu definieren, wurde der Begriff Identifikation, so wie es in der Parteienforschung geläufig ist, als Gefühl der Verbundenheit, des „Einsseins“ von Mitglied und der Organisation Partei gefasst, welches u. a. darin zum Ausdruck kommen kann, dass die Imagination dessen, was das Mitglied für die Partei hält und was es an ihm wichtig findet, zu einem Bestandteil der eigenen, personalen Identität werden kann (Reese-Schäfer 1999: 16, ähnlich auch Glynn 1998) und das Mitglied dergestalt oft von „wir“ spricht, wo doch das „ich“ gemeint ist. Eine wichtige Grundannahme war dabei, dass Identifikation als gefühlte Verbindung oder „Attachement“ nicht statisch ist, sondern als dynamische Größe aufgefasst werden kann, die in ihrer Intensität variieren, zu- oder abnehmen kann (Arzheimer/Schoen 2005). Insgesamt kamen zwei Indikatoren zum Einsatz, die eine Einordnung und Differenzierung von Identifikation ermöglichen sollten. Erstens wurde die gegenwärtige Intensität des Verbundenheitsgefühls zum Zeitpunkt der Befragung herangezogen. Neben der gegenwärtigen Ausprägung wurde auch die zeitliche Entwicklung des Identifikationsgefühls berücksichtigt. Diese Unterkategorien „gegenwärtige Intensität der Parteienbindung“ und „Entwicklung der Parteienbindung“ können die Ausprägungen unproblematisch, ambivalent und problematisch zugeordnet werden. Eine unproblematische Ausprägung lag z. B. bei der Unterkategorie „gegenwärtige Intensität“ dann vor, wenn sich der oder die Befragte mit der Partei identifiziert bzw. das Gefühl der Identifikation im Lauf der Zeit an Stärke zunimmt. Von einer ambivalenten Ausprägung kann dann gesprochen werden, wenn das Gefühl der Identifikation zum Zeitpunkt t1 vorhanden ist, zum Zeitpunkt t2 nicht, zum Zeitpunkt t3 wieder usw. Eine problematische Ausprägung lag dann vor, wenn Identifikation im Moment der Befragung überhaupt
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
nicht vorliegt bzw. von einer deutlich gefühlten inneren Distanz zur Partei die Rede ist.42 Auch hier wurde eine Zusammenfassung derjenigen Fälle vorgenommen, deren Ausprägungen summa summarum entweder überwiegend unproblematisch, vorrangig ambivalent, oder hauptsächlich problematisch sind. Im Ergebnis zeichneten sich im Vergleich zur Typologie im Feld Engagement nicht zwei, sondern drei Typen ab, die als „Die Identifizierer“, „Die Wackelkandidaten“ und „Die Distanzierten“ bezeichnet wurden. Die Verteilung der Einzelfälle auf die Typen ergab ein Verhältnis von 15:5:5. Dies zeigt, dass die Befragten sich mehrheitlich mit der Partei identifizieren. Analytisch interessant sind in Bezug auf die Fragestellung die Typen Nr. 2 und Nr. 3. In ihnen sind Einzelfälle abgelegt, die sich im Moment der Befragung entweder gar nicht mit der eigenen Partei identifizieren können, oder sich die emotionale Parteienbindung in der letzten Zeit abgeschwächt hat sowie Fälle, in denen die Identifikation mit der eigenen Partei immer wieder deutlichen Schwankungen ausgesetzt ist. 4.4.1.3 Eine Typologie in Bezug auf die Bewertung von Diffusion organisationaler Identität Die eben gewonnenen Typologien in den Bereichen Engagement und Identifikation haben keinen Selbstzweck. Sie sind deswegen wichtig, weil wir auf diesem Wege eine erste Vorauswahl hinsichtlich jenes Fallclusters getroffen haben, der später als Reservoir dienen soll für diejenigen Fälle, die für die finale sequenzielle Analyse infrage kommen. In dieser Hinsicht besonders wichtig: Die Typen der „Organisationsmüden“, der „Wackelkandidaten“ und der „Distanzierten“. Dennoch wissen wir bis dato noch nicht, wie innerhalb dieser Gruppe Diffusion organisationaler Identität ausgeprägt ist. Diffusion kann, gemessen an der Anzahl entsprechender Zitate pro Einzelfall, stark, schwach, oder auch gar nicht ausgeprägt sein. Zudem ist auch eine starke Diffusion nicht zwangsläufig damit verbunden, dass diese von den befragten Mitgliedern auch tatsächlich als Problem wahrgenommen wird. Somit müssen weitere Filterkriterien angelegt werden, um eine endgültige Isolierung passender Einzelfälle zu leisten. Daher fiel eine Entscheidung für das Kriterium der „Bewertung von Diffusion organisationaler Identität durch das Mitglied“. Was ist darunter zu verstehen? 42 Die Möglichkeit einer ambivalenten Partei-Identifikation entspricht dem erweiterten Modell organisationaler Identifikation bei Mary Ann Glynn (1998) sowie Glenn Kreiner und Blake Ashforth 2004 (2ff.). Dort heisst es: “Given the complexity and equivocality of modern organizations and the loosely coupled values, goals, and beliefs of the typical individual, one can simultaneously identify and disidentify with one’s organization or aspects of it”.
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Das generierte Datenmaterial wurde im Rahmen der kategoriellen Inhaltsanalyse nach Textstellen abgesucht, in denen sich die Befragten selbst kommentierend auf jeweils fallspezifische Ausprägungen von Identitätsdiffusion beziehen. Anhand dieser Textstellen wurden drei Typen von Kommentaren herausgearbeitet. In der ersten Kategorie fanden solche Zitate Platz, in denen die jeweiligen Ausprägungen von Identitätsdiffusion zwar kommentiert wurden, aus dem Zitat aber keinerlei negative Bewertungen herauszulesen sind (Codierbeispiel: „Freilich unterscheiden sich die Parteien nicht mehr großartig, aber wenn ich von mir spreche, ist das auch kein großes Problem“). In Subkategorie zwei fielen Passagen, in denen fallspezifische Ausprägungen von Identitätsdiffusion erkennbar negativ bewertet wurden, ohne dass in der Textpassage aber ein Bezug zur kommentierenden Person selbst zu erkennen war (Codierbeispiel: „Natürlich gibt es diese Widersprüche. Und für die Parteien an sich ist das sicher nicht gut“). Die dritte Kategorie bezeichnete negative Bewertungen mit erkennbarem Bezug zur kommentierenden Person (Codierbeispiel: „Wenn ich die SPD nicht mehr von der CDU unterscheiden kann, ist das schon ein Problem für mich, denn …“). Gerade die in dieser Kategorie vorfindbaren Einzelfälle sind für die abschließende Typenbildung wichtig. Insgesamt wurden 49 Zitate identifiziert, die sich kommentierend und wertend auf die (eigene) Diffusion organisationaler Identität (in der jeweiligen Ausprägung) beziehen. Diese 49 Zitate stammen insgesamt von 14 Einzelfällen (8 CDU, 6 SPD). Dies ist durchaus eine beachtliche Gesamtzahl. Diese Bilanzierung verdeutlicht, dass die Mehrheit der Fälle dem Phänomen Diffusion organisationaler Identität nicht gleichgültig gegenübersteht. Im Gegenteil: Wenn auf Diffusion Bezug genommen wird, dann sind die Kommentare in der überwiegenden Zahl sogar negativ – mit oder ohne direkten Bezug zur eigenen Person. Die Zitate in dieser Kategorie variieren nicht nur nach ihrer Reichweite (allgemein vs. persönlich) sondern auch nach ihrem inhaltlichen Bezugspunkt. Da Identitätsdiffusion mehrere Ausprägungsebenen haben kann, gibt es auch verschiedene – genauer gesagt: fünf mögliche – Bezugsebenen der Bewertung. Hier zeigt sich, dass zwar alle Ebenen bewertet werden, diese Evaluierungen im Einzelfall aber unterschiedlich ausfallen. Ordnet man die Dimensionen von Identitätsdiffusion nach der Häufigkeit der bewertenden Kommentare und Einschätzungen, so liegt – wieder einmal – die Dimension (problematischer) Unterscheidbarkeit an der Spitze. Nach der Anzahl der Gesamtzitate ist dieser Vorsprung noch knapp. Lässt man aber die neutralen Zitate weg und schaut nur danach, welche Ebene von Diffusion dezidiert negativ beurteilt wird, so vergrößert sich der Abstand zwischen Konvergenz und den anderen Dimensionen deutlich. Zugespitzt ließe sich sagen: Wenn eine Diffusion organisationaler Identität von den Mitgliedern der Parteien als Problem gesehen wird, ist, nicht immer, aber
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
meistens, das Verschwinden der Unterschiede gemeint. Auf den weiteren Plätzen folgen die Ebenen Widersprüche und „mehrdeutig“. Bei den Widersprüchen fällt auch ein Gegensatz auf. Während die Gesamtzahl der Zitate immer noch hoch ist, zeigt sich, dass viele Mitglieder Widersprüche gleichgültig gegenüberstehen. Brüche und Probleme des Wiedererkennens werden eher neutral gesehen. Die Kernproblematik spielt hier keine besondere Rolle. Werfen wir nun noch rasch einen Blick auf die Kategorie Nr. 3. Welcher Art sind jene Zitate, die der Rubrik „negative Kommentare mit erkennbarem Bezug zur eigenen Person“ zugeordnet wurden? Die meisten Zitate in dieser Gruppe beziehen sich, wie bereits erwähnt, auf die unterschiedlichen Ebenen von Parteienkonvergenz. Ohne Übertreibung kann man sagen, dass gerade die Diffusionsdimension wahrgenommene Konvergenz, auf welcher Ebene auch immer, starke Emotionen auslöst. Das reicht von noch eher nüchterner Enttäuschung, einsetzendem Desinteresse („man rutscht ab, das macht es uninteressant“) und Unverständnis („da komme ich nicht klar mit“) über persönlich empfundenen Schmerz („das tut weh“) bis zu „totaler Frustration“. Es bedarf keiner großen Fantasie, dass solchermaßen starke Emotionen Folgen haben können – auf die Art des Verbundenheitsgefühls mit der eigenen Partei, auf die Lust, zu den Ortsvereinssitzungen zu gehen, zu organisieren, seine Motivation, das Wochenende beim Canvassing zu verbringen. Vor der abschließenden Einzelfallanalyse verstärken sich also – angesichts dieser Textstellen – einerseits die Anzeichen dafür, dass Diffusion organisationaler Identität in jeweiliger Ausprägung tatsächlich negative Auswirkungen auf das parteipolitische Engagement und die Parteienbindung haben kann. Andererseits ist die Aussagekraft dieser Passagen noch begrenzt. Durch die kategorielle Inhaltsanalyse wurden die Zitate aus ihrem fallspezifischen Kontext herausgelöst. Aus der Betrachtung einer isolierten wie kurzen Textpassage heraus lassen sich noch keine wirklich belastbaren Aussagen über die Zusammenhänge treffen, die in diesem Kapitel von Interesse sind. Erst mittels einer detaillierten Analyse ausgewählter Einzelfälle können negative Effekte von Diffusion organisationaler Identität, auch und gerade im Kontext anderer möglicher Bestimmungsfaktoren von Engagement und Identifikation, bewertet werden.
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4.4.1.4 Eine Typologie in Bezug auf die Intensität von Diffusion organisationaler Identität Das Ziel der bislang vorgestellten Typologien besteht darin, Fälle ausfindig zu machen, in denen negative Effekte von Diffusion organisationaler Identität besonders wahrscheinlich sind. Um dieses Ziel zu erreichen, mussten Vergleichskriterien zur Ermittlung relevanter Einzelfälle bestimmt werden. Drei von diesen Kriterien haben wir bereits kennengelernt. Wie aus diesem Abschnitt hervorgehen wird, wurde noch ein abschließendes viertes Vergleichskriterium herangezogen. Das Kriterium lautet „Intensität von Diffusion organisationaler Identität“. Dieser Indikator ist ausgewählt worden, weil die Vermutung nahe lag, dass bei Fällen mit großer Intensität von Diffusion organisationaler Identität auch negative Effekte auf Engagement und Identifikation wahrscheinlicher sind. Fälle
Fälle CDU
Fälle SPD
Feuerbach Hermann Reller Dreier Möllenhauer Zähringer Immels Daininger Bergmann Weidner Schmidt Müller Rohland
Kowalksy Gördes Donsbach
Intensität von Diffusion organisationaler Identität Diffusion schwach (bis 3 Zitate je Einzelfall)
Diffusion mittel (4 bis 7 Zitate je Einzelfall)
Diffusion stark (8 bis 11 Zitate je Einzelfall)
Bürger Bott Schattschneider Bäumler Löffler
Brehmer Völkel Bork
Tabelle 12: Intensität Diffusion organisationaler Identität Wie aber lässt sich die Intensität von Diffusion organisationaler Identität feststellen? Grundsätzlich bieten sich dafür zwei Möglichkeiten (siehe auch Abbildung 16 in Kapitel 4.1). Bestimmen lässt sich z. B. pro Einzelfall die Anzahl jener
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Textstellen, in denen auf Diffusion organisationaler Identität Bezug genommen wird, genauer gesagt, bestimmte Dimensionen der Diffusion organisationaler Identität grundsätzlich „eingeräumt“ bzw. thematisiert werden. Demnach könnten Fälle unterschieden werden, in denen überhaupt keine, oder grundsätzlich nur wenige dieser Zitate vorliegen („schwache Intensität von Diffusion organisationaler Identität“) oder viele der entsprechenden Zitate vorzufinden sind („starke Intensität von Diffusion organisationaler Identität“). Eine weitere Art, Intensität von Diffusion organisationaler Identität zu bestimmen, liegt darin begründet, die Anzahl der pro Fall festzustellenden Dimensionen zu bestimmen. Demnach könnten Fälle unterschieden werden, in denen keine, oder grundsätzlich nur wenige Dimensionen von Diffusion organisationaler Identität im Material lokalisiert werden von jenen Fällen, in denen viele der Dimensionen lokalisiert werden können („starke Intensität von Diffusion organisationaler Identität“). Die Übersicht (Tabelle 12) zeigt unterschiedliche Typen von Intensität in der Ausprägung von Diffusion organisationaler Identität nach der Anzahl der zugeordneten Zitate. Dabei wurde zunächst der Range tatsächlicher Ausprägungen bestimmt. Hier lag das empirisch vorgefundene Minimum bei 0 Zitaten je Einzelfall, das Maximum bei 11 Zitaten je Einzelfall. Daraufhin wurden drei Kategorien (s. o.) definiert und die Einzelfälle diesen Schubfächern zugeordnet. Es zeigt sich, dass die meisten Einzelfälle in diesem Sinn eine mittlere Intensität von Diffusion organisationaler Identität aufweisen. Danach folgt Typ 1 („schwache Intensität“), wobei zu diesem Fallcluster auch zwei Fälle gehören, die gar keine Anzeichen von Diffusion aufweisen. Für die Fragestellung schließlich ist Cluster drei von besonderer Bedeutung. Er umfasst vier „Härtefälle“, in denen Diffusion organisationaler Identität, gemessen an der Zahl zugeordneter Zitate, besonders stark ausgeprägt ist. 4.4.1.5 Die Kombination von Härtefällen Nachdem mit Engagement, Identifikation, Bewertung und Intensität von Diffusion organisationaler Identität vier Vergleichskriterien aufgestellt worden sind und auf der Basis dieser Kriterien vier Typologien herausgearbeitet wurden, ist die methodisch kontrollierte Isolierung relevanter Fälle für die sequenzielle Einzelfallanalyse fast abgeschlossen. Es fehlt ein letzter Schritt. Dieser Schritt besteht darin, die Problem- oder Härtefälle zu kombinieren und jene Fälle auszusieben, die in allen der vier Problemcluster vorhanden sind. Ziel ist es also, durch die Kombination von Typologien Fälle zu finden, in denen einerseits Engagement in und Identifikation mit der eigenen Partei zum Problem geworden sind, andererseits Diffusion organisationaler Identität deutlich ausge-
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prägt ist, zudem als persönliches Problem in Bezug auf Engagement und Identifikation bewertet wird. Von diesen Fällen ist zu erwarten, dass hier negative Effekte von Diffusion organisationaler Identität am ehesten rekonstruiert werden können. Dazu wurde eine Kreuztabelle angelegt. Ausprägungen
„eher ambivalent“
Vergleichskriterien Engagement
Identifikation
Rohland Bott Bäumler Schmitt Müller
Bewertung Diffusion
Intensität Diffusion
Für sequenzielle Analyse relevante Einzelfälle
„eher negativ“ Brehmer Rohland Völkel Schattschneider Kowalsky Bäumler Schmitt Brehmer Völkel Feuerbach Schmitt Brehmer Rohland Bork Daininger Bäumler Schmitt Brehmer Rohland Völkel Bork Brehmer Rohland
Tabelle 13: Isolierung relevanter Einzelfälle Über den Weg der Kreuztabelle können letztlich zwei Fälle ausfindig gemacht werden, die in besonderer Art und Weise für die Einzelfallanalyse infrage kommen. Es handelt sich um den Einzelfall Brehmer und (mit geringen Abstrichen)
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um den Einzelfall Rohland. Wenn die Kriterien zur Auswahl der Fälle – eine Beschränkung auf die nur negativen Ausprägungen – weiter gelockert werden würden, können noch mehr Fälle herangezogen werden für die Analyse, z. B. die Fälle Bäumler und Völkel. Die Fälle Brehmer und Rohland sind auch insofern geeignet, da sich beide Fälle deutlich unterscheiden. Frau Brehmer ist ein älteres, westdeutsches SPD-Mitglied mit Gewerkschaftsvergangenheit. Sie hat lange Jahre als Industriearbeiterin gearbeitet. Bei Herrn Rohland handelt es sich um ein jüngeres, ostdeutsches Mitglied der CDU mit Universitätsabschluss und Verwaltungslaufbahn. Schauen wir uns diese Einzelfälle gleich genauer an. 4.4.2 Der Fall Brehmer: „Man hat sich geärgert. Aber irgendwo, da musst du wieder“ Es wurde bereits angedeutet: In diesem Abschnitt des vorliegenden Projektes vollzieht sich ein Wechsel der Perspektive. Während die Ausprägungen von Diffusion organisationaler Identität (und zum Teil auch deren Ursachen aus Sicht der Mitglieder) in Bezug auf alle Fälle im qualitativen Sample diskutiert wurden, kann ein Fokus auf negative Effekte nur ausgewählte, möglichst vielversprechende Einzelfälle berücksichtigen. Zwei von diesen Fällen sollen nun, zum Ende der Datenanalyse hin, eingehend vorgestellt werden. Wir finden in den beiden ausgewählten Fällen Anzeichen dafür, dass das Engagement zurückgefahren werden soll bzw. bereits in der letzten Zeit spürbar abgenommen hat. Zudem gilt für beide Fälle, dass sich die emotionale Bindung des Mitgliedes an die Partei abgeschwächt hat. Zentrales Ziel der Einzelfallanalyse ist es, für diese Dispositionen plausible Gründe herauszuarbeiten. Die Voranalyse der Interviews lieferte in diesem Zusammenhang einerseits Anhaltspunkte dafür, dass Diffusion organisationaler Identität – z. B. in Gestalt wahrgenommener Konvergenz oder Widersprüchlichkeit – hier durchaus als Erklärungsfaktor infrage kommt; denken wir hier nur an die z. T. emotionalen Bewertungen von Diffusion organisationaler Identität, so wie sie just in Kapitel 4.4.1.3 geschildert wurden. Wir wissen andererseits auch, dass diese Zitate isoliert von ihrem fallspezifischen Kontext erfasst worden sind und dass die Parteienforschung eine Reihe weiterer Bedingungsfaktoren erarbeitet hat, die als Erklärung für Disidentifikation und Passivität im Engagement infrage kommen können. Da in qualitativen Forschungen keine statistischen Operationen möglich sind, die den Einfluss von Variablen messen, erfolgt hier ein interpretativer Abwägungsprozess, an dessen Ende aber durchaus auch Aussagen dahin gehend getroffen werden können, welche Faktoren als wichtig anzusehen sind und welche Rolle dabei organisationale Identität spielt.
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Bevor wir zur Analyse des ersten ausgewählten Einzelfalls kommen, noch eine Anmerkung zur Darstellungsweise der Interpretation. Das Kapitel beginnt mit einem Auszug aus dem Forschungstagebuch, um einen lebendigen wie realitätsnahen Einstieg in den Fall und seinen Kontext zu ermöglichen. Weiter geht es mit der Schilderung der „objektiven Daten“. Das sind, im Sinne von Gabriele Rosenthal (1998), Daten der Biografie wie Geburt, Familie, Schule und Ausbildung – also Stationen der erlebten Lebensgeschichte.43 Die objektiven Daten umfassen hier im speziellen die Parteikarriere in ihrer jeweiligen Verlaufskurve. Im nächsten Abschnitt wird die fallspezifische Ausprägung von Diffusion organisationaler Identität vorgestellt und anhand entsprechender Zitate im Kontext geprüft, ob negative Effekte von Diffusion organisationaler Identität auf Engagement und Identifikation wahrscheinlich sind. Diese möglichen Effekte von Diffusion organisationaler Identität sollen in einem weiteren Schritt mit anderen Faktoren kontrastiert werden: Lassen sich im Material auch alternative Lesarten finden, die die jeweilige negative Ausprägung von Engagement und Identifikation auch ohne Rückgriff auf Diffusion organisationaler Identität erklären können? Die Einzelfallanalyse schließt jeweils mit einem Vergleich möglicher Einflussfaktoren ab und bewertet die Rolle von Diffusion organisationaler Identität in Bezug auf die fallspezifischen Ausprägungen von Identifikation und Engagement. Kommen wir nun zum ersten Einzelfall. Im Feldforschungstagebuch findet sich der folgende Eintrag zum Interview mit Berta Brehmer: 9. August 2007 – Treffen mit B. Brehmer Im Gepäck befinden sich Stift, mein altes Bandgerät mit ausreichend vielen Kassetten, ein Stichpunktzettel mit den wichtigsten Leitfragen für meine Interviews. Obwohl ich alle Fragen auswendig kann, gibt mir dieser Zettel Sicherheit. Wie immer bin ich zu früh. Ich parke den Wagen um die Ecke und laufe langsam zum Haus von Berta Brehmer, eine abschüssige, kleine Straße hinunter. Die Häuser hier sind ordentlich, aber nicht herausgeputzt. Wir befinden uns fast im alten Dorfkern. Hier stehen noch Häuser, die für die Landwirtschaft genutzt wurden, viele davon noch mit Fachwerk. Die Gassen wirken eng. Frau Brehmer wohnt in einem roten Backsteinbau aus der Vorkriegszeit des letzten Jahrhunderts. Neben dem Hauseingang wird eine Hofeinfahrt sichtbar. Frau Brehmer durchforstet in dem Moment, in dem ich den Hof betrete, einen Berg von Altpapier. „Ich hab‘ was verlore‘, weggeworfe‘ und bin gerad‘ dabei, mich durch den Papiermüll zu wühle‘, um es wiederzufinne“ ruft Frau Brehmer in hessischem Dialekt gut vernehmlich quer über den Hof. Berta Brehmer schätze ich auf 60 Jahre. Sie begegnet mir sehr freundlich und direkt. Wir duzen uns fast von Beginn an. Auch hier hilft die Kontaktaufnahme per Gewährsmann. Wir kennen uns nicht persönlich. Aber durch den gemeinsamen Bekannten – und die aufgeschlossene Art
43 Auch bei der Einzelfallanalyse wurden die Namen der Befragten sowie Ortsnamen geändert. Um die Privatsphäre der Interviewpartner zu schützen, wurde ferner bei der Falldarstellung soweit möglich auf jene Kontextinformationen verzichtet, die eine unmittelbare Identifizierung der Befragten ermöglichen würden.
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von Frau Brehmer – gibt es erst gar keine Befangenheiten, die in Interviewsituationen wie diesen schnell entstehen können. Das Haus wirkt von innen gedrängt und etwas dunkel. Wir gehen über eine steile Treppe in das Obergeschoss. Funktional hat Frau Brehmer ihre Wohnung eingerichtet. Küche, Wohnzimmer, Fernseher. Frau Brehmer scheint die Wohnung alleine zu nutzen. Es finden sich keine Anzeichen vom „Mann im Haus“. Wir nehmen auf einer Eckbank im Esszimmer Platz. Das Gespräch wird ca. 75 Minuten dauern. Ein guter Mittelwert im Vergleich mit den anderen Gesprächen. Frau Brehmer kommt dem Typus des idealen Interviewpartners nahe. Damit sind Gesprächspartner gemeint, die man nicht zum „Jagen tragen“ muss. Frau Brehmer erzählt ausführlich, ohne Umschweife – und mit zunehmender Dauer durchaus energisch, mit dem Einsatz von Emotionen. Sie erhebt im Verlauf des Gespräches öfter die Stimme, haut mit der Faust auf den Tisch. Für den Interviewer hat das nicht nur Vorteile. Die „thematische Kontrolle“ des Gespräches war unter diesen Bedingungen nicht immer einfach. Frau Brehmer erzählte schnell und wechselte dabei oft unvermittelt das Thema. Durch die große Mitteilungsbereitschaft waren andererseits aber auch Interventionen möglich, ohne dass ein Versiegen des Gesprächsflusses zu befürchten stand. Das Interview begann wie immer mit der einleitenden Frage nach dem „warum und wie“ des eigenen Engagements, streifte aktuelle Zufriedenheit mit der Parteiarbeit und fragte nach den Zukunftsplänen hinsichtlich des eigenen Engagements, um dann auf die Wahrnehmung der eigenen Partei überzuleiten. Es folgte der mittlere und meist umfangreichste Gesprächsteil rund um das Thema organisationale Identität der SPD. Da ich aus früheren Interviews gelernt hatte, wurde versucht, Brüche bei der Konstruktion organisationaler Identität früh zu thematisieren und auch gleich mögliche Konsequenzen abzufragen. Sofern noch nicht geschehen, beendete ich das Gespräch mit der Identifikationsfrage: „Fühlen Sie sich der SPD noch verbunden?“ Das Gespräch mündete in generellen Betrachtungen zur Politik und dem Verhältnis von Basis und Politikelite im „Raumschiff Berlin“. Ich wurde dann freundlich verabschiedet und Frau Brehmer begleitete mich nach draußen, um dort im Hof weiter nach ihren verloren gegangenen Sachen zu suchen.
4.4.2.1 Die objektiven Lebensdaten im Einzelfall Berta Brehmer 1948 ist ein bewegtes Jahr. Geprägt wird es auf der politischen Bühne durch die wachsenden Konflikte unter den ehemaligen Alliierten hinsichtlich der „Deutschen Frage“. Auf die Währungsreform folgt die Berlinblockade durch die Sowjetunion. Die Westmächte antworten mit der Errichtung der Berliner Luftbrücke. Auf dem Verfassungskonvent in Herrenchiemsee beginnt die vorbereitende Beratung zum neuen deutschen Grundgesetz. 1948 ist auch das Jahr, in dem Konrad Adenauer zum Präsidenten des Parlamentarischen Rats gewählt wird. Bertolt Brecht und Helene Weigel kehren aus dem US-amerikanischen Exil nach OstBerlin zurück und der „Club“ aus Nürnberg wird erster deutscher Fußballmeister der Nachkriegszeit. In diesem Jahr wird Berta Brehmer geboren. Der Vater, ein Mitglied der SPD, bekleidete nach Ende des Zweiten Weltkrieges das Amt des Bürgermeisters in einem kleineren Dorf in Hessen. Obwohl über diesen Zeitabschnitt keine weiteren Einzelheiten bekannt sind, ist anzunehmen, dass die Familie mit der jungen Berta und ihren drei Geschwistern irgendwann in den 1950er Jahren,
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vielleicht wegen einer neuen Arbeitsstelle des Vaters, umzog. Ziel des Ortswechsels ist das hessische Dorf Feldbach. Der Ort hat heute etwa 2500 Einwohner. Berta Brehmer wächst dort auf und bleibt dem Dorf ein Leben lang verbunden. Während die ländlich-mittelgebirgige Umgebung Feldbachs mit viel Wald, Äckern, Wiesen und kleinen Dörfern gerade im vergangenen Jahrhundert rein landwirtschaftlich geprägt war, stellte Feldbach selbst eine gewisse Ausnahme dar. Das Dorf wies früh einen Doppelcharakter auf, war sowohl klassisch hessischer Bauernflecken mit Fachwerkhäusern, gleichzeitig aber auch eine Industriesiedlung. Neben der Landwirtschaft war eine Eisengießerei viele Jahre lang wichtiger Arbeitgeber für die Menschen aus der Region. Im 19. Jahrhundert wurde die „Jakobhütte“ gegründet. Hergestellt wurde auf der „Jakob“ nahezu alles, was sich in Eisen gießen ließ. In den 1950er Jahren strukturierte man den Betrieb um. Er erhielt zusätzlich eine Blechverarbeitung mit Werkzeug- und Formenbau. Heute umfasst das Lieferprogramm vor allem Kaminöfen. Auch der berufliche Weg von Berta Brehmer führt zur Jakobhütte. Vorher, so lässt sich rekonstruieren, hat Berta Brehmer in Feldbach oder einem der Dörfer der Region die Volksschule besucht, eine traditionelle Schulform, die erst in den mittleren 1960er Jahren von der Grund- und Hauptschule abgelöst wird. 1962 verlässt Frau Brehmer – mit 14 Jahren – die Volksschule und tritt in das Berufsleben ein. Damit beginnt ein langer Weg. 2007 wird sie auf beinahe 45 Jahre ununterbrochener Berufstätigkeit zurückblicken können. Die Jakobhütte ist schnell mehr als nur reiner Ort des Arbeitens und Geldverdienens. Die Gießerei wird zur Bühne des ersten ehrenamtlichen Engagements von Berta Brehmer. Sie bringt sich für die Gewerkschaft ein und agiert für die IG-Metall als Vertrauenskörper. Vertrauensleute wie Berta Brehmer beraten und betreuen die Arbeitnehmerschaft, sie erläutern Aufgaben und Ziele der IG Metall und erklären, wie Mitglieder in ihrer Gewerkschaft vor Ort, aber vor allem auch im Betrieb mitwirken können. Später wird Berta Brehmer sogar Vorsitzende des Betriebsrates auf der Jakobhütte. Die Gewerkschaftsarbeit umfasst aber in diesen Jahren nicht nur die reine Interessenvertretung im Betrieb, sie beinhaltet auch den Einsatz für Frieden und Abrüstung, den Protest gegen Atomwaffen und NATO-Doppelbeschluss. Aber die Gewerkschaft ist (noch) nicht alles. In ihrer freien Zeit engagiert sich Berta Brehmer als ehrenamtliche Richterin. 1987, im Alter von 40 Jahren, findet Berta Brehmer den Weg zur Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Eigentlich reist sie in diesem Jahr nur zum großen Gewerkschaftstag nach Hamburg. Als aber dort Willy Brandt, ein erklärter Sympathieträger der Befragten, auftritt und die Freunde und Kollegen drängen, kommt das eine zum anderen:
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Und dann war Willy Brandt da, und da haben die anderen gesagt: Berta, was, Du bist net in der SPD? Und da hab ich gesagt: Jetzt wird’s Zeit, und habe ich gesagt: So, und jetzt kriege ich auch noch die Unterschrift vom Willy Brandt. Da habe ich die Unterschrift vom Willy Brandt auf meiner Eintrittserklärung. Persönlich hab ich mit ihm gesprochen in Berlin, in Hamburg, so bin ich dann [eingetreten].
Trotz Familie und beruflicher Tätigkeit, trotz Engagements in der Gewerkschaft und des Amtes als ehrenamtliche Richterin tritt Berta Brehmer auch im Rahmen ihrer SPD-Mitgliederschaft rasch eine Reihe öffentlicher Ämter und offizieller Parteipositionen an. Im Laufe ihrer 20-jährigen Parteikarriere übernimmt Frau Brehmer den Vorsitz eines SPD-Stadtverbands, ist Delegierte des SPDUnterbezirks und kandidiert für den Kreistag. Zudem arbeitet sie im Ortsbeirat von Feldbach und ist Mitglied in der Stadtverordnetenversammlung. Im Jahr 2007 – dem Jahr also, in dem das Interview erfolgt – mehren sich allerdings die Anzeichen, als seien diese Zeiten des Engagements vorbei. Die Aktivitätskurve zeigt erkennbar nach unten. Das Amt der Stadtverbandsvorsitzenden hat Frau Brehmer bereits aufgegeben. An einigen Stellen im Interview werden weitere Rückzugsgedanken offenkundig. Momentan bin ich dabei, die Sachen, peu à peu die Sache nach hinten zu fahren (…) Ich werde jetzt 60 Jahre alt, nächstes Jahr. Jetzt bin (…) ich noch mal gewählt für die Stadtverordnetenversammlung. Und dann bei der nächsten Wahl muss man sehen, ob man das noch mal machen will, oder nicht. Oder ob man in die nächste Reihe zurücktritt.
Das parteipolitische Engagement ist nicht die einzige Kurve, die nach unten zeigt. Was im Laufe der letzten Jahre zumindest abgenommen hat, ist das Gefühl der Verbundenheit mit der eigenen Partei. Zunächst scheint diese Verbundenheit vorhanden. Gleichzeitig sind die entsprechenden Textpassagen in der Vergangenheitsform verfasst. So ist Verbundenheit vorhanden, sie klingt an, wirkt aber wie ein Gefühl aus vergangener Zeit: „Bloß, dass eine war halt immer, ich wollte eigentlich immer, SPD gewählt auch nachher (…) Also die Tendenz war immer SPD“. Deutlicher wird die abgekühlte Parteienbindung in einer späteren Passage des Interviews, in der Berta Brehmer eigentlich von Gerhard Schröder erzählen will. Man achte dabei auf die letzten beiden Sätze: Erstens, also ich bin ein Stück von gestern, muss man einfach sagen, weil Schröder war nie mein Mann. Ich habe nur gedacht, es müssen Sachen sein, vielleicht ist es der Richtige, der das auch durchsetzen kann. Aber Schröder war nie der, den ich dafür, also war nie mein Mann, muss ich ehrlich sagen. Und da hat das schon, für mich war die Partei, also, war das unsere Partei. Und diese Überzeugung kann ich heute nicht mehr in diesem Brustton sagen.
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4.4.2.2 „So ein klares Bild von der SPD, das gibt es nicht mehr“ - Diffusion organisationaler Identität im Fall Brehmer Im Zentrum aller geführten Interviews stand die Frage nach der Wahrnehmung der eigenen Partei unter dem Aspekt organisationaler Identität. Was macht also den Kern der Partei aus, wo liegen die Unterschiede der SPD bzw. CDU zu den Mitbewerbern und Konkurrenten im Parteiensystem und was ist im Lauf der Zeit (bei aller Veränderung) an der SPD bzw. CDU gleich geblieben? Aus der Sicht von Berta Brehmer ist die Sozialdemokratische Partei Deutschlands im Kern vor allem jene Partei, die für den Wert der Gerechtigkeit steht. Frau Brehmer teilt diese Perspektive mit vielen anderen befragten Sozialdemokraten: Also, die SPD war immer für mich, die Partei, die für mich stand, ein Stück Gerechtigkeit, auch für Arbeitnehmer, für Rentner, für alles mehr (…) Noch nicht einmal nur Schwerpunkt, aber ein Stück Gerechtigkeit für den Arbeitnehmer. Ein Stück Gerechtigkeit.
Das Gerechtigkeitskonzept der SPD wird im Verlauf des Interviews zwar nicht weiter ausdifferenziert. Trotzdem kann man herauslesen, dass Gerechtigkeit bei Berta Brehmer als (gesellschaftlicher) Zustand des Gleichgewichts erscheint, der vor allem für ein bestimmtes gesellschaftliches Milieu (erst noch und immer wieder) geschaffen werden muss, nämlich die Arbeiter- bzw. Arbeitnehmerschaft. Das Eintreten für die Interessen dieser sozialen Schicht ist gleichsam das zweite „Wesensmerkmal“ der SPD aus der Perspektive von Berta Brehmer, mithin auch jene inhaltliche Konstante, die am ehesten noch im Laufe der Zeit gleich geblieben ist und die eigene Partei von den anderen Parteien unterscheidet. So habe die CDU zwar auch ihren christlichen Flügel gehabt, aber die waren immer mehr disponiert, auf andere Sachen. Und für mich war das die Partei (…) Weil die für Arbeitnehmer eingetreten ist, für Rechte, für alles Mögliche, und das war damals das Abbild.
4.4.2.2.1 Die Gestalt des Identitätsproblems Die Nutzung des Präteritums im letzten Zitat deutet bereits an, dass die Konstruktion organisationaler Identität auch bei Berta Brehmer beileibe nicht ohne Hindernisse funktioniert. Im Gegenteil. Die Probleme beginnen bei der Identifikation zentraler Eigenschaften und Merkmale im Erscheinungsbild der Partei. Zwar ist die SPD eigentlich im Kern die Partei der sozialen Gerechtigkeit, die für die Interessen der Arbeiter eintritt. Auf der anderen Seite ist die Benennung jener Partei-Eigenschaften, die Priorität haben vor all den vielen anderen denkbaren
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Eigenschaften, die prinzipiell mit der eigenen Partei in Verbindung gebracht werden könnten, nicht einfacher geworden. Auf die Frage: „Fällt es Dir schwer, den Kern, das Wesentliche der SPD zu erfassen?“ antwortet Berta Brehmer nach einigem Nachdenken: „Also das fällt schon schwer“, um dann wieder eine Nachdenkpause einzulegen. Dafür sind vor allem zwei Gründe naheliegend. Zum einen ist die Partei offenbar nicht in der Lage, mittels programmatischer Schriften erkennbar inhaltliche Schwerpunkte zu setzen und Mitgliedern wie Berta Brehmer eine glaubwürdige und identitätsstiftende Hierarchie von Werten und politischen Zielvorstellungen, kurz: ein Orientierung schaffendes Schema, anzubieten. Das neue Grundsatzprogramm der Sozialdemokraten erweist sich als unscharf, ist, in den Worten von Frau Brehmer, „Wischiwaschi“. Zum anderen tritt das Gefühl einer ganz grundsätzlichen Zunahme der Komplexität von Gesellschaft und politischer Zusammenhänge zutage, die nicht nur das Bild von der Partei undeutlicher werden lässt. Es sind vor allem die ökonomischen Globalisierungsprozesse, die die Welt insgesamt schwerer durchschaubar machen und alte Gewissheiten unterminieren. Damals, in den 1960er und 1970er Jahren, das waren Aufbaujahre, also den Gedanken, dass man arbeitslos werden könnte, hat es damals gar nicht gegeben für mich. Die letzten sechs Jahre hätte, aber damals nicht. Wenn du irgendwo, gehe ich woanders hin. Somit war die Welt auch einfacher zu erklären, denke ich, weil irgendwo. Und durch die Globalisierung und alles Mögliche, weil, du hast die Unternehmer vor Ort gehabt, du hattest Sachen vor Ort gehabt, da kamen, wie die Jakobhütte, da sollte wegen der Auflagen die Gießerei geschlossen werden. Da ist die Landtagsabgeordnete angetanzt. Da sind die angetanzt. Heute, je nachdem, die Firma Schmidt in Großwald, da weiß man nicht mehr, welche Heuschrecke da drin sitzt [laut] Erst war ein Schwede drin, jetzt ist ein Japaner drin. Der Name bleibt, der Konzern dahinter heißt anders. Damals, die Unternehmen, da hatte man Köpfe, die kannte man. Denen ihr Wort galt was. Damals war die Welt auch noch einfacher zu erklären, weil die kompakter war, und deshalb fühlt man sich auch so ein Stück verloren.
Weiterhin unterliegen jene Eigenschaften, die man immer zum Kernbestand der eigenen Partei gezählt hat, Transformationsprozessen. Dies betrifft im Fall Berta Brehmer die Funktion der SPD als Agent der Arbeiter- bzw. Arbeitnehmerschaft, was sich z. B. in diesem Zitat artikuliert: Ich denke, diese Partei verändert sich kontinuierlich und man kann nicht sagen, die hat sich auch in früheren Jahren verändert. Verändert hat die sich schon (…) Weil die für Arbeitnehmer eingetreten ist, für Rechte, für alles Mögliche, und das war damals das Abbild. Jetzt hat sich die Gesellschaft verändert, mit dem Individualismus, jeder ist seines Glückes Schmied.
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Dieses Zitat deutet schon an, dass das Erscheinungsbild der SPD aus der Sicht von Berta Brehmer Verzerrungen ausgesetzt ist. Ihr Zwischenfazit lautet: „So ein klares Bild von der SPD, das gibt es nicht mehr“. Dabei geht es nicht nur um das Problem, im Erscheinungsbild der SPD den Markenkern zu definieren. Es handelt sich ebenfalls nicht nur Problem des Wandels zentraler Eigenschaften. Wie in vielen anderen Interviews auch besteht Diffusion organisationaler Identität im Fall von Berta Brehmer hauptsächlich im Verlust der Unterschiede zwischen der eigenen Partei SPD und den anderen Parteien. Vor allem die Distanz zur „alten Widersacherin“ CDU, die nun durch die Laune der Wähler mit im bundespolitischen Regierungsboot sitzt, ist geringer geworden. Insgesamt besteht im Fall Brehmer eine wahrgenommene Parteienkonvergenz auf drei Ebenen. Erstens lässt sich ein allgemeines Gefühl der Angleichung feststellen. Denn für Berta Brehmer ist klar, dass alle Parteien „insgesamt stromlinienförmiger werden“. Zweitens ist von einer programmatischen Annäherung der Parteien die Rede, von der auch die SPD betroffen ist. In einer emotionalen Passage des Gesprächs führt Frau Brehmer aus: Die nähern sich an, die Programme. Also, wo siehst Du da noch Unterschiede? Und die sind, und die werden weniger. Die sind da vielleicht noch, wo der eine sein Steckenpferd noch reitet und der andere, wo er noch denkt, dass er die Partei hinter sich bringt, wo er noch Wert drauf [laut] legen müsste, dass es drin stehen muss. Ne, auch bei der SPD. Man muss ja auf die eigene Klientel, aber noch mal, die nähern sich alle. Die nähern sich alle, also für mich heißt das: Die nähern sich an.
Drittens geht es um eine Austauschbarkeit der Positionen parteipolitischer Akteure. Um dieses Problem zu illustrieren, wählt Berta Brehmer das Feld der Finanzpolitik: Wenn man sieht, heute, unseren Finanzminister sehe, der vertritt ja da die Sache, aber wenn es da um Sachen geht, jetzt, also ich glaube, das wird ein CDU-Mann auch nicht anders machen.
Diese Zitate sollen die spezifische Ausprägung von Diffusion organisationaler Identität im Fall Brehmer illustrieren: Berta Brehmer hat Probleme damit, die Kerneigenschaften der Partei zu identifizieren, ehemalige Kernmerkmale treffen heute nicht mehr zu und die Demarkationslinien, welche die eigene Partei von anderen trennt und die SPD einzigartig machten, sind heute kaum noch deutlich zu erkennen. Damit sind (fast) alle theoretisch möglichen Dimensionen von Diffusion tatsächlich im Fall virulent (vgl. Kapitel 2.1.1). Auch was die Anzahl der Zitate betrifft, ist der Fall besonders. An insgesamt 10 Stellen kommt Berta Brehmer auf „Identitätsprobleme“ zu sprechen. Mit anderen Worten ist Identitätsdiffusion im Vergleich zu anderen Interviews überdurchschnittlich stark ausgeprägt.
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4.4.2.2.2 Negativ-Effekte von Diffusion organisationaler Identität im Einzelfall? Weder die Betroffenheit aller denkbaren Dimensionen von Diffusion organisationaler Identität, noch eine hohe Zahl an „Diffusionszitaten“ ist eine zwingende Voraussetzung dafür, dass tatsächlich das Engagement und die Parteienbindung negativ tangiert werden. Es gibt Fälle, die einerseits einen hohen Grad an Diffusion vorweisen, andererseits aber ebenso auch ein hohes Maß an Einsatzbereitschaft und Identifikation mit der eigenen Partei zeigen. Der Fall Berta Brehmer weist negative Tendenzen in Aktivität und Identifikation auf. Das Wichtigste bei Berta Brehmer aber ist, dass sich im Rahmen der Vorabauswertung Textpassagen zeigten, die eine Verbindung zwischen Diffusion, Aktivität und Identifikation nahelegen. Gerade deswegen wurde der Einzelfall Berta Brehmer für eine Tiefenanalyse ausgewählt. Freilich fehlte zur Einschätzung der Wertigkeit dieser Textstellen die Einbettung in den Zusammenhang des Einzelfalles, da die kategorielle Inhaltsanalyse eine solche Kontextualisierung nicht vorsieht. Am deutlichsten schien ein Zusammenhang zwischen einer Diffusion von Kontinuität und einer emotionalen Entkoppelung von der SPD zu sein. Schauen wir uns dazu das erste der drei Zitate an. Es wurde weiter oben bereits angeführt: Erstens, also ich bin ein Stück von gestern, muss man einfach sagen, weil Schröder war nie mein Mann. Ich habe nur gedacht, es müssen Sachen sein, vielleicht ist es der Richtige, der das auch durchsetzen kann. Aber Schröder war nie der, den ich dafür, also war nie mein Mann, muss ich ehrlich sagen. Und da hat das schon, für mich war die Partei, also, war das unsere Partei. Und diese Überzeugung kann ich heute nicht mehr in diesem Brustton sagen. Weil die für Arbeitnehmer eingetreten ist, für Rechte, für alles Mögliche, und das war damals das Abbild.
Dieses Zitat belegt zum einen unzweifelhaft ein Entfremdungsgefühl – wenn man es anders ausdrücken will, eine Disidentifikation – von der eigenen Partei (die SPD ist nicht mehr „unsere“ Partei) und liefert gleichsam eine Begründung dafür, warum dieses Gefühl der Distanz entstanden ist. Berta Brehmer führt in dieser Passage einen Transformationsprozess ins Feld. Als zentraler Merkmalstypus fungiert bei der SPD das Verhältnis zu Bezugsgruppen. Hier hat ein Wandel stattgefunden. Eigentlich ist die SPD eine Partei, die Arbeitnehmerinteressen vertritt. Zugleich beschreibt diese Vorstellung einen Zustand in der Vergangenheit („damals das Abbild“). Heute hingegen ist die SPD nicht mehr die Partei der Arbeit(nehm)er, sondern einer Neuen Mitte, die in der Passage durch den Namen Gerhard Schröder symbolisiert wird. Bei intensiverer Betrachtung dieser Passage tritt ein analytisches Problem auf. Dazu müssen wir uns nur noch einmal fragen, worin das Problem faktisch genau besteht, das Frau Brehmer schließlich in die Entfremdung von der eigenen Partei „treibt“. Ist es der Wandel (eines Identitätsbausteins) an sich, oder doch
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eher die Tatsache, dass z. B. die eigene Partei heute eine Politik praktiziert, die mit der eigenen politischen Agenda nichts mehr gemein hat. Nur der Nachweis des Ersteren würde für eine Relevanz von Identitätsdiffusion sprechen. Dieser Nachweis kann auf der Basis dieser Textstelle und des näheren Zitatumfelds nicht getroffen werden. Eine „zweite Chance“, um negative Effekte von Identitätsdiffusion zu rekonstruieren, bietet das folgende Zitat aus dem Interview mit Berta Brehmer, welches wir auch schon kennengelernt haben. Also, die SPD war immer für, die Partei, die für mich stand, ein Stück Gerechtigkeit, auch für Arbeitnehmer, für Rentner, für alles mehr. Die CDU hat ja auch ihren christlichen Flügel gehabt, aber die waren immer mehr disponiert, auf andere Sachen. Und für mich war das die Partei. Bloß, mittlerweile, mit der Merkel, verliert die ein Stück, auch da, und ich komme da manchmal auch heute noch nicht klar damit.
In diesem Abschnitt ist vom Verhältnis zwischen der CDU und der SPD die Rede. Früher nahm Berta Brehmer eine Distanz zwischen beiden Parteien wahr. Dieser Unterschied wurde festgemacht am Wert der sozialen Gerechtigkeit, verknüpft mit dem Auftrag der SPD als „Broker“ der Interessen der Schicht der Arbeit(nehm)er. Damit war eine Unterscheidung von der CDU möglich, die „immer auf andere Sachen disponiert war“. Heute ist diese Distanz so nicht mehr gegeben. Dieser Angleichungsprozess wird einerseits durch den Wandel der SPD befördert. Thematisiert wird aber auch die Transformation der „CDU“ unter der Führung von Angela Merkel. Berta Brehmer nimmt diesen Prozess nicht nur zur Kenntnis, sondern sie beschreibt auch – wenngleich knapp – eine Konsequenz dieses Prozesses: „Und ich komme da manchmal auch heute noch nicht klar damit.“ Welche Folgen hat aber dieses Gefühl des Unverständnisses, des Nicht-mit-klar-Kommens? Führt das Unverständnis zum Rückzug und zur Distanz? Bevor sie dieses Gefühl näher ausführt, wechselt Frau Brehmer das Thema. Der Interviewer hätte hier nachhaken können, hat dies aber nicht getan. So bleibt schließlich als „dritte Chance“ für die Untermauerung negativer Effekte von Identitätsdiffusion eine Passage übrig, in der Berta Brehmer von den Erfahrungen ihrer Auseinandersetzung mit dem neuen SPD-Parteiprogramm berichtet. Zum Zeitpunkt der Befragung, im Sommer 2007, befindet sich die SPD nämlich mitten in der Debatte um ihr neues Manifest. Die Parteispitze initiiert dazu eine aufwendige Mitgliederbefragung. Dem Parteiorgan Vorwärts, den alle Mitglieder kostenlos erhalten, wird ein Fragebogen beigelegt. Dort sollen durch die „Genossen“ Themen bewertet und eigene inhaltliche Vorschläge zum Grundsatzprogramm gemacht werden. Die Führung der Partei werde sich diesem Mitgliedervotum stellen, versichert SPD-Generalsekretär Hubertus Heil im Früh-
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jahr. Ende Oktober 2007 wird das neue Programm auf dem SPD-Parteitag in Hamburg verabschiedet. Berta Brehmer gehört zu den rund 45.000 SPDMitgliedern, die vom Angebot zur Mitgestaltung des Programms Gebrauch machen. Doch Partizipation bedeutet hier noch lange kein Einverständnis. Frau Brehmer kritisiert, wie viele ihrer Parteifreunde, die für das vorliegende Projekt befragt wurden, sowohl Modus der Befragung als auch Inhalt des neuen Programms. Um dies zu illustrieren, sei eine längere Passage aus dem Interview wiedergegeben: Brehmer: Also das fällt schon schwer. Ich muss Dir sagen, das neue Grundsatzprogramm, was die SPD, da hatten mir Folien, und da sollten wir Stellung nehmen. Und was da, und da steht nichts mehr, das ist [betont] Wischiwaschi! Weißt Du, was ich gemacht habe? Junge: Was denn? Brehmer: Habe zwei Fragezeichen hinter die Sachen gemacht und sagte: Was soll ich damit anfangen? [Erregt] Weil alles, weil das so zugeschnitten ist, dass man das nach jeder Seite öffnen kann. Junge: Ärgert einen das? Brehmer: Na klar. Weil, die [laut] sind ja an nichts mehr gebunden. Da ist doch keine, das ist doch nichts mehr drin, wo die sich dran halten müssen. Da wird der Satz so formuliert, genau wie überall, sagen wir mal. Wir hatten das ja in den Betrieben, hast du ja überall. Das man alles da irgendwann hineininterpretieren kann. Also man fragt, wird schon von Anfang an drauf geschaut, dass die Textlage so ist, dass man alles da drin unterbringen kann. Und somit wird das in keinsterweise konkret, für Sachen. Junge: Wirkt sich das denn auch aus auf die Motivation? Brehmer: Ich habe es mir alles durchgelesen, da habe ich gedacht: was? Ich habe wirklich das ein paar Tage liegen gelassen, und dann habe ich, ich habe, ich hätte es auch wegwerfen können. Ich habe Geld dran gehangen [?] und habe es zurückgeschickt.
Aus Sicht der Interpreten liegt auch in diesem Fall Diffusion organisationaler Identität vor. Inhaltlicher Fokus der Diffusion ist hier das neue Grundsatzprogramm. Zu Beginn des Programmparteitages im Oktober 2007 rief der damalige Parteivorsitzende Kurt Beck die Delegierten dazu auf, dass Profil der SPD als Partei der sozialen Gerechtigkeit zu schärfen. Am Ende des Konvents erklärte der Außenminister und spätere Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier pflichtgemäß: „Der neue Entwurf integriert und schärft das Profil der SPD“. Profil geschärft, Unterschiede markiert – Mission erfüllt? Nicht überall wird diese Perspektive geteilt. Berta Brehmer gehört, wie die Passage zeigt, zu den kritischen Geistern in ihrer Partei. Damit sich die Parteiführung parteiintern Handlungsoptionen frei hält und nach außen, auf den Wählermarkt hin, für mög-
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lichst viele Menschen attraktiv bleibt, wird aus der Sicht von Frau Brehmer im Grundsatzprogramm auf allzu deutliche Positionierungen verzichtet. Diese Strategie hat ihren Preis. Für sie bleibt das Programm, die wichtigste Selbstbeschreibung der Partei, unscharf, in ihren Worten: „Wischiwaschi“. Damit ist sowohl gemeint, dass Kerninhalte kaum noch sichtbar werden. Ebenso sind Unterschiede zu anderen Parteien anhand des Programms nur noch schwer auszumachen. Und wie in den beiden vorangegangen Zitaten, so wird auch in diesem dritten Zitat nicht nur das Diffusionsproblem an sich beschrieben. Auch hier scheinen mit dem Problem Konsequenzen verbunden zu sein. Nur geht es hier nicht um Unverständnis, sondern um eine Emotion. Es geht um Ärger („Ärgert einen das?“ – „Na klar“). Aber auch diese Emotionsbekundung reicht nach eingehender Betrachtung der Passage und deren unmittelbaren Textumfeldes aus Sicht der Interpreten letztlich nicht aus, um eindeutige Wirkungszusammenhänge zwischen in diesem Fall mehrdeutiger Diffusion oder Konvergenz auf der programmatischen Ebene und Engagement respektive Identifikation nachzuweisen. Ein Gefühl von Ärger kann sich auswirken auf Motivation, etwas für die Partei zu machen, es kann sich auswirken auf die Bindung an die Partei. Ob dies der Fall ist, lässt sich anhand dieser Passage wiederum nicht eindeutig klären. Auch der Versuch, durch spontane Nachfrage diesen Zusammenhang zu erhärten („wirkt sich das denn auch aus auf die Motivation?“) führte nicht zum Erfolg. Die Sequenz wird von Frau Brehmer abgeschlossen durch eine Schilderung, wie die Umfrage von ihr an die Zentrale nach Berlin zurückgeschickt wurde. Ziehen wir hier ein kleines Zwischenfazit: Der Fall Berta Brehmer ist ein Fall, in dem Diffusion organisationaler Identität deutlich und stark ausgeprägt ist. Und das in allen Dimensionen, als Gefühl der Schwierigkeit, Kerninhalte zu definieren, als Gefühl des Wandels dieser Kerninhalte, als Gefühl, dass sich die Partei – auf unterschiedlichen Ebenen – nicht von den anderen Parteien unterscheidet. Dennoch kann ein negativer Effekt dieser Diffusionsausprägungen auf Aktivität und Identifikation aufgrund der vorliegenden Textpassagen nicht eindeutig nachgewiesen werden. Die Vermutung bezüglich möglicher negativer Effekte von Diffusion organisationaler Identität basierte auf drei Textstellen. Diese Textstellen wurden im Rahmen des fallspezifischen Kontexts genauer betrachtet: Bei einem Zitat war die Wirkung klar (Distanzierung von Partei), aber die Ursache konnte nicht eindeutig der Diffusion organisationaler Identität zugerechnet werden. Bei den beiden anderen Zitaten waren die Ursachen klar (Diffusion als Konvergenz), die Wirkung aber nicht eindeutig auf Aktivität und/oder Identifikation zurückzuführen. Wie beschrieben kann das Gefühl des Befremdens und des Ärgers Auswirkungen haben, sowohl zu Entfremdung und Rückzug führen. Ob dieses tatsächlich der Fall ist, geben die Zitate aber nicht her. Mit anderen Worten: Ein kausa-
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ler Zusammenhang zwischen dieser Diffusion und Rückzug bzw. Entidentifizierung erscheint möglich, wird aber durch die Zitate des Falles nicht eindeutig, oder entscheidend bestätigt. Dafür muss auch die Interviewführung verantwortlich gemacht werden, die es nicht schaffte, im entscheidenden Moment Konkretisierungen zu evozieren. Um abschließend klären zu können, welche Bedeutung dem Faktor Diffusion organisationaler Identität zukommt, ist es wichtig, diesen Faktor mit anderen potenziellen Einflussfaktoren zu kontrastieren. Das soll im nächsten Abschnitt geschehen. 4.4.2.3 Alternative Lesarten zur Erklärung von Identifikation und Engagement Diese Einzelfallanalyse dient einem wichtigen Zweck. Sie soll die Frage nach den Effekten von Diffusion organisationaler Identität klären. Gerade Verfassern qualitativer Forschungsprojekte wird immer wieder vorgeworfen, ohnehin nur jene Ergebnisse zu extrahieren, die Ausgangsüberlegungen bestätigen und Thesen verifizieren, die vorher aufgestellt wurden. Um dem vorzubeugen, wurden hier erstens mehrere Interpreten mit der Auswertung der Einzelfälle betraut. Zweitens wurden diese Interpreten dezidiert dazu angehalten, unterschiedliche Lesarten für den Rückzug aus der Partei und emotionaler Distanz herauszufinden, die nicht auf den Faktor Identitätsdiffusion rekurrieren. Diese konnten aufgestellt werden. Schauen wir uns diese Lesarten etwas genauer an. 4.4.2.3.1 Emotionale Distanz zur SPD durch frühe Gewerkschaftssozialisation Das weiter oben wiedergegebene Zitat, welches die emotionale Distanz Berta Brehmers zur SPD veranschaulicht, vermittelt dem Leser den Eindruck, dass die Befragte in der Vergangenheit immer durch ein enges Band mit der Partei verbunden war und das sich dieses Band erst in der letzten Zeit gelockert hat. Eine eingehende Interpretation des Interviews lässt aber auch einen alternativen Schluss zu. Wahrscheinlich ist, dass die Verbundenheit mit der SPD nie sonderlich ausgeprägt gewesen ist. Das mag auf den ersten Blick ein Widerspruch sein zum hohen Grad der Aktivität, die wir aus dem Abschnitt zu den „objektiven Daten“ kennengelernt haben. Dennoch hat diese Interpretation einiges für sich. Betrachtet man die frühe Biografie von Berta Brehmer, so ist der direkte, schnelle Weg in die SPD besonders wegen der prägnanten Vaterfigur im Grunde vorgezeichnet. Für die junge Berta ist die SPD keine fremde Organisation, sondern eine vertraute „Truppe“. Als kleines Kind wurde sie höchstwahrscheinlich mitgenommen auf gesellige Parteiveranstaltungen. Mitglieder der SPD, Partei-
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freunde des Vaters, werden im Hause Brehmer ein- und ausgegangen sein. Damit entfällt zumindest eine soziale Schwellenangst, die viele Menschen von einem Parteieintritt abhält. Ähnliche familiäre Parteitraditionen führten bei anderen Mitgliedern, die ebenfalls befragt wurden, umgehend in die Jugendorganisationen oder in die Partei. Bei Berta Brehmer bleibt der erwartbare rasche Beitritt zur SPD allerdings aus. Der entscheidende Schritt erfolgt weder mit 16 Jahren bei den Jusos, auch nicht mit 25 Jahren bei der Mutterpartei. Frau Brehmer ist bereits 40 Jahre alt, als sie der SPD beitritt. Zudem stellt sich der Akt des Eintritts kaum als Erfüllung eines lang gehegten Traums dar, sondern ist letztlich Resultat sanften Drucks aus dem sozialen Umfeld: „Und da haben die anderen gesagt: Berta, was, Du bist nicht in der SPD? Und da hab ich gesagt: Jetzt wird’s Zeit“. Das soziale Umfeld ist durchaus ein Faktor im Leben von Berta Brehmer, auch vor der SPD-Phase. Dezente Aufforderungen aus dem Bekanntenkreis haben sie bereits in jüngeren Jahren einer Organisation „zugeführt“, nämlich der IG Metall. Obwohl wir das Eintrittsdatum nicht kennen, wissen wir, dass der Berufseinstieg bereits mit 14 Jahren erfolgt. Frau Brehmer kommt also in der formativen Jugendzeit früh mit der Gewerkschaft in Berührung. Anzunehmen ist, dass die Identifikation eher mit der Gewerkschaft bestand und immer noch besteht. Hier ist bezeichnend, dass nach wie vor im Zusammenhang mit der Gewerkschaft die „Wir-Form“ genutzt wird, aber kaum im Kontext der SPD. Für die Interpreten des Interviews war es nun naheliegend, dass nicht nur der frühe Einstieg und die lange Tätigkeit für die Gewerkschaft für eine Distanz verantwortlich sind. Der Grund für die Distanz kann in der Mitgliedschaft selbst liegen. Was ist damit gemeint? Die Mitgliedschaft in der IG Metall umfasst bei Berta Brehmer nicht nur die Ausübung eines Amtes (z. B. des Vertrauenskörpers) am Arbeitsplatz Jakobhütte. Zum Programm gehört auch die Teilnahme an Fortbildungsmaßnahmen. Berta Brehmer besuchte Schulungen an einer hessischen Universität, „wo du (…) auch mal einen Tag diskutiert hast, oder über Texte gestritten hast, das war der Blick über den Tellerrand“. An betreffender Universität gab es eine „Arbeitsgemeinschaft für gewerkschaftliche Fragen“. Mittels dieser AG prägten Lehrende und Studierende vor allem in den 1970er Jahren die Bildungsarbeit der IG Metall, aber auch der ÖTV und weiterer Unterorganisationen im Verband des DGB. Es ist gut vorstellbar, das auch Berta Brehmer mit dem Arbeitskreis in Kontakt gekommen ist. Die Universität war in den späten 1960er und 1970er Jahren insgesamt Zentrum der Studentenbewegung, der „Außerparlamentarischen Opposition“ (APO). Zu den inhaltlichen Gemeinsamkeiten der heterogenen Strömungen innerhalb der APO gehörte eine dezidierte Skepsis den etablierten Parteien gegenüber (Kailitz 2007). Borowsky (2007) schreibt:
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Die Große Koalition war im November 1966 mit der Absicht gebildet worden, die wirtschaftliche Rezession zu überwinden. Doch das Einvernehmen zwischen den beiden großen Volksparteien, die relative Bedeutungslosigkeit der parlamentarischen Opposition und der damit verbundene Funktionsverlust des Parlaments nährten vor allem bei einem großen Teil der akademischen Jugend ein bereits vorher gespürtes und artikuliertes Unbehagen am politischen und gesellschaftlichen System der Bundesrepublik. Es entstand eine Bewegung, die sich selbst als „Außerparlamentarische Opposition“ (APO) bezeichnete und Forderungen an das parlamentarische System und die „etablierten“ Parteien richtete.
Den theoretischen Überbau lieferte auch die Kritische Theorie der Frankfurter Schule. Arbeiter- und Studentenbewegungen wurden als wahre Vertreter des sozialen Fortschritts gesehen. Die SPD hingegen war Teil des Kartells affirmativer Kräfte, Element des herrschenden, symbiotischen Systems aus Wirtschaft und Politik. Der Kontakt mit diesem Studentenmilieu – der im Übrigen keine Einmaligkeit darstellt, sondern sich im Lauf der Jahre wiederholt – beeinflusst Berta Brehmer nachhaltig. Noch heute bezeichnet sie sich als „´68er“, obwohl ihr der typische, bürgerlich-akademische Habitus abgeht, der für viele Mitglieder der Studentenbewegung kennzeichnend war. „1968er Bewegung, das hat mich geprägt“, bekennt Berta Brehmer. Vermutet werden darf, dass zum formativen „Blick über den Tellerrand“ auch ein skeptischer Blick auf die Parteien gehört. Die Interpreten nehmen an, dass auch Berta Brehmer von dieser Perspektive nicht unbeeinflusst geblieben ist. Nur durch diese Prägung ist verständlich, dass eine Frau, die dann doch 20 Jahre intensiv in einer Partei arbeitete, ganz nebenbei sagt: „Ich wollte nie einer Partei beitreten“. 4.4.2.3.2 Mobilitätsverlust und Sozialdruck – Gründe für den Rückzug aus der Parteiarbeit Als es im Gespräch mit Frau Brehmer um das Thema Perspektiven in der eigenen Partei geht und dann der geplante Rückzug (auf Raten) zur Sprache kommt, ist aufschlussreich, welche Begründungen eigentlich alle nicht benannt werden: Es fehlen, für unsere Fragestellung wichtig, überhaupt deutliche Bezüge zur Zerrüttung des Erscheinungsbildes der SPD. Es gibt aber an dieser konkreten Stelle auch keine Verweise etwa auf persönliche Querelen und innerparteiliche Konflikte, es fehlt der Verweis auf das Scheitern eigener politischer Projekte vor Ort, es fehlt die erwartbare Referenz auf große Verwerfungen der SPD auf Bundesebene. Dafür taucht ein anderer, „profanerer“ Faktor auf. Angesprochen auf den weiteren Verlauf des parteipolitischen Engagements sagt Berta Brehmer:
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Das kommt drauf an, wie man sich fühlt (…) Die Belastung wird eben größer, man will die Woche nicht mehr zweimal unterwegs sein. Früher bis zu dreimal. Irgendwo möchte man das nicht mehr.
Berta Brehmer ist zum Zeitpunkt des Gespräches 59 Jahre alt. Hinter ihr liegen 20 Jahre teils intensiver Arbeit in und für die SPD vor Ort. Hinzu kommen weitere ehrenamtliche Verpflichtungen (z. B. das Richteramt), die Familie und der Beruf. Diese Alltagssituation muss von einer Frau, die fast 60 Jahre alt ist, zunehmend auch als Belastung empfunden werden. Irgendwann lässt die physische Kraft nach. Und man muss Dinge im Leben neu sortieren, vielleicht auch aus gesundheitlichen Gründen Prioritäten setzen. Prioritäten meint auch, dass manche Dinge wegfallen. Dazu gehört das parteipolitische Engagement, welches, wie Frau Brehmer sagt, „peu à peu“ nach hinten gefahren werden soll. Das Alter spielt nicht nur hinsichtlich der physischen Kraftreserven eine Rolle. Das fortschreitende Lebensalter rückt Berta Brehmer in die Nähe der Pension. Der entweder unmittelbar bevorstehende bzw. gerade erfolgte Abschied (hier gibt es widersprüchliche Aussagen) von der Jakobhütte erscheint Berta Brehmer in gewisser Weise als Abschied aus der Wirklichkeit. Durch ihre Berufstätigkeit war das Gefühl vorhanden, einen direkten Zugriff auf die Probleme in der Alltagswelt zu haben. Dieses Gefühl der Verbundenheit ist für Berta Brehmer ungemein wichtig. Wenn man dann auch ein Stück aus dem Berufsleben ist, merkt man auch, wie man Abstand bekommt zu den tagtäglichen Problemen. Das sehe ich jetzt schon beim Gericht. Du hast nicht mehr die neusten Urteile zur Verfügung und wenn du nicht mehr so in einem direkten Kreis bist, wo du auch über den Tellerrand hinaus die Interna mitbekommst, du kriegst dann nur noch alles aus Fernsehen und Zeitung mit. Hast aber nicht mehr den Bezug zur Unterbezirkssitzung, wo über die wichtigen Sachen gesprochen wird. Du kriegst alles noch gefiltert. Und wenn du dann nicht mehr vorne bist, da merkst du auf einmal, wie dir Sachen fehlen. Um auch einen richtigen Blick zu haben. Das stellst du immer wieder fest.
Außerdem geht es neben diesem Kontakt zur Wirklichkeit auch um handfeste Informationen. Um parteipolitisch handlungsfähig zu sein, braucht Berta Brehmer Hintergrundwissen. Dieses generiert sie im direkten Kontakt mit Menschen. Mit dem Alter und den damit verbundenen physischen Einbußen geht ein Verlust an Mobilität einher. Ohne diese Mobilität können Kontakte nicht mehr gepflegt werden, bleiben wichtige Informationen zu Parteiinterna aus. Das macht das Handeln in Positionen und Ämtern für Berta Brehmer schwieriger und wird zu einem Grund des Rückzugs aus der Partei. Neben dem Alter gibt es noch einen weiteren Punkt, der angeführt werden kann als mögliche Ursache, wenn es um die Erklärung rückläufigen Engagements im Fall Brehmer geht. Es handelt sich um den sozialen Faktor. Die Um-
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stände des Eintritts sowohl in die IG Metall als auch in die SPD, sowie dort auch die Umstände der Übernahme aktiver Ämter zeigen, dass das Umfeld, Arbeitskollegen, Bekannte, Freunde eine gewisse Druckkulisse aufbauen können. Berta Brehmer hat offenbar Schwierigkeiten, sich dieser Kulisse zu entziehen. So wie es einen subtilen Druck zum Eintritt gegeben hat, einen Druck zur Übernahme von Ämtern bei der IG Metall wie in der SPD, gibt es vermutlich auch einen Druck, mit dem Engagement kürzerzutreten. Bereits während der aktiven Zeit mussten Parteiambitionen aufgeben werden, weil Arbeitgeber und/oder Kollegen Druck ausgeübt haben. Dies wird deutlich am letzten Halbsatz des nachfolgenden Zitates. Also ich habe mal für den Kreistag kandidiert, war ein Nachrücker. Da bin ich aber nie reingekommen. Muss dazu sagen, ich bin da zwar nach vorne gewählt, aber das waren, da waren die Ambitionen nicht so groß, weil damals war ich noch berufstätig und da fing das schon an, dass du gesagt kriegt hast: Wo verdienst du dein Geld?
Druck kommt nicht nur vom Arbeitgeber, sondern auch aus der Familie. Weil man hat ja, zu den Stadtverordneten kommen ja die Fraktionssitzungen, da kommen die Ausschüsse, also da ist schon einiges Zeit ist das dann, bei Wahlkämpfen, Infostände, was alles dazugehört, Delegiertenversammlungen, also da kam schon einiges zusammen. Als Frau, die arbeitet und Kinder hat, musste man sehen, dass man zuhause die Waage gehalten hat, dass es keinen Ärger gegeben hat.
Berta Brehmer lebt in Feldbach und hat wohl ihr ganzes Leben dort verbracht. Das Dorf Feldbach ist trotz industriellem Einschlag auch eine konservative Umgebung, in der noch traditionelle Rollenbilder vorherrschen. Eines der Rollenbilder betrifft sicher nicht nur die Rolle der Mutter (siehe oben im Zitat), sondern auch der Großmutter. Wir wissen, dass es Kinder gibt und Enkel (die alle unter einem Dach wohnen). Eine Vermutung wäre: Berta Brehmer soll endlich Großmutter sein und nicht mit 60 Jahren noch zwischen Beruf, Familie, Ortsbeirat, Parteisitzungen, diversen Gewerkschaftsterminen und dem Gericht pendeln. Da muss das Engagement in der SPD irgendwann zurückstehen. 4.4.2.4 Abwägung der Faktoren im Licht der objektiven Fallstruktur Zielsetzung der Einzelfallstudie war es herausarbeiten, warum sich ein bestimmtes Mitglied nicht (mehr uneingeschränkt) mit der eigenen Partei identifiziert. Aus welchen Gründen zieht sich das betreffende Mitglied ferner aus der aktiven Parteiarbeit zurück? Besondere Aufmerksamkeit galt dem Faktor Diffusion organisationaler Identität. Im vorliegenden Fall von Berta Brehmer war Diffusion
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nicht nur vorhanden, sondern auch stark ausgeprägt. Ferner wurden im Rahmen der Vorabauswertung Textpassagen identifiziert, die einen negativen Effekt nahelegten. Diese Möglichkeit hat sich im Rahmen der Einzelfallanalyse nicht erhärtet. Es ist nicht naheliegend, dass Diffusion organisationaler Identität tatsächlich ein zwingender Faktor ist, der über die negative Ausprägung und Entwicklung von Parteienbindung und Engagement entscheidet. Zumindest nicht im Fall Berta Brehmer. Hinlänglich klar ist im Fall Brehmer, dass Identifikation nicht uneingeschränkt besteht bzw. sich in der letzten Zeit von einem höheren Intensitätsniveau zurückentwickelt hat. Zwar kann aufgrund der Argumentation von Berta Brehmer eine Verbindung zwischen Disidentifikation und Wandel hergestellt werden. Dieses Zitat erwies sich jedoch als nicht sonderlich tragfähig. Dagegen steht die Interpretation des Teams, nach der vor allem die Bindung an die IG Metall und deren Erfahrungen schon früh eine emotionale Distanz zur SPD schaffen, die nie ganz verringert werden kann. Außerdem war die Partei immer nur Mittel zum Zweck des Engagements. Einen besonderen Eigenwert scheint die Partei nicht gehabt zu haben. Im Gegensatz zu Identifikation nimmt die Befragte selbst „besser“ zu den Hintergründen des Engagements Stellung. Es finden sich also Passagen, in denen auch der Rückgang des Engagements durch die Befragte erklärt wird. Hier spielen dann aber vor allem Faktoren des Alters eine Rolle. Diffusion organisationaler Identität hingegen wird – trotz zahlreicher Zitate an anderen Orten – eben nicht direkt als Erklärungsfaktor herangezogen, wenn es um den geplanten Rückzug geht. Anders ausgedrückt kreuzen sich die Narrationen über Identitätsbrüche und die Erzählung über Engagement im vorliegenden Interview nicht. Neben dieser direkten Erklärung durch die Befragte gibt es eine ergänzende Interpretation des Interpretenteams. Zusätzlich zum Alter spielt sozialer Druck aus dem Umfeld eine Rolle. Die verbleibenden Zitate zu Diffusion organisationaler Identität, die Folgen von Konvergenz skizzieren, erweisen sich nach eingehender Betrachtung als zu schwach, um sie direkt auf das Engagement zu beziehen. Ist Diffusion organisationaler Identität ein maßgeblicher Faktor im Fall Brehmer? Dieser These widerspricht schließlich die objektive Fallstruktur, die von den Interpreten zu den Grundlagen des Engagements ausgearbeitet wurde. Die objektive Fallstruktur ist jene Sinnstruktur, die die Ausprägung (das „sound-nicht-anders-sein“) des Falls am besten erklärt. Wir wissen, dass organisationale Identität eine Struktur bezeichnet. Zur Realisierung dieser Struktur werden – im Bezug auf den Organisationstypus der politischen Partei – immer wieder ähnliche Bausteine benutzt. Mit anderen Worten geht es um Werte, um Normen, politische Zielvorstellungen und Ideologien der Parteien. Man könnte also
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sagen, dass organisationale Identität allenfalls dann noch relevant sein könnte, wenn diese Werte, Normen, politischen Zielvorstellungen und Leitideen grundsätzlich eine Voraussetzung parteipolitischen Engagements im Einzelfall sind. Dies ist, aus Sicht der Interpreten, bei Berta Brehmer sehr unwahrscheinlich. Das Engagement folgt im Fall Brehmer früh verinnerlichten Richtwerten des „richtigen“ Lebens im weiteren Sinn. Diese Regeln lassen sich durchaus benennen. Richtig ist es, sich um die Belange der Lebenswelt und ihrer Menschen zu kümmern. Als Lebenswelt soll hier (durchaus in Anlehnung an Alfred Schütz) die Welt verstanden werden, die in der alltäglichen Interaktion erfahren wird. Richtig ist es, dafür auch Verantwortung zu übernehmen, z. B. durch feste Ämter und Positionen. Richtig ist es, dass dieses Einsetzen für die anderen Menschen langfristig ist und gegenüber inneren und äußeren Widerständen Bestand haben muss: „Denn wenn du dann was bewegen willst, musst du auch da dran bleiben. Von heute auf morgen kriegst du nix.“ Diese Maximen kommen nicht aus dem luftleeren Raum, sondern werden durch den Vater vermittelt. Der Vater bekleidete das Amt eines DorfBürgermeisters in der schwierigen Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Ein Bürgermeister kümmert sich um die Belange der anderen Menschen in der näheren Umgebung. Dieses Lebensmuster des Vaters, der Einsatz für die Interessen anderer Menschen in der näheren Lebenswelt (gegen Widerstände), ohne nennenswerten materiellen Eigennutz, zeigt sich in der Biografie der Tochter. Auch in ihren eigenen Worten fungiert der Vater klar als Vorbild: Also ich denke, das kommt alles ein Stück vom Elternhaus. Mein Vater war SPD-Mitglied. War also, 1896 geboren, also der war schon 48 Jahre alt, als ich geboren wurde. Hatte den Ersten und Zweiten Weltkrieg mitgemacht. Zweiter Weltkrieg natürlich, er war SPD-Mitglied und Hausdurchsuchungen und alles gehabt. War nach dem Krieg der erste Bürgermeister im Ort, weil er unbelastet war. Natürlich hat er uns ein Stück mitgegeben und mir sind auch politisch groß geworden. Er war ein politischer Mensch, also sind wir auch in der Familie politisch geworden (…) Ich denke, es war auch ein Stück (…) Verantwortung zu übernehmen, was man als Jugendliche, von meinem Vater, von meinem Elternhaus auch mitbekommen hat. Net nur reinrieche‘, sondern auch Verantwortung zu übernehmen.
Vater Brehmer hat seine Kinder, unter ihnen Berta, „politisch geprägt“. Aus Sicht der Interpreten hat das aber nichts mit einer parteipolitischen Prägung zu tun. Zwar ist die SPD sicher positiv besetzt in der Familie, aber vor der Partei kommt der Einsatz für das Allgemeinwohl. Es gilt, Verantwortung zu übernehmen. Auch an anderer Stelle finden sich Zitate, die die Gleichzeitigkeit von Nähe und Distanz zur Partei deutlich machen sollen. Bei uns, wir sind alle in einem traditionellen Elternhaus der SPD (…) Die wählen überwiegend SPD, aber von denen ist keiner in die Partei gegangen. Das ist also auch kein Automatismus.
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Dem normativ verankerten Engagement fehlt nun noch, wenn man so will, die Richtung. Es fehlen noch Problemdefinition und Zielgruppe. Beides speist sich aus der unmittelbaren Lebenserfahrung. Ein Leitmotiv des Engagements ist sicher Gerechtigkeit, verstanden als Verteilungsgerechtigkeit. Das resultiert aus dem proletarischen Habitus, der sich in einem Industriedorf, wie Feldbach eines ist, gut herausbilden kann. Dieses Beseitigen von Ungerechtigkeit wird auf die sozialen Gruppen „angewendet“, zu denen sie selbst gehört bzw. die sie selbst in der Alltagswelt erfahren kann. Das sind Arbeiter bzw. Arbeitnehmer und später Frauen bzw. Mütter. Hier geht es um den Einsatz für gleichen Lohn und Kinderbetreuung. Es handelt sich dabei um klare Problemlagen, an denen man sich abarbeiten kann. Später, mit zunehmendem Alter, tritt das Gerechtigkeitsmotiv in den Hintergrund. Trotzdem bleibt die Arbeit für Gruppen der Lebenswelt, die politische Arbeit an konkreten Themen bestimmend. Das zeigt sich am kommunalpolitischen Engagement. Da geht es dann zwar nicht um die Arbeitskollegen, sondern um die Nachbarn. Die Arbeit an den konkreten Themen hat mithin den Vorteil, dass immer wieder Erfolge zu verzeichnen sind, von denen auch berichtet wird. Sei es die Realisation einer Ortsumgehung oder der Zuschuss für das Dorfgemeinschaftshaus. Wer sich engagieren will, auch wenn es auf einem soliden normativen Fundament steht, wer die Lage von Arbeitern, Frauen und Nachbarn vor Ort gerechter und dadurch besser machen will, kommt alleine nicht weit: „Du kannst dich nur durchsetzen, wenn du dir Mehrheiten gesucht hast. Erst hat man geschimpft, damit erreicht man nichts, du musst Mehrheiten suchen“. Organisationen wie Gewerkschaften und auch Parteien sind „Gatekeeper“, die den Zugang und die Mittel zur Lösung lebensweltlicher Probleme verwalten. Wer in bestimmten Bereichen etwas erreichen will, kommt an bestimmten Organisationen nicht vorbei. Geht es um Gerechtigkeit für den Arbeitnehmer, ist die Gewerkschaft sehr naheliegend. Durch Mitgliedschaft in der Gewerkschaft können dann viele, aber eben nicht alle Probleme „in Angriff“ genommen“ werden. Auch wenn es später um das Dorf, den Ortsteil, die Kommune, die Stadt geht, haben Parteien das Gestaltungs- und vor allem Entscheidungsprivileg. Als Berta Brehmer Mutter wird, wird die Frage der Kinderbetreuung aktuell. Dieser Problembereich kann eher in und durch die SPD in Angriff genommen werden. Deutlich wird also nach Auffassung der Interpreten, dass Organisationen wie Gewerkschaften und Parteien bei Berta Brehmer keinen Eigenwert haben. Sie sind dezidiert Mittel zum Zweck des Einsatzes für die Menschen in der Lebenswelt. Im Fall der Parteien kann vielleicht sogar, etwas zugespitzt, von einem „notwendigen Übel“ gesprochen werden, ohne die es eben nicht geht. Innerhalb des parteipolitischen Engagements gibt es zwei Ebenen. Öffentliche Arbeit durch die Partei zum einen und Arbeit für die Partei zum anderen.
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Hier zeigt sich, dass die Lösung von Problemen Vorrang hat vor der Partei „an sich“. Im Rahmen des parteipolitischen Engagements werden insgesamt eher mehr öffentliche Ämter (Orts- und Gemeindeverwaltung) als reine Parteiämter bekleidet; zumindest werden diese in der Erzählung auch kaum hervorgehoben. Wenn dann die Zeit kommt, das Engagement zurückzufahren, gibt Berta Brehmer vor allem diejenigen Ämter auf, die mit reiner Parteiarbeit zu tun haben, übrig bleiben Positionen, die weiter lokales Problemlösen ermöglichen. Am Ende ist das innere Verpflichtungsgefühl, die früh internalisierten Maximen der Verantwortung, die Berta Brehmer und ihr Engagement über alle Klippen des Stresses, der Enttäuschung und des Frusts hinweg tragen. Man hat sich klar manchmal geärgert. Und dachte: Die können mich mal. Aber irgendwo, wenn du wieder Fernsehen geschaut hast, oder du hast Sachen, nein, hast du gedacht, da musst du wieder, das ging dann nicht, das ging einfach nicht. Genauso wie im Betrieb: wenn du da Ungerechtigkeit gesehen hast, und da hast du gedacht, da muss ich was machen.
Zu diesen Klippen, die überwunden werden, gehört auch die Verzerrung des Erscheinungsbildes der eigenen Partei. Für die Fragestellung des Vorhabens ist das wichtig: Sicher unterscheidet sich die SPD nicht mehr von der CDU, sicher ist es schwer geworden, den Kern zu bestimmen. Sicher ruft das Emotionen hervor. Aus Sicht der Interpreten ist der Störfaktor Diffusion angesichts eines solch stabilen Fundamentes nicht stark genug, um das Engagement entscheidend „abzuwürgen“. Die objektive Fallstruktur stützt die These, dass Diffusion organisationaler Identität im Fall Brehmer keine negativen Auswirkungen auf Engagement und Identifikation hat. 4.4.3
Der Fall Rohland: „Ich bin vielleicht auch zu naiv an die Sache rangegangen“
Zum Gespräch mit Jürgen Rohland findet sich im Forschungstagebuch dieser Eintrag: 11. April 2007 – Treffen mit J. Rohland Ich setze mich auf eine Bank in der Nähe eines Sportfeldes. Rund um die Altbauten im Berliner Osten ist der kommende Frühling laut und quirlig. Um die Ecke, im Umkreis von 500 Metern, gibt es deutsche Kneipen, eine Pizzeria, indische Restaurants, Thai-Läden, eine türkische Bäckerei und einen Irish-Pub. Eher ein grün-linkes Milieu als CDU-Land. Punkt 19 Uhr stehe ich vor einem für das Viertel typischen Jahrhundertwendehaus und drücke auf die Klingel. Der Türöffner klappert, ich gehe die Treppen hinauf. Jürgen Rohland entspricht auf den ersten Blick nicht ganz dem typischen Mitglied einer Partei, die Alexander Osang einmal boshaft als Partei der rheinischen Katholiken beschrieb, „in der Männer mit dickem Bauch,
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Aknenarben und schweigender Ehefrau herumstolzieren“. Wegen dieses Nicht-Typischen passt er wiederum gut auf die Vorstellung des typischen Ost-Berliner CDU-Mitgliedes. Es handelt sich um einen freundlichen jungen Mann, schlank und sportlich, mit kurzen Haaren, den ich auf Mitte 30 schätze. So wie er am Telefon etwas skeptisch wirkte, als wir meinen Besuch vereinbarten („Ich glaube nicht so, dass ich Ihnen weiterhelfen kann“), wirkt Jürgen Rohland auch zu Beginn des Interviews ein wenig schüchtern. Ich werde sehr höflich und entgegenkommend behandelt. Mir wird ein Glas Wasser in die Hand gedrückt und ich schaue mich um. Rohland wohnt in einer Wohngemeinschaft. In seinem Zimmer dominieren braune und orangene Töne, ich erinnere mich an fernöstliche Einrichtungsgegenstände und Sportutensilien.
Auch bei Jürgen Rohland zielt das Interview im Kern darauf ab, dass Bild der eigenen Partei CDU zu erfassen und eventuelle Bruchlinien zu vermessen. Umrahmt werden diese Themen zu Beginn von einer Fragerunde zum Bereich Engagement und Aktivität sowie zum Bereich Bindung an die Partei gegen Ende des Interviews. Aus dem Verlauf des Interviews sind mir keine weiteren besonderen Begebenheiten in Erinnerung geblieben. Das Gespräch verläuft reibungslos, die Redebeiträge erfolgen gerade richtig „temperiert“: nicht allzu ausführlich, nicht zu knapp. Damit entfallen störende Unterbrechungen und beständiges Nachfragen durch den Befrager weitgehend. 4.4.3.1 Die objektiven Lebensdaten im Einzelfall Jürgen Rohland Jürgen Rohland wurde um 1970 in der ehemaligen DDR geboren. Zumindest kommt man auf diese Jahreszahl, wenn man berücksichtigt, das Rohland im Wendejahr 1989 Abitur gemacht hat und das Abitur an einer Erweiterten Oberschule (EOS) gemeinhin im 19. Lebensjahr absolviert wurde. 1970 – dieses Jahr steht politisch im Zeichen der neuen Ostpolitik von Willy Brandt. In Erfurt wird der Bundeskanzler von vielen DDR-Bürgern frenetisch empfangen. Zwischen den Staatssekretären Egon Bahr und Michael Kohl beginnen deutsch-deutsche Verhandlungen über ein Transitabkommen. In Berlin kommt es zu einem tragischen Zwischenfall. Zwei DDR-Bürger begehen auf dem Flughafen Schönefeld Selbstmord, nachdem sie versucht hatten, ein Verkehrsflugzeug Richtung Westen zu entführen. In einer Pressekonferenz erklärt Paul McCartney seine Trennung von den Beatles. Mit erheblichen Behinderungen des Interzonenverkehrs reagiert die DDR auf die für den 30. November terminierte Sitzung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in West-Berlin. Carl Zeiss Jena wird 1970 Fußballmeister im Osten, die Mönchengladbacher Borussia im Westen. Da das Thema Partei im Gespräch von zentraler Bedeutung war und auch die Biografien der Befragten vor allem als Parteibiografien interessant waren, sind Aussagen zur weiteren Lebensgeschichte in manchen Interviews etwas
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knapp bemessen. So auch bei Jürgen Rohland. Rohland ist natürlich ein Kind der frühen 1970er Jahre. Sein Großvater hatte, so erzählt er, eine Affinität zur CDU. Zum früheren Wohnort werden keine Angaben gemacht. Sein Abitur macht der junge Mann im Wendejahr 1989. Denkbar ist, dass ein Wehrdienst abgeleistet wurde. In den 1990er Jahren dauerte der westdeutsche Militärdienst noch ein Jahr. Spätestens 1991 öffnen sich dann für Jürgen Rohland in einem wiedervereinten Deutschland die Tore zur Zukunft, in beruflicher und privater Hinsicht. Falls Rohland die ostdeutsche Heimat nicht bereits für das Militär verlassen hat, so zieht ihn spätestens die Berufswahl in die Fremde. Er verlässt den Osten Richtung Westen und ist darin nicht der Einzige. Gerade in der unmittelbaren Nachwendezeit konzentriert sich die deutsch-deutsche Binnenwanderung auf jüngere Altersgruppen. Insgesamt wandern von 1990 bis 2006 gut 2,8 Millionen Menschen in den Westen, umgekehrt aber nur 1,5 Millionen Personen in den Osten.44 Ziel ist für Jürgen Rohland das Rheinland, wo ein Verwaltungsstudium absolviert wird Zum Zeitpunkt des Interviews, über 10 Jahre später, arbeitet Rohland in einer Bundesbehörde. Um 1998 zieht Rohland nach West-Berlin. 1998 ist auch das Jahr einer richtungsweisenden Bundestagswahl. Kanzlerkandidat der CDU/CSU ist zum fünften Mal in Folge Amtsinhaber Helmut Kohl. Für die SPD tritt der damalige niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder an – und siegt deutlich. Die SPD wird mit 40,9 Prozent stärkste Kraft, die CDU/CSU rutscht mit rund 35 Prozent erstmals seit 1949 unter die 40Prozent-Marke. In diesem Jahr des beginnenden bundespolitischen Abstiegs der CDU – die Spendenaffäre wird im kommenden Jahr für einen weiteren Rückschlag sorgen – tritt Jürgen Rohland mit Ende 20 in die CDU ein. Von vorherigen Mitgliedschaften in den Jugendorganisationen der Partei war nicht die Rede. Trotz des Eintritts bleibt Rohland in den Jahren nach 1998 ein rein passives Mitglied. Weder werden öffentliche Ämter bekleidet oder angestrebt, noch wird ein eher informelles Engagement (Plakate kleben, Canvassing) gezeigt. Diese Passivität endet allerdings mit dem Umzug vom bürgerlichen Westen in den Berliner Osten. Nach dem Umzug ist bei Jürgen Rohland ein überraschender Anstieg in der parteipolitischen Aktivitätskurve zu beobachten. Es beginnt mit regelmäßigen Besuchen der Parteiveranstaltungen (Informationsvorträge von politischen Funktionsträgern, Sommerfeste, Weihnachtsfeiern, Ausflüge und Sportveranstaltungen). Rohland wird daraufhin in das Präsidium des Ortsverbandes gewählt und übernimmt kleinere Ämter. Als Delegierter seines Ortsverbandes geht Rohland z. B. zum Kreisparteitag. Ferner wirkt er bei der inhaltlichen Arbeit der CDU mit. Er besucht parteiinterne Arbeitsgruppen, die sich auf Politikfelder wie Bildung 44 Vgl. Informationen unter http://www.bib-demographie.de.
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und Forschung beziehen und einmal im Monat tagen. Zudem beteiligt er sich an Plakatieraktionen und vertritt am Parteistand in der Fußgängerzone die Positionen der CDU. Doch das Engagement ist nicht von Dauer. Nach einer Anfangseuphorie in Ostberlin zeigt die Kurve bald wieder nach unten. Im Jahr 2007, dem Jahr des Interviews, ist von Motivation und aufblitzender Einsatzbereitschaft nichts mehr übrig geblieben. „Ansonsten beschränkt sich mein Engagement auf die Jahreshauptversammlung, höchstens“, sagt Rohland. Ob sich daran, in absehbarer Zeit, etwas ändern wird, ist fraglich. „Momentan bin ich da ziemlich am schwanken. Es gibt ja genug Leute momentan, muss ich sagen“. Während in diesem Interview viel von Engagement und deren Motivation zu lesen ist, finden sich weniger Passagen, in denen erkennbar über die Beschaffenheit einer emotionalen Beziehung zur Partei die Rede ist. Identifiziert hat man sich schon mit der Partei, aber diese Bindung wird von Rohland doch in der Vergangenheit verortet. Gleichzeitig wird die Intensität der Bindung in der Gegenwart relativiert, wie aus dieser Passage deutlich wird: Bei Wahlen war die Präferenz eigentlich immer klar. Eher konservativ, obwohl ich mich selbst nicht unbedingt als [betont] reinen CDU-Wähler bezeichnen würde. Habe mich durchaus auch schon mal als Wechselwähler profiliert.
Am besten lässt sich das emotionale Verhältnis zur eigenen Partei in der Gegenwart als ambivalent beschreiben. Angesprochen auf die Frage, ob man sich denn im Moment mit der CDU identifiziere, antwortet Rohland: „Also im Moment würde ich sagen, das ist im lauwarmen Bereich. Nicht heiß, nicht kalt. Es gibt diese Schwankungen (…) Also ein ganz klares Jein“. 4.4.3.2 „Der Trend geht nun mal leider dahin, alles rund zu lutschen“ – Diffusion organisationaler Identität als Faktor im Fall Rohland Würde es sich bei den Parteibildern von Berta Brehmer und Jürgen Rohland um Gemälde handeln, so hätte Berta Brehmer immerhin noch ein farbiges Aquarell von der SPD gemalt. Jürgen Rohlands Porträt der CDU wäre eher mit einer Bleistiftskizze zu vergleichen. Alleinstellungsmerkmale der eigenen Partei tauchen im Gespräch überhaupt nicht auf. Konstanten der CDU werden lediglich en passant thematisiert. Auch auf die Frage nach den Kerninhalten kann Rohland erst nach einer Denkpause antworten. Dann setzt er an: „Für mich, ist konservativ kein, hat kein Negativklang. Konservativ heißt: Das gute Alte bewahren und sich Neuem öffnen.“
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Jürgen Rohland lässt die Ausführungen zum „Markenkern“ der CDU beinahe bei diesen beiden knappen Sätzen bewenden. Zumindest ist daraus abzulesen, dass die CDU für Rohland im Kern eine konservative Partei darstellt. Sein Verständnis von Konservatismus findet sich in vielen Enzyklopädien (z. B. Schubert/Klein 2006). Wer dort nachschlägt, liest meist von einer politischen Weltanschauung, die die Stärken der Tradition hervorhebt, die herrschende politische Ordnung bewahrt bzw. stärkt und die vorgegebene Verteilung von Macht und Reichtum vor Kritik schützt. Fortschritt und Veränderung werden dabei dezidiert nicht ausgeschlossen, bedürfen zunächst aber allgemeiner Zustimmung und Bewährung. Weitere Ausführungen, zum Verständnis von Gesellschaft als organischem Ganzen oder einem affirmativen Verständnis des Staates als „natürlichem“ Ort politischer Macht, werden von dem Gesprächspartner nicht gemacht. Mit der angebotenen Präzisierung von Konservatismus will Rohland seinem jungen Gegenüber natürlich auch zeigen, dass die CDU aus seiner Perspektive nicht „von gestern“ ist. Zwar ist sie eine konservative Partei, aber wohl eher im Sinne des Straußschen Diktums, dass die „Konservativen an der Spitze des Fortschritts marschieren“. Neben „konservativ sein“ gibt es noch eine zweite Kerneigenschaft. Für Rohland ist die CDU auch die „Partei der Einheit“. Das ist vor dem Hintergrund der Biografie von Jürgen Rohland wenig verwunderlich. Rohland hat als junger Mensch durch die Wende profitiert und die Wende wurde nun einmal von einem CDU-Bundeskanzler, einer konservativen Bundesregierung, „gestaltet“. Der Rivale von der SPD, Oskar Lafontaine, schlug dagegen im Herbst 1989 Wirtschaftshilfen für die DDR vor, wollte DDR-Bürger dazu bewegen, in ihrer Heimat zu bleiben und warnte auf dem Berliner Parteitag der SPD am 18. Dezember 1989 vor „nationaler Besoffenheit“.45 4.4.3.2.1 Die Gestalt des Identitätsproblems Bezeichnend für den ganzen Fall ist, dass Diffusion organisationaler Identität sehr schnell vom Befragten selbst zur Sprache gebracht wird, obwohl sich das Gespräch eigentlich noch an einem thematisch anderen Ort befindet. Und natürlich ist zuerst vom Verlust der Unterschiede zwischen seiner Partei der CDU und den anderen Parteien, vor allem der SPD, die Rede. Auch im zweiten Einzelfall ist Parteienkonvergenz also die maßgebliche Dimension von Diffusion organisationaler Identität.
45 Siehe http://www.hdg.de/lemo/html/biografien/LafontaineOskar/index.html.
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Dieser Eindruck der Annäherung speist sich bei Jürgen Rohland erstens aus der Beobachtung eines allgemeinen Trends, der dahin gehe, „alles eher weichzuspülen und rund zu lutschen, damit es ja keine Ecken gibt“. Zweitens sind aber auch seine persönlichen Arbeitserfahrungen maßgeblich: „Ich arbeite im Politikbereich. Da kriegt man schon ein Feedback. Und in der Großen Koalition ist da jedenfalls der Schonwaschgang drin“. Problematisch ist folglich das Miteinander der großen Parteien in der Großen Koalition, bei der die Repräsentanten nicht zuletzt aus Regierungsräson auf allzu deutliche Konflikte, Konfrontationen und Abgrenzungsmanöver verzichten müssen. Drittens geht es um das Unvermögen der Politiker, klare Positionen zu beziehen. Rohland macht das am kommunikativen Stil der Bundeskanzlerin fest: „Ich persönlich finde Angela Merkel sympathisch, man hat sie auch gern gewählt, aber sie ist eine Kanzlerin, die versucht, keinem wehzutun, und das geht natürlich nicht“. Der Eindruck eines Annäherns der Parteien zeigt sich im Fall Rohland auf drei inhaltlichen Ebenen. Erstens gibt es auch hier einen allgemeinen Eindruck von Konvergenz. Rohland gibt sich überzeugt, dass „Politik auch in Zukunft von Parteien gemacht wird“. „Aber die Unterschiede zwischen den Parteien werden verwischen“, da ist sich der Befragte sicher. Auch auf der Ebene von Programmen wird eine Annäherungsbewegung deutlich. Nach seiner Auffassung sind die Programme der Parteien „austauschbar“. Schließlich wird es auch in der Tagespolitik immer schwieriger, inhaltliche Trennlinien zwischen den Parteien zu erkennen, die eine Unterscheidung ermöglichen. Und wenn ich so im Moment auf die Bundesebene schaue, bin ich ein wenig unschlüssig, was das Bild der Partei in der Großen Koalition angeht. Weil ich finde, da hat sie sich doch sehr einseifen lassen. Und da sind auch die Unterschiede zwischen CDU und SPD kaum noch klar deutlich.
Exemplarisch wird dazu später das Politikfeld Gesundheit herangezogen: Ja, die Unterscheidung, die Unterscheidbarkeit ist ganz wichtig. Das beste Beispiel ist die Gesundheitsreform. Also ich bin definitiv kein Freund der Gesundheitsreform und hätte mir da mehr Eigenständigkeit der CDU und mehr Durchsetzungskraft der CDU gewünscht. Letztlich muss man sagen, dass Ulla Schmidt auf breiter Linie durchgekommen ist. Und die CDU an sich ist ja da sehr eingebrochen.
Neben Konvergenzen prägen Widersprüche das Bild von der eigenen Partei. Einerseits war die CDU für Rohland, wie beschrieben, immer die „Partei der Einheit“. In der Organisationswirklichkeit hingegen entpuppt sich die Partei auf lokaler Ebene als das Gegenteil, als Partei der fortbestehenden Gräben zwischen Ost und West:
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Ich war überrascht, als ich 1998 noch erfahren habe, wie eine Frau von den Erlebnissen berichtet hat, wie sie mal ‚rüber‘ gefahren ist. Da dachte ich mir: hoppla. In der Partei der Einheit, das hat die CDU für mich immer zentral ausgemacht. Das hat mich dann doch etwas befremdet.
Eine zweite Konflikt- bzw. Widerspruchsebene ist der Widerspruch zwischen Programmatik und realem Handeln einer Partei in Regierungsverantwortung: „Was die Programmdebatte betrifft, da bin ich sowieso skeptisch. Geschrieben wird eh immer sehr viel. In der realen Politik sieht es ganz anders aus“. Leider wird dieser Punkt nicht näher ausgeführt. Auch Kontinuität ist für Rohland durchaus problematisch. Kontinuitätsbrüche ergeben sich für ihn aus dem raschen Wechsel von politischen Zielvorstellungen, der letztlich auch aus wahltaktischen Manövern der Parteien motiviert ist. Rohland wünscht sich hier mehr Beständigkeit: Ich glaube, das ist für eine Partei tödlich, wenn der Wähler oder die Mitglieder, oder auch der Bürger, sage ich, nicht mehr weiß, wofür steht eigentlich diese Partei? Wenn sie heute „hü“ oder morgen „hott“ sagt, und, sie muss wirklich mehr Kontinuität an den Tag legen und eben bei bestimmten Themen nicht einknicken.
Ebenso zeigt sich eine Parallele zum Gespräch mit Frau Brehmer von der SPD. Frau Brehmer beschrieb eine generelle Undeutlichkeit im Bild der Parteien. Auch dieses Problem taucht bei Jürgen Rohland auf, wo es tief im Wesen einer Volkspartei verwurzelt ist: „Klar ist das so, bei einer großen Volkspartei, sie müssen viel abdecken und dabei eben relativ unkonkret bleiben. Um ja keinen zu verprellen“. 4.4.3.2.2 Negativ-Effekte von Diffusion organisationaler Identität im Einzelfall? Ähnlich wie im Fall von Berta Brehmer, so zeichnet sich auch das Interview mit Jürgen Rohland nicht nur dadurch aus, dass Diffusion stark ausgeprägt ist, was etwa anhand der Zitatezahl abzulesen ist. Darüber hinaus handelt es sich bei einigen Textpassagen um besonders nützliche Zitate, weil in diesen Textabschnitten nicht nur eine Diagnose der Diffusion gestellt wurde, sondern auch Aussagen auffindbar sind, die nach erster Vorabauswertung „Effekte“ im weiteren Sinn in Aussicht stellten. Eine gute, gewissermaßen belastbare, kausale Querverbindung gibt es zwischen der Wahrnehmung einer Angleichung der Parteien und der eigenen Bindung an die Partei. Wir wissen aus dem vorherigen Abschnitt, dass Unterschiede zwischen den Parteien aus der Sicht von Rohland ein besonderes Problem darstellen. Gleichzeitig werden Unterschiede als relevant bezeichnet („Ja, die Unter-
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scheidung, die Unterscheidbarkeit ist ganz wichtig“). Durch das folgende Zitat wird deutlich, dass sich Konvergenz auswirkt auf das Gefühl der Verbundenheit. Wobei die Parteien wirklich nicht gut beraten sind damit, alle Unterschiede aufzuwischen und [betont] jedem entgegenzukommen. Je klarer das Profil, die Unterscheidung, ist, umso besser wird es – zumindest bei mir – mit der Identifikation, mit dieser Partei, sein.
Hier finden wir den deutlichsten Anhaltspunkt für negative Auswirkungen von Diffusion organisationaler Identität in den beiden Einzelfällen. Jenseits von Identifikation kann Konvergenz im Fall Rohland auch Auswirkung auf das Handeln haben. Nicht auf das Engagement als solches, aber auf den Akt von Wahlentscheidungen. Dies legt ein weiteres Zitat nahe. An dieser Stelle werden wir allerdings mit einer analytischen Schwierigkeit konfrontiert, die uns aus dem Fall Brehmer bekannt ist. Wie man weiß sucht die Fragestellung des Projekts nicht nur nach Ausprägungen von Diffusion organisationaler Identität, sondern nach Effekten, Relationen zwischen Ursache und Wirkung. Im Fall des folgenden Zitates ist zwar ein negativer Effekt benennbar, aber die Ursache kann bei genauerem Blick nicht eindeutig auf Konvergenz zurückgeführt werden: Und wenn ich der Meinung bin, diese Partei kann meine Interessen nicht vertreten, weil ihr Auftreten macht schon deutlich, dass sie extrem auf Kompromiss aus ist, aber weniger auf die Umsetzung eigener Interessen, tue ich mich entsprechend schwer, diese Partei dann auch wieder zu wählen.
Hier stehen sich zwei mögliche Ursachen gegenüber: Einerseits verweist der „Kompromiss“ auf die fehlenden Unterschiede zwischen den Parteien. Andererseits geht es aber auch um die Umsetzung von Interessen. Die Schwierigkeiten bei der Wahlentscheidung können einerseits mit Konvergenz zu tun haben, aber ebenso mit dem Gefühl, dass die eigentlich präferierte Partei nicht in der Lage ist, eigene politische Wünsche, Ziele und Anliegen in die Tat umzusetzen. Welche Lesart hier ausschlaggebend ist, kann nicht eindeutig geklärt werden. Dieses Problem kontingenter Textpassagen setzt sich bei den verbleibenden Zitaten fort. Während eine Relation von Konvergenz und ambivalenter Identifikation aufgrund der Aussagen des Befragten hergestellt werden können, ist ein „direkter Link“ zur diagnostizierten Passivität im Engagement von Jürgen Rohland nicht ohne Weiteres zu rekonstruieren. Deutlich wird das am folgenden Zitat. Die Koalition. Dass man da momentan schon den Schonwaschgang drin hat. Das stört mich eigentlich schon ein bisschen. Ich würde sagen, da hätte ich mir gewünscht, dass die CDU ein wenig eigenständiger ist, ein bisschen angriffslustiger. Ein bisschen mehr die eigene Linie fährt.
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Aus diesem Zitat kann man herauslesen, dass wahrgenommene Konvergenz zwischen den Parteien „störend“ ist, man sich im Gegensatz dazu wünscht, dass die eigene Partei einzigartig ist, Alleinstellungsmerkmale aufweist. Die Konsequenzen dieses Irritationsgefühls z. B. auf den Wunsch, sich für die Partei aktiv einzubringen, können vielfältiger Art sein, werden aber aus der Textpassage und deren unmittelbarem Umfeld nicht hinreichend deutlich. Viele Zitate im Einzelfall Rohland drehen sich um den Komplex „Große Koalition führt zu mangelnder Unterscheidbarkeit zwischen den Parteien“. In der Bewertung dieses Komplexes äußert sich Rohland oft negativ. Konvergenz „tut nicht gut“, „führt zu Enttäuschungen“, kostet Sympathien und wird als „störend“ empfunden. Das sind alles negative Effekte, zweifellos. Allerdings werden sie nicht eindeutig genug mit dem Engagement und der Identifikation in Verbindung gebracht. Bei einer strengen Auswertung muss der Schluss gezogen werden, dass im Fall Jürgen Rohland negative Auswirkungen von Diffusion organisationaler Identität – vor allem in der Gestalt wahrgenommener Parteienkonvergenz – denkbar sind, eindeutig aber nur in Bezug auf Identifikation plausibel nachgewiesen werden können. Bleibt ein Zitat, in dem nicht mögliche Auswirkungen von Konvergenz, sondern von Widersprüchen aufgezeigt werden. Wir wissen, das Rohland die CDU vor allem als Partei der Einheit begreift. Diese Vorstellung gerät dann ins Wanken, als der erste Kontakt mit der Wirklichkeit vor Ort hergestellt wird. Es herrscht ein Widerspruch zwischen „CDU als Partei der Einheit“ vs. „CDU als Partei der Teilung“. Ich war überrascht, als ich 1998 noch erfahren habe, wie eine Frau von den Erlebnissen berichtet hat, wie sie mal „rüber“ gefahren ist. Da dachte ich mir: hoppla. In der Partei der Einheit, das hat mich dann doch etwas befremdet. Muss ich zugeben.
Auch hier gilt das Motto: fast, aber eben nicht ganz. Das in diesem Zitat anklingende Gefühl der Entfremdung von der eigenen Partei kann frühzeitig dafür sorgen, einen Bruch mit der Partei zu hervorzurufen. Dennoch, das zeigt eine Betrachtung des unmittelbar folgenden Interviewverlaufes, wird der Widerspruch vom Befragten selbst nicht mit dem eigenen Engagement und der emotionalen Parteienbindung in Verbindung gebracht. 4.4.3.3
Alternative Lesarten zur Erklärung von Identifikation und Engagement
Auch im Fall Rohland hat sich Diffusion organisationaler Identität nicht als der starke Einflussfaktor erwiesen, als der er zu Beginn, vor der Sequenzanalyse, gesehen wurde. Immerhin aber wird deutlich, dass sich Konvergenz negativ auf die emotionale Parteienbindung auswirkt. Freilich muss auch dieser Umstand in
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den Zusammenhang anderer Faktoren gestellt werden. Es zeigt sich, dass, ebenfalls in Analogie zum Fall Brehmer, überzeugende Alternativerklärungen aus dem empirischen Material heraus gearbeitet werden können. 4.4.3.3.1 Emotionale Distanz zur CDU durch Fehlverhalten von Partei-Repräsentanten Es geht jetzt als Erstes darum, die vorliegende ambivalente Identifikation zu erklären, ohne dabei auf den Faktor Diffusion organisationaler Identität – vor allem wahrgenommene Konvergenz – zu rekurrieren. Dabei hilft uns ein Zitat, das wir natürlich auch schon kennengelernt haben. Wir wollen es nun in einen weiteren Kontext stellen. Obwohl Rohland über Wahlen spricht, meint er seine Parteienbindung und dessen Voraussetzung: Also im Moment würde ich sagen, das ist im lauwarmen Bereich. Nicht heiß, nicht kalt. Es gibt diese Schwankungen. Bestes Beispiel war die Bundestagswahl, wo Stoiber gegen Schröder angetreten ist. Wo ich gesagt hätte: Von den Werten her wähle ich die CDU. Bei der Person sagte ich: nein, ich kann die CDU nicht wählen. Was ich dann tatsächlich so gemacht habe. Und bei Merkel Schröder war schon der Wechselwille spürbar, da habe ich ganz klar hinter der CDU gestanden. Sowohl hinter den Werten als auch hinter der Person. Werte sind sehr stark und sehr bindend. Personen können dazu führen, dass die Werte dahinter zurücktreten. Sympathie und Antipathie.
Hier ist zunächst einmal von zwei Faktoren die Rede, nämlich von Werten und Personen. Beides sind Bedingungsfaktoren von Identifikation. Der letzte Satz zeigt, dass beide Faktoren nicht gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Im Fall Rohland hängt Identifikation – nach den Angaben des Befragten selbst – an den nach außen sichtbaren Repräsentanten der Partei und an deren Verhalten. Dabei geht es auf den ersten Blick weniger um eine fachliche Eignung und/oder erwiesene Lenkungskompetenzen. Es geht um Sympathie und Antipathie. Wird die Partei an ihrer Spitze durch sympathische Politiker vertreten, ist die Identifikation stark, nimmt an Intensität zu. Erweist sich Parteirepräsentanten über längere Phasen hinweg als unsympathisch, gilt das Gegenteil. Als erstes Beispiel nennt Rohland Edmund Stoiber. Stoiber wird von einigen Beobachtern eine gute politische Bilanz in Bayern attestiert. Jedenfalls konnte der Freistaat auch in den 1990er Jahren immer wieder Wachstumsraten beim Bruttoinlandsprodukt vorweisen, die CSU fuhr unter ihm überzeugende Wahlergebnisse ein. Dennoch erfährt Stoiber bei Jürgen Rohland keine Unterstützung als Kanzlerkandidat. Denkbar ist einerseits ein Unterschied in der politischen Kultur. Auch Stoibers Rückzieher aus der Bundespolitik nach der verlorenen Wahl 2002 kann retrospektiv für negative Beurteilungen sorgen. Rohlands Ab-
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neigung mag schließlich auch an Stoibers ambivalentem Verhältnis zu Ostdeutschland liegen. 2005 ließ sich Stoiber zu verbalen Ausfällen auf einer Wahlkampfveranstaltung hinreißen, die Ostdeutsche und ihr Wahlverhalten diskreditierten. Dies kann Rohland verärgert haben und wird aus heutiger Sicht auf das Jahr 2002 projiziert. Welche Ursache auch immer für die Antipathie gegenüber jenem Politiker angeführt werden kann, dem zu früheren Zeiten von der politischen Gegenseite der Spitzname des „blonden Fallbeils“ verliehen wurde, kann nicht gesagt werden. Was aber gesagt werden kann, ist, dass Personen über die Intensität der Parteien-Identifikation entscheiden. Das wird durch das folgende Zitat weiter präzisiert. Auf die Frage, ob man sich mit der Partei identifiziert, antwortet Rohland: Jein [lacht]. Ein ganz klares Jein. Weil das Ja steht bislang für die Werte, die sich die CDU auf die Fahnen geschrieben. Das Nein steht, wenn Sie schon das Beispiel mit dem Fußballverein bringen, für die einzelnen Spieler, die auf dem Feld sind. Man kann nicht jedem applaudieren. Von daher ist das etwas gespalten. Muss ich ehrlich sagen. Es läuft viel über persönliche Schienen, persönliche Animositäten, persönliche Schienen. Oder auch: wie jemand auftritt. Ob das parteischädigendes Verhalten ist. Ob jemand irgendwelche Profilneurosen hat und sich entsprechend versucht, zu profilieren. Was ich nicht so sympathisch finde. Bestes Beispiel: Roland Koch, der versucht hat, sich an Merkel gütlich zu tun. Auch Pflüger ist für mich keine Führungspersönlichkeit. Charisma bei Weber – das findet man bei den wenigsten Politikern heutzutage noch. Da muss ich sagen: Schröder hatte da bessere Qualitäten als Merkel.
Edmund Stoiber ist demnach nicht der einzige führende Unionspolitiker, mit dem Rohland nicht „kann“. Als nächstes Beispiel wird Roland Koch, der hessische Ministerpräsident, herangezogen. Was Rohland stört, ist Kochs konfrontatives Auftreten gegenüber der Bundeskanzlerin Angela Merkel. Zwar herrscht heute ein Burgfriede zwischen beiden Politikern. Die späten 1990er Jahre und die frühen 2000er Jahre waren dagegen geprägt von der Auseinandersetzung zwischen der damaligen, frischgebackenen Parteivorsitzenden und Koch, den viele CDU-Konservative als Hoffnungsträger in einer zunehmend liberalen Gesamtpartei wahrnahmen (Schumacher 2004). Einen öffentlichen Höhepunkt fanden die oft versteckt ausgetragenen Streitigkeiten 2003, als in der Union über die grundsätzliche Oppositionsstrategie und über die Reaktion auf die damals frisch verabschiedeten Reformgesetze der Regierung Schröder debattiert wurde. Koch forderte öffentlich mehr Härte gegen Rot-Grün. Und nicht nur das. Ausgerechnet Koch, „der bei jeder Gelegenheit nach Steuersenkungen rief“, wandte sich gegen die Steuerreform von Kanzler Schröder (Schumacher 2006). Das Problem: Angela Merkel wollte der Reform zustimmen. Ein breitenwirksamer, wie letztlich kontraproduktiver Affront gegen die Parteivorsitzende und Oppositionsführerin. Sicher hat Rohland auch diese Aktion im Kopf, wenn Koch kritisiert wird.
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Dann kommt Friedbert Pflüger an die Reihe. Der niedersächsische CDUMann hatte bereits eine bundespolitische Karriere hinter sich, als er sich für eine „Mission Impossible“ entscheidet, nämlich die, den Regierenden Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit, nach der Abgeordnetenhauswahl 2006 als Bürgermeister abzulösen. Dafür legt Pflüger sein Bundestagsmandat nieder und tritt als Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium zurück. Diese Entschlossenheit wird nicht belohnt. Mit 21,3 Prozent erzielt Pflüger für seine CDU ein katastrophales Ergebnis. Diese historische Wahlniederlage wird von Beginn an zu einer schweren Hypothek für den Niedersachsen, der sich fortan auf dem verminten Terrain der Hauptstadt-CDU durchsetzen muss. Pflüger kämpft um eine Modernisierung des Partei-Images, wirbt offen für eine Jamaikakoalition. Diese Öffnungsversuche werden von den Berlinern weitgehend ignoriert. Dafür kommt schnell innerparteilicher Gegenwind auf. Bis zu seinem politischen Ende in Berlin 2008 wird es Pflüger nicht gelingen, seine Partei zur Geschlossenheit zu bringen. Schon wenige Monate nach Amtsantritt stellen Beobachter fest, dass „der CDU-Fraktionschef zum Leidwesen einiger Unterstützer eher moderiert, als mal richtig mit der Faust auf den Tisch zu schlagen“ (Richter 2007). Gerade zum Zeitpunkt des Interviews, Mitte 2007, steht Pflüger besonders unter Druck. Zunächst gab es Ärger nach einer Klausurtagung der CDUFraktion, deren Ergebnisse Pflüger nach Ansicht einiger Berliner Parteispitzen zu positiv dargestellt hatte. Dann wurde der Presse eine diskreditierende Restaurantrechnung zugespielt. Pflüger hatte die Fraktionsvorsitzenden von FDP und Grünen samt Anhang zu einem Essen zu sich nach Hause geladen; die Rechnung von 1.400 Euro wurde aber aus der Fraktionskasse beglichen (Fischer 2008). Schließlich meldete sich mitten im Sommerloch der damalige CDUGeneralsekretär Frank Henkel zu Wort. Er betonte das Konservative in der CDU, eine strenge Sicherheits- und Ordnungspolitik und kritisierte die Grünen – und stellte sich damit natürlich öffentlich gegen Pflügers Annäherungskurs. Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, dass Pflüger für Rohland „keine Führungspersönlichkeit“ ist. Einen ähnlichen Vorwurf muss sich schließlich auch Angela Merkel gefallen lassen. Im Gegensatz zur „Basta-Politik“ von Gerhard Schröder wird der Bundeskanzlerin Angela Merkel von Beobachtern spätestens nach dem Wahlsieg 2005 schnell ein anderer politischer Führungsstil unterstellt. Der lautet: Moderieren statt dirigieren, in der Regierung, in der Partei. Schon nach dem Spendenskandal legte Merkel Wert auf eine kreative Debatte, eine diskursive Selbstreinigung der Partei, was freilich nicht bei allen in der Union ankam (Geis 2000). Seit dieser Zeit begleitet Merkel das Verdikt der Führungsschwäche, das im Superwahljahr 2009 natürlich gern von der Konkurrenz aufgegriffen wird. Zahllos sind
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die verbalen Attacken wie die des SPD-Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier, der Merkel Führungsschwäche in Zeiten der Finanzkrise vorhielt. Gerade in der Krise sei es „erforderlich, dass Politik von vorne führt und die Dinge nicht laufen lässt“, sagte Steinmeier in einem Zeitungsinterview. Gerd Langguth (2009) jedenfalls attestiert Merkel „eine seherische Fähigkeit zum Erkennen des Populären“: Mit keinem einzigen Thema steht sie auf Dauer im Gegensatz zu öffentlichen Stimmungen – nicht einmal mit ihrer Papst-Schelte, die zwar beim inneren Kern der katholisch bewussten Wähler aneckte, doch in der breiten Bevölkerung auf Zustimmung stieß. Merkel ist flink in der Analyse der politischen Situation, die sie jeweils machtpolitisch prüft. Aber ist das kraftvolle „Führung“? Insgesamt fällt auf, dass die Kanzlerin in außenpolitischen Fragen (Menschenrechte in Russland, Dalai Lama) viel mutiger agiert. In der Innenpolitik hat sie noch keine wirklich gewagte Entscheidung getroffen, vergleichbar zur Agenda 2010 ihres Vorgängers.
Stoiber, Koch, Pflüger, Merkel – kritisiert werden vier Politiker, die die Union in den vergangenen Jahren prägen, die Bundespartei und durch Pflüger auch die Partei vor Ort an der Spree. Schaut man genauer hin, werden Vorbehalte unterschiedlicher Art deutlich. Vom christsozialen Bayern Stoiber trennt Rohland (trotz konfessioneller Verwandtschaft) nicht nur die politische Kultur, sondern auch unglückliche Aussagen über die Ostdeutschen. Merkel („eigentlich sympathisch“) und Pflüger kann man Führungsschwäche vorwerfen, keine Handhabe beim Schließen der eigenen Reihen. Roland Koch wiederum hat zwar den „Kampfverband Hessen-CDU“ (Neumann/Schmid 2008) im Griff, attackiert aber die Kanzlerin und unterminiert so die bundespolitische Geschlossenheit der CDU. In der Summe führen die unterschiedlichen Dispositionen dieser Spitzenrepräsentanten dazu, dass die Partei-Identifikation im Fall Rohland immer wieder Ausschläge nach unten hat. 4.4.3.3.2 Passivität im Engagement durch mangelnde Partizipationsperspektiven Das Parteiengagement von Jürgen Rohland kann in eine Ostberliner und eine Westberliner Phase eingeteilt werden. Beide Abschnitte werden „negativ abgeschlossen“. Im Südwesten blieb man passiv, im Osten wurde man aktiv, aber dann auch wieder schnell inaktiv. Insgesamt beschreibt das Engagement eine Kurve, die nach einem kurzen Ausschlag nach oben wieder nach unten weist. Zu den Gründen der Passivität nimmt Rohland dezidiert Stellung. Warum ist es bei der CDU im Berliner Westen nicht zu einem Engagement gekommen? Was mich auch befremdet, war die Tatsache, dass dieser Ortsverband sehr stark geprägt gewesen ist, und das ist sicher immer noch so, von persönlichen Animositäten, Machenschaften und Seil-
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schaften. Und das es eigentlich nicht die Partei als solches geht, sondern darum, wer gönnt wem was? Und als Mitglied wurde man immer nur bei Wahlen interessant. Wenn es darum geht, den Ortsvorstand zu wählen und den alten abzuwählen. Oder jemanden auszubooten. Dann wurde ich von bestimmten Interessenvertretern, Funktionären [lacht] dann persönlich kontaktiert. Dann bin ich mal zu einem Vieraugengespräch gebeten worden. Ja, aber ansonsten war das doch relativ ernüchternd. Muss ich ehrlich sagen. Das hat bei mir dazu geführt, dass ich mich von der Parteiarbeit erst mal sehr zurückgezogen habe. Eigentlich nur passives Mitglied war, meine Beiträge entrichtet habe, aber ansonsten kein Engagement gezeigt habe.
Diese Passage ist, „technisch“ gesehen, deswegen wichtig, weil eine Kausalverbindung hergestellt wird. Der letzte Satz umschreibt negative Auswirkungen in puncto Engagement und stellt eine Begründung her („deswegen“). In der ersten Hälfte werden die Ursachen aufgezählt. Eigentlich handelt es sich um einen ganzen Komplex zusammenhängender Faktoren. Erstens geht es um Konflikte zwischen Parteivertretern, zweitens werden Nepotismus und „Klüngel“ kritisiert als System, parteipolitische Entscheidungen durch auf Gegenseitigkeit beruhende Hilfeleistungen und Gefälligkeiten jenseits demokratischer Parteiarenen herbeizuführen sowie drittens, damit verbunden, als Ergebnis ein Gefühl, als „einfaches Mitglied“ nicht „richtig“ gebraucht zu werden. Diese drei Gründe sind dafür ausschlaggebend, warum das Engagement im Südwesten Berlins nie richtig in Gang kommt. Wer sich etwas näher mit der jüngeren Geschichte der Berliner CDU beschäftigt hat, der weiß, dass diese Punkte von Jürgen Rohland nicht von ungefähr kommen. Was den Zeitpunkt und den Ort seines Ersteinstieges in die CDU betrifft, so hätte sich Rohland keinen ungünstigeren Zeitpunkt und Ort aussuchen können. Frisch vom Rhein an die Spree übersiedelt, führt der Weg direkt hinein in die Hauptstadt CDU, die für ihre internen Auseinandersetzungen berüchtigt ist. Wo sogar Rosenkriege und anonyme Erpressungen zum gängigen Arsenal der politischen Auseinandersetzung gehören, verliert der junge Mann schnell die Lust, sich für die Partei einzubringen. Die CDU im Osten verheißt dann kurzfristige Besserung, denn es war nicht von persönlichen Querelen geprägt, so habe ich das bisher erlebt. Und das hat dann bei mir so einen Kick gegeben, um mehr Interesse für die Partei zu zeigen. Bin auch zu diversen Parteiveranstaltungen gegangen, die Jahreshauptversammlung sowieso. Bin dort auch gebeten worden, mich dann ins Präsidium einzuklinken, was ich dann gerne gemacht habe. War eine nette Geschichte, muss ich sagen, um auch die Leute besser kennenzulernen. Es gibt einmal im Monat so einen Arbeitskreis, den habe ich zwei- bis dreimal besucht, wobei ich da enttäuscht war, dass es da so schulmäßig abläuft. Und dachte ich mir: ähm. Das ist vielleicht nicht ganz so meine Art. Und bin da, habe mein Erscheinen da auch wieder eingestellt. Aber ich bin auch Kreistagsdelegierter, bin auch bei entsprechenden Veranstaltungen auf Kreisebene gewesen. Und auch zu Abgeordnetenhauswahlen, jetzt im letzten Jahr, bin ich auch von unserem Direktkandidaten, der direkt aus unserem Ortsverband kam, angesprochen worden, ob ich da nicht ein bisschen persönlicher Manager machen wollte. Was ich aber abgelehnt habe, zum einen war mir der
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Spitzenkandidat nicht sonderlich sympathisch, und von daher wollte ich mich da nicht engagieren. Zum anderen ging es bei mir auch zeitlich gar nicht. Man ist berufstätig, da ist das nicht richtig vereinbar. Ein bisschen Freizeit wollte ich auch noch haben. Und nicht nur noch neben dem Berufsleben das Parteileben haben. Und da habe ich diesen Posten abgelehnt. Habe mich aber trotzdem engagiert bei so Plakatklebeaktionen, da bin ich mal hingefahren, da auch tatkräftig mit unterstützt habe. Ansonsten, ja. Beschränkt sich mein Engagement auf die Jahreshauptversammlung, höchstens, wenn mal interessante Veranstaltungen sind.
Neu ist in diesem Zitat vor allem der Faktor Zeit. Die Belastung durch die Tätigkeit im Bundesministerium scheint so stark, dass für die Arbeit in der Partei wenig Zeit übrig bleibt. Darüber hinaus finden sich zwei weitere Faktoren, die denen ähnlich sind, die eben aufgeführt wurden. Erstens taucht wieder das Gefühl auf, nicht „richtig“ gebraucht zu werden, sich nicht „richtig“ einbringen zu können. Die idealen Vorstellungen von Engagement können auch im Osten nicht eingelöst werden. Während im Westen der schale Eindruck einer Instrumentalisierung der Parteimitglieder bei Machtkämpfen zurückbleibt, erscheint Engagement auch im Osten als Teilnahme an AK-Sitzungen, in denen viel diskutiert wird, geduldig dicke Bretter gebohrt werden, aber wenig entschieden wird. Zweitens geht es wieder um Personen. Wie bei Parteienbindung kommt auch beim Engagement der Faktor Sympathie ins Spiel. Diesmal aber ist nicht das Verhältnis zu Spitzenpersonal wie Koch, Stoiber oder Pflüger gemeint, sondern es geht um das Spitzenpersonal der Partei vor Ort. Hier zeigen sich Parallelen zu Roland Koch. Gefühle der Antipathie gegenüber Parteirepräsentanten müssen nicht zwangsläufig nur mit persönlichen Eigenschaften zu tun haben, sondern speisen sich aus dem Verhalten der Betroffenen. Unsympathisch ist der betreffende CDU-Akteur für Rohland vor allem deswegen, weil ein Repräsentant der eigenen Partei innerparteiliche Konflikte provoziert und damit die ohnehin fragile Geschlossenheit der Berliner Christdemokraten infrage stellt. 4.4.3.4 Ein Vergleich der Faktoren im Licht der objektiven Fallstruktur Warum ist die Identifikation nur ambivalent ausgeprägt? Nimmt man die Argumentation des Befragten zum Ausgangspunkt, ist Diffusion (als Konvergenz) einer von zwei möglichen Faktoren. Dagegen steht allerdings als Konkurrenzfaktor das „Verhalten“ des politischen Personals. Warum kommt es nicht zum dauerhaften Engagement? Nach den Aussagen Rohlands taucht Diffusion organisationaler Identität weder als Konvergenz, Widersprüchlichkeit, noch Zentralität oder Kontinuität unter den direkten Erklärungsfaktoren auf. Auf der anderen Seite gibt es viele direkte Erklärungsfaktoren (Personen, Partizipation und Zeit), die aber nichts mit Diffusion organisationaler Identität zu tun haben. Mit anderen Worten: Auch in diesem Fall gibt es keine Überschneidung der Narrationen von
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Engagement (Identifikation mal ausgeblendet) einerseits sowie Diffusion andererseits. Alternativfaktoren zu Diffusion (Personal und Partizipationsformen) lassen sich besser in die objektive Fallstruktur integrieren. Die wahrscheinlichste Fallhypothese ist die, dass Identifikation mit und Engagement in der CDU nicht durch Diffusion organisationaler Identität Schaden nehmen, sondern durch unerfüllbare Erwartungen an Partizipationsmöglichkeiten in Parteien ebenso wie an das Verhalten politischer Akteure. Beim Kontakt mit der Wirklichkeit kommt es rasch zu tief greifenden Enttäuschungen, die später nicht mehr „gekittet“ werden können. Obwohl Jürgen Rohland seinen Kinder- und Jugendjahren nur wenig Aufmerksamkeit widmet, lässt sich sagen, dass er in einem Milieu aufwächst, in dem frühzeitig ein positives Bild der Demokratie „bundesrepublikanischer Prägung“ an den jungen Rohland vermittelt wird. Das hat auch mit einer Außenseiterrolle zu tun. Rohland ist ein junger Demokrat in einem undemokratischen Regime, hat früh eine CDU-Präferenz in einem Land, in dem nur die SED zählt, ist junger Christ in einem atheistischen Land und lebt als junger Katholik in einer ursprünglich protestantischen Region. Die Soziale Marktwirtschaft ist nicht nur als Gedankenmodell positiv bewertet. Im Kampf der Systeme setzt sich die westdeutsche Demokratie der Bundesrepublik durch. Der Staatssozialismus nach DDR-Bauart ist gescheitert. Das prägt den jungen Rohland, denn gerade zur Zeit des Abiturs, 1989, „ist man als junger Mensch sowieso noch relativ aufgeschlossen.“ Zugleich eröffnet die „siegreiche“ Staatsform gerade für junge gut qualifizierte Menschen Möglichkeiten der Selbstverwirklichung, die es in der DDR nie gegeben hätte. Die “Generation Rohland“ gehört eindeutig zu den Wendegewinnern. Das sich weit öffnende Fenster zur Freiheit kann für alles genutzt werden. Der junge Jürgen Rohland hat es da besser als viele andere Bürger der DDR, deren berufliche Qualifikationen im neuen Deutschland nicht (mehr) gefragt sind, die in den folgenden Jahren ständig vom sozialen Abstieg bedroht sind und eine kritische Haltung dem Staat gegenüber ausbilden. Mit Sicherheit lässt sich im Fall Rohland sagen, dass eher eine Identifikation mit dem Staat und der neuen jungen Demokratie vorliegt, als mit einer bestimmten Partei. Diese Identifikation erklärt auch die Wahl des Studienfaches. Im Studium der Verwaltungswissenschaften wird das positive Bild der westlichen Demokratie noch einmal verstärkt. Bedacht werden muss, dass es hier weniger um die Entfaltung eines kritischen Bewusstseins geht, als um die pragmatische Ausbildung jener Menschen, die ihr ganzes Berufsleben in den Dienst einer staatlichen Institution stellen werden. Denkbar ist, dass hier ein Idealbild politischer Partizipation klare Konturen annimmt, dass wohl die Partizipati-
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
on(smöglichkeiten) in politischen Parteien umfasst ebenso wie das Verhalten der Politiker. An manchen Stellen des Gesprächs mit Jürgen Rohland hat man den Eindruck, dass die Ausführungen über parteipolitisches Engagement direkt dem Lehrbuch entstammen, bzw. Artikel 21 des Grundgesetzes: „Wir haben, ich habe damals im Studium gelernt, dass Parteien zur politischen Meinungsbildung beitragen. Und mit der Prämisse bin ich auch rangegangen“. Weitere Elemente des Idealbildes lassen sich über seine Aussagen rekonstruieren. Im Kopf von Rohland hat sich ein Bild von Parteien als Zusammenkunft verantwortungsvoller Bürger herausgebildet, in dem jeder seine politischen Vorstellungen kommunizieren kann, in der alle Mitglieder zum Wohle eines Gemeinwesens und der Gesamtpartei handeln und in der ein innerparteilicher Willensbildungsprozess mit einem Höchstmaß an Transparenz ohne Konflikte vonstattengeht. Auch von Politikern, den führenden Repräsentanten der Partei, sowohl auf der Bundes-, Landes- als auch auf der lokalen Ebene, ihren Prädispositionen und ihrem Verhalten, herrschen mehr oder minder klare Vorstellungen. Politiker sollen starke Führungspersonen sein, welche die Geschlossenheit in der eigenen Partei gewährleisten, nach außen allerdings eine klare organisationale Identität der Partei kommunizieren, dabei aber ohne jegliche Konflikte innerparteilicher Art auskommen. Politiker dieser Art müssen fast mythische Qualitäten haben, so wie es der Typus des charismatischen Herrschers darstellt: „Charisma bei Weber, das findet man bei den wenigsten Politikern heutzutage noch“. Max Weber (1972: 140ff.) unterscheidet drei Idealtypen legitimer Herrschaft nach der Art ihrer Legitimation. Neben der rationalen und traditionalen Herrschaft gibt es für Weber den Typus des charismatischen Herrschers: ‚Charisma‘ soll eine als außeralltäglich (ursprünglich, sowohl bei Propheten wie bei therapeutischen wie bei Rechts-Weisen wie bei Jagdführern wie bei Kriegshelden: als magisch bedingt) geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als „Führer“ gewertet wird.
Da Rohland während des Studiums noch nicht politisch aktiv ist und der Eintritt erst drei Jahre nach Beendigung des Studiums erfolgt, bleibt diese Vorstellung von Partizipation und politischen Führungspersönlichkeiten lange unwidersprochen und kann sich im Bewusstsein festsetzen – wird aber dann umso nachhaltiger zerstört. Sein erster politischer Kontakt mit der CDU im Berliner Westen offenbart das absolute Gegenteil jenes Idealbildes von Partizipation in Parteien und ihren führenden Repräsentanten, das Roland spätestens in seinem Studium verinnerlicht hat. Wie im letzten Abschnitt angedeutet, ist die innerparteiliche
Identitätsdiffusion, Identifikation und Engagement
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Demokratie bei der Berliner CDU damals nicht sonderlich ausgeprägt, es herrscht noch ein System der Kreisfürsten und Hinterzimmerabsprachen (Reichard-Dreyer 2007). Die Partei wirkt oft zerstritten. Und das Bild der Uneinigkeit wird von Politikern befördert, denen es um persönliche Interessen geht und nicht um die Partei. Jenseits von den Berliner Besonderheiten ist Rohland auch mit dem typischen Partizipationsangebot von Parteien, dass eben nicht nur aus Ämtern, sondern auch Informationsveranstaltungen besteht, nicht zufrieden. Insgesamt führt das zu einer großen, nachhaltigen Enttäuschung, die in der folgenden längeren Passage deutlich zutage tritt. Der Blick zurück wirkt wie ein desillusionierter Schlussstrich. Ich bin vielleicht auch ein bisschen zu naiv an die ganze Sache herangegangen. Was Parteien angeht. Wir haben, ich habe damals im Studium gelernt, dass Parteien zur politischen Meinungsbildung beitragen. Und mit der Prämisse bin ich auch rangegangen. Und war auch enttäuscht, muss ich sagen, dass da eigentlich gar nicht so viele Angebote gemacht werden. Es wurden so Sachen gemacht, wie: Wir fahren mal auf das Gut oder besuchen mal dieses Schloss oder den Friedhof oder die Gedenkstätte. Wurden auch mal politische Vorträge gehalten, aber das habe ich nicht so zur Meinungsbildung verstanden, bzw. eigentlich wollte ich auch ein Forum haben, um meine eigene politische Meinung kundzutun. Und das kam zu kurz. Und das kommt immer noch zu kurz (…) Und ich habe auch ein bisschen den Eindruck, auch so in den Parteiversammlungen, dass zwar viel Herzblut dabei ist, aber auch noch eine gehörige Portion Naivität. Bei den Leuten. Dass die immer noch an das Gute glauben, dass sie wirklich was bewegen können, aber ich habe auch festgestellt, im Umfeld des Kreisparteitages, dass doch sehr viel hinter den Kulissen passiert. Das zeigt mir, dass es weniger darauf ankommt, was man wirklich kann, sondern, wen man hinter sich hat. Oder, das ist im Vorfeld schon alles ausgekungelt. Ich meine, klar: Oft erleichtert das die Arbeit. Aber das verstehe ich nicht immer unbedingt unter einem demokratischen Prozess. Da bleibt die Demokratie ziemlich auf der Strecke.
Der Eintritt in die CDU erfolgte bei Rohland vor dem Hintergrund einer Identifikation mit dem Staat und einem Gefühl staatsbürgerlicher Verpflichtung. Der Eintritt wird befeuert von einem Idealbild parteipolitischer Teilhabe, das nicht der Wirklichkeit entspricht und an dieser dann auch scheitert. Zwar bietet sich dann 2004 im Berliner Osten noch einmal die Chance auf einen Neuanfang. Es herrschen gute Bedingungen. Rohland bewertet positiv, dass der Ortsverband „liberaler“ ist, die Mitglieder jung sind und aufgeschlossen. Er wird schnell integriert. Dennoch bleibt der unüberbrückbare Spalt zwischen Anspruch und Wirklichkeit bestehen. Das wird z. B. deutlich an diesem Zitat: Es gibt einmal im Monat so einen Arbeitskreis, den habe ich zwei- bis dreimal besucht, wobei ich da enttäuscht war, dass es da so schulmäßig abläuft. Und dachte ich mir: ähm. Das ist vielleicht nicht ganz so meine Art.
Jürgen Rohland ist ein junger Mann, der aus einer Familie kommt, in der es eine gewisse CDU-Tradition gegeben hat, wenn auch damit die ehemalige Blockpar-
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
tei in der DDR gemeint ist. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Rohland zwar berufstätig, die Tätigkeit im öffentlichen Dienst ist durchaus arbeitsintensiv aber auch vom Umfang her kalkulierbar. Zudem ist Rohland offenbar familiär ungebunden. Nach seinem Umzug innerhalb Berlins findet er ferner einen Ortsverband vor der eigenen Haustür, der ihm personell wie ideell entgegen kommt. Alles dies wären im Prinzip gute Voraussetzungen, um sich in der CDU dauerhaft zu engagieren. Dennoch bleibt das Engagement in der CDU auf eine Episode beschränkt. Dafür kann in erste Linie das Bild verantwortlich gemacht werden, dass Rohland von Partizipationsarten und –möglichkeiten in politischen Parteien im Lauf seiner Biografie ausgebildet hat. Die ersten eigenen Erfahrungen von der rauen Wirklichkeit des Ortsverbandes führen zu einer frühen, tiefsitzenden Enttäuschung in Sachen CDU, die nie ganz ausgeräumt wird. Aber auch die Faktoren fehlende Zeit und das Verhalten der lokalen Parteieliten sind dafür verantwortlich, dass sich Rohland nach einer Phase parteipolitischer Aktivität wieder in die Passivität zurückzieht, auch wenn von einem Austritt nicht die Rede ist. Eliten gibt es in einer Partei nicht nur an der Basis, sondern auch in der bundespolitischen Führungsebene. Das Verhalten dieser Eliten der eigenen Partei wird von Rohland dezidiert kritisch bewertet. Und dieses negative, oft sogar als parteischädigend bezeichnete Verhalten, das z. B. in der Gestalt von offen ausgetragenen Konflikten oder auch von angeblicher Führungsschwäche besteht, wirkt sich nachteilig aus auf die emotionale Bindung an die eigene Partei, kann als einer von zwei Bedingungsfaktoren gesehen werden. Als zweiter Aspekt spielt die wahrgenommene Distanz zwischen den Parteien eine Rolle. Konvergenz ist ein Problem aus der Sicht von Jürgen Rohland – und wirkt sich aus auf seine Bindung an die Partei: „Je klarer das Profil, die Unterscheidung, ist, umso besser wird es – zumindest bei mir – mit der Identifikation, mit dieser Partei, sein“. Damit taucht zumindest ganz zum Schluss doch noch einmal der Faktor Diffusion organisationaler Identität auf. 4.4.4 Die Rückkehr der klassischen Faktoren – Bilanz der Einzelfallanalysen In Deutschland besitzen etwa 1,4 Millionen Menschen ein Parteibuch. Zwei von ihnen haben wir nun näher kennengelernt. Berta Brehmer und Jürgen Rohland. Wir sind in ihre Biografie eingetaucht und haben gesehen, dass beide Fälle vieles voneinander trennt. Da wäre das unterschiedliche Alter. Brehmer geht auf die Rente zu, Rohland hat noch viele Berufsjahre vor sich. Da sind die unterschiedlichen politischen Ideale. Da ist die Lebenswelt. Brehmer wohnt in einem kleinen hessischen Dorf, Rohland in einer Berliner Osten. Da ist die Ausbildung und der Beruf. Hier eine Industriearbeiterin, die schon mit 14 Jahren in die Lehre ging.
Identitätsdiffusion, Identifikation und Engagement
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Dort der Abiturient mit abgeschlossenem Studium, der in einer höchsten Bundesbehörde arbeitet. Beide Mitglieder eint, dass die emotionale Bindung an die eigene Partei nicht mehr fraglos gegeben ist. Gemeinsam haben beide auch, dass das Engagement zum Problem geworden ist. Während Brehmer zum Zeitpunkt des Interviews die Aufgabe ihrer öffentlichen Ämter und Parteiposten eingeleitet hat, ist der Rückzug aus der aktiven Parteiarbeit bei Rohland bereits abgeschlossen. Fall Rohland
Diffusion organisationaler Identität als Konvergenz
Ambivalente Parteien-Identifikation
Verhalten von Parteieliten
Negativ ausgeprägtes Engagement
Zeitliche Ressourcen Fehlende Partizipationsmöglichkeiten
Fall Brehmer
Politische Sozialisation durch Gewerkschaften
Negative Parteien-Identifikation
Physische Ressourcen
Negativ ausgeprägtes Engagement
Soziales Umfeld Fehlender Kontakt zur Arbeitswelt
Abbildung 14: Einflüsse auf Identifikation und Engagement in den Fällen
226
Ergebnisse der empirischen Feldforschung
Der hinter uns liegende, genauere Blick auf beide Fälle sollte dem Leser nach den vielen Tabellen des ersten empirischen Teils nicht nur eine etwas leichter zugängliche Lektüre bieten. Mittels einer mikroskopischen Perspektive ist versucht worden, jene Gründe zu rekonstruieren, die für den Rückgang des parteipolitischen Engagements und die emotionale Distanz zur Partei verantwortlich gemacht werden können. Im Zentrum des Interesses stand der Faktor Diffusion organisationaler Identität in all jenen Ausprägungen, die im ersten empirischen Teil herausgearbeitet worden waren. Aufgrund von Voruntersuchungen war bekannt, dass in beiden ausgewählten Fällen Diffusion organisationaler Identität nicht nur vergleichsweise deutlich ausgeprägt war, sondern dass beide Befragten Diffusion organisationaler Identität auch kritisch bewertet hatten. So stand mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass sich fallspezifische Ausprägungen von Diffusion organisationaler Identität auch als Ursache für negative bzw. ambivalente Ausprägungen von Identifikation und Engagement erweisen würden. Nach einer eingehenden sequenziellen Analyse beider Einzelfälle ist zu dem Schluss zu kommen, dass sich Diffusion organisationaler Identität nicht als der erwartet starke Einflussfaktor erwiesen hat. Eine tragfähige Kausalverbindung konnte nur in einem Fall, dem Fall Rohland zwischen der Diffusionsdimension Konvergenz und Parteien-Identifikation hergestellt werden. Mit anderen Worten bedeutet dies, dass Diffusion organisationaler Identität zwar in all ihrer Vielschichtigkeit in beiden Interviews verankert ist und das Diffusion organisationaler Identität in ihrer Vielgesichtigkeit auch von den beiden Mitgliedern deutlich, kritisch, kommentiert wird. Es bedeutet aber ebenso, dass Diffusion organisationaler Identität (bezogen auf beide Fälle) nicht viel mit Disidentifikation und Rückzug aus der Parteiarbeit zu tun hat. Schauen wir uns beide Fälle noch einmal in einer Übersicht an. Wie Abbildung 14 zeigt, hat die Einzelfallanalyse nachgewiesen, dass von vier theoretisch denkbaren und empirisch nachzuweisenden Dimensionen von Diffusion organisationaler Identität nur die Dimension der Unterscheidbarkeit, ergo: Konvergenz einen negativen Einfluss hat auf die Identifikation eines Mitglieds mit seiner Partei. Allerdings tritt selbst der Faktor Konvergenz in Konkurrenz zu anderen Faktoren. Die Gewichtung dieser Faktoren ist nicht abschließend zu beurteilen, wobei der Faktor Verhalten des Führungspersonals wesentlich stärker im empirischen Material verankert scheint als der Faktor Diffusion organisationaler Identität. Das Schaubild verdeutlicht auch, dass eine direkte negative Wirkung von Diffusion organisationaler Identität in ihren fallspezifischen Ausprägungen speziell auf das parteipolitische Engagement, in dem Sinn, dass Diffusion organisationaler Identität zumindest mitverantwortlich gemacht werden kann für den
Exkurs: Zur Relevanz innerer Ordnungsvorstellungen
227
faktisch erfolgten bzw. angedachten Rückzug aus der aktiven Arbeit in der Partei, in keinem der beiden Einzelfälle plausibel erscheint. 4.5 Exkurs: Zur Relevanz innerer Ordnungsvorstellungen Die Quintessenz aus der Sequenzanalyse der beiden Einzelfälle war, gemessen an den Ausgangsüberlegungen und den ersten Eindrücken aus der kategoriellen Inhaltsanalyse, ernüchternd. Es erwies sich als schwer, dem Faktor Diffusion organisationaler Identität auf der Basis einer detaillierten Analyse zwei besonders geeigneter Einzelfälle eine entscheidende Bedeutung gerade bei der Frage des Rückzugs aus der aktiven Parteiarbeit zuzuschreiben, obwohl sich Diffusion organisationaler Identität als insgesamt stark im empirischen Material verankert erwiesen hat und fallspezifische Ausprägungen auch durchaus negativ von den befragten Parteimitgliedern bewertet wurden. Relevanz organisationaler Identität
Zitate gesamt
Fälle gesamt
Fälle CDU
Fälle SPD
Unterscheidbarkeit wichtig
26
12
6
6
Kontinuität wichtig
7
5
3
2
Zentralität wichtig
3
3
3
-
[inneres Schema wichtig]
4
4
3
1
Tabelle 14: Relevanz organisationaler Identität Im Gegenteil tauchten am Ende der Analyse die „guten alten Bekannten“ aus der Parteienforschung wieder auf (vgl. Kapitel 2.3.4 und 2.3.5). Dazu gehört im Fall der Partei-Identifikation (als negativer Einflussfaktor) z. B. das Verhalten der Eliten, das zu einer emotionalen Entfremdung von der eigenen Partei führen kann. Auf diesen Einflussfaktor haben Kai Arzheimer und Harald Schoen (2005) aufmerksam gemacht. Im Fall von Engagement geht es z. B. um als mangelhaft wahrgenommene Partizipationsangebote in der Partei und das (Nicht-)Verfügen über bestimmte zeitliche und physische Ressourcen. Eine mangelnde Ressourcenausstattung als Hemmschuh aktiven Engagements ist in den, an die Arbeiten von Sidney Verba und Norman Nie angelehnten, sozialstrukturellen Modellen zur Erklärung von Engagement berücksichtigt. Im empirischen Material fand sich aber auch eine bedenkenswerte Konstellation. Einerseits kann, wie gerade
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
ausgeführt, Diffusion organisationaler Identität (mit Ausnahme von Konvergenz) ganz offensichtlich nicht als „harter“ Faktor gesehen werden, der beispielsweise über den Ausstieg eines Mitglieds aus der aktiven Parteiarbeit entscheidet. Andererseits fand sich eine ganze Reihe von Textpassagen, die den unterschiedlichen Dimensionen von organisationaler Identität „an sich“ Relevanz zuschreiben. Dieser Umstand führte zu der Vermutung, dass zwar die Bedeutung von Diffusion organisationaler Identität im engeren Sinn der Fragestellung, als negativer Bedingungsfaktor, relativiert werden muss. Aber gleichzeitig mehrten sich auch die Anzeichen dafür, dass organisationale Identität in grundsätzlichem Sinn eine Wichtigkeit für die Mitglieder besitzt hat – und in diesem Sinn als „weicher Faktor“ bedeutend ist. Auf die Identitätsdimension Unterscheidbarkeit bezogen, bedeutet dies: Auch wenn Probleme bei der Konstruktion von Differenz nicht unbedingt zum Rückzug aus der aktiven Parteiarbeit führen müssen, so hat eine erfolgreiche Konstruktion von Differenz dennoch einige wichtige Funktionen. Wie diese Relevanz im Ganzen aussehen könnte, darum soll es in diesem Exkurs gehen, der gleichsam die Diskussion der empirischen Ergebnisse abschließt. Im Rahmen der Datenauswertung wurden Textstellen gesammelt, in denen die Mitglieder den unterschiedlichen Dimensionen von organisationaler Identität eine Relevanz zuschreiben. Diese Passagen entstanden zum Teil auf direkte Nachfragen durch die Interviewer. Aber sehr oft nahmen die befragten Parteimitglieder auch ohne vorherige Anregung durch den Interviewer Stellung dazu, warum es ihnen z. B. wichtig ist, die eigene Partei von den anderen Parteien unterscheiden zu können. Mittels der kleinen Übersicht in Tabelle 14 soll deutlich gemacht werden, welche Dimensionen organisationaler Identität überhaupt von den Mitgliedern der Parteien als in der einen oder anderen Hinsicht relevant eingestuft werden. Es fällt auf, dass nicht alle Dimensionen bewertet werden. Überraschend ist in diesem Zusammenhang, dass Kohärenz aus Sicht der Mitglieder so gut wie keine Bedeutung zu haben scheint, obwohl Widersprüchlichkeit eine der stärksten Diffusionskategorien im empirischen Sample darstellt (vgl. Kapitel 4.1.1). Dafür wird einmal mehr deutlich, dass es sich beim Topos der Unterscheidbarkeit um die eigentliche „Königsdimension“ organisationaler Identität in Bezug auf den Organisationstypus politischer Parteien zu handeln scheint. Wenn wir zurückschauen, werden wir feststellen, dass mangelnde Unterschiede die zweitgrößte Aufmerksamkeit im Sample erfahren haben. Zudem erhielt die Dimension Konvergenz die meisten negativen Bewertungen durch die Mitglieder. Schließlich ist Konvergenz die einzige Dimension von Diffusion organisationaler Identität, der bei den Einzelfallanalysen eine negative Auswirkung zumindest auf die emotionale Bindung an die Partei zugeschrieben werden kann. Vor diesem Hintergrund
Exkurs: Zur Relevanz innerer Ordnungsvorstellungen
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kann es kaum noch überraschen, dass Unterscheidbarkeit mit großem Abstand jene Dimension darstellt, von der die meisten Mitglieder sagen, dass sie grundsätzliche Relevanz besitzt. Die für diesen Abschnitt herausgearbeiteten Unterkategorien lassen sich auch danach unterscheiden, wie „ergiebig“ sie inhaltlich sind. Auch hier zeigt sich ein Ungleichgewicht. Während Kontinuität nach Unterscheidbarkeit die zweitwichtigste Dimension organisationaler Identität darzustellen scheint, zumindest was die Anzahl der Zitate angeht, so ist sie inhaltlich nur schwer auszudifferenzieren. Aus dem Material heraus lässt sich zumindest im Rahmen dieses Samples keine echte Funktion von Kontinuität ermitteln. Zwar ist es auch wichtig für die Mitglieder, im Erscheinungsbild von der eigenen Partei den roten Faden zu erkennen. Auf welchen inhaltlichen Ebenen ein Kontinuitätsgefühl vorherrschen soll und warum das „Wiedererkennen“ der Partei wichtig ist, das lässt sich aus den Textstellen kaum ableiten. „Ich würde mir da ein bisschen mehr Kontinuität wünschen“, sagt z. B. Jürgen Rohland (CDU Berlin). Wenn die eigene Partei „heute hü und morgen hott“ sage, sei dies nicht gut. Die Partei müsse „wirklich auch Kontinuität an den Tag legen, und eben bei bestimmten Themen nicht einknicken“. Um welche Themen es sich handelt, wird nicht ersichtlich. Ähnlich abstrakt bleibt das Thema Kontinuität bei Rainer Schmitt von der CDU Hessen: „Ich glaube, es ist wichtig, in den großen Formen wiedererkennbar zu bleiben“. Anders verhält es sich mit den Dimensionen Unterscheidbarkeit und Zentralität. Hier lässt sich inhaltlich eher ins Detail gehen. In der vorhin gezeigten, kleinen Übersicht taucht auch die Ebene des „inneren Schemas“ auf. Das bedeutet, dass Mitglieder davon sprechen, dass ein inneres Orientierungsschema wichtig ist, welches die bisherigen Dimensionen integriert. Darauf soll am Schluss eingegangen werden. Kommen wir nun aber zunächst zur Relevanz von Unterschieden. 4.5.1 Warum Unterscheidbarkeit wichtig ist Auch die Frage der Relevanz von Unterscheidbarkeit musste zunächst an einen Berg ungeordneter Zitate herangetragen werden. Auf den ersten Blick hatten die Passagen nur gemein, dass in ihnen von Unterschieden zwischen den Parteien die Rede war und dass die Mitglieder im gleichen Atemzug beschrieben, warum die Herstellung dieser Unterschiede wichtig ist. Die erste Aufgabe des Interpreten bestand wie immer darin, Struktur und Ordnung in diese Gruppe von Textstellen zu bringen. Insgesamt sagen 12 der 25 Mitglieder, dass Unterschiede wichtig sind. Das sind 48 Prozent des Samples. Zwischen den Anhängern der
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
Parteien gibt es keine Unterschiede. Es handelt sich bei den 11 Fällen um sechs Mitglieder der SPD und fünf Mitglieder der CDU. Einige Mitglieder kommen an mehreren Stellen des Gesprächs auf die Relevanz von Unterschieden zurück. Für andere wiederum ist Unterscheidbarkeit der Partei kein allzu großes Thema. Relevanz von Differenz
Zitate gesamt
Fälle gesamt
Fälle CDU
Fälle SPD
Allgemeines Gefühl von Differenz wichtig
18
11
5
6
Issue-Differenz gesamt
6
4
2
2
intra-Issue Differenz wichig
3
2
-
2
inter-Issue Differenz wichtig
3
3
2
1
Diverse Werte wichtig
2
1
-
1
Tabelle 15: Relevanz von Unterscheidbarkeit Ebenso wie Diffusion organisationaler Identität als Diffusion von Differenz auf unterschiedlichen inhaltlichen Ebenen präsent ist, so beziehen sich auch die Relevanzzuschreibungen von Differenz auf unterschiedlichen Stufen. Die stärkste inhaltliche Ebene ist die eines allgemeinen Gefühls der Unterscheidbarkeit. Insgesamt besagen 18 der 26 Zitate, dass eine gefühlte Einzigartigkeit der Partei wichtig ist, selbst dann, wenn es sich um ein allgemeines Gefühl der Unterscheidbarkeit handelt, dass nicht auf inhaltliche Ebenen (Werte, Programme, Positionen in konkreten Politikfeldern) eingegrenzt wird. „Ja, die Unterscheidung, die Unterscheidbarkeit ist ganz wichtig“, gibt Jürgen Rohland von der CDU Berlin zu Protokoll. „Unterscheidung? Also ich finde, es ist wichtig“, sagt Joachim Bork von der SPD Berlin. Rico Bach (SPD Brandenburg) bleibt auch auf dieser allgemeinen Ebene, spitzt die Wichtigkeit von Unterscheidbarkeit aber schon auf die Gruppe der Mitglieder ein. Obwohl Unterscheidbarkeit theoretisch vor allem für Wähler als wichtig eingeschätzt wird, kann sie auch „nach innen“ eine große Bedeutung haben: Ich glaube, das ist nach innen und außen verschieden. Nach innen ist die Unterscheidbarkeit unheimlich wichtig. Zumal bei einer großen Koalition, in der Unzufriedenheit in der Parteibasis beider Parteien. Für einen aufrechten Konservativen ist das, was er da gerade erlebt, ein Graus. Während bei uns solche Debatten sind, dass man sich die Haare ausraufen will. Beim Wähler an sich, klar: Wahlen werden in der Mitte gewonnen. Nicht an den Rändern (…) Ich würde mir
Exkurs: Zur Relevanz innerer Ordnungsvorstellungen
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manchmal ein Stück weit mehr Deutlichkeit und Abgrenzung wünschen. Das heißt nicht, politisches Rowdytum, wie das auch manchmal der Fall ist. Damit der Bürger begreift, wo der Unterschied [betont] ist. Also links und rechts von der Mitte. Das ist immer noch ein Unterschied. Das heißt nicht, dass beide, wenn man den Strich irgendwo zieht, dann ist der irgendwo [schlägt auf Tisch]. Der eine steht da und der andere dort. Dann ist das nicht so eine Eierkurve. Dann ist das ein Strich. So, und das müssen wir wieder mit viel mehr Deutlichkeit einbringen, was sozusagen. Man kann nicht für alles ein Kompromiss finden.
Neben dieser allgemeinen Ebene existiert eine zweite Stufe von Differenz, der Relevanz zugeschrieben wird. Hier geht es darum, dass eine Differenz auf der Ebene von politischen Sachthemen (Issues) existieren muss. Diese Ebene lässt sich intern nochmals unterscheiden. Erstens ist es wichtig, dass Parteien, durch Kommunikation aber auch durch praktisches Handeln, unterschiedliche Positionen innerhalb eines Themenbereiches kenntlich machen. Im Feld der Außenpolitik wird dies z. B. an den Haltungen von SPD und CDU zum EU-Beitritt der Türkei (pro oder kontra) festgemacht. Aber auch „was den Umgang mit innerer Sicherheit angeht, was vor allem den Umgang mit der Umwelt angeht, so gewisse Sachen, und da ist wieder unheimlich wichtig, zu wissen, was die Unterschiede sind“, ergänzt Joachim Bork (SPD Berlin). Zweitens ist aber auch eine Unterscheidung durch Themen wichtig, in dem Sinne, dass ein Thema nur von der eigenen Partei vertreten werden soll. Hier wünschen sich die Mitglieder „Kampfthemen“ (Bork), die exklusiv nur von der eigenen Partei besetzt werden. Abgesehen von einem allgemeinen Differenzgefühl und einer „IssueDifferenz“ sollen Parteien auch auf der Ebene von Grundwerten Unterschiede markieren. Allerdings ist diese Ebene mit einem Fall nur schwach ausgeprägt. Rico Bach (SPD Brandenburg) merkt an: Wenn wir klarmachen würden, die Abgrenzung nach links in erster Linie klarzumachen. Uns unterscheidet von denen. Wir haben zwar dieselben Grundwerte, aber während der eine sagt, wo das Ziel ist, sagt der andere, wie man dahin kommt. Da ist zu akzeptieren, dass der Weg nicht immer gerade von a nach b ist.
Warum ist die gefühlte Differenz (m)einer Partei zu anderen vergleichbaren Parteien wichtig? Um sich dieser Frage anzunähern, wurde nach „Reichweite“ und „Konkretheit der Funktion“ differenziert. Reichweite meinte: War die Wichtigkeit von Differenz nur in einem allgemeinen Sinn wichtig oder tatsächlich im konkreten Bezug auf die eigene Person des Befragten? Konnte die Relevanz von Differenz an Beispielen festgemacht werden oder handelte es sich eher um allgemeine Relevanzbehauptungen ohne funktionale Konkretisierung? Es stellte sich heraus, dass neun Einzelfälle Unterscheidbarkeit im allgemeinen Sinn als wichtig erachten, und sechs Fälle Differenz sogar im konkreten Bezug zur eigenen Person als wichtig bezeichnen. Ferner fanden sich in Textstel-
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
len von acht Fällen (CDU fünf Fälle, SPD drei Fälle) konkrete Beispiele zur Frage, warum es wichtig ist, die eigene Partei von anderen vergleichbaren Parteien unterscheiden zu können. Diesen „Quotes“ soll nun unsere Aufmerksamkeit gelten. Funktionen von Differenz
Zitate gesamt
Fälle gesamt
Fälle CDU
Fälle SPD
Handlungsbezug gesamt
10
7
5
2
Entscheidung Beitritt
4
4
1
3
Entscheidung Wahl
3
3
2
1
Entscheidung sonstige
2
1
1
-
Motivation Engagement
1
1
-
1
Voraussetzung Identifikation
1
1
-
1
Zusammenhalt
1
1
-
1
Tabelle 16: Funktionen von Unterscheidbarkeit Durch eine Systematisierung der Textpassagen konnte herausgearbeitet werden, dass Unterscheidbarkeit in Bezug auf das Erscheinungsbild der eigenen Partei insgesamt sechs Funktionen haben kann. Vier dieser sechs Funktionen beziehen sich auf den Kontext des Handelns innerhalb der Parteien. Drei dieser praxeologischen Funktionen haben mit Entscheidungssituationen zu tun. InterParteien-Differenz ist aber nicht nur bei Handeln wichtig, sondern auch hinsichtlich der emotionalen Bindung an die Partei und eines Zusammengehörigkeitsgefühls unter den Mitgliedern. Die Wichtigkeit von Unterschieden zwischen den Parteien kommt also dann ins Spiel, wenn von Entscheidungssituationen die Rede ist. Um diese Situationen bewältigen zu können, ist es ganz offenbar von Bedeutung, dass sich eine Partei von anderen Parteien unterscheidet. Im Rahmen der kategoriellen Inhaltsanalyse konnten drei Typen von Entscheidungssituationen herausgearbeitet werden. Es geht konkret um (1.) Eintrittsentscheidungen, es geht um (2.) politische Wahlentscheidungen und (3.) um Entscheidungssituationen in der alltäglichen Parteiarbeit. Ordnet man diese Ebenen nach der Häufigkeit der ihnen zuweisbaren Zitate, so entfallen die meisten Zitate (nämlich vier) in eine Unterkategorie, die etwas
Exkurs: Zur Relevanz innerer Ordnungsvorstellungen
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zu tun hat mit einer Situation, in der über den Eintritt in eine Partei nachgedacht wird. Einige der befragten Mitglieder der politischen Parteien sagen aus, dass Unterschiede wichtig sind, um sich für eine bestimmte Partei entscheiden zu können, der man beitritt, der man mindestens Geld, aber auch aktives Engagement zukommen lassen will. „Aber es sollten doch, es muss ja gewisse Themen geben, wieso man sagt: ich bin jetzt bei der CDU und nicht bei der SPD“, sagt Hans-Peter Reller (CDU Baden-Württemberg). So kann organisationale Identität (als erfolgreich hergestellte Differenz) durchaus in die Reihe der Beitrittsstimuli integriert werden. Voraussetzung des Beitritts sind augenscheinlich nicht nur persönliche Lebensumstände oder die Emergenz besonders charismatischer Führungspersönlichkeiten, und auch nicht die weitgehende Übereinstimmung der politischen Agenden von Beitrittskandidat und politischer Partei. Neben einer inhaltlichen Übereinstimmung mit Zielen und thematischen Positionen der Partei ist auch die Unterscheidbarkeit der Ziele, Werte und Positionen der Partei wesentlich. So wird Mike Möllenhauers (CDU Berlin) Einschätzung nachvollziehbar, wenn er als Vorsitzender eines Ortsvereins sagt: Ich muss letztlich warten, bis ein Thema sexy ist, und dann weide ich das aus, und wenn es polarisiert, umso besser. Dann scheidet sich die Spreu vom Weizen. Es spült die Menschen zu mir.
Gab es zu bestimmten Phasen eine bessere Unterscheidbarkeit der Parteien, war das dem Einstieg in eine Partei dienlich. So erinnert sich Ina-Maria Völkel an die „guten Tage“ ihrer SPD: Warum sind so viele Leute eingetreten, als Willy Brandt noch da war? Weil er gesagt hat, weil er gekämpft hat für das, was er wollte. Da konnte man sich aufregen, weil er gespalten hat. Aber nicht deswegen, weil man nicht wusste, wie Brandt und wie die SPD zu was steht und wie nicht.
Neben Entscheidungssituationen, in denen über den Eintritt in eine Partei nachgedacht wird, gibt es einen weiteren Typus von Entscheidungssituationen, der im empirischen Material auftaucht. Hier geht es um eine Entscheidung für die Partei bei Wahlen. Denn ein Mitglied ist, quasi in anderer Funktion, natürlich auch Wähler. In diesem Zusammenhang kann das Zitat von Annegret Bott (SPD Hessen) als gutes Beispiel dienen: Ja, ich würde das unterschreiben, dass es zum Beispiel wichtig ist, dass die Parteien sich voneinander unterscheiden. Weil ich finde es wichtig, dass du für die Leute wahrnehmbar bleibst. Weil sonst wissen die Leute, ich finde, das ist auch so eine Reaktion mit Stimmenenthaltung, es kann auch einfach sein, dass die Leute nicht mehr wissen: was soll ich denn jetzt wählen. Es kommt ja eh dasselbe heraus. Ich finde es wichtig, dass man sich da mehr profiliert, dass man den Mut hat, zu sagen: So sind wir und so nicht.
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
Abwägungsprozesse finden sich nicht nur im Vorfeld eines Parteibeitritts oder vor Wahlentscheidungen, sondern auch im politischen Alltag einer Partei und ihrer Mitglieder, in der Gremienarbeit und bei Vorstandssitzungen. Auch hier kommt eine wahrnehmbare Differenz der eigenen Partei von allen anderen Parteien zum Tragen. Auf die Frage: „Müssen Unterschiede überhaupt zwingend zu erkennen sein?“ antwortet Christa Weidner (CDU Hessen): Doch, es ist wichtig. Es ist in dem Fall wichtig, dass erleben wir manchmal auch in der Fraktion, wenn es strittige Themen gibt und dann eine Entscheidung gefällt werden muss (…) Ich glaube nicht, dass man so einen Superkatalog braucht, dass man sagt: in dem einzelnen Punkt haben wir dann gesagt, dass machen wir dann anders als die SPD, weil, und das endet dann in so einer Argumentationskette. Sondern häufig hat man ja, nicht häufig, aber man kommt eben an diesen Punkt, wo man eher so einen grundsätzlichen Unterschied braucht. Und [betont] den braucht man. Das ist schon ganz wichtig. Und da muss man sich mit den anderen Leuten schon einig sein. Das muss man auch demonstrieren und genau das muss man auch transportieren. Dass man auch versuchen muss, dass rüberzubringen. In den Sachdingen, wo man innerhalb der, der, in den Sachzwängen lebt, da kann man sich leicht verheddern, und das ist dann auch gar nicht so, so spezifisch. Nur wenn es dann so grundsätzlichere Sachen gibt. Also dann geht es natürlich, dann muss man beteuern: Was wollen wir denn? Wollen wir jetzt tatsächlich die Betreuung von ganz kleinen Kindern oder wollen wir das nicht? Da spielt das rein und den Unterschied, den muss man wissen. Insofern würde ich dann doch diese Worte von Herrn Pofalla, dass Unterscheidung wichtig ist, unterschreiben. Dass man sagt, man braucht einen Unterschied.
Setzt eine Partei auf einen Abgrenzungskurs, dann „verliert sie zwar ein paar Stimmen, aber dadurch motiviere ich auch meine Mitglieder viel mehr, sich für irgendwas einzusetzen, als wenn es immer nur so ein Einheitsgelaber gibt. Und da unterzugehen“. Das sagt Annegret Bott von der SPD Hessen. Diese Textstellen machen deutlich, dass der wahrgenommene Unterschied bzw. genauer die Fähigkeit, einen Unterschied (wo dieser dann auch sein mag) herzustellen, seiner eigenen Partei eine Einzigartigkeit zuzuschreiben, eine wichtige Funktion erfüllt. Es erleichtert die Interaktion innerhalb der Partei, hilft in bestimmten Handlungsabläufen und wirkt so als Motivation beim Engagement. Es gibt auch noch eine weitere Funktion von Unterscheidbarkeit. Diese hat weniger mit dem Handeln innerhalb der Partei zu tun sondern eher mit der emotionalen Bindung an die Partei. Dieser Zusammenhang klingt im Zitat von InaMaria Völkel (SPD Berlin) an. Ja, also es ist auf jeden Fall wichtig, dass du dich mit bestimmten Dingen in der Partei identifizieren kannst. Aber ob das jetzt der Kern ist, weiß ich nicht. Aber es muss irgendetwas sein. Dass die Partei nun für den Beitritt der Türkei war, das war gut. Bessern jemanden einstellen, als ihn draußen vor der Tür warten lassen. Das war so einer der wenigen Punkte, wo man sagen konnte, das ist gut. Die Grundhaltung war gut. Was war meine Grundhaltung? Auch die musst Du suchen. Wenn es mehr davon gibt, engagiere ich mich wieder.
Exkurs: Zur Relevanz innerer Ordnungsvorstellungen
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Wie lässt sich diese Passage interpretieren? Mit der Partei „an sich“ kann man sich nicht identifizieren, wohl aber mit Elementen des Erscheinungsbildes. Um sich zu identifizieren, muss man nicht nur mit diesen Elementen übereinstimmen. Diese Elemente müssen sich auf der inhaltlichen Bezugs- und Vergleichsebene unterscheiden. Damit man sich mit der SPD identifizieren kann, ist es nicht nur wichtig, dass man soziale Gerechtigkeit wichtig findet. Sondern auch, dass soziale Gerechtigkeit ausschließlich mit der SPD in Verbindung gebracht werden kann. Diese Wichtigkeit von Differenz für die Identifikation passt im Übrigen auch zu den Ergebnissen der Fallstudie Jürgen Rohland. Es soll der Vollständigkeit halber erwähnt werden, dass Mitglieder die Einzigartigkeit der eigenen Partei in Zusammenhang mit dem Zusammenhalt unter den Mitgliedern einer Partei bringen. Dazu sagt Joachim Bork (SPD Berlin): Aber warum das so wichtig ist, naja gut, um die eigenen Reihen zu schließen. Ist so was dann doch wieder wichtig. [betont] Wir sind die Partei der Bürgerversicherung, und [betont] die sind die Partei der sozialen Kälte. Und, wobei ich mir da auch nicht mehr so sicher bin, also ich bin auch nicht mehr sicher, ob das so zieht. Also das ist so irgendwie, für mich sind ja auch die Gewerkschaften so ein Beispiel, die machen ja einen Mörderrabatz. Also was auch so Richtung SPD das angeht. Erlebe ich tagtäglich im Abgeordnetenbüro. Die Gewerkschaften machen das ja alles deswegen, um Zusammenhalt zu erzeugen.
4.5.2 Warum Zentralität wichtig ist Der letzte Abschnitt hat gezeigt, dass Unterscheidbarkeit ein wichtiges Gut ist. Sie dient als Voraussetzung von Engagement, als Voraussetzung auch der Identifikation mit der Partei und fördert das Zusammengehörigkeitsgefühl. Diese Aussagen konnten auf der Basis einiger interessanter, inhaltlich ergiebiger Textstellen gemacht werden. Wie an anderer Stelle bereits angedeutet, trifft dieser für Interpreten günstige Umstand eines reichen Reservoirs an gehaltvollen Zitaten leider nicht auf die anderen Dimensionen organisationaler Identität zu. Wie die Tabelle in Abbildung 14 verdeutlicht, kann zwar eine Relevanz von Kontinuität angenommen werden. Diese Relevanz ist aber aufgrund der Beschaffenheit der Textstellen nicht zu präzisieren. Kohärenz wiederum taucht im Zusammenhang von Relevanzfragen gar nicht auf. Schließlich bleibt die Dimension Zentralität übrig. Hier sind zwar nur wenige Zitate vorhanden. Anders als im Fall Kontinuität lassen sich aber hier empirisch begründete Überlegungen dahin gehend anstellen, warum es wichtig sein könnte für die Mitglieder, das komplexe Erscheinungsbild der eigenen Partei auf einen Kernbestand hin zu reduzieren. Blicken wir dazu auf ein Zitat der hessischen Christdemokratin Christa Weidner:
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
Dann ist, weil irgendwann mal kommt man auch über diese Sachzwanggrenze hinaus, dann ist es eine Frage: Was ist uns denn wichtiger? Ist das eine uns wichtiger oder das andere?
Frau Weidner thematisiert alltägliche Handlungsroutinen im Ortsverband und auch innerhalb der Stadtfraktion. Es kommt vor, dass Abwägungen und Entscheidungen nicht nur von Sachfragen und Problemlagen vor Ort abhängig sind. Man muss sich auch der Identität auch der eigenen Partei vergewissern, hier konkret: wissen, was sie im Kern ausmacht. Um Entscheidungen treffen zu können, ist es wichtig, dass die Partei im Kopf des Mitglieds auf jene Inhalte „schrumpft“, die von fundamentaler Bedeutung sind. Dieser Kernbestand wird dann zum orientierenden Fixpunkt. Ein ähnlicher Zusammenhang wird auch bei Ingrid Herrmann (CDU Hessen) deutlich: Das ist das, wo ich meinen inneren Kern habe. Aber bei meiner Gestaltung, bei meinem Dabeisein, in Gespräch nicht so, eher wenn ich in einer Sitzung bin. Oder bei einer Wahlveranstaltung, oder bei Parteiveranstaltungen, wo Kandidaten gewählt werden, wenn ich meine Stimme abgebe, ja, ist mein innerer Kompass wichtig.
Schließlich ist eine solche Reduktion von Komplexität in Bezug auf das Erscheinungsbild wichtig, um sich mit der Partei zu identifizieren. Mike Möllenhauer sagt, dass es wichtig ist, „einen Kernbestand zu haben, um für sich persönlich eine Bindung herzustellen“. Ist das Erscheinungsbild einer Partei zu vielfältig, werden Relevanzsetzungen in Grundwerten, Zielsetzungen und bei politischen Themen nicht mehr deutlich, kann die Identifikation mit der Partei zum Problem werden. 4.5.3 Zur Relevanz innerer Ordnungsschemata Nicht in jeder Textstelle, die im Zusammenhang dieses Kapitels Relevanz besitzt, konnten die einzelnen Dimensionen organisationaler Identität analytisch voneinander getrennt werden. In einigen Passagen fließen die verschiedenen Dimensionen organisationaler Identität (Unterscheidbarkeit, Zentralität, Kontinuität auch Kohärenz) regelrecht ineinander. Sie werden zu den Prinzipien und/oder den Bestandteilen eines umfassenderen Schemas, einer inneren Ordnungsvorstellung. Im Gespräch mit Matthäus Daininger spricht das Berliner CDU-Mitglied über das Erscheinungsbild der eigenen Partei und spart dabei nicht mit Kritik. In dieser Passage kommt auch die Wichtigkeit einer inneren Ordnungsvorstellung zum Ausdruck. Herr Daininger sagt: Aber natürlich ist das etwas, was einen, an einem nagt. Und diese Beliebigkeit habe ich ja deswegen auch erwähnt, weil ich damit nicht einverstanden bin. Wenn alles beliebig ist, dann kann
Exkurs: Zur Relevanz innerer Ordnungsvorstellungen
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ich auch gleich zu den Grünen gehen. Die sind auch wertkonservativ. Wenn dass das Programm sein soll, die Beliebigkeit, langfristig, dann begibt sich eine Partei auf einen gefährlichen Weg, und ich weiß nicht, wie das enden soll. Wie das weitergehen soll. Das kann ich nicht sagen. Daher ist das für mich, bereitet mir das schon Kopfzerbrechen. Weil daran auch die Argumentationskraft, die man selbst hat, gegenüber Dritten, schwächer wird, ja? Weil wenn ich irgendwo am, am Stand bin, ja, und mich mit Leuten unterhalte, dann merken die recht schnell, ob ich fundiert rede und offen, die vielleicht auch argumentiere, anders, als offiziell argumentiert wird, ja, und auch klare Zusammenhänge herstelle, das ist für viele Leute interessant, aber es wird für mich schwieriger, wenn das keinen Nexus mehr hat zu einer unterschwelligen Leitlinie, die einfach da ist, die selbstverständlich, wenn das nicht mehr da ist, bestimmte Leitbilder, Orientierungspunkte nicht mehr da sind, wird die Argumentationskraft, die man auch sich selbst gegenüber braucht, für die Motivation, und auch die Argumentationskraft, die man nach außen braucht, wird geschwächt. Das kann sich nur auflösen, durch mehr Substanz, ja?
Einmal mehr klingt in dieser Passage eine ganz alltägliche Situation an, in der sich aktive Parteimitglieder immer wieder befinden werden. Es geht um das Canvassing, die Werbung um allgemeines Interesse für die Partei, es geht um die Ansprache potenzieller Wähler und Neumitglieder. Wenn sich überhaupt Bürger an den Stand der Parteien verirren, ist die Geduld der Bürger oft kurz. In diesem Zeitraum müssen die am Stand diensttuenden Mitglieder auch dazu in der Lage sein, den Bürgern die Partei zu erklären. In dieser Situation kommt die Wichtigkeit organisationaler Identität zum Tragen. Denn beim Porträt der eigenen Partei ist der Rückgriff auf eine schematische Vorstellung in Bezug auf die eigene Partei (im Zitat symbolisiert durch die „klaren Zusammenhänge“ und die „Orientierungspunkte“) von großer Bedeutung. Kommt es zur Diffusion organisationaler Identität (im Zitat symbolisiert durch den Begriff „Beliebigkeit“), verschwimmen die „klaren Zusammenhänge“, ist nicht mehr klar, was die eigene Partei im Kern ausmacht, wo die Unterschiede liegen, was im Lauf der Zeit gleich geblieben ist, dann wird der alltägliche Handlungstypus Canvassing zum Problem, denn dann wird die „Argumentationskraft, die man nach außen braucht“, geschwächt – und nicht nur Dritten gegenüber, sondern auch die „Argumentationskraft, die man auch sich selbst gegenüber“ benötigt. So führt Diffusion organisationaler Identität auch zur Erosion von „Motivation“. Bei Joachim Bork wird organisationale Identität zur „Landkarte“. Und in der Tat ist diese Metapher nicht schlecht gewählt. Landkarten verzeichnen geografische Punkte einer Region und markieren die Beziehungen zwischen diesen Punkten, durch Flüsse, Gebirge, Straßen. Landkarten dienen Menschen zur Orientierung in alltäglichen Handlungssituationen. Beim Wandern oder beim Autofahren. Auch die Partei muss in Form einer „mental map“ präsent sein, um bestimmte Handlungssituationen zu bewältigen. Ich glaube vielleicht sogar, dass das teilweise auch der, auf der, je weiter man nach unten kommt, auf den Ebenen, immer wichtiger wird. Also so, zum Beispiel, wenn hier im Kreispar-
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Ergebnisse der empirischen Feldforschung
lament, ja, im Kommunalparlament, irgendwas zur Debatte steht. Sagen wir mal, irgendwie: Das Frauenhaus wird geschlossen, ja? Dann macht jeder sofort diese Landkarte auf. Ich: Grüner, Frauenhaus: doof, Emanzipation. Ich bin für Erhalt des Frauenhauses. Sofort. Bei der SPD ähnlich, ja? So. Bei der FDP so: was kostet das? Zu teuer, weg damit. So. [betont] natürlich hat da jeder seine Landkarte. Und die ist [betont] unheimlich wichtig. Und ich merke auch, je mehr ich in der Politik mich auch auskenne, umso mehr male ich mir diese Landkarte. Umso mehr lese ich das und ordne das in diese Landkarte ein. Und ich denke auch, je länger Leute in der Partei dabei sind, ja, umso mehr haben sie diese Landkarte im Kopf. Und das hat am Ende diesen lustigen Effekt, oder eigentlich den [unverständlich] bitteren Effekt, dass sie dann da irgendwann auch nicht mehr raus können, aus der Landkarte. Das will ich eigentlich vermeiden. Also ich will für mich selber nicht irgendwann so sein, dass ich dann nur noch denke: alles, was mir jetzt in diese Landkarte passt, ist richtig und was nicht reinpasst, ist falsch.
5 Fazit, Ausblick und persönliches Resümee
Seiner Autobiografie stellte Karl R. Popper (1994: x) ein Aperçu aus Hugh Lofting’s Dr.Doolittle voran: „Was hineinzupacken und was nicht – das ist die Frage“. Popper bezog sich dabei auf die Schwierigkeit, dem inneren Sediment der Lebenserinnerungen jene Ereignisse zu entnehmen, die aus der Retrospektive heraus formativ für die eigene Biografie und den Gang des Lebens gewesen sind. Nun können die Ergebnisse dieser Studie natürlich nicht mit den reichhaltigen Memoiren eines Universalgelehrten verglichen werden. Dennoch erweist sich das von Popper ausgeborgte, kleine Zitat auch als passender Sinnspruch für Zusammenfassungen von empirischen Forschungsprojekten, gerade dann, wenn es sich um explorativ-qualitative Vorhaben handelt. Auch wenn dies der forschungspraktischen Realität nicht immer entsprechen mag, so lässt sich doch im Grundsatz behaupten, dass inhaltliche Komplexitäten in quantitativ-verfahrenden Untersuchungen bereits zu Beginn der Forschung reduziert worden sind, zumindest auf die Form testbarer Hypothesen, die ihrerseits aus bereits elaborierten theoretischen Zusammenhängen deduziert wurden. Bei entdeckenden ResearchDesigns hingegen, die von einfachen Annahmen und allgemeinen Begriffen ausgehen und die Herausarbeitung von Grundlagenkenntnissen auf bisher eher unerforschtem Terrain mit offenen Verfahren anvisieren, ist diese Komplexität – auch im vorliegenden Projekt – weniger Ausgangspunkt denn Ergebnis des empirischen Prozesses. So wurden nicht nur Erkenntnisse über Ausprägungen und Effekte von Diffusion organisationaler Identität gewonnen, sondern auch zu möglichen Ursachen. Zudem fanden sich Anhaltspunkte für Coping-Strategien, die bei Identitätsbrüchen zum Einsatz kommen. Ferner liegen auch Erkenntnisse vor, welche Faktoren benennen, die eine Konstruktion von organisationaler Identität einfacher machen. Aus diesen Erkenntnissen ergeben sich vielfältigste Anknüpfungspunkte. Diese Vielfalt macht gerade bei der Formulierung des Fazits das Setzen von Schwerpunkten nötig, um so auch dem Leser mehr Übersicht bei der Lektüre zu bieten. Dies betrifft mithin die Zusammenfassung der Ergebnisse, mit denen dieser letzte Abschnitt beginnt. Es sollen nicht alle Ergebnisse referiert werden, sondern jene, die dem Verfasser wichtig erschienen. Auch die Reihe möglicher Anschlussprojekte wäre im Prinzip sicher länger als jene, die in Kapitel 5.4 angerissen werden. Schließlich ist auch die Arbeit an einer Dissertation ein LernC. Junge, Sozialdemokratische Union Deutschlands?, DOI 10.1007/978-3-531-93496-9_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Fazit, Ausblick und persönliches Resümee
prozess für den Forscher. Nicht alle, aber einige Erfahrungen aus dem empirischen Projekt schließen den letzten Teil der Arbeit ab. 5.1 Zusammenfassung der wichtigsten empirischen Ergebnisse Wie kann das Ergebnis der Studie in Bezug auf die Fragestellungen zusammengefasst werden? Diffusion organisationaler Identität war zunächst nichts weiter als ein Konstrukt. Im Rahmen dieser Forschung konnte, wenn man so will, die „Existenz“ dieses Konstrukts in der „empirischen Wirklichkeit“ nachgewiesen werden. Anders formuliert kann man sagen, dass es empirische Phänomene gibt, die dem theoretischen Konstrukt Diffusion organisationaler Identität entsprechen. Diffusion organisationaler Identität ist demnach ein Phänomen, das unter (den befragten) Mitgliedern beider politischer Parteien SPD und CDU (im Untersuchungszeitraum 2007) auftrat. Damit wird Hypothese 1 aus dem Kapitel 2.4 (Problemstellung) unterstützt. Das Phänomen kann hinsichtlich einer qualitativen (sprich: inhaltlichen) und einer quantitativen Ausprägung (Intensität) unterschieden werden. Die Erhebung zeigt, dass inhaltlich vor allem die Diffusionsdimensionen der Konvergenz und Widersprüchlichkeit im Erscheinungsbild der Parteien eine große Rolle spielen. Die Annäherung der beiden Großparteien vollzieht sich in der Wahrnehmung beider Mitgliedergruppen auf einer allgemeinen Ebene; ferner nähern sich die Programme der beiden Parteien an und auch bei der praktischen Gestaltung von Politik durch die Parteien in konkreten Politikfeldern fällt es der Mitgliederschaft zunehmend schwer, markante Differenzlinien zu ziehen, die eine klare Unterscheidung ermöglichen. Was die Kontradiktionen im Bild von der eigenen Partei betrifft, so äußern sich diese hauptsächlich auf der Ebene jener Werte, mit denen Parteien in Verbindung gebracht werden. Für viele Mitglieder der SPD und der CDU zählen die Werte der sozialen Gerechtigkeit bzw. des christlichen Menschenbildes zum Markenkern der eigenen Partei. Gleichzeitig geraten diese Werte in Konflikt mit dem politischen Handeln der Partei. Aber auch das Gesicht der Partei vor Ort, in der Abteilung und im Ortsverband – hier Organisationswirklichkeit genannt – ist steter Quell des Widerspruchs. So geschieht es, dass eine Partei ihren Mitgliedern zugleich sozial gerecht wie sozial ungerecht erscheint; so geschieht es, dass eine Partei christlich ist, zum gleichen Zeitpunkt aber das „C“ in der CDU keine Rolle spielt. Gerade also in Bezug auf ihre Kerneigenschaften wirken die Parteien oft widersprüchlich. Diese Ergebnisse liefern insgesamt eine empirische Fundierung der Hypothesen 2, 3 und 4. Im Übrigen konterkarieren diese Resultate das Fazit der Studie von Jochen Welter und Michael Lateier (2004), die davon ausgingen, dass im Bewusstsein der Mit-
Zusammenfassung der wichtigsten empirischen Ergebnisse
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glieder klare Unterschiede zwischen den großen Parteien vorherrschen.46 Die Auswertung des empirischen Materials hat außerdem ergeben, dass überhaupt die Bestimmung von Kerneigenschaften zum Problem geworden ist. Dafür sind letztlich auch die Parteien selbst verantwortlich, da viele Mitglieder von einem Überangebot an Informationen zur Partei berichten, aus dem es zunehmend schwierig wird, das „Wesentliche“ der eigenen Partei herauszufiltern. Neben inhaltlichen Ausprägungen und Ursachen von Diffusion organisationaler Identität zeigte die Auswertung, dass Diffusion organisationaler Identität je Einzelfall unterschiedlich „stark“ ausgeprägt ist. Die Ergebnisse der Datenauswertung legen die Vermutung nahe, dass hier die Intensität der Ausprägung von Diffusion organisationaler Identität durch die Faktoren Bildung, Art des Engagements und Ausmaß der Nutzung relevanter Informationsquellen wie Parteiprogramme abhängig ist. Als empirisch begründete Hypothese kann aufgestellt werden: Je höher und politiknäher die Qualifikation und die berufliche Tätigkeit eines Mitgliedes ist, je intensiver das Engagement ist (z. B. auch eine parteipolitische Tätigkeit in der Kommunalpolitik), je öfter Programme der Parteien eine Rolle spielen, desto klarer ist das Bild von der eigenen Partei. Ob die unterschiedlichen Ausprägungen von Diffusion organisationaler Identität tatsächlich als Problem angesehen werden, kann wiederum mit dem Einsatz von (narrativen) Coping-Strategien zusammenhängen. Die Nutzung dieser Strategien, deren Erforschung in zukünftigen Projekten vorangetrieben werden sollte, kann darin resultieren, dass jeweilige Brüche im Erscheinungsbild im und durch den Dialog mit sich selbst und anderen Menschen gerechtfertigt – und damit gleichsam auch entproblematisiert – werden. Eine weitere wichtige Erkenntnis besteht darin, dass Diffusion organisationaler Identität ein Phänomen darstellt, dem die Mitglieder beider Parteien keinesfalls indifferent gegenüberstehen. Nicht in allen, aber in vielen Fällen wird Diffusion organisationaler Identität in den jeweiligen unterschiedlichen Ausprägungen als Problem wahrgenommen – im allgemeinen Sinn ebenso wie in konkretem Bezug auf die eigene Person. Entsprechende Textpassagen leg(t)en im Rahmen der Vorauswertung die Vermutung nahe, dass sich Diffusion organisationaler Identität negativ auf die Bereitschaft, sich für die Partei zu engagieren bzw. auf das Verbundenheitsgefühl mit der eigenen Partei auswirkt. 46 Auch zu den Ursachen wahrgenommener Parteienkonvergenz aus der Sicht der Mitglieder kann nun Einiges gesagt werden. Im Zentrum der Erklärungen steht die Kooperation der Regierungsparteien im Rahmen der Großen Koalition. Aber auch durch das, was die Parteien sagen und vor allem: Wie sie es sagen, verwischen die Unterschiede zwischen den Parteien. Im permanenten Wahlkampf unserer Tage verzichten die führenden Repräsentanten der Parteien aus Sicht der Basis allzu oft auf die Markierung deutlicher Unterschiede, weil die Parteiführung von diesen Polarisierungen einen Liebesentzug des Elektorats befürchtet.
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Fazit, Ausblick und persönliches Resümee
Dieser mögliche deutliche Zusammenhang zwischen Diffusion organisationaler Identität auf der einen Seite und einem Rückzug aus der aktiven Parteiarbeit bzw. einer ambivalenten und/oder abnehmenden emotionalen ParteiIdentifikation auf der anderen Seite sollte durch eine Tiefenanalyse ausgewählter Einzelfälle näher untersucht werden. Die dafür ausgewählten Einzelfälle zeichneten sich dadurch aus, dass bei ihnen aufgrund bestimmter, vorab identifizierter Textpassagen ein negativer Effekt von Diffusion organisationaler Identität auf Engagement und Identifikation im Vergleich mit anderen Fällen eher wahrscheinlich war.
Organisationale Identität
(Kontinuität) (Kohärenz)
Engagement
Differenz Zentralität
Identifikation
Entscheidungssituationen
Abbildung 15: Funktionen organisationaler Identität Die Analyse der Fälle Brehmer und Rohland konnte die Hypothese vom negativen Effekt einer Diffusion organisationaler Identität auf das Engagement bzw. die Motivation sich zu engagieren, nicht direkt bestätigen. Hier zeigen sich Analogien zur Studie von Welter und Lateier (2004). Zwar weisen beide Fälle entsprechende Textstellen auf, die einen solchen Zusammenhang zumindest nahelegen, bei genauerer Prüfung erwiesen sich die Textstellen jedoch als kontingent. Zudem erschien Diffusion organisationaler Identität im Licht des gesamten Falls und seines Kontextes bei beiden Mitgliedern nicht als plausibler Erklärungsfaktor für den geplanten bzw. vollzogenen Rücktritt aus der aktiven Parteiarbeit. Bei der Variable Identifikation verhielt es sich etwas anders. Zumindest im Fall Rohland erscheint eine Verbindung zwischen Diffusion organisationaler Identität als Konvergenz und der Partei-Identifikation des Mitglieds gegeben. Damit finden sich Anhaltspunkte, die die Hypothese 6 aus Kapitel 2.4 stützen. Aber auch hier muss sich der Faktor Diffusion organisationaler Identität (als Konvergenz) anderen Faktoren stellen (z. B. Verhalten der Partei-Eliten). Wenn es um die Erklärung der Grundlagen von Identifikation und des Engagements geht, muss desgleichen eine Rückkehr der klassischen Faktoren eingeräumt werden, also jener Bestimmungsgrößen, die uns bereits seit Längerem aus der Parteien- und
Interpretation der Resultate aus der empirischen Feldforschung
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Mitgliederforschung bekannt sind. Dazu zählen Partizipationsmöglichkeiten ebenso wie das Verfügen über zeitliche Ressourcen. Wenn auch die Analyse der einzelnen Fälle dagegen spricht, in Diffusion organisationaler Identität einen harten Faktor zu sehen, dem bei der individuellen Entscheidung über den Rückzug aus der aktiven Parteiarbeit oder aus der Partei überhaupt eine zentrale Bedeutung zukommt, so gibt es doch Anhaltspunkte dafür, dass das Verfügen über eine schematische Ordnungsvorstellung in Bezug auf das Erscheinungsbild der Partei bei der Koordinierung und Durchführung von Handlungen in der Partei eine Rolle spielt. Das Schaubild soll verdeutlichen, welche Funktionen organisationale Identität erfüllen kann. So spielt das Gefühl einer inhaltlichen Eigenständigkeit der eigenen Partei vor allem bei Entscheidungssituationen innerhalb der parteipolitischen Praxis eine wichtige Rolle. Das Vermögen, das komplexe Erscheinungsbild der Partei auf wenige Kerneigenschaften herunterzubrechen, ist für die Bewältigung bestimmter Handlungssituation ebenso wichtig wie für die Aufnahme einer emotionalen Bindung mit der eigenen Partei. Entwarnung herrscht hinsichtlich der Widersprüchlichkeit im Erscheinungsbild der Partei. Zwar ist das Bild beider Parteien auf unterschiedlichen Ebenen durch Widersprüche gekennzeichnet, da aber Kohärenz an sich keine besondere Bedeutung hat, können die Parteien wohl mit den Widersprüchen in ihrem Erscheinungsbild leben. 5.2
Interpretation der Resultate aus der empirischen Feldforschung
Die Untersuchung hat gezeigt, dass von insgesamt vier theoretisch differenzierbaren Dimensionen von Diffusion organisationaler Identität vor allem die Dimensionen der Konvergenz und der Widersprüche besonders stark im empirischen Material verankert sind. Dieses Ergebnis ist nicht überraschend. Bekanntlich wurde die Erhebung der empirischen Daten zur Halbzeit der Großen Koalition, im Sommer 2007, durchgeführt. Wie die Kapitel 4.1.1 und 4.1.2 gezeigt haben, kann die Große Koalition in der Tat sowohl für das, durch die Mitglieder wahrgenommene Aneinanderrücken der Parteien als auch für einige Widersprüche im Erscheinungsbild der Parteien, verantwortlich gemacht werden. 5.2.1
Zur Dominanz von Konvergenz und Inkohärenz
Zweifellos hat sich die 2005 vom Wähler erzwungene Zusammenarbeit der großen Konkurrenten CDU und SPD im gemeinsamen Regierungsboot als abträglich für das Erscheinungsbild der Großparteien herausgestellt. Auch wenn die
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Fazit, Ausblick und persönliches Resümee
Besatzung dieses Bootes ihre Abstimmungsschwierigkeiten und Differenzen gehabt haben mag: Auf den externen Betrachter am Ufer wirkte es trotzdem so, als ob sich das Boot im harmonisch-synchronen Ruderschlag fortbewegte; die Unterschiede im Stil der Schlagmänner waren nicht richtig zu sehen. Auch die von den Mitgliedern empfundenen Widersprüche in Bezug auf das Erscheinungsbild der eigenen Partei haben mit der Parteienkooperation in gemeinsamer Regierungsverantwortung zu tun. Sehr deutlich wird das bei der SPD. Die Zusammenarbeit der großen Parteien hat nicht dazu beigetragen, bei den SPDMitgliedern den Widerspruch in Bezug auf den Kernwert „soziale Gerechtigkeit“ aufzulösen. Allerdings muss auch gesagt werden, dass der „Sündenfall Hartz IV“ nicht in die Zeit der Großen Koalition fällt. Die Große Koalition ist also für viele, aber nicht alle Risse im Erscheinungsbild der Parteien verantwortlich. Die Parteien könnten angesichts dieser Sachlage aufatmen. Mittlerweile ist die zweite Große Koalition Geschichte. Zumindest am Anfang der christlichliberalen Koalition trugen in Berlin nicht wenige Akteure der CDU die Hoffnung, mit dem „angestammten“ Partner FDP wieder in der Lage zu sein, eine eigenständige Handschrift zu zeigen und Widersprüche hinsichtlich der eigenen Klientel zu verringern. Ob sich durch die neue Koalition das Profil der CDU in der Wahrnehmung von Wählern und Mitgliedern schärft, bleibt abzuwarten. Die SPD wiederum hat zwar 2009 eine wahrlich historische Niederlage einstecken müssen. Unter Identitätsgesichtspunkten ist die Zwangspause vom Regierungsgeschäft auf Bundesebene eine Gelegenheit, das eigene Profil zu konturieren. Ohne direkte politische Mitverantwortung auf der Bundesebene können Unterschiede wieder deutlicher gemacht werden, man kann wieder näher am Programm agieren und hat die Chance, für eine sozial gerechte Politik zu werben und zwar so, dass dies auch dem Mitgliederverständnis von sozialer Gerechtigkeit entspricht. Dennoch: Es ist zumindest fraglich, ob diese Hoffnungen der großen Parteien berechtigt sind. Mittel- und langfristig bleiben Alleinregierungen der Ausnahmefall, Koalitionen die Regel. Selbst als eigenständige Regierungsparteien sind diese Parteien Rahmenbedingungen unterworfen, die immer wieder zu Konvergenzen und Widersprüchen führen werden. In Beiträgen für wissenschaftliche Zeitschriften ist es üblich, im Fazit auch auf die methodischen Beschränkungen des eigenen Projekts zu verweisen. Daher ist darauf aufmerksam zu machen, dass die herausgearbeitete Dominanz der Diffusionsdimensionen Konvergenz und Widersprüchlichkeit im empirischen Material auch durch die zur Anwendung gebrachte methodische Vorgehensweise verstärkt worden sein kann. Im Rahmen einer Befragung ist es unmöglich, mehrere Themen parallel abzufragen. Eine chronologische Reihung der Leitfragen bleibt unvermeidbar. Demgemäß wird es auch immer Themen geben, die erst gegen Ende der Befragung angesprochen werden konnten. Dazu gehörten im hier
Interpretation der Resultate aus der empirischen Feldforschung
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geschilderten Projekt oft die Dimensionen Kontinuität und Zentralität. Am Ende eines Interviews nahm die Aufmerksamkeit und Motivation der Befragten ab, sodass die entsprechenden Passagen z. B. über den Wandel der Partei nicht immer, aber manches Mal doch, gerade im Vergleich zum Thema Unterscheidbarkeit, knapp ausgefallen sind. 5.2.2 Warum konnten negative Effekte nur schwer nachgewiesen werden? Weiterhin wollte das Vorhaben negative Effekte von Diffusion organisationaler Identität untersuchen. In Bezug auf die Variable der Identifikation ist dieser Zusammenhang herstellbar. Abgesehen von Konvergenz konnte aber – auf der Basis der zwei ausgewählten Einzelfälle – keiner weiteren Dimension von Diffusion organisationaler Identität ein plausibler negativer Impakt auf das Handeln in und auf die Verbundenheit mit der Partei zugeschrieben werden. Anders formuliert hatten die Probleme von Herrn Rohland und Frau Brehmer, sich zu motivieren, Engagement aufrecht zu erhalten und sich mit der Partei verbunden zu fühlen, mit vielem zu tun, aber kaum mit der Diffundierung des Erscheinungsbildes der eigenen Partei nach den Kriterien organisationaler Identität. Diese Ergebnisse der Einzelfallanalysen führen zu einer „Ungereimtheit“. Einerseits wird Diffusion organisationaler Identität in ihren unterschiedlichen Schattierungen von den befragten Mitgliedern dezidiert als Problem wahrgenommen. Das hatte die kategorielle Inhaltsanalyse aller Fälle ergeben. Häufig scheinen, wie in Abschnitt 4.4 gezeigt wurde, Emotionen der Enttäuschung und der Frustration durch, wenn die Mitglieder z. B. auf die Konvergenz im Parteienbild zu sprechen kommen. Andererseits lässt sich – nach genauerer Prüfung auf der Einzelfallebene – ein „echter“ Effekt nur auf Identifikation ausmachen. Das wirft Fragen auf. Warum ist, gerade auf der Einzelfallebene, der Nachweis direkter Negativeffekte von Diffusion organisationaler Identität (vor allem auf das Handeln) schwer, obwohl es entsprechende Einschätzungen der Befragten gibt, dass Diffusion organisationaler Identität ein Problem gerade in Bezug auf die eigene Person darstellt? Warum gibt es also ein Auseinanderdriften von – in der kategoriellen Inhaltsanalyse ermittelten – Intensität der Ausprägung von Diffusion organisationaler Identität und der Bewertung als Problem einerseits und dem – in der Sequenzanalyse eruierten – tatsächlich eher schwach ausgeprägten Negativeffekt in den Einzelfällen? Eine erste Erklärung könnte darin bestehen, dass schlicht unpassende Einzelfälle für eine Tiefenanalyse ausgewählt worden sind – also gerade jene Fälle, in denen der interessierende Zusammenhang trotz passender Textstellen durch die Interpreten nicht gut rekonstruiert werden konnte. Diese Möglichkeit besteht
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Fazit, Ausblick und persönliches Resümee
durchaus. Aber insgesamt gibt es zur praktizierten Methode der Fallauswahl und ihren Kriterien keine echte Alternative. Diffusion organisationaler Identität besteht zwar, könnte aber – das wäre die zweite Erklärung – erst durch den Forscher und seine spezifische Art der Interviewführung zum Problem gemacht worden sein. Hierbei handelt es sich um ein Problem, dem sich im Prinzip jedes empirische Forschungsprojekt stellen muss. In der empirischen Sozialforschung ist seit langer Zeit eine Reihe von Faktoren bekannt, die zu Verzerrungen bei der empirischen Datenerhebung führen können. Im vorliegenden Projekt erscheint vor allem die Art der Gesprächsführung, genauer: die Fragepraxis des Forschers, als offene Flanke. In vielen Interviews kam die in Kapitel 3.2 beschriebene, eher offensive Form des Leitfadeninterviews nach Carsten Ullrich zum Einsatz. Der Pretest hatte gezeigt, dass auch an der Basis viele Mitglieder Kommunikationsprofis sind, die man erst mit einer offensiveren Form der Interviewführung aus der Reserve locken konnte. Oft wurden in den ersten Interviews Fragen, z. B. nach dem Verlust der Unterschiede, nach Widersprüchen und Brüchen im Erscheinungsbild von der Partei entweder als Angriff auf die Partei oder als persönliches, mehr oder weniger peinliches Wissensdefizit aufgefasst und dementsprechend häufig „gespiegelt“. Also war diese offensiv Fragetechnik rückblickend angemessen – aber eben auch mit Nebenwirkungen verbunden und in der Praxis immer eine Gratwanderung. So konnte es im Rahmen eines zweistündigen Gespräches dazu kommen, dass suggestiv wirkende Fragen gestellt wurden, obwohl grundsätzlich immer darauf geachtet wurde, diese so weit als möglich zu vermeiden. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Befragten diesen Fragen vereinzelt „in die Falle“ gingen. So wäre dann Diffusion organisationaler Identität eher auf Druck des Forschers zum Problem gemacht worden, während das Phänomen in der Praxis aber „eigentlich“ unproblematisch ist.47 Am wahrscheinlichsten aber ist drittens, dass Diffusion organisationaler Identität durchaus Effekte auf Identifikation und Engagement haben kann – es aber dem Forscher just in beiden Einzelfällen nicht immer gelungen ist, in der 47 Denkbar ist ferner auch eine Koppelung von Suggestivfragen mit einer bei vielen Menschen in wissenschaftlichen Befragungssituationen vorkommenden Tendenz zur positiven Bestätigung (Akquieszenz). Die Ja-Sage-Tendenz (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Verzerrung_(Empirie)) bezeichnet eine oft diagnostizierte Neigung von Menschen, Fragen eher mit „Ja“, „stimmt“ oder „richtig“ zu beantworten und zwar unabhängig vom Inhalt der Fragen. Bekannt ist schließlich auch, dass Versuchspersonen ihr „natürliches Verhalten“ ändern, wenn sie wissen, dass sie Teilnehmer an einer Untersuchung sind. Im Prinzip ist es möglich, dass die Ergebnisse einer Studie durch die Studie selbst verfälscht oder erst durch sie hervorgerufen werden (Hawthorne-Effekt). Gerade die letzten Punkte können aber auch in allen anderen empirischen Studien auftreten. Es besteht bei aller Selbstkritik kein Grund zu der Annahme, dass z. B. der Hawthorne-Effekt in der vorliegenden Forschung besonders zum Tragen gekommen ist.
Beiträge zur Forschung
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jeweiligen Gesprächssituation richtig „nachzuhaken“. Zumindest war auffällig, dass es in beiden Interviews Passagen gab, in denen über die Konsequenzen z. B. einer wahrgenommenen Annäherung der Parteien oder auch über Widersprüche zwischen Kernwerten und Organisationswirklichkeit gesprochen wurde – es dann aber auch zu mehr oder weniger abrupten Themenwechseln kam. Hier hätte der Interviewführer spontan Nachfragen platzieren müssen, was leider in beiden Fällen nicht immer geschehen ist. Damit muss grundsätzlich auch über die Passung von theoretischer Konzeption und der genutzten Methodik nachgedacht werden. Die Eigenheiten des theoretischen Konstrukts Identität und die Fragestellung stellten unausweichlich hohe Ansprüche an die Gesprächsführung des Forschers, wie gleich noch ausgeführt werden wird. Wenn der Spalt zwischen ursprünglich zugeschriebener und später im Einzelfall rekonstruierter tatsächlicher Virulenz nicht durch die Auswahl der falschen Fälle und das falsche Stellen der richtigen Fragen erklärt werden kann, dann vielleicht viertens durch den erfolgreichen Einsatz bestimmter Gegenstrategien durch die befragten Mitglieder selbst. Die Analyse der Gespräche brachte zutage, dass Mitglieder das Problem von Diffusion organisationaler Identität nicht einfach nur aussitzen, sondern es aktiv, wenngleich nicht immer bewusst, angehen. Eingesetzt werden narrative Strategien, die eine Coping-Funktion haben. Möglicherweise tragen diese Strategien im Dialog mit sich selbst und anderen zur Entproblematisierung von Diffusion organisationaler Identität bei. 5.3 Beiträge zur Forschung „Man sollte sich hüten“, schreibt Walter Reese-Schäfer (1999: 37), „dem Identitätsbegriff unkritisch einen allzu positiven Klang zu verleihen“. Dieser Einschätzung kann nur zugestimmt werden. Unkritisch gesehen wurde der Begriff auch in diesem Vorhaben nicht, was von Beginn an deutlich geworden sein sollte. Zudem zeigte der Begriff seine Tücken nicht nur bei einer konzeptionellen Klärung, sondern, wie weiter oben schon angedeutet, auch in der empirischen Anwendung. Wohl kann man, wie Udo Kelle und Susann Kluge (1999) dies getan haben, abstrakte Begriffe als ideale Heuristik bei qualitativen Verfahren preisen. In der Praxis aber, bei der konkreten Arbeit im Feld, ist das alles nicht mehr so einfach mit den abstrakten Begriffen. So musste der Interviewer im vorliegenden Projekt in jedem Gespräch aufs Neue Ausdifferenzierungen eines vagen Begriffs anstoßen und gleichzeitig auch noch Effekte dieser spontan entstehenden Ausdifferenzierungen mit erfassen – um dann im selben Atemzug entsprechende Nachfragen zu platzieren. Das hat, wie bereits eingeräumt wurde, nicht immer funktioniert. Trotz allem aber hat sich auch die Hoffnung erfüllt, von der in der Einlei-
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tung die Rede gewesen ist, dass nämlich auch abstrakte und daher schwierige Begriffe grundsätzlich nutzbar gemacht werden können und diese Nutzbarmachung dazu führen wird, neue Perspektiven auf uns bereits bekannte Forschungsgegenstände und Forschungsfragen zu werfen. Dies sei an einigen Beispielen illustriert. 5.3.1 Eine erweiterte Perspektive auf das Phänomen Parteienkonvergenz Zunächst leistet die vorliegende Forschung mit ihren Ergebnissen einen Beitrag zum Diskurs um Parteienkonvergenz. Wie bereits an anderem Ort (Kapitel 2.3.3) ausgeführt wurde, wird die Frage, ob und wenn ja: wie sich Parteien in einem Parteiensystem einander annähern, in der Parteienforschung seit Längerem diskutiert. Die Schwäche der gegenwärtigen Beiträge zum Konvergenzdiskurs bestand vor allem darin, dass (1.) oft nur offizielle Selbstbeschreibungen (also Programme) als Datenbasis genutzt worden sind, um die Frage der Annäherung zu klären und (2.) die Frage der Konsequenzen von Konvergenz weitgehend ausgeblendet worden ist, vor allem hinsichtlich der Mitgliederschaft. Konvergenz war nun bloß eine von vier Dimensionen der Diffusion organisationaler Identität, allerdings jene mit der zweitstärksten Verankerung im empirischen Material. Eingedenk aller Zeitgebundenheit und Nicht-Repräsentativität zeigt die Studie (jenseits aller Diskussion um Konvergenz in Programmen, so wie sie z. B. von Hans-Dieter Klingemann und Andrea Volkens untersucht worden ist) deutlich, dass Menschen eindeutige Probleme damit haben, die deutschen Großparteien auseinanderzuhalten. Erstaunlich ist dieses Problem umso mehr, als das hier nicht der oft als politikfern bezeichnete Durchschnittswähler, dem man immerhin noch Desinteresse und Wissenslücken vorhalten könnte, von der Problematik betroffen ist. Nein, betroffen ist jene soziale Minderheit, die es besser wissen müsste: die Mitglieder der Parteien. Was diese Studie für die Parteienforschung überhaupt zum ersten Mal aufzeigt, ist die Tatsache, dass wahrgenommene Parteienkonvergenz nicht nur evident ist, sondern tatsächlich ein Problem für Mitglieder der Parteien darstellt. Dafür reicht bereits ein unbestimmtes Gefühl der Annäherung aus. Hier sind einerseits negative Emotionen im Spiel. Andererseits zeigt gerade die Einzelfallstudie, dass die Probleme mit Konvergenz über diese bloßen Emotionen hinausgehen können, in dem Sinn, als das tatsächlich auch die emotionale Parteienbindung in Mitleidenschaft gezogen wird.
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5.3.2 Eine neue Sicht auf die Vorbedingungen von Partei-Identifikation Mit der im letzten Absatz skizzierten Erkenntnis leistet die Arbeit auch einen Beitrag zur Erforschung der Grundlagen von Partei-Identifikation. Zunächst illustriert die Studie, dass Partei-Identifikation tatsächlich eine flexible Größe darstellt, die in Stabilität und Intensität variabel ist. Diese Annahme ist in der Forschung immer noch neu. Zudem unterstützt die Forschung eine Hypothese, die bereits in der Theorie durch Kai Arzheimer und Harald Schoen (2005) aufgestellt worden ist. Sie besagt, dass das Verhalten des Führungspersonals eine wichtige Einflussgröße darstellt. Diese Studie präzisiert diesen Zusammenhang noch dahin gehend, dass es dabei nicht nur um die Elite auf der bundespolitischen Ebene geht, sondern auch um Führungsakteure in der lokalen Parteiorganisation. Dies sind freilich Nebenerkenntnisse, bedenkt man die Fragestellung der Arbeit. Im Zusammenhang mit dieser ist vor allem die Entdeckung wichtig, dass das Ausmaß der wahrgenommenen Einzigartigkeit der Partei, das Ausmaß der Unterschiede zwischen der eigenen Partei und den anderen Parteien offensichtlich (mit)bestimmt, wie stark und stabil die (emotionale) Bindung an die eigene Partei ist. Mit diesem letzten Punkt erweitert die Forschung den Kanon jener Einflussfaktoren, die bisher als maßgebliche Bestimmungsgröße für ParteiIdentifikation galten. Arzheimer und Schoen (2005: 631f.) haben diese Faktoren aufgelistet: Potenzielle Einflussgrößen auf die PI-Stabilität sind erstens beim einzelnen Bürger zu suchen. Zweitens kann die soziale Nahumgebung die Stabilität der PI beeinflussen. Die Stabilität von PI dürfte, drittens, mit dem politischen Geschehen auf der Makroebene und der Medienberichterstattung darüber zusammenhängen.
Deutlich wird, dass die Stärke organisationaler Identität sich bislang nicht unter diesen Faktoren findet. Sie kann, wenn man organisationale Identität als individuelle Konstruktionsleistung begreift, noch am ehesten unter Punkt 1 der Faktorenreihe von Arzheimer und Schoen subsumiert werden. 5.3.3
Ein anderer Blick auf Voraussetzungen von Partei-Engagement
Obwohl die Auseinandersetzung mit Mitgliederengagement zum Standardrepertoire der Parteienforschung gehört, wird der Forschungsstand immer wieder kritisch bewertet. So bezeichnet Oskar Niedermayer (2001: 297) die Informationsgrundlage über die „tatsächliche Motivstruktur“ des Engagements von Parteimitgliedern als nach wie vor „sehr lückenhaft“. Vielleicht hat das auch mit der Dominanz des Anreiz-Modells zur Erklärung von Aktivität und Engagement in
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Parteien zu tun. Dieses Modell erfreut sich in der Parteienforschung, es wurde in Kapitel 2.3.5 angesprochen, großer Beliebtheit, denn, so schreibt Markus Klein (2006: 37), „durch die Fokussierung auf Anreize können die der Partizipationsentscheidung unmittelbar vorausgehenden Abwägungsprozesse der Bürger abgebildet werden“. Aus der Sicht dieses Vorhabens mag das von Niedermayer beschriebene Defizit auch damit zu tun haben, dass in einer Heuristik von Kosten und Nutzen handlungsorientierende Schemata und Ordnungsvorstellungen als Voraussetzung von Engagement durch das analytische Raster fallen. Zu diesen Schemata lässt sich auch organisationale Identität rechnen. Jenseits von Fragen der Diffusion zeigen die Ergebnisse der Forschung, dass organisationale Identität als schematische Ordnungsvorstellung eine spezifische Wissensform (Tacit Knowledge) darstellt, der z. B. bei der Durchführung von Handlungen innerhalb der Partei Relevanz zukommen kann (vgl. Kapitel 4.5). Diese auch durch die soziologische Ethnomethodologie inspirierte Perspektive auf organisationaler Identität als handlungsorientierendem „Rahmen“ wird auch in der Organisationsforschung vertreten (Golden-Biddle/Rao 2004), ist aber auch dort bis dato kaum empirisch in Angriff genommen worden. Anscheinend zählt es bei Parteien in alltäglichen und wiederkehrenden Handlungskonstellationen (die befragten Mitglieder nennen hier z. B. Entscheidungssituationen im Lokalparlament oder die Kommunikation der Partei nach außen beim alltäglichen Canvassing) nicht nur, über eine Summe z. B. spezifischer Wertvorstellungen und Normen zu verfügen, die ein Mitglied mit der eigenen Partei assoziiert. Vielmehr kommt es darauf an, dass Werte, Normen und Zielvorstellungen in ein bestimmtes Ordnungsverhältnis gebracht werden können, bei dem eben Identitätsdimensionen wie Unterscheidbarkeit, aber vielleicht auch Kohärenz eine wichtige Rolle spielen. So sprechen Mitglieder in den Gesprächen immer wieder von einer „inneren Ordnung“, einem „Kompass“ oder einer „inneren Landkarte“. Diffundiert diese innere Ordnungsvorstellung, kann etwa, wie es ein CDUMitglied aus Berlin ausdrückt, „die Argumentationskraft, die man auch sich selbst gegenüber braucht, für die Motivation, und auch die Argumentationskraft, die man nach außen braucht“, entscheidend geschwächt werden. 5.3.4 Beiträge zur organisationswissenschaftlichen Identitätsforschung In der sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Organisationsforschung standen bisher vor allem Wirtschaftsunternehmen im Fokus der Aufmerksamkeit, wenn es um organisationale Identität ging; seltener hingegen ging es um Non-ProfitOrganisationen. Zum ersten Mal wurden mit diesem Projekt politische Parteien aus einer organisationalen Identitätsperspektive heraus untersucht. In diesem
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Zusammenhang konnten Grundlagenkenntnisse herausgearbeitet werden. Organisationale Identität ist ein Ordnungsschema, was vor allem auf die Identitätsbausteine der grundlegenden Wertvorstellungen und ferner von Positionen in Politikfeldern und Eigenschaften der Mitgliederschaft rekurriert. Dies gilt zumindest für den Organisationstypus der politischen Partei. Das theoretische Manko besteht bei vielen Aufsätzen im Forschungsbereich organisationale Identität immer noch darin, dass eine inhaltliche Präzisierung von Identität nicht geleistet wird. Die Organisationsforschung hat sich in jüngster Zeit darum bemüht, organisationale Identität als Faktor organisationaler Bindung im weiteren Sinne zu operationalisieren. Dabei ergaben sich frühe Anzeichen dafür, dass einer Dimension von organisationaler Identität, Unterscheidbarkeit, eine besondere Bedeutung zukommt. Die hier vorgestellte Forschung bestätigt einen Zusammenhang zwischen Unterscheidbarkeit und Identifikation auch bei ehrenamtlichen Organisationen. Mit dieser Erkenntnis knüpft das Projekt an die Organisationsforschung an, indem eine Hypothese unterstützt wird, die Jane Dutton und andere (1994: 239f.) bereits vor einigen Jahren aufgestellt haben: „The greater the distinctiveness of an organizational image relative to other organizations, the stronger a members organizational identification“. Offenbar trifft diese Erkenntnis auch auf den Organisationstyp der politischen Partei zu. Dutton und andere nahmen an, dass die kognitive Verbindung (Identifikation), die ein Mitglied mit einer Organisation eingeht, ganz wesentlich auf dem Image seiner Organisation, also dem Bild, dass er von dieser Organisation hat, basiert. Der Grad der Identifikation eines Menschen mit einer Organisation hänge davon ab, wie attraktiv dieses Bild ist – und diese Attraktivität speise sich wiederum daraus, inwieweit das Image einer Organisation die Einzigartigkeit der personalen Identität des Mitgliedes verstärken kann. Diese Herleitung findet sich auch in jüngeren Forschungsarbeiten der Organisationswissenschaften, die dem Zusammenhang von organisationaler Identität und Identifikation nachspüren. So heisst es bei Janet Dukerich, Brian Golden und Stephen Shortell (2002: 507): „A perceived organizational identity that helps the individual maintain a consistent sense of self, distinct from others, while enhancing self-esteem, will be viewed as attractive“. Diffusion organisationaler Identität bezeichnet Brüche im Erscheinungsbild einer Organisation. Auch diese Brüche wurden mittlerweile im Rahmen einiger Forschungsarbeiten in den Blick genommen. Hier haben interessante Arbeiten gezeigt, dass Organisationen Identitätsbrüche nicht nur hinnehmen, sondern dass diese auch bekämpft werden. So untersuchte die Arbeit von Peter Foreman und Michael Pratt (2000a) das Phänomen multipler organisationaler Identitäten, da „within a single entity, there may exist multiple answers and multiple identities
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(…) different conceptions exist regarding what is central, distinctive, and enduring about the organization“. Um dieses Problem zu lösen, stünden einer Organisation prinzipiell vier Strategien zur Verfügung (Foreman/Pratt 2000a: 26 ff., Hervorhebung durch den Verfasser): Compartmentalization occurs when the organization and its members choose to preserve all current identities but do not seek to attain any synergy between them (…) Deletion occurs when managers actually rid the organization of one or more of its multiple identities (…) integration occurs when managers attempt to fuse multiple identities into a new distinct whole (…) aggregation occurs when an organization attempts to retain all of its identities while forging links between them.
Identitätskrisen von Organisationen werden in der Organisationsforschung oft auf singuläre „identity threatening events“ zurückgeführt. Kim Elsbach und Rod Kramer (1996) thematisierten in ihrer Arbeit Krisen und Skandale, welche die Identität einer Organisation infrage stellen. Das Manko dieser Arbeiten besteht darin, dass, wenn Strategien thematisiert werden, diese Identitätsbrüche zu „kitten“, fast ausschließlich das Verhalten organisationaler Eliten thematisiert wird. Foreman und Pratt (2000a: 21) interessierten sich entsprechend für „internal elites, such as members of the top management team“. Elsbach und Kramer (1996: 470) wiederum bezeichnen „organizational identity management“ als eine „pervasive activity“, die von „organizational members who formally occupy public relations roles“ ausgeführt werde. Ganz ähnlich ist es bei Samia Chrein (2003: 87) das „top management who responded to the dissonance by engaging in action aimed at restoring a distinctive external view and by reframing its statements of identity so as to reduce the gap between attributed and projected identity“. Die hier geschilderte Forschung nimmt den inhaltlichen Faden dieser Projekte auf, zeigt aber, dass die aktive Auseinandersetzung mit Diffusion organisationaler Identität auch auf unteren Ebenen der Organisationshierarchie, bei Parteien wäre dies die „Party on the Ground“, vorgenommen wird. Bislang thematisierte die Forschung lediglich den Umgang mit Bedrohung von Identitätsbrüchen durch organisationale Eliten wie das Top Management. Die Forschung zeigt in Kapitel 4.2, dass auch „einfache“ Mitglieder individuelle Strategien zur Bewältigung von Diffusion organisationaler Identität zur Anwendung bringen. 5.4 Anknüpfungspunkte für weitere Forschungsprojekte Gerade ein explorativ-orientiertes Projekt, das zwar methodisch-kontrolliert verfährt, deren Ergebnisse aber über die in der Ausgangsfragestellung anvisierten Themenbereiche hinaus gehen können, indem Unvorhergesehenes aufgedeckt
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wird, endet am Ende immer etwas unbefriedigend. Oft muss ein Fazit gezogen werden, in etwa so, wie es Bertolt Brecht im Epilog von Der gute Mensch von Sezuan formuliert hat: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen, den Vorhang zu und alle Fragen offen“. Gerade explorative Research-Designs produzieren im Idealfall viele neue „Spuren“, die aus forschungsökonomischen Gründen nicht im vorhandenen, ursprünglichen Vorhaben weiter verfolgt werden können. Im vorliegenden Projekt wurden im Zuge der Datenauswertung eine ganze Reihe interessanter Spuren offengelegt, denen in neuen, zukünftigen Projekten nachgegangen werden kann. Einige dieser vielversprechenden Pfade in noch unentdecktes Terrain sollen hier gewissermaßen grob kartografiert werden.48 Anfangs muss bilanziert werden, dass organisationale Identität ein schwieriger Begriff ist und auch bleibt. Einerseits ist das Arbeiten mit vier Dimensionen die einzige Lösung eines Dilemmas der Theorie, die zwischen den Dimensionen nicht entscheiden kann. Andererseits lädt sich ein Forscher, der folgerichtig eine Identitätskrise als Diffusion organisationaler Identität versteht, die wiederum offene Kategorien wie problematische Zentralität, als auch Unterscheidbarkeit, als auch problematische Kontinuität als auch problematische Kohärenz umfasst, gerade zu Beginn eines einzigen (qualitativen) empirischen Forschungsprojektes schweren Ballast auf. Organisationale Identität bleibt in toto also ein empirisch nicht immer handliches Konstrukt, das aber in Bezug auf Parteien aufgeteilt werden kann, zumindest, wenn qualitativ gearbeitet werden soll. Ob dann noch ein schillernder Oberbegriff wie organisationale Identität notwendig ist, mag dahin gestellt sein. Wichtig war und ist ohnehin nicht der Begriff der organisationalen Identität an sich, sondern die Überzeugung, dass sich hinter diesem Begriff Phänomene verbergen, die einer weiteren Untersuchung würdig sind. Doch auf welche Dimensionen von organisationaler Identität soll man sich in Zukunft konzentrieren? Hier spielt die qualitative Herangehensweise ihre Vorteile aus. Am empirischen Datenmaterial entlang wurde herausgearbeitet, welche Dimensionen von organisationaler Identität in Bezug auf den konkreten Organisationstypus der politischen Partei tatsächlich wichtig sind. In Kapitel 4.1 kann das im Detail nachgelesen werden. Die Übersicht zeigt, dass die befragten Mitglieder vor allem mit Konvergenzen und Widersprüchen im Erscheinungsbild 48 Zu den vielversprechenden Perspektiven, die hier – aus Platzgründen – keine weiterführende Erwähnung finden können, gehören einerseits die „Politics of Reality“ (vgl. Kapitel 2.1.4): Mit welchen Strategien sichern Parteieliten ihre Identitätskonstruktionen ab? Wie effektiv sind diese Strategien? Jenseits von Fragen organisationaler Identität scheint es andererseits interessant zu sein, die Gruppe jener Parteimitglieder in Augenschein zu nehmen, die aus einer Partei ausgetreten sind. Zwar kümmern sich die Parteien – z. B. durch Telefonate – um jene Mitglieder, die ihr Parteibuch zurückgegeben haben. Die Wissenschaft hingegen hat die „Enttäuschten“ bisher kaum mit einer eigenständigen Studie bedacht.
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der eigenen Partei zu kämpfen haben – aber lediglich Konvergenz auch als Problem bewertet wird, dem negative Effekte zugeordnet werden können. Es liegt daher nahe, sich vor allem auf diese Kategorie zu konzentrieren. 5.4.1 Konvergenz als Wahrnehmungsproblem von Menschen Zu den wichtigen Erkenntnissen der Studie gehört der entdeckte Zusammenhang von wahrgenommener Konvergenz und der Identifikation mit der Partei. Künftige Projekte müssten die Rolle von Konvergenz bei Identifikation im Vergleich zu anderen Faktoren (z. B. Handeln des Führungspersonals) weiter aufklären. Welche Bedeutung hat dieser Faktor? Wenn der Zusammenhang auch statistisch bestätigt wird, sollte auf jeden Fall die Frage ins Auge gefasst werden, warum diese Verbindung besteht. Es gibt hier, wie beschrieben, rudimentäre Erklärungsversuche dieses Zusammenhangs, die davon sprechen, dass eine als einzigartig wahrgenommene Organisation auch die Individualität des Mitglieds verstärken kann. Zu analysieren wäre auch eine Verbindung von Konvergenz und Handeln. Die Forschung hat gezeigt, dass die Unterscheidbarkeit der eigenen Partei in Entscheidungssituationen wichtig sein kann. Was bedeutet dies, wenn Unterschiede nicht mehr erkenntlich sind? Können bestimmte, alltägliche Handlungskonstellationen nicht mehr bewältigt werden? Wie wirkt sich Konvergenz auf die Motivation aus? Eine Forschung, die handlungsrelevante Auswirkungen von Konvergenz in den Blick nimmt, muss sich dabei nicht unbedingt auf Mitglieder der Parteien beschränken. Lohnenswert erscheint auch eine Ausweitung des Fokus auf die Perspektive der Wähler. Wie ist Konvergenz in dieser Bezugsgruppe politischer Parteien ausgeprägt? Sind dieselben Ebenen inhaltlicher Art betroffen? Welche Konsequenzen hat wahrgenommene Konvergenz auf das Wahlverhalten oder auf die Partizipation? Bestand z. B. Interesse an politischer Mitwirkung, wurde diese aber nicht realisiert, weil keine Unterschiede zwischen den Parteien wahrgenommen werden konnten? Hat also letztlich gar die Politikund Parteienverdrossenheit damit zu tun, dass kaum noch Unterschiede zwischen den großen Spielern im Parteiensystem wahrnehmbar sind? 5.4.2 Parteienkonvergenz aus neo-institutionalistischem Blickwinkel Nicht nur die Konsequenzen wahrgenommener Konvergenz sind wichtig, sondern ebenfalls deren Ursachen. Auch in diesem Bereich hat das Projekt weiterführende Anregungen gegeben, wie in Kapitel 4.1.2 nachgelesen werden kann.
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So könnte ein zukünftiges Forschungsprojekt die Rolle externer Berater in den Blick nehmen. Im Zuge der Professionalisierung von politischen Parteien kommt externen Beratern eine zunehmend größere Bedeutung bei der Außendarstellung der Parteien zu. In der neo-institutionalistischen Organisationsforschung wird ein Isomorphismus von kollektiven Akteuren in organisationalen Feldern auch damit erklärt, dass bei unterschiedlichen Organisationen Experten mit dem gleichen beruflichen und akademischen Hintergrund tätig sind. Daran anknüpfend wäre zu fragen, ob es auch bei den Parteien an wichtigen Positionen der Außendarstellung Akteure gibt, die parteiübergreifende Vorstellungen davon haben, was die „best practice“ von „taken-for-granted scripts, rules and classifications“ (DiMaggio/Powell 1991: 16) der Präsentation von Parteien sowohl nach innen (hin zu den Parteimitgliedern) als auch nach außen (hin zu Sympathisanten und Wählern) betrifft? Lassen sich die ggf. vorzufindenden, parteiübergreifenden Prinzipien in konkreten Materialisierungen rekonstruieren – z. B. in der Corporate Identity der Parteien? Das wären Leitfragen, die mittels einer Befragung von Image-Beratern zu klären sind, die für verschiedene Parteien gearbeitet haben. Thematisiert werden können berufliche Praxen, Leitmotive des professionellen Handelns (als Vorbild siehe Tenscher 2003) – und die Frage, ob sich hier Übereinstimmungen ergeben. Dass bei professioneller Identitätsarbeit durch Eliten in Organisationen bestimmte Routinen im Spiel sind, wurde auch in der Organisationsforschung zur Kenntnis genommen. Mary-Ann Glynn und Christopher Marquis (2005) zeigten, „how institutional logics function as social motives for marking organizational identities and, in turn, how organizational identities are embedded in both immediate and broad social environments“. Ob diese Routinen deckungsgleich, „interchangeable“ sind, wie es bei Paul DiMaggio und Walter Powell heißt, mag dahingestellt sein. In der politikwissenschaftlichen Forschung diskutieren Autoren wie Fritz Plasser, Christian Scheucher und Christian Senft (1999) mittlerweile eine Annäherung von Praxen des politischen Marketings, bei der europäische Politikberater sich mittlerweile stark an einem amerikanischen Modell politischen Marketings ausrichten. 5.4.3 Parteiprogramme und organisationale Identität Die Parteienforschung weist der Programmatik einer Partei – genauer: den Wahlprogrammen sowie den Aktions-, Grundsatz- und Regierungsprogrammen der Parteien – spezifische Außen- und Innenfunktionen zu. Zu den Aufgaben, die Parteiprogramme nach innen leisten sollen, rechnet Anton Pelinka (2004: 100), exemplarisch für viele andere Autoren, vor allem die Integration möglichst vie-
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ler, in der Partei vertretenen Gruppierungen und Strömungen: „Alle für wichtig gehaltenen Teile der Partei sollen sich mit dem Programm identifizieren können“. Interessant ist, dass die Funktion der Profilbildung eher als Außenfunktion (z. B. Hofmann 2004) gefasst wird. Dem entgegen legt diese Studie nahe, dass Programme (mehr denn je) eine orientierende Funktion auch nach innen haben können. Ein Ergebnis der Studie war es (vgl. Kapitel 4.3), dass jene (wenigen) Mitglieder, die sich an der Programmdiskussion der Parteien beteiligt haben, die sich mit der Programmatik inhaltlich auseinandergesetzt haben und für die Programme grundsätzlich Relevanz besitzen, auch über eine starke organisationale Identität der eigenen Partei „verfügen“. In einem zukünftigen Forschungsprojekt könnte man sich dezidiert auf diese inhaltliche Orientierungsfunktion der Parteiprogramme nach innen konzentrieren: Welchen Einfluss haben Parteiprogramme auf das Parteienbild der Mitglieder? Können Parteiprogramme eine interne Profilbildungsfunktion leisten? Trägt dies mittelbar auch zur Handlungsorientierung bei? Eine solche Perspektive scheint umso mehr interessant zu sein, da viele theoretische Annahmen zur Funktion von Programmen aus einer Zeit stammen, in der die Parteienforschung noch wenig über den Niedergang traditioneller Wählermilieus, über die Krise der Volks- und der Mitgliederparteien sowie über eine Entideologisierung des Parteienwettbewerbs und eine Steuerungsschwäche nationaler Parteipolitik nachdachte.49 Berücksichtigt werden muss dabei, dass zwar die Nutzung der Programme zu einer klareren Imagination der Partei führen kann, die Rolle von Programmen aber insgesamt, in der Aktivitas beider Parteien, umstritten ist. Die in dieser Studie befragten Mitglieder lassen oft eine Distanz bzw. ein Desinteresse hinsichtlich der Programmatik der eigenen Partei erkennen: „Für mich persönlich sind die Programme jetzt nicht so wichtig“, lauten die entsprechenden Passagen, oder auch: „ich muss nicht jede Woche das Programm rausholen, sicher nicht. Ich kenne auch niemanden, der zu 100 Prozent programmfest ist“. Diese Erkenntnis steht etwas im Widerspruch zu den offiziellen Verlautbarungen der Parteiführungen und den durchchoreografierten Parteitagen der Großparteien. Jene Mitglieder, die sich an der Programmfindung aktiv beteiligt haben, bewerten deren Modus kritisch. Dazu sagt Rainer Schmitt von der Hessen-CDU: Das ist alles Augenwischerei. Ich war auf dem Programmkongress. Das war der später im letzten Jahr. Jeder Kreisverband hat ja die Möglichkeit gehabt, einen zu benennen, der sich um diese Sachen kümmert. Da gibt es dann diese Kommission, in dem Land, wo die das dann zusammen49 Auf diesen Zusammenhang hat Melanie Haas aufmerksam gemacht. Haas arbeitet in ihrer Dissertation an der Erstellung eines erneuerten und auf die derzeitige Organisationsrealität von Parteien angepassten Funktionenkatalogs von Grundsatzprogrammen (http://www.polwiss.fu-berlin.de/ people/haas).
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schreiben. Jeder Kreisverband konnte da jedenfalls jemanden entsenden. Den hat man ein bisschen was zu futtern gegeben, dann hat man ein Forum hingesetzt. In dem einen konnte man mal ein paar Fragen stellen, in dem anderen durfte man gar nichts mehr sagen. Das war so eine Expertenrunde, wo die sich gegenseitig geistig besamt haben [lacht]. So gab es dann eine Palastrevolution. Haben die gesagt: So, jetzt nehmen wir das Mikro weg, wir übernehmen hier jetzt die Moderation. Und Koch musste dann entscheiden: Entweder gibt er dann den Revolutionären im Saal Raum, weil wir sind doch die Parteibasis, wir sollen doch sagen, was unsere Meinung ist. Und nicht eure Experten. Und am Ende kam das so durch. Dann lief das weiter. Sie haben sich dann gegenseitig was erzählt, deswegen sage ich: Das ist Augenwischerei.
Schließlich wird auch das Ergebnis der Programmfindung, das neue Programm, von vielen Mitgliedern beider Parteien kritisch bewertet. Diese Studie hat gezeigt, dass die Mitglieder ihre Kritik auch darauf beziehen, dass Parteiprogramme in sich unscharf wirken und sich kaum noch von der Programmatik der anderen Parteien unterscheideen (vgl. Kapitel 4.1.2). Hier stellt sich mehr denn je die Frage, ob die Programmatik ihre Orientierungsfunktion erfüllen kann. 5.4.4 Die Rolle schematischer Vorstellungen bei parteipolitischer Aktivität Schemata bezeichnen in der Psychologie innere Ordnungsvorstellungen, kognitive Strukturen respektive Cluster von Wissen über Objekte, Menschen und Situationen einschließlich des Wissens über Eigenschaften und Beziehungen zwischen diesen Attributen (vgl. Kapitel 2.1.1). Viele Wissenschaftler sind der Auffassung, dass diese kognitiven Strukturen wichtige Funktionen haben. Schemata erleichterten Prozesse des Schlussfolgerns, der Interpretation von Informationen und leisteten somit auch eine Hilfe bei der Bewältigung alltäglicher Situationen. Die Ergebnisse des vorliegenden Projekts bestätigten Vorannahmen, die besagten, dass es sich auch bei organisationaler Identität um ein Schema in Bezug auf das Erscheinungsbild der eigenen Partei handeln kann. Mehrmals schilderten die befragten Parteimitglieder alltägliche Situationen parteipolitischen Engagements, in der ein Rückgriff auf die organisationale Identität der eigenen Partei dazu beiträgt, die jeweilige Situation zu bewältigen. Im Rahmen eines explorativen Research-Designs konnte die Funktion handlungsorientierender Schemata natürlich nur im Ansatz beleuchtet werden. Gleichsam würde eine zukünftige wissenschaftliche Beschäftigung mit der Rolle von inneren Ordnungsvorstellungen eine Lücke in der Parteienforschung schließen. Die Parteienforschung hat zwar die Funktion von, dem Begriff des Schemas ähnlichen, Partei-Stereotypen diskutiert. Analysen beschränken sich aber z. B. auf die Funktion von Stereotypen bei der Bewertung von Kandidaten durch Wähler (Rahn 1993). Dieser Fokus blendet die Rolle von Schemen im Alltag des parteipolitischen Engagements aus. Eine zukünftige Forschung könnte (1.) nach
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der Beschaffenheit und (2.) nach der Rolle schematischer Vorstellungsbilder in Bezug auf die eigene Partei fragen und dabei (3.) noch einmal den Fokus auf die Frage lenken, was passiert, wenn diese Schemata diffundieren. Die Ergebnisse dieser Forschung legen zwar einerseits nahe, dass organisationale Identität als Schema z. B. in Entscheidungssituationen zum Tragen kommt und nicht nur in dieser Hinsicht wichtig ist. Andererseits konnte (noch) nicht der Nachweis erbracht werden, dass eine Diffusion von Ordnungsvorstellungen wie organisationaler Identität bei Mitgliedern direkt dazu führt, sich aus der aktiven Parteiarbeit zurückzuziehen. Dies jedenfalls besagen die Ergebnisse aus den Einzelfallstudien. Eine zukünftige Forschung, welche die These von der handlungsleitenden Funktion von schematischen Ordnungsvorstellungen in Bezug auf das Erscheinungsbild der Partei aus Mitgliedersicht empirisch weiter untermauert, wäre dann eine sinnvolle Ergänzung bisheriger Anreiz-basierter Modelle zur Erklärung parteipolitischer Aktivität und Bindungsmotivationen. 5.4.5 Klarheit organisationaler Identität – Skizze eines quantitativen Designs Es wurde eben argumentiert, dass sich gute Gründe dafür anführen lassen, sich den (relevanten) Dimensionen von Diffusion organisationaler Identität jeweils in separaten Arbeiten zu nähern. Schon zu Beginn ist die Auffassung vertreten worden, dass sich für den Forschungsgegenstand organisationale Identität insbesondere qualitative Verfahren eignen. Es gibt allerdings einige Organisationsforscher, die beide Punkte anders sehen. Nach ihrer Auffassung lassen sich die unterschiedlichen Dimensionen organisationaler Identität in ein Konzept integrieren und darüber hinaus messen. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Arbeiten von Jos Bartels et al. (2007), vor allem aber die von Michael Cole und Heike Bruch (2006) sowie von Glenn Kreiner und Blake Ashforth (2004). Insbesondere die beiden letztgenannten Arbeiten stellen den Versuch dar, ähnlich wie in der vorliegenden Arbeit, die Auswirkungen einer „unscharfen“ organisationalen Identität zu untersuchen – aber, und dies ist der Unterschied zum hier beschriebenen Vorhaben, im Rahmen eines quantitativen Designs. Kreiner und Ashforth hatten zum Ziel, das Modell organisationaler Identifikation zu erweitern. Dazu gehörte auch der Test neuer Vorbedingungen von Identifikation, denn beide Autoren kamen zu dem Schluss, dass es nach wie vor wenige Studien gibt, die klären, wie bestimmte Faktoren zu welcher Ausprägung von Identifikation führen. Zu den Faktoren gehörte auch die Stärke organisationaler Identität. Kreiner und Ashforth (2004: 12ff.) sind der Auffassung, dass man ein theoretisches Konstrukt wie die Stärke organisationaler Identität nicht nur qualitativ ausdifferenzieren, sondern, wie bereits angedeutet, auch statistisch messen kann.
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Um die Stärke ihres Konstrukts „Stärke organisationaler Identität“ zu messen, konstruierten die Autoren „5-point Likert-type response scales“. Die LikertSkala (auch Schnell/Hill/Esser 1995: 181ff.) bezeichnet in der empirischen Sozialforschung bekanntlich ein Skalierungsverfahren zur Messung von persönlichen Einstellungen, die mittels sogenannter Items abgefragt werden. In der Regel interessiert die Einstellung der Versuchsperson, ein bestimmtes Objekt betreffend.50 Alle dazugehörigen Items werden als strikt positive oder negative Aussagen formuliert. Der Likert-Skala liegt die Überlegung zugrunde, dass die Versuchsperson die Aussage eines Items umso mehr ablehnt, je weiter ihre Einstellung von der Formulierung des Items abweicht. In der Gesamtheit werden dann die Antworten auf den Grad der Einstellung abgebildet. Kreiner und Ashforth nutzten in ihrer Forschung dazu die typische fünf-stufige Skala: x x x x x
Ich stimme ganz entschieden zu Ich stimme zu Neutral Ich stimme nicht zu Ich stimme ganz und gar nicht zu
Daraufhin formulierten Kreiner und Ashforth zur Variable „Organization identity strength“ vier Items: x x x x
There is a common sense of purpose in this organization This organization has a clear and unique vision There is a strong feeling of unity in this organization This organization has a specific mission shared by its employees
Auf der einen Seite sind, aus der Sicht des Verfassers, diese Items nicht ganz glücklich gewählt, zumindest, was den Inhalt betrifft. So fragen verschiedene Items dasselbe ab, sind bei genauerem Hinsehen nicht unbedingt trennscharf („unique vision“, „specific mission“). Zudem entsprechen manche Items („common sense of purpose“, „strong feeling of unity“) nicht dem, was im vorliegenden Fall unter den Begriff organisationale Identität subsumiert worden ist. Andererseits ginge es ohnehin weniger um die exakte inhaltliche Übernahme der Items von Kreiner und Ashforth, als um die Gesamtweise der Operationalisierung. Vor allem scheint die Skalierung der Indikatoren auch im Rahmen einer Untersuchung bei Parteien und Mitgliedern übertragbar zu sein. Die hier absolvierte Forschung hat klar gemacht, dass vor allem zwei Dimensionen von 50 Siehe den Eintrag unter http://de.wikipedia.org/wiki/Likert-Skala.
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organisationaler Identität wichtig sind. So könnte eine neue, quantitative Variable als „Klarheit organisationaler Identität“ bezeichnet werden. Diese Variable ist z. B. über die Indikatoren „Grad wahrgenommener Unterscheidbarkeit“ sowie „Grad wahrgenommener Kohärenz“ zu operationalisieren. Dabei wäre die Variable Diffusion organisationaler Identität umso stärker ausgeprägt, je weiter die Antworten von der absoluten Zustimmung bei den folgenden Items abweichen: Indikator „Grad wahrgenommener Unterscheidbarkeit“ Wie sehr stimmen Sie folgender Aussage zu? x x x
Meine Partei unterscheidet sich deutlich von anderen Parteien Ich kann Inhalte angeben, die nur von meiner Partei vertreten werden Das Programm meiner Partei macht die Partei einzigartig
Indikator „Grad wahrgenommener Kohärenz“ Wie sehr stimmen Sie folgender Aussage zu? x x
Insgesamt bietet meine Partei ein in sich stimmiges Erscheinungsbild Die Politik meiner Partei entspricht dem, was im Programm steht
Neben „Klarheit organisationaler Identität“ sind zwei weitere Variablen nötig. Sie könnten als „Stärke von Parteienidentifikation“ und „Stärke des parteipolitischen Engagements“ bezeichnet werden. Auch hier bietet sich ein Skalenniveau an, dass der Likert-Skala entspricht. In Bezug auf Parteienidentifikation kann dabei auf die Items zurückgegriffen werden, die von Fred Mael und Blake Ashforth (1992) entwickelt wurden und auch bei Kreiner und Ashforth Verwendung gefunden haben. Sie müssen nur auf Parteien zugerichtet sein. Sie könnten lauten: Indikator „Partei-Identifikation“ Wie sehr stimmen Sie folgender Aussage zu? x x x x
Ich fühle insgesamt ein starkes Band zwischen mir und der Partei Wenn ich über meine Partei spreche, benutze ich oft das Wort wir Wenn meine Partei einen Erfolg feiert, ist das auch mein Erfolg Wenn meine Partei kritisiert wird, fühle ich mich persönlich angegriffen
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Um empirisch zu prüfen, ob Klarheit organisationaler Identität eine Vorbedingung von Identifikation und Engagement darstellen kann, müsste die Gestaltung des Research-Designs wohl nach diesem Muster fortgeführt werden. Auch in Bezug auf Partei-Engagement sollte es nicht unmöglich sein, Likert-Items zu formulieren. Ferner bedürfte es der Konstruktion von Kontrollvariablen. Dazu wäre zu klären, welche Faktoren gemeinhin noch als Bestimmungsfaktoren von Identifikation und Engagement herangezogen werden. Aus dieser Forschung sind uns als Faktoren das Verhalten der Führungspersonen bekannt (in Bezug auf Identifikation) sowie das Verfügen über bestimmte Ressourcen (bei Engagement). Offen wäre dann immer noch, welches statistische Analyseverfahren heranzuziehen ist; Faktoren- und Regressionsanalyse dürften grundsätzlich geeignete Strategien darstellen. Die Überführung der Fragestellung in ein quantitatives Design hätte angesichts der Erfahrungen bei der empirischen Datenauswertung in dem hier vorliegenden Projekt einen weiteren, nicht unwichtigen Vorteil. Quantitative Verfahren sind auf die Konstruktion geschlossener Fragebögen angewiesen. Diese Form der Befragung würde, im Nachhinein betrachtet, den Vorteil aufweisen, dass das Konstrukt Diffusion organisationaler Identität sehr deutlich formuliert werden kann – und ggf. auch von anderen Faktoren stärker zu trennen ist. Damit würde auch das Problem der kontingenten Textstellen entschärft, das, wie auch im Fazit beschrieben, den „Nachweis“ negativer Effekte von Diffusion organisationaler Identität auf Engagement und Identifikation erschwert hat. Eine Forschungsanlage, die eine Variable namens „Klarheit organisationaler Identität“ in Angriff nimmt und deren Impakt auf andere Variablen untersuchen will, muss in der Auswahlgesamtheit deutlich über jene Samplegröße hinausgehen, die in dieser aktuellen Studie Verwendung gefunden hat. Untersuchungen, die Zusammenhänge zwischen Variablen testen sollen, müssen das Kriterium der Repräsentativität erfüllen. Das impliziert Samplegrößen im Umfang von mindestens 300 Personen. Eine zufallsbasierte Ansprache von Parteimitgliedern ist in technischer Hinsicht kein unüberwindbares Problem. Große demoskopische Institute praktizieren dies jede Woche, wenn etwa, im Vergleich zum „normalen“ Bürger, auch die spezifische Einstellung von Parteimitgliedern zu bestimmten Issues erfasst werden soll. Allerdings sind solche Erhebungen aufwendig und bedürfen eines Projektrahmens, der aus mehreren Wissenschaftlern besteht und entsprechende Ressourcen an Zeit und Geld zur Verfügung hat. In jedem Fall ist eine Kooperation mit der jeweiligen Parteiführung ratsam oder mit den parteinahen Stiftungen, zumal diese selbst repräsentative Parteimitgliederbefragungen koordinieren können (Neu 2007). Ob Parteien ohne weiteres Mitgliederdaten an externe Forschungsgruppen herausgeben, bleibt aber fraglich, jedenfalls dann, wenn man als
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Forscher nicht selbst dem Führungsgremium einer Partei angehört (Thieme 2010). Die Nutzung des Parteiverteilers erscheint für „Otto-Normal-Forscher“ eher unwahrscheinlich, auch deswegen, weil die Parteien gerade gegenüber einer „akademischen Forschung, die sich auf die Ermittlung der inneren Strukturen, Prozesse und Bewusstseinszustände der Parteien richtet, eher skeptisch eingestellt“ ist. Zu diesem Schluss kommt zumindest Michael Th. Greven (1987: 13). Aber es gibt hier Alternativen. Um Kontakt aufzunehmen, könnte im Intranet der Partei oder in der Parteizeitung eine Anzeige geschaltet werden. Damit man auf die nötigen Fallzahlen kommt, ist Geduld erforderlich, wenn man an die Rücklaufquoten von sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekten denkt. Ferner ist zu berücksichtigen, dass eine Kooperation mit der Partei ggf. auch eine inhaltliche Einflussnahme vor der Erhebung sowie später Ansprüche auf die Ergebnisse der Studie implizieren kann. Bei der Fallauswahl ist auch zu überlegen, ob eine Beschränkung auf die großen Parteien weiterhin wünschenswert ist, oder ob auch die Integration anderer Parteien vorgenommen werden soll. Interessant wäre, Mitglieder unterschiedlicher Parteien in den Blick zu nehmen. Eine Differenzierung könnte nach etablierten Parteien (CDU, SPD), semi-etablierten Parteien (Grüne, Linke) und Kleinparteien, zu denen auch politisch extreme Parteien gehören können, vorgenommen werden. Die Berücksichtigung unterschiedlicher Parteitypen hätte den Sinn, zu klären, inwieweit die Rahmenbedingungen, denen etablierte Parteien unterliegen, verantwortlich sind für Diffusion organisationaler Identität: Wie verhält es sich hier mit Oppositionsparteien oder kleinen Parteien, die überhaupt außerhalb des Kernparteiensystems stehen? Haben diese, in der Perzeption ihrer Mitglieder, eine „klarere“ organisationale Identität ihrer Partei? Cole und Bruch (2006) haben in ihrem Aufsatz die Stärke organisationaler Identität in Zusammenhang mit organisationsinternen Hierarchien untersucht. Ähnlich ging zwei Jahre zuvor Kevin Corley (2004) vor. Seine empirische Studie zeigte letztlich Unterschiede der Wahrnehmung von Organizational Identity entlang hierarchischer Grenzen innerhalb eines Unternehmens. Genau das wäre auch ein weiterer interessanter Ansatzpunkt für zukünftige Forschungen im Rahmen politischer Parteien. Die Ergebnisse dieser Forschung haben Anhaltspunkte dafür geliefert, dass Diffusion organisationaler Identität nicht gleich verteilt ist, sondern dass deren Stärke von bestimmten Prädispositionen abhängen kann. Dazu gehören laut Kapitel 4.3 auch die Positionen in der Parteihierarchie.
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5.5 Können Parteien Diffusion organisationaler Identität bekämpfen? Bis zu diesem Punkt wurden vor allem Ausmaß und mögliche Effekte von Diffusion organisationaler Identität besprochen. Die empirischen Ergebnisse sollten illustrieren, dass sich die Parteien auch bei ihren Mitgliedern in einer Profilkrise befinden, die sich nach den Dimensionen organisationaler Identität (Zentralität, Differenz, Kontinuität und Kohärenz) weiter ausdifferenzieren lassen. Können die Parteien selbst etwas gegen ihre eigene „Identitätsauflösung“ (Wiesendahl) tun – und auch nach innen wieder ein klareres Profil vermitteln? Um mögliche Handlungsoptionen der Parteien nachvollziehbar diskutieren zu können, müssen wir Diffusion organisationaler Identität eingrenzen. Denn insgesamt ist die Kategorie Diffusion organisationaler Identität im Lauf der empirischen Datenauswertung von einem allgemeinen Begriff zu einem weit ausdifferenzierten Phänomen geworden, deren vielfältige Unterebenen nur noch schwer unter einen Oberbegriff subsumiert werden können. Da die empirische Untersuchung gezeigt hat, dass von allen vier möglichen Dimensionen organisationaler Identität vor allem die Dimension Differenz als besonders problematisch und besonders relevant (im Hinblick auf Partei-Identifikation ebenso wie auf Engagement) bezeichnet werden kann, sollen sich die folgenden Betrachtungen und Überlegungen zu Handlungsoptionen der Parteien auf die Dimension der Unterscheidbarkeit beschränken. Für die Parteien scheint der Auftrag jedenfalls klar zu sein: „Die Unterscheidbarkeit der großen Parteien wieder herzustellen, die Nivellierung, auf dass sich niemand bei den Unterschieden zu sehr erschrecke, aufzugeben – das ist das Wichtigste, das am nächsten Liegende“. So hat es bekanntlich StephanAndreas Casdorff von der Berliner Tageszeitung Der Tagesspiegel ausgedrückt (vgl. Kapitel 2.2.2). In der Tat legen die Ergebnisse dieser Studie nahe, dass Parteien, um Identifikation und innerparteiliches Engagement der Mitglieder auf Dauer zu stellen, auch und gerade versuchen müssen, sich inhaltlich immer wieder von anderen Parteien des Parteiensystems abzugrenzen und insgesamt (wieder stärker) ein möglichst „einzigartiges“ Erscheinungsbild an die Mitglieder zu vermitteln. Aber können Sie das? Und, so paradox sich dies auch anhören mag: Wollen Sie das überhaupt? 5.5.1 Unterscheidung als kostenintensive Strategie Zur Markierung von Unterschieden können Parteien auf unterschiedlichen Ebenen tätig werden. Denkbar ist, dass sich Parteien durch Ideologien und Weltanschauungen von anderen Konkurrenten im Parteiensystem absetzen. Eine Unterscheidung ist aber auch anhand einzelner Werte und Normen möglich. Weiterhin
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bieten sich politische Themen (Issues) zur Abgrenzung an. Unterscheidung kann sowohl dadurch geschehen, dass Parteien Themen besetzen, die nur von Ihnen besetzt werden – und sich dadurch von allen anderen Parteien unterscheiden (z. B. Umweltschutz bei den Grünen in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren). Parteien können aber auch innerhalb eines Themas unterschiedliche Positionen einnehmen. Denkbar ist schließlich auch eine Abgrenzung durch divergente, möglichst „individuelle“ Wege bei der Lösung politischer Probleme. Fasst man Parteien als kollektive Akteure auf, so kann Abgrenzung auf diesen unterschiedlichen Feldern als Handlungsoption begriffen werden, die durchaus mit Nutzen für die Partei (bessere Integration der Mitglieder) verbunden ist – aber auch, wie zu zeigen sein wird, mit Kosten. Um einschätzen zu können, wie wahrscheinlich es ist, dass sich die großen Parteien wie die SPD und die CDU durch eine stärkere Abgrenzung von ihren Konkurrenten aus ihrer Identitätskrise befreien und Mitgliedern ein schärferes Profil präsentieren, ist es hilfreich, aktuelle Parteientypologien zurate zu ziehen, da diese über die Zielsetzungen der Parteien Auskunft geben. Hier wird deutlich, dass ein inhaltlicher Abgrenzungskurs der Parteien auch in Zukunft eine eher unwahrscheinliche Strategie darstellt, weil das Kosten/Nutzen-Saldo der Handlungsoption Abgrenzung hinsichtlich der Zielsetzungen der Parteien zu ungünstig ausfällt. Parteientypologien erheben den Anspruch, neben Funktionen auch die Zielsetzung einer Gruppe von Parteien, die zu einer bestimmten Epoche in einem politischen System vorzufinden sind, bestimmen zu können. Obwohl es im Prinzip noch mehr Parteientypologien gibt, diskutiert die Forschung heute vor allem zwei Modelle (Wolinetz 2002, Jun 2004b, Wiesendahl 2006): Erstens handelt es sich um den von Richard Katz und Peter Mair (1995) herausgearbeiteten Typus der Kartellpartei. Zweitens geht es um den Typus der professionalisierten Wählerpartei, der auf eine Konzeption von Angelo Panebianco (1988) zurückgeht. Beide Modelle sind nicht unumstritten, aber die Forschung ist sich doch dahin gehend einig, dass mit diesen Idealmodellen die Organisationswirklichkeit der Parteien vieler westlicher Demokratien besser beschrieben werden kann als mit den älteren Typen der Massenintegrations- und auch der Volkspartei. CDU und SPD sind als Vertreter des Typus der Kartellpartei bezeichnet worden und Studien haben diese Einordnung empirisch untermauert (Detterbeck 2002). Nach Katz und Mair (1995) zeichnen sich Kartellparteien vor allem durch eine spezifische Position zwischen Gesellschaft und Staat aus. Beide Wissenschaftler behaupten, dass sich Parteien als Reaktion auf die vielfältigen Dealignment-Dynamiken von gesellschaftsnahen zu staatsnahen, ja „quasistaatlichen“ Akteuren gewandelt hätten, die auf symbiotische Art und Weise mit
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dem Staat verflochten sind.51 Die Kartellparteien seien nicht nur von Ressourcen wie öffentlichen Ämtern abhängig, sondern insbesondere auch von der staatlichen Parteienfinanzierung, ohne die sie nicht überleben können und über die Parteien als staatliche Akteure gleichsam selbst entscheiden. Ziel dieser Parteien ist nicht mehr die Verwirklichung einer Ideologie, das Durchsetzen spezifischer politischer Ziele oder die Interessenvertretung bestimmter sozialer Milieus, sondern der Selbsterhalt. Diese Existenzsicherung kann dadurch gewährleistet werden, dass selbst Parteien mit unterschiedlicher weltanschaulicher Tradition aus einem „gegenseitigen Interesse an der kollektiven Selbsterhaltung“ (Jun 2004b: 172) heraus kooperativ für die Sicherstellung ihrer Privilegien sorgen, Newcomer fernhalten – und der Parteienwettbewerb so zumindest abgebremst wird. Wegen dieser Kooperation der etablierten politischen Kräfte sprechen Katz und Mair auch von Kartellparteien. Aus der Kartellpartei-Perspektive ist eine inhaltliche Abgrenzungsstrategie der Parteien nicht prinzipiell ausgeschlossen; jedoch dürfte sie sich angesichts eines hohen interparteilichen Kooperationbedarfs und der damit verbundenen Bargaining-Prozesse als nachteilig erweisen (Bartolini 2002: 93). Gelten CDU und SPD manchen Autoren als Exemplare der Kartellpartei, so zeigen andere Experten, dass sich die beiden deutschen Großparteien prinzipiell auch unter den Typus der professionalisierten Wählerpartei subsumieren lassen (Grabow 2000, von Beyme 2000). Kartellpartei und „electoral professional party“ weisen viele Ähnlichkeiten auf. Beide Modelle unterscheiden sich am ehesten noch darin, dass das Verhältnis von Partei und staatlicher Sphäre bei der professionalisierten Wählerpartei nicht im Zentrum steht – und dass auf den Wahlerfolg, noch stärker als im Kartellparteienmodell, alle Parteiaktivitäten ausgerichtet sind. Um das zentrale Ziel, die Maximierung von Wählerstimmen, zu erreichen, benötigen diese Parteien die Expertise von Marketingexperten und Strategen. Die Mitgliederebene verliert zwangsläufig an Bedeutung. Werden nun CDU und SPD als Vertreter des Typus der professionalisierten Wählerpartei gesehen, erscheint eine Strategie der Abgrenzung durch Werte und Positionen noch unwahrscheinlicher, weil sie die Erreichung des zentralen Parteiziels, die Maximierung der Wählerstimmen, behindern kann.
51 Die wichtigsten Facetten dieser vielgesichtigen Distanzierung zwischen Gesellschaft und Parteien haben Russel Dalton, Ian McAllister und Martin Wattenberg (2002: 40f.) wie folgt zusammengefasst: „Fewer voters now come to elections with standing partisan predispositions. Even if they have loyalities to a party, they are weaker; more voters now make their electoral choices based on campaign issues and candidates (...) There has been a shift from long-term sources of electoral choice to more-short term influences on the voters. Furthermore, citizens are now less likely to participate in their campaign process. Without emotional ties to their preferred party, fewer voters work for their party at election time or visibly demonstrate their party support during elections”.
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Ohne Zweifel lässt sich sagen, dass der Wählermarkt für die deutschen Parteien unübersichtlich geworden ist. Dies hat vor allem mit einer vielschichtigen gesellschaftlichen Umwelt zu tun, in der sich die Parteien immer wieder neu orientieren müssen. Zwar verliert die klassische Dreiteilung der Gesellschaft in Unter-, Mittel-, und Oberschicht, so wie sie noch in der bekannten „BolteZwiebel“ zum Ausdruck kommt, nicht gänzlich ihre Bedeutung (Geissler 1996). Viele Demografen sprechen heute von einer Aufgliederung dieser Makroschichten in vielfältige Lebensstilmilieus (weiterführend u.a. Walter 2009b). Für Parteien, die, wie das der CDU-Mitgliederbeauftragte Frank Niebuhr für die CDU formuliert hat, „alle Schichten und Gruppen unsres Landes“ ansprechen wollen, die das Ziel einer Maximierung von Wählerstimmen anstreben, ist diese fragmentierte Sozialstruktur des Elektorats eine große Herausforderung. Auch hier ist eine Strategie der Abgrenzung durch eindeutige Positionierungen bei bestimmten Themen nicht per se ausgeschlossen. Da aber (Differenz ermöglichende) Positionierungen die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass sich bestimmte Segmente des Elektorats übergangen fühlen und damit das Risiko der Wahlniederlagen steigt, dürfte eine Abgrenzungsstrategie nicht im Interesse der (professionalisierten Wähler-)Parteien sein. Ein Wähler-orientiertes Politikmarketing erlaubt allenfalls solche Positionierungen, die den durchschnittlichen Präferenzen großer sozialer Gruppen entspricht. Da diese sozialen Gruppen die Zielgruppe aller professionalisierten Wählerparteien konstituieren, kommt es zwangsläufig zu einer inhaltlichen Annäherung der Parteien. Mit dem Verzicht auf inhaltliche Abgrenzungen wird somit vielleicht ein wichtiges Instrument zur Integration der Mitgliederschaft aus der Hand gegeben, die aber, folgt man den Annahmen des Modells der professionalisierten Wählerpartei, ohnehin nachrangig ist. 5.5.2 Institutionelle Rahmenbedingungen als Konvergenz-fördernde Faktoren In den beschriebenen Typologien erscheinen Parteien als kollektive Akteure mit benennbaren Präferenzhierarchien. Zu den Zielen der heutigen Parteien gehört der Selbsterhalt als Organisation, der entweder durch eine kartellartige Kooperation der etablierten Parteien zur Absicherung staatlicher Ressourcen oder durch eine Maximierung von Wählerstimmen bei Wahlen erreicht werden kann. Bei der Erreichung beider Zielsetzungen dürfte sich eine deutliche Abgrenzungsstrategie als unwahrscheinliche Handlungsoption erweisen, weil die Kosten dieser Strategien (Konflikte mit anderen Oligopolparteien, Stimmenverluste) höher erscheinen als der mögliche Nutzen (Integration der Mitglieder). Aus der Sicht der Parteientypologien wollen Parteien keine Unterschiede aufzeigen, weil dadurch wichtige Parteiziele schwerer zu erreichen sind. Es
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spricht aber auch einiges dafür, dass Parteien Unterschiede weder setzen wollen noch können, wobei sich das „Nichtkönnen“ hauptsächlich auf das praktische politische Handeln der Parteien in Regierungsverantwortung bezieht und externe Rahmenbedingungen des Regierungshandelns als Konvergenzfaktoren wirken. In Anlehnung an Karl-Rudolf Kortes (2001: 521) Unterscheidung von innerem und äußerem Souveränitätsverlust nationalstaatlicher Regierungen kann an dieser Stelle zwischen inneren und äußeren Rahmenbedingungen unterschieden werden, die als Konvergenz-fördernd angesehen werden können. Mit inneren Konvergenzfaktoren sind Rahmenbedingungen gemeint, die in der politischen Kultur des Nationalstaates wurzeln. Äußere Konvergenzfaktoren sind solche, die z. B. auf die supra-nationale Einbindung nationalstaatlicher Regierungen zurückgehen, deren Teil die Parteien sind. „Do Partie matter?“ – diese Frage nach dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Parteieffekten in Bezug auf das Handeln nationalstaatlicher Regierungen entzweit die Politikwissenschaft schon seit längerer Zeit. Auch wenn man einräumt, dass Parteien in Regierungsverantwortung trotz zahlreicher „constraints“ nach wie vor über Handlungsoptionen verfügen (Schmid 1998), so kann doch das institutionelle Setting, in das die Parteien verstrickt sind, dazu führen, dass die Unterschiede zwischen Parteien verschwimmen. Zu diesen relevanten Rahmenbedingungen zählt für die deutschen Parteien das Wahlsystem, dass hierzulande die Bildung von Koalitionsregierungen begünstigt. Koalitionen wiederum, „die in der Bundesrepublik Deutschland zum festen Bestandteil der Regierungstradition und des parteipolitischen Umfeldes gehören, schleifen Parteidifferenzen eher ab und begünstigen eine auf Kooperation und Konsensus gegründete Parteikultur“ (Kolinsky 1993: 43f.). Angesichts der Emergenz eines fluiden 5-Parteien-Systems, das immer neue, früher undenkbare Koalitionsoptionen befördert, wird sich die Bereitschaft zum Kompromiss und damit das Abschleifen von Parteidifferenzen eher verstärken. Abträglich ist der Unterscheidbarkeit der Parteien aber auch die Politikverflechtung im deutschen Mehrebenensystem, wobei hier nicht die Kooperation von Regierungsparteien, sondern die durch die föderale Politikverflechtung in Deutschland gegebene, mehr oder weniger starke Mitwirkung der Opposition an der Regierungspolitik gemeint ist. Durch diese „versickern die Politikunterschiede nicht vollends (...) Allerdings sind in diesem Fall die verbleibenden Unterschiede in den Politikpositionen der Parteien in der Staatstätigkeit weniger sichtbar“, wie es Manfred G. Schmidt (2001: 546) formuliert hat. Der Vollständigkeit halber ist auch auf die externen Konvergenzfaktoren zu verweisen. Einerseits ergeben sich durch die Einbettung nationaler Regierungen in supranationale Regime Handlungsbeschränkungen, die Parteien als Akteure von Regierungen an der Implementierung eigenständiger Policies hindern (Korte
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2001). Andererseits werden Handlungsbeschränkungen auch auf Krisenszenarien mit internationaler Reichweite zurückgeführt. Die Aufgabe der Demokratie und der politischen Parteien beschränke sich immer mehr darauf, sozial abträgliche Folgen kapitalistischen Wirtschaftens abzumildern (Jagodzinski/Kühnel 2001: 204). Abwegig ist diese Überlegung nicht, denkt man nur an die gegenwärtige Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise. Klaus von Beyme (2000: 94) spricht von der ökonomischen Krise des Wohlfahrtsstaates. Durch diese Krise hätten alle OECD-Länder vergleichbare Herausforderungen erlebt. In den Zeiten des Booms und der Vermehrung sozialer Transfers konnten die Parteien es sich besser leisten, ihre ideologischen Differenzen zu betonen. In Zeiten des Rückzuges aus dem Wohlfahrtsstaat würden die Muster der Deregulierung ähnlicher, sowohl in den Ländern als auch in den Parteien der einzelnen Länder. Auch Miki Caul und Mark Gray (2000: 221ff.) gingen von der These aus, dass insbesondere Veränderungen in der internationalen Umwelt („such as the growing influence of the international economy and the Europeanization of policy making“) die Entscheidungsspannweite nationaler Regierungen einschränken, and hence the ability of parties in national governments to steer policy has been reduced over time. Parties may be increasingly constrained by the same set of policy parameters and find themselves sharing the same set of policy priorities.
Beide Autoren finden diese These nach der Auswertung ihrer empirischen Daten im Kern bestätigt: Taken together our results do not differ substantially from the conclusion that „politics doesn’t matter“. The few relationships we did find in the pooled and national-level models compel us to qualify that statement and say, „politics hasn’t mattered – much“ (...) Given (...) unclear evidence of partisan effects in the first place, it is not surprising that there is not consistent evidence that these relationships have weakened over time. At the same time, the impact of systematic changes within OECD countries, such as the end of the cold war, the aging of populations, and the global interconnectedness (...) has strongly affected public policy commitments and economic performance. To the extent that this is a surrogate for external constraints on government, it might be said the power of parties has been limited (...) The relationship between partisan control and public policy was not clear in the past and is even murkier today.
„Unless people are aware of a choice between the parties there is no democracy“, hat der US-amerikanische Politikwissenschaftler Elmer Schattschneider einmal formuliert. Es bezieht sich auf die Wichtigkeit der Unterscheidbarkeit von Parteien für das Funktionieren eines demokratisch organisierten Gemeinwesens insgesamt. Ohne „decidability“ werden Wahlentscheidungen schwieriger; niedrige Wahlbeteiligungen als mögliche Folge wahrgenommener Konvergenz gefährden nicht nur den Selbsterhalt der Parteien, sondern sie unterhöhlen auch die
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Legitimität des Staatswesens. Nach den Erkenntnissen dieser Studie lässt sich die Relevanz von Unterscheidbarkeit zwischen Parteien im demokratischen Prozess ausweiten. Ein wahrgenommener Unterschied ist nicht nur wichtig, um in der Wahlkabine Entscheidungen zu treffen, sondern sie ist auch wichtig, um einer Partei beizutreten, in ihrer auf Dauer aktiv zu sein und sich mit dieser verbunden zu fühlen. So wichtig diese Unterscheidbarkeit ist, so schwer ist es zumindest für die großen Parteien, diese Unterscheidbarkeit herzustellen. Da Parteien gegenwärtigen Typs eine starke Fokussierung auf den Wählermarkt haben, sich dieser aber als unübersichtlich erweist, weil sich die Sozialstruktur ausdifferenziert hat und gleichsam stabile Parteipräferenzen und Bindungen in Auflösung geraten, erweist sich bei Parteien mit dem Ziel einer Maximierung von Wählerstimmen eine zurückhaltende Kommunikation von Inhalten als zielführend, die auf allzu deutliche Markierung von Unterschieden verzichtet. Betroffen ist aber nicht nur die politische Kommunikation, sondern auch das praktische Handeln. Handlungsbeschränkungen interner und externer Art erschweren den Parteien das Setzen von Unterschieden durch Policies. 5.5.3 Unterscheidbarkeit durch stärkere Personalisierung? Wenn eine Differenzierung durch Ideologien, Programme und Policies den Parteien entweder nicht als zielführende Handlungsoption erscheint oder wegen handlungshemmender „constraints“ nur schwer möglich ist, dann bleiben Parteien nach der hier vertretenen Auffassung zwei Wege innerparteilicher Identitätsarbeit. Einerseits könnte das Profil durch die Inszenierung von Unterschieden auf der Ebene politischer Persönlichkeiten erreicht werden. Andererseits bietet sich die interne Kommunikation als Ort der Identitätsarbeit an. Schauen wir uns diese Ebenen an. Viele Autoren gehen davon aus, dass das Image einer Partei auch mit dem Erscheinungsbild jener Personen verknüpft ist, welche die Partei in der Öffentlichkeit repräsentieren (von Alemann/Marschall 2002, Philpot 2004). In Deutschland sind das vor allem die Kanzler, die Kanzlerkandidaten, die Parteivorsitzenden und – mit Abstrichen – auch die Generalsekretäre der Partei. Die Identitätsarbeit der Partei begänne hier schon bei der Personalselektion: Nicht nur wären solche Kandidaten mit fachpolitischem Hintergrund und innerparteilichem Standing für repräsentative Spitzenämter zu berücksichtigen, sondern auch Personen, die solche (durchaus persönlichen) Eigenschaften besitzen, die sie potenziell von den Repräsentanten anderer Parteien unterscheiden. Kern der Identitätsarbeit wäre es, diese individuellen Eigenschaften immer wieder mit der Partei, die der Politiker vertritt, in Verbindung zu setzen. Dabei handelt es sich
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im Sinne von Jürgen Lass (1995: 10) durchaus um eine Variante der Personalisierung von Politik, die auf die Charakteristika des Personals setzt. Durch diese Variante der Personalisierung geht es aber nicht darum, dass das Personal von der Partei an sich „ablenkt“. Vielmehr soll ein gezielter Transfer von Eigenschaften von der Spitzenperson auf die Partei an sich in die Tat umgesetzt werden. Zu bewerkstelligen ist dies zumindest temporär durch bestimmte Rituale und Inszenierungen (vgl. Meyer 1998). Hier bieten Parteitage eine gute Plattform. Durch eine bestimmte Choreografie im Ablauf und den Einsatz audiovisueller Techniken kann eine Koppelung von Kandidaten- und Party-Image vorangetrieben werden. Die Strategie „Differenzierung durch Personalisierung“ erscheint auch deswegen erfolgsversprechend, weil sich insgesamt die Wahrnehmung der Parteien durch die Bürger mehr als noch früher an Persönlichkeiten, deren Charaktereigenschaften und politischem „Style“ festmacht, Positionen und Programme insgesamt weniger wichtig sind (Corner/Pels 2002). Empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass in Deutschland die Kandidatenorientierung bei Wahlentscheidungen in den Jahren nach der Wiedervereinigung an Bedeutung zugenommen hat (Ohr 2000). Der Imagetransfer auf Parteitagen hat auch den Vorteil, dass Parteitage Rituale darstellen, die für die Beteiligten eine intensive Erfahrung darstellen können. Die Mitglieder sind unter sich; der Parteitag ist Gemeinschaftserlebnis ohne störende Einflüsse von außen. Bedachtet werden muss aber auch, dass Parteitage kostenintensiv sind und nur zu besonderen Anlässen stattfinden, z. B. zum Beschluss von Grundsatzprogrammen oder im Vorfeld von Wahlen. Parteitage erreichen zudem nicht alle Mitglieder, sondern nur eine bestimmte Funktionärsebene. Der Rest der Partei ist auf die Berichterstattung der Medien angewiesen, die, wie wir noch sehen werden, ihren eigenen Gesetzen folgt. Die Herstellung von Öffentlichkeit durch die mediale Berichterstattung ist zugleich die Achillesferse aller Strategien, die auf eine Inszenierung von Differenz durch Personalisierung im Rahmen von Ritualen wie Parteitagen setzen. Denn durch die Medienberichterstattung weitet sich der Zuhörerkreis eines Parteitages von der Mitgliederschaft (prinzipiell) auf das ganze Elektorat aus, mit der Folge, dass auch bei der Inszenierung von Parteitagen alle inhaltlichen Signale auch immer bezüglich ihrer Außenwirksamkeit bedacht werden müssen. Damit kommt auch in Bezug auf die Inszenierung von Unterschieden bei der Parteitagsregie schnell die sprichwörtliche Schere im Kopf zum Einsatz.
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5.5.4 Unterscheidbarkeit durch interne Kommunikation und Fortbildung Jedes deutsche Parteimitglied, welches ein durchschnittliches Medienverhalten an den Tag legt, also während des Frühstücks Inforadio hört, auf dem Weg zur Arbeit eventuell einen Blick in die Tageszeitung wirft, während der Arbeit kurz bei Informationsportalen wie www.spiegel.de oder www.faz.net vorbeischaut und sein Feierabendbier eventuell bei der Tagesschau einnimmt, dürfte sich über die Aktivitäten der eigenen Partei recht umfassend informiert fühlen. Vor diesem Hintergrund mag es vielleicht auf den ersten Blick etwas überraschen, dass die Parteien selbst nach wie vor großen Wert auf interne Kommunikation legen. Dabei dürfte es den Parteien weniger um die Vermittlung von „reinen“ Informationen gehen. Parteiinterne Kommunikation dient heute „in hohem Maße der politisch-weltanschaulichen und sozio-emotiven Selbstvergewisserung wie vor allem auch dem Aufbau affektiver und ideologischer Distanz zum Gegner“ (Sarcinelli 1998: 283). Dieser Weg der Identitätsarbeit macht nicht zuletzt deswegen Sinn, weil die Auswertung der empirischen Daten ergeben hat, dass gerade jene Mitglieder eine im Sinne organisationaler Identität „klarere“ Vorstellung von der eigenen Partei haben, welche die Informationsangebote der Partei nutzen. Für die Parteien bieten sich viele Ansätze, ihren Mitgliedern die „Einzigartigkeit“ der eigenen Partei durch interne Kommunikation zu vermitteln. In den letzten Jahren hat hier sicher die Bedeutung des Internets zugenommen. Interessant ist für die Parteien (und ihre, für interne Kommunikation zuständigen Abteilungen) nicht nur das allgemein zugängliche Internetangebot der Mutterparteien, sondern vor allem auch das Mitglieder-Intranet. Gerade dort ist gewährleistet, dass die Botschaften auch beim richtigen Empfänger, dem Mitglied, ankommen. Rücksichtnahmen auf die Befindlichkeiten der Wählerschaft im Allgemeinen fallen zumindest weniger stark aus. Weiterhin stehen den Parteien ihre Mitgliedermagazine zur Verfügung. Bei der CDU ist das UNION, bei der SPD der Vorwärts. Auch parteinahe Unterorganisationen bieten Mitgliederzeitschriften an. Die Junge Union gibt Die Entscheidung heraus, das Organ der Jusos nennt sich Argumente. Nicht zu vergessen sind die parteinahen Stiftungen, die ebenfalls Publikationen betreuen. Die Konrad-Adenauer-Stiftung vertreibt z. B. die Zeitschrift Die politische Meinung. Neben der Einengung auf eine Zielgruppe bietet die interne Kommunikation einen weiteren Vorteil an. Sie ist eine Form der direkten Kommunikation zwischen Führung und Basis und bedarf nicht der Vermittlungsleistung externer Medien. Alle diese unterschiedlichen Medien können dazu genutzt werden, ein Ziel zu verfolgen: die Kommunikation von Unterschieden. Da Deutschland nicht über ein stark fragmentiertes Parteiensystem verfügt, ist die Anzahl jener Parteien,
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von denen sich eine Partei abgrenzen muss, nicht sehr groß. Inhaltliche Ebenen, auf denen Unterschiede markiert werden können, ergeben sich aus dem empirischen Material. In jedem Fall empfiehlt sich eine übersichtliche, komplexitätsreduzierende Analyse der aktuellen Programmatik der eigenen Partei, die darauf abzielt, die Einzigartigkeit der eigenen Partei, auch im Vergleich zum Programm selbst, deutlicher und stärker herauszustellen. Bei der Darstellung aktueller Politikfelder oder von Gesetzesentwürfen ist nicht nur zu kommunizieren, warum bestimmte Positionen oder Reformen sachlich angemessen sind. Parteien müssen auch darauf Wert legen, die Distanz zwischen der eigenen Position und den Positionen der anderen Parteien darzustellen und zu zeigen, warum die geplanten Reformen die Handschrift der eigenen Partei darstellt. Als Fußnote sei hier noch angemerkt, dass Parteien und ihre Repräsentanten bei Abgrenzungsmanövern eine gewisse Form wahren sollten. Die Mitglieder wünschen sich zwar deutliche Unterschiede, aber keine generelle Verunglimpfung des Gegners oder „politisches Rowdytum“, wie es Rico Bach (SPD Brandenburg) ausgedrückt hat. Dazu sagt Ina-Maria Völkel (SPD Berlin): Weil ich wusste, dass Du kommst, bin ich mal bei Herrn Heil vorbeigesurft. Und habe sein Anschreiben gelesen. Das Wort zum Sonntag, das tatsächlich losging mit dem Satz: „Herr Glos ist ein Arschloch“. So ungefähr. Mein [betont] Gott! Wie gut, dass wir Peer Steinbrück haben und so weiter, denn Glos hat da gar keine Ahnung und überhaupt. Und das ist doch nicht adäquat. Das interessiert die Leute nicht. Wenn ich meinen Generalsekretär lesen möchte, dann möchte ich nicht lesen, dass der andere Leute fertig macht. Um sich [betont] dadurch abzusetzen von irgendwas. Nein, so nicht.
Selbstverständlich sind auch andere Dimensionen von organisationaler Identität zu berücksichtigen. Auch wenn z. B. Kohärenz keine herausragende Relevanz durch die Mitglieder zugeschrieben wird, dürfte es für die Parteien nicht von Nachteil sein, die Vermittlung eines möglichst kohärenten Erscheinungsbilds anzustreben. Ein Ziel intraorganisationaler Identitätsarbeit sollte es demnach auch sein, immer wieder überzeugend aufzuzeigen, wie sich die Kernmerkmale der Parteien, vor allem zentrale Wertvorstellungen, im praktischen Handeln der Parteien, in konkret benennbaren Politikfeldern niederschlagen. Wie intraorganisationale Identitätsarbeit in den Parteien aussehen kann, hat das Mitgliedermagazin der CDU, UNION, in seiner ersten Ausgabe aus dem Jahr 2007 vorgemacht. Auf einer Seite des Mitgliedermagazins wird die organisationale Identität der CDU definiert. Vor allem ist eine Konstruktion von Zentralität zu sehen. Aus den vielen theoretisch möglichen Assoziationen, die mit der CDU in Verbindung gebracht werden können, wird ein hierarchisches Konstrukt heraus kondensiert. Als Sockel fungiert das christliche Menschenbild. Auf diesem Fundament stehen, grafisch illustriert, die Säulen der Solidarität, der Gerechtigkeit und der Freiheit. Um die Abbildung in Sachen Identität vollständig werden
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zu lassen, hätte noch beschrieben werden müssen, wodurch sich die CDU einzigartig macht und welche der genannten Inhalte schon immer von der CDU vertreten worden sind.
Abbildung 16: Identitätsarbeit der CDU52 52 Quelle: Union Magazin Ausgabe 1 (2007), S. 36.
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Kritisch bleibt anzumerken, dass dieser Definition von der Identität der CDU in der Mitgliederzeitschrift nur wenig Platz eingeräumt wurde. Neben aktuellen Meldungen, Ausführungen zur neuesten Werbekampagne, Personalien, Leserbriefen, Erläuterungen der Familienpolitik, einer Diskussion des Nachhaltigkeitsbegriffes und neuesten europapolitischen Entwicklungen spielt das Thema Identität der CDU im Heft nur eine Nebenrolle. Letztlich können Parteien nur an jenen Stellschrauben ansetzen, auf die sie auch wirklich Zugriff haben. So wissen wir, dass das Verfügen über zeitliche Ressourcen eine Grundvoraussetzung dafür ist, sich mit den Publikationen der Parteien und den darin enthaltenen Selbstdarstellungen zu beschäftigen. Über die Freizeit ihrer Mitglieder kann eine Partei nicht bestimmen. Auch die Art der beruflichen Ausbildung und die Art des Engagements können zur Akkumulierung „identitätsrelevanten“ Wissens führen. Hier haben Parteien ebenfalls keine Einflussmöglichkeiten. Aber die Vermittlung von Wissen kann auch auf andere Art geleistet werden. Im Zusammenhang mit organisationaler Identität könnte deren Diffusion auf Mitgliederebene auch dadurch vorgebeugt werden, dass die Mitgliederfortbildung dezidiert das Erscheinungsbild der eigenen Partei umfasst. Die der CDU nahestehende Konrad-Adenauer-Stiftung hat auf diese Erfordernisse bereits reagiert und bietet im Rahmen ihres politischen Bildungsprogramms auch Seminare mit dem Titel „Die CDU – liberal, christlich-sozial und konservativ“ an. „Was ist eigentlich das inhaltliche Profil der Union? Welche politischen Strömungen gibt es in ihr und wie steht es um die innerparteiliche Debatte? Braucht die CDU Geschlossenheit oder Diskussion?“ heißt es zum Fahrplan der Veranstaltung. Solche Seminare müssten der Spezifik organisationaler Identität Rechnung tragen. Das heißt, es geht nicht nur darum, eine Summe von Merkmalen („liberal, christlich-sozial und konservativ“) zu diskutieren, sondern auch überzeugend herauszuarbeiten, welche Merkmale die Partei einzigartig machen und welche Merkmale im Laufe der Zeit gleich geblieben sind.53 5.5.5 Grenzen strategischer Identitätsarbeit Als große Teile dieser Arbeit verfasst waren, hat der Autor eine Studie von Otto Harder wiederentdeckt. Harder stellte in seiner Dissertationsschrift zunächst theoretische Überlegungen zur Identität von Parteien an. Seine Überlegungen münden allerdings in einem detaillierten Maßnahmenkatalog zur Bildung der 53 In diesem Zusammenhang wären unbedingt auch die Erkenntnisse aus Kapitel 4.2 zu berücksichtigen. Vielleicht gelingt es den Parteien im Rahmen identitätsorientierter Fortbildungsmaßnahmen, ihren Mitgliedern den Zugriff auf Coping-Strategien zu erleichtern, mittels derer Diffusion organisationaler Identität im Dialog mit sich selbst und anderen „entschärft“ werden kann.
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„Parteipersönlichkeit“ (Harder 1985: 111ff.). Diese beginne bei der „Identitätsfixierung“, sodann habe eine Identitätsevaluation durch die Parteiführung zu erfolgen und schließlich sei eine „Implementierung der Parteipersönlichkeit im Bewusstsein der Mitglieder und Mitarbeiter“ vorzunehmen. Ein ähnliches Modell der Identitätsarbeit in Parteien findet sich, in Anklängen, auch bei Sebastian Buckow und Stephan Rammelt (2003: 102ff.). Beide Arbeiten suggerieren, dass Identitätsarbeit durch entsprechende Akteure der Partei (vor allem auf der Führungsebene) umfassend gesteuert werden kann. Dabei blenden beide Arbeiten einen externen Akteur aus, der die Steuerbarkeit interner Identitätsarbeit bei Parteien insgesamt Grenzen setzt: die Medien. So wie Selbstkonzeptionen eines Individuums nur dann Geltung erlangen, wenn sie von signifikanten Anderen anerkannt werden, so müssen sich auch die Identitätskonstruktionen von Eliten mit einer externen Zuhörerschaft auseinandersetzen. Linda Ginzel, Rod Kramer und Bob Sutton (2004: 242) drücken diese Dynamik so aus: An organization’s image represents a collaborative social construction between an organization’s top management and the multiple actors who comprise the organizational audiences. A particular interpretation of an organization’s image may be proposed by top management, but that interpretation must in turn be endorsed, or at the very least not rejected, by their various audiences if it is to persist.
Zur „organizational audience“ gehören zum einen die Akteure, die mit der Organisation Ressourcen austauschen, also andere Parteien und natürlich die Gruppe der Wähler. Die „audience“ umfasst aber, so drücken es Ginzel und andere aus, auch Gruppen, die Legitimation erteilen und entziehen können. Alle diese unterschiedlichen Fraktionen können potenziell die Identitätskonstrukte der Organisation akzeptieren, herausfordern oder zurückweisen. Ginzel, Kramer und Sutton (2004: 230) unterteilen die Zuhörerschaft einer Organisation danach in „antagonistic audience members“ und „sympathetic audience members“. Da die Medien bei der Vermittlung von Politik insgesamt eine wichtige Rolle spielen und damit auch am öffentlichen Erscheinungsbild der Parteien mitwirken, dürften sie in jedem Fall zur identitätsrelevanten Audience der Parteien gehören: „The media put together a specific picture of the competing parties and the relevant issues that (...) is likely to become a significant factor for the audience perception of political reality” (Eilders et al. 2004: 219). Und es besteht Grund zu der Annahme, dass Medien eher dem antagonistischen Teil der Zuhörerschaft zuzurechnen sind. Medien haben kein grundsätzliches Interesse daran, Parteien zu schaden und diese, wo immer es geht, negativ darzustellen. Medien zielen in erster Linie darauf ab, einen möglichst hohen Rezipientenkreis für ihre Produkte zu erschlie-
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ßen. Für öffentlich-rechtliche Medien ergibt sich daraus die Legitimation ihres Schaffens; private Eigentümer von Fernsehsendern, Radiostationen oder Printmedien steigern durch die Maximierung der Rezipientenzahl ihre Einnahmen durch den Absatz ihrer Produkte und eine Steigerung der Werbeerlöse. Mit diesen Zielsetzungen scheinen bestimmte Regeln für die Darstellung von Politik im Allgemeinen und die politischen Parteien im Besonderen verbunden zu sein. Eilders und andere (2004: 221) weisen darauf hin, dass die mediale Berichterstattung über Parteien einerseits durch eine deutliche Personalisierung gekennzeichnet sei. Andererseits ließe sich ein Trend zum Negativismus erkennen, und insbesondere Konflikte würden als besonders „newsworthy“ erachtet. Unter dem Strich führe diese mediale Selektions- und Präsentationslogik zu einem oftmals verzerrten Bild der Parteien in der Öffentlichkeit („distorted picture of the competing parties“). Unterstellt man den Medien tatsächlich ein besonderes Interesse an Bereichen, Ereignissen oder Akteuren, die ein besonders hohes Maß an Konflikten aufweisen, so dürften sich Parteien als idealer Kommunikationsgegenstand erweisen. Besondere Medienaufmerksamkeit haben schon immer die persönlichen Auseinandersetzungen zwischen den Spitzenrepräsentanten einer Partei gefunden (Wehner gegen Brandt, Geißler gegen Kohl, Merkel gegen Koch, Schröder gegen Lafontaine, Westerwelle gegen Möllemann usw.). Medial interessante Kontroversen entzünden sich unter den Fraktionen innerhalb der Partei entlang der Horizontalen (Mittelstand vs. Arbeitnehmerflügel, Seeheimer vs. Parlamentarische Linke, Fundis vs. Realos) und Vertikalen (Basis gegen Führung). Konflikte können aber auch jenseits der Ebene benennbarer Parteiakteure gesucht werden. Hier dürfte die Inszenierung und Verstärkung von Widersprüchen auf der Werteebene ebenso interessant sein, wie der fortgesetzte Nachweis, dass sich die Parteien von heute nicht mehr richtig unterscheiden. Dass die mediale Berichterstattung gerade an dieser Dimension des Erscheinungsbildes von Parteien Interesse hat, hat Kapitel 2.2.2 gezeigt. Das parteiinterne Identitätsmanagement, so wie es Harder, Buckow und Rammelt im Sinn haben, könnte nur dann deutliche Effekte erzielen, wenn (1.) die Medien kontrolliert werden, oder sich (2.) die Mitglieder der Parteien außerhalb der medialen Öffentlichkeit bewegen. Beides ist natürlich nicht der Fall. So wird Identitätsarbeit als Spielart innerparteilicher Kommunikation von „Öffentlichkeiten überlagert, die von externen Akteuren organisiert werden und auf welche die Parteien keinen gestaltenden Einfluss ausüben können“ (von Alemann/Marschall 2002: 26f.). Die Implementierung der „Parteienpersönlichkeit im Bewusstsein der Mitglieder“ (Harder) ist also eine mehr als diffizile Angelegenheit. Parteimitglieder sind keine Sektenanhänger, die isoliert von der Wirklichkeit leben. Wie der Rest der Gesellschaft partizipieren sie mehr oder
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weniger am öffentlichen Diskurs um das Erscheinungsbild der eigenen Partei. Das hinterlässt zwangsläufig Spuren auch bei der Konstruktion von organisationaler Identität durch die Mitglieder. Vielleicht können die mediale Konstruktion von politischer Wirklichkeit und deren Auswirkung auch ein Beitrag zu der Erklärung sein, warum Diffusion organisationaler Identität bei vielen Menschen eine Tatsache ist, obwohl scheinbar objektive Indikatoren das Gegenteil behaupten. Während der Midterm Elections, die 1998 in den Vereinigten Staaten stattfanden, gaben im Rahmen des National Election Study Survey rund 50 Prozent der Befragten an, keine Unterschiede zwischen den großen Parteien der USA erkennen zu können. Im gleichen Zeitraum zeigten Forschungsarbeiten zum Stimmverhalten im USamerikanischen House of Congress eine deutliche Polarisierung der großen Parteien entlang zentraler Themenbereiche (Spiliotes/Vavreck 2002: 2). 5.5.6 Identität ist wichtig – aber andere Faktoren sind es auch Am Beispiel der Identitätsdimension Unterscheidbarkeit sollte im letzten Abschnitt gezeigt werden, wie schwer organisationale Identitätsarbeit gerade bei politischen Parteien sein kann. Buckow und Rammelt (2003: 103f.) weisen zu Recht auf die Wichtigkeit von Identität für Parteien hin. Diese wirke unabhängig von Einzelentscheidungen und Situationen integrierend und stabilisierend auf die parteiinterne Konstitution, stärke Glaubwürdigkeit der Organisation bei den Mitgliedern, intensiviert das Vertrauen der Parteigänger und steigere das parteiinterne Wir-Gefühl, die Loyalität, die Kooperationsgemeinschaft sowie die Motivation. Wie aber durch die Parteien und deren relevante Akteure ein „kreativer Kommunikationsprozess“ gestaltet und gesteuert werden kann, der „einen Ausgleich und eine Balance zwischen den verschiedenen Ansprüchen und Erwartungen der einzelnen interagierenden Akteure herstellt und die Entwicklung einer ganz eigenen, unterscheidbaren Identität beinhaltet“, bleibt bei Buckow und Rammelt eine offene Frage. In der Theorie können Modelle zum Identitätsmanagement in Parteien umschrieben werden. In der Praxis jedoch stößt die Implementierung dieser Strategien auf Hindernisse, die sich die Parteien z. T. (durch ihre Zielsetzung) selbst in den Weg stellen. Aber auch externe Hindernisse – von institutionellen Rahmenbedingungen bis hin zur Deutungsmacht der Medien hinsichtlich des Erscheinungsbildes einer Partei und ihrer Konstruktion politischer Wirklichkeit – lassen es insgesamt fraglich erscheinen, ob Parteien überhaupt dazu in der Lage sind, ihr internes und externes Erscheinungsbild (nach den Kriterien organisationaler Identität) strategisch zu steuern. Diese begrenzte Steuerungsfähigkeit mag ein erster Grund dafür sein, warum der ganze Komplex
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Erscheinungsbild, Image und organisationale Identität bei den gegenwärtigen Strategien der Parteien zur Mitgliederakquise und Mitgliederbindung keine hervorgehobene Rolle spielt. Die Jahrestagung des Arbeitskreises Parteienforschung der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) stand im Jahr 2007 unter dem Titel „Zukunft der Mitgliederpartei“. Auf die Vorträge der Wissenschaftler folgte abends eine Podiumsdiskussion mit den Mitgliederbeauftragten und Bundesgeschäftsführern der großen Parteien. Die Repräsentanten aller Parteien machten gleich zu Beginn ihrer Statements deutlich, dass die Mitglieder keinesfalls, wie von manchen Forschern behauptet, an Bedeutung verloren hätten (Jun/Niedermayer/Wiesendahl 2009: 251 ff.). Für Frank Niebuhr (CDU) waren die Mitglieder der „Ideenmotor der Partei. Die Programmatik einer Partei entwickelt sich aus der Mitgliederbasis heraus. Die politische Willensbildung (…) kann nur mithilfe unserer Parteimitglieder funktionieren“. Deswegen fühle sich gerade die CDU Deutschlands herausgefordert, „dem allgemeinen gesellschaftlichen Trend des Mitgliederschwundes (…) entgegenzuwirken“. Diese Einschätzung von der wichtigen Funktion von Parteimitgliedern teilte auch Niebuhrs Kollege Martin Gorholt von der SPD: „Die SPD als Volkspartei muss volksnah bleiben. Sie muss eine Partei mit möglichst vielen Mitgliedern bleiben, um über die Mitglieder die Verankerung in der Gesellschaft zu sichern“. Besonders aktiv sind die Parteien bei der Werbung von Neumitgliedern. Die CDU hat hier einerseits eine Mitgliederkampagne gefahren, die den Titel „Farbe bekennen“ trägt. Mitglieder vor Ort sollen gezielt Bürger ansprechen, die für einen Beitritt zur CDU infrage gekommen. Die Bundesgeschäftsstelle unterstützt die werbenden Mitglieder vor Ort z. B. durch Schulungsveranstaltungen. Andererseits berichtet Niebuhr auf der Jahrestagung von einem Modellprojekt in Barnim (Brandenburg). Dort führten aktive CDU-Mitglieder vor Ort „Ideenkonferenzen“ durch, in denen jeder Bürger aus seinem Lebensumfeld konkrete Vorhaben nennen sollte, deren Umsetzung ihm unter den Nägeln brannte. Die Ideen wurden von CDU-Aktiven vor Ort gebündelt und in zeitlich begrenzte Projekte umgesetzt. Am Ende der Projekte wurde den Bürgern eine Mitgliedschaft in der Partei „angeboten“. Auch die SPD hat sich in der letzten Zeit einiges einfallen lassen, um mehr Bürger zu einem Eintritt in die Partei zu bewegen. Im Unterschied zur CDU bietet die SPD z. B. nach wie vor eine „Schnuppermitgliedschaft“ an. Sie soll den Bürgern die Schwellenangst eines Parteibeitritts nehmen. Um Mitglieder nach dem Eintritt dauerhaft zu binden und sie (im Idealfall) zu einer aktiven Mitarbeit zu bewegen, setzen beide Parteien darüber hinaus auf eine Reform der innerparteilichen Partizipationsstrukturen. Auf dem Parteitag von Leipzig verabschiedete die CDU mit dem Parteitagsbeschluss „Bürgerpartei“ einen Ausbau von Mitwirkungs- und Entscheidungsrechten der Basis. So
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wurde das Mitgliederprinzip deutlich erweitert. Auch die SPD setzt auf eine Attraktivitätssteigerung der Parteistrukturen, die durch „mehr projektbezogenes Arbeiten und durch Formen direkter Demokratie“ (Gorholt) gesteigert werden soll. Weiterhin streben beide Parteien durch die Verbesserung innerparteilicher Kommunikation via Internet nach Mitgliederbindung. „Neben unserem schon seit vielen Jahren vorhandenen exklusiven Intranetangebot für unsere Mitglieder haben wir z. B. im Rahmen unserer Grundsatzprogrammdiskussion sehr erfolgreich virtuelle Arbeitskreise angeboten, über die sich unsere Mitglieder über das Internet in den Diskussionsprozess einschalten konnten“, erklärt Niebuhr. Die SPD wiederum hat die Internetplattform www.meinespd.net ins Leben gerufen. Diese Plattform soll eine „Community“ darstellen, die es nach den Angaben der Partei den „Interessierten in und um unsere Bewegung herum ermöglicht, sich untereinander unkompliziert und schnell zu vernetzen, auf unsere Informationen zuzugreifen und gemeinsame Aktionen vorzubereiten und durchzuführen“. Gleichzeitig sei „www.meineSPD.net der neue Servicekanal für alle Parteimitglieder - mit Arbeitsgrundlagen und Hilfestellungen zur Parteiarbeit“.54
Abbildung 17: Mitgliederwerbung der deutschen Großparteien55 Ob die eben skizzierten Initiativen der Parteien zur Neumitgliederwerbung und Altmitgliederbindung dazu beitragen werden, den negativen Trend bei der Mitgliederentwicklung umzukehren und wieder mehr Mitglieder zur aktiven Mitarbeit zu bewegen, mag dahingestellt bleiben. In jedem Fall berücksichtigen sie die Erkenntnisse der Parteien- und Parteimitgliederforschung. Auch diese Studie hat – anhand der Fallstudie Berta Brehmer – gezeigt, dass viele Bürger in der Mitgliedschaft ein Mittel zum Zweck der Lösung konkreter lebensweltlicher Probleme sehen. Vor diesem Hintergrund macht es Sinn, dass die Parteien diesen 54 Vgl. http://www.spd.de/de/partei/mitmachen/sicheinmischen/index.html. 55 Quellen: https://www.spd.de/ webflow/ Partei/Mitglied_werden/ 3210/ gastmitglied-werden. html? execution =e1s1, http://www.mitglied-werden.cdu.de/page/17.htm.
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Anreiz bei der Mitgliederwerbung mehr denn je deutlich betonen. Der Einzelfall Jürgen Rohland hat wiederum deutlich gemacht, dass Mitglieder nicht nur zum politischen Meinungsaustausch zusammenkommen, sondern das Gefühl brauchen, in der eigenen Partei etwas bewegen zu können. Wenn die Parteien vor diesem Hintergrund immer wieder nach Möglichkeiten suchen, innerparteilich mehr Demokratie zu wagen, so ist dies einer dauerhaften Mitgliederbindung durchaus zuträglich. Da die großen Volksparteien nach wie vor an den Schaltstellen der Macht sitzen, dürfte der instrumentelle Nutzen einer Parteimitgliedschaft ohnehin weiter gegeben sein, ohne dass die Parteien gesondert darauf hinweisen müssten. In der Theorie werden Voraussetzungen des Beitritts, eines aktiven innerparteilichen Engagements und einer engen Bindung zwischen Mitglied und Partei oft, je nach konzeptionellem Hintergrund, isoliert voneinander betrachtet. Empirische Mitgliederstudie zeigen, dass in der Praxis oft ein Motivbündel zum Eintritt veranlasst und hinter dem aktiven Engagement steht (z. B. MüllerRogg/Gabriel 2004). Es gibt also selten den einzigen Grund, einer Partei beizutreten, noch den einzigen Grund, in ihr zu arbeiten. Parteien tun daher gut daran, bei der Mitgliederwerbung und Mitgliederbetreuung einen integrierten Kurs zu fahren, der diese Vielfalt der Beweggründe berücksichtigt. Beim hohen Grad an Professionalisierung, der die Parteiführungen heute auszeichnet, kann vermutet werden, dass sich auch die Mitgliederwerbung und – betreuung längst an wissenschaftlichen Erkenntnissen ausrichtet. So wie in der Mitgliederforschung heute Anreiz-basierte Modelle zur Erklärung von Mitgliederengagement dominieren, so nehmen Parteien Engagement als Handlungstypus wahr, der mit Kosten und Nutzen verbunden ist. Bei ihrer Neumitgliederwerbung und Altmitgliederpflege setzen die Parteien auf die Kommunikation selektiver Anreize. Der Mittelcharakter des Engagements, etwa zur Lösung auch lebensweltlich verankerter Probleme, wird betont. Zu dieser Herangehensweise, die immer wieder auf den Mehrwert einer individuellen Mitgliedschaft (die Parteien zählen dazu auch Persönlichkeitsbildung, Geselligkeit und sozialen Austausch) verweist, wird es auch in Zukunft wenige Alternativen geben. Darüber darf aber nicht vergessen werden, dass Engagement auch vom Verfügen über bestimmte Ressourcen abhängt. Für Parteien mag diese Perspektive auf Mitgliederengagement zunächst wenig attraktiv erscheinen, haben sie kaum – wenn überhaupt, so nur äußerst mittelbar – einen Einfluss auf die Ressourcenausstattung ihrer Mitglieder, zumindest was ökonomisches und kulturelles Kapital (inklusive Bildung) betrifft. Wie wir gesehen haben, lässt sich der Ressourcenbegriff aber auch weiter fassen. Ressourcen können auch in kognitiven Fähigkeiten bestehen, mittels derer Sachverhalte und Informationen strukturiert werden können. Organisationale Identität kann als solche Fähigkeit begriffen werden. Diese
Sozialforschung zwischen Theorie und Praxis – ein persönlicher Rückblick 281 Ressourcen können, so zumindest legt es diese Arbeit nahe, durch interne Kommunikation und eine zugeschnittene Mitgliederfortbildung gestärkt werden. Für die akademische Parteienforschung stellt sich die Aufgabe, den Faktor organisationale Identität gerade in seiner Bedeutung für die Mitgliederbindung weiter zu analysieren, sodass er in Zukunft auch von den Parteien besser berücksichtigt werden kann. Denn vielleicht weist die hier beschriebene Perspektive einen Weg, der mittelfristig auch den Parteien dabei helfen kann, wieder mehr Menschen zum Eintritt und zur aktiven Mitarbeit in einer Partei zu bewegen. Dabei geht es weniger um das Überleben und den Erfolg einer bestimmten Partei an sich, sondern um die Sicherstellung einer Verbindung von Bürger und Gemeinwesen, von der eine Demokratie lebt. 5.6 Sozialforschung zwischen Theorie und Praxis – ein persönlicher Rückblick Das Fazit des Verfassers fällt im Grundsatz positiv aus. Es ist letztlich gelungen, formulierte Forschungsfragen zu beantworten, einen Forschungsprozess vom Anfang bis zum Ende durchzuführen, von der Lektüre der theoretischen Texte, über das Eingrenzen der Fragestellung und der Datenerhebung und Datenauswertung bis zur Interpretation der Ergebnisse und Skizzen zukünftiger Forschungsprojekte. Die empirische Forschung gleicht dabei immer ein wenig der Wanderung über eine unbekannte, unentdeckte Insel. Dabei wird der Wanderer mit vielen Schwierigkeiten konfrontiert. Auf manche konnte man sich vorbereiten. Andere wiederum tauchten überraschend auf. Heine von Alemann hat diese Wanderung der Wissenschaft einmal humorvoll in einer Grafik zusammengefasst. 56 Um die Insel der Forschung von Küste zu Küste zu durchqueren, muss man sich die Kräfte einteilen und auch bei unbekannten Weggabelungen zeitnahe Entscheidungen treffen, um Ressourcen zu schonen. Die sozialwissenschaftliche Identitätstheorie war dafür eine nicht immer handliche Landkarte, zumindest ein Plan mit kleinem Maßstab. Die Beschaffenheit des Diskurses war vorab bekannt. Viele unterschiedliche Definitionen, die sich inhaltlich widersprechen, machten eine Entscheidung für einen bestimmten theoretischen Begriff, mit dem gearbeitet werden sollte, lange Zeit schwierig. So wurden viele Texte gelesen, um am Ende zu einer einfachen Definition zurückzukehren, die ihrerseits immer noch ihre Fallstricke hatte. Auch kontroverse Begriffe wie Identität kann man „in den Griff bekommen“. Zu deren Klärung darf aber nicht zu viel Zeit geopfert wer56 Quelle: http://www.refonet.de/support/documents/InselderForschung.pdf.
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den, denn eine Explikation der Bedeutungsgehalte von Leitbegriffen bei empirisch angelegten Forschungsvorhaben ist kein Selbstzweck. Wer sich am Anfang bereits in terminologischen Untiefen verirrt, verliert kostbare Zeit, die im weiteren Verlauf des Projektes kaum gutgemacht werden kann. Eine weitere Herausforderung bleibt die „Kunstlehre“ der qualitativen Sozialforschung. Wer qualitativ forscht, wird gerade in der Politikwissenschaft schnell merken, dass diese Spielart der Sozialforschung nicht das beste Ansehen genießt. Wo bleiben die verallgemeinerbaren Ergebnisse? Leist die Forschungsanlage nicht subjektivistischen Schlüssen Vorschub? All dies sind Fragen, mit denen man auf Kolloquien und Konferenzen konfrontiert werden wird. Andererseits sind qualitative Projekte mit erheblichem Aufwand verbunden. Das bedarf einer gesonderten Erwähnung, da die für diese Projekte typische, vergleichsweise geringe Zahl der Befragten möglicherweise einen geringeren Arbeitsaufwand suggerieren mag. Dies ist definitiv nicht der Fall. Alleine eine traditionelle, also per Tonbandgerät und Fußpedal vorgenommene Verschriftlichung des Datenmaterials von rund 30 Interviews kann lange Wochen, ja Monate in Anspruch nehmen. Diese Zeit lässt sich durch den Einsatz moderner Software einsparen. Ratsam ist zudem, sich die Interviews von einer professionellen Fachkraft verschriftlichen zu lassen. Sicher sind damit Mehrkosten verbunden. Aber dieses Geld ist gut angelegt. Die Wochen vor Beginn der Auswertung können in der Zwischenzeit dazu genutzt werden, um auf die Theorie zurückzuschauen, erste Verschriftlichungen anzufertigen und die Auswertung früher vorzubereiten. Auf zwei weitere Besonderheiten der qualitativen Sozialforschung ist ebenfalls zu verweisen. Zum Wesen qualitativer Projekte gehört es, den Perspektiven der Befragten große Bedeutung zu schenken. Diese Ausrichtung an den Relevanzsetzungen der Befragten bringt es mit sich, dass sich diese Relevanzen auch in den Ergebnissen niederschlagen. Während manche Themengebiete in den Gesprächen große Aufmerksamkeit erfahren, fallen die Aussagen in anderen Bereichen eines Forschungsgegenstandes knapp aus. Relevanzsetzungen des Feldes entsprechen nicht immer den Relevanzsetzungen des Forschers. So kann es passieren, dass sich zu einem thematischen Untergebiet, für das sich der Forscher im Rahmen des Projektes interessiert, nur wenige verwendungsfähige Aussagen finden. Diese Unwucht lässt sich in qualitativen Forschungsanlagen leider nicht verhindern. Die andere erwähnenswerte Eigenheit des qualitativen Forschens betrifft eher die Praxis der Forschung, weniger die Ergebnisse, die daraus hervorgehen. Gerade bei der qualitativen Forschung beginnt die „eigentliche“ Arbeit der Auswertung erst dann, wenn man mit dem Literatur-Review, der Klärung der Leitbegriffe, dem Aufstellen der Forschungsfrage, der Konstruktion des Designs und der Fragebögen, der Kontaktherstellung, der Interviewdurchführung und der
Danksagung
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Verschriftlichung schon sehr viele aufwendige Arbeitsschritte hinter sich hat. Es geht hier nicht um ein Aufrechnen von Arbeitsintensität; der Aufwand ist auch bei statistischen Arbeiten immens. Aber dort werden basale Zusammenhänge vielleicht schneller sichtbar. Währenddessen müssen diese Beziehungen bei der kategoriellen Inhaltsanalyse erst mühsam Stück für Stück interpretativ aus dem Material herausgearbeitet werden. Gleiches gilt für die Sequenzanalyse. Die interpretative Arbeit kann, je nach Umfang des Sample, Monate dauern und bedarf eines fortgesetzt hohen Maßes an Aufmerksamkeit, Motivation und Lust an interpretativer Fein(st)arbeit. Diese Anforderungen an Konzentration und Motivation entsprechen nicht immer den Aufmerksamkeits- und Energieressourcen des Forschers, die im Laufe der Forschung zwangsläufig abnehmen. So wächst am Ende der Drang, „abzukürzen“, schließlich stehen noch Aufbereitung und Verschriftlichung der Ergebnisse an – und man muss doch mit der Interpretation weitermachen. Was die Forschung zum Ende hin erschwerte, war die Frage, wann das Weitermachen zu Ende, die Datenauswertung abgeschlossen ist. Nimmt man die für die qualitative Sozialforschung prägende Prämisse des hermeneutischen Zirkels ernst, so vollzieht sich der Erkenntnisfortschritt als beständiges Pendeln zwischen Vorverständnis und Textverständnis, das im Prinzip ad infinitum vorangetrieben werden kann. Auch in diesem Projekt fanden sich immer wieder neue Wege, die es zu gehen lohnt. Irgendwann aber ist es an der Zeit, diese Wege Wege sein zu lassen. Die Methodenliteratur ist hier nicht wirklich hilfreich. Zu Ende sei eine Forschung, notierten Immy Holloway und Stephanie Wheeler einmal, wenn keine neuen Kategorien mehr gefunden werden und sich dem Forscher keine neuen Fragen stellen. So gesehen müsste der Verfasser dieser Arbeit immer noch über der Datenauswertung grübeln. 5.7 Danksagung Forschung, so hat es Anselm Strauss einmal formuliert, „ist harte Arbeit, es ist immer ein Stück Leiden damit verbunden. Deshalb muss es auf der anderen Seite Spaß machen“. Dem ist wenig hinzuzufügen. Spaß hat die Arbeit vor allem dann gemacht, wenn Resultate der Arbeit öffentlich vorgestellt werden konnten und man die Möglichkeit hatte, Ergebnisse im Dialog mit anderen Menschen zu diskutieren, ohne deren vielfältige Hilfe in allen Lebenslagen diese Arbeit nicht hätte abgeschlossen werden können. Hier ist in allererster Linie Prof. Dr. Walter Reese-Schäfer gemeint. Er übernahm die Betreuung des Projektes in einer für mich schwierigen Phase, er stand mir bis zum Abschluss der Arbeit jederzeit unermüdlich mit Rat und Tat zur Seite und gab mir immer das Gefühl, auf dem
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richtigen Weg zu sein. Ohne dieses Gefühl wäre das vorliegende Unterfangen nie zum Ende gekommen. Für seine beständige Unterstützung und die Übernahme der Zweitkorrektur danke ich Prof. Dr. Thomas von Winter. Prof. Dr. Matthias Koenig und PD Dr. Peter W. Schulze haben sich als Mitglieder des Thesis Committee zur Verfügung gestellt. Danken möchte ich auch Dr. Daniela Tandecki, stellvertretend für die Konrad-Adenauer-Stiftung, die dieses Projekt finanziell gefördert hat. Das Vertrauen, die materielle und die ideelle Unterstützung der Stiftung sind für dieses Projekt unverzichtbar gewesen. In seinem Porträt des Schriftstellers Ronald Schernikau hat der Autor Matthias Frings auch über die eigenen Erfahrungen mit dem Arbeiten an längeren literarischen Projekten geschrieben. Er notiert dazu: Zusätzlich traf mich ein weiteres Klischee mit voller Härte: Schreiben macht einsam. In Filmen schaut das immer hübsch elegisch aus, der Schriftsteller allein mit sich und der Literatur. Die Wirklichkeit war grauer. Nach dem Frühstück ran an den Schreibtisch, ran an die Buchstaben. Tage, Wochen, Monate. Immer derselbe Tisch, immer dasselbe Fenster, der Blick nach draußen, mal Laub an den Bäumen, mal Schnee. Genügend Zeit, um eine Paranoia zu entwickeln. Dasistnichtgutgenug war mein Mantra, gesteigert durch ein hämisches Dubistnichtgutgenug.
Nach einigen Jahren Arbeit an diesem Projekt kann ich nachvollziehen, was Frings mit diesen Mantren meinte. Dass ich ihnen letztlich nicht nachgegeben habe, ist auch der Unterstützung meiner Freunde zu verdanken. Für unzähliges Schulterklopfen, aufrichtiges Interesse und tatkräftige praktische Unterstützung danke ich Indra Büttner und Carsten Thiele, Ildikó Kieburg-Diehl und Wolfgang Diehl, Björn Lüttmann, Tamara und Daniel Pölkemann, Martin Rokitzki und Dr. Katharina Wiehe. Ich hoffe, dass ich niemanden vergessen habe. Vieles an Inspiration für dieses Projekt habe ich aus einem Forschungsaufenthalt an der Columbia University (New York) mitgenommen, der ohne Mithilfe von Prof. Dr. Volker R. Berghahn und Prof. Charles H. Tilly nie zustande gekommen wäre. Prof. Dr. Uwe Jun, Prof. Dr. Oskar Niedermayer und Prof. Dr. Elmar Wiesendahl vom Arbeitskreis Parteienforschung der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaften sowie Dr. Dan Hough und der International Association for the Study of German Politics danke ich für die Möglichkeit, dieses Projekt einer breiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorstellen zu dürfen. Weiterhin gilt mein Dank Karsten und Suzy Nippe für das engagierte Korrekturlesen sowie Alexander Grapentin (SPD-Bundesgeschäftsstelle), Michael Grosse-Brömer MdB, Prof. Dr. Steffen M. Kühnel (stellvertretend für das Dekanat Sozialwissenschaften der Georg-August-Universität Göttingen), Christiane Lang (CDU-Bundesgeschäftsstelle), Emanuel Ionescu, Prof. Dr. Werner Patzelt, Karen Reinfeld (Verlag Barbara Budrich), Priska Schorlemmer, Dr. Gabriele Sturm und Klaus Stuttmann. Und selbstverständlich gilt der Dank allen
Danksagung
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Mitgliedern von CDU und SPD, die sich für ein Interview zur Verfügung gestellt haben. Drei Menschen habe ich bis jetzt ausgespart. Ihnen bin ich zu ganz besonderem Dank verpflichtet. Das sind zum einen meine Eltern Anneliese und Siegfried Junge. Und das ist Dr. Christine Nippe, meine Lebensgefährtin. Um den Beitrag dieser drei zu der hier vorgelegten Arbeit angemessen zu würdigen, müsste eigentlich ein eigenes Buch geschrieben werden. Daher sei ihnen stattdessen diese Arbeit gewidmet.
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