Pferdemaler Charles Todd hat sich auf ein gemütliches Wochenende bei seinem Cousin eingestellt. Dieser jedoch empfängt ...
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Pferdemaler Charles Todd hat sich auf ein gemütliches Wochenende bei seinem Cousin eingestellt. Dieser jedoch empfängt ihn tief verstört – denn vor wenigen Stunden ist gerade seine Ehefrau ermordet worden. Der Verdacht der Polizei fällt schon bald auf Donald, der nicht die Kraft hat, die Vorwürfe zurückzuweisen. Todd scheut weder Mühe noch Gefahr, um Donalds Unschuld zu beweisen. Skrupellosen Kunsthändlern auf der Spur, reist er durch ganz Australien. Doch seine Nachforschungen bleiben nicht unbemerkt, und bald wird der Verfolger zum Verfolgten...
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Dick Francis
Gefälscht
Roman
Aus dem Englischen von
Malte Krutzsch
Diogenes
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Titel der 1976 bei
Michael Joseph Ltd., London,
erschienenen Originalausgabe: ›In the Frame‹
Copyright © 1976, 1996 by Dick Francis
Die deutsche Erstausgabe erschien 1977 unter
dem Titel ›Die ganze Palette des Todes‹
im Ullstein Verlag, Frankfurt/M., Berlin
Umschlagillustration von
Tomi Ungerer
Für Caroline, die fest schläft
Neuübersetzung Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 2001
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
250/01/52/1
ISBN 3 257 23309 4
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Mein Dank geht an den
australischen Maler Michael Jeffrey
und den tschechischen Maler Josef Jira,
die mir Einblick in ihre Ateliers,
ihre Arbeitsweise, ihr Denken und
ihr Leben gewährt haben.
Dank auch an die vielen Kunstgalerien,
die mir bereitwillig Auskunft gegeben haben,
besonders an Peter Johnson von
Oscar & Peter Johnson, London SWI,
und die Stud and Stable Gallery
in Ascot.
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Vorwort Die Idee zu diesem Buch entstand in der Tschechoslowakei; in Australien und Neuseeland nahm es Konturen an, und geschrieben wurde es in England. Zusammen mit der bemerkenswerten Brandwundenspezialistin, die in ihrer Freizeit meine Bücher ins Tschechische übersetzt, schauten wir (meine Frau Mary und ich) bei einem ihr bekannten Maler vorbei. Sie nahm uns kurz in sein Atelier mit, wo Gemälde von unerhörter Leidenschaft und farblicher Kraft auf unsere Sinne einstürmten – Bilder, deren häufig wiederkehrendes Thema offenbar die Speisung der Fünftausend durch ein paar Fische war. Da der Künstler kein Englisch sprach und wir kein Wort Tschechisch, war es etwas schwierig, nach dem Sinn der Gemälde zu fragen, zumal er ihn meiner Übersetzerin auch nicht erklären konnte. Bei ihr zu Hause hing ebenfalls ein Bild von ihm – wieder die Fische, die dick aufgetragenen, kräftigen Farben, die eindringliche, rätselhafte Botschaft. Unverhofft keimte in mir der Wunsch, über einen Maler zu schreiben, und ich fragte, ob wir noch einmal wiederkommen und ihm bei der Arbeit zusehen könnten. Zum Erstaunen meiner Übersetzerin willigte er ein, und so schauten wir in stummer Faszination zwei Stunden lang zu, wie er in einer Art heiligem Schaffensrausch seiner Vision Ausdruck verlieh, indem er mit Pinseln, Fingern und einmal sogar mit dem Ellenbogen Farbe auf die Leinwand brachte. Ich war zutiefst beeindruckt. In seine Haut konnte ich nicht schlüpfen. Mein Held mußte mehr auf dem Boden stehen. Einen Pferdemaler traute ich mir eventuell noch zu. Später im Jahr flogen wir zu einer Lesereise nach Australien und Neuseeland, und dort traf ich mich, wie im voraus vereinbart, mit Michael Jeffrey, einem der führenden 6
australischen Pferdemaler. Auch er öffnete mir gern sein Atelier und gab mir wertvolle Informationen darüber, wie man Farben anwendet und mischt. Wieder zurück in England, lasen Mary und ich Fachliteratur über Ölfarben, ihre Zusammensetzung, ihre Verwendung auf Leinwand und Holz, und wir stopften unsere Veranda voll mit Staffeleien, Leinöl, Terpentin und anderen Malutensilien. Mit meinen neu erworbenen Grundkenntnissen konzipierte ich dann den Pferdemaler Charles Todd und seinen alten Freund, den exzentrischen, abstrakt malenden Jik. Mary malte schließlich ein Pferd. Es hatte einen zu langen Hals. Wir mußten einsehen, daß wir beide nicht zum Malen taugten, und doch haben wir durch Gefälscht viel über Malerei gelernt.
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1 Ich stand draußen und sah, es war ein Unglück geschehen. Drei Streifenwagen und ein Krankenwagen mit unheilvoll rotierendem Blaulicht parkten vor dem Haus meines Cousins, und Menschen eilten zielstrebig durch die offene Haustür. Der kalte Wind des Herbstanfangs blies lustlos welke, braune Blätter auf die Einfahrt, und tieftreibende Wolkenfetzen kündeten schlechteres Wetter an. Sechs Uhr an einem Freitagabend in Shropshire, England. Weiß blitzendes Licht in den Fenstern verriet, daß drinnen fotografiert wurde. Ich stellte Koffer und Maltasche auf dem Rasen ab und setzte mit begründet böser Vorahnung meinen Weg zum Haus fort. Ich war mit dem Zug gekommen und wollte übers Wochenende bleiben. Da mich mein Cousin nicht wie versprochen mit dem Auto am Bahnhof abgeholt hatte, war ich zu Fuß losgegangen, hatte aber fest damit gerechnet, daß er mir schon bald auf den anderthalb Meilen Landstraße mit seinem staubigen Peugeot entgegenkommen und mich lachend, den Kopf voller Pläne, um Entschuldigung bitten würde. Es gab nichts zu lachen. Weggetreten und bleich stand er auf dem Flur. Eine schlaffe Gestalt im eleganten Straßenanzug, die Arme lang herunterhängend, als wüßte das Nervensystem nichts von ihnen. Sein Kopf war leicht dem Wohnzimmer zugewandt, aus dem die Blitze kamen, und in seinen Augen stand blankes Entsetzen. »Don?« sagte ich. Ich ging auf ihn zu. »Donald!« Er hörte mich nicht. Ein Polizist dagegen schon. Rasch kam er in seiner dunkelblauen Uniform aus dem Wohnzimmer, packte mich am Arm und schob mich unsanft wieder in Richtung Tür. 8
»Bleiben Sie bitte draußen, Sir«, sagte er. Donalds verstörte Augen blickten unsicher zu uns her. »Charles...« Seine Stimme war belegt. Der Polizeibeamte lockerte seinen Griff ein wenig. »Kennen Sie den Mann, Sir?« fragte er Donald. »Ich bin sein Cousin«, sagte ich. »Oh.« Er ließ mich los, befahl mir, zu warten und mich um Mr. Stuart zu kümmern, und holte sich Rat. »Was ist passiert?« fragte ich. Von Donald war keine Antwort zu bekommen. Er drehte den Kopf wieder zur Wohnzimmertür, angezogen von etwas Schrecklichem, das sich dahinter verbarg. Ich pfiff auf die polizeiliche Anweisung, machte zehn leise Schritte und schaute hinein. Das vertraute Zimmer war ungewöhnlich leer. Keine Gemälde, kein Dekor, keine Kante an Kante liegenden Orientteppiche. Nur kahle, graue Wände, chintzbezogene Sofas, schiefgerückte Möbel, viel staubiges Parkett. Und auf dem Parkett, tot in ihrem Blut, lag die junge Frau meines Cousins. Überall in dem großen Raum waren Polizisten mit Bandmaß, Kamera und Einstaubpulver bei der Spurensicherung. Ich wußte, daß sie dort waren, ohne daß ich sie sah. Ich sah nur Regina, wie sie auf dem Rücken lag, ihr Gesicht sahneweiß. Die halb geöffneten Augen glänzten noch schwach, der Unterkiefer war heruntergeklappt, so daß die Schädelkonturen hart hervortraten. Eine Urinpfütze stand naß auf dem Parkett um ihre gespreizten Beine, und der eine Arm war seitlich ausgestreckt, die leblosen weißen Finger wie bittend nach oben geöffnet. Es hatte kein Pardon gegeben. Ich betrachtete die scharlachrote Masse ihres Schädels und merkte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich.
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Der Polizist, der mich vorhin aufgehalten hatte, wandte sich von seinem um Rat gefragten Kollegen ab, sah mich wankend in der Tür stehen und kam mit raschen Schritten wieder zu mir. »Sie sollten doch draußen bleiben, Sir«, sagte er verärgert, als wollte er klarstellen, daß ich an meinem Schwächeanfall selbst schuld sei. Ich nickte stumm und kehrte in den Flur zurück. Donald saß auf der Treppe und blickte ins Leere. Abrupt ließ ich mich neben ihm auf den Boden fallen und nahm den Kopf zwischen die Knie. »Ich-ich... habe sie gefunden«, sagte er. Ich schluckte. Was konnte man sagen? Es war schon für mich schlimm genug, aber er hatte mit ihr zusammengelebt und sie geliebt. Das Schwächegefühl legte sich allmählich, doch ein leichter Brechreiz blieb zurück. Ich lehnte mich an die Wand hinter mir und wünschte, ich könnte ihm helfen. »Sie ist freitags... n-nie zu Hause«, sagte er. »Ich weiß.« »Um sechs... um sechs... k-kommt sie erst heim. Immer.« »Ich hol dir einen Brandy«, sagte ich. Ich rappelte mich hoch und ging ins Eßzimmer, und erst dort drang mir die Bedeutung des leeren Wohnzimmers ins Bewußtsein. Auch im Eßzimmer waren die Wände kahl, die Borde leer, und aus den Schränken gerissene Schubladen lagen ausgekippt auf dem Boden. Kein Stück Silberware. Kein Tafelsilber. Kein antikes Porzellan. Nur ein Haufen Untersetzer, Servietten und Glasscherben. Bei meinem Cousin war eingebrochen worden. Und Regina... Regina, die freitags nie daheim war... hatte die Einbrecher gestört... Zornentbrannt ging ich zu dem geplünderten Sideboard und hätte am liebsten allen Gierhälsen und abgebrühten Lumpen, die bedenkenlos das Leben ihnen unbekannter Menschen
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zerstörten, die Köpfe eingeschlagen. Mitgefühl war nur etwas für Heilige. Ich fühlte blanken Haß, heiß und innig. Zwei ganze Gläser fand ich noch, aber die Getränke waren verschwunden. Wütend stapfte ich durch die Pendeltür in die Küche und setzte den Elektrokessel auf. Auch hier herrschte Chaos, waren die Vorräte komplett von den Regalen gefegt. Was für Wertsachen hofften Einbrecher bloß in einer Küche zu finden? Mit fahrigen Fingern machte ich zwei Becher Tee, sah nach, ob in Reginas Gewürzschrank vielleicht Brandy war, und freute mich über Gebühr, als ich tatsächlich welchen entdeckte. Wenigstens den hatten die Schweine übersehen. Donald saß noch immer reglos auf der Treppe. Ich drückte ihm den Becher heißer, süßer Flüssigkeit in die Hände und forderte ihn auf zu trinken. Mechanisch setzte er ihn an die Lippen. »Sie ist freitags... nie zu Hause«, sagte er. »Nein«, stimmte ich zu und fragte mich, wer wohl sonst noch wußte, daß hier freitags niemand war. Langsam tranken wir unseren Tee. Dann stellte ich die beiden Becher weg und setzte mich wieder neben ihn. Die meisten Dielenmöbel waren verschwunden. Der kleine Sheraton-Schreibtisch... der mit Nägeln beschlagene Ledersessel... die Kutschenuhr aus dem neunzehnten Jahrhundert... »Herrgott, Charles«, sagte er. Ich blickte ihm ins Gesicht. Tränen und fürchterlicher Schmerz. Nichts, gar nichts konnte ich tun, um ihm zu helfen. Der unbeschreibliche Abend zog sich bis Mitternacht und länger hin. Die Polizei arbeitete durchaus gründlich, war höflich und auch verständnisvoll, machte aber keinen Hehl daraus, daß sie eher dafür zuständig war, Verbrecher zu fangen, als Opfer zu trösten. Außerdem schien mir in vielen ihrer 11
Fragen ein leiser Argwohn mitzuschwingen, da Einbrüche auf Bestellung gutversicherter Hausherren immerhin schon vorgekommen waren und selbst die einfachsten Betrugsmanöver bekanntlich furchtbar danebengehen konnten. Donald merkte offenbar nichts davon. Er antwortete müde, automatisch, manchmal erst nach langem Schweigen. Ja, die fehlenden Gegenstände waren gut versichert. Ja, die Versicherung lief schon seit Jahren. Ja, er war den ganzen Tag wie üblich im Büro gewesen. Ja, außer zum Mittagessen. Ein Sandwich in einer Kneipe. Er war Weinimporteur. Seine Firma saß in Shrewsbury. Er war siebenunddreißig. Ja, seine Frau war viel jünger. Zweiundzwanzig. Über Regina konnte er nur stotternd sprechen, als wollten ihm Zunge und Lippen nicht gehorchen. F-freitags arbeite sie immer... im B-blumenladen einer Freundin. »Wieso?« Donald sah den Kriminalinspektor, der ihm am Eßzimmertisch gegenübersaß, geistesabwesend an. Die zum Tisch gehörenden antiken Stühle waren fort. Donald saß in einem Gartenstuhl, den sie aus der Glasveranda geholt hatten. Der Inspektor, ein Kriminalassistent und ich saßen auf Hockern. »Bitte?« »Wieso hat sie freitags in einem Blumenladen gearbeitet?« »Sie... sie... ich... es macht ihr...« Ich mischte mich ein. »Sie war Floristin, bevor sie Donald geheiratet hat. Das wollte sie nicht ganz aufgeben. Freitags hat sie immer Blumenarrangements für Tanzfeste, Hochzeiten und ähnliche Anlässe gefertigt...« Auch Kränze, dachte ich, ohne es auszusprechen. »Vielen Dank, Sir, aber ich bin sicher, Mr. Stuart kann uns selbst antworten.« 12
»Das kann er eben nicht.« Der Inspektor richtete sein Augenmerk auf mich. »Er steht unter Schock«, sagte ich. »Sind Sie Arzt, Sir?« Die höfliche Skepsis in seiner Stimme war durchaus verständlich. Ich schüttelte gereizt den Kopf. Er sah Donald an, schürzte die Lippen und wandte sich wieder zu mir. Sein Blick schweifte über meine Jeans, die verwaschene Drillichjacke, den hellbraunen Rolli, die Wüstentreter und kehrte unbeeindruckt zu meinem Gesicht zurück. »Also gut, Sir. Ihr Name?« »Charles Todd.« »Alter?« »Neunundzwanzig.« »Beruf?« »Maler.« Der Assistent schrieb diese faszinierenden Einzelheiten ungerührt in sein kleines Notizbuch. »Anstreicher oder Künstler?« fragte der Inspektor. »Künstler.« »Und wo kommen Sie jetzt her?« »Ich bin um 14.30 Uhr in Paddington in den Zug gestiegen und vom Bahnhof zu Fuß hierhergekommen.« »Zweck des Besuchs?« »Kein bestimmter. Ich bin jedes Jahr ein- oder zweimal hier.« »Befreundet also?« »Ja.« Er nickte unverfänglich. Wandte seine Aufmerksamkeit wieder Donald zu und befragte ihn weiter, aber geduldig und ohne zu drängen. »Wann kommen Sie denn normalerweise freitags nach Hause, Sir?« Don sagte tonlos: »Gegen fünf.« »Und heute?« 13
»Heute auch.« Seine Gesichtsmuskeln zuckten krampfhaft. »Ich habe gesehen... daß eingebrochen worden war... und habe die Polizei...« »Ja, Sir. Wir erhielten Ihren Anruf um siebzehn Uhr sechs. Und nachdem Sie uns verständigt hatten, sind Sie ins Wohnzimmer gegangen, um zu sehen, was dort entwendet worden war?« Donald schwieg. »Wie Sie wissen, fand Sie unser Sergeant ja dort.« »Wieso?« sagte Donald gequält. »Wieso ist sie heimgekommen?« »Das werden wir wohl herausfinden, Sir.« Die vorsichtige Befragung zog sich endlos hin, führte aber, soweit ich es beurteilen konnte, zu nichts, außer daß sie Donald an den Rand des Nervenzusammenbruchs trieb. Ich bekam ganz gewöhnlichen, in dieser Situation aber doch ein wenig beschämenden Hunger, da ich den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Mit Bedauern dachte ich an das freudig erwartete Abendessen, an Regina, wie sie mit lockerer Hand Zutaten mischte, Kräuter und Wein beigab und immer wieder scheinbar spielend ein Festmahl auf den Tisch brachte. Regina mit ihrem dunklen Pagenkopf und dem vergnügten Lächeln, schwatzhaft, für jeden Spaß zu haben, aber strikt gegen Fuchsjagden. Eine junge Frau, die niemandem etwas zuleide tun konnte – ermordet. Irgendwann am Abend wurde ihr Leichnam in einen Krankenwagen geladen und fortgebracht. Ich hörte es, Donald aber sah nicht so aus, als registrierte er, was vorging. Wahrscheinlich errichtete er innerlich Schranken gegen das Unerträgliche, und das konnte man ihm kaum verdenken. Schließlich stand der Inspektor auf und streckte seine Glieder, die von dem Hocker ganz verspannt waren. Er sagte, er werde für die Nacht einen Mann als Wache zurücklassen und am Morgen selbst wiederkommen. Donald, der 14
offensichtlich nicht recht hingehört hatte, nickte zerstreut und saß, als die Polizei fort war, immer noch unbeweglich auf dem Gartenstuhl, ohne Kraft, sich aufzuraffen. »Komm«, sagte ich. »Gehen wir schlafen.« Ich nahm ihn beim Arm, bewog ihn aufzustehen und führte ihn die Treppe hinauf. Benommen, ohne Widerrede kam er mit. Ihr Schlafzimmer sah wie ein Schlachtfeld aus, aber das Zweibettzimmer, das sie für mich hergerichtet hatten, war verschont geblieben. Er ließ sich angekleidet auf das eine Bett fallen, legte den Arm übers Gesicht und stellte in fürchterlicher Verzweiflung die Frage, die alle Leidtragenden dieser Welt bewegt: »Warum? Warum mußte gerade uns das passieren?« Ich blieb acht Tage bei Donald, und einige Fragen, wenn auch nicht diese eine, wurden bis dahin beantwortet. Eine ganz einfache Erklärung gab es für Reginas vorzeitige Heimkehr. Zwischen ihr und der befreundeten Floristin war es nach wochenlang unterdrückter Verstimmung zu einem so heftigen Streit gekommen, daß Regina auf der Stelle gekündigt hatte. Sie war gegen halb drei gegangen und wahrscheinlich direkt nach Hause gefahren, denn man schätzte, daß sie um fünf bereits zwei Stunden tot war. Diese in Kanzleisprache abgefaßte Auskunft erteilte der Inspektor Donald am Samstag nachmittag. Donald ging in den herbstlichen Garten und weinte. Der Inspektor, ein kühler Kopf mit Namen Frost, kam leise zu mir in die Küche und beobachtete Donald, der gebeugt zwischen den Apfelbäumen stand. »Erzählen Sie mir bitte, was Sie über die Beziehung zwischen Mr. und Mrs. Stuart wissen.« »Wie bitte?« »Wie war ihr Verhältnis zueinander?« »Sehen Sie das nicht selbst?« 15
Nach einem kurzen Schweigen antwortete er mit neutraler Stimme: »Bekundung tiefer Trauer ist nicht unbedingt ein Spiegel tief empfundener Liebe.« »Reden Sie immer so?« Ein kleines Lächeln flackerte auf und verschwand. »Ich habe aus einem Psychologiebuch zitiert.« »›Nicht unbedingt‹ heißt meistens schon«, meinte ich. Er sah mich groß an. »Ihr Buch ist Quark«, sagte ich. »Schuld kann sich in übergroßer Trauer äußern.« »Gefährlicher Quark«, schob ich nach. »Und soweit ich es beurteilen kann, waren sie noch mitten in den Flitterwochen.« »Nach drei Jahren?« »Warum nicht?« Er zuckte die Achseln und gab keine Antwort. Ich wandte mich von Donalds traurigem Anblick ab und sagte: »Kann man damit rechnen, von den gestohlenen Sachen etwas zurückzubekommen?« »Wohl kaum. Bei gestohlenen Antiquitäten ist die Beute meist schon auf dem Weg über den Atlantik, bevor der Eigentümer aus dem Urlaub zurückkommt.« »Diesmal doch nicht«, wandte ich ein. Er seufzte. »Trotzdem. In den letzten Jahren hat es Hunderte von derartigen Einbruchsdiebstählen gegeben, und von der Beute ist nur wenig wieder aufgetaucht. Der Handel mit Antiquitäten blüht.« »Diebe vom Fach?« fragte ich skeptisch. »Nach unserer Information ist in den Gefängnisbibliotheken nichts so sehr gefragt wie Bücher über Antiquitäten. Jeder kleine Eierdieb macht sich kundig, um da einzusteigen, sobald er draußen ist.« So klang er direkt menschlich. »Möchten Sie einen Kaffee?« fragte ich.
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Er sah auf seine Uhr, zog die Brauen hoch und sagte ja. Während ich den Kaffee aufgoß, nahm er wieder auf dem Hocker Platz, ein Mann um die Vierzig mit rotblondem, schütterem Haar, in einem abgetragenen grauen Anzug. »Sind Sie verheiratet?« fragte er. »Nein.« »Verliebt in Mrs. Stuart?« »Sie probieren aber auch alles, hm?« »Wenn man nicht fragt, kommt man nicht weiter.« Ich stellte Milch und Zucker auf den Tisch und bat ihn, sich zu bedienen. Nachdenklich rührte er seinen Kaffee um. »Wann waren Sie zuletzt hier im Haus?« fragte er. »Im März. Bevor sie nach Australien gefahren sind.« »Australien?« »Sie wollten sich den Jahrgangswein ansehen. Donald spielte mit dem Gedanken, australischen Wein en gros zu importieren. Sie waren mindestens drei Monate drüben. Warum konnten die Einbrecher nicht damals kommen, als beide weit vom Schuß waren?« Er hörte die Bitterkeit in meiner Stimme. »Das Leben kann gemein sein.« Er führte vorsichtig den Becher an die Lippen, setzte ihn ab und blies auf den heißen Kaffee. »Was hätten Sie und Ihre Freunde heute gemacht? Wenn alles seinen normalen Gang genommen hätte?« »Wir wären zum Pferderennen gefahren«, sagte ich. »Wie immer, wenn ich zu Besuch bin.« »Die beiden waren rennsportbegeistert?« Das Imperfekt hörte sich falsch an. Doch so vieles gehörte jetzt der Vergangenheit an. Mir fiel es nur wesentlich schwerer als ihm, mich daran zu gewöhnen. »Schon... aber ich glaube, sie gehen nur... sind nur meinetwegen mitgegangen.« Er probierte noch einmal den Kaffee und wagte ein vorsichtiges Schlückchen. »Wie meinen Sie das?« fragte er. 17
»Mein Hauptsujet«, sagte ich, »sind Pferde.« Donald kam erschöpft und mit geröteten Augen zur Hintertür herein. »Die Presseleute schlagen ein Loch in die Hecke«, sagte er dumpf. Inspektor Frost schnalzte mit der Zunge, stand auf, öffnete die Tür zum Flur und rief laut ins Hausinnere: »Wache? Sorgen Sie dafür, daß die Reporter nicht in den Garten eindringen.« Eine ferne Stimme erwiderte: »Sir«, und Frost bat Donald um Entschuldigung. »Einfach wegschicken kann man die Leute nicht, verstehen Sie? Die Redakteure sitzen ihnen im Nacken. Wenn so etwas ist, machen sie uns das Leben sauer.« Schon seit dem Morgen säumten Autos die Straße vor Donalds Haus, und Scharen von Reportern, Fotografen oder einfach Sensationslüsternen stürzten daraus hervor, sobald sich jemand an der Haustür zeigte. Wie ein Rudel hungriger Wölfe lagen sie auf der Lauer, und es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis sie sich auf Donald selbst stürzen würden. Rücksicht auf seine Gefühle war nicht zu erwarten. »Die Zeitungen hören den Polizeifunk ab«, meinte Frost düster. »Manchmal ist die Presse schon vor uns am Ort eines Verbrechens.« Das hatte seine komische Seite, aber für Donald wäre es keineswegs lustig gewesen, wenn es hier passiert wäre. Wobei die Polizei sogar mehr oder weniger davon ausgegangen war, denn der Polizist, der mich am Betreten des Hauses hindern wollte, hatte mich, wie ich inzwischen wußte, für einen besonders schnellen Reporter gehalten. Donald ließ sich schwer auf einen Hocker fallen und legte müde die Ellenbogen auf den Tisch. »Charles«, sagte er, »könntest du mir jetzt vielleicht ein wenig Suppe warm machen?«
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»Sicher«, sagte ich überrascht. Vorhin hatte er es abgelehnt, etwas zu essen, als würde ihm bei dem bloßen Gedanken schlecht. Frost hob wie auf ein Signal den Kopf, sein ganzer Körper straffte sich, und mir wurde klar, daß er bis dahin quasi im Leerlauf gefahren war und nur auf einen solchen Moment gewartet hatte. Er wartete auch noch, während ich eine Dose Campbell’s öffnete, den Inhalt mit etwas Wasser in einen Topf schüttete, Brandy hinzufügte und das Ganze umrührte, bis sich die Klümpchen auflösten. Er trank seinen Kaffee und wartete, bis Donald zwei Teller Campbell’s und einen Kanten braunes Brot verdrückt hatte. Dann bat er mich höflich, Leine zu ziehen, und begann, wie Donald mir hinterher sagte, »ernsthaft zu stochern«. Erst nach drei Stunden, als es schon dunkel wurde, ging der Inspektor. Ich sah es vom Fenster im oberen Treppenflur aus. Er und der diensthabende Kriminalassistent wurden direkt vor der Haustür von einem jungen Mann mit wilder Mähne und Mikrophon abgefangen, und bevor sie sich in ihren Wagen retten konnten, strömte auch schon die gesamte Schar der Wegelagerer in wilder Jagd zum Garten hinein und über den Rasen. Ich ging durchs Haus, schloß systematisch die Fenster, zog die Vorhänge zu und verriegelte alle Außentüren. »Was tust du denn?« fragte Donald, blaß und müde, in der Küche. »Ich ziehe die Zugbrücke hoch.« »Ach so.« Trotz der langen Befragung durch den Inspektor wirkte er wesentlich ruhiger und gefaßter, und als ich die Tür von der Küche zum Garten verbarrikadiert hatte, sagte er: »Die Polizei braucht eine Liste der gestohlenen Sachen. Hilfst du mir dabei?« »Natürlich.« 19
»Da haben wir erst mal zu tun...« »Klar.« »Wir hatten zwar ein Inventar, aber das lag in dem Schreibtisch in der Diele. Und den haben sie mitgenommen.« »Wie kann man so was denn da aufbewahren?« sagte ich. »Das hat er mich auch gefragt. Inspektor Frost.« »Und deine Versicherung? Hat die kein Verzeichnis?« »Nur von den wertvolleren Sachen, das heißt von einem Teil der Gemälde und ihrem Schmuck.« Er seufzte. »Alles andere war unter ›Hausrat‹ zusammengefaßt.« Wir begannen mit dem Eßzimmer und teilten uns die Arbeit, indem er überlegte, was die leeren Schubladen, die er wieder in das Sideboard schob, einmal enthalten hatten, und ich nach seinem Diktat die Liste schrieb. Von Donalds begüterter Familie hatten sie viel gediegenes Tafelsilber geerbt. Als Freund schöner alter Dinge hatte Donald es gern benutzt, aber mit dem Silber schien auch die Freude an seinem Besitz verlorengegangen zu sein. Statt ihm nachzutrauern, zählte er alles mit unbeteiligter Stimme auf, und als wir mit dem Sideboard fertig waren, klang er nur noch gelangweilt. Vor dem leeren Regal, das erlesenes Porzellan aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert beherbergt hatte, verging ihm die Lust endgültig. »Was soll’s?« meinte er traurig und wandte sich ab. »Das ist mir einfach zu mühsam...« »Sollen wir uns an die Gemälde machen?« Er blickte geistesabwesend auf die kahlen Wände. Die Anordnung der fehlenden Bilder war an den hellen Rechtecken in dem zarten Olivgrün klar zu erkennen. Hier hatten vorwiegend neuere Briten gehangen: ein Hockney, ein Bratby, zwei Lowrys und ein Spear etwa, alles Werke aus zurückhaltenderen Phasen der Künstler. Donald hielt nichts von Bildern, die »hier! schreien und wichtig tun«.
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»Du hast sie wahrscheinlich besser im Kopf als ich«, sagte er. »Übernimm du das.« »Ich bekäme nicht alle zusammen.« »Ist was zu trinken da?« »Nur der Brandy zum Kochen«, sagte ich. »Wir können ja einen Wein aufmachen.« »Welchen Wein?« »Aus dem Keller.« Plötzlich riß er die Augen auf. »Herrgott, den Keller habe ich ganz vergessen.« »Ich wußte gar nicht, daß du einen hast.« Er nickte. »Deswegen habe ich das Haus gekauft. Ideale Temperatur und Luftfeuchtigkeit für die Langzeitlagerung. Da unten liegt ein kleines Vermögen an Bordeaux-Rotwein und Port.« Fehlanzeige. Wir fanden drei Reihen leergeräumter Regale und auf einem Holztisch einen einzelnen Karton. Donald zuckte nur die Achseln. »Tja... das war’s dann.« Ich klappte den Karton auf und sah die schlanken Hälse verkorkter Weinflaschen. »Die haben sie in der Eile wenigstens dagelassen«, sagte ich. »Vielleicht auch bewußt.« Donald lächelte schief. »Das ist australischer Wein. Den haben wir von der Reise mitgebracht.« »Besser als nichts«, meinte ich geringschätzig und zog eine Flasche heraus, um das Etikett zu lesen. »Besser als viele andere, glaub mir. Es gibt ausgezeichneten australischen Wein.« Ich brachte den ganzen Karton in die Küche hinauf und stellte ihn auf den Tisch. Die Treppe führte vom Keller in den Wirtschaftsraum, wo die Waschmaschine und andere Haushaltsgeräte standen, und ich hatte hinter der Kellertür eigentlich immer einen Wandschrank vermutet. Nachdenklich betrachtete ich das unauffällige, weißgestrichene Rechteck, das sich nahtlos ins Gesamtbild einfügte.
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»Glaubst du, die Einbrecher haben von dem Wein gewußt?« fragte ich. »Weiß der Himmel.« »Ich hätte ihn nie gefunden.« »Du bist aber auch kein Einbrecher.« Er holte einen Korkenzieher, öffnete eine Flasche und goß die dunkelrote Flüssigkeit in zwei Trinkgläser. Selbst für meinen ungeschulten Gaumen war es ein fabelhafter Wein. Wynns Coonawarra Cabernet Sauvignon. Schon der Name zerging auf der Zunge. Donald kippte den guten Tropfen herunter, als wäre es Wasser, und ein paarmal stieß ihm das Glas gegen die Zähne. Seine Bewegungen waren unsicher, als hätte er plötzlich die einfachsten Dinge verlernt – offensichtlich kreisten seine Gedanken immer wieder um Regina, und das lähmte ihn regelrecht. Der alte Donald war ein selbstbewußter Mensch gewesen, der mit Kompetenz ein mittelgroßes, ererbtes Geschäft weitergeführt und ausgebaut hatte. Bernsteinfarbene Augen, die oft lächelten, belebten ein grob geschnittenes, hartes Gesicht, und für eine gute Frisur war ihm sein Geld nie zu schade gewesen. Der neue Donald war ein zuinnerst erschütterter Zauderer, ein Mann, der nichts verkehrt machen wollte, der aber beim Treppensteigen über die eigenen Füße stolperte. Wir verbrachten den Abend in der Küche, unterhielten uns über alles und nichts, improvisierten etwas zu essen und räumten die Vorräte wieder in die Regale. Donald hielt fleißig mit, stellte aber jede zweite Dose verkehrt herum hin. Dreimal klingelte es zwischendurch an der Haustür, aber nicht in dem Code, den wir mit der Polizei vereinbart hatten. Das Telefon war still, der Hörer lag neben dem Apparat. Donald hatte die gutgemeinten Angebote mehrerer Freunde im Ort ausgeschlagen und zitterte sichtlich bei dem Gedanken, irgend jemanden außer Frost und mir um sich zu haben. 22
»Warum gehen die nicht weg?« sagte er verzweifelt nach dem dritten Klingeln an der Haustür. »Das werden sie erst, wenn sie dich gesehen haben«, sagte ich und dachte: Wenn sie dich ausgelutscht und die Schale ausgespuckt haben. Er schüttelte den Kopf. »Ich kann einfach nicht.« Es war, als ständen wir unter Belagerung. Schließlich gingen wir zu Bett, obwohl es aussah, als würde Donald wie in der Nacht zuvor wieder kaum ein Auge zutun. Das Schlafmittel, das ihm der Polizeiarzt dagelassen hatte, rührte er nicht an. Auch an diesem Abend war mein Zureden vergebens. »Nein, Charles. Ich hätte das Gefühl, daß ich sie verrate. Sie w-wegdränge. Nur an mich selbst denke und nicht daran... wwie schrecklich sie gestorben ist... wie allein... ohne jemand, der sie... liebhat.« Er wollte ihr seinen Kummer gewissermaßen als Trost anbieten. Ich schüttelte zwar den Kopf darüber, ließ ihn aber in Ruhe. »Macht es dir was aus«, fragte er zögernd, »wenn ich heute nacht allein schlafe?« »Überhaupt nicht.« »Wir können dich ja in einem anderen Zimmer einquartieren.« »Klar.« Er öffnete einen Wäscheschrank im oberen Flur und deutete unentschlossen auf den Inhalt. »Kommst du zurecht?« »Natürlich«, sagte ich. Er drehte sich um und erstarrte förmlich angesichts einer bestimmten Stelle an der Wand. »Sie haben den Munnings mitgenommen«, sagte er. »Welchen Munnings?«
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»Den haben wir in Australien gekauft. Erst vor acht Tagen habe ich ihn... dahin gehängt. Ich wollte ihn dir zeigen. Das war mit ein Grund, warum ich dich eingeladen habe.« »Das tut mir leid«, meinte ich. Unzulängliche Worte.
»Alles«, sagte er hilflos. »Alles ist weg.«
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Frost, der Unermüdliche mit den wachen Augen, der sich alle Wege offenhielt, erschien am Sonntagmorgen wieder. Ich öffnete ihm auf sein Klingelzeichen, und er kam mit mir in die Küche, wo Donald und ich uns die ganze Zeit aufhielten. Er setzte sich auf den Hocker, den ich ihm anbot, und drückte vorsorglich das Kreuz durch. »Zwei Informationen, Sir, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte«, sagte er in seinem förmlichsten Ton zu Donald. »Erstens, trotz der gewissenhaften Spurensicherung gestern und vorgestern abend hier im Haus haben wir keine fremden Fingerabdrücke finden können.« »Hätten Sie die erwartet?« fragte ich. Er warf mir einen Blick zu. »Nein, Sir. Professionelle Einbrecher tragen stets Handschuhe.« Donald wartete mit bleichem Gesicht und Duldermiene, als wäre alles, was Frost zu sagen hatte, belanglos. Ich wußte nicht, ob für ihn überhaupt noch etwas von Bedeutung war. »Zweitens«, sagte Frost, »haben unsere Ermittlungen in der Nachbarschaft ergeben, daß am frühen Freitagnachmittag ein Möbelwagen vor Ihrer Haustür geparkt hat.« Donald sah ihn verständnislos an. »Dunkel und staubig, Sir.« »Hm«, machte Donald nur. Frost seufzte. »Was wissen Sie über eine Bronzefigur, die ein Pferd darstellt, Sir? Ein steigendes Pferd?« »Die steht in der Diele«, sagte Donald automatisch, und dann, mit einem leichten Stirnrunzeln: »Da stand sie, meine ich. Sie ist weg.« »Woher wissen Sie davon?« fragte ich Frost neugierig und erriet die Antwort, bevor ich zu Ende gesprochen hatte. »O
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nein...« Ich unterbrach mich und schluckte. »Ich meine, ist sie vielleicht aus dem Möbelwagen gefallen?« »Nein, Sir.« Sein Blick war ruhig. »Wir haben sie im Wohnzimmer gefunden, bei Mrs. Stuart.« Donald wußte ebensogut Bescheid wie ich. Er stand unvermittelt auf, trat ans Fenster und schaute eine Zeitlang auf den verlassenen Garten. »Die Figur ist schwer«, sagte er schließlich. »Besonders der Sockel.« »Ja, Sir.« »Es muß... schnell gegangen sein.« »Ja, Sir«, sagte Frost noch einmal, eher sachlich als tröstend. »A-arme Regina.« Leise Worte, erfüllt von ungeheurer Verzweiflung. Als er wieder zum Tisch kam, zitterten seine Hände. Er ließ sich auf seinen Platz fallen und starrte ins Leere. Frost wies vorsichtig darauf hin, daß das Wohnzimmer noch ein paar Tage versiegelt bleiben werde und wir beide es nach Möglichkeit nicht betreten sollten. Wir wollten gar nicht hinein. Davon abgesehen seien die Ermittlungen im Haus abgeschlossen und Mr. Stuart stehe es frei, die anderen Zimmer, wo jede blanke Fläche von der Spurensicherung grauweiß eingestäubt worden war, säubern zu lassen. Mr. Stuart sah nicht so aus, als habe er etwas verstanden. War Mr. Stuart mit der Liste der gestohlenen Sachen fertig? Ich gab sie dem Inspektor. Sie enthielt nach wie vor nur das Tafelsilber und die Gemälde, an die ich mich hatte erinnern können. Frost zog die Brauen hoch und schürzte die Lippen. »Etwas mehr brauchen wir schon, Sir.« »Wir setzen uns heute noch mal dran«, versprach ich. »Es ist auch viel Wein verschwunden.« »Wein?« Ich zeigte ihm den leeren Keller, und er kam nachdenklich wieder mit nach oben. 26
»Es muß Stunden gedauert haben, das alles auszuräumen«, sagte ich. »Anzunehmen, Sir«, meinte er knapp. Mehr gab er von seinen Gedanken nicht preis. Statt dessen schlug er vor, Donald solle der hungrigen Reportermeute, die wieder draußen wartete, eine Erklärung vorlesen, damit sie ihre Story hätten und verschwinden würden. »Nein«, sagte Donald. »Nur eine kurze Erklärung«, sagte Frost überredend. »Wenn Sie wollen, setzen wir sie gleich auf.« Er schrieb sie mehr oder weniger allein, und ich konnte mir denken, daß er die Presse nicht nur Donald zuliebe loswerden wollte, denn er selbst mußte sich jedesmal durch die Meute boxen. Er las uns die fertige Erklärung vor. Sie klang wie ein Polizeibericht, war aber gerade wegen ihrer Formelhaftigkeit so weit von Donalds nacktem Kummer entfernt, daß sich mein Cousin schließlich bereit fand, sie vorzutragen. »Aber keine Fotos«, sagte er nervös, und Frost versprach, dafür zu sorgen. Sie drängten sich in die Diele, ein Haufen nüchterner Tatsachenjäger, alles abgebrühte Spitzenleute ihrer Branche, die sich schon hundertmal ähnlich in menschliche Tragödien eingemischt hatten. Natürlich bedauerten sie den Mann der erschlagenen Frau, aber Fakten waren Fakten, und schlechte Neuigkeiten verkauften sich gut, und wenn sie keine Story lieferten, verloren sie ihren Job an weniger Zimperliche. Die brutalen Drückermethoden von einst hatte der Presserat zwar unterbunden, aber auch die erlaubten Mittel gingen manchmal noch weit über die Kräfte der Betroffenen. Donald stand auf der Treppe, vor der Frost und ich uns aufgebaut hatten, und las mit ausdrucksloser Stimme, als wäre von jemand anderem die Rede. »... Gegen siebzehn Uhr kam ich nach Hause und stellte fest, daß in meiner Abwesenheit eine beträchtliche Anzahl von 27
Wertstücken entwendet worden war... Ich verständigte sofort die Polizei... Meine Frau, die freitags normalerweise außer Haus war, muß unerwartet nach Hause gekommen sein und... so wird vermutet, die Einbrecher gestört haben.« Er schwieg. Die Reporter schrieben pflichtbewußt die gestelzten Sätze auf und machten enttäuschte Gesichter. Ein offensichtlich vorab bestimmter Wortführer stellte in sanft überredendem, mitfühlendem Ton Fragen zur Sache. »Können Sie uns sagen, welche dieser geschlossenen Türen in das Zimmer führt, wo Ihre Frau...« Donalds Blick huschte unwillkürlich in Richtung Wohnzimmer. Alle Köpfe drehten sich, aller Augen musterten die nichtssagende weiße Tür, die Stifte schrieben, »Und was wurde denn im einzelnen gestohlen?« »Silber. Gemälde.« »Von wem waren die Gemälde?« Donald schüttelte den Kopf und wurde noch blasser. »Können Sie uns sagen, wieviel sie wert waren?« Nach einer Pause sagte Donald: »Das weiß ich nicht.« »Waren sie versichert?« »Ja.« »Wie viele Zimmer hat das Haus?« »Bitte?« »Wie viele Zimmer?« Donald war verwirrt. »Fünf... glaube ich.« »Könnten Sie uns vielleicht etwas über Ihre Frau erzählen? Wie sie war und was sie beruflich gemacht hat? Und könnten Sie uns ein Foto überlassen?« Donald konnte nicht. Er schüttelte den Kopf, sagte: »Bedaure«, drehte sich um und ging festen Schrittes nach oben. »Das war’s«, sagte Frost mit Entschiedenheit. »Das ist aber nicht viel«, meckerten sie.
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»Was wollen Sie denn? Blut vielleicht?« Frost öffnete die Haustür und komplimentierte sie hinaus. »Versetzen Sie sich mal in seine Lage.« »Jaja«, meinten sie zynisch; aber sie gingen. »Haben Sie die Blicke gesehen?« fragte ich. »Wie die hier alles verschlungen haben?« Frost lächelte verhalten. »Sie werden lange Storys spinnen aus dem bißchen Garn.« Aber der Pressetermin hatte weitgehend die gewünschte Wirkung. Die meisten Autos fuhren ab, und die anderen würden sicher nachziehen, sobald die nächste Neuigkeit zu ihnen drang. »Warum wollten sie wissen, wie viele Zimmer hier sind?« fragte ich. »Um den Wert des Hauses abzuschätzen.« »Du lieber Gott.« »Jeder wird zu einem anderen Ergebnis kommen.« Frost schien belustigt. »Das ist immer so.« Er sah in den ersten Stock hinauf, wo Donald verschwunden war, und fragte fast beiläufig: »Steckt Ihr Cousin in finanziellen Schwierigkeiten?« Inzwischen kannte ich seine Überrumpelungstaktik. »Das sollte mich wundern«, meinte ich gelassen. »Am besten fragen Sie ihn selbst.« »Das werde ich tun, Sir.« Er sah mir prüfend ins Gesicht. »Was wissen Sie?« »Nur, daß die Polizei zu Mißtrauen neigt«, sagte ich, ohne eine Miene zu verziehen. Darauf ging er nicht ein. »Hat Mr. Stuart geschäftliche Sorgen?« »Davon hat er nie etwas gesagt.« »Zur Zeit gehen ja viele mittelständische Unternehmen bankrott.« »Ich habe davon gehört.« »Weil zuwenig Geld hereinkommt«, ergänzte er. 29
»Ich kann Ihnen nicht helfen. Da müssen Sie sich die Firmenbücher ansehen.« »Das werden wir tun, Sir.« »Und sollte seine Firma pleite sein, dann folgt daraus noch lange nicht, daß Donald einen Einbruchsdiebstahl vortäuschen würde.« »Er wäre nicht der erste«, meinte Frost trocken. »Wenn er Geld brauchte, hätte er das Zeug doch einfach verkaufen können«, wandte ich ein. »Eben. Vielleicht hat er einen Teil davon verkauft. Oder den größten Teil.« Ich zog langsam die Luft ein und schwieg. »Dieser Wein, Sir. Sie sagen selbst, daß es zeitaufwendig gewesen sein muß, den rauszuschaffen.« »Die Firma ist eine GmbH«, sagte ich. »Ihr Bankrott würde weder Donalds Haus noch sein Privatvermögen berühren.« »Sie wissen aber gut Bescheid, was?« »Ich stehe im Leben«, sagte ich gelassen. »Künstler gelten doch eigentlich als weltfremd.« »Einige sind es.« Er sah mich mit zusammengekniffenen Augen an, als überlegte er, wie auch ich in die Planung und Durchführung des Einbruchsdiebstahls verwickelt sein könnte. »Mein Cousin Donald ist ein ehrenwerter Mann«, sagte ich ohne Nachdruck. »Das Wort ist veraltet.« »Es paßt noch auf ziemlich viele Leute.« Er sah mich ganz und gar ungläubig an. In seinem Beruf, seinem Arbeitsalltag begegnete ihm immer nur Korruptheit. Donald kam zögernd die Treppe herunter, und Frost entführte ihn sofort zur nächsten Exklusivbefragung in die Küche. Wenn er ihn so hart rannahm wie mich, dachte ich bei mir, dann war Don wirklich zu bedauern. Während sie sich unterhielten, wanderte ich ziellos im Haus umher, schaute in 30
Abstellkammern, öffnete Schränke, blickte sozusagen hinter die Kulissen im Leben meines Cousins. Entweder er oder Regina hatte mit Leidenschaft leere Schachteln gesammelt. Ich fand sie ohne Zahl, in allen Formen und Größen, in jedes Fach, jeden Winkel gestopft: Pappkartons einfach oder bunt kaschiert, Pralineschachteln mit Schleifchen, alle zu hübsch oder zu praktisch, um weggeworfen zu werden. Die Einbrecher hatten viele zwar aufgemacht, die meisten aber ungeöffnet auf den Boden geschmissen. Ich konnte mir ihren Frust lebhaft vorstellen. Die große Glasveranda, die nur wenige Antiquitäten und keine Gemälde enthielt, hatten sie links liegenlassen, und dort, zwischen ausladenden Topfpflanzen, setzte ich mich schließlich auf einen Bambusstuhl und schaute hinaus in den windbewegten Garten. Windböen fegten welkes Laub von den Bäumen, ein paar späte Rosen hielten sich hartnäckig an ihren dornigen Stengeln. Ich haßte den Herbst. Zeit der Schwermut, Zeit des Todes. Meine Stimmung sank jedes Jahr, wenn die Blätter fielen, und erst im rappelkalten Winter lebte ich wieder auf. Laut Statistik gab es die meisten Selbstmorde im Frühling, zur Zeit des Neuanfangs, wo alles wächst und sich der Sonne entgegenreckt. Mir war das ein Rätsel. Sollte ich jemals von einer Brücke springen, dann sicher in der deprimierenden Zeit des Verfalls. Die Veranda war grau und kalt. Keine Sonne an diesem Sonntag. Ich holte meinen Koffer von oben. Im Laufe meines Wanderlebens hatte ich das traditionelle Reisegepäck des Malers auf den Kopf gestellt: Der Koffer enthielt jetzt mein Handwerkszeug, die Malertasche meine Kleider. Tatsächlich war der große, robuste Koffer, dessen Innenausstattung ich meinen Bedürfnissen angepaßt hatte, eine Art tragbares Atelier mit Pinseln, Farben, einer zusammenklappbaren Staffelei aus 31
Leichtmetall, unzerbrechlichen Behältern mit Leinöl und Terpentin sowie einem Gestell, in dem sich bis zu vier noch feuchte Gemälde transportieren ließen. Dazu kamen Abdeckfolie, eine Großpackung Papiertücher und reichlich Spiritus, um Schmutz zu vermeiden und alles möglichst sauberzuhalten. Der maßgeschneiderte Koffer hatte mir schon manche unnötigen Kosten erspart. Ich stellte die Staffelei auf, bereitete meine Palette vor und legte auf einer mittelgroßen Leinwand die Grundzüge einer melancholischen Landschaft an, bestehend aus Donalds Garten, wie ich ihn sah, vor dem Hintergrund kahler Äcker und düsteren Waldes. Nicht meine gewohnte Malerei und offen gestanden auch nichts, was im nächsten Jahrhundert Schlagzeile machen würde, aber so hatte ich wenigstens etwas zu tun. Immer mehr frierend, arbeitete ich beharrlich, bis der noch kältere Inspektor Frost zu gehen geruhte; und er ging, ohne noch einmal mit mir zu sprechen, geradewegs zur Tür hinaus, die hinter ihm ins Schloß fiel. Donald saß vollkommen erledigt in der Küche, die Arme auf dem Tisch verschränkt und den Kopf auf die Arme gelegt, ein Bild tiefster Verzweiflung. Als er mich hereinkommen hörte und langsam aufblickte, war sein Gesicht merklich gealtert und voll tiefer Falten. »Weißt du, was er denkt?« fragte er. »Mehr oder weniger.« Er schaute mich finster an. »Ich konnte ihn nicht überzeugen. Er bohrt und bohrt. Immer wieder stellt er dieselben Fragen. Warum glaubt er mir nicht?« »Die Polizei wird oft angelogen. Das fördert wohl eine gewisse Skepsis.« »Morgen sind wir in meiner Firma verabredet. Er sagt, er bringt ein paar Kollegen mit. Die sollen sich die Bücher ansehen.«
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Ich nickte. »Du kannst froh sein, daß er dich nicht heute schon hingeschleift hat.« »Wahrscheinlich.« »Entschuldige, Don«, sagte ich verlegen. »Ich habe ihm erzählt, daß der Wein weg ist. Das hat ihn mißtrauisch gemacht... Ich bin schuld, daß er dich so getriezt hat.« Er schüttelte müde den Kopf. »Ich hätte es ihm auch gesagt. Es wäre mir nicht in den Sinn gekommen, ihm das zu verschweigen.« »Aber... ich habe ihn auch noch darauf aufmerksam gemacht, daß es lange gedauert haben muß, die ganzen Flaschen rauszuschaffen.« »M-hm. Nun, darauf wäre er auch so gekommen.« »Was meinst du eigentlich, wie lange das gedauert hat?« »Kommt darauf an, wieviel Leute es waren.« Er fuhr mit der Hand über sein Gesicht und rieb sich die müden Augen. »Jedenfalls müssen sie richtige Weinkisten gehabt haben. Demnach haben sie gewußt, daß der Wein da war, und sind nicht etwa zufällig darauf gestoßen. Und daraus folgt... laut Frost... daß ich ihn entweder vor einiger Zeit selbst verkauft habe und jetzt behaupte, er sei gestohlen worden, damit ich die Versicherung zur Kasse bitten kann, oder aber – wenn er wirklich am Freitag gestohlen worden ist – daß ich den Dieben gesagt habe, was sie für Kisten brauchen, und somit für die ganze schreckliche Geschichte selbst verantwortlich bin.« In gedrücktem Schweigen dachten wir darüber nach. Schließlich sagte ich: »Wer wußte denn, daß du den Wein hier hattest? Und daß freitags nie jemand im Haus war? Und ging es in erster Linie um den Wein, die Antiquitäten oder die Gemälde?« »Gott, Charles, du hörst dich an wie Frost.« »Entschuldige.« »Allen Unternehmen fehlt es heutzutage an Geld«, sagte er, als müsse er sich verteidigen. »Die verstaatlichte Industrie 33
macht Millionenverluste. Steigende Löhne, Steuern, Inflation – wie soll ein kleiner Betrieb da die gewohnten Gewinne erzielen? Natürlich haben wir ein Liquiditätsproblem. Wer denn nicht?« »Wie groß ist eures?« fragte ich. »Auszuhalten. Schlimm genug. Aber von der Liquidation sind wir weit entfernt. Eine GmbH darf ja nur Handel treiben, solange sie ihre Kosten decken kann.« »Aber das könnte sie länger... wenn du Kapital nachschießen würdest?« Er betrachtete mich mit dem Anflug eines Lächelns. »Mich wundert immer noch, daß du Maler geworden bist.« »So kann ich wenigstens jederzeit ruhigen Gewissens zum Pferderennen gehen.« »Fauler Hund.« Einen Moment lang kam der alte Donald zum Vorschein, aber dann war es mit der Unbeschwertheit wieder vorbei. »Es würde mir nicht im Traum einfallen, ein Unternehmen, das in den letzten Zügen liegt, mit meinem Privatvermögen zu unterstützen. Stände es so schlecht um meine Firma, würde ich sie liquidieren. Sonst wäre ich verrückt.« Ich schnalzte mit der Zunge. »Frost hat dich bestimmt auch gefragt, ob die gestohlenen Sachen über ihrem Wert versichert waren.« »Ja. Mehr als einmal.« »Dabei würdest du ihm das wohl kaum auf die Nase binden.« »Sie waren’s aber nicht.« »Nein.« »Höchstens unterversichert.« Er seufzte. »Weiß der Himmel, ob sie für den Munnings zahlen. Die Versicherung war nur telefonisch vereinbart. Ich habe ihnen noch gar nicht die Prämie überwiesen.« »Das müßte schon klargehen, wenn du den Kauf nachweisen kannst und so weiter.« 34
Er schüttelte verzagt den Kopf. »Sämtliche Belege dafür waren in dem Schreibtisch in der Diele. Die Quittung von der Galerie, die mir das Bild verkauft hat, der Herkunftsnachweis und der Zollschein. Alles weg.« »Das wird Frost nicht gefallen.« »Es gefällt ihm nicht.« »Nun... du hast ihm hoffentlich klargemacht, daß du wohl kaum teure Gemälde kaufen und um die Welt reisen würdest, wenn du völlig blank wärst.« »Er meinte, ich wäre vielleicht deshalb blank, weil ich teure Gemälde kaufe und Weltreisen mache.« Frosts Verdächtigungen umschlossen Donald wie Mauern, an denen er sich den Kopf einrennen konnte. Mein Cousin mußte da herausgeholt werden, bevor er stehend k.o. ging. »Magst du Spaghetti?« fragte ich. »Was?« »Es ist so ziemlich das einzige, was ich kochen kann.« »Ach so...« Er blickte ungefähr in Richtung Küchenuhr. Es war halb fünf und, wenn es nach meinem Magen ging, höchste Zeit, etwas zu essen. »Von mir aus«, sagte er. Die Polizei ließ ihn am nächsten Morgen zu der Feuerprobe im Büro abholen. Er fuhr willenlos mit, nachdem er beim Frühstück mehr oder weniger ausdrücklich erklärt hatte, er werde sich nicht verteidigen. »Das mußt du aber, Don«, sagte ich. »Du brauchst jetzt einen klaren Kopf, darfst keinen Fehler machen und dich nicht beirren lassen. Kurz, du mußt du selbst sein.« Er lächelte matt. »Dann geh du doch für mich. Mir ist das zuviel. Und was liegt daran?« Sein Lächeln erlosch, und plötzlich zeigte sich sein ganzes Unglück wie ein dunkler Wasserspiegel unter zerbrochenem Eis. »Ohne Regina... macht Geldverdienen keinen Sinn.« 35
»Wir reden nicht vom Geldverdienen, sondern von Mordverdacht. Wenn du dich nicht verteidigst, werden sie annehmen, du kannst es nicht.« »Ich bin es leid. Die können denken, was sie wollen.« »Don«, sagte ich ernst, »sie werden denken, was du sie denken läßt.« »Das ist mir ziemlich egal«, sagte er dumpf: und da lag das Problem. Es kümmerte ihn wirklich nicht. Er war den ganzen Tag fort. Ich malte. Nicht die traurige Landschaft. Die Glasveranda erschien mir an diesem Morgen besonders grau und kalt, und ich wollte nicht schon wieder in Schwermut versinken. Ich ließ die halbfertige Leinwand dort auf dem Tisch zurück und begab mich mit allem Drum und Dran in die warme Küche. Nicht ganz so gutes Licht vielleicht, aber es war der einzige Raum im Haus, der Leben atmete. Ich malte Regina an ihrem Herd, mit einem Kochlöffel in der einen Hand und einer Flasche Wein in der anderen. Ich malte, wie sie beim Lächeln den Kopf in den Nacken legte, und ich malte ihr Lächeln, strahlend, ohne Falsch und unverkennbar glücklich. Ich malte die Küche hinter ihr, so wie ich sie vor Augen hatte, und Regina selbst, wie sie vor meinem inneren Auge stand. So klar und deutlich sah ich sie vor mir, daß ich ein paarmal von dem Gesicht auf der Leinwand aufschaute, um etwas zu ihr zu sagen, und verdutzt feststellte, daß sie nicht da war. Wirkliches und Unwirkliches schienen merkwürdig miteinander vermischt zu sein. Ich arbeitete selten länger als vier Stunden am Stück, zum einen, weil mich die körperliche Anspannung ermüdete, zum anderen, weil die Konzentration dazu führte, daß mir kalt wurde und ich Hunger bekam. Gegen Mittag legte ich also eine Pause ein, aß Cornedbeef aus der Dose mit Pickles auf Toast und machte dann einen Spaziergang unter Ausschluß der
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Öffentlichkeit, indem ich durch den Obstgarten ging und durch die Hecke schlüpfte. Eine Zeitlang wanderte ich ziellos durch den weitläufigen Ort, dachte an das Bild und wurde im Laufen die überschüssige Energie los, die ich nach der Arbeit an der Staffelei oft verspürte. Mehr gebrannte Umbra für die Falten der Vorhänge, dachte ich; und einen Purpurschatten auf dem Kochtopf. Das cremefarbene Hemd von Regina brauchte Ocker unterm Kragen, vielleicht auch eine Spur Grün. Der Herd mußte noch viel mehr ausgearbeitet werden, und ich hatte gegen meine eigene Grundregel verstoßen, ein Bild immer als Ganzes zu gestalten, Sujet und Hintergrund Schritt für Schritt. Reginas Gesicht war schon klar herausgearbeitet und fertig bis auf den Glanz der Lippen und einen Lichttupfer innen an den unteren Augenlidern, denn dafür mußte der Untergrund erst trocken sein. Ich hatte Angst gehabt, sie nicht mehr so klar zu sehen, wenn ich mir zuviel Zeit ließ, aber dadurch war jetzt das Bildgleichgewicht gestört, und ich würde die Küche sorgfältig auf die Figur abstimmen müssen, damit das Ganze wie aus einem Guß aussah und harmonisch und natürlich wirkte. Der Wind war beißend kalt, der Himmel bedeckt mit schnell dahintreibenden dunklen Wolken. Ich vergrub die Hände in meinen Anoraktaschen und schlüpfte durch die Hecke zurück, als die ersten Regentropfen fielen. Die Nachmittagssitzung war wegen des Lichts wesentlich kürzer, und zu meinem Verdruß fand ich nicht die richtigen Farbtöne für die Kücheneinrichtung. Was auf der Palette richtig aussah, konnte auf der Leinwand falsch aussehen, trotz meiner jahrelangen Erfahrung. Ich griff dreimal daneben und machte Schluß. Als ich die Pinsel reinigte, kam Donald zurück. Ich hörte, wie der Wagen anhielt, hörte Türen schlagen und – zu meiner
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Überraschung – das Klingeln an der Haustür. Donald hatte seine Schlüssel mitgenommen. Ich ging durch den Flur und öffnete. Ein Polizist in Uniform stand draußen und hielt Donald am Arm. Im Hintergrund eine Reihe gespannt zuschauender Gesichter. Mein vorher schon blasser Cousin sah jetzt wachsbleich aus. Die Augen waren leblos wie der Tod. »Don!« sagte ich, und mein Entsetzen war mir sicher anzusehen. Er schwieg. Der Polizist beugte sich vor, sagte: »Da wären wir, Sir«, und übergab Donald symbolisch, aber auch ganz konkret meiner Obhut, denn danach drehte er sich auf dem Absatz um, stieg in seinen Wagen und fuhr davon. Ich führte Donald ins Haus und schloß die Tür. Noch nie hatte ich jemand in einem so beängstigenden Zustand der Auflösung gesehen. »Ich habe mich wegen der Beerdigung erkundigt«, sagte er. Sein Gesicht war reglos, und er stieß die Worte hervor. »Sie sagen...« Er brach ab, zog die Luft ein, setzte neu an. »Es... gibt keine Beerdigung.« »Donald...« »Sie sagen... sie dürfe erst beerdigt werden, wenn die Ermittlungen abgeschlossen seien. Das könne... noch Monate dauern. Sie sagten... sie würden sie einfrieren...« Er litt furchtbare Qualen. »Sie sagten...« Er schwankte ein wenig. »Sie sagten... die Leiche eines Mordopfers gehöre dem Staat.« Ich konnte ihn nicht halten. Bewußtlos brach er vor meinen Augen zusammen.
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Zwei Tage lang lag Donald im Bett, und ich begann zu verstehen, was Gebrochensein hieß. Diesmal kam ein Arzt morgens und abends mit Tabletten und Spritzen, und er wurde beruhigt, ob es ihm paßte oder nicht. In der übrigen Zeit mußte ich nach ihm sehen, obwohl ich zum Krankenpfleger fast noch weniger taugte als zum Koch. »Ich möchte nur Charles«, hatte Donald dem Arzt erklärt. »Charles macht keinen Rummel.« Ich saß viel bei ihm, wenn er wach war, und sah, wie er sich mit benommenem Kopf mühte, die Schrecken in seinem Innern zu fassen und ihrer Herr zu werden. Er nahm merklich ab, das kräftige Gesicht fiel ein und nahm einen kränklichen, verhärmten Zug an. Die grauen Schatten um seine Augen wurden immer tiefer, und die Arme und Beine schienen ihre gewohnte Kraft ganz verloren zu haben. Ich kochte für uns Konserven- und Tiefkühlkost, zubereitet nach den Hinweisen auf der Verpackung. Donald dankte mir ausdrücklich und aß, was er herunterbrachte, aber wahrscheinlich, ohne etwas zu schmecken. Zwischendurch, während er schlief, machte ich an den beiden Gemälden weiter. Die traurige Landschaft war nicht mehr traurig, sondern nur noch herbstlich, eine Wiese mit drei Pferden, von denen eines graste. Mit Bildern dieser Art, gefällig und einigermaßen gekonnt, verdiente ich mein Brot. Sie verkauften sich recht gut, und normalerweise produzierte ich etwa alle zehn Tage eins, ohne mich darüber hinwegzutäuschen, daß sie technisch versiert waren, aber keine Seele hatten. Das Porträt von Regina jedoch war meine beste Arbeit seit langem. Sie lachte von der Leinwand wie das blühende Leben, und mir zumindest schien sie in ihrem ganzen Wesen erfaßt. 39
Bilder änderten sich öfter im Lauf der Arbeit, und von Tag zu Tag hatte sich für mich der Schwerpunkt verlagert, so daß die Küche im Hintergrund dunkler und unschärfer geworden war und Regina dafür um so leuchtender hervortrat. Man sah sie noch kochen, aber die junge Frau war jetzt wichtiger als ihre Tätigkeit. Zum Schluß hatte ich die noch vorhandene Küche als flüchtige Impression wiedergegeben und die Frau, die nicht mehr existierte, als Realität. Wenn ich nicht gerade daran arbeitete, versteckte ich das Bild in meinem Koffer. Donald sollte es nicht unverhofft zu Gesicht bekommen. Am frühen Mittwochabend kam er wacklig im Bademantel in die Küche hinunter und lächelte zaghaft, wie um sich selber Mut zu machen. Er setzte sich an den Tisch, trank etwas von dem Scotch, den ich an diesem Tag gekauft hatte, und sah zu, wie ich Pinsel und Palette reinigte. »Du bist immer so ordentlich«, sagte er. »Farben sind teuer.« Er winkte matt nach dem Pferdebild, das zum Trocknen auf der Staffelei stand. »Wieviel kostet es denn, so etwas zu malen?« »An Rohmaterial ungefähr zehn Pfund. Mit Heizung, Licht, Raten, Miete, Essen, Scotch und allgemeinem nervlichen Verschleiß in etwa soviel, wie ich in einer Woche verdienen würde, wenn ich’s sausen ließe und wieder anfinge, Häuser zu verkaufen.« »Eine ganze Menge also«, sagte er ernst. Ich grinste. »Ich bereue es nicht.« »Nein. Das ist mir klar.« Ich wusch die Pinsel noch unter dem Hahn in Seifenwasser aus, zog sie in Form und stellte sie zum Trocknen aufrecht in ein Glas. Gute Pinsel waren mindestens so teuer wie Farben. »Nachdem sie die Betriebsbuchhaltung überprüft hatten«, sagte Donald unvermittelt, »haben sie mich aufs Revier 40
geschleift und mir nachzuweisen versucht, daß ich Regina eigenhändig umgebracht habe.« »Das gibt’s doch nicht!« »Sie haben ausgerechnet, daß die Zeit gereicht hätte, um in der Mittagspause heimzufahren und es zu tun.« Ich nahm den Scotch vom Tisch und goß mir eine ordentliche Portion ein. Gab Eis hinzu. »Die sind ja verrückt«, sagte ich. »Da war außer Frost noch ein anderer Mann. Ein Kommissar. Wall hieß er, glaube ich. Dünn, mit stechendem Blick. Die Augen schienen überhaupt nicht zu blinzeln. Er hat mich nur angestarrt und immer wieder gesagt, ich hätte sie umgebracht, weil sie nach Hause gekommen sei und gesehen hätte, wie ich den Einbruch überwache.« »Du lieber Gott!« sagte ich empört. »Dabei hat sie das Blumengeschäft doch erst um halb drei verlassen.« »Die Frau im Blumenladen sagt jetzt, sie weiß nicht mehr auf die Minute genau, wann Regina weg ist. Nur noch, daß es nach der Mittagspause war. Und ich kam erst gegen drei aus der Kneipe zurück. Ich war spät essen. Ein Kunde hatte mich den ganzen Morgen aufgehalten...« Er brach ab und umfaßte sein Glas, wie um sich daran festzuhalten. »Ich kann dir nicht sagen... wie schrecklich das war.« Durch die zurückhaltende Formulierung erschien alles noch schlimmer. »Sie sagten mir«, er nickte mit dem Kopf, »wenn verheiratete Frauen ermordet würden, sei in acht von zehn Fällen der Mann der Täter.« Dieses Kleinod hörte sich ganz nach Frost an. »Zu guter Letzt haben sie mich gehen lassen, aber ich glaube nicht...« Seine Stimme zitterte. Er schluckte und war sichtlich bemüht, die hart erkämpfte Ruhe zu bewahren. »Ich glaube nicht, daß sie schon fertig sind.«
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Vor fünf Tagen hatte er Regina beim Nachhausekommen tot aufgefunden. Bedachte man, mit was für Holzhämmern er seitdem traktiert wurde, statt ein wenig Freundlichkeit und Trost zu erfahren, und wie das alles an seinen psychischen Reserven zehren mußte, dann konnte man nur staunen, wie gut er noch beieinander war. »Haben sie inzwischen eine Spur von den Einbrechern?« fragte ich. Er lächelte schwach. »Ich weiß gar nicht, ob sie danach suchen.« »Bestimmt.« »Mag sein. Sie haben nicht davon gesprochen.« Langsam trank er einen Schluck Whisky. »Es ist drollig, weißt du. Ich hatte immer eine hohe Meinung von der Polizei. Ich wußte nicht, daß die... so sein kann.« Ein Dilemma, dachte ich. Entweder heizte man einem Verdächtigen ein, in der Hoffnung, daß er geständig würde, oder man stellte höflich ein paar Fragen und kam zu nichts – aber unter der einzig wirksamen Methode hatten die Unschuldigen mehr zu leiden als die Täter. »Das nimmt kein Ende«, sagte Donald. »Nie.« Bis Freitag mittag war die Polizei noch zweimal dagewesen, doch allzu heftige Erschütterungen brachte ihr Besuch für meinen Cousin nicht mit sich. Er war immer noch erschöpft, apathisch und aschfahl, aber es schien, als sei das Maß seines Leidens voll und für mehr einfach kein Platz. Alles, was Frost und sein Begleiter zu ihm sagten, prallte an ihm ab, ohne ihn weiter zu verstören. »Wolltest du nicht jemandem ein Pferd malen?« meinte er plötzlich, als wir zu Mittag aßen. »Das habe ich verschoben.« Er schüttelte den Kopf. »Als ich dich bat zu bleiben, sagtest du, bis zu deinem nächsten Auftrag hättest du noch Zeit.« Er 42
überlegte kurz. »Dienstag. Du wurdest am Dienstag in Yorkshire erwartet.« »Ich habe angerufen und mich entschuldigt.« »Fahr ruhig hin.« Er sagte, er komme jetzt allein zurecht, und dankte mir für alles. Er bestand darauf, daß ich die Zugverbindung nachschaute, ein Taxi bestellte und den Leuten in Yorkshire Bescheid gab. Da es wirklich so aussah, als könnte man ihn wieder sich selbst überlassen, packte ich meine Sachen. »Eine Frage«, sagte er schüchtern, als wir auf das Taxi warteten, das mich abholen sollte, »malst du eigentlich auch Porträts? Von Menschen, meine ich, nicht von Pferden.« »Manchmal«, sagte ich. »Könntest du denn irgendwann vielleicht... ich meine, ich habe ein ziemlich gutes Foto von Regina...« Ich sah ihm prüfend ins Gesicht. Meinem Gefühl nach konnte es nicht schaden. Ich klappte den Koffer auf und nahm das Bild heraus, aber mit der Rückseite zu ihm. »Es ist noch feucht«, erklärte ich. »Und nicht gerahmt, und es sollte frühestens in einem halben Jahr fixiert werden. Aber du kannst es haben, wenn du willst.« »Zeig mal.« Ich drehte die Leinwand um. Er machte große Augen, sagte aber kein Wort. Das Taxi hielt vor der Haustür. »Bis dann«, sagte ich und lehnte Regina an die Wand. Er nickte und drückte meinen Arm, hielt mir die Tür auf und hob zum Abschied kurz die Hand. Wortlos, denn seine Augen standen voller Tränen. Fast eine Woche lang bemühte ich mich in Yorkshire, einen geduldigen alten Steeplechaser zu verewigen, dann kehrte ich heim in meine laute Wohnung am Flughafen Heathrow, um dem Bild dort den letzten Schliff zu geben.
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Am Samstag fand ich, ich hätte mich lange genug abgeschunden, und fuhr zum Pferderennen. Plumpton und die vertraute prickelnde Erregung beim Anblick der geschmeidigen Bewegungen der Pferde. Gemälde konnten ihnen niemals gerecht werden – unmöglich. Auf die Leinwand gebannte Bewegung war nur Ersatz. Ich wäre gern Rennen geritten, aber mir fehlten die Übung und das Geschick dazu – und wohl auch der Mut. Wie Donald stammte ich aus einer mittelständischen Kaufmannsfamilie, mein Vater war selbständiger Auktionator in Sussex gewesen. Als Kind hatte ich zahllose Stunden damit verbracht, den Pferden bei der Arbeit auf den Downs um Findon zuzuschauen, und gezeichnet und gemalt hatte ich sie, seit ich sechs war. Um selbst zu reiten, hatte ich das Geld für ein Stündchen Spaß meist von liebenden Tanten erbetteln müssen, da ich kein eigenes Pony besaß. Das Kunststudium später hatte mir gefallen, aber als ich mit zweiundzwanzig dann plötzlich beide Eltern verlor und allein auf der Welt stand, mußte ich sehen, woher ich etwas zu essen bekam. Der Schritt zum Grundstücksmakler auf der anderen Straßenseite hatte nur eine Übergangslösung sein sollen, aber dann war ich doch gern bei ihm geblieben. Die Hälfte aller Pferdemaler Englands schien nach Plumpton gekommen zu sein, was nicht verwunderte, denn der Sieger des letzten Grand National wurde zu seinem ersten Saisonauftritt erwartet. Es war einfach so, daß sich ein Bild mit dem Titel »Nijinsky auf der Heide von Newmarket« besser verkaufte als ein »Pferd auf der Heide von Newmarket«, und »Der GrandNational-Sieger am Start« gewann spielend vor »Startbereites Pferd in Plumpton«. Die wirtschaftlichen Gegebenheiten zwangen manchen potentiellen Rembrandt, Marktforschung zu betreiben. »Todd!« schmatzte mir eine Stimme ins Ohr. »Du schuldest mir fünfzehn Pfund.« 44
»Sonst noch was?« sagte ich. »Du hast behauptet, Seesaw sei ein todsicherer Tip für Ascot.« »Von Fremden nimmt man keine Süßigkeiten.« Billy Pyle lachte überschwenglich und klatschte mir seine Pfote auf die Schulter. Er gehörte zu den Rennbahnbekanntschaften, für die man sofort ein Busenfreund war, die immer jemand zum Mittrinken und Vollabern suchten und jedermann zu Tode langweilten. Seit zig Jahren begegnete mir Billy Pyle auf der Rennbahn, und noch immer hatte ich kein Rezept, das mir erlaubte, ihn mit Anstand loszuwerden. Die gängigen Ausflüchte prallten von seiner dicken Haut ab wie Quecksilber von Glas, und im großen ganzen fand ich es weniger anstrengend, schnell einen Drink mit ihm zu heben, als ihm den ganzen Nachmittag auszuweichen. Ich wartete darauf, daß er sagte: »Gehen wir was trinken?«, wie er es immer tat. »Gehen wir was trinken?« sagte er. »Ehm... klar«, fügte ich mich in das Unvermeidliche. »Dein Vater würde mir nie verzeihen, wenn ich dich links liegenließe.« Das sagte er auch immer. Sie hatten sich von Geschäfts wegen gekannt, aber die angebliche Freundschaft hielt ich für posthum. »Komm mit, Junge.« Ich kannte die nervige Nummer auswendig. Wie zufällig würde auch seine Tante Sal in der Bar sein, und dann mußte ich ihnen beiden einen ausgeben. Tante Sal einen doppelten Brandy mit Ginger-Ale. »Ach, da ist ja Tante Sal«, sagte Billy, als er die Tür aufstieß. Welche Überraschung. Tante Sal war eine leidenschaftliche Rennbahnbesucherin in den Siebzigern, nie ohne eine Kippe im Mundwinkel und immer mit einem Finger als Lesezeichen zwischen ihren Rennberichten. 45
»Irgendeinen Tip für das Rennen um halb drei?« wollte sie wissen. »Tag«, sagte ich. »Was? Ach so. Tag, wie geht’s? Hast du einen Tip für das Rennen um halb drei?« »Leider nicht.« »Hm.« Sie schaute in die Rennberichte. »Treetops Gewicht stimmt, aber ob sein Bein durchhält?« Plötzlich sah sie auf und stieß mit der freien Hand ihren Neffen an, der die Bedienung auf sich aufmerksam zu machen suchte. »Billy, bestell auch was für Mrs. Matthews.« »Für wen?« »Mrs. Matthews. Was trinken Sie, Maisie?« Sie wandte sich einer ausladenden Frau in mittleren Jahren zu, die halb verdeckt hinter ihr stand. »Oh... Gin Tonic bitte.« »Hast du gehört, Billy? Doppelten Brandy mit Ginger für mich, einen Gin Tonic für Mrs. Matthews.« Maisie Matthews’ Kleidung war sichtlich neu und teuer, und vom gestylten Haar bis zur Krokodilhandtasche und den goldverzierten Schuhen verriet alles an ihr, daß sie Geld hatte. Die Hand, die den Gin entgegennahm, war mit einem großen, in Diamanten gefaßten Opal bestückt. Kein Funken Freude lag in dem kunstvoll angemalten Gesicht. »Guten Tag«, sagte ich höflich. »Hm?« machte Tante Sal. »Ach ja, das ist Charles Todd. Was hältst du von Treetops?« »Geht so«, sagte ich. Tante Sal studierte besorgt wieder die Rennberichte, und Billy reichte die Getränke herum. »Zum Wohl«, sagte Maisie Matthews halbherzig. »Prost!« Auch Billy hob sein Glas. »Maisie hat ein bißchen Pech gehabt«, sagte Tante Sal. 46
Billy grinste. »Aufs falsche Pferd gesetzt, Mrs. Matthews?« »Ihr Haus ist abgebrannt.« Ein idealer Hemmschuh für leichtes Geplauder. »Oh... na so was«, sagte Billy verlegen. »Wirklich Pech.« »Alles verloren, was, Maisie?« »Bis auf das, was ich am Leib trage«, antwortete sie düster. »Trinken Sie noch einen Gin«, schlug ich vor. »Danke, mein Lieber.« Als ich mit dem Getränkenachschub wiederkam, schilderte sie gerade in lebhaften Farben ihr Unglück. »...Ich war natürlich nicht daheim, ich war bei meiner Schwester Betty in Birmingham, und da steht auf einmal ein Polizist vor der Tür und sagt mir, wie schwer ich zu finden gewesen bin. Aber da war natürlich alles schon gelaufen. Als ich nach Worthing zurückkam, war nur noch ein Haufen Asche übrig, und mittendrin stand der Kamin hoch. Ich mußte ganz schön bohren, um herauszukriegen, was passiert war, aber schließlich sagte man mir, das Feuer sei plötzlich ausgebrochen, was immer das nun heißt, aber aus unbekannter Ursache, da sich seit zwei Tagen niemand im Haus aufgehalten habe.« Sie nahm den Gin, lächelte an mir vorbei und wandte sich wieder ihrer Geschichte zu. »Ich war so was von wütend, wo ich doch alles verloren hatte, und ich sagte, warum habt ihr denn nicht mit Seewasser gelöscht, das Meer ist doch gleich hinter den Tamarisken und dem Kiesstrand, denn es hieß, sie hätten nichts retten können, weil ihnen das Wasser ausgegangen sei, und der Feuerwehrmann, bei dem ich mich beschwerte, meinte, Seewasser könnten sie nicht nehmen, weil es erstens alles zerfrißt und weil sich zweitens die Pumpen mit Tang, Muscheln und allem möglichen vollsetzen, und außerdem sei ohnehin Ebbe gewesen.«
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Ich unterdrückte ein unangebrachtes Lachen. Sie merkte es mir an. »Tja, mein Lieber, für Sie mag das komisch sein, aber Sie haben auch nicht all Ihre Schätze verloren, die Sie seit ewigen Zeiten gesammelt haben.« »Bitte entschuldigen Sie, Mrs. Matthews. Ich finde das nicht komisch. Es war nur...« »Schon gut. Ich will nicht bestreiten, daß es etwas Komisches an sich hat, wenn so viel Wasser da ist und doch kein Tropfen, um einen Brand zu löschen, aber ich war jedenfalls außer mir.« »Ich setze mal auf Treetops«, meinte Tante Sal nachdenklich. Maisie Matthews sah sie unsicher an, und Billy Pyle, der genug Unerfreuliches gehört hatte, schaltete dankbar wieder auf Leutseligkeit, klopfte mir auf die Schulter und meinte, ja, nun sei es Zeit, sich das nächste Rennen anzuschauen. Schuldigkeit getan, dachte ich seufzend und entfernte mich, um mir das Rennen von hoch oben auf der Tribüne anzusehen, versteckt und außer Hörweite. Treetops brach nieder und wurde humpelnd Letzter. Pech für den Besitzer, den Trainer und Tante Sal. Ich ging hinunter zum Führring, um den Grand-National-Sieger vor seinem Rennen paradieren zu sehen, hatte aber nicht vor, ihn zu malen. Als Sujet schien er mir ziemlich ausgereizt, und bald würde keiner mehr sein Konterfei sehen wollen. Der Nachmittag verging wie üblich schnell. Ich gewann ein wenig, verlor ein wenig und weidete die Augen an Schönerem als Geld. Vor dem letzten Rennen sah ich Maisie Matthews über die Tribüne auf mich zukommen. Unverwechselbar der knallrote Mantel, das Styling und das runde, freundliche, weltkluge Gesicht. Sie blieb eine Stufe unter mir stehen und blickte herauf. Voller Selbstvertrauen, wenn auch unschlüssig. »Sind Sie nicht der junge Mann, der mit Sal, Billy und mir etwas getrunken hat?« fragte sie. 48
»Stimmt.« »Ich war mir nicht sicher«, sagte sie, und die Unschlüssigkeit verschwand. »Hier im Freien sehen Sie älter aus.« »Anderes Licht«, stimmte ich zu. Auch sie sah jetzt ungefähr zehn Jahre älter aus. Gut fünfzig, dachte ich. Barlicht schmeichelte immer. »Die beiden sagten mir, Sie seien Maler.« Und leiser Vorbehalt klang in Maisies Worten nach. »M-hm«, sagte ich und schaute hinter den aufgaloppierenden Startern her. »Bringt nicht viel Geld, oder?« Ich grinste sie an, denn ihre Direktheit gefiel mir. »Kommt drauf an, wer man ist. Picasso konnte nicht meckern.« »Wieviel würden Sie verlangen, wenn Sie für mich ein Bild malen?« »Was für ein Bild?« »Nun, mein Lieber, Ihnen kommt’s vielleicht morbide vor, und vielleicht ist es das sogar, aber als ich heute morgen hierherfuhr, dachte ich, die verkohlte Ruine mit dem herausstehenden Kamin und der verbrannten Hecke und dem ganzen Meer dahinter – ich krieg wirklich jedesmal zuviel, wenn ich das sehe –, die gibt doch ein irres Bild ab, und ob ich nicht den Fotografen aus dem Ort, der Hochzeiten und so dokumentiert, ein Farbfoto davon machen lasse, denn wenn das erst mal geräumt und wieder aufgebaut ist, glaubt mir doch keiner mehr, wie schlimm das war, und zum Beweis dafür soll dann im neuen Haus das Bild hängen.« »Aber...« »Wieviel also? Sie sehen mir ja wahrscheinlich an, daß ich nicht knapp bei Kasse bin, aber wenn Sie mehrere Hundert verlangen, könnte ich natürlich auch den Fotograf nehmen.« »Natürlich«, stimmte ich mit ernster Miene bei. »Wie wär’s, wenn ich mir das Haus, oder was davon übrig ist, einmal ansehe und Ihnen ein Angebot mache?« 49
Dagegen hatte sie nichts einzuwenden. »Gut, mein Lieber. Das klingt ja sehr professionell. Es müßte allerdings bald sein, denn wenn die Leute von der Versicherung durch sind, lasse ich den Schutt wegräumen.« »Wie bald?« »Ginge es nicht heute, wo Sie schon mal auf halbem Weg dahin sind?« Wir besprachen das. Sie sagte, sie würde mich in ihrem Jaguar mitnehmen, da ich kein Auto hätte, und von Worthing aus käme ich ebensogut mit dem Zug nach Hause wie von Plumpton. Also willigte ich ein. Nichtsahnend tut man die folgenschwersten Schritte. Die Ruine war definitiv gemäldogen, um es mit einem unverbrauchten Wort zu sagen. Auf der Fahrt dahin hatte Maisie fast ohne Unterbrechung von ihrem verstorbenen Mann Archie geredet, der so wundervoll für sie gesorgt hatte. »Also das heißt, ich habe natürlich auch für ihn gesorgt, denn ich war Krankenschwester. Privat, versteht sich. Ich habe seine erste Frau bis ans Ende gepflegt, sie hatte Krebs, und dann bin ich erst noch dageblieben, um nach ihm zu schauen, und dann bat er mich, ganz bei ihm zu bleiben, und wir sind zusammengeblieben. Er war natürlich viel älter als ich, jetzt ist er schon über zehn Jahre tot, der Archie. Er hat mich wunderbar versorgt.« Sie blickte liebevoll auf den großen Opal. Viele Männer können sich nur wünschen, in so werter Erinnerung zu bleiben. »Da ich nun nach seinem Tod so gut versorgt war, hätte ich es schade gefunden, dem nicht ein bißchen Spaß abzugewinnen, und so bin ich dem Hobby unserer wenigen gemeinsamen Jahre treu geblieben, das darin bestand, große Auktionen zu besuchen, denn da findet man die hübschesten Sachen, ganz preiswert manchmal, und natürlich ist es auch 50
reizvoll, wenn die Sachen von jemand Bekanntem oder Berühmtem stammen.« Sie schaltete abrupt und überholte überfallartig einen harmlosen kleinen Lieferwagen. »Und jetzt ist das alles verbrannt, die ganzen Erinnerungen an Archie und die Orte, wo wir zusammen waren, sind hin, und ich kann Ihnen sagen, mein Lieber, das macht mich rasend.« »Es ist wirklich ein böser Schlag für Sie.« »Ja.« Ich überlegte, daß mir nun zum zweiten Mal innerhalb von vierzehn Tagen die Rolle des Trösters zufiel, und ich hatte den Eindruck, als könnte ich ihr so wenig helfen wie zuvor Donald. Sie trat vor der Ruine ihres Hauses auf die Bremse, und wir blieben ruckartig stehen. Den feudalen kleinen Villen links und rechts nach zu urteilen, war ihr Haus alles andere als eine Hütte gewesen, aber jetzt war nicht mehr als ein großer, schwarzer Schutthaufen davon übrig, der einstige Umriß noch erkennbar an gezackten Resten der Außenmauer, und mittendrin ragte, wie sie gesagt hatte, der massiv gemauerte Kamin standhaft gen Himmel. Eine Ironie des Schicksals, dachte ich flüchtig, daß allein der Schlot die Flammen überstanden hatte. »Da, mein Lieber«, sagte Maisie. »Was halten Sie davon?« »Ein sehr heißes Feuer.« Sie hob die nachgezogenen Augenbrauen. »Feuer ist doch immer heiß, mein Lieber. Und hier gab’s natürlich eine Menge Holz. Viele dieser alten Häuser am Meer sind weitgehend aus Holz gebaut.« Noch bevor wir aus ihrem großen hellblauen Wagen stiegen, konnte ich die Asche riechen. »Wann ist das passiert?« fragte ich. »Letztes Wochenende. Am Sonntag.« Während wir einen Augenblick schweigend das Chaos betrachteten, kam hinter dem Kamin langsam ein Mann hervor. Er blickte konzentriert zu Boden und bückte sich nach jedem Schritt, um in dem Schutt zu stochern. 51
Maisie war trotz ihrer rotummäntelten Leibesfülle sehr beweglich. »He«, rief sie, war mit einem Sprung aus dem Wagen und eilte entschlossen auf den Mann zu. »Was machen Sie da?« Der Mann richtete sich erschrocken auf. Um die Vierzig, schätzte ich, mit einem Regenmantel, keck aufgesetztem Trilby und hängendem Schnurrbart. Er zog höflich den Hut. »Versicherung, Madam.« »Ich dachte, Sie wollten am Montag kommen.« »Ich war zufällig in der Gegend. Was man heute kann besorgen...« »Mag sein«, sagte Maisie. »Und auf das Geld lassen Sie mich hoffentlich auch nicht lange warten, obwohl mir das meine Schätze nicht wiederbringt und die mir hundertmal lieber wären, denn Geld habe ich sowieso genug.« Der Mann war Maisies Freimütigkeit nicht gewohnt. »Ehm...«, sagte er. »Ach so. Verstehe.« »Haben Sie die Brandursache gefunden?« wollte Maisie wissen. »Nein, Madam.« »Haben Sie überhaupt etwas gefunden?« »Nein, Madam.« »Tja, und wann kann ich hier räumen lassen?« »Jederzeit, Madam.« Vorsichtig über verkohlten Schutt steigend, kam er auf uns zu. Er hatte ruhige graue Augen, ein kräftiges Kinn und machte einen sehr intelligenten Eindruck. »Wie heißen Sie?« fragte Maisie. »Greene, Madam.« Er zögerte kurz und setzte hinzu: »Mit ›e‹.« »Nun, Mr. Greene mit ›e‹«, sagte Maisie gutmütig. »Das hätte ich noch alles gern schriftlich.« Er neigte den Kopf. »Sobald ich wieder im Büro bin.«
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»Gut«, sagte Maisie, und Greene lüftete abermals den Hut, wünschte ihr einen schönen Tag und ging zu einem weißen Ford, der weiter unten an der Straße stand. »So hab ich das gern«, sagte Maisie zufrieden und schaute ihm nach. »Wieviel soll Ihr Bild nun kosten?« »Zweihundert plus zwei Übernachtungen in einem Hotel am Ort.« »Das ist mir etwas happig, mein Lieber. Einhundert plus zwei Übernachtungen, und das Bild muß mir zusagen, sonst zahle ich nicht.« »Kein Fohlen, kein Geld?« Der volle rote Mund lächelte breit. »Ganz genau.« Wir einigten uns auf hundertfünfzig, wenn ihr das Bild gefiel, sonst fünfzig, und ich sollte am Montag anfangen, falls es nicht regnete.
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Der Montag war klar und windig und brachte noch ein wenig Sommerwärme. Ich fuhr mit dem Zug nach Worthing, mit dem Taxi zum Haus und stellte unter den interessierten Blicken der Nachbarn meine Staffelei dort auf, wo das Gartentor gewesen wäre, hätte die Feuerwehr es nicht ausgehängt. Das Törchen lag auf dem Rasen, und der eine Flügel trug noch ein handgemaltes Namensschild. Treasure Holme. Armer Archie. Arme Maisie. Ich grundierte die Leinwand in einem unaufdringlichen Braunton aus Umbra natur, stark verdünnt mit Terpentin und Leinöl, und in die noch feuchte Grundierung zeichnete ich in einem dunkleren Ton der gleichen Farbe die Umrisse der Brandruine vor dem Hintergrund von Meer und Himmel, Strand und Hecken ein. In diesem Stadium konnte man Kompositionsfehler leicht mit dem Papiertuch entfernen und neu ansetzen, bis die Proportionen, die Perspektive und das Gleichgewicht der Flächen stimmten. Während das angelegte Bild trocknete, schlenderte ich durch den Garten, sah mir das Haus aus verschiedenen Blickwinkeln an und schaute über die verkohlten Stümpfe der Tamariskenhecke, die den Rasen vom Kiesstrand getrennt hatte. Das Meer funkelte in der Morgensonne, und kleine, schnell treibende Kumuluswolken streuten schiefergraue Schatten. Die Wellen schäumten weiß in der Ferne, hinter einem verlassenen Streifen nassen, geriffelten Sandes, weil auch jetzt Ebbe war. Der Seewind pfiff mir um die Ohren. Ich machte kehrt, um weiterzumalen, und sah zwei Männer in Mänteln aus einem großen Kombi steigen, die sichtlich Interesse für die Überreste von Treasure Holme zeigten. 54
Ich ging zu ihnen, und als ich hinkam, standen sie vor der Staffelei und begutachteten mein Werk. Der eine massig und um die Fünfzig. Der andere hager, in den Zwanzigern. Beide ruhig, selbstbewußt und offenbar zu einem bestimmten Zweck hier. Der ältere bemerkte mich zuerst. »Dürfen Sie sich hier aufhalten?« sagte er. Nur eine Frage, keinerlei Angriffslust. »Die Eigentümerin möchte ihr Haus gemalt haben«, antwortete ich freundlich. »Verstehe.« Seine Mundwinkel zuckten ein wenig. »Und Sie?« erkundigte ich mich. Er zog leicht die Brauen hoch. »Versicherung«, sagte er, als wunderte es ihn, daß jemand danach fragte. »Die Firma von Mr. Greene?« fragte ich. »Von wem?« »Mr. Greene. Mit ›e‹.« »Ich weiß nicht, wen Sie meinen«, sagte er. »Wir sind hier mit Mrs. Matthews verabredet, um den Schaden an ihrem Haus zu begutachten, das bei uns versichert ist.« Er betrachtete ziemlich deprimiert das Ausmaß des sogenannten Schadens und blickte umher, als erwartete er, Maisie würde sich phönixgleich aus der Asche erheben. »Kein Greene?« hakte ich nach. »Weder mit noch ohne ›e‹.« Schon war er mir sympathisch. Eine Prise Humor kam bei mir immer an, im Gegensatz zu Zwang und Gewalt. »Nun... Mrs. Matthews rechnet nicht mehr mit Ihnen, weil dieser Mr. Greene, der angeblich von einer Versicherung kam, ihr gesagt hat, sie könne jederzeit die Abbrucharbeiter bestellen.« Sofort wurde er hellhörig, war gespannt wie ein Regenschirm. »Ist das Ihr Ernst?« 55
»Ich war selbst dabei. Ich habe ihn gesehen und gehört, und das waren seine Worte.« »Hat er Ihnen eine Karte gezeigt?« »Nein.« Ich schwieg. »Aber, ehm... Sie auch nicht.« Er griff in sein Jackett und zog mit der Geschwindigkeit eines Taschenspielers eine hervor. Karten zu zücken war für ihn zweifellos eine Reflexhandlung. »Ist es nicht verboten, denselben Besitz bei zwei verschiedenen Firmen zu versichern?« fragte ich beiläufig und las die Karte. FOUNDATION LIFE AND SURETY D. J. LAGLAND BEZIRKSVERTRETER »Betrug.« Er nickte. »Es sei denn, Mr. Greene mit ›e‹ hatte überhaupt nichts mit einer Versicherung zu tun.« »Das ist sehr viel wahrscheinlicher.« Ich steckte die Karte in meine Hosentasche, da Aranpullover nicht direkt auf geschäftliche Transaktionen zugeschnitten sind. Er betrachtete mich nachdenklich, mit aufmerksamen Blicken, aber unvoreingenommen. Ein Mann vom gleichen Schlag wie einst mein Vater, gemäßigt, mittleren Alters, Fachmann auf seinem Gebiet, aber kaum jemand, der Furore machte. Oder Häuser in Brand steckte. »Gary«, sagte er zu seinem jüngeren Ableger, »suchen Sie ein Telefon und rufen Sie im Beach Hotel an. Sagen Sie Mrs. Matthews, daß wir hier sind.« »Mach ich«, sagte Gary. Er war der Typ dafür. Als er unterwegs war, wandte D. J. Lagland seine Aufmerksamkeit der Ruine zu, und da er nichts dagegen zu haben schien, schloß ich mich ihm an. »Wonach suchen Sie?« fragte ich. 56
Er warf mir einen schrägen Blick zu. »Anzeichen von Brandstiftung. Spuren der Gegenstände, die angeblich zerstört wurden.« »Soviel Offenheit hatte ich gar nicht erwartet.« »Manchmal lasse ich mich dazu hinreißen.« Ich grinste. »Mrs. Matthews scheint mir recht ehrlich zu sein.« »Ich kenne die Dame nicht.« Hat er eine nette Überraschung in Aussicht, dachte ich und fragte: »Sucht denn nicht schon die Feuerwehr nach Anzeichen von Brandstiftung?« »Doch, und auch die Polizei, und wir lassen uns von beiden informieren.« »Und was haben sie gesagt?« »Das geht Sie, glaube ich, nichts an.« »Selbst für ein Holzhaus«, meinte ich, »ist es arg runtergebrannt.« »Ein Fachmann, was?« spöttelte er. »Mit Freudenfeuern habe ich so meine Erfahrung.« Er sah mich an. »Sie brennen doppelt so gut«, sagte ich, »wenn man Paraffin drübergießt, besonders an den Rändern.« »Ich habe mir schon Brände angesehen, als Sie noch gar nicht auf der Welt waren«, sagte er. »Malen Sie doch einfach noch ein bißchen.« »Die Farbe ist noch feucht.« »Also wenn Sie bei mir bleiben, halten Sie den Schnabel.« Ich hatte ein Einsehen, blieb bei ihm und schwieg. Er führte offenbar eine erste Sondierung durch, nahm kleine Schuttproben in die Hand, betrachtete sie eingehend und legte sie wieder genau an ihren Platz zurück. Mir sagten die Proben aus zwei Meter Entfernung rein gar nichts, und ihn ließen sie dem Anschein nach auch ziemlich kalt. »Darf ich etwas sagen?« fragte ich. 57
»Mhm?« »Mr. Greene hat ungefähr das gleiche gemacht wie jetzt Sie, nur im Bereich hinter dem Kamin.« Er legte wieder ein Stück Schlacke zurück und richtete sich auf. »Hat er etwas eingesteckt?« »Nicht in unserem Beisein, aber wir haben ihn nur kurz gesehen. Schwer zu sagen, wie lange er schon dort war.« »Ja.« Er überlegte. »Meinen Sie, es könnte ein Schaulustiger gewesen sein, der aus Neugier da herumgestochert hat?« »So kam er mir nicht vor.« D. J. zog die Stirn in Falten. »Was wollte er dann?« Eine rhetorische Frage. Gary kam zurück, und wenig später rollte Maisie an. In ihrem Jaguar. Mit dem roten Mantel. Aufgebracht. »Was soll das heißen«, stürmte sie mit zornblitzenden Augen auf D. J. los, »daß noch unklar ist, ob Brandstiftung vorliegt? Versuchen Sie jetzt bloß nicht, sich ums Bezahlen zu drücken. Ihr Mann vom Samstag hat gesagt, es sei alles geregelt und ich könne mit dem Räumen und Wiederaufbauen anfangen, und selbst wenn es Brandstiftung gewesen sein sollte, müßten Sie zahlen, weil die Versicherung selbstverständlich auch Brandstiftung umfaßt hat.« D. J. klappte ein paarmal den Mund auf und zu und fand schließlich auch Worte. »Hat Ihnen unser Mr. Robinson nicht gesagt, daß der Mann, den Sie am Samstag hier gesprochen haben, nicht von uns kam?« Unser Mr. Robinson, sprich Gary, nickte heftig. »Er – Mr. Greene – hat das aber behauptet«, hielt Maisie dagegen. »Tja... wie sah er denn aus?« »Ölig«, antwortete Maisie prompt. »Nicht so jung wie Charles...«, sie winkte zu mir hin, »und nicht so alt wie Sie.«
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Sie überlegte, dann zuckte sie die Achseln. »Er sah halt aus wie ein Versicherungsmensch, basta.« D. J. schluckte die indirekte Beleidigung mannhaft hinunter. »Ungefähr einsachtundsiebzig«, sagte ich, »sonnengebräunte Haut mit einem gelblichen Schimmer, graue Augen unter schweren Lidern, ziemlich breite Nase, gerader Mund unter einem dicken, überhängenden dunklen Schnurrbart, glattes, nach hinten gekämmtes braunes Haar mit Geheimratsecken, normale Augenbrauen, grünlichbrauner Trilby aus weichem Filz, Hemd, Krawatte, offener hellbrauner Regenmantel, goldener Siegelring am kleinen Finger der rechten Hand, sonnengebräunte Hände.« Ich sah ihn in der Erinnerung noch deutlich und hörte ihn zu Maisie ›Madam‹ sagen, als stände er noch vor mir auf der Asche mit seinem gezogenen Hut. »Guter Gott«, sagte D. J. »Das Auge eines Malers«, meinte Maisie bewundernd. »Donnerwetter.« D. J. war sich sicher, daß sie so jemand nicht in ihrer Sachverständigenabteilung hatten, und Gary gab ihm recht. »Tja«, sagte Maisie mit wiederaufflackerndem Ärger, »das heißt wohl, daß Sie weiterhin auf Brandstiftung tippen, obwohl mir schleierhaft ist, warum irgendein vernünftiger Mensch mein schönes Haus mit all seinen Kostbarkeiten abbrennen sollte.« So naiv konnte Maisie, die weltkluge Maisie, doch wohl nicht sein. Ein kleines, waches Funkeln in dem Blick, den sie mir zuwarf, verriet mir, daß sie es bestimmt nicht war. Der ahnungslose D. J. jedoch wedelte frustriert mit den Händen und verzichtete auf eine Erklärung. Ich verkniff mir wieder mal ein Lachen, was Maisie nicht entging. »Hätten Sie Ihr Bild gern sonnig wie heute«, fragte ich, »oder bewölkt und traurig?« Sie sah in den klaren Himmel. 59
»Etwas dramatischer, mein Lieber«, sagte sie. D. J. und Gary suchten den ganzen Nachmittag hindurch zentimeterweise die Ruine ab, und ich bemühte mich, ihr einen Hauch gespenstischer Romantik zu verleihen. Um Punkt fünf machten wir alle Feierabend. »Arbeitsstunden nach gewerkschaftlicher Vorschrift?« fragte D. J. sarkastisch, als er mich meinen Koffer packen sah. »Abends geht das Licht weg.« »Kommen Sie morgen wieder?« Ich nickte. »Sie auch?« »Kann sein.« Per Bus und pedes begab ich mich zum Beach Hotel, reinigte meine Pinsel, dachte ein wenig nach und traf mich wie verabredet um sieben mit Maisie in der Bar. »Na, mein Lieber«, sagte sie, als der erste Gin Tonic ihr wohltuend durch die Kehle rann, »haben sie irgendwas entdeckt?« »Soweit ich sehen konnte, überhaupt nichts.«
»Gut so.«
Ich trank einen Schluck Bier. Stellte das Glas behutsam hin.
»Nicht unbedingt, Maisie.«
»Wieso nicht?«
»Was waren denn das für Kostbarkeiten, die verbrannt sind?«
»Sie würden sie wahrscheinlich gar nicht so toll finden, aber
uns hat es wirklich Spaß gemacht, das alles zu kaufen, zum Beispiel die Sammlung antiker Lanzen aus dem Besitz von Lord Stequers, dessen Nichte ich mal gepflegt habe, und eine ganze Wand voll schöner Schmetterlinge, die sich sogar Gelehrte bei uns angesehen haben, und eine schmiedeeiserne Tür aus Lady Tythes altem Stammsitz, die bei uns Diele und Wohnzimmer getrennt hat, und sechs Wärmpfannen aus einem irischen Schloß und zwei große Vasen mit Adlern auf den Deckeln, signiert von Angelika Kauffmann, die mal einem 60
Verwandten von Mata Hari gehört haben, ungelogen, mein Lieber, und ein Ofenschirm aus Kupfer mit silbernen Beschlägen, der verdammt schwer zu putzen war, und ein griechischer Marmortisch und eine silberne Teemaschine, die Königin Viktoria einmal benutzt hat, und damit soll es mal genug sein, mein Lieber, denn wenn ich alles aufzähle, bin ich morgen früh noch dran.« »Hat die Foundation-Versicherung ein vollständiges Verzeichnis?« »Ja, und warum wollen Sie das wissen?« »Weil ich glaube«, sagte ich bedauernd, »daß wenig davon im Haus war, als es abgebrannt ist.« »Was?« Soweit ich es beurteilen konnte, war Maisie ehrlich verblüfft. »Die Sachen müssen doch drin gewesen sein.« »D. J. hat mir praktisch gesagt, daß sie nach Resten davon suchen, und ich glaube, sie haben nichts gefunden.« »D. J.?« »Mr. Lagland. Der ältere.« Hin- und hergerissen zwischen Ungläubigkeit und Zorn, trank sie noch zwei doppelte Gins. Die Ungläubigkeit gewann die Oberhand. »Sie haben das falsch verstanden, mein Lieber«, meinte sie schließlich. »Hoffen wir’s.« »Jugendliche Unerfahrenheit mal wieder.« »Mag sein.« »Denn selbstverständlich war alles an seinem Platz, als ich Freitag vor acht Tagen zu Betty gefahren bin, und bei Betty war ich auch nur, weil wir uns die ganze Zeit, als ich fort war, nicht gesehen hatten, ein Witz ist das im Grunde, aber man kann ja auch nicht ewig daheim hocken, um Feuerwehr zu spielen, falls das Haus in Flammen aufgeht, sonst sieht man nichts von der Welt, und ich hätte meine Australienreise nicht machen können.« 61
Sie holte Atem. Zufall, dachte ich. »Ich kann nur sagen, es ist ein Wunder, daß ich fast meinen ganzen Schmuck mit zu Betty genommen habe, denn oft laß ich den daheim, obwohl Archie meinte, es wäre sicherer, ihn mitzunehmen, er war ja immer so aufmerksam und so vernünftig, der Gute.« »Australien?« fragte ich. »Ja, das war wirklich schön. Ich wollte Archies Schwester besuchen, die schon ewig da lebt und sich, seitdem sie Witwe ist, einsam fühlt, und ich dachte, das könnte ganz lustig werden, obwohl ich sie eigentlich gar nicht kannte, wir hatten uns nur immer Karten geschrieben, aber jetzt war ich sechs Wochen bei ihr. Sie wollte, daß ich drüben bleibe, und wir sind auch prima miteinander ausgekommen... Na, jedenfalls sagte ich ihr, ich will mir das daheim in meinem Haus am Meer erst mal in Ruhe überlegen – und auf der Reise hatte ich den Schmuck natürlich auch mit.« »Sie haben sich aber wohl keinen Munnings gekauft, als Sie drüben waren?« fragte ich nebenbei. Wie ich dazu kam, wußte ich selbst nicht, außer daß ich an Donalds Australienreise gedacht hatte. Auf Maisies Reaktion war ich keineswegs gefaßt. Verblüfft hatte ich sie bereits vorhin, jetzt war sie wie vom Donner gerührt. Vorhin war sie ungläubig und wütend gewesen, jetzt war sie ungläubig und erschrocken. Sie stieß ihren Gin um, stand vom Barhocker auf und hielt sich die Hand vor den offenen Mund, vier zitternde Finger mit rotlackierten Nägeln. »Also doch?« sagte ich ungläubig. »Woher wissen Sie das?« »Ich dachte nur...« »Sind Sie vom Zoll?« »Natürlich nicht.«
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»Ach herrje. Ach herrje...« Ihrem Zittern nach war sie fast so erschüttert wie Donald. Ich nahm sie am Arm und führte sie zu einem kleinen Tisch mit einem Lehnstuhl. »Setzen Sie sich«, sagte ich überredend, »und erzählen Sie.« Das ging erst nach zehn Minuten und einem weiteren doppelten Gin. »Also ich bin keine Kunstexpertin, das können Sie sich ja vorstellen, aber da war so ein Bild von Sir Alfred Munnings, signiert und alles, und das gab es so günstig, mein Lieber, daß ich nur daran dachte, wie gern Archie einen echten Munnings im Haus gehabt hätte, wo wir Pferderennen doch immer schon toll fanden, und Archies Schwester hat mir auch noch zugeredet, ich war richtig... heiß darauf, kann man fast sagen, also habe ich es gekauft.« Sie brach ab. »Und dann?« fragte ich. »Tja, ich glaube, den Rest können Sie sich denken.« »Sie haben es nach England gebracht, ohne es zu verzollen?« Sie seufzte. »Ja, mein Lieber. Natürlich war das blöd von mir, aber beim Kauf des Bildes hab ich überhaupt nicht an den Zoll gedacht, darauf hat mich Archies Schwester erst acht Tage später angesprochen, vor meiner Heimreise, und Zoll bezahlen zu müssen finde ich wirklich das Letzte, geht Ihnen das nicht auch so? Jedenfalls habe ich mich umgehört, wieviel Zoll da anfällt, und erfahren, daß für antiquarisch gekaufte Bilder, die man aus Australien einführt, keine normale Zollgebühr verlangt wird, sondern – jetzt kommt’s – Mehrwertsteuer, also Umsatzsteuer auf gekaufte Ware, und daß ich für das Bild acht Prozent des Kaufpreises zuzahlen müßte. Ja, ich bitte Sie! Ich war fuchsteufelswild. Archies Schwester meinte, ich solle das Bild einfach bei ihr lassen, denn wenn ich nach Australien ziehen würde, hätte ich die Steuer umsonst bezahlt, aber das stand ja noch gar nicht fest, und ich wollte Sir Alfred 63
Munnings in Archies vier Wänden sehen, also habe ich ihn schön in seiner Transportverpackung gelassen, mein feinstes Nachthemd drumgewickelt, ihn in meinen Koffer getan und bei der Ankunft in Heathrow am Zoll vorbeigeschleust, niemand hat mich angehalten.« »Wieviel hätten Sie bezahlen müssen?« fragte ich. »Etwas über siebenhundert Pfund, um genau zu sein. Ich weiß auch, daß das kein Vermögen ist, mein Lieber, aber es hat mich einfach gefuchst, daß ich für etwas Schönes, das ich mir in Australien gekauft habe, hier Steuern zahlen sollte.« Ich rechnete nach. »Das Bild hat Sie also etwa Neuntausend gekostet?« »Genau, mein Lieber, Neuntausend.« Sie sah mich besorgt an. »Bin ich reingelegt worden? Ich habe einige Leute hier schon gefragt, und sie meinten, viele Munnings kosten fünfzehn und mehr.« »Das stimmt«, sagte ich zerstreut. Es gab auch welche für fünfzehnhundert, und manche waren wahrscheinlich noch billiger zu haben. »Na, jedenfalls dachte ich erst im Zusammenhang mit der Versicherung daran, daß man mir auf die Schliche kommen könnte, wenn ich zum Beispiel eine Quittung vorlegen müßte, und da sie die sehr wahrscheinlich verlangt hätten, habe ich es nicht versichert, denn falls ich mich doch dafür entschieden hätte, nach Australien zu gehen, hätte ich es halt wieder mitnehmen können, und nichts wäre passiert.« »Unangenehm«, gab ich zu. »Jetzt ist es also verbrannt, und Sie denken wahrscheinlich, es geschieht mir recht, daß die neuntausend in Rauch aufgegangen sind und ich keinen Penny davon wiedersehe.« Sie trank den Gin aus, und ich besorgte ihr noch einen. »Es geht mich zwar nichts an, Maisie, aber woher hatten Sie in Australien neuntausend Pfund? Ist es nicht verboten, so viel Bargeld einzuführen?« 64
Sie kicherte. »Sie wissen auch überhaupt nicht, wie es auf der Welt zugeht, hm? Aber damit hatte es schon seine Richtigkeit. Ich bin mit Archies Schwester zu einem Juwelier gegangen und habe eine Brosche versetzt, ein häßliches Krötentier mit einem dicken Diamanten mitten auf der Stirn, muß was mit Shakespeare zu tun haben, ohne daß ich da jetzt Genaueres wüßte, jedenfalls habe ich es nie angesteckt, das fiese Ding, aber ich hatte es dabei, weil es so wertvoll war, und ich habe neuneinhalb dafür gekriegt – in australischen Dollars, versteht sich, aber jedenfalls genug, nicht wahr?« Da Maisie es als selbstverständlich ansah, daß ich mit ihr essen würde, gingen wir ins Restaurant hinüber. Sie hatte einen gesunden Appetit, doch ihre Stimmung war gedämpft. »Sie erzählen doch keinem von dem Bild, mein Lieber?« »Natürlich nicht, Maisie.« »Ich könnte in Teufels Küche kommen.« »Ich weiß.« »Eine Geldstrafe, meine ich. Und das wäre noch das wenigste. Die Leute können furchtbar biestig werden wegen einer harmlosen kleinen Schmuggelei.« »Niemand erfährt davon, wenn Sie den Mund halten.« Mir kam ein Gedanke. »Oder haben Sie etwa schon jemand von dem Kauf erzählt?« »Nein, mein Lieber, denn ich wollte so tun, als hätte ich es schon seit Jahren, und ich hatte es noch nicht mal gehängt, weil der eine Ring am Rahmen locker war und ich dachte, es könnte runterfallen und beschädigt werden, und ich wußte noch nicht, von wem ich’s reparieren lassen sollte.« Sie nahm einen Mundvoll Krabbencocktail. »Sie halten mich sicher für blöd, aber ich hatte wohl ein bißchen Angst, die Sache könnte rauskommen – kein schlechtes Gewissen eigentlich, weil ich wirklich nicht einsehe, warum man diese ärgerliche Steuer zahlen sollte, aber jedenfalls habe ich das Bild nicht nur nicht aufgehängt, sondern ich habe es versteckt.« 65
»Versteckt? Noch in der Verpackung?« »Ja, mehr oder weniger. Ich hatte es zwar aufgemacht, als ich heimkam, aber als ich dann sah, daß der Ring, durch den die Schnur geht, los war, habe ich es wieder eingepackt, um zu überlegen, was damit werden soll.« Ich war fasziniert. »Wo haben Sie’s versteckt?« Sie lachte. »Halb so wild. Ich wollte ja nur nicht, daß es jeder sieht und Fragen stellt, also habe ich es hinter einem Heizkörper im Salon deponiert, und Sie brauchen nicht gleich so entsetzt zu schauen, die Heizung war abgestellt.« Ich malte den ganzen nächsten Tag über am Haus, aber weder D. J. noch sonst jemand ließ sich blicken. In den Arbeitspausen stocherte ich aus eigenem Antrieb in der Ruine herum und suchte nach Maisies Schätzen. Ich fand eine ganze Reihe noch erkennbarer Überreste, etwa von Bettgestellen, Küchenmaschinen und Heizkörpern, alles verbogen und verformt, nicht nur von der Hitze, sondern vom Gewicht des ganzen mitsamt Dachstuhl eingestürzten Gebäudes. Hier und da ragten schwarze Reste schwerer Dachbalken aus der Ascheschicht, aber davon abgesehen war alles Brennbare vollständig verbrannt. Von den Sachen, die Maisie genannt, und den vielen, die sie ausgelassen hatte, fand ich lediglich die schmiedeeiserne Tür von Lady Tythes Stammsitz, die den Flur vom Wohnzimmer getrennt hatte. Lady Tythe hätte sie bestimmt nicht wiedererkannt. Keine kupfernen Wärmpfannen, die von ihrem Zweck her immerhin rotglühende Kohlen aushalten mußten. Kein Ofenschirm aus Metall, Kein Marmortisch. Keine antiken Lanzen. Naturgemäß kein Munnings.
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Als ich nach fünf mit farbverschmierten Fingern zurück ins Beach kam, erwartete mich Maisie in der Halle. Nicht die freundliche, lebensfrohe Maisie, die ich kennengelernt hatte, sondern eine angriffslustige Frau, die vor Wut kochte. »Ich habe auf Sie gewartet«, sagte sie und fixierte mich mit grimmigen Blicken. Ich ahnte nicht, was ich ihr getan haben könnte. »Was ist denn los?« fragte ich. »Die Bar ist geschlossen«, sagte sie. »Kommen Sie zu mir aufs Zimmer. Nehmen Sie Ihre Sachen mit.« Sie deutete auf den Koffer. »Ich bin so wütend, daß ich platzen könnte.« Im Lift sah es wirklich ganz gefährlich danach aus. Ihre Backen waren knallrot, deutlich abgesetzt gegen die hellrosa Gesichtshaut. Ihr blond getöntes, sonst immer elegant gefestigtes Haar stand in dünnen Zotteln vom Kopf, und zum erstenmal, seit ich sie kannte, schimmerte kein Lippenstift auf ihrem Mund. Sie stieß die Tür ihres Zimmers auf und stapfte hinein. Ich schloß die Tür hinter mir. »Sie werden es nicht glauben«, sagte sie heftig und wandte sich zu mir, um ihrer ganzen Empörung Luft zu machen. »Erst war die Polizei stundenlang hier, dann die Versicherungsleute – und wissen Sie, was die behaupten?« »Ach, Maisie.« Ich seufzte im stillen. Es hatte so kommen müssen. »Wofür sie mich halten, habe ich sie gefragt. Ich war ja so sauer!« sagte sie. »Die hatten die Stirn, mir zu unterstellen, ich hätte meine Antiquitäten verscherbelt und mein Haus über Wert versichert und wollte die Versicherung übers Ohr hauen. Ich habe ihnen hundertmal gesagt, daß alles hier an seinem Platz war, als ich zu Betty fuhr, und daß das Haus allenfalls wegen der Inflation über Wert versichert sei und weil die Makler mir dazu geraten hätten, und jetzt bin ich froh, daß ich auf sie gehört habe, aber dieser Lagland meint, sie müßten den 67
Fall erst klären, bevor sie zahlen, und er hat das richtig von oben runter gesagt, ohne jedes Mitgefühl, wo ich doch alles verloren habe. Die waren einfach eklig zu mir, und ich hasse sie alle.« Sie unterbrach sich, um Atem zu schöpfen, und zitterte sichtlich unter der Heftigkeit ihrer Gefühle. »Ich kam mir ja so billig vor, und vielleicht habe ich sie in meiner Wut ein bißchen angebrüllt, aber sie hätten mir wirklich nicht so frech zu kommen brauchen, und wenn sie dann noch sagen, ich soll mich zusammennehmen, obwohl sie mich mit ihrer Unverschämtheit erst dazu getrieben haben, so laut zu werden, das ist ja wohl das Allerletzte!« Offenbar war es ziemlich hoch hergegangen. Mich hätte interessiert, wie die Polizei und D. J. die Schlacht überstanden hatten. »Sie sagten, es sei eindeutig Brandstiftung gewesen, und als ich wissen wollte, warum sie jetzt auf einmal damit kommen, nachdem vorher keine Rede davon gewesen war, sagten sie, der Grund sei, daß Lagland in der Asche oder sonstwo keine Spur von meinen Sammelstücken entdeckt habe, und wenn ich sie nicht vorher verkauft hätte, dann hätte ich eben jemand beauftragt, das Zeug zu klauen und das Haus in Asche zu legen, während ich bei Betty war, und sie wollten dauernd wissen, wen, und ich wurde immer wütender, und wäre irgend etwas greifbar gewesen, wirklich, ich hätte es ihnen um die Ohren gehauen.« »Sie brauchen jetzt einen doppelten Gin«, sagte ich. »Ich habe ihnen erklärt, statt wehrlose Frauen wie mich zu drangsalieren, sollten sie lieber nach den Tätern fahnden, und je mehr ich daran dachte, daß jemand bei mir eingestiegen ist, meine Schätze gestohlen und dann kaltblütig alles niedergebrannt hat, desto wütender wurde ich auf diese Knallköpfe, die nicht in der Lage sind, über die eigene Nasenspitze hinauszusehen.« 68
Allmählich gewann ich den Eindruck, daß der Zorn der unermüdlich weiterschimpfenden Maisie zwar sicherlich echt war, daß sie ihn aber jedesmal, wenn er nachzulassen drohte, schnell wieder schürte. Sie wollte unbedingt als die beleidigte Unschuld dastehen. Ich fragte mich, warum, und als sie wieder einmal Luft holte, warf ich ein: »Haben Sie ihnen auch von dem Munnings erzählt?« Die roten Wangenflecken glühten plötzlich stärker. »Ich bin doch nicht verrückt«, zischte sie. »Wenn das jetzt rauskäme, würden sie mir wohl kaum abnehmen, daß alles andere, was ich erzählt habe, stimmt.« »Ich habe mal gehört«, sagte ich zögernd, »daß sich Gauner besonders aufregen, wenn man versucht, ihnen eine Sache anzuhängen, die ausnahmsweise nicht auf ihr Konto geht.« Einen Moment lang sah es so aus, als würde ich zum neuen Sündenbock erkoren, aber mitten in dem bösen Blick, den sie mir zuwarf, meldete sich ihr arg gebeutelter Humor zurück und ließ sie innehalten. Der starre Zug um ihren Mund löste sich, die Augen blickten entspannter, funkelten, und auf einmal lächelte sie verschämt. »Da liegen Sie nicht ganz verkehrt, glaube ich.« Aus dem Lächeln wurde ein leises Lachen. »Wie wär’s mit dem Gin?« Kleinere Ausbrüche gab es auch noch während der Aperitifs und des Essens, aber die Temperatur des Vulkans war erträglich geworden. »Sie schienen mir gar nicht überrascht, mein Lieber, als ich Ihnen sagte, was die Polizei vermutet.« Sie sah mich über ihre Tasse hinweg an, ein scharfer, fragender Blick von der Seite. »Nein.« Ich schwieg. »Denn etwas ganz Ähnliches ist vor kurzem meinem Cousin passiert. Auffallend ähnlich in vieler Hinsicht. Wenn Sie dazu bereit wären und er einverstanden ist, würde ich Sie gern mit ihm bekannt machen.« »Aber wieso, mein Lieber?«
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Ich sagte es ihr. Der Zorn über das Unrecht, das sie erfahren hatte, flammte als Zorn über Donalds Schicksal wieder auf. »Wie furchtbar. Sie finden mich bestimmt sehr selbstsüchtig nach dem, was der arme Mann alles durchgemacht hat.« »Aber keineswegs. Ich finde, Sie sind wirklich ein Prachtmensch, Maisie.« Sie sah mich erfreut und beinah kokett an, und in dem Augenblick konnte ich sie mir lebhaft mit ihrem Archie vorstellen. »Trotzdem muß ich noch etwas loswerden, mein Lieber«, sagte sie verlegen. »Nach allem, was ich heute zu hören bekommen habe, liegt mir nichts mehr an Ihrem Bild. Ich will das Haus nicht mehr so, wie es jetzt ist, in Erinnerung behalten, sondern nur so, wie es früher war. Wären Sie also mit fünfzig Pfund zufrieden?«
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Wir fuhren mit Maisies Jaguar nach Shropshire und wechselten uns am Steuer ab. Donald war am Telefon zwar nicht begeistert gewesen über die Aussicht, mich so bald wiederzusehen, hatte aber auch nicht die Energie gehabt, mich abzuwimmeln. Als er uns jetzt die Haustür öffnete, erschrak ich. Vor zwei Wochen hatte ich ihn allein gelassen, um nach Yorkshire zu fahren. In dieser Zeit hatte er mindestens sieben Kilo abgenommen und war um zehn Jahre gealtert. Seine Haut war bläulich, im Gesicht traten die Knochen stark hervor, und auch die Haare schienen grau durchzogen zu sein. Der Schatten des alten Donald bemühte sich offensichtlich, uns mit Anstand zu empfangen. »Immer herein«, sagte er. »Ich bin gerade im Eßzimmer. Was zu trinken?« »Das wäre nett, mein Lieber«, sagte Maisie. Er blickte sie mit trüben Augen an, die dicke, gutmütige, teuer gekleidete Frau mit dem glänzenden Haar, deren schicke Aufmachung knapp, aber elegant am Ordinären vorbeiging. Als wäre es ihm zu anstrengend, überließ er es mir, die Getränke einzuschenken, und bat Maisie, Platz zu nehmen. Sein Eßzimmer war halbwegs wieder hergerichtet mit einem großen Teppich, den Stühlen aus der Glasveranda und zwei kleinen Tischen aus den Schlafzimmern. Wir setzten uns alle um einen Tisch, da ich Fragen stellen und die Antworten schriftlich festhalten wollte. Mein Cousin sah ohne jedes Interesse zu, wie ich Notizbuch und Stift bereitlegte. »Don«, sagte ich, »hör dir bitte mal eine Geschichte an.« »Okay.« Maisie faßte sich ausnahmsweise kurz. Als sie erzählte, daß sie in Australien einen Munnings gekauft hatte, hob Donald den Kopf um ein paar Zentimeter und blickte mit erwachender 71
Aufmerksamkeit von ihr zu mir. Als sie schloß, war es kurz still. »Ihr seid also beide nach Australien gefahren«, faßte ich zusammen, »habt beide einen Munnings gekauft, und kurz nach eurer Rückkehr ist bei euch beiden eingebrochen worden.« »Ungewöhnliches Zusammentreffen«, sagte Donald, aber mehr sah er nicht darin. »Bist du extra hergekommen, um mir das zu erzählen?« »Ich wollte sehen, wie es dir geht.« »Hm. Mir geht’s gut. Nett von dir Charles, aber mir geht’s gut.« Selbst Maisie, die ihn vorher nicht gekannt hatte, sah, daß es ihm schlechtging. »Wo hast du dein Bild gekauft, Don? Wo genau, meine ich.« »Na ja... in Melbourne. Im Hilton Hotel. Gegenüber dem Kricketplatz.« Ich hatte meine Zweifel. In Hotels wurden vielerorts Bilder einheimischer Künstler angeboten, aber Werke von Munnings doch eher selten. »Auf Bestellung«, erläuterte Don. »Jemand hat uns das Bild aufs Zimmer gebracht. Von der Galerie, wo wir es entdeckt hatten.« »Welche Galerie?« Er versuchte sogar, sich zu erinnern. »Könnte so was wie ›Fine Arts‹ gewesen sein.« »Hast du den Namen vielleicht noch auf einem Scheckabschnitt oder so?« Er schüttelte den Kopf. »Die Kellerei, mit der ich in Verhandlung stand, hat für mich bezahlt, und nach meiner Rückkehr hat deren britische Niederlassung einen Scheck von mir bekommen.« »Wie heißt die Kellerei?«
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»Monga Vineyards Proprietary Limited of Adelaide and Melbourne.« Ich schrieb das alles auf. »Und was war auf dem Bild? Ich meine, kannst du es beschreiben?« Donald sah mich müde an. »So ein Aufgalopp-Bild war das. Ein typischer Munnings.« »Meins auch«, sagte Maisie überrascht. »Eine schöne lange Reihe von Jockeys in ihren Farben vor einem dunkel gehaltenen Himmel.« »Auf meinem waren nur drei Pferde«, sagte Donald. »Der größte, oder richtiger vielleicht, der vorderste Jockey auf meinem Bild hatte einen purpurroten Dreß und eine grüne Kappe«, sagte Maisie, »und auch wenn Sie das jetzt albern finden, das war mit ein Grund, warum ich es gekauft habe, denn Archie und ich haben uns mal vorgestellt, wie schön es wäre, ein Pferd zu kaufen und die Rennen als Besitzer zu erleben, und als Farben wollten wir dann Purpur mit grüner Kappe nehmen, falls das noch nicht vergeben war.« »Don?« sagte ich. »Hm? Ach so... drei galoppierende Braune... im Profil... einer vorn, die zwei dahinter haben sich teils überschnitten. Leuchtende Rennfarben. Genau weiß ich’s nicht mehr. Weiße Rails und viel sonniger Himmel.« »Welches Format?« Er runzelte leicht die Stirn. »Nicht allzu groß. Ungefähr 60 mal 45 cm, ohne Rahmen.« »Und Ihres, Maisie?« »Noch etwas kleiner, glaube ich.« »Hör mal«, sagte Donald. »Worauf willst du hinaus?« »Ich will nur sicher sein, daß es nicht noch mehr zufällige Übereinstimmungen gibt.« Er starrte mich ausdruckslos an.
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»Auf der Fahrt hierher«, sagte ich, »hat Maisie mir genau« (aber wirklich ganz genau) »erzählt, wie sie zu dem Bild gekommen ist. Kannst du uns also jetzt vielleicht erzählen, wie du zu deinem gekommen bist? Hast du beispielsweise gezielt nach einem Munnings gesucht?« Donald fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, als wäre es zu mühsam, die Frage zu beantworten. »Bitte, Don«, sagte ich. »Ach...« Ein langgezogener Seufzer. »Nein. Ich wollte eigentlich nichts Bestimmtes kaufen. Wir hatten uns nur in der Melbourne Art Gallery mal umgeschaut. Die haben da einen Munnings... und als wir uns den ansahen, kamen wir mit einer Frau ins Gespräch, die auch da stand, wie das in Kunstgalerien so geht. Sie meinte, in einer kleinen Galerie ganz in der Nähe hinge ein Munnings zum Verkauf, den man sich auf jeden Fall ansehen sollte, auch wenn man kein Geld ausgeben wolle. Da wir Zeit hatten, sind wir hingegangen.« Maisie war die Kinnlade heruntergefallen. »Aber, mein Lieber« – sie fing sich wieder –, »genauso war das bei meiner Schwägerin und mir, nur nicht in Melbourne, sondern in der Sydney Art Gallery. Die haben da ein wunderschönes Bild, Heraufziehender Sturm, und wir waren gerade dabei, das zu bewundern, da kommt so ein Mann und stellt sich zu uns...« Donald wirkte plötzlich viel erschöpfter, wie ein Kranker, dem die gesunden Besucher zuviel zumuten. »Hör mal, Charles... du willst doch damit nicht etwa zur Polizei? Denn ich glaube... noch so ein Kreuzfeuer von Fragen... könnte ich nicht aushalten.« »Ich gehe nicht zur Polizei«, sagte ich. »Aber... was soll das dann?« Maisie trank ihren Gin-Tonic aus und lächelte etwas zu fröhlich. »Wo ist denn hier für kleine Mädchen?« fragte sie und verschwand in die angedeutete Richtung. 74
Donald sagte schwach: »Ich kann mich nicht konzentrieren... entschuldige, Charles, aber ich kriege nichts auf die Reihe. Solange Regina nicht zum Begräbnis freigegeben, sondern einfach... gelagert wird...« Statt dem Schmerz die Schärfe zu nehmen, hatte die Zeit ihn offenbar konserviert, als sei durch Reginas Aufbewahrung unter Eis der natürliche Verlauf der Trauer gestoppt worden. Ich hatte gehört, daß in ungeklärten Fällen die Leichen von Mordopfern ein halbes Jahr und länger zurückbehalten werden konnten. Ob Donald so lange durchhalten würde, war fraglich. Er stand plötzlich auf und ging hinaus auf den Flur. Ich folgte ihm. Er durchquerte den Flur und trat ins Wohnzimmer. Zögernd ging ich hinter ihm her. Das Wohnzimmer war immer noch leer bis auf die chintzbezogenen Sitzmöbel, die jetzt übertrieben ordentlich den Wänden entlang standen. Der Fußboden, auf dem Regina gelegen hatte, war blank poliert. Es war kühl im Zimmer. Donald stand vor dem leeren Kamin und betrachtete mein Porträt von Regina, das auf dem Sims stand. »Ich bin meistens hier bei ihr«, sagte er. »Sonst halte ich es nirgends aus.« Er ging zu den Sesseln und setzte sich direkt dem Porträt gegenüber. »Ihr findet ja selbst hinaus, nicht wahr, Charles?« sagte er. »Ich bin wirklich furchtbar müde.« »Paß auf dich auf.« Unnützer Rat. Es war klar, daß er das nicht tun würde. »Mir geht’s gut«, sagte er. »Das geht schon. Mach dir keine Gedanken.« An der Tür drehte ich mich noch einmal um. Er saß regungslos da und betrachtete Regina. Ich wußte nicht, ob es besser oder schlechter gewesen wäre, wenn ich sie ihm nicht gemalt hätte.
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Maisie schwieg, ein einsamer Rekord, während der ganzen ersten Stunde der Rückfahrt. Von Donald aus waren wir zunächst zu einem der Nachbarn gefahren, die ihm als erste ihren Beistand angeboten hatten, denn jetzt brauchte er Hilfe nötiger denn je. Die Nachbarin hatte verständnisvoll zugehört, aber den Kopf geschüttelt. »Ja, ich weiß, er braucht Gesellschaft und müßte mal aus dem Haus kommen, aber er will ja nicht. Wie oft hab ich’s versucht. Ihn angerufen. Und nicht nur ich, auch viele andere. Er sagt immer nur, es geht ihm gut. Er will sich nicht helfen lassen.« Maisie fuhr konzentriert Meile um Meile. Schließlich sagte sie: »Wir hätten ihn nicht damit behelligen sollen. Noch nicht...« Drei Wochen, dachte ich. Erst drei Wochen war es her. Donald kamen sie vielleicht wie drei Monate vor, vergangen im Zeitlupentempo. In drei Wochen Schmerz steckt manchmal soviel Leid wie in einem ganzen Leben. »Ich fahre nach Australien«, sagte ich. »Sie haben ihn sehr gern, was?« fragte Maisie. Gern? So hätte ich das nicht ausgedrückt, dachte ich, aber vielleicht stimmte es sogar. »Er ist acht Jahre älter als ich, aber wir sind immer gut miteinander ausgekommen.« Ich dachte zurück. »Wir waren beide Einzelkinder. Seine Mutter und meine waren Schwestern. Sie haben sich immer besucht, mit Donald und mir im Schlepptau. Er hatte viel Geduld mit seinem kleinen Vetter.« »Er sieht sehr schlecht aus, Charles.« »Ja.« Sie fuhr wieder zehn Meilen schweigend. Dann sagte sie: »Wäre es nicht doch besser, zur Polizei zu gehen? Wegen der Bilder, meine ich. Sie sind ja überzeugt, daß die etwas mit den 76
Einbrüchen zu tun haben, und die Polizei kommt vielleicht eher an Informationen heran als Sie.« Da gab ich ihr recht. »Sicher, Maisie. Aber was soll ich der Polizei sagen? Sie haben ja gehört, daß Donald meint, er könne eine weitere Befragung nicht durchstehen. Oder trauen Sie ihm das zu, nachdem Sie ihn heute kennengelernt haben? Und für Sie selbst wäre es nicht damit erledigt, daß Sie eine kleine Schmuggelei zugeben und ein Bußgeld zahlen, sondern Sie wären ein für allemal vorbestraft, hätten bei jeder Reise den Zoll am Hals und müßten tausend andere Komplikationen und Demütigungen in Kauf nehmen. Wenn man heutzutage auf einer schwarzen Liste steht, kommt man so gut wie nicht mehr runter.« »Ich dachte, das wäre Ihnen egal.« Sie hängte ein Lachen an, aber es klang nicht echt. Wenig später tauschten wir die Plätze. Ich fuhr den Wagen gern, zumal ich seit meinem Verzicht auf ein festes Einkommen vor drei Jahren kein eigenes Auto mehr besaß. Der Motor schnurrte leise unter der hellblauen Haube und fraß die Meilen Richtung Süden. »Können Sie sich denn die Flugkosten leisten, mein Lieber?« fragte Maisie. »Und die Hotels und das alles?« »Ich habe einen Freund drüben. Ebenfalls Maler. Bei ihm werde ich wohnen.« Sie sah mich zweifelnd an. »Sie können aber nicht per Anhalter hinfahren.« Ich lächelte. »Ich komme schon zurecht.« »Ja, gut, das glaube ich Ihnen, aber trotzdem – und da dulde ich jetzt keine dumme Widerrede – bin ich dank Archie mit weltlichen Gütern reichlich gesegnet, Sie aber nicht, und da Sie unter anderem deshalb fahren, weil ich etwas geschmuggelt habe, bestehe ich darauf, Ihnen Ihr Flugticket zu bezahlen.« »Nein, Maisie.«
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»Doch, mein Lieber. Und jetzt seien Sie schön brav und tun Sie, was ich Ihnen sage.« Sicher war sie eine gute Krankenschwester gewesen, dachte ich. Schön brav die Medizin schlucken, mein Lieber. Es fiel mir nicht leicht, ihr Angebot anzunehmen, aber auf der Bank hätte ich das nötige Geld wirklich nicht gehabt. »Soll ich Sie dafür malen, Maisie, wenn ich zurückkomme?« »Das fände ich sehr nett, mein Lieber.« Ich hielt vor dem Haus in der Nähe von Heathrow, wo ich im Dachgeschoß wohnte und wo Maisie mich am Morgen abgeholt hatte. »Wie halten Sie bloß diesen Lärm aus, mein Lieber?« sagte sie und zuckte zusammen, als ein riesiger Jet im Steilflug über uns hinwegzog. »Ich denke an die günstige Miete.« Sie lächelte, öffnete die Krokodilhandtasche und zog ihr Scheckbuch hervor. Der Betrag auf dem Scheck, den sie mir ausstellte, überstieg die Flugkosten bei weitem. »Wenn es Ihnen peinlich ist«, entgegnete sie auf meine Einwendungen, »können Sie mir zurückgeben, was Sie übrig haben.« Ernst sah sie mich aus ihren graublauen Augen an. »Sie werden doch vorsichtig sein?« »Ja, Maisie.« »Es könnte nämlich sein, mein Lieber, daß Sie da ein paar wirklich üblen Leuten in die Quere geraten.« Fünf Tage später, gegen Mittag, landete ich auf dem Flughafen Mascot, nachdem ich von hoch oben schon einen Blick auf die berühmte Oper und die Hafenbrücke von Sydney hatte werfen können. Hinter dem Zoll empfing mich Jik mit einem breiten Grinsen und einer Flasche Champagner.
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»Hundsfott Todd«, sagte er. »Wer hätte das gedacht.« Seine Stimme drang mühelos durch den Lärm. »Jetzt wird auf den Putz gehauen!« Begeistert schlug er mir die schwielige Hand auf den Rücken, denn er wußte nicht, wie stark er war. Jik Cassavetes, mein alter Freund, mein Alter ego in jeder Beziehung. Bartträger im Gegensatz zu mir. Ausgelassen, laut, extravagant, unberechenbar – Eigenschaften, um die ich ihn beneidete. Blaue Augen und strohblondes Haar. Kräfte, die mir den Atem verschlugen. Unglaublicher Erfolg bei Frauen. Eine scharfe Zunge – und tief empfundene Verachtung für meine Malerei. Wir hatten uns auf der Kunstschule kennengelernt und oft gemeinsam den Unterricht geschwänzt, um zur Rennbahn zu fahren. Jik fuhr zu jedem Rennen, aber nur, um zu wetten, nicht um die Pferde zu bewundern, und schon gar nicht, um sie zu malen. Pferdemaler gehörten für ihn in die untere Schublade. Ein ernsthafter Künstler wäre lieber tot, als daß er Pferde malt, meinte er oft. Jiks vorwiegend abstrakte Gemälde waren die dunkle Kehrseite seines sonnigen Gemüts: Geburten der Schwermut, verzweifelte Abbilder des Hasses und des Schmutzes, die unsere schöne Welt zerstörten. Mit Jik zu leben war wie eine Schlittenfahrt, schnell, gefährlich und aufregend. In den letzten beiden Jahren des Kunststudiums hatten wir eine Atelierwohnung geteilt und uns dauernd wegen irgendwelcher Frauen gegenseitig rausgeschmissen. Nur wegen seines ungewöhnlichen Talents war er nicht von der Schule geflogen, denn im Sommer hatte er oft wochenlang gefehlt, um seiner anderen Leidenschaft, dem Segeln, zu frönen. In den Jahren danach war ich mehrmals mit ihm auf Törn gewesen. Wahrscheinlich hatte er uns einige Male näher mit dem Tod in Berührung gebracht als unbedingt nötig, aber 79
jedenfalls kamen wir vom Alltag weg. Er war ein toller Segler, schnell, stark, elegant und effizient, mit einem sicheren Gespür für Wind und Wellen. Es hatte mich traurig gestimmt, als er eines Tages den Entschluß faßte, die Welt zu umsegeln. Seine letzte Nacht an Land hatten wir wüst gefeiert, und noch an dem Tag, als er in See stach, kündigte ich meinem Grundstücksmakler. Jetzt hatte Jik einen Wagen dabei – seinen eigenen, wie sich herausstellte. Es war ein dunkelblauer britischer MG, passend zu den beiden Seiten seiner Persönlichkeit, extrovertiert und introvertiert, extravagant, aber gedämpft in der Farbe. »Gibt es hier viele davon?« fragte ich erstaunt, als ich Koffer und Malertasche im Kofferraum verstaute. »So weit vom Nest?« Er grinste. »Einige. Sie sind aber nicht mehr so beliebt, weil sie hemmungslos Benzin schlucken.« Röhrend sprang der Motor an, gleichsam zur Bestätigung, und er schaltete die Scheibenwischer an, da ein Schauer einsetzte. »Willkommen im sonnigen Australien. Hier regnet es ununterbrochen. Manchester ist nichts dagegen.« »Aber es gefällt dir?« »Sehr, mein Freund. Sydney ist wie Rugby, hart, ruppig, aber wenn’s drauf ankommt, auch herzlich.« »Und wie geht das Geschäft?« »In Australien gibt es Maler zu Tausenden. Die Heimindustrie blüht.« Er warf mir einen schrägen Blick zu. »Verdammt viel Konkurrenz.« »Ich bin nicht gekommen, um hier mein Glück zu machen.« »Aber du hast einen bestimmten Grund«, sagte er. »Hättest du Lust auf etwas Teamarbeit?« »Meine Kräfte und dein Grips? Wie früher?« »Das war Spielerei.« Er zog die Brauen hoch. »Risiken?« »Brandstiftung und Mord bis jetzt.« 80
»Heiland.« Der blaue Wagen schnurrte elegant zur Stadtmitte. Wolkenkratzer ragten empor wie Bohnenstangen. »Ich wohne ganz drüben auf der anderen Seite«, sagte Jik. »Gott, hört sich das banal an. Nach Vorstadt. Was ist bloß aus mir geworden?« »Ein durch und durch zufriedener Mensch«, meinte ich lächelnd. »Ja. Gut. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich wirklich glücklich. Du wirst das bestimmt bald ändern.« Der Wagen bog auf die Schnellstraße, peilte die Brücke an. »Wenn du über deine rechte Schulter siehst«, sagte Jik, »erblickst du den Triumph der Phantasie über die Wirtschaft. Vergleichbar der Concorde. Es lebe der Irrsinn, das einzige auf Erden, das uns weiterbringt.« Ich schaute hin. Erhaschte einen Blick auf die Oper, grau im Regen. »Tagsüber ist sie tot«, sagte Jik. »Man muß sie nachts sehen. Fabelhaft.« Der große Brückenbogen erhob sich vor uns, filigran wie stählerne Spitze. »Das ist der einzige flache Straßenabschnitt in Sydney«, sagte Jik. Drüben ging es wieder bergauf. Links von uns, zuerst halb verdeckt von gewöhnlichen Hochhäusern, aber dann in seiner ganzen Pracht sichtbar, ragte ein leuchtend orangerotes Gebäude empor, dessen Fassade aus gleichförmigen Reihen großer, bronzefarbener Fensterquadrate mit abgerundeten Ecken bestand. Jik grinste. »Design des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Mut und Phantasie. Ich liebe dieses Land.« »Wo ist dein angeborener Pessimismus geblieben?« »Bei Sonnenuntergang glänzen die Fenster wie Gold.« Wir ließen das schimmernde Ungetüm hinter uns. »Das ist die Wasserversorgung«, sagte Jik und schnitt ein Gesicht. »Der Boß hat sein Boot neben meinem liegen.« 81
Die Straße ging bergauf, bergab durchs Zentrum und dann durch dichte Reihen einstöckiger Häuser, deren Dächer aus der Luft wie ein roter Flickenteppich ausgesehen hatten. »Einen Haken gibt’s«, sagte Jik. »Ich habe vor drei Wochen geheiratet.« Der Haken lebte mit ihm auf seinem Zweimaster, in einer wahren Bootskolonie vor einer Landzunge, die er den Spieß nannte – und wo man die Übel der Welt zumindest vorübergehend wirklich vergessen konnte. Sie war weder häßlich noch hübsch. Ovales Gesicht, mittelbraunes Haar, leidliche Figur und praktische Kleidung. Weder den Stil noch die lebhafte Spontaneität von Regina. Ich sah mich kritisch von einem Paar glänzend brauner Augen gemustert, die Willenskraft und Klugheit verrieten. »Sarah«, sagte Jik. »Todd. Todd, Sarah.« Wir sagten: »Tag« und: »Guten Flug gehabt?« und: »Ja.« Meinem Eindruck nach wäre es ihr lieber gewesen, ich wäre zu Hause geblieben. Jiks Zehnmeter-Ketsch, die in England als eine Kreuzung zwischen Atelier und Lagerhaus für Schiffsausrüstung losgesegelt war, hatte jetzt Gardinen, Kissen und eine blühende Grünpflanze. Als Jik den Champagner aufmachte, goß er ihn in blitzende Kelchgläser statt in Plastikbecher. »Bei Gott«, sagte er. »Es ist schön, dich zu sehen.« Sarah trank höflich, aber mit eher gemischten Gefühlen, auf meinen Besuch. Ich entschuldigte mich dafür, daß ich in die Flitterwochen hineingeplatzt war. »Geschenkt«, sagte Jik und meinte es offensichtlich auch so. »Zuviel Wonne im Haus hält keiner aus.« »Es kommt darauf an«, meinte Sarah mit unbeteiligter Stimme, »ob man Liebe oder Einsamkeit als Antrieb braucht.« Bei Jik war es stets die Einsamkeit gewesen. Ich war neugierig, was er in letzter Zeit gemalt hatte, aber in der
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gemütlich hergerichteten Kajüte war noch nicht einmal ein Pinsel zu sehen. »Ich bin im siebten Himmel«, sagte Jik. »Ich könnte den Everest erstürmen und auf dem Gipfel einen doppelten Salto machen.« »Die Kombüse reicht«, sagte Sarah, »falls du daran gedacht hast, die Krebse zu kaufen.« Als wir zusammenwohnten, war Jik der Koch gewesen, und daran schien sich nichts geändert zu haben. Er, nicht Sarah, brach schnell und gekonnt die Krebse aus, gab Käse und Senf darüber und schob sie in den Backofen. Er wusch den frischen Salat und stellte knuspriges Brot und Butter bereit. Wir schlemmten am Kajütentisch, während der Regen auf das Dach und gegen die Bullaugen prasselte und die Wellen im auffrischenden Wind gegen die Seiten schlugen. Beim Kaffee erzählte ich auf Jiks Drängen, weshalb ich nach Australien gekommen war. Sie hörten mir schweigend und konzentriert zu. Dann schimpfte Jik, der wie eh und je mit der Linken sympathisierte, leise über »die Bullen«, und Sarah sah aus, als befürchte sie Schlimmes. »Keine Sorge«, beschwichtigte ich sie. »Jetzt, wo ich weiß, daß Jik verheiratet ist, werde ich nicht um Hilfe bitten.« »Brauchst du auch nicht. Du hast sie schon«, platzte er heraus. Ich schüttelte den Kopf. »Nein.« »Wie willst du das denn angehen?« fragte Sarah. »Zuerst mal will ich feststellen, wo die beiden Munnings’ herkamen.« »Und dann?« »Wenn ich wüßte, wonach ich suche, brauchte ich nicht erst zu suchen.« »Das ist nicht gesagt«, meinte sie abwesend.
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»Melbourne«, warf Jik plötzlich ein. »Eins von den Bildern kam doch aus Melbourne, hast du gesagt. Damit ist die Sache geritzt. Natürlich helfen wir dir. Wir fahren gleich hin. Das kommt doch wie gerufen. Weißt du, was am Dienstag ist?« »Erzähl«, sagte ich. »Der Melbourne Cup!« Es klang triumphierend. Sarah starrte mich düster über den Tisch hinweg an. »Ich wünschte, du wärst nicht gekommen«, sagte sie.
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Ich übernachtete in dem umgebauten Bootshaus, das Jiks Postadresse war. Bis auf eine Schlafnische, ein neu aussehendes Bad und eine provisorische Küche benutzte er den ganzen Raum als Atelier. Eine riesige alte Staffelei stand in der Mitte, links und rechts davon je ein Tisch mit übersichtlich geordneten Farben, Pinseln, Messern, mit Leinöl, Terpentin und Reiniger, dem ganzen üblichen Zubehör. Kein angefangenes Gemälde. Alles unter Verschluß. Die große Binsenmatte vor der Staffelei war wie ihr Gegenstück in England schwarz verschmiert, da Jik die Angewohnheit hatte, seine flüchtig ausgewaschenen Pinsel daran abzustreifen, wenn er die Farbe wechselte. Die Farbtuben waren typischerweise in der Mitte plattgequetscht, weil ihm die Geduld fehlte, von unten her zu drücken. Die Palette war ein rechteckiges Plättchen, das ihm genügte, da er die meisten Farben direkt aus der Tube auftrug und seine Effekte durch Übermalen erzielte. Unter dem einen Tisch stand eine große Kiste mit Putzlappen, die er brauchte, um alles sauberzuwischen, was er zum Malen nahm, nicht nur Pinsel und Messer, sondern auch Finger, Nägel, Handballen, Unterarme und was ihm sonst gerade einfiel. Ich schmunzelte. Jiks Atelier war so unverwechselbar wie seine Bilder. An der einen Wand stand ein zweireihiges Gestell mit Leinwänden, die ich einzeln herauszog. Dunkle, kräftige, dramatische Farben, die ins Auge sprangen. Immer noch der trübe Blick, das Untergangsbewußtsein. Verfall und Kreuzigung, schauerlich düstere Landschaften, welkende Blumen, sterbende Fische, alles nur angedeutet, nichts explizit. Jik verkaufte seine Bilder ungern und nur selten, was vielleicht kein Fehler war, da sie unangenehme 85
Zimmergenossen sein konnten und selbst eine Feldlerche deprimiert hätten. Ihre Kraft war jedoch nicht zu leugnen. Wer eine Ausstellung seiner Bilder gesehen hatte, vergaß sie nicht mehr, begann, anders wahrzunehmen, wurde vielleicht sogar zu einem anderen Menschen. Er war ein großer Maler auf eine Art, wie ich es nie sein würde, und Massenerfolg hätte er als persönliches Versagen betrachtet. Am nächsten Morgen ging ich zum Boot und fand Sarah allein vor. »Jik holt Milch und Zeitungen«, sagte sie. »Ich mach dir was zum Frühstück.« »Ich wollte mich verabschieden.« Sie sah mir in die Augen. »Es ist schon zu spät.« »Nicht, wenn ich fahre.« »Zurück nach England?« Ich schüttelte den Kopf. »Das dachte ich mir.« Ein kleines Lächeln schien in ihren Augen auf. »Jik hat mir gestern abend erzählt, du wärst der einzige ihm bekannte Mensch, der die Ruhe aufbringt, nachts bei Windstärke zehn auf einem leckgeschlagenen Boot mit kaputten Pumpen, das seit vier Stunden vom Sturm herumgewirbelt wird, die genauen Positionsangaben für einen Notruf auszurechnen.« Ich grinste. »Aber er hat das Leck gestopft und die Pumpe repariert, und den Notruf haben wir eingestellt, als es hell wurde.« »Ihr wart beide blöd.« »Weil es sicherer ist, daheim zu bleiben?« fragte ich. Sie wandte sich ab. »Männer«, sagte sie. »Ihr habt erst Ruhe, wenn ihr euren Hals riskiert.« Bis zu einem gewissen Grad hatte sie recht. Ein wenig Gefahr war gesund und fühlte sich gut an, besonders hinterher. Nur das wirklich Extreme war zum Fürchten und zum Abgewöhnen. 86
»Das geht auch manchen Frauen so«, sagte ich. »Mir nicht.« »Ich werde Jik nicht mitnehmen.« Sie wandte mir immer noch den Rücken zu. »Du wirst ihn umbringen.« Nichts konnte ungefährlicher aussehen als die kleine Vorstadtgalerie, in der Maisie ihr Bild gekauft hatte. Es gab sie nicht mehr. Durchs Schaufenster sah man einen leeren Raum mit nackten Wänden, und eine ebenso knappe wie überflüssige Notiz an der Glastür besagte: »Geschlossen«. In den kleinen Nachbarläden links und rechts zuckte man die Achseln. »Die lief nur einen Monat oder so. War kaum besucht. Kein Wunder, daß sie eingegangen ist.« Konnten sie mir sagen, welcher Makler das Objekt betreute? Nein, das konnten sie nicht. »Ende der Ermittlung«, meinte Jik. Ich schüttelte den Kopf. »Versuchen wir es bei den Maklern in der Gegend.« Wir trennten uns und vergeudeten eine Stunde mit Lauferei. Keiner der Makler im Umkreis hatte die Galerie im Schaukasten ausgeschrieben. Vor der geschlossenen Tür trafen wir uns wieder. »Und jetzt?« »Zur Art Gallery?« »Im Domain«, sagte Jik, und wie sich herausstellte, meinte er damit eine ausgedehnte Parkanlage im Zentrum. Die Art Gallery hatte eine repräsentative Vorderfront mit sechs Säulen, und drinnen entdeckten wir auch bald den Munnings. Niemand sonst betrachtete ihn. Niemand verwickelte uns in ein Gespräch und gab uns den Tip, daß in einer kleinen, außerhalb gelegenen Galerie billig ein Munnings zu haben sei.
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Wir ließen uns Zeit, so daß ich in Ruhe die meisterhafte Komposition mit den beiden weißen Ponys bewundern konnte, die sich im Schein unwetterdrohenden Lichts gegen die dunkle Herde dahinter abhoben, und Jik gab widerwillig zu, daß der Mann immerhin etwas von Farbgebung verstand. Sonst passierte gar nichts. Wir fuhren mit dem MG zum Boot zurück und aßen enttäuscht zu Mittag. »Was jetzt?« fragte Jik. »Herumtelefonieren, wenn du mir den Apparat im Bootshaus zur Verfügung stellst.« Es dauerte fast den ganzen Nachmittag, aber als ich die Makler im Branchenverzeichnis in alphabetischer Reihenfolge bis Holloway & Sohn durchtelefoniert hatte, wurde ich fündig. Das fragliche Objekt, sagten Holloway & Sohn, sei kurzfristig an North Sydney Fine Arts vermietet worden. Für wie lange? Ein Vierteljahr, ab ersten September. Nein, Holloway & Sohn wußten nicht, daß das Objekt leerstand. Sie konnten es erst nach dem ersten Dezember wieder vermieten, da North Sydney Fine Arts die Miete im voraus bezahlt hatte; konkrete Namen zu nennen war ihnen leider nicht möglich. Ich schleimte ein bißchen, deutete zart an, selbst in der Branche zu sein und einen Kunden für den leerstehenden Laden zu haben. Holloway & Sohn nannten mir einen Mr. John Grey mit einer Postfachnummer als Adresse. Ich bedankte mich. Mr. Grey, sagten sie ein wenig auftauend, habe die Galerie nur für eine kleine Privatausstellung nutzen wollen, daher wundere es sie eigentlich nicht, daß er schon draußen sei. Wie konnte ich Mr. Grey erkennen, falls ich mit ihm zusammentraf? Da waren sie überfragt; sie hatten nur telefonisch und brieflich mit ihm verkehrt. Ich solle ihm doch schreiben, wenn mein Kunde die Galerie vor dem ersten Dezember brauchte. 88
Na, vielen Dank, dachte ich. Andererseits konnte es nichts schaden. Ich suchte mir ein geeignetes Blatt Papier und teilte Mr. Grey in verstellter, verschnörkelter Schrift und schwarzer Tinte mit, Holloway & Sohn hätten mir seinen Namen und seine Postfachnummer gegeben; ob er mir freundlicherweise die letzten vierzehn Tage seines Mietvertrags zur Nutzung überlassen würde, damit ich die wirklich starken Aquarelle eines Freundes ausstellen könnte. Den angemessenen Preis dürfe er selbst bestimmen... Hochachtungsvoll, Peregrine Smith. Ich ging zum Boot, um Jik und Sarah zu fragen, ob ich ihr Postfach als Absenderadresse angeben dürfe. »Wenn das ein Gauner ist, antwortet er nicht«, meinte Sarah, als sie den Brief gelesen hatte. »Ich würde es sein lassen.« »Ködern ist das A und O beim Fischefangen«, sagte Jik. »Da würde nicht mal ein ausgehungerter Piranha anbeißen.« Trotzdem schickte ich den Brief mit Sarahs widerwilliger Zustimmung ab. Einen Erfolg versprach sich keiner von uns. Jiks Telefonstunde verlief dagegen recht erfreulich. Melbourne war wegen der größten Rennveranstaltung des Jahres offenbar restlos überlaufen, aber wir hätten Glück gehabt, meinte er belustigt, und zwei kurzfristig abbestellte Zimmer bekommen. »Wo?« fragte ich mißtrauisch. »Im Hilton«, sagte er. Ich konnte es mir zwar nicht leisten, aber wir fuhren. Jik hatte in seiner Studentenzeit von vorsichtigen Zuwendungen aus einer Familienstiftung gelebt, und sein Einkommen floß offenbar immer noch aus dieser Quelle. Das Boot, das Bootshaus, der MG und die Frau wurden nicht durch Farbe unterhalten. Wir flogen am nächsten Morgen südwärts nach Melbourne, schauten unterwegs auf die Snowy Mountains hinab und waren 89
mit unseren unerquicklichen Gedanken allein. Sarahs Mißbilligung saß mir wie ein kalter Hauch im Nacken, aber sie hatte sich geweigert, in Sydney zu bleiben. Es sah aus, als sei Jiks angeborener Hang und Drang zu gewagten Abenteuern durch die Liebe gedrosselt worden und als sei in Zukunft keine unkomplizierte Reaktion auf Gefahr mehr zu erwarten. Falls ich ihn denn in Gefahren brachte, auf die er reagieren mußte. Die Fährte in Sydney war kalt und unbrauchbar, und vielleicht fand sich auch in Melbourne nur wieder ein öffentlich ausgestellter, unbeachteter Munnings und eine aufgegebene Galerie. Aber was dann? Für Donald würden die Aussichten trostloser sein als die seltsamen zerkerbten Bergketten, die unter uns dahinglitten. Wenn ich den stichhaltigen Beweis mit zurückbringen konnte, daß die Plünderung seines Hauses ursächlich mit dem Kauf eines Bildes in Australien zusammenhing, mußte ihm das eigentlich die Polizei vom Hals schaffen, ihm neuen Lebensmut geben und Regina zu einem anständigen Begräbnis verhelfen. Wenn. Und es mußte schnell gehen, sonst war es ohnehin zu spät. Für Donald, der Stunde um Stunde in einem leeren Haus auf ein Porträt starrte... Donald, der vor dem Zusammenbruch stand. Melbourne war kalt, naß und stürmisch. Dankbar meldeten wir uns im warmen, feudalen Hilton an, rings umgeben von wohltuendem Rot, Purpur und Blau, Samtstoffen, Kupfer, Blattgold und Glas. Die Angestellten lächelten. Der Lift funktionierte. Ungläubiges Staunen, als ich meinen Koffer selber trug. Die karge Dachstube daheim war weit weg. Ich packte meine Sachen aus, das heißt, meinen einzigen Anzug, der in der Malertasche etwas gelitten hatte, hängte ihn auf einen Bügel und setzte mich wieder ans Telefon. 90
Das Melbourner Büro der Monga Vineyards GmbH teilte mir fröhlich mit, daß ihr Geschäftsführer, Hudson Taylor, mit Mr. Donald Stuart aus England verhandelt habe und daß er sich gegenwärtig im Büro auf dem Weingut selbst aufhalte, das nördlich von Adelaide gelegen sei. Ob ich die Telefonnummer haben wollte? Ja, gern, danke. »Kein Problem«, wurde mir geantwortet – wie ich herausfand, die australische Kurzform für: »Keine Ursache, gern geschehen.« Ich holte die Karte von Australien hervor, die ich mir auf dem Herflug von England gekauft hatte. Melbourne, die Hauptstadt des Bundesstaats Victoria, lag tief unten im Südosten. Adelaide, die Hauptstadt Südaustraliens, lag etwa vierhundertfünfzig Meilen nordwestlich davon. Berichtigung, siebenhundertdreißig Kilometer – die Australier hatten bereits das metrische System eingeführt, woran ich mich erst noch gewöhnen mußte. Hudson Taylor war nicht in seinem Büro in den Weinbergen. Eine fröhliche Stimme teilte mir mit, er sei zum Pferderennen nach Melbourne gefahren. Er habe einen Starter im Cup. Der Stimme nach war Ehrfurcht angezeigt. Konnte ich ihn irgendwie erreichen? Wenn es wichtig war, schon. Er wohnte bei Freunden. Telefon wie folgt. Rufen Sie gegen neun an. Ein wenig seufzend ging ich zwei Etagen tiefer und klopfte bei Jik und Sarah an, die in ausgelassener Zufriedenheit durch ihr Zimmer tanzten. »Wir haben Karten fürs Pferderennen morgen und am Dienstag«, sagte Jik. »Und eine Parkerlaubnis und ein Auto. Und am Sonntag gibt’s gegenüber dem Hotel ein Kricketmatch Westindien gegen Victoria, und dafür haben wir auch Karten.«
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»Wunder à la Hilton«, meinte Sarah, von diesem Programm sichtlich angetan. »Das ganze Paket war in den abbestellten Zimmern inbegriffen.« »Aber was hast du denn heute nachmittag mit uns vor?« schloß Jik aufgeräumt. »Könntet ihr das Arts Centre ertragen?« Sie hatten nichts dagegen. Sogar Sarah kam mit, ohne einen Weltuntergang vorauszusagen, da mein bisheriger Mißerfolg sie positiv gestimmt hatte. Wir nahmen ein Taxi, damit ihre Locken nicht naß wurden. Das Victoria Arts Centre war riesig, modern, innovativ und mit dem größten Buntglasdach der Welt ausgestattet. Jik holte tief Luft, als wollte er den pulsierenden Geist des Ortes einatmen, und erklärte lauthals, Australien sei das allerallergrößte, das einzige noch aufregende Land in der korrupten, kriegswütigen, geldgeilen, freiheitsfeindlichen, skrupellosen, angefaulten, erstickungsgefährdeten, verdreckten Welt. Die Vorübergehenden bekamen lange Ohren, aber Sarah schien kein bißchen überrascht. Tief im Labyrinth der Ausstellungsräume entdeckten wir schließlich den Munnings. Er schimmerte in dem erstaunlichen Licht, von dem das ganze Gebäude durchflutet war: »Der Aufbruch der Hopfenpflücker« mit seinem weiten Himmel und den stolzen Zigeunern, ihren Kindern und ihren von Ponys gezogenen Wohnwagen. Ein junger Mann, der schräg davor an einer Staffelei saß, war intensiv damit beschäftigt, eine Kopie des Bildes anzufertigen. Auf einem Tisch neben ihm standen große Gläser mit Leinöl und Terpentin und eins mit Pinseln und Reinigungsflüssigkeit. Die verschiedensten Farben lagen griffbereit in einer Schachtel. Zwei oder drei Umstehende schauten ihm verstohlen zu, wie Galeriebesucher auf der ganzen Welt es tun. Jik und ich traten hinter ihn, um ihm über die Schulter zu sehen. Der junge Mann drehte sich nach Jik um, sah aber nichts 92
als ein freundliches Gesicht mit hochgezogenen Brauen. Wir schauten zu, wie er Schieferweiß und Kadmiumgelb aus zwei Tuben auf die Palette gab und sie mit einem Borstenpinsel zu einem hübschen hellen Farbton mischte. Auf der Staffelei stand die eben erst begonnene Studie. Nur die Umrißlinien waren zu sehen, wie durchgepaust, und am Himmel war ein wenig Blau angelegt. Jik und ich verfolgten interessiert, wie er das helle Gelb auf das Hemd der vordersten Figur auftrug. »He«, sagte Jik plötzlich laut, klopfte ihm auf die Schulter und ließ die andächtige Stille der Galerie in tausend Stücke zerbrechen. »Sie sind ein Scharlatan. Wenn Sie Maler sind, bin ich der Gasmann.« Nicht gerade höflich, aber auch kein Frevel. Die Umstehenden waren verlegen, nicht entrüstet. Die Wirkung auf den jungen Mann war jedoch immens. Er fuhr so heftig in die Höhe, daß er die Staffelei umstieß, starrte Jik entgeistert an, und der setzte mit sichtlichem Vergnügen noch eins drauf. »Was Sie da machen, ist kriminell«, sagte er. Darauf reagierte der junge Mann blitzschnell und brutal, ergriff das Leinöl und das Terpentin und schüttete Jik beides in die Augen. Ich packte ihn am linken Arm. Er schnappte sich mit rechts die farbbeladene Palette, wirbelte herum und wollte sie mir ins Gesicht schleudern. Instinktiv wich ich aus. Die Palette verfehlte mich und traf Jik, der sich die Augen zuhielt und laut brüllte. Sarah stürzte auf ihn zu und prallte in ihrer Hast gegen mich, so daß sich mein Griff am Arm des jungen Mannes lockerte. Er riß sich los, rannte zum Ausgang, huschte an zwei verdatterten Besuchern mittleren Alters vorbei, die gerade hereinkamen, und stieß sie mir voll in den Weg. Bis ich mein Gleichgewicht wiederfand, war er bereits verschwunden. Ich lief durch etliche 93
Hallen und Gänge, konnte ihn aber nirgends entdecken. Im Gegensatz zu mir kannte er sich hier aus; und als ich die Verfolgung schließlich aufgab, brauchte ich eine ganze Weile, um zu Jik zurückzufinden. Ziemlich viele Leute standen um ihn herum, und Sarah, die vor lauter Angst schrie, fiel mich wie eine Furie an, als sie mich erblickte. »Tu doch was«, schrie sie. »Tu was, sonst wird er blind... er wird blind... Hätten wir bloß nicht auf dich gehört!« Ich packte sie an den Handgelenken, denn sie war fast hysterisch und schien sich für Jiks Ungemach mit ein paar Verletzungen an meinem Gesicht rächen zu wollen. Kraft genug hatte sie. »Sarah«, sagte ich energisch. »Jik wird nicht blind.« »Doch! Wird er ja!« wiederholte sie und trat mir gegen die Schienbeine. »Oder hättest du das etwa gern?« rief ich. Empört schnappte sie nach Luft. Was ich gesagt hatte, war mindestens so wirksam wie ein Schlag ins Gesicht. Sie kam plötzlich zur Besinnung, wie von einer kalten Dusche, und aus der Berserkerin wurde eine aufgebrachte, aber wieder ansprechbare Frau. »Leinöl schadet überhaupt nicht«, sagte ich entschieden. »Terpentin ist schmerzhaft, aber das ist auch alles. Es nimmt ihm auf keinen Fall das Augenlicht.« Sie starrte mich wütend an, riß ihre Arme los und wandte sich wieder Jik zu, der vor Schmerzen im Kreis trat und sich mit geballten Fäusten die Augen zuhielt. Da Jik aber Jik war, betätigte er auch sein Mundwerk. »So ein hinterhältiger Dreckskerl... wenn ich den erwische... Himmel Arsch, ich kann nichts sehen... Sarah, wo ist der verdammte Todd? Ich dreh ihm den Hals um... ruf einen Krankenwagen... mir brennt’s die Augen aus... Teufel noch mal...« 94
»Deine Augen sind okay«, sagte ich ihm laut ins Ohr. »Es sind meine verdammten Augen, und wenn ich sage, die hat’s erwischt, dann hat’s sie erwischt.« »Du weißt ganz genau, daß du nicht blind wirst, also mach nicht so ein Theater.« »Es sind ja nicht deine Augen, du Aas.« »Aber du ängstigst Sarah«, sagte ich. Das zog. Er nahm die Hände runter und hörte auf herumzutorkeln. Beim Anblick seines Gesichts ging ein Raunen wohligen Entsetzens durch das gebannte Publikum. Eine Backe war von der Palette des jungen Mannes leuchtend blau und gelb gefleckt, und die rot entzündeten Augen, aus denen die Tränen nur so strömten, sahen wirklich übel aus. Er kniff sie vor Schmerzen zusammen. »Gott, Sarah«, sagte er, »entschuldige, Liebes. Der Blödmann hat recht. Von Terpentin ist noch keiner blind geworden.« »Nicht auf Dauer«, sagte ich, denn es war offensichtlich, daß er im Augenblick nur Tränen sehen konnte. Sarahs Abneigung war unverändert stark. »Dann ruf ihm einen Krankenwagen.« Ich schüttelte den Kopf. »Er braucht jetzt nur Wasser und Zeit.« »Was bist du bloß für ein unmögliches Ekel! Man sieht doch, daß er einen Arzt braucht und ins Krankenhaus gehört.« Jik, von seinen Mätzchen abgebracht, zog ein Taschentuch hervor und wischte sich behutsam die tränenden Augen. »Er hat recht, Liebes. Jede Menge Wasser, dann geht’s wieder. Das spült den Schmerz weg. Bring mich zur nächsten Herrentoilette.« Gestützt auf die immer noch skeptische Sarah zur Linken und einen mitfühlenden Zuschauer zur Rechten, wurde er fürsorglich hinausgeleitet wie Samson auf einer Laienbühne. 95
Der Chor in Gestalt der Zuschauer strafte mich mit Blicken und freute sich auf den nächsten Akt. Ich schaute auf den Farbensalat und die umgeworfene Staffelei, die der junge Mann zurückgelassen hatte. Die Zuschauer auch. »Es hat sich nicht zufällig jemand von Ihnen mit dem Künstler unterhalten, bevor das hier passiert ist?« fragte ich ruhig. »Doch, wir«, antwortete eine Frau überrascht. »Wir auch«, sagte eine andere. »Und worüber?« »Munnings«, sagte die eine und: »Munnings« die andere, und ihre Blicke gingen zu dem Bild an der Wand. »Nicht über seine eigene Arbeit?« fragte ich und bückte mich, um sie aufzuheben. Über die vorgezeichneten Linien lief wild ein gelber Strich, die Folge von Jiks Schulterschlag. Die beiden Damen wie auch ihre Männer schüttelten die Köpfe und sagten, sie hätten darüber gesprochen, wie schön es wäre, selbst einen Munnings daheim zu haben. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Er wußte aber nicht zufällig, wo man einen bekommen kann?« fragte ich. »Doch, doch«, antworteten sie. »Er hat uns einen Tip gegeben.« »Welchen?« »Also bitte, junger Mann...« Der ältere der beiden Herren, ein Amerikaner um die Siebzig, unverkennbar wohlhabend, ermahnte die anderen mit einer geübten, dämpfenden Bewegung der rechten Hand zum Schweigen. Nichts ausplaudern, hieß das, es könnte unser Schaden sein. »...Sie stellen eine Menge Fragen.« »Ich werde es Ihnen erklären«, sagte ich. »Trinken Sie einen Kaffee mit mir?«
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Sie sahen auf ihre Armbanduhren und meinten zögernd, das ließe sich machen. »Am Ende des Gangs ist ein Café«, sagte ich. »Das habe ich gesehen, als ich hinter dem jungen Mann her war... ich wollte wissen, warum er meinem Freund Terpentin in die Augen geschüttet hat.« Neugier trat in ihre Gesichter. Sie hatten angebissen. Die übrigen Zuschauer verliefen sich, und ich bat meine vier Amerikaner, einen Augenblick zu warten, raffte die mitten im Raum verstreuten Malsachen zusammen und räumte sie auf die Seite. Nirgends stand ein Name drauf. Alles handelsüblicher Malerbedarf. Profiqualität, nicht die billigere Ware für Studenten. Nichts Nagelneues, aber auch nichts Altes. Das Bild war auf einer genormten, gebrauchsfertigen Hartfaserplatte, nicht auf Leinwand skizziert. Ich stellte die leeren Gläser für Terpentin und Leinöl zum übrigen und wischte mir die Hände an einem Lappen ab. »So«, sagte ich. »Gehen wir?« Sie waren reich, in Rente und rennsportbegeistert. Mr. und Mrs. Howard K. Petrovitch, New Jersey, und Mr. und Mrs. Wyatt L. Minchless aus Carter, Illinois. Wyatt Minchless, der die anderen zum Schweigen gebracht hatte, eröffnete die Sitzung bei vier Eiskaffees mit viel Sahne und einem schwarzen ohne Zucker. Der schwarze war für ihn. Schwaches Herz, meinte er leise und klopfte in Höhe der linken Brust auf sein Jackett. Weißhaarig, schwarzes Brillengestell, blasse Stubenhockerhaut und hochtrabendes Gehabe. »Also, junger Mann, erzählen Sie mal von Anfang an.« »Hm«, sagte ich. Wo fing das eigentlich an? »Der Jungmaler ist auf meinen Freund Jik losgegangen, weil der ihn als kriminell bezeichnet hat.« 97
»Jaja«, nickte Mrs. Petrovitch. »Hab ich gehört. Gerade, als wir raus wollten. Wie kam er denn dazu?« »Gute Gemälde zu kopieren ist nicht verboten«, wußte Mrs. Minchless. »Im Louvre in Paris kommt man vor lauter kopierwütigen Studenten nicht an die Mona Lisa ran.« Sie hatte blaugetöntes, hochtoupiertes Haar, war ganz in knitterfreiem Blau und Grün und trug genügend Diamanten auf sich, um einen Meisterdieb auf den Plan zu rufen. Falten gewohnheitsmäßiger Mißbilligung liefen von ihren Mundwinkeln herab. Magerer Körper. Enge Stirn. »Es kommt darauf an, wozu man kopiert«, sagte ich. »Wenn man vorhat, die Kopie als Original auszugeben, ist das auf jeden Fall Betrug.« »Dann war der junge Mann ein Fälscher, oder –«, setzte Mrs. Petrovitch an, nur um von Wyatt Minchless unterbrochen zu werden, der ihre Frage mit einer Handbewegung und erhobener Stimme abwürgte. »Wollen Sie damit sagen, dieser Maler hat ein Werk von Munnings kopiert in der Absicht, es nachher als Original zu verkaufen?« »Ehm...«, sagte ich. Wyatt Minchless war nicht zu halten. »Wollen Sie damit sagen, daß auch der zum Verkauf stehende Munnings, auf den er uns hingewiesen hat, eine Fälschung ist?« Die anderen waren entsetzt über die Vorstellung und beeindruckt vom Scharfsinn des Wyatt L. »Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Ich würde ihn nur gern mal sehen.« »Sie wollen nicht selbst einen Munnings erwerben? Sie treten nicht als Agent für jemand anders auf?« Wyatts Doppelfrage klang scharf wie bei einem Verhör. »Sicher nicht«, sagte ich. »Also gut.« Wyatt blickte zu den drei anderen, holte sich ihr stillschweigendes Einverständnis. »Er hat Ruthie und mir 98
erzählt, in einer kleinen Galerie nicht weit von hier gebe es ein gutes Rennsportbild von Munnings zu einem sehr annehmbaren Preis...« Er langte mit Daumen und Zeigefinger in seine Brusttasche. »Na bitte. Yarra River Fine Arts. Von der Swanston Street die dritte Straße rechts ab, etwa zwanzig Meter rein.« Mr. und Mrs. Petrovitch trugen es mit Fassung. »Uns hat er genau dasselbe gesagt.« »Dabei war er so nett«, ergänzte Mrs. Petrovitch traurig. »Ganz Ohr für unsere Reise. Auf wen wir im Cup wetten, wollte er wissen.« »Er hat uns gefragt, wo wir von Melbourne aus hinwollen«, nickte Mr. Petrovitch. »Nach Adelaide und Alice Springs, haben wir gesagt, und er meinte, Alice Springs sei eine Hochburg der Malerei, da sollten wir unbedingt auch in die Yarra River Gallery gehen. Gleiche Firma wie hier. Die hätten immer gute Bilder.« Mr. Petrovitch würde es mißverstanden haben, wenn ich mich über den Tisch gebeugt und ihn umarmt hätte. Ich konzentrierte mich auf meinen Eiskaffee und behielt meine Erregung für mich. »Wir wollen weiter nach Sydney«, erklärte Wyatt L. »Für Sydney hatte er keinen Tip parat.« Die hohen Gläser waren beinah leer. Wyatt sah auf die Uhr und trank seinen Schwarzen ohne Zucker aus. »Sie haben uns noch nicht erzählt, warum Ihr Freund den jungen Mann als kriminell bezeichnet hat«, sagte Mrs. Petrovitch nachdenklich. »Ich meine... mir leuchtet ein, daß der Kerl auf ihren Freund losgegangen und davongelaufen ist, wenn er etwas auf dem Kerbholz hat, aber wie kam Ihr Freund darauf?« »Genau das wollte ich Sie auch gerade fragen«, sagte Wyatt und nickte gewichtig mit dem Kopf. Aufgeblasener Lügner, dachte ich. 99
»Mein Freund Jik«, sagte ich, »ist selbst Maler. Er war von der Arbeit des jungen Mannes nicht begeistert. Deswegen hat er sie als kriminell abgetan. Er hätte ebensogut ›stümperhaft‹ sagen können.« »Mehr war nicht dahinter?« sagte Mrs. Petrovitch enttäuscht. »Nun... der junge Mann hat Farben benutzt, die nicht richtig zusammenpassen. Jik ist Perfektionist. Er kann nicht mitansehen, wie Farbe falsch angewendet wird.« »Was heißt, nicht zusammenpassen?« »Farben sind Chemikalien«, holte ich die versäumte Erklärung nach. »Die meisten tun sich zwar nichts, aber aufpassen muß man schon.« »Was kann denn sonst passieren?« wollte Ruthie Minchless wissen. »Tja... in die Luft fliegt nichts«, sagte ich lächelnd. »Aber wenn man Schieferweiß, das auf Blei basiert, mit schwefelhaltigem Kadmiumgelb mischt, wie es der junge Mann getan hat, ergibt das zwar einen schönen hellen Farbton, doch die gegenseitige Reaktion der beiden Mineralien läßt das Bild mit der Zeit dunkler werden und verändert es.« »Und das nennt Ihr Freund kriminell?« fragte Wyatt ungläubig. »So schlimm kann das doch wohl nicht sein.« »Ehm...«, sagte ich. »Also van Gogh hat für seine Sonnenblumenbilder ein leuchtendes neues Hellgelb auf Chrombasis benutzt. Kadmiumgelb war damals noch nicht erfunden. Es hat sich aber gezeigt, daß Chromgelb im Lauf von ein paar hundert Jahren zerfällt, es wird zu einem grünlichen Schwarz, und auch die Sonnenblumen sind inzwischen verfärbt, und ich glaube, bisher hat niemand ein Mittel gefunden, das den Vorgang aufhält.« »Der junge Mann hat aber doch nicht für die Nachwelt gemalt«, meinte Ruthie gereizt. »Wenn er nicht gerade ein neuer van Gogh ist, spielt das doch wohl keine Rolle.«
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Sie brauchten nicht unbedingt zu wissen, daß Jik auf Anerkennung im dreiundzwanzigsten Jahrhundert hoffte. Die Haltbarkeit von Farben war ein Thema, das ihn seit jeher beschäftigte, und einmal hatte er mich in einen Kurs über ihre chemischen Eigenschaften mitgeschleppt. Die Amerikaner standen auf, um zu gehen. »Alles hochinteressant«, meinte Wyatt mit einem überlegenen Lächeln. »Ich schätze, ich werde mein Geld weiter in Aktien investieren.«
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Jik war nicht mehr in der Herrentoilette, und er war nicht mehr im Arts Centre. Ich fand ihn und Sarah erst im Hotel wieder, wo sich die attraktive Krankenschwester des Hilton seiner annahm. Die Zimmertür stand offen, und sie war im Begriff zu gehen. »Möglichst nicht reiben, Mr. Cassavetes«, sagte sie gerade. »Wenn Sie Beschwerden haben, rufen Sie in der Rezeption an, dann schau ich noch mal.« Sie schenkte mir ein berufsmäßiges Lächeln an der Tür und eilte davon, während ich eintrat. »Wie geht’s den Augen?« fragte ich zögernd. »Echt beschissen.« Sie waren glutrot, aber immerhin trocken. Schon besser. »Damit ist das Maß jetzt voll«, sagte Sarah mit zusammengekniffenen Lippen. »Ich weiß zwar, daß sich Jik in ein paar Tagen wieder erholt, aber wir gehen kein Risiko mehr ein.« Jik war still und sah mich nicht an. Das alles kam nicht gerade unerwartet. »Okay... Dann wünsche ich euch ein schönes Wochenende und bedanke mich.« »Todd...«, sagte Jik. Sarah fuhr dazwischen. »Nein, Jik. Das ist nicht unsere Angelegenheit. Todd soll denken, was er will, aber mit den Problemen seines Cousins haben wir nichts zu tun. Wir halten uns da raus. Ich war von Anfang an gegen dieses blöde Herumspionieren, und jetzt ist Schluß damit.« »Für Todd nicht«, sagte Jik. »Dann ist er ein Narr.« Sie war zornig, abschätzig, bissig. »Natürlich«, sagte ich. »Heutzutage ist jeder, der Unrecht bekämpfen will, ein Narr. Der Kluge hält sich raus, meidet 102
Verstrickungen, weist die Verantwortung von sich. Ich sollte wirklich auf meinem Dachboden in Heathrow Bilder malen, mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern und Donald vor die Hunde gehen lassen. Viel vernünftiger, geb ich zu. Dummerweise bringe ich das einfach nicht fertig. Ich sehe doch, was er durchmacht. Da kann ich mich nicht einfach abwenden. Nicht, solange die Möglichkeit besteht, ihn da rauszuholen. Es kann zwar sein, daß mir das nicht gelingt, aber unverzeihlich fände ich, es gar nicht zu versuchen.« Ich schwieg. Es war ganz still. »Tja«, sagte ich und brachte ein Lächeln zustande. »Soweit der Vortrag des weltgrößten Schwachkopfs. Viel Spaß beim Pferderennen. Wer weiß, vielleicht sehen wir uns da.« Ich winkte kurz zum Abschied und ging hinaus. Beide sagten kein Wort. Leise schloß ich die Tür hinter mir und fuhr mit dem Lift nach oben auf mein Zimmer. Oh, Sarah, dachte ich. Sie würde Jik in Watte und Pantoffeln stecken, wenn er nicht achtgab, und nie mehr würde er diese herrlichen, schwerblütigen Bilder malen, denn sie entsprangen einer Zerrissenheit, die ihm verwehrt sein würde. Sicherheit konnte für ihn nur eine Art Abdankung, eine Art Tod sein. Ich sah auf meine Uhr und dachte, die Filiale von Yarra River Fine Arts könnte noch aufhaben. Einen Versuch war es wert. Als ich die Wellington Road entlangging und zur Swanston Street kam, fragte ich mich, ob der junge Terpentinwerfer wohl dort war, und wenn ja, ob er mich erkennen würde. Ich hatte sein Gesicht nur flüchtig gesehen, da ich die meiste Zeit hinter ihm gestanden hatte. Ausgehen konnte ich nur von hellbraunen Haaren, Akne am Kinn, einer runden Kieferpartie und vollen Lippen. Unter zwanzig. Vielleicht erst siebzehn. Bekleidet mit Bluejeans, weißem T-Shirt, Tennisschuhen. Ungefähr
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einssiebzig, fünfundsechzig Kilo. Flink, aber auch schreckhaft. Und kein Maler. Yarra River war geöffnet, hell erleuchtet, und mitten im Schaufenster prangte auf einer vergoldeten Staffelei ein Pferdebild. Kein Munnings. Das Porträt eines australischen Pferdes mit Reiter, jedes Detail scharf abgegrenzt, einfühlsam, aber für meinen Geschmack zu bemüht. Daneben, gold auf schwarz geprägt, der Hinweis auf eine Sonderausstellung herausragender Pferdemalerei, und auf einem weniger aufwendigen, aber größer geschriebenen Schild stand: »Willkommen zum Melbourne Cup«. Die Galerie war angelegt wie tausend andere auf der Welt, ein langer, schmaler Raum, der von der Straße aus weit nach hinten führte. Zwei oder drei Leute schlenderten drinnen umher und betrachteten die Bilder an den gut beleuchteten grauen Wänden. Eigentlich hatte ich hineingehen wollen. Das wollte ich immer noch, aber ich zögerte vor dem Eingang, als stünde ich am Start zu einem Skisprung. Albern, dachte ich. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Wenn du nicht nachsiehst, findest du nichts. Ich nahm mich zusammen, holte tief Luft und trat über die einladende Schwelle. Graugrüner Teppichboden, ganz in Türnähe ein antiker Schreibtisch, an dem eine junge Frau breit lächelnd schmale Kataloge ausgab. »Schauen Sie sich ruhig um«, sagte sie. »Auch unten hängen Bilder.« Sie reichte mir den Katalog, eine milchweiße Mappe mit einem gehefteten, maschinegeschriebenen Verzeichnis. Ich blätterte darin. Einhundertdreiundsechzig Exponate, fortlaufend numeriert, jeweils mit Titel, Name des Künstlers und Preis. Bereits verkaufte Bilder, hieß es, seien mit einem roten Punkt am Rahmen gekennzeichnet. 104
Ich dankte der Frau. »Bin zufällig vorbeigekommen«, sagte ich. Sie nickte und lächelte geschäftsmäßig, während ihre Blicke rasch über meine Jeans und Jeansjacke glitten und sie mich als nicht dem Jet-set zugehörig einstufte. Sie selbst trug nonchalant die neueste Mode und strahlte die Offenheit aus, mit der man Millionäre angelt. Australierin, selbstbewußt und eine zu starke Persönlichkeit, um bloß Empfangsdame zu sein. »Lassen Sie sich nur Zeit«, sagte sie. Ich ging langsam durch den ganzen Raum und las die Katalogangaben zu den Bildern. Es waren vorwiegend australische Künstler, und ich begriff, was Jik unter starker Konkurrenz verstand. Der Markt war mindestens so überlaufen wie zu Hause und das Niveau in mancher Hinsicht besser. Wenn ich mich mit der glänzenden Begabung anderer konfrontiert sah, erschien mir das eigene Können mitunter zweifelhaft. Hinten im Parterre ging eine Treppe nach unten, geschmückt mit einem Pfeil und dem Hinweis: »Ausstellung auch im Basement«. Ich ging hinunter. Gleicher Teppichboden, gleiche Beleuchtung, aber keine Besucher, die sich anhand des Katalogs die Bilder anschauten. Unten bestand die Galerie nicht aus einem durchgehenden Raum, sondern aus mehreren kleineren, die von einem langen Flur abgingen, weil man die tragenden Wände und Zwischenwände offenbar nicht ohne weiteres hatte wegnehmen können. Ein Raum hinter der Treppe diente als Büro, ausgestattet mit einem edlen Schreibtisch, zwei oder drei bequemen Sesseln für Kaufinteressenten und einer Reihe gediegener Aktenschränke mit Teakfurnier. Bilder in schweren Rahmen schmückten die Wände, und ein schwergewichtiger Mann saß am Schreibtisch über einem Hauptbuch. Er hob den Kopf, als er mich vor seiner Tür bemerkte. 105
»Kann ich etwas für Sie tun?« »Ich sehe mich nur um.« Er nickte uninteressiert und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Alles hier machte im Gegensatz zu dem windigen Schuppen in Sydney einen soliden und beständigen Eindruck. So ein achtbares Geschäft, dachte ich, konnte nicht das sein, wonach ich suchte. Ich war auf dem Holzweg. Wahrscheinlich mußte ich warten, bis mir Hudson Taylor etwas zu Donalds Scheck sagte, und mich neu orientieren. Seufzend ging ich weiter durch die Räume, da es nicht schaden konnte, sich von der Konkurrenz ein Bild zu machen. An einigen Rahmen klebten rote Punkte, aber die wirklich guten Sachen hatten Preise, die nur Leute mit viel Geld erschwingen konnten. Im letzten Raum, der größer als die anderen war, stieß ich auf die Munnings’. Drei. Alle mit Pferden: eine Rennsportszene, eine Jagdszene, eine mit Zigeunern. Im Katalog waren sie nicht aufgeführt. Sie hingen einfach so zwischen ähnlichen Sujets von anderer Hand, und für mich stachen sie heraus wie Vollblüter zwischen Mietpferden. Schauer liefen mir über den Rücken. Grund dafür war nicht nur die handwerkliche Meisterschaft, sondern eins der Bilder selbst. Pferde beim Aufgalopp. Eine lange Reihe von Jockeys, leuchtend vor einem dunklen Himmel. Die Farben des vordersten Reiters, Purpur mit grüner Kappe. Maisies geschwätzige Stimme klang mir im Ohr, wie sie beschrieb, was ich vor mir sah: »... auch wenn Sie das jetzt albern finden, das war mit ein Grund, warum ich es gekauft habe... weil Archie und ich Purpur mit grüner Kappe als Farben nehmen wollten, wenn die noch nicht vergeben waren...« Munnings hatte für Schatten und Hintergründe immer gern Purpur und Grün verwendet. Trotzdem... Dieses Bild entsprach in Format, Sujet und Farbgebung genau demjenigen von 106
Maisie, das hinter einem Heizkörper versteckt gewesen war und in ihrem Haus verbrannt sein sollte. Das Bild vor mir sah echt aus. Die richtige Patina für die Jahrzehnte, die seit Munnings’ Tod vergangen waren, hervorragende Technik, genau das gewisse Etwas, das die Großen von den Guten unterscheidet. Vorsichtig fuhr ich mit dem Finger über die bemalte Leinwand. Nirgends etwas, das nicht hingehörte. Eine Stimme mit britischem Akzent sagte hinter mir: »Kann ich etwas für Sie tun?« »Ist das ein Munnings?« fragte ich beiläufig und drehte mich um. Er stand in der Tür und sah mich mit der vorsichtigen Hilfsbereitschaft von jemand an, dessen kostbarste Ware von einem offenbar zu wenig zahlungskräftigen Kunden bewundert wird. Ich erkannte ihn sofort. Nach hinten gekämmtes, schütteres braunes Haar, graue Augen, hängender Schnurrbart, sonnengebräunte Haut – dreizehn Tage zuvor gesehen im englischen Sussex, wo er in einer Brandruine am Meer herumstocherte. Mr. Greene, mit ›e‹ am Schluß. Er brauchte nur einen Sekundenbruchteil länger. Verwirrung, während er von mir zum Bild und wieder zu mir schaute, dann die schlagartige Erkenntnis, wo er mich schon einmal gesehen hatte. Jäh trat er einen Schritt zurück und griff an die Wand. Ich war schon auf dem Weg zur Tür, aber nicht schnell genug. Am Eingang fiel ein Stahlgitter herab und rastete in ein Schloß am Boden ein. Mr. Greene stand draußen, immer noch ungläubig staunend, mit offenem Mund. Ich vergaß meine wohlfeile Ansicht über Gefahren, die stark machen, und hatte Angst wie noch nie. »Was ist los?« rief eine tiefe Stimme vom Gang her.
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Mr. Greene brachte keinen Ton heraus. Der Mann aus dem Büro erschien an seiner Seite und sah mich durch das Gitter an. »Ein Dieb?« fragte er verärgert. Mr. Greene schüttelte den Kopf. Ein dritter Mann kam dazu, mit neugierigem Gesicht und Akne auf der Haut, als hätte er die Masern. »Hoppla«, rief er überrascht in australischem Englisch. »Das ist der Typ aus dem Arts Centre. Der hinter mir her war. Ich schwöre, daß ich ihn abgehängt habe. Ehrenwort.« »Halt den Mund«, sagte der Mann vom Büro nur. Er sah mir fest in die Augen. Ich erwiderte seinen Blick. Ich stand mitten in einem rund fünf mal fünf Meter großen, hellerleuchteten Raum. Keine Fenster. Kein Ausgang außer der vergitterten Tür. Abgehoben von der Sprungschanze, ohne Aussicht auf eine sanfte Landung. »Na, hören Sie mal«, nörgelte ich. »Was soll denn das?« Ich trat an das Stahlgitter und schlug dagegen. »Machen Sie mir auf. Ich will raus.« »Was tun Sie hier?« fragte der Mann vom Büro. Er war größer als Greene und hatte offensichtlich in der Galerie mehr zu sagen. Schweres, dunkles Brillengestell, unfreundliche Augen, weiß gepunktete blaue Fliege und Doppelkinn. Kleiner Mund mit voller Unterlippe. Gelichtetes Haar. »Ich schaue mich um«, sagte ich mit gespielter Verwunderung. »Wollte mir Bilder ansehen.« Ein harmloser Tourist, dachte ich, nur ein bißchen beschränkt. »Der ist mir im Arts Centre nachgerannt«, wiederholte der Junge. »Weil Sie dem Mann was ins Gesicht geschüttet hatten«, sagte ich empört. »Er hätte ja blind werden können.« »Ein Bekannter von Ihnen?« fragte der Mann vom Büro. »Nein«, sagte ich. »Ich war nur gerade da. So wie ich gerade hier bin. Weil ich mir gern Bilder ansehe. Das wird man ja noch dürfen, oder? Ich gehe dauernd in Ausstellungen.« 108
Auch Mr. Greene fand jetzt Worte. »Ich habe ihn in England gesehen«, sagte er zu dem Mann vom Büro. Sein Blick kehrte zu dem Munnings zurück, dann legte er dem Angesprochenen die Hand auf den Arm und zog ihn hinaus auf den Flur, außer Sichtweite. »Machen Sie mir auf«, sagte ich zu dem Jungen, der immer noch draußen stand. »Ich weiß nicht, wie das geht«, erwiderte er. »Und ich glaube, damit würde ich mich ziemlich in die Nesseln setzen.« Die beiden anderen kamen wieder. Alle drei sahen mich an. Mitgefühl für Zoobewohner stieg in mir auf. »Wer sind Sie?« fragte der Mann vom Büro. »Wer soll ich schon sein? Ich will hier zum Pferderennen gehen und natürlich zum Kricket.« »Name?« »Charles Neil.« Charles Neil Todd. »Was haben Sie in England gemacht?« »Da lebe ich doch!« sagte ich. »Hören Sie«, ich tat, als versuchte ich, unter erschwerten Umständen die Übersicht zu behalten. »Den Mann da«, ich nickte zu Greene, »habe ich bei einer entfernten Bekannten in Sussex gesehen. Sie hat mich nach dem Pferderennen mal im Wagen mitgenommen, als ich den Zug nach Worthing verpaßt hatte und per Autostopp gefahren bin. Da meinte sie auf einmal, sie würde gern an ihrem kürzlich abgebrannten Haus vorbeifahren, und dort haben wir dann diesen Mann angetroffen. Er sagte, er heiße Greene und komme von der Versicherung, sonst weiß ich nichts über ihn. Also, was liegt an?« »Dann hat Sie der Zufall hier so bald wieder zusammengeführt?« »Das will ich meinen!« stimmte ich inbrünstig zu. »Aber deswegen braucht man mich doch nicht gleich einzusperren.« Ich las Unentschlossenheit auf ihren Gesichtern. Auf meinem war hoffentlich kein Angstschweiß zu sehen. 109
Gereizt hob ich die Schultern. »Von mir aus rufen Sie die Polizei, wenn Sie meinen, ich hab was getan.« Der Mann vom Büro suchte den Schalter an der Außenwand, drückte darauf, und viel langsamer, als es herabgefallen war, glitt das Gitter nach oben. »Entschuldigung«, sagte er lediglich. »Bei den vielen wertvollen Bildern in unseren Räumen müssen wir vorsichtig sein.« »Das sehe ich ja ein«, sagte ich und widerstand dem starken Drang davonzurennen. »Aber trotzdem...« Mir gelang ein gekränkter Tonfall. »Nun, es ist ja nichts passiert.« Gekränkt und doch großzügig. Sie blieben auf dem ganzen Weg nach oben und durch den Ausstellungsraum im Erdgeschoß hinter mir, was meinen Nerven überhaupt nicht guttat. Alle anderen Besucher waren offenbar gegangen. Die Empfangsdame schloß gerade die Vordertür ab. Mein Hals war so trocken, daß ich nicht mal mehr schlucken konnte. »Ich dachte, es wären alle weg«, sagte sie überrascht. »Bin etwas aufgehalten worden«, meinte ich mit einem dünnen Lachen. Sie zeigte ihr geschäftsmäßiges Lächeln und öffnete wieder die Tür. Trat zurück. Hielt sie mir auf. Sechs Schritte. Hinaus ins Freie. Allmächtiger, wie herrlich frisch die Luft war. Ich drehte mich halb um. Alle vier standen am Eingang und schauten mir nach. Ich zuckte die Achseln, neigte den Kopf und stapfte im Sprühregen davon, schwach wie eine Feldmaus, die der Habicht fallengelassen hat.
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Ich stieg in eine Straßenbahn und fuhr tief ins unbekannte Innere der großen Stadt hinein, getrieben nur von dem Wunsch, möglichst weit von diesem Kellergefängnis wegzukommen. Sie würden sich anders besinnen. Keine Frage. Sie würden sich wünschen, sie hätten mehr über mich in Erfahrung gebracht, bevor sie mich laufen ließen. Sie konnten zwar nicht ausschließen, daß ich zufällig in ihre Galerie gekommen war, denn es gab noch viel erstaunlichere Zufälle, wie etwa den, daß Präsident Lincoln zur Zeit seiner Ermordung einen Sekretär namens Kennedy gehabt hatte und Präsident Kennedy einen Sekretär namens Lincoln; aber je länger sie darüber nachdachten, desto unwahrscheinlicher würde es ihnen vorkommen. Wo würden sie suchen, wenn sie mich finden wollten? Sicher nicht im Hilton, dachte ich belustigt. Auf der Rennbahn – ich hatte ihnen gesagt, daß ich dorthin wollte. Eigentlich wäre mir lieber gewesen, ich hätte das bleiben lassen. An der Endstation stieg ich aus und stand direkt vor einem einladenden kleinen Restaurant, an dem groß die Abkürzung B.Y.O. angeschrieben war. Da ich gesunden Hunger verspürte, ging ich hinein, bestellte ein Steak und bat um die Weinkarte. Die Kellnerin sah mich erstaunt an. »Wir haben B.Y.O.«, sagte sie. »Und das heißt?« Ihre Augenbrauen kletterten noch höher. »Sie sind Ausländer? Es steht für Bring Your Own – Getränke bitte mitbringen. Wir bieten nur Speisen an.« »Ach so.« »Hundert Meter von hier ist aber eine Drive-inGetränkehandlung, die noch aufhat. Wenn Sie da was kaufen wollen, warten wir mit Ihrem Steak so lange.« Ich schüttelte den Kopf und begnügte mich mit einem alkoholfreien Abendessen und einer guten Tasse Kaffee – fast so gut wie das Schild an der Wand: »Wir haben ein 111
Abkommen mit unserer Bank. Die Bank brät keine Steaks, und wir lösen keine Schecks ein«. Als ich mit der Straßenbahn zurück ins Zentrum fuhr, kam ich an der Getränkehandlung vorbei, die auf den ersten Blick so sehr nach Tankstelle aussah, daß ich angenommen hätte, die Autos stünden um Benzin an. Mir wurde klar, wieso Jik den Australiern Phantasie bescheinigte: Sie dachten praktisch und bewiesen Humor. Der Regen hatte aufgehört. Ich stieg aus, um die letzten zwei oder drei Meilen zu Fuß durch helle Straßen und dunkle Parks zu gehen, und fragte nach dem Weg. Dachte an Donald und Maisie, an Greene mit ›e‹, an Bilder und Einbrüche und Gewalttätigkeit. Das Grundschema des Ganzen schien von Anfang an recht einfach: In Australien verkaufte Bilder wurden in England mitsamt allem, was nicht niet- und nagelfest war, per Einbruch wieder zurückerbeutet. Da ich innerhalb von drei Wochen auf zwei solche Fälle gestoßen war, war ich sicher, daß es noch mehr gab, denn trotz der gemeinsamen Verbindung zum Pferderennen und zur Malerei war es mehr als unwahrscheinlich, daß ich an die beiden einzigen Fälle geraten sein sollte. Seit ich mit den Petrovitchs und dem Ehepaar Minchless gesprochen hatte, konnte ich kaum noch davon ausgehen, daß die Einbrecher nur in England arbeiteten. Warum nicht auch in Amerika? Oder überall sonst, wo sich der Einsatz lohnte. Wenn nun eine internationale Diebesbande am Werk war, die Antiquitäten containerweise von Erdteil zu Erdteil verschob, um sie auf dem gefräßigen Markt schnell und teuer loszuwerden? Inspektor Frost hatte ja gesagt, daß Antiquitäten kaum jemals wieder auftauchten. Die Nachfrage war unersättlich und das Angebot naturgemäß begrenzt. Ich stellte mir vor, ich wäre ein Gauner, dem nichts daran lag, wochenlang in Übersee nach Haushalten zu suchen, die 112
einen Einbruch lohnten. Dann hätte ich die Möglichkeit, daheim in Melbourne zu bleiben und Bilder an reiche Touristen zu verhökern, die sich Spontankäufe für zehntausend Pfund durchaus mal leisten konnten. Ich hätte die Möglichkeit, mit ihnen über ihre Privatsammlung zu plaudern, und könnte sie ganz nebenbei auf ihr Silber, ihr Porzellan und ihre Kunstgegenstände ansprechen. Kunden, die Rembrandts, Fabergé-Schmucksachen oder ähnlich Bekanntes und Unverkäufliches zu Hause hatten, würden mich nicht interessieren. Nur die Reichen, aber nicht allzu Reichen, bei denen es georgianisches Silber, kleinere Gauguins und Chippendalestühle zu holen gab. Wenn sie bei mir Bilder kauften, gaben sie mir ihre Adresse. Denkbar einfach. Kinderspiel. Ich würde so etwas wie ein Superhehler sein, mit einem hohen Umsatz an kleiner Ware. Wenn meine Opfer weit genug voneinander entfernt lebten, würde die jeweilige Polizei einer Australienreise, die sie im Jahr vorher unternommen hatten, keine Bedeutung beimessen. Und den Versicherungen, die Tausende von Einbruchsdiebstählen zu bearbeiten hatten, würden Australienreisen ebensowenig auffallen. Allerdings würde ich nicht mit einem Spielverderber wie Charles Neil Todd rechnen. Wäre ich ein Gauner mit einem gutgehenden Geschäft und gutem Ruf gewesen, hätte ich mich davor gehütet, mit Fälschungen zu handeln. Bei Ölgemälden waren Fälschungen unter dem Mikroskop fast immer nachzuweisen, und erfahrene Kunsthändler erkannten sie meist sogar mit bloßem Auge. Die Handschrift eines Malers zeigte sich im ganzen Bild, nicht nur in der Signatur, denn die Pinselführung eines jeden war unverwechselbar. Pinselstriche ließen sich so eindeutig zuordnen wie Kratzspuren auf Pistolenkugeln. Wäre ich ein Gauner gewesen, hätte ich mich mit einem echten Munnings, einer original Picassozeichnung oder dem 113
echten Werk eines produktiven, just verstorbenen Künstlers auf die Lauer gelegt, und all die reichen kleinen Fliegen wären mir ins Netz gegangen, angelockt von meinen redseligen Komplizen, die eigens zu dem Zweck in den Galerien der Großstädte herumstanden. Maisie und Donald waren auf diese Weise eingefangen worden. Angenommen, ich verkaufte einem Engländer ein Bild und raubte ihn aus, bekam mein Bild zurück und verkaufte es sogleich an jemand in Amerika – um dann wieder den auszurauben, es mir zurückzuholen und immer so weiter. Angenommen, ich verkaufte in Sydney ein Bild an Maisie, holte es mir zurück und bot es in Melbourne an... Genau da war Schluß mit meinem Gedankenspiel, weil es sich nicht zusammenreimte. Hätte das Bild bei Maisie offen an der Wand gehangen, hätten die Diebe es natürlich wie alles andere mitgenommen. Falls sie es aber erbeutet hatten und es jetzt in alter Pracht bei Yarra River Fine Arts hing, wieso war dann das Haus angezündet worden, und wieso hatte Mr. Greene dort im Schutt herumgestochert? Das reimte sich nur, wenn Maisies Bild eine Kopie gewesen war und wenn die Einbrecher es nicht hatten finden können: Sie wollten es nicht zurücklassen, deshalb mußte das Haus brennen. Allerdings hatte ich gerade noch überlegt, daß mir Fälschungen zu riskant gewesen wären. Aber... hätte Maisie eine gelungene Kopie als solche erkannt? Wohl kaum. Ich seufzte. Selbst um Maisie zu täuschen, brauchte es einen versierten Maler, der bereit war, seine eigene Arbeit zugunsten von Abkupfereien zurückzustellen, und der wollte erst mal gefunden sein. Jedenfalls hatte Maisie ihr Bild nicht in Melbourne, sondern in der kurzlebigen Galerie in Sydney gekauft; vielleicht wagten sie es an bestimmten Orten eben doch, Fälschungen anzubieten.
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Das Hotelhochhaus ragte auf der anderen Seite des Parks empor. Die kühle Nachtluft wehte mir um den Kopf. Ich hatte die lebhafte Empfindung, von allem abgeschnitten zu sein, ein Fremder in einem unermeßlich großen Land, ein Nichts unter den Sternen. Die Geräuschkulisse und die Wärme des Hilton schraubten das expandierende Weltall auf faßbare Maße zurück. Von meinem Zimmer aus rief ich Hudson Taylor unter der Nummer an, die seine Sekretärin mir gegeben hatte. Punkt neun Uhr. Es hörte sich an, als hätte er gut zu Abend gegessen, eine kräftige Stimme, umgänglich, höflich und sehr australisch. »Der Cousin von Donald Stuart? Stimmt es, daß die kleine Regina ermordet worden ist?« »Leider ja.« »Was für eine Tragödie. Ein wirklich nettes Mädel, diese Regina.« »Ja.« »Nun, und was kann ich für Sie tun? Möchten Sie Karten fürs Pferderennen?« »Ehm, nein«, sagte ich. »Es geht nur darum, daß sich Donald wegen der Versicherung gern mit der Galerie, die ihm das Bild verkauft hat, in Verbindung setzen würde, weil ihm auch die Quittung und der Herkunftsnachweis gestohlen worden sind, aber er weiß nicht mehr, wie sie hieß, und da ich wegen des Cups sowieso nach Melbourne wollte...« »Das ist kein Problem«, sagte Hudson Taylor entgegenkommend. »Ich erinnere mich gut an den Laden. Ich habe mir das Bild dort mit Donald angesehen, und nachher kam der Galerist damit ins Hilton, wo wir das Finanzielle geregelt haben. Augenblick...« Eine Denkpause folgte. »Im Moment fällt mir weder der Name der Galerie noch der des Galeristen ein. Das ist ja schon einige Monate her. Aber in unserem Geschäft hier in Melbourne habe ich die im Buch
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stehen, und da muß ich morgen früh sowieso hin, dann schau ich nach. Kommen Sie morgen zum Pferderennen?« »Ja«, sagte ich. »Treffen wir uns doch auf ein Glas. Sie können mir dann von Regina und dem armen Donald erzählen und bekommen von mir den Namen, den er braucht.« Ich war damit einverstanden, und er erläuterte mir, wo und wann ich mich mit ihm treffen sollte. »Da wird ein Riesenandrang sein«, sagte er. »Aber wenn Sie genau dort stehen, werde ich Sie nicht verfehlen.« Es handelte sich offenbar um eine ziemlich exponierte Stelle im Freien. Ich hoffte, daß niemand außer ihm mich dort entdecken würde. »Bis dann«, sagte ich.
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Jik rief mich am nächsten Morgen um acht an. »Komm runter ins Café und frühstücke mit mir.« »Okay.« Ich nahm den Lift nach unten und ging durch die Halle zu dem kleinen Restaurant des Hotels. Mit dunkler Brille saß er allein an einem Tisch und machte sich über einen Berg Rühreier her. »Der Kaffee wird gebracht«, sagte er, »alles andere muß man sich da am Büffet holen.« Er deutete mit dem Kopf auf einen großen, üppig beladenen Tisch in der Mitte des luftig blau und lindgrün tapezierten Raumes. »Wie geht’s?« »Es war mal besser.« Er verzog das Gesicht. »Saukerl.« »Was machen die Augen?« Er riß sich theatralisch die Brille herunter und beugte sich vor, damit ich genau hinsehen konnte. Sie waren noch rot entzündet, aber eindeutig auf dem Weg der Besserung. »Hat Sarah sich erweichen lassen?« fragte ich. »Ihr ist nicht gut.« »Oh?« »Weiß der Himmel«, sagte er. »Hoffentlich nicht. Ich will noch keine Kinder. Sie ist nicht über die Zeit oder so.« »Nette Frau«, sagte ich. Er warf mir einen Blick zu. »Sie sagt, sie hat nichts gegen dich persönlich.« »Aber«, tippte ich an. Er nickte. »Das Gluckensyndrom.« »Als Küken kann ich dich nicht sehen.« Er legte Messer und Gabel hin. »Ich, weiß Gott, auch nicht. Sie soll die Ohren steifhalten, hab ich ihr gesagt, uns dieses kleine Abenteuer so schnell wie möglich über die Bühne 117
bringen lassen und sich klarmachen, daß sie keinen Schlappschwanz geheiratet hat.« »Was meinte sie dazu?« Er lächelte schief. »Hätte sie doch, wenn es danach ginge, wie ich gestern abend im Bett war.« Ich fragte mich unwillkürlich, wie gut ihr Sexualleben klappte. Nach der Auskunft von einer oder zwei Verflossenen, die mir ihr Herz ausgeschüttet hatten, während sie in unserer Bude stundenlang auf Jiks unvorhersehbare Rückkehr warteten, war er ein launenhafter Liebhaber, schnell erregt und leicht aus der Stimmung zu bringen. »Braucht nur ein Hund zu bellen, und nichts geht mehr.« Daran hatte sich wohl wenig geändert. »Egal«, sagte er. »Wir haben den Wagen. Es wäre saublöd von dir, wenn du nicht mit zum Pferderennen kämst.« »Würde Sarah«, fragte ich vorsichtig, »nicht schmollen?« »Sie meint, nein.« Ich nahm sein Angebot an und seufzte innerlich. Es sah aus, als würde er künftig nicht den kleinsten Schritt ohne Sarahs Einverständnis tun. War das immer so, wenn die wilden Kerle unter die Haube kamen? Stutzte das Eheglück den Adlern die Flügel? »Wo warst du gestern abend?« fragte er. »In Ali Babas Höhle«, sagte ich. »Schätze zuhauf und mit viel Glück dem siedenden Öl entronnen.« Ich erzählte ihm von der Galerie, dem Munnings und meiner kurzen Gefangenschaft. Ich sagte ihm, wie ich mir die Einbruchsdiebstähle erklärte. Es gefiel ihm. Der Schalk blitzte ihm aus den Augen, und die alte Erregung stieg in ihm auf. »Wie beweisen wir das?« fragte er. Er hörte das ›wir‹, sobald er es ausgesprochen hatte. Ein verschämtes Lachen, und der Schwung war dahin. »Also wie?« »Das weiß ich noch nicht.«
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»Ich würde ja gerne helfen«, sagte er in einem Ton, als müsse er sich entschuldigen. Mir fielen ein Dutzend sarkastische Entgegnungen ein, und ich verkniff sie mir alle. Nicht die beiden waren aus dem Tritt, sondern ich. Die Stimme der Vergangenheit hatte kein Recht, die Zukunft zu zerstören. »Du wirst tun, was Sarah für richtig hält«, sagte ich mit Entschiedenheit, und es war als Aufforderung gemeint, nicht als Stichelei. »Kommandier mich nicht herum.« Während wir friedlich zu Ende frühstückten, versuchten wir eine annehmbare neue Beziehung auf den Trümmern der alten aufzubauen und waren uns dessen durchaus bewußt. Als ich mich später wie verabredet mit ihnen in der Halle traf, war es offensichtlich, daß auch Sarah eine Neueinschätzung vorgenommen und an ihren Gefühlen gearbeitet hatte. Sie begrüßte mich mit dem Versuch eines Lächelns und ausgestreckter Hand. Ich schlug ein und gab ihr ein symbolisches Küßchen auf die Wange. Sie wußte, wie es gemeint war. Friede beschlossen, Bedingungen akzeptiert, Vertrag besiegelt. Unterhändler Jik stand selbstzufrieden in der Gegend. »Schau ihn dir an«, sagte er und wies auf mich. »Der ideale Börsenmakler. Anzug, Binder, Lederschuhe. Wenn er nicht aufpaßt, holen sie ihn in die Royal Academy.« Sarah sah ihn verwirrt an. »Ich dachte, das sei eine Ehre.« »Das kommt drauf an«, lästerte Jik. »Passable Pinselschwinger mit geschliffenen Umgangsformen werden da ab dreißig aufgenommen. Meistermaler mit durchschnittlichen Umgangsformen kommen ab vierzig rein, Meister ohne Umgangsformen ab fünfzig. Genies, denen es Wurscht ist, ob sie reinkommen, werden so lange wie möglich übersehen.«
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»Und Todd gehört zur ersten, du aber zur letzten Kategorie?« fragte Sarah. »Selbstverständlich.« »Das hat schon seine Richtigkeit«, sagte ich. »Man hört nie von jungen Meistern. Immer nur von alten.« »Du lieber Gott«, meinte Sarah, »fahren wir endlich zur Rennbahn.« Wir fuhren langsam, denn unzählige Wagen waren in die gleiche Richtung unterwegs. Der Parkplatz der FlemingtonRennbahn, wohin uns die Reise führte, sah aus wie eine riesengroße Picknickwiese, da zwischen den Autos Hunderte von regelrechten Lunchparties stattfanden. Tische, Stühle, Tafeltücher, Geschirr, Besteck und Gläser. Hoffnungsvoll aufgespannte Sonnenschirme trotzten den dunklen Regenwolken. Heiterkeit, Alkohol und das unausgesprochene, aber allgegenwärtige Bekenntnis zum guten Leben. Zu meiner gelinden Überraschung waren Jik und Sarah darauf eingestellt. Sie zauberten Tisch, Stühle, Getränke und Speisen aus dem Kofferraum hervor und meinten, gewußt wie, gewußt wo, dann könne man das Ganze einfach bestellen. »Ein Onkel von mir«, sagte Sarah, »trägt den Titel ›Schnellster Barmann des Westens‹. Zwischen Aussteigen und Einschenken vergehen keine zehn Sekunden.« Sie gibt sich wirklich Mühe, dachte ich. Nicht in dem Sinn, daß sie sich nur Jik zuliebe arrangiert hätte, sondern von innen heraus. Wenn es sie Überwindung kostete, merkte man nichts davon. Sie trug einen aparten olivgrünen Leinenmantel und einen breitkrempigen Hut gleicher Farbe, den sie festhielt, wenn ein Windstoß kam. Alles in allem eine neue Sarah, hübscher, entspannter, weniger ängstlich. »Sekt?« fragte Jik und ließ den Korken knallen. »Steak und Austernpastete?« »Ob ich dann zu Hause wieder Fritten essen kann?« »Wenn der Hunger kommt.« 120
Wir putzten alles weg, luden Tisch und Stühle wieder ein und stürzten uns mit dem Gefühl, an einem halb religiösen Ritual teilzunehmen, in das Gedränge vor dem Tor zum Allerheiligsten. »Am Dienstag wird das noch viel schlimmer«, meinte Sarah, die den ganzen Zirkus schon kannte. »Der Melbourne Cup ist ein gesetzlicher Feiertag. Die Stadt hat drei Millionen Einwohner, und die Hälfte davon wird versuchen herzukommen.« Sie schrie durch den Lärm und hielt krampfhaft ihren Hut fest, während wir hin und her gestoßen wurden. »Wenn sie vernünftig sind, bleiben sie zu Hause und sehen sich’s im Fernsehen an«, sagte ich atemlos und bekam einen kräftigen Hieb mit dem Ellbogen in die Nieren von einem, der gerade eine Dose Bier aufriß. »Es kommt im Melbourne nicht im Fernsehen, nur im Radio.« »Du meine Güte. Wieso denn das?« »Die Leute sollen herkommen. Der Cup wird in ganz Australien übertragen, nur nicht vor der eigenen Haustür.« »Dasselbe gilt für Golf- und Kricketturniere«, sagte Jik ein wenig düster. »Und auf die kann man noch nicht mal ordentlich wetten.« Wir passierten die Kasse und kamen dank unserer Karten durch ein zweites Tor in den ruhigeren Bereich des grünen Rasens vor der Mitgliedertribüne. Ganz wie zu Hause beim Derby, dachte ich. Der gleiche Triumph des Willens über das Wetter. Strahlende Gesichter unter grauem Himmel. Warme Mäntel über den hübschen Kleidern, Stockschirme zu dem einen oder anderen Zylinder. Interessanterweise fanden es viele Leute lustig, wenn sie auf meinen Bildern Rennbahnbesucher im Regen sahen. Vermutlich lachten sie, weil sie wußten, daß wahres Vergnügen durch äußere Einflüsse nicht getrübt werden
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kann; weil sie auch selbst geneigt waren, unter schwarzem Himmel die Fahne hochzuhalten. War das nicht eine Idee für ein Bild? Ein Rennbahnbesucher, der unter schwarzem Himmel die Fahne hochhielt? Das wäre vielleicht sogar für Jiks Geschmack symbolisch genug gewesen. Meine Freunde waren in ein Wortgefecht über die Form der Pferde im ersten Rennen vertieft. Sarah hatte offenbar ebensoviel Wettfreude im Blut wie ihr Mann, jedoch abweichende Ansichten. »Weiß ich, daß in Randwick vorige Woche schwerer Boden war. Den haben wir nach dem vielen Regen hier aber auch, und er mag’s lieber fest.« »In Randwick hat ihn nur Boyblue geschlagen, und der war im Caulfield Cup einsame Spitze.« »Mach doch, was du willst«, sagte Sarah von oben herab. »Der Boden ist und bleibt zu schwer für Grapevine.« »Wettest du auch?« fragte mich Jik. »Ich kenne die Pferde nicht.« »Als ob das eine Rolle spielte.« »Na schön.« Ich sah in mein Programm. »Zwei Dollar auf Generator.« Beide sahen mich an und fragten: »Wieso?« »Im Zweifelsfall wette ich die Elf. Einmal habe ich fast ein ganzes Programm mit der Elf durchgespielt.« Sie schnalzten mißbilligend mit der Zunge und sagten, ich könne meine zwei Dollar entweder den Buchmachern oder dem TAB in den Rachen werfen. »Wem?« »Dem ›Totalizator Agency Board‹.« Buchmacher arbeiteten offenbar nur auf der Bahn und nicht in so großem Stil wie in England. Alle Wettbüros außerhalb wurden vom TAB betrieben, der einen Großteil des Gewinns
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wieder in Pferderennen steckte. Der Rennsport florierte und war kerngesund. Schön für Australien, meinte Jik. Wir trafen unsere Wahl, setzten unser Geld, und Sieger Generator zahlte 260 zu 10. »Anfängerglück«, schnaubte Sarah. Jik lachte. »Von wegen Anfänger. Der ist aus dem Kindergarten geflogen, weil er Wetten angenommen hat.« Sie zerrissen ihre Scheine, konzentrierten sich aufs zweite Rennen und legten ihre Wetten an. Ich setzte vier Dollar auf die Eins. »Wieso?« »Doppelter Einsatz auf die halbe Elf.« »O Gott«, meinte Sarah. »Ich fasse es nicht.« Es begann in Strömen zu regnen, und die weniger Wetterfesten brachten sich in Sicherheit. »Kommt«, sagte ich, »setzen wir uns da oben ins Trockene.« »Du und Jik«, antwortete Sarah. »Ich kann nicht.« »Wieso nicht?« »Weil die Plätze nur für Männer sind.« Ich lachte. Sie scherzt, dachte ich, aber wie sich herausstellte, war es kein Scherz. Alles andere. Ungefähr zwei Drittel der besten Plätze auf der Mitgliedertribüne waren Männern vorbehalten. »Und was ist mit ihren Frauen und Freundinnen?« fragte ich ungläubig. »Die können aufs Dach gehen.« Sarah als Australierin fand nichts weiter dabei. Mir – und sicher auch Jik – kam es absurd vor. »Auf vielen großen Rennbahnen«, sagte er, ohne eine Miene zu verziehen, »haben die führenden Herren des australischen Rennsports verglaste Logen mit Ledersesseln auf der Tribüne und feudale Bars und Restaurants, in denen sie sich fürstlich bewirten lassen, ihre Frauen aber schicken sie zum Essen in die Cafeteria und zum Zuschauen raus auf die Ränge mit den 123
Plastiksitzen. Sie halten das für ganz normal. Jede Stammesgemeinschaft sieht noch ihre seltsamsten Bräuche als völlig normal an.« »Ich dachte, an Australien gefällt dir alles.« Jik seufzte schwer. »Idealzustände gibt es nirgends.« »Ich werde naß«, sagte Sarah. Wir fuhren mit der Rolltreppe auf das mit Sitzbänken ausgestattete Dach, wo es feucht und windig war und wo zwei Frauen auf jeden Mann kamen. »Mach dir nichts draus«, sagte Sarah belustigt, als sie sah, wie mich die Umstände entsetzten. »Ich bin daran gewöhnt.« »Und ich dachte, Gleichberechtigung wird hier ganz groß geschrieben.« »Für die eine Hälfte der Bevölkerung«, sagte Jik. Von unserem Horst aus konnten wir das Rennen wunderbar verfolgen. Sarah und Jik feuerten die Pferde an, die sie getippt hatten, aber Nummer eins gewann mit zwei Längen und zahlte neunzig zu zehn. »Das darf doch nicht wahr sein«, meinte Sarah, wieder Wettscheine zerreißend. »Wie tippst du im dritten?« »Das dritte Rennen seht ihr ohne mich. Ich bin mit einem Bekannten von Donald zu einem Drink verabredet.« Sie lauschte den Worten nach, und ihre Unbekümmertheit verschwand. »Wieder... Nachforschungen?« »Es muß sein.« »Ja.« Sie schluckte und gab sich sichtlich einen Ruck. »Viel Glück dann.« »Du bist großartig.« Sie machte ein Gesicht, als wunderte es sie, das von mir zu hören, und als argwöhnte sie, es könnte ironisch gemeint sein, aber es schien sie auch zu freuen. Ich nahm das Vexierbild ihres Gesichts gutgelaunt mit nach unten. Der Rasen vor der Mitgliedertribüne grenzte auf der anderen Seite an den Weg, auf dem die Pferde vom Sattelplatz zum 124
Führring gebracht wurden. Eine Schmalseite des Rasens grenzte an den Führring selbst, und an der Ecke, wo der Weg in den Führring mündete, sollte ich mich mit Hudson Taylor treffen. Zum Glück für meinen Anzug hatte der Regen aufgehört. Ich wartete an der vereinbarten Stelle und bewunderte das leuchtende Rot der Blumen in dem langen Beet, das den Zaun zwischen Weg und Rasen säumte. Kadmiumrot mit Orange und weißen Glanzlichtern und dazu vielleicht eine Spur Zinnober... »Charles Todd?« »Ja – Mr. Taylor?« »Hudson. Freut mich.« Er gab mir kurz und trocken die Hand. Ende Vierzig, mittelgroß, kräftig, freundliche Augen, deren Schrägstellung ihnen etwas Trauriges gab. Er war einer der wenigen Männer hier, die einen Cut trugen, und er bewegte sich darin, als wäre es Freizeitkleidung. »Suchen wir uns ein trockenes Plätzchen«, sagte er. »Hier entlang bitte.« Er führte mich zügig die Tribüne hinauf, durch eine Tür, einen breiten Flur entlang, der über die ganze Vorderseite ging, und an einem uniformierten Wächter sowie einem Schild mit der Aufschrift ›Nur für Komiteemitglieder‹ vorbei in einen großen, quadratischen Raum, der ansprechend als Bar eingerichtet war. Der Weg dahin war ein einziges höfliches Vorbeidrängeln an Scharen vornehm gekleideter Leute gewesen, doch die Bar war vergleichsweise ruhig und leer. Eine Gruppe von zwei Männern und zwei Frauen unterhielt sich im Stehen, die halb gefüllten Gläser vor der Brust, und zwei Damen in Pelzmänteln klagten lautstark über die Kälte. »Dabei führen sie liebend gern ihre Zobel vor«, lachte Hudson Taylor leise, holte zwei Scotch und bedeutete mir, an einem kleinen Tisch Platz zu nehmen. »Wenn es um diese Zeit warm ist, verdirbt ihnen das den Spaß am Cup.« »Ist es denn sonst warm?« 125
»In Melbourne kann sich die Temperatur in einer Stunde um zwanzig Grad ändern.« Es klang, als sei er stolz darauf. »Aber jetzt zu Ihrem Anliegen.« Er langte in die Brusttasche und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus. »Bitte sehr, extra für Donald. Die Galerie heißt Yarra River Fine Arts.« Alles andere hätte mich gewundert. »Und der Mann, mit dem wir verhandelt haben, hieß Ivor Wexford.« »Wie sah er aus?« fragte ich. »So genau erinnere ich mich nicht. Das war ja im April.« Ich überlegte kurz und zog ein kleines, schmales Skizzenbuch hervor. »Würden Sie ihn erkennen, wenn ich ihn zeichne?« Er schmunzelte. »Mal sehen.« Ich skizzierte mit weichem Bleistift rasch Greenes Konterfei, aber ohne den Schnurrbart. »War er das?« Hudson Taylor schien unschlüssig. Ich zeichnete den Schnurrbart ein. Er schüttelte entschieden den Kopf. »Nein.« »Und das hier?« Ich blätterte um und begann eine neue Zeichnung. Hudson Taylor sah nachdenklich zu, wie ich mich an dem Mann aus dem Büro im Basement versuchte. »Möglich«, sagte er. Ich zeichnete die Unterlippe voller und fügte eine dickgerahmte Brille und eine Fliege mit Punkten hinzu. »Das ist er«, sagte Hudson erstaunt. »Jedenfalls erinnere ich mich an die Fliege. Das sieht man ja heutzutage eher selten. Wie kommen Sie darauf? Sie müssen ihn kennen.« »Ich habe gestern nachmittag ein paar Galerien besucht.« »Sie sind ja richtig begabt«, meinte er interessiert, als ich das Skizzenbuch wieder einsteckte. »Übungssache.« Man konnte lernen, Gesichter als Formen, Proportionen und Flächen zu sehen und sich einzuprägen, wie 126
die Linien verliefen. Hudsons Augen hätte ich jetzt schon aus dem Gedächtnis zeichnen können. Die Fertigkeit dafür hatte ich mir von klein auf angeeignet. »Ist Zeichnen Ihr Hobby?« fragte Hudson. »Auch mein Beruf. Ich male vor allem Pferde.« »Wirklich?« Er blickte zu den Pferdeporträts an der Wand. »So in der Art?« Ich nickte, und wir unterhielten uns ein wenig darüber, wie man von der Malerei leben konnte. »Vielleicht habe ich einen Auftrag für Sie, wenn mein Pferd im Cup gut abschneidet.« Er lächelte, und feine Krähenfüße zeigten sich in seinen Augenwinkeln. »Wenn es verliert, wird mir eher danach sein, es zu erschießen.« Er stand auf und bedeutete mir wieder, ihm zu folgen. »Zeit für das nächste Rennen. Wollen Sie es sich mit mir zusammen ansehen?« Wir kamen auf der Haupttribüne heraus, von der aus man das große Geviert überblicken konnte, das sowohl als Führring vor dem Rennen wie als Absattelplatz für die Sieger diente. Belustigt sah ich, daß die vordersten Ränge ganz den Männern gehörten. Zwei Paare vor uns teilten sich wie Amöben, die Männer gingen nach links unten, die Frauen nach rechts oben. »Hier herunter bitte«, Hudson wies mit dem Finger. »Dort hinauf dürfen wir nur in Damenbegleitung?« Er sah mich schräg an und lächelte. »Seltsame Sitten, finden Sie? Gehen wir halt nach oben.« Ich folgte ihm, und wir machten es uns in der vorwiegend weiblichen Gesellschaft bequem, wobei er ringsum Leute begrüßte und mich wohlwollend als seinen Freund Charles aus England vorstellte. Vornamen und Aufgeschlossenheit nach australischer Art. »Regina, das arme Mädel, konnte diese Geschlechtertrennung nicht ausstehen«, sagte Hudson. »Aber die historischen Wurzeln sind interessant.« Er lachte leise. 127
»Australien wurde fast das ganze vorige Jahrhundert mit Hilfe der britischen Armee verwaltet. Die Offiziere und Gentlemen ließen ihre Frauen in England zurück, aber wie es in der Natur liegt, haben alle hier Beziehungen zu Damen von zweifelhaftem Ruf geknüpft. Um von ihren Kollegen nicht in so wenig standesgemäßer Begleitung gesehen zu werden, haben sie den Zutritt zu den Offizierslogen offiziell auf Männer beschränkt, so daß ihre Gespielinnen gar nicht erst gefragt haben, ob sie mitkommen durften.« Ich lachte. »Raffiniert.« »Traditionen einzuführen ist leichter, als sie abzuschaffen«, sagte Hudson Taylor. »Donald meint, Sie seien dabei, mit Ihrem Wein eine gute Tradition einzuführen.« Die traurigen Augen funkelten vergnügt. »Er war wirklich begeistert. Er hat natürlich alle großen Weingüter besucht, nicht nur unser Haus.« Die Pferde für das dritte Rennen galoppierten auf, angeführt von einem widerspenstigen Fuchshengst mit zuviel Weiß am Kopf. »Ein häßliches Vieh«, sagte Hudson. »Aber er wird siegen.« »Haben Sie auf ihn gewettet?« Er lächelte. »Eine Kleinigkeit.« Das Rennen begann, das Feld flog dahin, und Hudson hielt das Fernglas so fest umklammert, daß seine Fingerknöchel weiß hervortraten und ich mich fragte, wie groß die Kleinigkeit effektiv war. Der Fuchshengst wurde nur Vierter. Hudson ließ das Glas langsam sinken und schaute dem unbefriedigenden Finish ausdruckslos zu. »Nun ja«, sagte er, und seine traurigen Augen blickten noch trauriger. »Morgen ist auch noch ein Tag.« Er zuckte resigniert die Achseln, nahm den Kopf hoch, gab mir die Hand, bat mich, Donald von ihm zu grüßen, und fragte, ob ich allein hinausfände. 128
»Vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagte ich. Er lächelte. »Gern geschehen.« Nach nur zweimaligem falschen Abbiegen kam ich nach draußen, nicht ohne unterwegs ein paar faszinierende australische Gesprächsfetzen aufzuschnappen. »... Im Ausschuß soll er eine Zumutung sein. Angeblich macht er nur den Mund auf, wenn er das Standbein wechselt...« »... einen bösen Virus, deswegen konnte er nicht...« »... hör mal, sag ich, jammer hier nicht rum wie ein verdammter Brite...« »... zwanzig Dollar gewonnen? Glückwunsch, Joanie...« Und überall die Doppelvokale, die aus der kleinsten Silbe fünf Einzellaute herausholten und mir den Gaumen verdrehten, wenn ich sie nachahmen wollte. Auf dem Flug von England hatte mir ein Australier gesagt, hier würden alle mit dem gleichen Akzent sprechen. Ebensogut konnte man behaupten, alle Amerikaner oder alle Briten hätten die gleiche Aussprache. Englisch war unendlich wandlungsfähig, und hier in Melbourne schöpfte es aus dem vollen. Als ich wieder zu Jik und Sarah stieß, stritten sie gerade über ihre Tips für das nächste Rennen im Programm, das Victoria Derby. »Ivory Ball ist überfordert und hat ungefähr soviel Chancen wie ein Blinder in einem Schneesturm.« Sarah ignorierte das. »Er hat vorige Woche in Moonee Valley gesiegt, und zwei Tipster haben ihn vorn.« »Die waren wahrscheinlich besoffen.« »Hallo, Todd«, rief Sarah. »Sag um Himmels willen eine Nummer.« »Zehn.« »Wieso zehn?« »Elf minus eins.« »Heiland«, sagte Jik. »Du warst auch mal vernünftiger.«
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Sarah schaute die Zehn nach. »Royal Road. Dagegen ist Ivory Ball ein ganz sicheres Ding.« Wir setzten unser Geld und stiegen aufs Dach und gingen alle leer aus. Sarah schimpfte über Ivory Ball, der immerhin noch Fünfter wurde, aber Royal Road blieb vollends auf der Strecke. Es siegte die Nummer zwölf. »Elf plus eins hättest du nehmen müssen«, sagte Sarah. »Wie kann man nur so dumm sein.« »Was schaust du?« fragte Jik. Ich sah aufmerksam auf die Zuschauer hinunter, die das Rennen vom Rasen vor der Mitgliedertribüne aus verfolgt hatten. »Gib mir mal dein Fernglas.« Jik reichte es mir. Ich hob es an die Augen, sah hindurch und ließ es langsam wieder sinken. »Was ist?« fragte Sarah besorgt. »Was hast du?« »Jetzt ist alles zu spät«, sagte ich. »Wieso?« »Seht ihr die beiden Männer da... ungefähr zwanzig Meter vom Führring entfernt, einer im grauen Cut?« »Was ist mit ihnen?« fragte Jik. »Der Mann im Cut ist Hudson Taylor, mit dem ich gerade etwas getrunken habe. Er ist Geschäftsführer einer Kellerei und hatte viel mit meinem Cousin Donald zu tun, als der hier war. Der andere Mann heißt Ivor Wexford und ist Leiter der Yarra River Fine Arts Gallery.« »Na und?« sagte Sarah. »Ich kann mir die Unterhaltung gut vorstellen, die zwischen den beiden da abläuft«, sagte ich. »Zum Beispiel: ›Verzeihen Sie, Sir, habe ich Ihnen nicht kürzlich ein Bild verkauft?‹ ›Mir nicht, Mr. Wexford, sondern meinem Freund Donald Stuart.‹ ›Und wer war der junge Mann, mit dem ich Sie gerade sprechen sah?‹ ›Das war Donald Stuarts Cousin, Mr. Wexford.‹ ›Und was wissen Sie über ihn?‹ ›Daß er von Beruf Maler ist 130
und Sie gerade gezeichnet und mich nach Ihrem Namen gefragt hat, Mr. Wexford.‹« Ich schwieg. »Weiter«, drängte Jik. Ich sah zu, wie Wexford und Taylor ihr Gespräch beendeten, sich flüchtig zunickten und ihrer Wege gingen. »Ivor Wexford weiß jetzt, daß es ein krasser Fehler war, mich laufenzulassen, als er mich gestern abend in seiner Galerie hatte.« Sarah blickte mir forschend ins Gesicht. »Du nimmst das wirklich sehr ernst.« »Allerdings.« Ich lockerte ein paar angespannte Muskeln und versuchte ein Lachen. »Zumindest wird er jetzt auf der Hut sein.« »Und wenn’s hart kommt«, meinte Jik, »wird er dich suchen.« »Ehm...«, sagte ich nachdenklich. »Was haltet ihr von einer kleinen Spontanreise?« »Wohin?« »Alice Springs?« schlug ich vor.
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Jik hörte auf dem ganzen Weg zum Flughafen nicht auf zu maulen. Erstens würde er das Kricketmatch verpassen. Zweitens hatte ich nicht zugelassen, daß er seine Farben aus dem Hilton holte. Drittens waren die Sachen, die er zum Derby angehabt hatte, für Alice Springs sicher zu warm. Und viertens würde er sich wegen eines hergelaufenen kleinen Gauners mit Fliege nicht den Melbourne Cup entgehen lassen. Bei all dem lebhaften Gemecker verlor er kein Wort darüber, daß er unsere Flugkarten mit seiner Kreditkarte würde bezahlen müssen, denn meine Reiseschecks lagen im Hotel. Es war Sarahs Idee gewesen, dort nicht mehr vorbeizufahren. »Wenn wir verschwinden wollen, dann gleich«, sagte sie. »Wer zurückläuft, um seine Handtasche aus den Flammen zu retten, verbrennt.« »Ihr müßt nicht mitkommen«, sagte ich zögernd. »Das hatten wir doch alles schon. Was glaubst du, was mir für ein Leben bevorsteht, wenn ich Jik davon abhalte, dir zu helfen, und dir passiert was?« »Du würdest mir nie verzeihen.« Sie lächelte verschämt. »Ganz genau.« Soweit ich es beurteilen konnte, hatten wir die Rennbahn unbeobachtet verlassen, und zum Flughafen war uns mit Sicherheit niemand gefolgt. Weder Greene mit ›e‹ noch der jugendliche Nichtmaler stellten uns ein Bein, und wir reisten unbehelligt in einem halbleeren Flugzeug nach Adelaide, und von dort in einem noch leereren nach Alice Springs. Nördlich von Adelaide wurde aus dem frischen Grün der Landschaft unter uns nach und nach ein Graugrün und schließlich ein feuriges Ziegelrot. »Glau«, sagte Jik, nach unten deutend. »Bitte?« 132
»G-L-A-U«, sagte er. »Die gähnende Leere Australiens.« Ich lachte. Der Landstrich sah nach gebrannter, unwohnlicher, urzeitlicher Erde aus, und doch gab es einzelne Fahrstraßen und unglaublich abgelegene Gehöfte. Fasziniert schaute ich hinaus, bis es dunkel wurde und wir uns in heranflutendem Purpur dem zentralen Wüstengürtel näherten. Die Nachtluft in Alice Springs war so heiß, als hätte jemand vergessen, den Ofen abzustellen. Das Glück, das uns in Melbourne sofort ein Flugzeug beschert hatte, hielt offenbar noch an: Ein wortkarger Taxifahrer brachte uns schnurstracks zu einem neu aussehenden Motel, in dem wir Zimmer bekamen. »Die Saison ist vorbei«, brummte er, als wir uns freudig bei ihm bedankten. »Bald ist es für Touristen hier zu heiß.« Die Zimmer waren jedoch klimatisiert. Jik und Sarah hatten eins im Erdgeschoß, mit Zugang zu einem Laubengang, der an einen kleinen Garten mit Schwimmbecken grenzte. Meins lag im zweiten Stock in einem Seitenflügel gegenüber dem Parkplatz und war über eine von Bäumen beschattete Außentreppe und einen langen, offenen Balkon zu erreichen. Das Ganze sah im Licht der diskret in Palmen und Gummibäumen angebrachten Scheinwerfer grün und friedlich aus. Da das Restaurant des Motels seit acht geschlossen war, gingen wir die Hauptstraße hinunter in ein anderes. Die Straße war geteert, aber manche Querstraßen nicht, und auch die Gehsteige waren nicht alle gepflastert. Oft genug liefen wir auf bloßem Splitt, und an dem feinen Staub im Scheinwerferlicht vorbeifahrender Wagen sahen wir, daß der Splitt knallrot war. »Bull-dust«, sagte Sarah. »Den sehe ich zum ersten Mal. Meine Tante behauptet, der hat sich sogar in ihrem geschlossenen Kofferraum abgesetzt, als sie und mein Onkel zum Ayers Rock gefahren sind.« »Was ist der Ayers Rock?« 133
»Unwissender Brite«, meinte Sarah. »Das ist ein drei Kilometer langer und fünfhundert Meter hoher Sandsteinberg, den irgendein treuloser Eiszeitgletscher da hinterlassen hat.« »Mitten in der Wüste«, setzte Jik hinzu. »Ein uralter magischer Ort, der regelmäßig von der Plastikgesellschaft entweiht wird.« »Wart ihr schon mal da?« fragte ich trocken. Er grinste. »Nein.« »Was tut das denn zur Sache?« wollte Sarah wissen. »Unser blasierter Freund hier meint, man sollte nicht unbesehen urteilen.« »Man muß sich nicht von einem Hai zerreißen lassen, um zu wissen, daß er scharfe Zähne hat«, erwiderte Sarah. »Man kann ruhig glauben, was andere sehen.« »Es kommt auf ihren Blickwinkel an.« »Fakten und Meinungen sind zweierlei«, sagte Jik. »Ein uraltes Toddsches Gesetz.« Sarah warf mir einen Blick zu. »Hast du Eiswasser im Schädel?« »Gefühle sind kein Ausgangspunkt für gute Politik. Das war auch immer sein Spruch. Neid ist die Wurzel allen Übels. Was hab ich vergessen?« »Wer glaubt, daß er die Wahrheit spricht, erzählt die schlimmsten Lügen.« »Genau«, sagte Jik. »Schade, daß du nicht malen kannst.« »Herzlichen Dank.« Wir kamen zu dem Restaurant und speisten so vorzüglich, daß sich die Frage aufdrängte, wieviel Organisation nötig war, um diese wachsende Stadt, die schon dreizehneinhalbtausend Einwohner zählte und auf viele hundert Meilen von nichts als Wüste umgeben war, mit Lebensmitteln, Kleidung und den Dingen des täglichen Gebrauchs zu versorgen.
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»Vor hundert Jahren war das hier eine Relaisstation für Überlandtelegramme«, sagte Sarah. »Und heute kommunizieren wir per Satellit.« »Wenn nur die Kommunikation den technischen Aufwand mal wert wäre!« meinte Jik. »Muß denn jedes ›Bis dann, Ethel‹ durch die Sphären scheppern?« Wir fragten im Restaurant nach der hiesigen Yarra River Fine Arts und gingen auf dem Rückweg dort vorbei. Die Galerie befand sich in einer gepflasterten Fußgängerzone, umgeben von kleinen, aber offenbar gutgehenden Boutiquen. In keinem der Läden war Licht. Die Schaufensterauslage der Galerie bestand, soweit im Schein der einzigen Straßenlaterne zu erkennen, aus zwei leuchtend orangefarbenen Wüstenlandschaften. »Knallig«, sagte Jik, der selbst nicht gerade für zarte Pastelltöne bekannt war. »Da drin hängt bestimmt alles voll mit Bildern à la Albert Namatjira. So was kaufen die Touristen tonnenweise.« Wir schlenderten in bestem Einvernehmen zum Hotel zurück. Vielleicht hatte die endlose Weite der Wüste ringsum ihr Teil dazu beigetragen, jedenfalls war der Gutenachtkuß, den ich Sarah gab, nicht bloß ein Friedensangebot wie am Morgen, sondern ein Ausdruck von Zuneigung. Beim Frühstück sagte sie: »Du wirst es nicht glauben – die Hauptstraße hier heißt Todd Street. Und der Fluß heißt Todd River.« »Das ist Ruhm«, meinte ich bescheiden. »Und es gibt elf Kunstgalerien.« »Sie hat den Prospekt des Fremdenverkehrsvereins gelesen«, erklärte Jik. »Ein chinesisches Schnellrestaurant gibt’s auch.« Jik verzog das Gesicht. »Und das alles mitten in der Sahara.« Die Hitze tagsüber hatte es wirklich in sich. Im Radio wurde fröhlich eine Mittagstemperatur von neununddreißig Grad 135
vorausgesagt, einhundertzwei nach der alten Fahrenheitskala. Der Schritt aus dem kühlen Zimmer auf den glühenden Balkon war ein sinnliches Vergnügen, aber die wenigen hundert Meter zur Yarra River Galerie erwiesen sich als erstaunlich anstrengend. »Man könnte sich wohl daran gewöhnen, wenn man hier wohnt«, sagte Jik. »Gottlob hat Sarah ihren Hut.« Wir hielten uns möglichst im Schatten überhängender Bäume, während die Einheimischen ohne Kopfbedeckung herumliefen, als ließe das Brenneisen am Himmel sie kalt. Die Yarra River Galerie war ein Ort klimatisierter Stille, und am Eingang standen Stühle für erschöpfte Besucher bereit. Wie Jik vorausgesagt hatte, waren die Wände tapeziert mit den typischen harten, klaren Aquarellen der Schüler Namatjiras. Sie hatten ihren Reiz, waren aber nicht ganz mein Fall. Mir fehlten da verschwommene Umrisse, unscharfe Ränder, übergreifende Schatten, Fließendes, nur Angedeutetes und Vieldeutiges. Namatjira, der erste und größte unter den australischen Eingeborenenmalern, hatte die Welt mit kristallener Klarheit gesehen. Ich entsann mich, irgendwo gelesen zu haben, daß es mehr als zweitausend Bilder von seiner Hand gab, und natürlich hatte er einen enormen Einfluß auf seinen Geburtsort ausgeübt. Elf Kunstgalerien. Ein Mekka für Maler. Touristen, die tonnenweise Bilder kauften. Eine Plakette an der Wand besagte, daß er am 8. August 1959 im Krankenhaus von Alice Springs gestorben war. Wir wanderten gut fünf Minuten herum, ohne daß jemand kam. Dann teilte sich der Vorhang aus Plastikstreifen vor einem Durchgang, und der Inhaber der Galerie stand vor uns. »Haben Sie etwas Interessantes gefunden?« fragte er. Es gelang ihm, uns mit seinem Tonfall zu verstehen zu geben, daß Touristen ihn schrecklich langweilten und daß wir doch bitte schnell bezahlen und wieder gehen möchten. Er war klein, langhaarig, tranig und blaß, mit großen, dunklen Augen 136
unter schweren, müden Lidern. Ungefähr so alt wie Jik und ich, aber viel weniger robust. »Haben Sie noch andere Bilder?« fragte ich. Er warf einen Blick auf unsere Kleidung. Jik und ich trugen noch die Sachen von der Rennbahn – nicht Schlips und Kragen, aber für einen Kunsthändler doch erfolgversprechender als Jeans. Ohne erkennbare Begeisterung hielt er uns den Streifenvorhang auf. »Hier herein bitte«, sagte er. Der Raum nebenan hatte Oberlicht, und die Wände waren völlig mit dicht an dicht hängenden Bildern bedeckt. Wir staunten. Auf den ersten Blick waren wir von einer unglaublichen Fülle holländischer Interieurs, französischer Impressionisten und Gainsborough-Porträts umgeben. Auf den zweiten Blick erkannte man, daß es sich zwar um Originale handelte, aber doch eher um zweitrangige. Werke, die unter dem Begriff ›Schule von‹ kursierten, weil die Künstler darauf verzichtet hatten, sie zu signieren. »Alles Europäer hier«, sagte der Galerist. Es klang immer noch gelangweilt. Er war kein Australier, dachte ich. Auch kein Brite. Vielleicht Amerikaner. Schwer zu sagen. »Haben Sie auch Pferdebilder?« fragte ich. Er sah mich mit ruhigem, gelassenem Blick an. »Auch das, aber diesen Monat stellen wir Australier und weniger bekannte Europäer aus.« Er lispelte leicht. »Pferdebilder haben wir nebenan im Regal stehen.« Er wies auf einen zweiten Plastikstreifenvorhang direkt gegenüber dem ersten. »Suchen Sie etwas Bestimmtes?« Ich nannte die Namen einiger Australier, deren Arbeiten ich in Melbourne gesehen hatte. Ein Glänzen kam in seine matten Augen. »Ja, von diesen Künstlern haben wir was da.« Er führte uns durch den zweiten Vorhang in den dritten und aus unserer Sicht interessantesten Raum. Vorn standen wie 137
angekündigt Bilder in zwei vollen Regalreihen. Die andere Hälfte war Büro, Packraum und Rahmenschreinerei in einem. Hinten führte eine Glastür in einen staubigen, ausgedörrten Garten, aber auch in diesem Raum kam das Licht hauptsächlich vom Dach her. Neben der Glastür stand eine Staffelei mit einer kleinen Leinwand. Ich sah sie nur von hinten, doch mehrere Anzeichen ließen auf kürzlich unterbrochene Arbeit schließen. »Ihr eigenes Werk?« fragte Jik neugierig und ging auch schon hin. Der blasse Kunsthändler wedelte mit der Hand, als hätte er Jik lieber zurückgehalten, und etwas in Jiks Gesichtsausdruck zog mich magnetisch an seine Seite. Ein Fuchshengst im Halbprofil, den schlanken Kopf wie lauschend erhoben. Im Hintergrund die noblen Umrisse eines Herrenhauses. Davor eine ausgewogen gestaltete Wiese mit Bäumen. Das Bild war, soweit ich es beurteilen konnte, im großen ganzen fertig. »Das ist ja toll«, sagte ich begeistert. »Kann man das kaufen? Ich würde es nehmen.« Nach einem winzigen Zögern sagte er: »Tut mir leid. Es ist bestellt.« »Schade! Können Sie mir das denn nicht verkaufen und es noch mal neu malen?« Ein kleines, bedauerndes Lächeln. »Leider nicht.« »Darf ich Ihren Namen wissen?« sagte ich ernst. Er war unwillkürlich geschmeichelt. »Harley Renbo.« »Ist sonst noch etwas von Ihnen da?« Er wies auf die Regale. »Ein oder zwei Sachen. Die Pferdebilder sind in der untersten Reihe hinten.« Alle drei zogen wir die Bilder eins nach dem anderen heraus und machten laienhafte Bemerkungen dazu. »Das ist hübsch«, sagte Sarah und hielt ein kleines Bild von einem dicken weißen Pony und zwei altmodisch gekleideten 138
Bauernjungen hoch. »Was meint ihr?« Sie zeigte es Jik und mir. »Es hat was«, sagte ich freundlich. Jik wandte sich ab, als interessierte es ihn nicht. Harley Renbo stand regungslos. »Na ja.« Sarah zuckte die Achseln. »Ich fand’s eben ganz nett.« Sie stellte es ins Regal zurück und zog das nächste heraus. »Und die Stute mit dem Fohlen hier? Das ist doch schön.« Jik konnte es kaum ertragen. »Schön kitschig«, sagte er. Sarah schlug die Augen nieder. »Es mag keine Kunst sein, aber mir gefällt’s.« Dann fanden wir eins mit einer schwungvollen Signatur: Harley Renbo. Großes Format, gefirnißt, ohne Rahmen. »Ah«, sagte ich anerkennend. »Von Ihnen.« Harley Renbo neigte den Kopf. Jik, Sarah und ich betrachteten das Werk, das seinen Namen trug. Nachempfundener Stubbs. In die Länge gezogenes Pferd in parkähnlicher Landschaft. Komposition ordentlich, Anatomie dürftig, Ausführung gut, Originalität gleich null. »Großartig«, sagte ich. »Wo haben Sie das gemalt?« »Oh... hier.« »Aus dem Kopf?« fragte Sarah bewundernd. »Das will gelernt sein.« Auf unser Drängen holte Harley Renbo noch zwei eigene Werke hervor. Keins war besser als das erste, aber eins war wesentlich kleiner. »Wieviel kostet das?« fragte ich. Jik warf mir einen scharfen Blick zu, hielt sich aber raus. Harley Renbo nannte einen Preis, bei dem ich sofort den Kopf schüttelte. »Tut mir leid«, sagte ich. »Mir gefallen Ihre Arbeiten, aber...«
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Wir feilschten höflich noch eine ganze Weile und gelangten zu der üblichen Einigung – höher als vom Kunden angestrebt, niedriger als vom Maler erhofft. Jik lieh resigniert seine Kreditkarte her, und wir trugen die Beute davon. »Herr im Himmel«, explodierte Jik, als wir außer Hörweite waren. »Du hast schon in der Wiege besser gemalt. Wie kommst du dazu, diesen Schrott zu kaufen?« »Weil Harley Renbo der Kopist ist«, sagte ich zufrieden. »Aber das«, Jik wies auf das Paket unter meinem Arm, »ist nichts als ein miserabler Original-Renbo.« »Spurensicherung?« tippte Sarah an. »Kannst du feststellen, ob ein Bild von ihm ist, wenn du die Malweise vergleichst?« »Hat Grips, meine Frau«, sagte Jik. »Aber das Bild, das er nicht verkaufen wollte, sah mir kein bißchen nach Munnings aus.« »Du schaust dir doch nie Pferdebilder an.« »Ich habe mehr von deinen armseligen Klecksereien gesehen, als mir lieb ist.« »Sagt dir Raoul Millais was?« fragte ich. »Heiland!« An die sengende Hitze dachten wir überhaupt nicht mehr. »Ich weiß nicht, wie es mit euch ist«, meinte Sarah, »aber ich kaufe mir jetzt einen Bikini und verbringe den Rest des Tages am Pool.« Alle drei kauften wir uns Schwimmsachen, plätscherten dann beim Motel stundenlang im Wasser und streckten uns auf Badetüchern aus. Es war still und friedlich in dem kleinen Garten. Außer uns war niemand dort. »Dir hat doch das Bild mit dem Pony und den beiden Jungs so gefallen«, sagte ich. »Hat es auch«, bestätigte sie in einem Ton, als müsse sie sich verteidigen. »Ich fand’s hübsch.« »Das war ein Munnings.« Sie richtete sich abrupt auf. 140
»Warum hast du das denn nicht gesagt?« »Ich habe darauf gewartet, daß unser Freund Renbo es uns sagt, aber von dem kam nichts.« »War es echt oder eine Kopie?« »Echt«, sagte Jik mit zusammengekniffenen Augen, geblendet von der Sonne, die durch die Palmblätter stach. Ich nickte träge. »Glaube ich auch«, sagte ich. »Ein frühes Bild. Munnings hatte in jungen Jahren ein weißes Pony, das hat er immer wieder gemalt. Es ist dasselbe wie in dem ›Heraufziehenden Sturm‹, der in Sydney hängt.« »Ihr kennt euch wirklich aus«, seufzte Sarah und legte sich wieder hin. »Jeder Fachmann hat sein Grundwissen«, meinte Jik. »Ob man hier was zu essen kriegt?« Auf meiner Uhr war es fast zwei. »Ich frage mal«, sagte ich. Ich zog Hemd und Hose über die schon trockene Badehose und schlenderte aus der Hitze in die gekühlte Luft der Halle. Kein Mittagessen, hieß es am Empfang. Wir könnten uns im nächsten Schnellrestaurant etwas besorgen und es im Garten verzehren. Getränke? Ebenso. In der Nähe sei ein Geschäft. Eisspender und Plastikbecher fänden wir bei der Tür zum Pool. »Danke«, sagte ich. »Keine Ursache.« Ich sah mir den Eisspender auf dem Weg nach draußen an. Daneben hing ein Schild: »Wir schwimmen nicht in Ihrer Toilette. Bitte pinkeln Sie nicht in unseren Pool.« Lachend ging ich zu Jik und Sarah und erklärte ihnen, wie es mit dem Essen stand. »Ich hole uns was«, sagte ich. »Was wollt ihr?« Egal, meinten sie. »Und zu trinken?« »Cinzano«, sagte Sarah, und Jik nickte. »Weiß und trocken.«
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Ich hob meine Zimmerschlüssel vom Rasen auf, um oben Geld zu holen. Ging zur baumbeschatteten Außentreppe, in den zweiten Stock hoch und auf den glühenden Balkon. Ein Mann kam mir entgegen, ungefähr meine Größe, meine Statur und mein Alter; und hinter mir hörte ich noch jemand die Treppe heraufkommen. Ich dachte mir nichts dabei. Motelgäste wie ich. Was sonst? Auf den Angriff und dessen Brutalität war ich überhaupt nicht gefaßt.
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Sie kamen einfach auf mich zu, einer von vorn, einer von hinten. Beide erreichten mich gleichzeitig und rissen mir augenblicklich den Zimmerschlüssel aus der Hand. Der Kampf, wenn man es so nennen wollte, dauerte keine fünf Sekunden. Sie packten mich kurzerhand mit den Kräften eines Jik an Armen und Beinen und warfen mich über das Balkongeländer. Zwei Stockwerke tief fällt man sicher schnell. Dennoch konnte ich mir in der Luft ausmalen, wie wenig von mir heil bleiben würde. Die Katastrophe war unabwendbar. Ein sehr merkwürdiges, grausiges Gefühl. Als erstes krachte ich dann aber in einen der jungen Bäume, die um die Treppe herum wuchsen. Seine Äste gaben nach und brachen, und ich landete auf dem harten Boden der Zufahrt. Der fürchterliche Aufprall ließ alles um mich schwarz werden. Wie ein Kurzschluß. Ein Sturz ins Dunkel. Ich lag halb bewußtlos da und wußte nicht, ob ich lebte oder tot war. Mir war warm. Kein Gedanke, lediglich ein Gefühl. Sonst spürte ich überhaupt nichts. Ich konnte mich nicht rühren. Wußte nicht, woher ich die Kraft nehmen sollte. Kam mir vor wie hingespuckt. Wie Jik mir später sagte, fand er mich erst nach zehn Minuten, und er kam auch nur, weil er mich bitten wollte, eine Zitrone für den Cinzano mitzubringen, falls ich noch nicht weg war. »Allmächtiger!« Jiks halblaute, entsetzte Stimme an meinem Ohr. Ich hörte ihn deutlich. Verstand ihn. Ich lebe, dachte ich. Ich denke, also bin ich.
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Schließlich öffnete ich die Augen. Blendend helles Licht. Wo Jiks Stimme hergekommen war, stand niemand. Vielleicht hatte ich mir das eingebildet. Nein. Jetzt nahm die Welt sehr schnell wieder Konturen an. Auch den Sturz hatte ich mir nicht eingebildet. Immer stärker bekam ich zu spüren, daß ich mir weder den Hals noch das Rückgrat gebrochen hatte. Jede angegriffene, vorübergehend betäubte Muskelfaser meldete sich mit Macht zurück. Nicht wo es weh tat, sondern wo nicht, war die Frage. Ich erinnerte mich, daß ich in den Baum gefallen und durch die Äste gekracht war. Ich fühlte mich in Stücke gerissen und gestaucht zugleich. Super. Nach einer Weile hörte ich Jiks Stimme wieder. »Er lebt«, sagte er, »aber das ist auch so ziemlich alles.« »Man kann hier unmöglich vom Balkon fallen. Unsere Brüstungen sind mehr als halbhoch.« Die Stimme vom Empfang, besorgt und aufgebracht. Schlechte Reklame für ein Motel, wenn da jemand vom Balkon fiel. »Nur keine... Panik«, sagte ich. Es klang etwas krächzend. »Todd!« Sarah kniete sich mit blassem Gesicht vor mich hin. »Wenn ihr mir... Zeit laßt«, sagte ich, »hole ich... den Cinzano.« Wieviel Zeit? Eine Million Jahre reichten sicher. »Du Saukerl«, Jik stand zu meinen Füßen und schaute auf mich herunter, »du hast uns vielleicht einen Schreck eingejagt.« Er hielt einen abgebrochenen Ast in der Hand. »Entschuldigung.« »Gut, dann steh auf.« »Ja... gleich.« »Soll ich den Krankenwagen abbestellen?« fragte die Empfangsdame hoffnungsvoll. »Nein«, sagte ich. »Ich glaube, ich blute.« Das Krankenhaus von Alice Springs tat auch sonntags alles, was man von einem Stützpunkt fliegender Ärzte nur erwarten 144
konnte. Sie untersuchten und röntgten und nähten und legten mir eine Auflistung vor. - gebrochenes Schulterblatt (links) - zwei gebrochene Rippen (links, Lunge unverletzt) - schwere Prellung an der linken Kopfseite (keine Fraktur) - vier Rißwunden an Rumpf, Oberschenkel, linkem Bein (genäht) - verschiedene kleinere Fleischwunden - Abschürfungen und Quetschungen an der gesamten linken Körperhälfte. »Vielen Dank«, sagte ich seufzend. »Danken Sie dem Baum. Ohne den hätte es schlimm für Sie ausgesehen.« Sie empfahlen mir, den Rest des Tages und über Nacht zu bleiben. Das sei besser, meinten sie etwas zu bedeutungsvoll. »In Ordnung«, fügte ich mich. »Sind meine Freunde noch da?« Meine Freunde waren im Wartezimmer. Sie stritten auf Teufel komm raus über den aussichtsreichsten Starter im Melbourne Cup. »Newshound packt das...« »Einpacken kann der...« »Heiland«, sagte Jik, als ich steifen Schrittes hereinkam. »Er ist wieder auf den Beinen.« »Ja.« Ich hockte mich vorsichtig auf eine Sessellehne und kam mir fast wie eine Mumie vor, vom Hals an abwärts eingewickelt, den linken Arm unterm Verband fixiert. »Lacht nicht«, sagte ich. »Nur ein Verrückter kann von dem Balkon fallen«, meinte Jik. »Mhm«, stimmte ich zu. »Man hat mich runtergeworfen.«
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Sie sperrten den Mund auf wie Fische auf dem Trocknen. Ich schilderte ihnen den genauen Hergang. »Wer waren die zwei?« fragte Jik. »Keine Ahnung. Ich hatte sie noch nie gesehen. Sie haben sich nicht vorgestellt.« »Du mußt zur Polizei gehen«, sagte Sarah bestimmt. »Ja«, erwiderte ich. »Aber... ich weiß nicht, wie man so etwas hier anzeigt, und ich kenne eure Polizei nicht. Könntet ihr vielleicht... hier im Krankenhaus Bescheid sagen und ordnungsgemäß und ohne Trara die Sache bei der Polizei melden?« »Ordnungsgemäß und ohne Trara«, meinte Sarah, »wie sich das gehört, wenn jemand vom Balkon geschmissen wird.« »Vorher haben sie mir noch den Zimmerschlüssel abgenommen«, sagte ich. »Könnt ihr mal nachsehen, ob meine Brieftasche noch da ist?« Sie starrten mich an, da sie eine unangenehme Ahnung beschlich. Ich nickte. »Ja, und das Bild.« Zwei Polizisten kamen, ließen mich erzählen, machten sich Notizen und verschwanden wieder. Ganz unverbindlich. In Alice sei so etwas noch nie passiert. Das müßten Fremde gewesen sein. Die Stadt habe einen ständigen Zustrom von Besuchern, darunter seien naturgemäß auch einige Gewalttäter. Meinem Eindruck nach hätten sie wesentlich mehr Wirbel gemacht, wenn ich zu Tode gekommen wäre. Ihre Zurückhaltung war mir nur recht. Als Sarah und Jik wiederkamen, lag ich in dem Bett, das man mir zugewiesen hatte, und fühlte mich hundsmiserabel. Ich fror bis ins Mark. Die Reaktion des Organismus auf die erlittenen Verletzungen, kurz, der Schock. »Sie haben beides mitgenommen«, sagte Jik. »Das Bild und die Brieftasche.« 146
»Und die Galerie ist geschlossen«, ergänzte Sarah. »Die Frau von der Boutique gegenüber hat gesehen, daß Harley heute früher Schluß gemacht hat, aber sie weiß nicht genau, wann. Er geht hinten raus, weil da sein Wagen steht.« »Die Polizei war auch im Motel«, übernahm wieder Jik. »Wir haben ihnen zwar gesagt, daß das Bild weg ist, aber sie werden sich deswegen kein Bein ausreißen, wenn du ihnen nicht die ganze Geschichte erzählst.« »Ich überlege es mir.« »Und was machen wir jetzt?« fragte Sarah. »Nun... es bringt nichts, noch länger hierzubleiben. Morgen fliegen wir nach Melbourne zurück.« »Gott sei Dank«, sagte sie strahlend. »Ich dachte schon, wir müßten uns den Melbourne Cup entgehen lassen.« Trotz einer Menge Tabletten und hingebungsvoller Betreuung verbrachte ich eine äußerst unangenehme, schlaflose Nacht. Ich konnte mich nicht richtig hinlegen. Nach dem Schüttelfrost war mir fieberheiß. Pochende Schmerzen an einem Dutzend Stellen. Bei der kleinsten Bewegung knirschten meine Gelenke. Wie ein Motor mit Kolbenfresser. Kein Wunder, daß die Ärzte mir empfohlen hatten, dazubleiben. Ich hielt durch bis zum Morgengrauen. Alles hätte viel schlimmer kommen können. Das wirklich Alarmierende war nicht die Brutalität der beiden Männer, sondern wie schnell sie uns gefunden hatten. Seit dem Anblick von Reginas eingeschlagenem Kopf wußte ich, daß hinter dem Ganzen ein Mensch von skrupelloser Gewaltbereitschaft stand. Wie die Chargen, so der Chef. Mit einer weniger brutalen Einstellung hätte man sie gefesselt und geknebelt, statt sie umzubringen. Mein Sturz vom Balkon verriet die gleiche rohe Handschrift. Rabiat, aber keine sichere Methode, jemanden ins Jenseits zu befördern. Einen Sturz aus dieser Höhe konnte man durchaus 147
überleben, auch wenn kein Baum den Fall bremste. Soweit ich mich erinnern konnte, hatten die beiden nicht nachgesehen, ob ich lebte oder tot war, und sie hatten die Sache nicht zu Ende gebracht, während ich hilflos dalag. Entweder hatten sie mich also einfach hauruck aus dem Weg geräumt, um ungestört mein Zimmer zu durchstöbern, oder sie hatten es darauf angelegt, mir so die Knochen zu lädieren, daß ich meine Nase künftig nicht mehr in ihre Angelegenheiten stecken würde. Oder beides. Aber wie hatten sie uns gefunden? Ich grübelte lange darüber nach, kam aber zu keinem schlüssigen Ergebnis. Sehr wahrscheinlich hatte Harley Renbo einen Anruf von Wexford oder Greene aus Melbourne bekommen, er solle auf der Hut sein, falls ich auftauchte. Als ihnen dann aufging, daß ich nicht nur den Munnings und die pinselfrische Millais-Kopie gesehen, sondern sogar eins von Renbos Werken abgeschleppt hatte, waren sie sicher bös überrascht, aber unmöglich konnten sie in der kurzen Zeit zwei Schläger von Melbourne nach Alice Springs geschickt haben. Zwischen dem Bildkauf und dem Überfall waren gerade mal vier Stunden vergangen, und dabei hätten sie ja noch unser Motel und unsere Zimmernummern ermitteln müssen, um dann abzuwarten, bis ich nach oben ging. Vielleicht waren wir also doch von der Rennbahn in Melbourne aus beschattet worden, oder man hatte unsere Spur über die Passagierlisten der Fluglinie bis hierher verfolgt. In diesem Fall wäre Renbo aber sicher rechtzeitig gewarnt worden und hätte uns nichts von all dem gezeigt, was wir gesehen hatten. Ich gab es auf. Ich wußte nicht mal, ob ich meine beiden Angreifer wiedererkennen würde. Bestimmt nicht den, der hinter mir gewesen war, denn ihn hatte ich gar nicht richtig zu Gesicht bekommen.
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Jedenfalls hatten sie nach dem Überfall Grund genug anzunehmen, daß ich fürs erste außer Gefecht gesetzt war – und wäre ich vernünftig gewesen, hätte ich auch wirklich den Rückzug angetreten. Wenn sie Zeit gewinnen wollten, wofür? Um ihre Tarnung auszubauen, ihre Spuren zu verwischen, damit die Polizei, falls ich sie auf eine Verbindung zwischen Gemälden und Einbruchsdiebstählen hinwies, bei ihren Ermittlungen gegen eine solide Betonwand rennen würde. Vorläufig rechneten sie sicher nicht mit meinem Eingreifen, auch wenn sie wußten, daß ich überlebt hatte; je früher ich also in Aktion trat, desto besser. Gut. Mein Verstand war leicht zu überreden. Vom Hals abwärts sah die Sache anders aus. Jik und Sarah erschienen erst gegen elf, und ich empfing sie im Bett sitzend. Aufrecht, aber nicht gerade munter. »Himmel«, sagte Sarah, »du siehst schlimmer aus als gestern.« »Zu gütig.« »Dich kriegen wir im Leben nicht nach Melbourne.« Es klang entmutigt. »Adieu, Cup.« »Ihr könnt doch ruhig fahren«, sagte ich. Sie trat zu mir ans Bett. »Sollen wir dich vielleicht hier einfach liegen lassen, während wir uns ein paar schöne Tage machen?« »Warum denn nicht?« »Sei nicht albern.« Jik rekelte sich in einem Besuchersessel. »Wir können doch nichts dafür, wenn er sich irgendwo runterschmeißen läßt.« Sarah fuhr zu ihm herum. »Wie kannst du so was sagen?« »Wir wollen da nicht hineingezogen werden«, stieß Jik nach. Ich grinste. Sarah merkte, daß ihr ironisch die Worte vorgehalten wurden, die sie vor drei Tagen selbst im Mund geführt hatte, und warf gereizt die Arme hoch. 149
»Du widerliches Miststück!« schimpfte sie. Jik schmunzelte wie ein sahnesatter Kater. »Wir waren noch mal bei der Galerie«, sagte er. »Sie ist immer noch geschlossen. Also sind wir außen rum und haben hinten durch die Glastür geschaut, und rate mal, was wir gesehen haben?« »Gar nichts.« »Keine Staffelei mit einem Pseudo-Millais. Alles Zweifelhafte sorgfältig versteckt. Was noch da ist, sieht nach normalem, ehrlichem Geschäft aus.« Ich verlagerte ein wenig das Gewicht, um eine schmerzende Körperpartie zu entlasten, und erntete Protest von einer anderen. »Selbst wenn ihr reingekommen wärt, hättet ihr wahrscheinlich nichts Fragwürdiges entdeckt. Bestimmt hat er alles Belastende schon gestern nachmittag verschwinden lassen.« Jik nickte. »Klar.« »Wir haben die Empfangsdame im Motel gefragt, ob sich jemand nach uns erkundigt hat«, sagte Sarah. »Und?« Sie nickte. »Ein Mann hat angerufen. Um kurz nach zehn, meinte sie. Er wollte wissen, ob ein Mr. Charles Todd mit einem befreundeten Ehepaar bei ihnen wohne, und als sie es bestätigte, ließ er sich deine Zimmernummer geben. Er hätte eine Lieferung für dich.« »Himmel.« Schöne Lieferung. Expreß. Abwärts. »Sie nannte ihm zwar die Nummer, sagte aber, wenn er das Paket am Empfang abgebe, werde sie es weiterleiten.« »Er wird sich eins gelacht haben.« »Dafür dürfte es ihm an Humor fehlen«, meinte Jik. »Um kurz nach zehn?« fragte ich nachdenklich. »Als wir in der Stadt waren«, nickte Sarah. »Gar nicht lange nachdem wir die Galerie verlassen hatten... vielleicht, als wir die Schwimmsachen kaufen waren.« »Warum hat die Frau uns nichts von dem Anruf gesagt?« 150
»Sie war in der Kaffeepause, als wir zurückkamen. Und danach hat sie’s vergessen. Außerdem hielt sie es auch für ganz unwichtig.« »Allzu viele Motels gibt es nicht in Alice«, sagte Jik. »Als erst mal feststand, daß wir hier sind, waren wir sicher leicht zu finden. Ich nehme an, die Clique in Melbourne hat Renbo verständigt, und es ging los.« »Die hat wahrscheinlich der Schlag getroffen, als sie hörten, daß du das Bild gekauft hast.« »Ich wünschte, ich hätte es versteckt«, sagte ich. Und prompt mußte ich an Maisie denken, die ihr Bild versteckt hatte und deren Haus angezündet worden war. Sarah seufzte. »Tja... was machen wir jetzt?« »Letzte Gelegenheit, nach Hause zu fahren«, sagte ich. »Hast du das vor?« wollte sie wissen. Ich lauschte kurz dem flehentlichen Bitten meines geschundenen Körpers, und ich dachte an Donald in seinem kalten Haus. Ich schwieg. Es war ihr Antwort genug. »Na bitte«, sagte sie. »Was tun wir also?« »Hm«, sagte ich. »Zuerst mal laßt ihr die Empfangsdame im Motel wissen, daß ich in sehr schlechter Verfassung bin und wohl noch mindestens eine Woche im Krankenhaus bleiben muß.« »Nicht mal übertrieben«, meinte Jik leise. »Sagt ihr, sie darf das ruhig weitergeben, falls sich jemand erkundigt. Sagt, daß ihr nach Melbourne wollt, zahlt unsere Rechnungen, laßt euch euren Flug für heute nachmittag bestätigen, storniert meinen und nehmt dann ganz normal den Bus zum Flughafen.« »Und du?« fragte Sarah. »Wann willst du nachkommen?« »Ich komme mit euch«, sagte ich. »Falls ihr eine Möglichkeit findet, eine bandagierte Mumie in ein Flugzeug zu verfrachten, ohne daß es jemand merkt.« 151
»Heiland«, rief Jik begeistert. »Das kriegen wir schon hin.« »Ruft beim Flughafen an und bucht mir einen Platz unter einem anderen Namen.« »Okay.« »Und kauft mir ein Hemd und eine Hose. Was ich anhatte, ist im Müll.« »Wird erledigt.« »Geht aber immer davon aus, daß ihr beobachtet werden könntet.« »Du meinst, wir sollen ein trauriges Gesicht machen?« fragte Sarah. Ich grinste. »Ich würde mich geehrt fühlen.« »Und wenn wir dann in Melbourne sind?« fragte Jik. Ich biß mir auf die Unterlippe. »Dann gehen wir am besten wieder ins Hilton. Schon weil da noch unsere Sachen sind, vor allem auch mein Paß und mein Geld. Wenn Wexford und Greene nicht wissen, daß wir da schon gewohnt haben, sind wir im Hilton bestens aufgehoben. Und überhaupt, wo sonst wollen wir am Abend vor dem Cup in Melbourne ein Zimmer bekommen?« »Wenn du im Hilton aus dem Fenster geworfen wirst, kannst du das keinem mehr erzählen«, meinte er vergnügt. »Die gehen nicht so weit auf«, sagte ich. »Es besteht also keine Gefahr.« »Tröstlich.« »Und morgen?« fragte Sarah. »Was wird morgen?« Zögernd und mit einigen Unterbrechungen erläuterte ich meine Pläne für den Tag des Cups. Als ich damit fertig war, schwiegen sie beide. »Also«, sagte ich. »Wollt ihr jetzt nach Hause fahren?« Sarah stand auf. »Wir besprechen das mal«, sagte sie nüchtern. »Dann kommen wir wieder her.« Auch Jik stand auf, aber an seinem vorgereckten Kinnbart sah ich, wie er sich entscheiden würde. Er hatte schließlich 152
auch die Schlechtwetterrouten auf der Nordsee und im Atlantik für uns ausgesucht. Im Herzen war er weit verwegener als ich. Um zwei Uhr erschienen sie wieder und schleppten eine schwere Tragetüte, aus der oben eine Flasche Scotch und eine Ananas herausragten. »Proviant für einen kranken Freund«, sagte Jik und legte mir die Flasche und die Frucht ans Fußende des Bettes. »Wie geht’s dir?« »Auf dem Zahnfleisch gehe ich.« »Jeder, wie er kann. Also Sarah sagt, wir machen mit.« Ich suchte in ihrem Gesicht. Die dunklen Augen blickten mich ruhig an, als fügte sie sich in etwas Unvermeidliches. Ich konnte keine Feindseligkeit, aber auch keine Begeisterung bei ihr entdecken. Sie hatte mit dem Kopf, nicht aus dem Bauch entschieden. »Gut«, sagte ich. »Wir haben noch mehr für dich«, meinte Jik, mit Auspacken beschäftigt, »... eine mittelgraue Hose, ein hellblaues Baumwollhemd.« »Wunderbar.« »Das ziehst du aber erst in Melbourne an. Für die Abreise aus Alice Springs haben wir dir etwas anderes gekauft.« Ich sah die Belustigung auf ihren Gesichtern und fragte argwöhnisch: »Was?« Mit wachsendem Vergnügen breiteten sie die Sachen aus, die für meinen unauffälligen Abschied von Alice Springs bestimmt waren. So kam es, daß ich auf dem kleinen Flughafen in der Zeit zwischen Einchecken und Anbordgehen unmöglich von irgend jemand übersehen werden konnte. Ich trug ausgeblichene, in Wadenhöhe abgeschnittene und zünftig ausgefranste Jeans. Keine Socken. Zehensandalen mit Sisalsohle. Einen halblangen, ponchoähnlichen Überwurf in leuchtendem 153
Orange, Rot und Magenta, aus dem nur Kopf und Hände hervorschauten. Darunter ein weites, weißes T-Shirt. Auf der Nase eine große Sonnenbrille. Künstliche Sonnenbräune auf jedem Stückchen Haut. Und zur Krönung des Ganzen einen großen Strohhut mit fünf Zentimeter langen Fransen an der Krempe, wie er bevorzugt im Busch getragen wird, um die Fliegen abzuhalten. Fliegen sind die Crux Australiens. Die fliegenverscheuchende Bewegung der rechten Hand ist nicht umsonst als großer australischer Gruß bekannt. An meinem Touristenhut war ein Hutband mit der gut lesbaren Aufschrift: »Ich habe den Ayers Rock bestiegen.« In der Trans-Australian-Airline-Tasche, die mir Sarah in der Stadt gekauft hatte, trug ich die dezente Kleidung für danach. »Niemand wird drauf kommen, daß du ein Fall für die Tragbahre bist, wenn du damit herumläufst«, hatte Jik zufrieden beim Ausbreiten meiner Garderobe gesagt. »Eher für die Klapsmühle.« »Nicht weit gefehlt«, meinte Sarah trocken. Beide warteten schon mit düsterer Miene, als ich zum Flughafen kam. Sie warfen nur einen Blick auf mich und konzentrierten sich sogleich auf den Fußboden, um, wie sie mir nachher erzählten, angesichts solch wandelnder Pracht nicht laut herauszuplatzen. Ich ging gemessenen Schrittes zum Ansichtskartenstand und blieb dort stehen, denn, um die Wahrheit zu sagen, Sitzen war für mich beschwerlicher. Die Ansichtskarten zeigten vorwiegend und in immer neuen Varianten den riesigen orangefarbenen Steinblock in der Wüste: Ayers Rock bei Tagesanbruch, bei Sonnenuntergang und alle fünf Minuten dazwischen. Während ich die Karten begutachtete, schaute ich mich gleichzeitig in der Halle um. Ungefähr fünfzig bunt gemischte Reisende. Etliche Flughafenangestellte, ruhig und entspannt. Ein paar Aborigines mit umschatteten Augen und dunklen 154
Gesichtern, die geduldig auf den Flughafenbus zurück in die Traumzeit warteten. Vollklimatisierte Luft, aber alle hier bewegten sich noch im gemächlichen Rhythmus des Lebens in der Sonne. Niemand wirkte im geringsten bedrohlich. Der Flug wurde aufgerufen. Die gemischten Passagiere, einschließlich Jik und Sarah, standen auf, nahmen ihr Handgepäck und strömten hinaus zur Maschine. Da, und erst da, sah ich ihn. Der Mann, der über den Balkon gekommen war, um mich runterzuwerfen. Zuerst traute ich meinen Augen nicht, dann war ich mir sicher. Er hatte unter den Reisenden gesessen und in einer Zeitung gelesen, die er jetzt zusammenfaltete. Reglos beobachtete er, wie Jik und Sarah ihre Bordkarten vorzeigten und durch die Tür aufs Rollfeld traten. Sein Blick folgte ihnen bis zum Flugzeug. Als sie die Treppe hinaufgegangen und eingestiegen waren, drehte er sich um und kam geradewegs auf mich zu. Mein Herz tat einen fürchterlichen Satz. Weglaufen war unmöglich. Er sah nicht nur so aus. Er war es. Jung, kräftig, zielbewußt, geschmeidig wie eine Katze. Auf dem Weg zu mir. Heiland, hätte Jik gesagt. Er würdigte mich keines Blickes. Drei Meter von mir entfernt blieb er an einem Münztelefon stehen und suchte in seiner Tasche nach Kleingeld. Meine Füße gehorchten mir nicht. Ich glaubte immer noch, er würde mich sehen, stutzen, mich erkennen... und mir auf den Pelz rücken. Ich spürte, wie mir unter dem Verband der Schweiß lief. »Letzter Aufruf für den Flug nach Adelaide und Melbourne.« Es muß sein, dachte ich. Um zur Tür zu kommen, mußte ich an ihm vorbei.
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Ich riß meine Füße los. Ging. Erwartete bei jedem Schritt, ihn hinter mir rufen zu hören. Oder schlimmer noch, seine schwere Hand auf der Schulter zu spüren. Ich kam zur Tür, zeigte die Bordkarte vor, ging hinaus aufs Rollfeld. Konnte der Versuchung, mich noch einmal umzublicken, nicht widerstehen. Durch die Scheibe sah ich, wie er mit ernster Miene telefonierte, ohne auch nur in meine Richtung zu schauen. Der Weg zur Maschine kostete trotzdem Nerven. Gnade uns Gott, dachte ich, wenn ich beim kleinsten Anlaß schon so weiche Knie bekomme.
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Ich hatte einen Fensterplatz im hinteren Teil des Flugzeugs und betrachtete im ersten Abschnitt der Reise ebenso fasziniert wie auf dem Hinflug das menschenleere, urzeitliche Land, das sich unter uns erstreckte. Eine Wüste mit viel unterirdischem Wasser, das in großen Seen und zahlreichen Felsentümpeln zutage trat. Eine Wüste, deren sengender Staub jahrelang Samen konservieren konnte, um bei Regen dann wie ein Garten zu erblühen. Ein mörderisch heißes Terrain, unwirtlich, rauh und doch an manchen Stellen schön. Glau, dachte ich. Sehr eindrucksvoll, aber zum Malen regte es mich nicht an. Nach einiger Zeit nahm ich den abenteuerlichen Hut ab, legte ihn auf den leeren Platz neben mir und versuchte, es mir so bequem zu machen, wie es eben ging, denn wenn ich mich normal zurücklehnte, protestierte mein gebrochenes Schulterblatt. Dabei wäre ich von selbst gar nicht darauf gekommen, daß man sich das brechen konnte. Aber immerhin war ich aus ziemlicher Höhe auf extrem harten Boden gekracht. Nun ja... ich schloß für ein Weilchen die Augen und wünschte mir, ich wäre nicht immer noch so zittrig. Das Krankenhaus hatte ich mit der Einwilligung eines Arztes verlassen, der meinte, wenn ich gehen wolle, könne er mich zwar nicht halten, aber ein weiterer Tag Ruhe wäre besser für mich. »Dann verpasse ich den Cup«, wandte ich ein. »Sie sind ja verrückt.« »Mag sein... aber könnten Sie es so einrichten, daß das Krankenhaus auf Anfrage sagt, es gehe mir ›den Umständen entsprechend‹ oder ›allmählich besser‹, nur auf keinen Fall, daß ich schon weg bin?« 157
»Wozu denn das?« »Die Schläger, die mich hier reingebracht haben, sollen lieber glauben, ich liege noch flach. Noch ein paar Tage, wenn’s geht. Bis ich über alle Berge bin.« »Aber die vergreifen sich doch nicht noch mal an Ihnen.« »Man weiß nie?« Er zuckte die Achseln. »Heißt das, Sie sind nervös?« »Könnte man sagen.« »Okay. Es kann ja nichts schaden. Ein paar Tage also, wenn es Sie beruhigt.« »Und ob mich das beruhigt«, sagte ich dankbar. »Was haben Sie denn da?« Er wies auf Jiks Einkäufe, die noch auf dem Bett lagen. »Das versteht mein Freund unter angemessener Reisebekleidung.« »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?« »Er ist Maler«, sagte ich, als würde das jede Extravaganz erklären. Eine Stunde später brachte mir der Arzt einen Schein zur Unterschrift, nachdem Jiks Kreditkarte wieder einmal den Rest erledigt hatte, und bekam bei meinem Anblick einen Lachanfall. Ich war mühsam in die Klamotten geschlüpft und probierte gerade den Hut an. »Wollen Sie in dem Aufzug zum Flughafen?« fragte er ungläubig. »Selbstverständlich.« »Und wie?« »Mit dem Taxi oder so.« »Es ist besser, wenn ich Sie fahre«, meinte er seufzend. »Dann kann ich Sie wieder mit zurücknehmen, falls es Ihnen zu schlecht geht.« Er fuhr vorsichtig, hatte aber auch seinen Spaß dabei. »Jemand, der sich traut, so herumzulaufen, braucht vor zwei
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Schlägern keine Angst zu haben.« Er setzte mich direkt am Eingang zum Flughafen ab und fuhr lachend davon. Sarahs Stimme riß mich aus den Gedanken. »Todd?« Ich schlug die Augen auf. Sie war nach hinten gekommen und stand neben mir auf dem Gang. »Geht’s dir gut?« »Mhm.« Sie musterte mich besorgt und ging weiter zu den Toiletten. Als sie zurückkam, hatte ich meine Gedanken halbwegs sortiert und hielt sie mit einer Handbewegung auf. »Sarah... man ist euch zum Flughafen gefolgt. Sehr wahrscheinlich werdet ihr auch in Melbourne beschattet. Sag Jik, er soll ein Taxi nehmen, den Verfolger ausmachen, ihn abschütteln und mit einem anderen Taxi wieder zum Flughafen kommen, um den Mietwagen abzuholen. Okay?« »Ist er... der Verfolger... hier im Flugzeug?« Sie war sichtlich beunruhigt. »Nein. Er hat von Alice aus telefoniert.« »Gut.« Sie ging wieder nach vorn. Die Maschine landete in Adelaide. Reisende stiegen aus und ein, und weiter ging es mit dem einstündigen Flug nach Melbourne. Auf halber Strecke kam Jik nach hinten, um das gewisse Örtchen aufzusuchen. Auch er blieb auf dem Rückweg zu seinem Platz kurz bei mir stehen. »Hier sind die Autoschlüssel«, sagte er. »Setz dich rein und warte auf uns. So kannst du schlecht ins Hilton, und allein umziehen kannst du dich auch nicht.« »Klar kann ich.« »Still. Ich schüttle die etwaigen Verfolger ab und komme wieder. Du wartest.«
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Er ging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ich steckte die Schlüssel in meine Jeans und sann über das Wahre und Gute im Leben nach, um mir die Zeit zu vertreiben. Bei der Landung hielt ich mich weit hinter Jik und Sarah. In dieser ehrwürdigen Handelsstadt stieß mein Aufzug auf wesentlich mehr Unverständnis, aber das kümmerte mich kein bißchen. Erschöpfung und Sorge sind das beste Mittel gegen peinliche Verlegenheit. Jik und Sarah gingen mit ihrem Handgepäck schnurstracks zum Ausgang und zum Taxistand. Am Abend vor dem Cup wimmelte es auf dem Flughafen von frisch angekommenen Besuchern, aber ich sah nur einen einzigen, der sich ausschließlich für meine davoneilenden Freunde interessierte. Ich mußte lächeln. Jung und wieselflink schlängelte er sich durch die Menge und stieß eine Frau mit Kind aus dem Weg, um das Taxi hinter Jik zu ergattern. Wahrscheinlich hatten sie ihn geschickt, weil er Jik vom Sehen kannte. Er hatte ihm im Arts Centre Terpentin in die Augen geschüttet. Soll uns recht sein, dachte ich. Der Junge war nicht der Hellste, also würde Jik ihn relativ leicht abschütteln können. Ich latschte noch eine Zeitlang herum, als wüßte ich nichts mit mir anzufangen, doch da ich niemand Verdächtigen mehr entdecken konnte, wagte ich mich schließlich hinaus auf den Parkplatz. Der Abend war kalt nach Alice Springs. Ich schloß den Wagen auf, setzte mich nach hinten, nahm den Gipfelstürmerhut ab und wartete auf Jik. Sie blieben fast zwei Stunden fort, und in der langen Zeit wurde mir das Sitzen so beschwerlich, daß ich anfing, vor mich hin zu schimpfen. »Entschuldige«, sagte Sarah atemlos, als sie die Wagentür öffnete und sich auf den Vordersitz fallen ließ.
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»Es war verdammt schwer, den kleinen Mistkerl loszuwerden«, sagte Jik, der sich zu mir nach hinten setzte. »Alles in Ordnung?« »Mir ist kalt, ich habe Hunger und bin schlecht gelaunt.« »Wenn’s weiter nichts ist«, meinte er vergnügt. »Wie eine Klette hat der an uns geklebt. Der Junge aus dem Arts Centre.« »Ja, ich habe ihn gesehen.« »Wir sind zum Victoria Royal gefahren und wollten auf der anderen Seite gleich wieder raus und mit dem nächsten Taxi weiter, aber weil er uns nachkam, sind wir in die Bar und haben was getrunken, während er am Bücherstand in der Halle herumhing.« »Er sollte nach Möglichkeit nicht merken, daß wir ihn entdeckt hatten«, sagte Sarah. »Also haben wir umdisponiert, sind raus und haben ein Taxi zum Naughty Ninety genommen, dem einzigen wirklich lauten Freß-, Tanz- und Nachtlokal in Melbourne.« »Da war es gestopft voll«, sagte Jik. »Ich mußte zehn Dollar für einen Tisch hinblättern. Für unseren Zweck aber ideal. Lauter dunkle Winkel und psychedelisches Geflimmer. Wir haben was zu trinken bestellt, uns die Speisekarte angesehen, dann sind wir aufs Parkett und haben getanzt.« »Er stand immer noch im Eingang Schlange für einen Tisch. Wir haben uns durch den Notausgang hinter den Toiletten verdrückt. Da hatten wir beim Reinkommen unsere Taschen verstaut und brauchten sie nur zu holen.« »Ich glaube, er hat nicht gemerkt, daß wir ihn bewußt abgehängt haben«, sagte Jik. »Da ist ein Riesenandrang heute.« »Prima.« Mit Jiks Hilfe verwandelte ich mich vom Alice-SpringsTouristen in einen turfbegeisterten Besucher des Melbourne Cup. Dann fuhr er uns zum Hilton, stellte den Wagen auf dem Parkplatz ab, und wir betraten die Hotelhalle, als wären wir nie fort gewesen. 161
Niemand achtete auf uns. Alles fieberte dem Rennen entgegen. Leute in Abendkleidung kamen aus dem Ballsaal und unterhielten sich noch angeregt in kleineren Gruppen, bevor sie nach Hause fuhren. Andere kamen vom auswärts genossenen Dinner zurück und bestellten noch einen Schlummertrunk. Die Favoriten des nächsten Tages wurden eifrig erörtert. Jik holte unsere Zimmerschlüssel an der Rezeption. »Keine Nachricht«, sagte er. »Und man scheint uns nicht vermißt zu haben.« »Auch gut.« »Todd«, sagte Sarah. »Jik und ich lassen uns noch was zu essen kommen. Hast du auch Lust?« Ich nickte. Wir fuhren mit dem Lift nach oben, gingen auf ihr Zimmer und aßen in vereinter Müdigkeit still zu Abend. »Gute Nacht«, sagte ich, als ich schließlich aufstand, um zu gehen. »Und vielen Dank für alles.« »Bedank dich morgen«, sagte Sarah. Die Nacht verging. Auch sie verging. Am Morgen rasierte ich mich einhändig nach sparsamster Katzenwäsche, und Jik, der darauf bestanden hatte, kam, um mir beim Anziehen zu helfen. Ich öffnete ihm in Unterhose und Bademantel und mußte seine Bemerkungen über mich ergehen lassen, als ich letzteren ablegte. »Allmächtiger Gott, gibt es überhaupt eine Stelle an dir, die nicht blau oder zugepflastert ist?« »Ich hätte auch aufs Gesicht fallen können.« Er riß die Augen auf. »Hilf mir, den Verband zu wechseln«, sagte ich. »Da geh ich nicht dran.« »Komm schon, Jik. Nimm mir die Binden ab. Darunter juckt es wie verrückt, und ich weiß schon nicht mehr, wie meine linke Hand aussieht.« 162
Unter gotteslästerlichen Flüchen dröselte er den im Krankenhaus von Alice Springs fachmännisch angelegten Verband auf. Der Deckverband bestand aus starken, mit Klammern befestigten Leinenbinden, die meinen linken Ellbogen abstützten und den ganzen Arm so fixierten, daß die Hand mit den Fingerspitzen zur rechten Schulter quer über dem Brustkorb lag. Ein Kreppverband unter den Leinenbinden hielt den Arm in Stellung. Dazu kam ein straffer Kummerbund aus Heftpflaster, der vermutlich die gebrochenen Rippen stützen sollte. Und direkt unter dem Schulterblatt ein großflächiger Wundverband, den Jik an einer Ecke anhob, um mir freundlich mitzuteilen, daß dort die Kunststopfer gewirkt hätten. »Da ist fast ein ganzer Hautlappen abgerissen. Die mußten vier Nähte legen. Sieht aus wie ein Bahnknotenpunkt.« »Deck wieder zu.« »Hab ich, Partner, keine Sorge.« Es gab noch drei solche Verbände, zwei an meinem linken Oberschenkel und einen etwas kleineren unter dem Knie; alle waren mit Pflaster befestigt und mit Binden umwickelt. Wir ließen die Finger davon. »Was der Patient nicht weiß, macht ihn nicht heiß«, sagte Jik. »Sonst noch einen Wunsch?« »Bind mir den Arm los.« »Dann fällst du auseinander.« »Riskier’s.« Er lachte und befreite mich wieder von einer Reihe Klammern und Knoten. Versuchsweise streckte ich den Arm. Die chronischen Schmerzen in ihm wurden akut, sonst passierte wenig. »Das war nicht so gut«, stellte Jik fest. »Eigentlich tun da vor allem die Muskeln weh. Die waren ja die ganze Zeit eingezwängt.« »Und jetzt?«
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Wir tüftelten eine relativ einfache neue Schlinge aus, die meinem Ellbogen Halt gab, ohne deshalb gleich eine Zwangsjacke zu sein. Ich konnte jederzeit die Hand und, wenn ich wollte, auch den ganzen Arm herausziehen. Als wir fertig waren, hatten wir ein Häufchen Binden und Klammern übrig. »Alles bestens«, sagte ich. Um halb elf trafen wir uns unten in der Halle. Eine hektische Atmosphäre der Vorfreude herrschte unter den Rennsportfreunden um uns herum. Sie tranken schon mal auf ihre zu erwartenden Gewinne. Das Hotel hatte am Eingang zum Gesellschaftsraum einen richtiggehenden Sektbrunnen aufgestellt, und Jik befand leuchtenden Auges, das dürfe man sich nicht entgehen lassen. »Kostenlos«, sagte er ehrfürchtig, nahm ein Glas und hielt es unter die üppig sprudelnde, luftdruckgespeiste Fontäne, die in feinen goldenen Strömen niederfiel. »Gar nicht übel«, fügte er nach einem ersten Schluck hinzu. Er hob das Glas. »Auf die Kunst. Gott schenke ihrer Seele Frieden.« »Das Leben ist kurz. Die Kunst ist lang«, sagte ich. »Das gefällt mir aber gar nicht«, meinte Sarah und sah mich unsicher an. »Alfred Munnings’ Lieblingsspruch. Und keine Sorge, meine Liebe, der ist über achtzig geworden.« »Hoffen wir, daß du das auch schaffst.« Wir stießen darauf an. Sie trug ein cremefarbenes Kleid mit Goldknöpfen: elegant, maßgeschneidert, etwas streng. Ein Hauch Militär für den Tag an der Front. »Denkt dran«, sagte ich. »Wenn ihr jemand seht, der nach Wexford oder Greene aussieht, laßt euch auch von ihnen sehen.« »Zeig mir noch mal ihren Steckbrief«, sagte sie.
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Ich zog das kleine Skizzenbuch hervor und gab es ihr, obwohl sie es tags zuvor beim Abendessen schon ausgiebig studiert hatte. »Wenn die noch so aussehen, erkenne ich sie vielleicht«, meinte sie seufzend. »Gib’s mir doch mit.« Und sie steckte es in ihre Handtasche. Jik lachte. »Das muß man Todd lassen, porträtieren kann er. Mit der Phantasie hapert’s eben. Er kann nur malen, was er sieht.« Sein Tonfall war herabsetzend wie eh und je. »Findest du es nicht furchtbar, Todd, wie Jik immer über deine Arbeit herzieht?« Ich grinste. »Ich weiß ganz genau, was er davon hält.« »Falls es dich beruhigt«, wandte sich Jik an seine Frau, »er war der Star unseres Jahrgangs. Die Kunstschule ist natürlich kein Maßstab.« »Ihr seid beide verrückt.« Ich warf einen Blick auf die Uhr. Wir tranken unseren Sekt aus und stellten die Gläser ab. »Wette einen Sieger für mich«, meinte ich zu Sarah und küßte sie auf die Wange. »Und wenn dich dein Glück verläßt?« Ich grinste. »Setz auf die elf.« Ihre Augen waren umschattet, ihr Blick besorgt. Jiks Bart stand im Schlechtwetterwinkel ab, ganz auf Stürme eingestellt. »Ab mit euch«, sagte ich vergnügt. »Bis später.« Ich schaute ihnen durch die Tür nach und wünschte, wir hätten alle drei einfach ganz normal zum Melbourne Cup gehen können. Die bevorstehende Plackerei hätte ich mir gern erspart. Ich fragte mich, ob auch andere manchmal vor selbstgestellten Aufgaben zurückscheuten und sich wünschten, nie auf die Idee gekommen zu sein. Der Anfang war sicher immer das schwerste. Hatte man die ersten Schritte getan, war man festgelegt. Solange aber noch Zeit blieb, es sich anders zu
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überlegen, auszusteigen, alles abzublasen, war die Versuchung, einen Rückzieher zu machen, gewaltig. Wozu den Everest besteigen, wenn man unten in der Sonne liegen konnte? Seufzend ging ich zur Kasse am Empfang und wechselte ein Bündel Reiseschecks in Bargeld um. Maisie hatte mit ihrer Großzügigkeit Weitblick bewiesen. Wenn ich nach Hause kam, würde nicht mehr viel übrig sein. Vier Stunden Wartezeit. Ich verbrachte sie oben in meinem Zimmer und beruhigte meine Nerven damit, daß ich die Aussicht aus meinem Fenster zeichnete. Schwarze Wolken bedeckten noch wie Spinnweben den Himmel, besonders in Richtung Flemington und Rennbahn. Hoffentlich blieb es während des Cups trocken. Eine halbe Stunde vor dem offiziellen Beginn des Wettbewerbs verließ ich zu Fuß das Hilton und ging gemächlich zur Swanston Street in der Haupteinkaufszone. Die Geschäfte waren natürlich alle geschlossen. Am Tag des Melbourne Cup ruhte die Arbeit im ganzen Land. Ich hatte meinen linken Arm aus der Schlinge genommen und ihn vorsichtig durch die Ärmel von Hemd und Jacke geschoben. Ein Mann, der die Jacke wie ein Einarmiger über der Schulter trug, fiel zu sehr auf. Wenn ich den Daumen in den Hosenbund einhakte, bekam der Arm Halt genug. Die Swanston Street war lange nicht so belebt wie sonst. Zwar schritten die Leute immer noch in dem mordsmäßigen Tempo aus, das mir für die Fußgänger in Melbourne typisch zu sein schien, aber sie waren zu Dutzenden, nicht mehr zu Tausenden unterwegs. In den Straßenbahnen waren mehr Plätze frei als besetzt. Die Autofahrer schienen eher damit beschäftigt, den richtigen Radiosender zu finden, als auf die Straße zu achten. Eine Viertelstunde noch bis zu dem Rennen, für das Australien einmal im Jahr alles liegen- und stehenließ.
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Jik kam pünktlich mit dem grauen Mietwagen die Swanston Street herauf und bog an der Ecke, wo ich wartete, elegant in die Nebenstraße ein. Er hielt vor Yarra River Fine Arts, stieg aus, öffnete den Kofferraum und zog einen braunen Arbeitskittel über, wie Lagerverwalter ihn tragen. Ich ging unauffällig zu ihm hinüber. Er holte ein kleines Radio hervor, schaltete es an und setzte es aufs Autodach. Mit blecherner Stimme stellte der Reporter die Pferde vor, die soeben in Flemington im Führring paradierten. »Tag«, empfing mich Jik nüchtern. »Alles klar?« Ich nickte und ging zum Eingang der Galerie. Drückte gegen die Tür, doch sie war abgeschlossen. Jik tauchte im Kofferraum nach weiteren Früchten seines zweiten Einkaufsbummels in Alice Springs. »Handschuhe«, sagte er, reichte mir ein Paar und zog auch selbst welche an. Weiße Handschuhe mit geripptem Bund, viel zu neu und auffällig. Ich strich mit meinen über die Kotflügel von Jiks Wagen, er warf mir einen Blick zu und tat es mir nach. »Handgriffe und Kraftkleber.« Er reichte mir die Griffe. Es waren einfache, verchromte Handgriffe zum Anschrauben, mit abgeflachten Enden. Stabile Griffe, die man mit der ganzen Hand fassen konnte. Ich hielt den ersten hoch, und Jik bestrich die Enden mit dem Kleber. Wo wir sie brauchten, ließen sich die Griffe nicht anschrauben. Wir mußten sie festkleben. »Jetzt der andere. Kannst du den mit links halten?« Ich nickte. Jik strich den Griff ein. Einige Leute gingen vorbei, ohne auf uns zu achten. Parken war hier nicht erlaubt, aber niemand wies uns darauf hin. Wir gingen über den Gehsteig zur Galerie. Ihre Fassade war keine durchgehende gerade Linie, rechts war der Eingang etwas zurückgesetzt. Zwischen dem Schaufenster und der Glastür befand sich ein Fenster im rechten Winkel zur Straße. 167
An diese Scheibe drückten wir, oder drückte vielmehr Jik, etwas über Hüfthöhe die Handgriffe an. Nach einem Weilchen kontrollierte er, und sie saßen fest. Wir kehrten zum Wagen zurück. Der eine oder andere Passant, der noch vorbeikam, spitzte die Ohren beim Anblick des Radios auf dem Dach und lächelte als stiller Teilhaber am großen Volksfest. Die Straßen leerten sich zusehends, je näher die Stunde Null rückte. »... Vinery trägt die Farben von Mr. Hudson Taylor aus Adelaide und dürfte eine gute Außenseiterchance haben. Vierter im Caulfield Cup und davor Zweiter im Randwick hinter Brain-Teaser, der danach ja Afternoon Tea schlug...« »Hör jetzt nicht dem verdammten Rennen zu!« sagte Jik scharf. »Entschuldige.« »Können wir?« »Ja.« Wir gingen wieder zum Eingang der Galerie, Jik mit einem Glasschneider bewaffnet, wie man ihn unter anderem zum Einrahmen von Bildern verwendet. Ohne sich nach etwaigen Zeugen umzusehen, setzte er die Diamantschneide an und führte sie unter kräftigem Druck am Rand der Scheibe entlang. Ich stand hinter ihm, um ihn gegen neugierige Blicke abzuschirmen. »Halt den rechten Griff«, sagte er, als er die letzte der vier Seiten, von links unten nach links oben, in Angriff nahm. Ich trat nach rechts und faßte den Griff. Die wenigen verbliebenen Passanten schenkten uns keine Beachtung. »Wenn sie kommt«, sagte Jik, »laß sie bloß nicht fallen.« »Nein.« »Stell das Knie dagegen. Sachte, um Gottes willen.« Ich tat, wie mir geheißen, und er führte den langen vierten Schnitt zu Ende. »Vorsichtig drücken.« 168
Ich drückte vorsichtig. Auch Jik stemmte sein Knie gegen das Glas. Mit der Linken hielt er den verchromten Griff, mit der rechten Handfläche klopfte er jetzt gegen den oberen Rand der schweren Scheibe. Jik hatte zu seiner Zeit viel Glas geschnitten, wenn auch nicht ganz unter denselben Umständen. Die große, flache Scheibe brach unter unserem Druck gleichmäßig entlang der Schnittstelle und löste sich fast ohne einen Splitter. Ihr Gewicht drückte plötzlich auf den Griff in meiner rechten Hand, und Jik stützte das lose Glas mit Händen, Knie und Flüchen. »Halt bloß fest.« »Ja.« Die starken Schwingungen, die durch das Herausbrechen entstanden waren, ließen nach, und Jik übernahm den rechten Griff. Scheinbar mühelos drehte er die schwere Scheibe so, daß sie sich wie eine Tür öffnete. Er stieg durch den Spalt, hob die Scheibe an beiden Griffen an, trug sie ein paar Schritte und lehnte sie gegen die Wand rechts neben dem üblicherweise benutzten Eingang. Er kam wieder heraus, und wir gingen zum Wagen. Von dort, knapp drei Meter entfernt, konnte man nicht sehen, daß die Galerie nicht mehr unzugänglich war. Jetzt kam ohnehin kaum noch jemand vorbei. »... Die meisten Jockeys sind jetzt aufgesessen, und bald werden die Pferde hinaus auf die Bahn gehen.,.« Ich nahm das Radio vom Dach. Jik tauschte den Glasschneider gegen Metallsäge, Hammer und Meißel, schloß den Kofferraum, und wir traten durch den unorthodoxen Eingang, als müßte das so sein. Gauner verraten sich ja oft nur dadurch, daß sie heimlich tun. Wer auftritt, als hätte er das Recht auf seiner Seite, macht sich weniger verdächtig. Eigentlich wäre es am besten gewesen, wir hätten jetzt die richtige Tür aufbekommen, aber das erwies sich sofort als
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unmöglich. Sie hatte zwei gediegene Schlösser und wir keine Schlüssel. »Die Treppe ist hinten«, sagte ich. »Geh vor.« Wir durchquerten den feudal mit grünem Teppich ausgelegten Raum. Wo die Treppe nach unten ging, fanden wir eine Batterie von Lichtschaltern und knipsten die Beleuchtung im Basement an, machten oben aber kein Licht. Bange Minuten. Jetzt brauchte nur ein Polizist daherzukommen und sich daran zu stören, daß der Wagen im Parkverbot stand, und Cassavetes und Todd wanderten ins Gefängnis. »...kommen jetzt die Pferde aufs Geläuf, vorneweg Foursquare, er schwitzt und möchte Jockey Ted Nestor zeigen, wer der Chef ist...« Wir waren im Basement. Ich wollte ins Büro, aber Jik eilte zum anderen Ende des Flurs. »Bleib hier«, rief ich. »Wenn sich das Stahlgitter schließt...« »Reg dich ab«, sagte Jik. »Ich weiß ja Bescheid.« Er blieb vor dem Eingang zum letzten Raum stehen. Schaute hinein. Kam dann rasch wieder. »Okay. Die Munnings sind noch alle da. Drei Stück. Aber du wirst staunen, was dazugekommen ist. Sieh es dir mal an, bis dahin habe ich die Tür hier offen.« »... galoppieren auf, ringsum steigt die Erregung...« Gespannt lief ich den Gang hinunter, blieb in sicherem Abstand vor dem Munningsraum stehen, um weder einen Alarm noch den Mechanismus für das Fallgitter auszulösen, und sah hinein. Die drei Bilder hingen noch an ihrem Platz. Doch über das nächste Bild in der Reihe konnte ich, wie Jik gesagt hatte, nur staunen. Ein Fuchs mit lauschend erhobenem Kopf. Im Hintergrund ein Herrenhaus. Der Raoul Millais, den wir in Alice Springs gesehen hatten.
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Ich kehrte zu Jik zurück, der mit Hammer und Meißel das Schloß an der Bürotür besiegt hatte. »Und?« fragte er. »Original oder Fälschung?« »Aus der Entfernung schwer zu sagen. Es sieht aber echt aus.« Er nickte. Wir betraten das Büro und machten uns an die Arbeit. »...auch Derriby und Special Bet kommen jetzt zum Start, und alle gehen im Kreis, während die Gurte kontrolliert werden...« Ich stellte das Radio auf Wexfords Schreibtisch, wo es sich ausnahm wie ein Stundenglas und an die ablaufende Zeit gemahnte. Für den Schreibtisch brauchte Jik sein Werkzeug nicht, da die Schubladen unverschlossen waren. Nur einer der Aktenschränke war abgesperrt. Jik sorgte mit Kraft und Sachverstand dafür, daß er es nicht lange blieb. Unterdessen sah ich die Schreibtischladen durch. Kataloge, Schreibpapier, nicht viel mehr. Der aufgebrochene Aktenschrank aber war eine Fundgrube. Zuerst merkte ich das gar nicht. Die Akten sahen wie ganz normale Geschäftsunterlagen aus. »... ist sehr entspannt aufgaloppiert und in Topform für dieses Hundertzehntausend-Dollar-Rennen...« An den Wänden des Büros hingen etliche gerahmte Bilder, aber noch mehr standen hinter- und nebeneinander auf dem Fußboden. Jik sah sie im Eiltempo durch, fast als wäre es ein Ständer mit Schallplatten. »... Helfer führen nun die Pferde in die Startboxen, und wie ich sehe, macht Vinery Mätzchen...« Die Hälfte der Akten im oberen Fach enthielt offenbar Versicherungsunterlagen dieser oder jener Art. Briefe, Policen, Neubewertungen und Sicherheiten. Das Ganze war etwas schwierig, weil ich nicht genau wußte, wonach ich suchte. 171
»Herrgott«, sagte Jik. »Was ist?« »Sieh dir das mal an.« »...mehr als hunderttausend Zuschauer wollen sehen, wer von den dreiundzwanzig Startern heute hier über die dreitausendzweihundert Meter gewinnt...« Jik war am Ende der Reihe angelangt und betrachtete das vorderste von drei ungerahmten Bildern, die lose mit Schnur zusammengebunden waren. Ich blickte ihm über die Schulter. Jeder Strich ein Munnings. Und »Alfred Munnings« stand auch klar und deutlich in der unteren rechten Ecke. Das Bild zeigte vier Pferde mit ihren Jockeys beim Galopp auf der Rennbahn, und die Farbe war noch nicht trocken. »Was ist auf den anderen?« fragte ich. Jik riß die Schnur ab. Auf den beiden anderen Bildern war genau das gleiche. »Grundgütiger«, sagte Jik ehrfürchtig. »... Vinery trägt nur einundfünfzig Kilo, und da er eine gute Startposition hat, ist nicht auszuschließen...« »Such weiter«, sagte ich und kehrte zu den Akten zurück. Namen. Daten. Orte. Ich schüttelte gereizt den Kopf. Wir brauchten mehr als diese Munningskopien, und ich konnte nichts entdecken. »Heiland!« sagte Jik. Er schaute eine sechzig mal neunzig Zentimeter große Grafikmappe durch, wie Galerien sie zur Aufbewahrung von Drucken verwenden. »... nur Derriby ist noch nicht im Startstand...« Die Grafikmappe hatte zwischen dem Schreibtisch und der Wand gestanden. Jik stand da wie festgenagelt. Überseekundschaft. Mein Blick glitt über die Aufschrift hinweg und kehrte noch einmal zurück. Überseekundschaft. Ich schlug den Hefter auf. Namenslisten, nach Ländern geordnet. Seitenweise Namen und Adressen. 172
England. Eine lange Liste. Nicht alphabetisch. Zu lang, um sie in der knappen Zeit ganz zu lesen. Ziemlich viele Namen waren durchgestrichen. »Sie sind gestartet! Das ist der Augenblick, auf den wir alle gewartet haben, und Special Bet führt...« »Sieh mal her«, sagte Jik. Donald Stuart. Donald Stuart, durchgestrichen. Shropshire, England. Durchgestrichen. Ich hörte fast auf zu atmen. »... zum ersten Mal an der Tribüne vorbei geht Special Bet vor Foursquare, es folgen Newshound, Derriby, Wonderbug, Vinery...« »Schau doch mal«, wiederholte Jik eindringlich. »Nimm es mit«, sagte ich. »In drei Minuten ist das Rennen vorbei, und Melbourne kommt wieder zu sich.« »Aber –« »Wir nehmen’s mit«, entschied ich. »Und die drei Kopien auch.« »... Special Bet immer noch in Führung, dicht dahinter Newshound, dann Wonderbug...« Ich klappte die Aktenablage zu. »Leg den Hefter hier in die Grafikmappe und laß uns verschwinden.« Ich nahm das Radio und Jiks Werkzeug, da er mit den drei losen Gemälden und der Riesengrafikmappe hinreichend bepackt war. »... am Maribyrnong River auf der Gegenseite ist Special Bet immer noch vorn, Vinery jetzt Zweiter...« Wir gingen die Treppe hinauf. Schalteten das Licht aus. Spähten hinaus zum Wagen. Einsam und verlassen stand er an seinem Platz. Kein Polizist zu sehen. Alle Welt interessierte sich nur für das Rennen. Jik rief leise den Erlöser an.
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»... aber im Schlußbogen fällt Special Bet zurück, und eingangs der Zielgeraden führt Derriby vor Newshound...« Wir gingen festen Schrittes durch die Galerie. Die erregte Stimme des Reporters übertönte das tobende Publikum. »...Vinery an dritter Position mit Wonderbug, und außen kommt sehr, sehr schnell Ringwood...« Auf der Straße tat sich nichts. Ich stieg als erster durch unser Loch im Glas und atmete mächtig auf, als ich draußen vor dem geplünderten Bienenstock stand. Jik brachte den kostbaren Honig zum Wagen und verstaute ihn im Kofferraum. Dann nahm er mir das Werkzeug ab und legte es dazu. »Können wir?« Ich nickte mit trockenem Mund. Wir setzten uns ganz normal ins Auto. Der Reporter konnte sich nur noch brüllend verständlich machen. »... als Erster im Ziel ist Ringwood mit einer Länge vor Wonderbug, Dritter wird Newshound, dann Derriby, dann Vinery...« Der Jubel hallte im Wagen nach, als Jik den Motor startete und losfuhr. »... könnte ein Rekord sein. Hören Sie nur diesen Jubel Hier noch einmal das Ergebnis. Der Ausgang des Melbourne Cup. Im Geld sind... Erster: Ringwood, Besitzer Mr. Robert Khami... Zweiter: Wonderbug...« »Puh«, meinte Jik, reckte den Bart vor und bleckte grinsend die Zähne. »Das war nicht übel für den Anfang. Vielleicht sollten wir uns irgendwann als Dokumentenklauer in der Politik verdingen.« Er lachte grimmig in sich hinein. »Der Markt ist überlaufen«, sagte ich und grinste selber breit. Wir schwelgten beide in dem Hochgefühl, das sich einstellt, wenn eine brenzlige Situation heil überstanden ist. »Sachte«, sagte ich. »Wir haben noch viel vor uns.«
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Er fuhr mich zum Hilton, parkte und brachte die Bilder und den Aktenhefter auf mein Zimmer. Wie beim Segeln ging das alles bei ihm Schlag auf Schlag, ohne unnötigen Aufwand, denn er wollte möglichst wieder bei Sarah auf der Rennbahn sein, bevor seine Abwesenheit bemerkt wurde. »Wir kommen so schnell es geht wieder her«, versprach er und winkte kurz mit der Hand. Zwei Sekunden nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, klopfte es. Ich öffnete. Jik stand vor mir. »Eines sollte ich noch wissen«, sagte er, »wer hat den Cup gewonnen?«
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Als er fort war, sah ich mir die Beute genauer an. Sehr schnell zeigte sich, daß wir das große Los gezogen hatten. Ich wünschte mir inständig, wir hätten für Jiks und Sarahs Rennbahnalibi nicht noch Zeit eingeplant. Es machte mich nervös, mit soviel Dynamit in den Händen im Hilton auf sie zu warten. Mein Instinkt drängte zum sofortigen Aufbruch. Das Kundenverzeichnis Übersee wäre jedem anderen denkbar harmlos erschienen. Deshalb hatte Wexford es auch in einem einfachen Aktenschrank aufbewahrt, denn die Wahrscheinlichkeit, daß unter normalen Umständen jemand seine Bedeutung erkannte, stand eins zu einer Million. Donald Stuart, Wrenstone House, Shropshire. Durchgestrichen. Jede Seite war in drei Spalten unterteilt, eine schmale links und rechts, eine breite in der Mitte. Links waren Daten angegeben, in der Mitte Namen und Adressen. Rechts neben der Anschrift stand jeweils eine scheinbar willkürliche Kombination aus Buchstaben und Zahlen. Bei Donald zum Beispiel lautete sie MM3109T – und im Gegensatz zu seinem Namen war sie nicht durchgestrichen. Vielleicht eine Art Katalognummer, dachte ich, für das von ihm gekaufte Bild. Ich überflog die anderen durchgestrichenen Namen in England. Maisie Matthews war nicht darunter. Verdammt, dachte ich. Wieso nicht? Ich blätterte den ganzen Hefter durch. Soweit ich sah, beschränkte sich die Überseekundschaft auf englischsprachige Länder, und etwa jeder dritte Name war gestrichen. Wenn jede Streichung für einen Einbruchsdiebstahl stand, dann waren es mittlerweile Hunderte.
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Hinten im Hefter fand ich ein zweites, separates Verzeichnis, auch wieder nach Ländern geordnet. Die Namenslisten waren hier viel kürzer. England. Etwa in der Mitte. Die Zeile sprang mir ins Auge. Mrs. M. Matthews, Treasure Holme, Worthing, Sussex. Durchgestrichen. Ich zitterte förmlich. Das Datum links bezeichnete vermutlich den Tag, an dem Maisie ihr Bild gekauft hatte. Die nicht durchgestrichene Kennziffer rechts lautete SMK29R. Ich legte den Hefter hin und dachte fünf Minuten nach, ohne die Wand zu sehen, die ich dabei anschaute. Alles in allem kam ich zu dem Schluß, daß ich noch viel zu tun hatte, bevor Jik und Sarah von der Rennbahn zurückkehrten, und daß der Instinkt nicht immer recht haben muß. Die große Grafikmappe, die Jik in solche Aufregung versetzt hatte, lag auf meinem Bett. Ich klappte sie auf und prüfte den Inhalt. Oder anders gesagt, ich stand wie ein Idiot mit offenem Mund davor. Die Mappe enthielt eine Reihe schematischer Strichzeichnungen von der Art, wie der Jungmaler im Arts Centre sie koloriert hatte. Vollständige Konturenzeichnungen auf weißer Leinwand, sauber und exakt wie durchgepaust. Es waren insgesamt sieben, alles Pferdemotive. Da es sich nur um Schwarzweißskizzen handelte, war ich mir nicht sicher, aber drei sahen nach Munnings aus, zwei nach Raoul Millais, und die beiden anderen... ich betrachtete die altmodischen Pferdedarstellungen. Stubbs konnte es nicht sein, er war zu bekannt... Aber vielleicht Herring? Ich nickte bei mir. Sie sahen nach Herring aus. An eine dieser beiden Leinwände war mit einer Büroklammer eine kleine handgeschriebene Notiz geheftet.
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»Schicken Sie mir bitte das Original. Und stellen Sie fest, welche Palette er benutzt hat, falls sie vom üblichen abweicht.« Ich schaute mir noch einmal die drei gleichen, fertigen Gemälde an, die wir ebenfalls mitgenommen hatten. Diese auf Keilrahmen gespannten Ölbilder sahen ganz so aus, als könnten auch sie aus solchen Konturzeichnungen hervorgegangen sein. Struktur und Verarbeitung des Malleinens stimmten überein. Handwerklich waren die Bilder einwandfrei. Sie sahen wirklich wie von Munnings gemalt aus und würden noch authentischer wirken, wenn sie trocken und gefirnißt waren. Farben trocknen unterschiedlich schnell, und wie lange es dauert, hängt außerdem davon ab, mit wieviel Öl oder Terpentin sie verdünnt sind, aber diese drei Bilder waren, über den Daumen gepeilt, alle vor drei bis sechs Tagen entstanden. Die Farbe war bei allen gleich trocken. Sie mußten alle gleichzeitig gemalt worden sein, wie am Fließband. Rote Kappe, rote Kappe, rote Kappe... das sparte natürlich Zeit und Farbe. Die Strichführung war sorgfältig bis ins kleinste Detail. Kein Gehudel. Keine Schlamperei. Es war die gleiche Sorgfalt wie bei der Millais-Kopie in Alice Springs. Ich wußte, daß ich hier die wahren Qualitäten von Harley Renbo vor Augen hatte. An den drei Gemälden war nichts ungesetzlich. Kopieren darf man; nur wer die Kopie als Original anbietet, macht sich strafbar. Ich dachte noch einmal alles durch und ging dann rasch an die Arbeit. Als ich eine Stunde später nach unten kam, war das Personal des Hilton sehr liebenswürdig und hilfsbereit. Selbstverständlich würden sie meiner Bitte nachkommen. Selbstverständlich durfte ich das Kopiergerät benutzen, bitte
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hier entlang. Selbstverständlich konnte ich meine Rechnung jetzt bezahlen und später abreisen. Ich bedankte mich für ihren rundum hervorragenden Service. »Es war uns ein Vergnügen«, sagten sie – und sie meinten es tatsächlich so. Wieder auf meinem Zimmer, packte ich für die Abreise. Dann zog ich Jacke und Hemd aus und bastelte mir mit Hilfe der Reservebinden wieder einen Stützverband nach dem Muster von Alice Springs, so daß die Hand fest auf der Brust lag. Das war schon wesentlich angenehmer als den Arm an dem lädierten Schultergelenk einfach baumeln zu lassen. Ich zog mein Hemd über den Verband an und überlegte, daß Jik je nach Verkehr vielleicht gerade erst von der Rennbahn wegkam. Ich konnte nur warten. Ich wartete genau fünf Minuten. Dann klingelte das Telefon neben dem Bett, und ich nahm den Hörer ab. Jiks Stimme, scharf und gebieterisch. »Charles, komm bitte sofort runter in unser Zimmer.« »Tja...«, sagte ich zögernd. »Ist es wichtig?« »Verdammt und Chromoxid!« explodierte er. »Geht’s denn nicht mal ohne lange Diskussion?« Himmel, dachte ich. Ich holte tief Luft. »Gib mir zehn Minuten«, sagte ich. »Die brauche ich. Ehm... ich komme gerade aus der Dusche. Ich bin noch nicht angezogen.« »Danke, Charles«, sagte er. Dann klickte es, und er war aus der Leitung. Eine Menge von Jiks tollen Flüchen jagten mir durch den Kopf, dabei kam es auf jede Sekunde an. Wenn wir jemals göttlichen Beistand gebraucht hatten, dann jetzt. Ich sperrte mich gegen die Angst, die mir auf dem Magen lag, griff zum Telefon und ließ mich mit mehreren Stellen im Haus verbinden.
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»Kann bitte ganz schnell jemand auf Zimmer siebzehn achtzehn das Gepäck von Mr. Cassavetes abholen?« »Zimmerservice...? Bitte schicken Sie dringend jemand zum Saubermachen auf Zimmer siebzehn-achtzehn, Mr. Cassavetes hat sich übergeben...« »Kann bitte die Krankenschwester sofort nach siebzehn achtzehn kommen, Mr. Cassavetes hat starke Schmerzen...« »Wir hätten gern sofort vier Flaschen von Ihrem besten Champagner und zehn Gläser für siebzehn-achtzehn...« »Dreimal Kaffee für siebzehn-achtzehn bitte, und bitte gleich...« »Wartung? Wir haben einen Stromausfall auf siebzehn achtzehn, kann bitte gleich jemand kommen?« »... das Bad ist überschwemmt, bitte schicken Sie sofort den Klempner.« Was gab es noch? Ich überflog die Liste der angebotenen Dienstleistungen. Pediküre, Masseurin, Sekretärin, Friseur und Bügelfrau waren sicher nicht auf die Schnelle zu bekommen... aber die Fernsehreparatur, warum nicht? »...Würden Sie bitte den Fernseher in siebzehn-achtzehn nachschauen? Aus dem Gerät kommt Rauch, und es riecht verbrannt...« Das mußte eigentlich genügen. Als letztes bestellte ich noch jemand, der mein Gepäck abholte. Hausdiener kommt sofort, hieß es. Zehn Dollar Trinkgeld, sagte ich, wenn die Koffer in fünf Minuten in der Halle sind. Kein Problem, versicherte mir eine zufriedene australische Stimme. Schon unterwegs. Ich ließ meine Tür für den Hausdiener offen und fuhr mit dem Lift zwei Stockwerke hinunter in die siebzehnte Etage. Der Gang vor Jiks und Sarahs Zimmer war breit und leer, und niemand beeilte sich, daran etwas zu ändern. Die zehn Minuten waren um. Ich machte mir Sorgen.
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Als erster erschien der Kellner mit dem Champagner, und er brachte ihn nicht auf einem Tablett, sondern auf einem Servierwagen mit Eiskühlern und blütenweißen Tüchern. Es hätte gar nicht besser sein können. Als er vor Jiks Tür anhielt, bogen zwei andere Gestalten in den Gang ein, und weiter hinten sah ich ein Zimmermädchen, das langsam einen Wagen mit Bettwäsche, Eimern und Schrubbern vor sich herschob. »Danke, daß Sie so schnell gekommen sind«, sagte ich zu dem Kellner und überraschte ihn damit, daß ich ihm zehn Dollar gab. »Bitte servieren Sie gleich.« Er lächelte breit und klopfte bei Jik an. Nach ein paar Sekunden öffnete Jik. Er sah nervös und angespannt aus. »Ihr Champagner, Sir«, sagte der Kellner. »Hab ich doch gar nicht –«, setzte Jik an. Dann erblickte er mich ein Stück von der Tür entfernt. Ich machte mit der Hand scheuchende Bewegungen in Richtung Zimmer, und ein schwaches Lächeln trat auf das besorgte Gesicht. Jik ließ Servierwagen und Kellner ins Zimmer. Schon kamen im Eilschritt der Elektriker, der Klempner und der Fernsehmann. Allen gab ich zehn Dollar und bedankte mich für ihr promptes Erscheinen. »Ich habe beim Pferderennen gewonnen«, sagte ich. Auch sie steckten grinsend mein Geld ein, und Jik öffnete auf ihr Klopfen. »Strom... Wasser... Fernsehen...« Er zog die Brauen hoch. Mit erwachendem Verständnis blickte er zu mir. Dann riß er die Tür weit auf und bat sie herzlich herein. »Biete ihnen ein Glas Champagner an«, sagte ich. »Allmächtiger.« Danach kamen in rascher Folge der Hausdiener, der Mann mit dem Kaffee und die Krankenschwester. Allen gab ich zehn Dollar von meinem angeblichen Wettgewinn und lud sie zu der Party ein. Als letztes rollte das Zimmermädchen mit seinem 181
kopflastigen Wagen an. Sie nahm die zehn Dollar, gratulierte mir zu meinem Glück und verschwand in dem munteren Getümmel. Jetzt lag es bei Jik. Ich konnte nichts mehr tun. Er und Sarah kamen plötzlich wie die Korken aus den goldverkapselten Flaschen auf den Gang geschossen und blieben unschlüssig stehen. Ich packte Sarah am Handgelenk und zog sie zu mir. »Schieb den Wäschewagen durch die Tür und wirf ihn um«, befahl ich Jik. Er überlegte nicht lange. Die Schrubber landeten drinnen auf dem Boden, und Jik zog die Tür hinter sich zu. Sarah und ich rannten bereits zu den Fahrstühlen. So blaß und verstört, wie sie aussah, mußte das, was sich bei ihnen abgespielt hatte, fast zuviel für sie gewesen sein. Jik stürmte hinter uns her. Es gab sechs Fahrstühle auf der Etage, und man brauchte immer nur Sekunden zu warten, bis einer kam. Diesmal schien es Stunden zu dauern. Die Tür öffnete sich einladend, und schon sprangen wir hinein und drückten wie verrückt auf »Türe schließen«. Die Tür schloß sich. Der Lift fuhr sachte und schnell abwärts. »Wo steht der Wagen?« fragte ich. »Auf dem Parkplatz.« »Hol ihn und komm zum Seiteneingang.« »Gut.« »Sarah...« Sie sah mich verschreckt an. »Meine Malertasche steht unten. Trägst du mir die?« Sie sah zerstreut auf den leeren Ärmel meiner Jacke, die über der linken Schulter lose herabhing. »Sarah!« »Ja... in Ordnung.«
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Wir platzten in die Halle, die sich mit heimkehrenden Rennbahnbesuchern gefüllt hatte. Sie unterhielten sich in Gruppen, waren in Bewegung, und man konnte nur schwer den Raum überblicken. Um so besser, dachte ich. Mein Koffer und die Maltasche standen in der Nähe des Haupteingangs, bewacht von einem jungen Mann in Hausdiener-Uniform. Ich gab ihm die zehn Dollar. »Vielen Dank«, sagte ich. »Kein Problem«, meinte er vergnügt. »Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?« Ich schüttelte den Kopf. Sarah nahm die Malertasche, ich den Koffer, und wir gingen zur Tür hinaus. Wandten uns nach rechts. Legten einen Schritt zu. Wandten uns noch einmal nach rechts und waren dort, wo Jik uns abholen sollte. »Er ist nicht da!« rief Sarah, der Panik nahe. »Er kommt schon noch«, sagte ich beruhigend. »Gehen wir ihm ein Stück entgegen.« Wir gingen. Ich sah mich immer wieder nervös nach Verfolgern um, aber wir waren allein. Jik kam auf zwei Reifen um die Ecke gefegt und schliff ein paar Millimeter Profil, als er neben uns anhielt. Sarah stieg vorn ein, ich zwängte mich mit meinem Koffer auf den Rücksitz. Jik vollführte ein haarsträubendes Wendemanöver und brachte uns mit unerlaubt hoher Geschwindigkeit vom Hilton weg. »Menschenskind«, lachte er, von übergroßer Anspannung befreit, »wie bist du bloß auf die Idee gekommen?« »Durch die Marx Brothers.« Er nickte. »Der reinste Slapstick.« »Wo fahren wir hin?« fragte Sarah. »Ist dir schon aufgefallen«, sagte Jik, »daß meine Frau immer das Wesentliche im Auge behält?« Melbourne zieht sich weit hin. 183
Wir fuhren aufs Geratewohl nach Nordosten, durch schier endlose Vorstadtsiedlungen mit Läden, Autowerkstätten und kleinen Betrieben, die alle wohlhabend, improvisiert und für meine Begriffe amerikanisch aussahen. »Wo sind wir?« fragte Jik. »Box Hill nennt sich das«, sagte ich, denn so stand es in den Schaufenstern zu lesen. »Soll mir recht sein.« Wir fuhren noch einige Meilen weiter und hielten an einem modernen Mittelklasse-Motel, dessen Vorplatz mit zahlreichen Wimpeln geflaggt war. Kein Vergleich mit dem Hilton, aber doch Zimmer, die sauberer waren als von der Natur vorgesehen. Die Einrichtung bestand aus schlichten Liegen, einem dünnen, an den Rändern festgenagelten Teppichviereck, einer Tischlampe, die an einen unverrückbaren Tisch geschraubt war, einem an die Wand geleimten Spiegel und einem am Boden festgeschraubten Drehsessel. Aber die Vorhänge waren hübsch, und aus dem Heißwasserhahn in der Dusche kam heißes Wasser. »Die wollen nicht, daß man sie beklaut«, sagte Jik. »Vielleicht sollten wir ihnen ein Wandbild malen.« »Nein!« rief Sarah entsetzt. »Es gibt ein berühmtes australisches Sprichwort«, sagte Jik. »Wenn es sich bewegt, knall es ab, wenn es wächst, schneid es ab.« »Was hat denn das damit zu tun?« fragte Sarah. »Nichts. Ich dachte nur, es könnte Todd gefallen.« »Herr, gib mir Kraft.« Genau das versuchten ihr Mann und ich mit unseren bescheidenen Mitteln. Jik drehte sich auf dem Drehsessel in meinem Zimmer. Sarah setzte sich auf die eine Liege, ich auf die andere. Mein Koffer und die Malertasche standen auf dem Fußboden. 184
»Ist euch klar, daß wir ohne zu zahlen aus dem Hilton verduftet sind?« fragte Sarah. »Sind wir nicht«, widersprach Jik. »Solange unsere Klamotten noch da sind, wohnen wir auch dort. Ich rufe nachher an.« »Aber Todd...« »Ich habe bezahlt«, sagte ich. »Bevor ihr wiedergekommen seid.« Sie schien etwas beruhigt. »Wie hat Greene euch gefunden?« fragte ich. »Weiß der Geier«, meinte Jik düster. Sarah staunte. »Woher weißt du, daß Greene da war? Woher hast du überhaupt gewußt, daß außer Jik und mir noch jemand in unserem Zimmer war? Daß wir so in der Bredouille steckten?« »Von Jik.« »Unmöglich. Er konnte dich doch gar nicht warnen. Er durfte nur sagen, daß du kommen sollst. Er hat wirklich...« Ihre Stimme wurde zittrig. Sie war den Tränen nah. »Er mußte...« »Jik hat’s mir gesagt«, erklärte ich nüchtern. »Erstens hat er mich Charles genannt, was er sonst nie tut, daher wußte ich, daß was nicht stimmt. Zweitens war er grob zu mir, und auch wenn du meinst, das sei er immer, auf diese Art ist er es nicht. Und drittens hat er mir den Namen des Mannes gesagt, der euch in der Gewalt hatte und wollte, daß ihr mich nach unten in die böse kleine Falle lockt. Sein Wort dafür war ›Chromoxid‹, und das ist der Stoff, der grüne Farbe grün macht.« »Grün!« Die Tränen vergingen ihr. »Ihr seid wirklich unbeschreiblich.« »Lange Übung«, meinte Jik aufgeräumt. »Erzählt mir, was los war«, sagte ich. »Wir sind vor dem letzten Rennen weg, um nicht in den Stoßverkehr zu geraten, und bis zum Hilton lief alles glatt. Ich habe den Wagen geparkt, und wir sind auf unser Zimmer 185
gegangen. Nach kaum einer Minute klopft es an der Tür, ich mache auf, und rums stürmen sie rein...« »Sie?« »Drei Mann. Einer war Greene. Wir haben ihn nach deiner Zeichnung sofort erkannt. Der zweite war der Junge aus dem Arts Centre. Der dritte war so ein Schrank mit buschigen Augenbrauen, der mit den Fäusten denkt.« Geistesabwesend rieb er sich die Herzgegend. »Hat er dir eine verpaßt?« fragte ich. »Es ging alles so schnell...«, sagte er, als müßte er sich verteidigen. »Sie sind einfach reingeplatzt, und paff! Im nächsten Moment hatten sie auch schon Sarah gepackt, und sie verdrehten ihr den Arm und sagten, ihr würden sie nicht bloß Terpentin in die Augen schütten, wenn ich dich nicht sofort herbeihole.« »Waren sie bewaffnet?« »Sie hatten... ein Feuerzeug. Tut mir leid, Partner, das hört sich bestimmt schwach an, aber der Schrank drückte ihr die Luft ab, und der Junge hielt ihr ein Stichflammen produzierendes Monstrum von Feuerzeug ans Gesicht... und ich war etwas angeschlagen, und Greene sagte, sie würden sie rösten, wenn ich dich nicht hole... und gegen alle drei kam ich ja nicht an...« »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte ich. »Ja, gut... also habe ich dich angerufen. Ich sagte Greene, du kämst in zehn Minuten, weil du noch nicht angezogen seist, aber ich glaube, er hat dich sowieso gehört, denn er stand direkt neben mir und war ganz Ohr. Ich wußte nicht genau, ob du begriffen hattest, ich konnte es nur hoffen... und du hättest mal ihre Gesichter sehen sollen, als der Kellner den Servierwagen reinschob. Der Schrank ließ Sarah los, der Junge glotzte mit offenem Mund, in der Hand den MiniFlammenwerfer...«
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»Greene sagte, der Champagner sei nicht erwünscht und solle wieder mitgenommen werden«, ergänzte Sarah. »Aber Jik und ich sagten, wir wollten ihn doch, und Jik bat den Kellner, ihn auch gleich zu öffnen.« »Bevor er den ersten Korken raushatte, schneiten auf einmal die anderen rein... und es wurde voll im Zimmer... und schon hieß es, hoch die Gläser... und weil Greene, der Jüngling und der Schrank durch den Servierwagen und die vielen Leute quasi auf der Fensterseite eingepfercht waren, habe ich mir Sarah geschnappt und bin mit ihr raus. Ich habe noch gesehen, wie Greene und die anderen hinter uns herwollten, aber das war bei dem trinklustigen Gedränge nicht einfach... und ich glaube, mit dem Wäschewagen haben wir uns dann endgültig den nötigen Vorsprung bis zum Fahrstuhl verschafft.« »Wie lange wohl die Party gedauert hat?« fragte ich. »Bis kein Schampus mehr da war.« »Die müssen dich für verrückt gehalten haben«, meinte Sarah. »Am Cup-Tag ist alles erlaubt«, sagte ich. »Und im Hilton wird das Personal an exzentrische Gäste gewöhnt sein.« »Was wäre denn gewesen, wenn Greene eine Pistole gehabt hätte?« fragte Sarah. Ich lächelte schief. »Dann hätte er vor verdammt vielen Leuten damit herumwedeln müssen.« »Das hätte ihn vielleicht nicht gehindert.« »Mag sein... aber er war auch weit von der Tür weg.« Ich kaute an meinem Daumennagel. »Ehm... woher wußte er denn, daß ich im Hilton war?« Eine spürbare Stille entstand. »Von mir«, antwortete Sarah schließlich, mit einer Mischung aus Scham und Trotz. »Jik hat dir nicht alles erzählt. Es fing damit an, daß sie sagten... daß Greene sagte... sie würden mir das Gesicht verbrennen, wenn Jik nicht verrät, wo du bist. Das wollte er nicht... aber was blieb ihm sonst übrig? Also habe ich 187
es ihnen gesagt, damit er es nicht tun mußte... so blöd sich das jetzt auch anhört.« Ich fand es im Gegenteil sehr anrührend. Wieviel Liebe sprach daraus – und wieviel Verständnis. Ich lächelte sie an. »Zuerst wußten sie also nicht, daß ich im Hotel war?« Jik schüttelte den Kopf. »Sie wußten wohl noch nicht mal, daß du in Melbourne bist. Sie waren überrascht, als Sarah sagte, du seist oben. Ich glaube, die wußten nur, daß du nicht mehr in Alice Springs im Krankenhaus warst.« »Wußten sie von unserem Einbruch?« »Bestimmt nicht.« Ich grinste. »Die kriegen Krämpfe, wenn sie dahinterkommen.« Jik und ich vermieden es tunlichst, daran zu denken, was passiert wäre, wenn ich geradewegs zu ihnen hinuntergelaufen wäre, aber ich sah ihm an, daß er es wußte. Da sie Sarah als Geisel hielten, hätte ich mit Greene das Hilton verlassen müssen und nur noch hoffen können. Hoffen können, daß man mich wider Erwarten noch einmal mit dem Leben davonkommen ließ. »Ich habe Hunger«, sagte ich. Sarah lächelte. »Futtern kannst du immer, hm?« Wir aßen in einem kleinen B.Y.O.-Restaurant in der Nähe, wo sich die Gäste an allen Tischen darüber unterhielten, auf wen sie im Cup gesetzt hatten. »Du liebe Zeit«, rief Sarah plötzlich. »Das habe ich ganz vergessen.« »Was denn?« »Du hast doch gewonnen«, sagte sie. »Du hast Ringwood gewettet.« »Aber...«, setzte ich an. »Er hatte die Elf.« 188
»Ich fasse es nicht.« Sie öffnete ihre Handtasche und zog ein dickes Bündel Banknoten hervor. Irgendwie war es ihr gelungen, der brenzligen Situation im Hilton mit der cremefarbenen Ledertasche am Arm zu entkommen. Wie Frauen mit ihrer Handtasche verwachsen waren, hatte mich schon manches Mal verblüfft, jedoch nie mehr als heute. »Er stand vierhundertzehn zu zehn«, sagte sie. »Zwanzig habe ich für dich gesetzt, du kriegst also achthundert Dollar, und ich finde das unerhört.« »Teilen wir doch«, meinte ich lachend. Sie schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall. Ich dachte offen gestanden, er sei ohne jede Chance, und nur um dich von deiner unmöglichen Wettmethode zu kurieren, habe ich einen Zwanziger auf ihn gesetzt, sonst hätte ich es bei zehn belassen.« »Ich stehe sowieso bei Jik in der Kreide«, sagte ich. »Das eilt nicht«, sagte er. »Wir rechnen später ab. Soll ich dein Steak schneiden?« »Gern.« Er schnitt es mir klein und schob mir den Teller mit bereitliegender Gabel wieder hin. »Was gab es sonst noch auf der Rennbahn?« fragte ich und spießte den ersten saftigen Happen auf. »Wen habt ihr gesehen?« Das Steak schmeckte so gut, wie es aussah, und mir wurde bewußt, daß ich mich, auch wenn meine Blessuren noch schmerzten, nicht mehr wie ausgewrungen fühlte. Offenbar war ich wirklich auf dem Weg der Besserung. »Greene haben wir auf der Rennbahn nicht gesehen«, sagte Jik. »Auch den Jungen und den Schrank nicht.« »Aber sie werden euch gesehen haben.« »Meinst du?« fragte Sarah. »Ich nehme an, sie sind euch von der Rennbahn aus einfach zum Hilton nachgefahren.« 189
»Heiland«, stöhnte Jik. »Wir haben nichts davon gemerkt. Da war ein Mordsverkehr.« Ich nickte. »Und alles im Kriechtempo. Wenn Greene nur drei Wagen hinter euch war, konntet ihr ihn schon nicht mehr entdecken, aber er konnte euch gut im Blick behalten.« »Tut mir wirklich leid, Todd.« »Sei nicht albern. Außerdem ist nichts passiert.« »Bloß, daß ich immer noch nichts zum Anziehen habe«, meinte Sarah. »Du siehst blendend aus«, sagte ich zerstreut. »Wir haben eine Frau getroffen, die ich aus Sydney kenne«, erzählte Sarah. »Die ersten beiden Rennen haben wir uns zusammen angeschaut und uns zwischendurch mit ihrer Tante unterhalten. Und als Jik dann wiederkam, haben wir mit einem Fotografen gesprochen, den wir beide kennen... es wird also, wie du es wolltest, leicht nachzuweisen sein, daß Jik den ganzen Nachmittag beim Pferderennen war.« »Von Wexford habt ihr nichts gesehen?« »Nicht, wenn deine Zeichnung stimmt«, sagte Sarah. »Dagewesen sein kann er natürlich trotzdem. Wer erkennt schon in so einem Trubel einen völlig Unbekannten anhand einer Skizze?« »Wir haben mit allen möglichen Leuten geredet«, sagte Jik. »Mit jedem, den Sarah auch nur entfernt kannte. Immer unter dem Vorwand, ich sei ihr frischgebackener Ehemann.« »Mit deiner Verabredung vom Samstag haben wir uns auch unterhalten«, ergänzte Sarah nickend. »Oder vielmehr, er hat uns angesprochen.« »Hudson Taylor?« fragte ich. »Der Mann, den du mit Wexford hast reden sehen«, sagte Jik. »Er fragte, ob du auch da wärst«, sagte Sarah. »Denn dann hätte er sich gern noch mal mit dir unterhalten. Wir sagten, wir würden es dir ausrichten.« 190
»Sein Pferd ist ganz gut gelaufen, oder?« sagte ich. »Unser Gespräch war vorher. Wir haben ihm noch Glück gewünscht, und er meinte, das könne er gebrauchen.« »Er wettet ganz gern«, entsann ich mich. »Wer denn nicht?« »Wieder ein Auftrag gestorben«, sagte ich. »Er wollte Vinery malen lassen, wenn er siegt.« »Du verkaufst dich wie eine Hure«, sagte Jik. »Das ist ja schon unanständig.« »Und außerdem«, ergänzte Sarah vergnügt, »hast du auf Ringwood mehr gewonnen, als du für das Bild bekommen hättest.« Ich verzog das Gesicht, und Jik lachte. Wir tranken Kaffee, kehrten zum Motel zurück und gingen auf unsere Zimmer. Fünf Minuten später klopfte Jik bei mir an. »Komm rein«, empfing ich ihn an der Tür. Er grinste. »Du hast mich erwartet.« »Halbwegs.« Er setzte sich in den Drehsessel und drehte sich. Sein Blick fiel auf meinen schmalen Koffer, der auf einer der Liegen lag. »Was hast du mit den ganzen Sachen aus der Galerie gemacht?« Ich sagte es ihm. Er hörte auf zu kreisen und saß still. »Du verlierst keine Zeit, was?« sagte er schließlich. »In ein paar Tagen fahre ich nach Hause«, erwiderte ich. »Und bis dahin?« »Ehm... bis dahin will ich Wexford, Greene, dem Schrank, dem Jungmaler und den beiden Schlägern, die mich auf dem Balkon in Alice gestellt haben, immer einen Sprung voraus sein.« »Nicht zu vergessen unseren Kopierkünstler, Harley Renbo.« Ich dachte darüber nach. »Ihm auch«, sagte ich. »Meinst du, das kriegen wir hin?« 191
»Wir nicht. Damit ist mal Schluß. Jetzt fährst du mit Sarah nach Hause.« Er schüttelte bedächtig den Kopf. »Das wäre auch nicht sicherer, als wenn wir bei dir bleiben. Wir sind zu leicht zu finden. Schließlich stehen wir im Telefonbuch von Sydney. Was hindert denn Wexford, mit etwas Gefährlicherem als einem Feuerzeug bei unserem Boot aufzukreuzen?« »Dann kannst du ihm ja erzählen, was ich dir gerade erzählt habe.« »Und deine ganze Mühe wäre umsonst.« »Manchmal muß ein Rückzug eben sein.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn wir bei dir bleiben, braucht es gar nicht dazu zu kommen. Wer wagt, gewinnt. Und überhaupt« – das alte Feuer funkelte in seinen Augen –, »das wird doch spannend. Katz und Maus einmal anders. Mit Katzen, die nicht wissen, daß sie Mäuse sind, und einer Maus, die weiß, daß sie eine Katze ist.« Mir kam es eher wie ein Stierkampf vor, bei dem ich derjenige war, der einladend die Capa schwenkte. Oder wie ein Zauberkunststück, bei dem man mit der einen Hand ablenkt, während die andere den Trick ausführt. Alles in allem gefiel mir die Vorstellung vom Zauberkunststück besser. Dabei konnte man nicht so leicht aufgespießt werden.
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Einen großen Teil der Nacht hindurch studierte ich das Kundenverzeichnis Übersee, vor allem, weil es mir immer noch schwerfiel, eine angenehme Schlafstellung zu finden, aber auch, weil nichts anderes zum Lesen da war. Nach und nach stellte sich heraus, daß ich noch viel zu wenig hatte mitgehen lassen. Das gestohlene Verzeichnis ging in Ordnung, aber zusammen mit einem Lagerkatalog entsprechend den Nummern in der rechten Spalte wäre es doppelt so nützlich gewesen. Andererseits waren die Verzeichnisnummern auf eine bestimmte Art codiert, und wenn ich sie mir richtig anschaute, trat vielleicht ein erkennbares Schema zutage. Die allermeisten, zumal in dem großen Verzeichnis vorn, begannen mit dem Buchstaben M. In dem zweiten, kleineren Verzeichnis fingen weniger Nummern mit M an, dafür mehr mit S, A, W und B. Donalds Nummer begann mit M. Maisies mit einem S. Angenommen, das M stand einfach für Melbourne und das S für Sydney, dachte ich, beides also für die Stadt, wo sie ihre Bilder gekauft hatten. Was hieß dann A, W und B? Adelaide, Wagga Wagga und Brisbane? Alice? Im ersten Verzeichnis schienen die Buchstaben und Zahlen hinter dem M keinem bestimmten Muster zu folgen. Im zweiten jedoch war der dritte Buchstabe immer ein K, der letzte immer ein R, und die Zahlen waren, wenn auch auf verschiedene Länder verteilt, mehr oder minder fortlaufend. Sie gingen bis zur 54, verkauft an einen Mr. Norman Updike in Auckland, Neuseeland. Die vollständige Katalognummer in seinem Eintrag lautete WHK54R. Der Eintrag war erst eine Woche alt, und Mr. Updike war nicht durchgestrichen. 193
Alle Bilder im kleinen Verzeichnis waren in den letzten drei Jahren verkauft worden. Die frühesten Daten im großen Verzeichnis reichten fünfeinhalb Jahre zurück. Ich fragte mich, wie es vor fünfeinhalb Jahren angefangen hatte – mit der Galerie oder mit der Idee. War Wexford von Hause aus ein Gauner, der sich bewußt eine eindrucksvolle Fassade zugelegt hatte, oder war er ein ehemals ehrbarer Kunsthändler, der kriminelle Möglichkeiten für sich entdeckt hatte? Nach dem soliden Eindruck, den die Galerie machte, und nach meiner bisherigen Einschätzung von Wexford hätte ich auf letzteres getippt. Aber die ausgeprägte Gewaltbereitschaft paßte nicht dazu. Ich seufzte, legte den Hefter weg und löschte das Licht. Lag im Dunkeln, dachte an das Telefongespräch, das ich geführt hatte, nachdem Jik wieder hinunter zu Sarah gegangen war. Vom Motel aus war die Verbindung nicht so leicht herzustellen gewesen wie vom Hilton, aber dann war sie doch einwandfrei. »Haben Sie mein Telegramm bekommen?« hatte ich gefragt. »Seit einer halben Stunde warte ich auf Ihren Anruf.« »Entschuldigung.« »Um was geht’s denn?« »Ich habe Ihnen einen Brief geschrieben«, antwortete ich. »Jetzt möchte ich Ihnen sagen, was drinsteht.« »Aber...« »Hören Sie zu«, sagte ich. »Reden können Sie nachher.« Ich sprach ziemlich lange, während vom anderen Ende nur gelegentlich ein Brummen kam. »Wissen Sie das alles genau?« »Das meiste schon«, sagte ich. »Manches kann ich nur vermuten.« »Wiederholen Sie’s.« »Gern«, und ich erzählte die ganze Geschichte noch einmal. »Ich habe alles auf Band aufgenommen.« 194
»Gut.« »Hm... Was haben Sie denn jetzt vor?« »Ich fliege bald nach Hause. Bis dahin stecke ich weiter meine Nase in Dinge, die mich nichts angehen.« »Das kann ich nicht gutheißen.« Ich grinste den Hörer an. »Das glaube ich Ihnen, aber wenn ich in England geblieben wäre, hätten wir das alles nicht herausbekommen. Und noch eins – kann ich Sie per Telex erreichen, wenn mir etwas auf den Nägeln brennt?« »Telex? Augenblick.« Ich wartete. »So, da wären wir.« Er gab mir eine Nummer. Ich notierte sie. »Richten Sie jede Mitteilung an mich persönlich, und schreiben Sie ›Dringend‹ dazu.« »Gut«, sagte ich. »Und können Sie die Antwort auf drei Fragen für mich herausfinden?« Er hörte zu und meinte, er könne. »Vielen Dank«, sagte ich. »Und schlafen Sie gut.« Sarah und Jik empfingen mich am nächsten Morgen träge und mit schweren Lidern. Eine erfolgreiche Nacht, wie es aussah. Wir meldeten uns im Motel ab, luden meinen Koffer in den Kofferraum und setzten uns ins Auto, um den Tagesablauf zu planen. »Können wir bitte endlich unsere Sachen aus dem Hilton holen?« fragte Sarah bedrückt. Jik und ich sagten wie aus einem Mund: »Nein.« »Ich ruf da jetzt mal an«, entschied Jik. »Sie sollen unser Zeug zusammenpacken und es für uns aufbewahren, und wegen der Rechnung sage ich ihnen, daß sie einen Scheck von mir bekommen.« Er stieg wieder aus, um das zu erledigen. »Wenn du was brauchst, kauf es doch von meinem Wettgewinn«, wandte ich mich an Sarah. Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab noch Geld. Das ist es nicht. Ich wünschte nur... ich wünschte, das alles wäre vorbei.« 195
»Ist es auch bald«, sagte ich ruhig. Sie seufzte schwer. »Was wäre für dich das ideale Leben?« fragte ich. »Oh...« Sie schien überrascht. »Im Moment möchte ich, glaube ich, nur mit Jik auf dem Boot sein und eine schöne Zeit haben wie vor deinem Besuch.« »Und so soll es bleiben?« Sie sah mich grübelnd an. »Du glaubst vielleicht, ich wüßte nicht, daß Jik ein komplizierter Mensch ist, Todd, aber man braucht doch nur seine Bilder anzusehen... Da wird mir heiß und kalt. Das ist eine Seite von Jik, die ich nicht kenne, denn seit wir zusammen sind, hat er noch nichts gemalt. Du befürchtest vielleicht, daß der Welt etwas verlorengeht, wenn Jik erst mal glücklich ist, aber ich mache mir nichts vor, ich weiß, daß sich das, was ihn dazu treibt, so zu malen, auf jeden Fall wieder durchsetzt... Deshalb sind diese ersten gemeinsam verlebten Monate für mich unglaublich kostbar... Und nicht nur die äußere Gefahr, in die du uns gebracht hast, macht mich fertig, sondern auch das Gefühl, daß die schönste Zeit für uns jetzt schon vorbei ist – weil du ihn an seine Malerei erinnerst und er, wenn du fort bist, gleich wieder damit anfängt... vielleicht Monate früher, als er es sonst getan hätte.« »Fahr mit ihm segeln«, sagte ich. »Auf dem Meer ist er immer glücklich.« »Dir ist das ganz egal, oder?« Ich sah ihr in die kummervollen Augen. »Ihr seid mir alles andere als egal.« »Dann gnade Gott denjenigen, die du haßt.« Und mir, dachte ich, gnade Gott, wenn ich die Frau meines ältesten Freundes noch lieber gewinne. Ich wandte den Blick von ihr und sah aus dem Fenster. Gegen Zuneigung war nichts zu sagen. Mehr als Zuneigung wäre fatal. Jik kam mit zufriedener Miene wieder. »Alles gewickelt. Und es hieß, für dich, Todd, sei vor ein paar Minuten ein Brief abgegeben worden. Sie wollten eine Nachsendeadresse haben.« 196
»Was hast du ihnen gesagt?« »Du würdest selbst anrufen.« »Gut... machen wir uns auf den Weg.« »Wohin?« »Nach Neuseeland, meinst du nicht?« »Das sollte weit genug sein«, sagte Jik trocken. Er fuhr zum Flughafen, der voller Leute war, die vom Cup nach Hause wollten. »Wenn Wexford und Greene uns suchen«, sagte Sarah, »dann haben sie doch bestimmt den Flughafen im Visier.« Sonst müßten wir eine Fährte legen, dachte ich im stillen – und auch Jik, den ich eingeweiht hatte, sprach es nicht aus. »In der Öffentlichkeit können sie nichts machen«, sagte er beschwichtigend. Wir kauften unsere Tickets und stellten fest, daß wir entweder gegen Mittag direkt oder in knapp einer halben Stunde über Sydney nach Auckland fliegen konnten. »Über Sydney«, meinte Sarah entschieden, als schöpfe sie Kraft aus der Vorstellung, daheim zwischenzulanden. Ich schüttelte den Kopf. »Auckland direkt. Schauen wir mal, ob es im Restaurant noch Frühstück gibt.« Wir drängten uns an der betont auf Wand- und Armbanduhr blickenden Bedienung vorbei und bestellten einen Berg Eier mit Speck. »Was wollen wir in Neuseeland?« fragte Sarah. »Mit dem Besitzer eines Bildes sprechen und ihm raten, eine Zusatzversicherung abzuschließen.« »Und das soll der Grund sein?« »Ein sehr guter«, sagte ich. »Ich sehe nicht ein, warum wir so weit reisen müssen, wenn Jik sagt, ihr habt in der Galerie genug gefunden, um die ganze Sache auffliegen zu lassen.«
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»Hm...«, sagte ich. »Weil wir sie nicht auffliegen lassen wollen. Der Laden soll intakt sein, wenn wir ihn der Polizei übergeben.« Sie musterte mein Gesicht. »Du sprichst in Rätseln.« »Nicht auf der Leinwand«, warf Jik ein. Nach dem Frühstück schlenderten wir durch die Geschäfte auf dem Flughafen, kauften einmal mehr Zahnputzzeug und dergleichen für Jik und Sarah und eine weitere Flugtasche. Keine Spur von Wexford, Greene, dem Jungen, dem Schrank, Renbo oder unserem Beschatter aus Alice Springs. Wenn sie uns hier entdeckt hatten, war uns das entgangen. »Ich werde mal im Hilton anrufen«, sagte ich. Jik nickte. Ich telefonierte in Sicht- und Hörweite von ihm und Sarah. »Sie hatten um eine Nachsendeadresse gebeten«, sagte ich der Frau am Empfang. »Leider habe ich noch keine. Ich bin auf dem Weg nach Neuseeland. In ein paar Stunden fliege ich nach Auckland.« Sie fragte, was mit dem Brief geschehen solle. »Ehm... würden Sie ihn öffnen und mir vorlesen?« Aber gern, sagte sie. Der Brief war von Hudson Taylor, der bedauerte, mich auf der Rennbahn nicht gesehen zu haben, und sich erbot, mir sein Weingut zu zeigen, falls ich Interesse hätte, so etwas in Australien zu besichtigen. Vielen Dank, sagte ich. Nichts zu danken, sagte die Empfangsdame. Ich bat sie, falls nach mir gefragt würde, mein Reiseziel anzugeben. Aber gern, selbstverständlich. In der nächsten Stunde rief Jik die Autovermietung an, um die Rechnung zu begleichen und Bescheid zu sagen, daß der Wagen auf dem Flughafenparkplatz abgestellt sei, und ich gab meinen Koffer bei der Air New Zealand auf. Pässe waren kein Problem, da der Reiseverkehr zwischen Australien und Neuseeland ebenso frei war wie zwischen England und Irland.
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Von Wexford und Greene immer noch keine Spur. Wir saßen in der Abflughalle, und jeder hing seinen Gedanken nach. Wieder entdeckte ich den Beobachter erst, als unser Flug aufgerufen wurde. Wieder lief es mir kalt über den Rücken. Ich war blind gewesen. Blind und blöd. Nicht Wexford, nicht Greene, weder Renbo noch der Junge noch irgendein ruppiger Kraftmensch. Ein hübsches Tageskleid, hübsche Frisur, unauffällige Handtasche, einfache Schuhe. Ein ruhiges, konzentriertes Gesicht. Ich bemerkte sie, weil sie Sarah anstarrte. Sie stand vor der Abflughalle und schaute hinein. Die Frau, die mich bei Yarra River Fine Arts empfangen, mir einen Katalog in die Hand gedrückt und mich nachher auch hinausgelassen hatte. Als fühlte sie sich beobachtet, richtete sie plötzlich den Blick auf mein Gesicht. Ich sah mit Pokermiene sofort weg und hoffte, sie wußte jetzt nicht, daß ich sie gesehen, oder zumindest nicht, daß ich sie erkannt hatte. Jik, Sarah und ich standen auf und zogen mit allen anderen zum Ausgang. In den Scheiben spiegelte sich die Frau: Regungslos sah sie uns nach. Ohne mich umzudrehen, ging ich hinaus zum Flugzeug. Mrs. Norman Updike stand in der Tür, schüttelte den Kopf und sagte, ihr Mann werde nicht vor sechs zu Hause sein. Sie war dünn, hatte ein verkniffenes Gesicht und redete mit stark neuseeländischem Einschlag. Wenn wir ihren Mann sprechen wollten, müßten wir noch einmal herkommen. Sie musterte uns: Jik mit seinem verwegenen blonden Bart, Sarah mit ihrem etwas verknitterten hellen Safarikleid und mich mit dem Arm in der Schlinge unterm Hemd, die Jacke lose über der Schulter. Ein Trio, das man so leicht nicht vergaß. Mit steil herabgezogenen Mundwinkeln beobachtete sie unseren Rückmarsch zur Straße. »Eine Seele von Mensch«, meinte Jik leise. 199
Wir fuhren mit dem am Flughafen gemieteten Wagen davon. »Wohin jetzt?« fragte Jik. »Ich brauche was zum Anziehen.« Sarahs Machtwort. Die Läden waren in der Queen Street, wie sich herausstellte, und noch eine halbe Stunde geöffnet. Jik und ich blieben im Auto, warteten und sahen die Welt an uns vorbeiziehen. »Das ist jetzt die Zeit, wo all die Vöglein aus ihren Bürokäfigen kommen«, sagte Jik gutgelaunt. »Na und?« »Ich zähle immer die ohne Büstenhalter.« »Und dabei bist du verheiratet.« »Alte Gewohnheiten wird man schwer los.« Wir zählten acht klare Fälle und ein Vielleicht, bis Sarah zurückkam. Sie trug einen hell olivgrünen Rock mit einer rosa Bluse und erinnerte mich an Pistazieneis. »So ist es besser«, sagte sie und warf zwei prall gefüllte Tragetüten auf den Rücksitz. »Jetzt können wir.« Die therapeutische Wirkung der neuen Kleider hielt während unseres ganzen Aufenthalts in Neuseeland an und erstaunte mich maßlos. Sie fühlte sich offenbar sicherer, wenn sie frisch und sauber aussah, und damit besserte sich auch ihre Gemütsverfassung. Baumwollpanzer, dachte ich. Bügelfrei und kugelsicher. Selbstschutz von der Stange. Ohne Eile kehrten wir zu der Anhöhe über der Bucht zurück und zu der dichtbebauten Vorortstraße, in der Norman Updike wohnte. Das Haus der Updikes war groß, aber eingezwängt zwischen den Nachbarn, und den Grund für das Gedränge erkannte man erst, wenn man hineinging. Wegen der schönen Aussicht nämlich waren so viele Häuser wie irgend möglich hier aufgestellt worden. Die Stadt selbst dehnte sich offenbar meilenweit entlang der zerklüfteten Küste aus, und die Grundstücke erschienen winzig klein. Norman Updike entpuppte sich als so aufgeschlossen, wie seine Frau zugeknöpft war. Sein runder, blanker Glatzkopf saß 200
auf einem rundlichen kleinen Körper, und er nannte seine bessere Hälfte ganz ohne Sarkasmus Zuckerl. Jik und ich sagten, wir seien Maler, würden uns sehr für das bekannte Bild interessieren, das er kürzlich erworben habe, und wären sehr dankbar, wenn wir es einen Augenblick bewundern dürften. »Kommen Sie auf Empfehlung der Galerie?« fragte er und strahlte vor Freude über das indirekte Kompliment an seinen Kunstverstand und seinen Reichtum. »Sozusagen«, antworteten wir, und Jik fügte hinzu: »Mein Freund hier ist in England ein bekannter Pferdemaler und mit seinen Bildern in vielen führenden Galerien vertreten; auch die Royal Academy hat ihn schon öfter ausgestellt...« Ich fand, er trug ein bißchen dick auf, aber Norman Updike war beeindruckt und öffnete seine Tür weit. »Bitte sehr. Kommen Sie rein. Das Bild hängt im Wohnzimmer. Hier entlang, Fräulein, hier entlang.« Er führte uns in einen großen, vollgestopften Raum mit dunklem, samtweichem Teppichboden, großen dunklen Schränken und der herrlichen Aussicht auf sonnenbeschienenes Wasser. Zuckerl saß stur vor dem Fernseher, in dem eine hirnrissige britische Klamotte lief, und warf uns zur Begrüßung einen säuerlichen Blick zu. »Hier drüben.« Norman Updike strahlte und schob sich an einer Abteilung dicker Polstersessel vorbei. »Na, was sagen Sie jetzt?« Mit Besitzerstolz deutete er auf das Ölbild an seiner Wand. Ein eher kleines Bild, 35 mal 45 Zentimeter. Ein schwarzes Pferd, dessen überlanger Hals sich vor dem blauweißen Himmel wölbte, ein gestutzter Schweif, im Vordergrund gelbes Gras, und das Ganze mit einem alt anmutenden Firnis überzogen. »Herring«, meinte ich ehrfürchtig.
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Norman Updikes Lächeln wurde noch breiter. »Ich sehe, Sie kennen sich aus. Das ist einiges wert, das Bild.« »Eine ganze Menge«, stimmte ich bei. »Ich glaube, da habe ich einen guten Fang gemacht. Die Galerie meint, das ließe sich jederzeit mit Gewinn verkaufen.« »Darf ich mir ansehen, wie es gemalt ist?« fragte ich höflich. »Bitte sehr.« Ich ging näher ran. Es war sehr gut. Es sah wirklich nach Herring, gestorben 1865, aus. Aber irgendwie sah es auch nach dem pingeligen Renbo aus. Nur mit dem Mikroskop und einer chemischen Analyse konnte man das klären. Ich trat zurück und schaute mich im Zimmer um. Sonst sprang nichts Wertvolles ins Auge, und die wenigen anderen Bilder waren Kunstdrucke. »Sehr schön«, sagte ich bewundernd, wieder dem Herring zugewandt. »Der Stil ist unverkennbar. Ein wahrer Meister.« Updike strahlte. »Sie sollten sich vor Einbrechern hüten.« Er lachte. »Hörst du, was der junge Mann sagt, Zuckerl? Wir sollen uns vor Einbrechern hüten.« Zuckerls Augen schenkten mir zwei Sekunden unwillige Beachtung und kehrten zum Bildschirm zurück. Updike klopfte Sarah auf die Schulter. »Ihr Freund braucht sich wegen Einbrechern keine Sorgen zu machen.« »Wieso nicht?« fragte ich. »Das ganze Haus ist mit Alarmanlagen gesichert«, strahlte er. »Keine Sorge, ein Einbrecher käme nicht weit.« Auch Jik und Sarah blickten sich im Zimmer um und sahen kaum etwas, das sich zu stehlen lohnte. Mit Sicherheit nichts, was Alarmanlagen im ganzen Haus rechtfertigte. Updike beobachtete uns, und sein Lächeln wurde breiter. »Soll ich den jungen Leuten unsere Schätze zeigen, Zuckerl?« fragte er.
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Zuckerl gab ihm nicht mal eine Antwort. Aus dem Fernsehen kam Konservengelächter. »Das würde uns sehr interessieren«, sagte ich. Er war sich der Bewunderung für das, was er uns zeigen wollte, so sicher, daß er schon vorher selbstzufrieden grinste. Mit zwei, drei Schritten war er bei einem der großen Einbauschränke und riß schwungvoll die Flügeltür auf. Im Innern waren ein halbes Dutzend tiefe Fächer, vollgestellt mit aufwendigen Jadeschnitzereien. Hellrosa, cremeweiß und hellgrün, glatt, poliert, kunstvoll und teuer; jedes Stück stand auf einem robusten schwarzen Sockel. Jik, Sarah und ich gaben beifällige Laute von uns, und Norman Updike strahlte um so mehr. »Hongkong natürlich«, sagte er. »Ich habe dort jahrelang gearbeitet, müssen Sie wissen. Hübsche kleine Sammlung, was?« Er ging zum nächsten dunklen Schrank und zog wieder die Flügeltür auf. Im Innern weitere Fächer, weitere Schnitzereien. »Von Jade verstehe ich leider nicht viel«, sagte ich entschuldigend. »Ich kann Ihre Sammlung gar nicht voll würdigen.« Er erzählte uns mehr über die kleinen Kostbarkeiten, als wir eigentlich wissen wollten. Sie waren in den vier Schränken im Wohnzimmer untergebracht, aber auch im Schlafzimmer und in der Diele. »In Hongkong konnte man Jade sehr billig kaufen«, sagte er. »Und ich war über zwanzig Jahre dort.« Jik und ich wechselten Blicke. Ich nickte leicht. Schon gab Jik Norman Updike die Hand, legte den Arm um Sarah und erklärte, wir müßten gehen. Updike sah fragend zu Zuckerl hinüber, die immer noch am Fernseher klebte und auf die Rolle der Gastgeberin pfiff. Als sie keine Anstalten machte, in unsere Richtung zu blicken, zuckte er gutmütig die Achseln und kam mit uns zur Haustür. Jik und Sarah gingen hinaus, 203
sobald er sie geöffnet hatte, und ließen mich mit ihm in der Diele allein. »Mr. Updike«, sagte ich. »Wer hat Ihnen in der Galerie den Herring verkauft?« »Mr. Grey«, antwortete er prompt. »Mr. Grey... Mr. Grey...« Ich runzelte die Stirn. »Ein netter Mann«, nickte Updike strahlend. »Ich sagte ihm, daß ich von Bildern wenig verstehe, aber er hat mir versichert, dieser Herring würde mir ebensoviel Freude bereiten wie meine Jadesammlung.« »Sie haben ihm von Ihrer Sammlung erzählt?« »Natürlich. Ich meine... wenn man von einer Sache nichts versteht, na ja... dann zeigt man eben, daß man sich dafür mit etwas anderem auskennt. Ist doch nur menschlich, oder?« »Ganz menschlich«, stimmte ich lächelnd bei. »Wie hieß noch mal Mr. Grey s Galerie?« »Was?« Er stutzte. »Ich denke, er hat Sie auf mein Bild hier hingewiesen?« »Ich gehe in so viele Galerien, daß ich dummerweise vergessen habe, welche es war.« »Ruapehu Fine Arts«, sagte er. »Ich war letzte Woche unten.« »Unten...?« »In Wellington.« Sein Lächeln kippte. »Also was hat denn das zu bedeuten?« Argwohn huschte über sein rundes Gesicht. »Weshalb sind Sie hergekommen? Ich glaube, Mr. Grey hat Sie gar nicht geschickt.« »Nein«, gab ich zu. »Aber wir führen nichts gegen Sie im Schilde, Mr. Updike. Mein Freund und ich sind wirklich Maler. Und... nachdem wir jetzt Ihre Jadesammlung gesehen haben, halten wir es wirklich für angebracht, Sie zu warnen. Wir haben von mehreren Leuten gehört, die Bilder gekauft haben und bei denen kurz darauf eingebrochen wurde. Ich an Ihrer
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Stelle würde mich vergewissern, ob der Einbruchsalarm, den Sie hier haben, in einwandfreiem Zustand ist.« »Aber... du meine Güte...« »Da ist eine Bande am Werk«, sagte ich. »Die gehen Bilderkäufen nach und brechen bei den Käufern ein. Wahrscheinlich nehmen sie an, wer sich einen Herring oder so etwas leisten kann, hat auch noch andere wertvolle Sachen im Haus.« Er sah mich an, als ginge ihm ein Licht auf. »Junger Mann, wollen Sie damit sagen, weil ich Mr. Grey von meiner Sammlung erzählt habe...« »Sagen wir mal«, erwiderte ich, »es wäre ratsam, besondere Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen.« »Aber... für wie lange?« Ich schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht, Mr. Updike. Vielleicht für immer.« Sorge stand auf seinem runden, gemütlichen Gesicht. »Und warum haben Sie sich die Mühe gemacht, hierherzukommen und mir das alles zu erzählen?« »Um dieser Bande das Handwerk zu legen, würde ich noch viel mehr tun.« Da er noch einmal fragte, warum, sagte ich es ihm. »Mein Cousin hat ein Bild gekauft. Dann wurde bei ihm eingebrochen. Seine Frau hat die Einbrecher gestört und wurde umgebracht.« Norman Updike sah mir aufmerksam ins Gesicht. Ich hätte meinen ungebrochenen Zorn nicht vor ihm verbergen können, selbst wenn ich es gewollt hätte. Ihn schauderte. »Bin ich froh, daß Sie hinter mir nicht her sind«, sagte er. Ich brachte ein Lächeln zustande. »Mr. Updike... seien Sie vorsichtig. Eines Tages kommt dann vielleicht die Polizei zu Ihnen und fragt, wo Sie das Bild gekauft haben... Wenn es nach mir geht, kommt sie bestimmt.«
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Das runde Gesicht lächelte wieder, ruhig und gefaßt. »Ich werde sie erwarten«, sagte er.
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Jik brachte uns von Auckland nach Wellington; acht Stunden mit dem Wagen. Wir übernachteten in einem Motel in Hamilton, südlich von Auckland, und fuhren am Morgen weiter. Niemand folgte, belästigte oder bespitzelte uns. Alles in allem war ich mir sicher, daß man uns in Auckland nicht abgepaßt hatte und daß niemand von unserem Besuch bei den Updikes wußte. Wexford konnte sich allerdings denken, daß das Kundenverzeichnis Übersee in meinen Händen war, und er wußte, daß es mehrere neuseeländische Adressen enthielt. Welcher davon ich einen Besuch abstatten würde, konnte er nicht ahnen, doch er würde sicher davon ausgehen, daß mich die Adressen mit dem Kennbuchstaben W direkt zu der Galerie in Wellington führten. Also würde er dort auf mich warten... »Du siehst furchtbar grimmig aus, Todd«, meinte Sarah. »Entschuldigung.« »Woran hast du gedacht?« »Nur an die nächste Möglichkeit zum Mittagessen.« Sie lachte. »Wir haben doch gerade erst gefrühstückt.« Wir passierten die Abzweigung nach Rotorua und dem Land der heißen Quellen. »Siedeschlammpackung gefällig«? fragte Jik. Und Sarah sagte, daß es in der Gegend ein mit unterirdischem Dampf gespeistes Kraftwerk gab und gräßliche schwarze Krater, die nach Schwefel stanken, und daß die Erdkruste stellenweise so dünn war, daß sie bebte und hohl klang. Als Kind sei sie einmal an einem Ort namens Waiotapu gewesen, der ihr schreckliche Alpträume beschert habe, und da wolle sie nicht noch mal hin. »Pah«, meinte Jik wegwerfend, »die haben doch nur alle vierzehn Tage mal ein Erdbeben.« 207
»Mir hat jemand erzählt, in Wellington bebt die Erde so oft, daß alle neuen Bürobauten in Wiegen gebettet werden«, sagte Sarah. »Schlaf, Wolkenkratzer, schlaf ein«, sang Jik mit Säuselstimme. Die Sonne schien unverzagt, und die Landschaft war grün und voller unbekannter Pflanzen. Gleißende Helligkeit wechselte mit geheimnisvollen, tiefen Schatten; es gab Felsen, Schluchten und himmelhohe Bäume, schwerelos wogendes Gras, schulterhoch. Ein fremdes Land, wild und wunderschön. »Schaut euch dieses Chiaroscuro an«, sagte Jik, als wir in ein besonders reizvoll sich windendes Tal eintauchten. »Chiaroscuro?« fragte Sarah. »Licht und Schatten«, sagte Jik. »Kontrast und Gleichgewicht. Der Fachausdruck dafür. Die ganze Welt ist ein Chiaroscuro, und die Menschen sind nur Tupfer aus Licht und Schatten.« »Das ganze Leben ein Helldunkel«, sagte ich. »Wie unsere Seelen.« »Der Feind«, sagte ich, »ist grau.« »Und Grau entsteht, wenn man Rot, Weiß und Blau zusammenmixt«, ergänzte Jik und nickte. »Graues Leben, grauer Tod, alles vermengt zu einem einheitlichen grauen Nichts.« »Ihr beiden«, seufzte Sarah, »seid also alles andere als grau?« »Grey!« rief ich plötzlich. »Aber klar doch.« »Wovon redest du?« fragte Jik. »Grey hieß der Mieter der Vorstadtgalerie in Sydney, und Grey heißt der Mann, der Updike seinen sogenannten Herring verkauft hat.« »Ach herrje.« Sarahs Seufzer legte sich auf die Stimmung und trübte den strahlenden Tag. »Es tut mir leid«, sagte ich. 208
Es waren so viele, dachte ich bei mir. Wexford und Greene. Der Junge. Die Frau. Harley Renbo. Zwei Schläger in Alice Springs, wovon ich nur einen gesehen hatte. Der andere, der von hinten gekommen war, konnte der Schrank sein. Wenn nicht, kam der Schrank dazu. Und jetzt Grey. Und noch jemand, irgendwo. Mindestens neun. Vielleicht zehn. Wie sollte ich die alle zur Strecke bringen, ohne daß mir dabei die Luft abgedrückt wurde? Oder, schlimmer noch, nicht mir, sondern Jik und Sarah. Sobald ich einen Finger rührte, wuchs der Schlange ein neuer Kopf. Ich fragte mich, wer die Einbrüche ausführte. Schickten sie eine Handvoll Leute nach Übersee, oder spannten sie sozusagen Fremdarbeiter ein? Hatte im ersten Fall einer ihrer eigenen Leute Regina umgebracht? War mir Reginas Mörder schon über den Weg gelaufen? Hatte er mich in Alice Springs vom Balkon geworfen? Statt eine Antwort zu finden, fügte ich noch eine Frage hinzu... Wartete er auf mich in Wellington? Wir kamen am Nachmittag in der Hauptstadt an und stiegen wegen des herrlichen Blicks über den Hafen im Townhouse Hotel ab. Die Küstenlandschaft war so schön, daß sich Neuseeland einfach nicht erlauben durfte, häßliche Städte zu bauen. Für mich war das platte, versumpfte alte London zwar immer noch die großartigste aller großen Städte, aber das stand auf einem anderen Blatt. Wellington, neu und gepflegt, hatte Leben und Atmosphäre im Überfluß. Ich schlug die Ruapehu Fine Arts im Telefonbuch nach und fragte an der Rezeption des Hotels nach dem Weg. Sie hatten zwar von der Galerie noch nie gehört, meinten aber, die Straße 209
könne nur auf der anderen Seite der Altstadt sein – hinter Thorndon. Sie verkauften mir eine Straßenkarte zur besseren Orientierung und erzählten, Mount Ruapehu sei ein (mutmaßlich) erloschener Vulkan mit einem warmen Kratersee. Auf dem Weg von Auckland müßten wir an ihm vorbeigekommen sein. Ich bedankte mich und nahm die Karte mit hinauf zu Jik und Sarah. »Wir können zu der Galerie fahren«, sagte Jik. »Aber was machen wir, wenn wir dort sind?« »Durchs Fenster Fratzen schneiden?« »Zuzutrauen wäre euch das«, meinte Sarah. »Schauen wir’s uns einfach mal an«, schlug ich vor. »Die sehen uns ja nicht, wenn wir im Auto vorbeifahren.« »Und schließlich«, sagte Jik unüberlegt, »sollen sie ja wissen, daß wir hier sind.« »Wieso das denn?« fragte Sarah verblüfft. »Ach Gott«, sagte Jik. »Wieso?« hakte sie mit wiederaufsteigender Angst nach. »Frag Todd, es war seine Idee.« »Alter Scheißkerl«, sagte ich. »Wieso, Todd?« »Weil sie ihre ganze Energie darauf verwenden sollen, hier nach uns zu suchen, statt in Melbourne sämtliche Beweise verschwinden zu lassen. Wir wollen sie ja schließlich der Polizei überantworten, denn selbst verhaften können wir sie schlecht. Tja... und genauso schlecht wäre es, wenn die Polizei eingreift und keinen mehr zu fassen kriegt.« Sie nickte. »So habe ich das auch verstanden, als du sagtest, der Laden soll intakt sein. Aber davon, daß du sie bewußt auf unsere Fährte locken willst, war nicht die Rede.« »Todd hat doch die Kundenliste und die Bilder, die wir ihnen gestohlen haben«, sagte Jik, »und die werden sie natürlich 210
zurückhaben wollen. Todd möchte, daß sie sich ganz darauf konzentrieren, denn wenn sie meinen, die kriegen sie wieder und können uns das Maul stopfen...« »Jik«, unterbrach ich. »Mach einen Punkt.« Sarah blickte von mir zu ihm und wieder zurück. Ihre Angst wich einer Art ruhiger Resignation. »Wenn sie glauben, sie können sich ihre Sachen zurückholen und uns zum Schweigen bringen, werden sie alles daransetzen, uns zu finden und uns aus dem Weg zu räumen. Darin wollt ihr sie bestärken. Sehe ich das richtig?« »Nein«, sagte ich. »Das heißt, eigentlich schon.« »Suchen werden sie uns sowieso«, warf Jik ein. »Also stellen wir uns hin und rufen: ›Huhu, hier sind wir‹?« »Hm«, sagte ich, »es kann sein, daß sie das schon wissen.« »Meine Nerven«, stöhnte sie. »Also gut. Ich verstehe, was du vorhast, und ich verstehe, warum du es mir verschwiegen hast. Und ich finde, du bist ein Mistkerl. Wobei ich zugeben muß, daß du bis jetzt viel mehr erreicht hast, als ich gedacht hätte, und da wir immerhin noch alle am Leben sind und halbwegs gesund, können wir ihnen meinetwegen auch stecken, daß wir hier sind. Unter der Bedingung, daß wir dann in Deckung gehen, bis die Polizei in Melbourne zugeschlagen hat.« Ich küßte sie auf die Wange. »Abgemacht«, sagte ich. »Und wie stecken wir es ihnen?« Ich grinste sie an. »Fernmündlich.« Schließlich übernahm Sarah den Anruf sogar selbst, aus der Erwägung, daß ihr australisches Englisch weniger auffallen würde als das britische von Jik oder mir. »Ist dort die Ruapehu Fine Arts Gallery? Ah ja? Vielleicht können Sie mir weiterhelfen...«, sagte sie. »Ich würde gern mit dem Chef sprechen. Ja, sicher, aber es ist wichtig. Gut, ich warte.« Sie verdrehte die Augen und hielt die Sprechmuschel zu. »Anscheinend eine Sekretärin. Aus Neuseeland jedenfalls.« »Du machst das blendend«, sagte ich. 211
»Ja... hallo? Genau. Mit wem spreche ich denn bitte?« Sie riß die Augen auf. »Wexford? Ehm... also Mr. Wexford, bei mir waren gerade drei merkwürdige Gestalten, die sich ein Bild ansehen wollten, das ich vor einiger Zeit bei Ihnen gekauft habe. Komische Leute. Angeblich haben Sie die an mich verwiesen. Das kam mir spanisch vor. Ich habe sie nicht reingelassen, wollte mich aber vorsichtshalber noch bei Ihnen erkundigen. Haben Sie die zu mir geschickt, damit sie sich mein Bild ansehen?« Aus dem Hörer kam ein erregtes Gequake. »Beschreiben? Ein blonder junger Mann mit Bart, ein junger Mann mit einem verletzten Arm und eine ziemlich verlotterte junge Frau. Ich habe sie weggeschickt. Sie gefielen mir nicht.« Sie verzog das Gesicht und lauschte wieder dem Gequake. »Nein, natürlich habe ich ihnen keine Auskunft gegeben. Weil die mir doch nicht gefallen haben. Wo ich wohne? Na, hier in Wellington. Recht vielen Dank, Mr. Wexford, es hat mich sehr gefreut.« Sie legte auf, während es noch aus dem Hörer quakte. »Er wollte meinen Namen wissen«, sagte sie. »Große Klasse«, meinte Jik. »Eine echte Schauspielerin, meine Frau.« Wexford. Wexford selbst. Es hatte geklappt. Ich stieß im stillen einen Jauchzer aus. »Sollen wir denn weiterfahren, nachdem sie jetzt wissen, daß wir hier sind?« fragte ich. »Bloß nicht«, rief Sarah spontan. Sie sah zum Fenster hinaus auf den geschäftigen Hafen. »Es ist herrlich hier, und wir sind schon den ganzen Tag gefahren.« Ich widersprach nicht. Vielleicht war mehr als ein Telefonanruf nötig, um das Interesse der Gegenseite an Wellington wachzuhalten, und nur Sarah zuliebe wäre ich bereit gewesen, die Zelte hier abzubrechen. 212
»Wenn sie die Hotels einfach anrufen, finden sie uns ja nicht«, hob Jik hervor. »Auch im Townhouse nicht, denn sie fragen nach Cassavetes und Todd, nicht nach Andrews und Peel.« »Sind wir Andrews und Peel?« fragte Sarah. »Wir sind Andrews. Todd ist Peel.« »Schön zu wissen«, sagte sie. Mr. und Mrs. Andrews und Mr. Peel nahmen ohne Zwischenfall ihr Abendessen im Hotelrestaurant ein. Mr. Peel hatte aus der Erwägung, daß eine Armschlinge ein bißchen zu sehr auffiel, darauf verzichtet. Mr. Andrews hatte sich geweigert, aus der gleichen Erwägung seinen Bart abzunehmen. Zu gegebener Zeit sagten wir uns gute Nacht und gingen auf unsere Zimmer. Ich verbrachte ein Stündchen damit, die Pflaster aus Alice Springs von meinem Bein zu entfernen und die Näharbeit zu bewundern. Der Baum hatte Wunden gerissen, die mit den wohlberechneten Schnitten eines Skalpells wenig gemein hatten, und als ich nun die langen, gewundenen Gleise auf ihrem Damm aus roter, schwarzer und gelber Haut inspizierte, kam ich zu dem Schluß, daß die Ärzte hervorragend gearbeitet hatten. Der Sturz lag vier Tage zurück, und es waren nicht gerade vier ruhig verbrachte Tage, aber die Nähte hatten alles überstanden. Jetzt erst wurde mir bewußt, daß ich von meinem anfangs einfach gräßlichen Zustand so weit genesen war, daß ich kaum noch Beschwerden empfand. Schon erstaunlich, wie schnell der Körper sich erholt, wenn man ihn läßt. Ich überklebte die Andenken mit frischem Pflaster, das ich am Morgen in Hamilton zu diesem Zweck gekauft hatte, und fand sogar eine Lage im Bett, gegen die meine heilenden Knochen nicht streikten. Alles in allem, dachte ich vor dem Einschlafen zufrieden, ging es aufwärts.
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Man könnte wohl sagen, ich habe mich zu früh gefreut, oder ich habe zu vieles unterschätzt. Zum Beispiel das Ausmaß der Verzweiflung, die Wexford nach Neuseeland führte. Zum Beispiel den Zorn und die Intensität, mit der er nach uns suchte. Ebenso die Wirkung unseres Amateureinbruchs auf Profidiebe. Ebenso unseren Erfolg. Ebenso die Angst und die Wut, die wir ausgelöst hatten. Meine Vorstellung von Wexford, wie er sich in beinah komischer Zerknirschung das Resthaar raufte, war völlig daneben. Er verfolgte uns mit einer an Besessenheit grenzenden Entschlossenheit, verbissen, rabiat und schnell. Spät am Morgen weckte mich die Sonne eines warmen, windigen Frühlingstags; ich trank Kaffee aus dem Automaten, den es dafür auf jedem Zimmer gab, und dann rief Jik an. »Sarah sagt, sie muß sich heute die Haare waschen. Die seien verfilzt.« »Sieht man ihnen aber nicht an.« »Die Ehe gewährt ganz neue Einblicke in das Wesen der Frau. Jedenfalls wartet sie schon in der Halle auf mich, weil ich mit ihr Shampoo kaufen gehen soll, aber ich dachte, ich sag dir gerade Bescheid, daß wir weg sind.« Ich sagte unbehaglich: »Seht euch vor.« »Na klar«, sagte er. »Von der Galerie halten wir uns fern. Wir fahren nicht weit. Nur bis zur nächsten Drogerie. Ich melde mich, sobald wir zurück sind.« Vergnügt legte er auf, und fünf Minuten später klingelte das Telefon wieder. Ich nahm den Hörer ab. Es war die Frau an der Rezeption. »Ihre Freunde hätten gern, daß Sie zum Wagen kommen und mit ihnen fahren.« »Okay«, sagte ich. Ich fuhr in Hemdsärmeln mit dem Lift nach unten, gab meinen Zimmerschlüssel ab und ging durch die Glastür hinaus auf den windigen, sonnenbeschienenen Parkplatz. Dort sah ich 214
mich nach Jik und Sarah um, doch sie waren leider nicht die Freunde, die auf mich warteten. Vielleicht wäre ich besser gerüstet gewesen, hätte ich meinen Arm nicht unterm Hemd in der Schlinge gehabt. So packten sie mich einfach beim Schlafittchen, hoben mich in die Luft und schmissen mich ruck, zuck hinten in ihren Wagen. Drinnen saß Wexford als Einmann-Empfangskomitee. Die Augen hinter der dicken Brille blickten mit vierzig Grad minus, und von Zaghaftigkeit war jetzt nichts bei ihm zu erkennen. Er hatte mich praktisch zum zweiten Mal hinter seinem Fallgitter, und diesmal wollte er auf keinen Fall etwas verkehrt machen. Er trug wieder eine Fliege. Die flotten Punkte paßten schlecht zum Ernst der Sache. Die kräftigen Arme, die mich zu ihm hineinstießen, gehörten Greene mit ›e‹ und einem starken Mann, den ich nicht kannte, der aber ganz nach »Schrank« aussah. Mein Mut sank schneller, als die Lifts im Hilton fahren. Wexford und der Schrank nahmen mich zwischen sich, während sich Greene ans Steuer setzte. »Wie haben Sie mich gefunden?« fragte ich. Mit einem wölfischen Grinsen nahm Greene ein Polaroidfoto aus der Tasche und hielt es mir hin. Es war ein Schnappschuß von Jik, Sarah und mir vor den Geschäften im Melbourner Flughafen. Die Frau von der Galerie hatte uns wohl nicht bloß beobachtet, bis wir davonflogen. »Wir haben in den Hotels gefragt«, sagte Greene. »Es war ein Klacks.« Da mir dazu nichts weiter einfiel, schwieg ich. Vielleicht kam hinzu, daß mir das Atmen schwerfiel. Auch von den anderen war keiner allzu gesprächig. Greene ließ den Wagen an und fuhr stadteinwärts – und der Schrank verdrehte mir den Arm mit einem Griff, dem ich mich beugen mußte. Unmöglich, Haltung zu bewahren. Die Stirn wurde mir
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regelrecht auf die Knie gedrückt. Es war entwürdigend und qualvoll. »Wir möchten unsere Liste zurück«, sagte Wexford schließlich. Seine Stimme entbehrte jeder Höflichkeit. Das war kein Plauderton. Seine schwarzgallige Rachsucht teilte sich mir unmißverständlich mit. Herrgott, dachte ich unglücklich, wie ein Volltrottel bin ich da hineingetappt. »Haben Sie verstanden? Wir wollen unsere Liste und alles, was Sie sonst noch mitgenommen haben.« Ich antwortete nicht. Zuviel rohe Gewalt. Dem Lärm nach fuhren wir im Freitagmorgenverkehr durch die belebte Innenstadt, aber sehen konnte ich nichts, da mein Kopf unter Fensterhöhe war. Nach einiger Zeit bogen wir scharf nach links ab und fuhren dann, wie mir schien, meilenweit bergauf. Der Motor ächzte vor Überlastung, als wir oben ankamen, und die Straße fiel wieder ab. Kaum ein Wort wurde gesprochen. Der Gedanke, wohin die Reise sehr wahrscheinlich für mich ging, war so unerfreulich, daß ich ihn nach Kräften von mir schob. Ich konnte Wexford zwar seine Liste zurückgeben, aber was dann? Ja, was dann? Nach einer langen Talfahrt hielt der Wagen kurz und bog dann nach rechts ab. Anstelle der Stadtgeräusche war jetzt Meeresrauschen zu hören. Außerdem kamen uns keine Autos mehr entgegen. Ich gelangte zu dem traurigen Schluß, daß wir die Landstraße verlassen hatten und auf einer wenig befahrenen Nebenstraße unterwegs waren. Schließlich hielt der Wagen mit einem Ruck an. Der Schrank ließ mich los. Steif und mit verdrehten Knochen sah ich hoch. Eine einsamere Stelle hätten sie sich kaum aussuchen können. Die Straße verlief so dicht am Meer, daß sie mehr oder weniger mit der Küstenlinie verschmolz, und die Küste war ein 216
Dschungel aus spitzen schwarzen Klippen, zwischen denen weiß schäumende Wellen schwappten, kein Vergleich mit den harmlosen Stränden zu Hause. Rechts ragten steile, zerklüftete Felsen auf. Vor uns endete die Straße in steinbruchähnlichem Gelände. Der Fels war zum Teil abgetragen worden; es gab staubbedeckte Lücken in der Wand, Haufen scharfkantigen Gerölls, sortierter Steine, gesiebten Splitts. Alles hart, roh und vulkanisch schwarz. Keine Menschen. Keine Maschinen. Alles still. »Wo ist die Liste?« fragte Wexford. Greene drehte sich auf dem Fahrersitz um und sah mir ernst ins Gesicht. »Sie sagen uns das schon. Mit oder ohne Prügel. Und wir werden Sie nicht mit Fäusten dazu bringen, sondern mit Steinen.« »Warum denn nicht mit Fäusten?« begehrte der Schrank auf. Aber Greene hatte, genau wie ich, zu wenig in den Fäusten, um damit Informationen aus jemandem herauszuprügeln. Mit den Steinen hier sah das gleich anders aus. »Und wenn ich rede?« sagte ich. Ein so leichtes Spiel hatten sie nicht erwartet. Ich sah ihnen die beinah schmeichelhafte Überraschung an. Aber ihre Gesichter hatten auch einen scheinheiligen Ausdruck, der überhaupt nichts Gutes verhieß. Regina, dachte ich. Regina mit dem eingeschlagenen Schädel. Ich betrachtete die Felsen, den Steinbruch, das Meer. Kein leichter Fluchtweg. Und hinter uns die Straße. Lief ich dorthin, würden sie hinter mir herfahren und mich niederwalzen. Wenn ich überhaupt laufen konnte. Da fingen die Schwierigkeiten schon an. Ich nickte und sah, ohne mich groß verstellen zu müssen, unglücklich drein. »Gut, ich rede...«, sagte ich. »Draußen.«
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Darüber dachten sie einen Moment schweigend nach; aber da es in dem Wagen ohnehin zu eng war, um ordentlich mit Steinen zu hantieren, waren sie nicht ganz abgeneigt. Greene langte nach dem Handschuhfach auf der Beifahrerseite, öffnete es und zog ein Schießeisen hervor. Ich wußte gerade genug über Handfeuerwaffen, um Revolver und Pistole auseinanderzuhalten, und das hier war ein Trommelrevolver, eine Waffe, deren Hauptvorzug, so hatte ich gelesen, darin besteht, daß sie keine Ladehemmung kennt. Greene faßte sie eher mit Vorsicht als mit Routine an. Er zeigte sie mir stumm und legte sie wieder ins Handschuhfach, ließ aber die Klappe offen, so daß wir das Drohmittel Nummer eins alle deutlich vor Augen hatten. »Dann wollen wir mal«, sagte Wexford. Wir stiegen aus, und ich sah zu, daß ich auf der Seeseite herauskam. Der Wind blies hier an der offenen Küste sehr stark und kalt, auch wenn die Sonne schien. Er zauste das sorgsam gekämmte, lichte Haar auf Wexfords Schädel, und er ließ den Schrank noch dümmer aussehen. Greenes Augen blieben wachsam und so hart wie das Gestein ringsum. »Also«, sagte Wexford barsch, mit erhobener Stimme, um Wind und Meer zu übertönen, »wo ist die Liste?« Ich wirbelte herum und rannte, so schnell ich konnte, aufs Meer zu. Im Laufen griff ich mit der rechten Hand unter mein Hemd und zerrte an der Trageschlinge. Wexford, Greene und der Schrank schrien wütend auf und setzten mir nach. Ich zog die beiden Kundenverzeichnisse Übersee aus der Schlinge, drehte mich noch einmal um mich selbst und schleuderte sie mit Schwung und Anlauf, so weit ich konnte, zum Ufer hin.
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In der Luft flatterten die Seiten auseinander, doch der ablandige Wind kam wie gerufen und wehte die meisten wie Laub aufs Meer hinaus. Ich blieb nicht am Ufer stehen. Ich lief geradewegs in das kalte, unwirtliche Schlachtfeld aus gezackten Felsen, grünem Wasser und weiß schäumenden Wellen hinein. Rutschte, fiel, raffte mich auf, stolperte weiter, stellte fest, daß die Strömung viel stärker, der Boden glitschiger, die Felsen schärfer gezähnt waren, als ich erwartet hatte. Kurz, daß ich auf der Flucht vor einer tödlichen Gefahr in die nächste geraten war. Einen Augenblick lang sah ich mich um. Wexford war mir ein paar Schritte ins Wasser gefolgt, aber offenbar nur, um ein Blatt aus der Liste an sich zu bringen, das vor den anderen heruntergekommen war. Das Wasser schäumte ihm um die Hosenbeine, während er dastand und auf das nasse Blatt Papier schaute. Greene war beim Auto und beugte sich hinein – auf der Beifahrerseite. Der Schrank glotzte mit offenem Mund. Ich widmete mich wieder dem Problem des Überlebens. Wie an den meisten Küsten fiel das Ufer hier allmählich ab. Jeder Schritt führte in eine stärkere Strömung, die an mir zerrte und zog und mich umherwarf wie ein Stück Treibholz. In den hüfthohen Wellen fiel es mir schon schwer, auf den Beinen zu bleiben, und wenn ich taumelte, ließen die schwarzen, nadelspitzen Felsen, die dicht gestaffelt über und unter der Wasserfläche lauerten, mich das jedesmal büßen. Das waren nicht die vom Meer glattgeschliffenen Steine, wie ich sie aus England kannte. Es war vulkanischer Auswurf, der scheuerte wie Bimsstein. Die Finger glitten nicht einfach darüber weg; die Haut blieb kleben und riß auf. Kleidern erging es nicht besser. Nach kaum dreißig Metern lief mir das Blut schon aus einem Dutzend Schürfwunden, und kein
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Blutgefäß blutet überzeugender als die kleinen Kapillaren an der Hautoberfläche. Mein linker Arm war immer noch in der Schlinge gefangen, die – als Vorsichtsmaßnahme, falls noch einmal in mein Zimmer eingebrochen würde wie in Alice – seit dem Tag des Cups das Kundenverzeichnis beherbergt hatte. Jetzt klebten der durchnäßte Verband und mein Hemd wie festgepappt an mir. Der nach dem Bruch geschonte und daher geschwächte Arm wurde damit nicht fertig. Ich wankte auch deswegen herum, weil ich nicht beide Hände frei hatte. Mein Fuß trat ungeschickt auf den Rand eines von Wasser bedeckten Felsens, und als ich merkte, daß ich mir das Schienbein aufschürfte, kam ich auch schon aus dem Gleichgewicht, fiel nach vorn, versuchte vergeblich, mich mit der Hand abzufangen, krachte mit der Brust voll auf einen kleinen gezackten Felsen und drehte schnell den Kopf weg, um nicht auch noch mit der Nase aufzuschlagen. Der Stein neben meiner Backe zerbarst plötzlich wie durch eine Explosion. Ein paar Splitter flogen mir ins Gesicht. Im ersten Moment konnte ich mir das nicht erklären; dann drehte ich mich schwerfällig herum und blickte Böses ahnend zum Ufer. Greene stand da, den Revolver im Anschlag, und er schoß scharf.
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Dreißig bis fünfunddreißig Meter sind weit für einen Revolver, aber Greene schien so nah. Ich konnte seinen hängenden Schnurrbart sehen und das im Wind wehende, strähnige Haar. Ich sah seine Augen und die konzentrierte Körperhaltung. Breitbeinig stand er da, die Arme vorgestreckt, und hielt mit beiden Händen den Revolver im Anschlag. Durch den Lärm der anbrandenden Wellen hörte ich die Schüsse nicht. Und ich sah nicht, wie er abdrückte. Aber ich sah, wie seine Arme durch den Rückstoß nach oben zuckten, und wollte keinesfalls so blöd sein, ihm ein stehendes Ziel zu bieten. Mir war wirklich ganz schön mulmig. Ich stand ihm genauso nah vor Augen wie er mir. Er muß ziemlich sicher gewesen sein, daß er mich treffen würde, auch wenn ich aus seinem vorsichtigen Umgang mit der Waffe im Auto geschlossen hatte, er sei kein Fachmann. Ich drehte mich um und stolperte ein paar Meter voran, obwohl das jetzt noch schlechter ging und der erbitterte Kampf gegen Wellen, Strömung, Felsen mich die letzten Kräfte kostete. Es mußte ein Ende haben. Bald. Ich stolperte, fiel auf einen Felszacken, riß mir die Innenseite des Unterarms auf, und wieder floß kostbares Blut. Himmel, dachte ich, lauf nicht aus, du mußt schon ganz zerschnitten sein. Immerhin brachte mich das auf eine Idee. Ich stand bis zur Taille im tückischen grünen Wasser, das jetzt die Uferfelsen weitgehend bedeckte. Auf der einen Seite verlief eine Reihe größerer Felszähne ins Meer wie die Horrorversion eines Wellenbrechers, und weil dort die 221
Brandung noch stärker war, hatte ich mich davon ferngehalten. Aber es war die einzige mögliche Deckung. In drei taumeligen Anläufen kam ich näher heran, und die Strömung half mit. Ich sah mich nach Greene um. Er lud den Revolver nach. Wexford sprang neben ihm im Dreieck, um ihn zur Eile anzutreiben; und der Schrank, der so gar keine Anstalten traf, hinter mir herzujagen, war vermutlich Nichtschwimmer. Greene schwenkte die Trommel ein und nahm mich wieder ins Visier. Ich ging ein fürchterliches Risiko ein. Ich drückte meinen heftig blutenden Unterarm gegen die Brust und richtete mich schwankend in der Strömung auf, so daß er meinen Oberkörper sehen konnte. Er legte mit gestreckten Armen an. Aber wohl nur ein Scharfschütze konnte mich auf diese Entfernung bei diesem Wind mit dieser Waffe treffen. Weil die Arme eines Scharfschützen beim Feuern nicht nach oben zuckten. Die Waffe zielte genau auf mich. Ich sah die Arme hochgehen, als er abzog. Einen lähmenden Augenblick lang war ich überzeugt, der Schuß hätte gesessen, aber ich spürte und hörte und sah nichts von dem fliegenden Tod. Ich warf den rechten Arm hoch und blieb einen Augenblick so, damit Greene sehen konnte, daß mein Hemd vorn rot von Blut war. Dann drehte ich mich kunstvoll weg und ließ mich mit dem Gesicht voran ins Wasser fallen – und konnte nur hoffen, daß er dachte, er habe mich umgebracht. Viel besser als Blei war das Meer auch nicht. Nur die ungeheure Angst, eine Kugel einzufangen, ließ mich ausharren, während ich zwischen den scharfkantigen Steinen im Wasser zerrieben wurde wie ein Stück Käse.
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Die Wellen trieben mich auf die Reihe der großen Felszähne zu, und ziemlich verzweifelt versuchte ich, mich daran festzuhalten, um nicht abwechselnd angesaugt und wieder weggespült zu werden und dabei immer noch mehr Haut zu lassen. Außerdem durfte ich mich nicht zu auffällig gegen die Strömung wehren. Wenn Wexford und Greene mich dort herumrudern sahen, war meine ganze Schauspieleinlage umsonst gewesen. Nach einigen Anläufen hatte ich Glück, und die See drückte mich in einen Spalt zwischen den Felsen, von wo aus ich das Ufer nicht mehr sehen konnte. Ich hielt mich mit beiden Händen fest, stemmte mit gebeugten Knien die Füße gegen den Fels und fand so einigermaßen Halt, während die See versuchte, mich wieder loszukriegen. Jede ankommende Welle drohte mir die Füße aus dem Spalt zu schwemmen, und im Zurückgehen drohte sie mich mitzuziehen wie ein Saugrohr. Ich hielt mich krampfhaft fest, schaukelte in dem brusthohen Wasser hin und her, hielt mich fest, schaukelte, und es erschöpfte mich zusehends. Ich hörte nur die anbrandenden Wellen. Mutlos fragte ich mich, wie lange Wexford und Greene dableiben und nach Lebenszeichen auf dem Wasser Ausschau halten würden. Ich riskierte keinen Blick zum Ufer, aus Angst, sie könnten mich ausmachen, wenn ich den Kopf hob. Das Wasser war kalt, und die Wunden hörten allmählich auf zu bluten, auch der so nützliche Schnitt am Unterarm. Es geht doch wirklich nichts über einen kräftigen, gesunden jungen Körper, dachte ich. Nichts, aber auch gar nichts geht über einen kräftigen, gesunden jungen Körper auf trockenem Boden, einen Pinsel in der einen, ein Bier in der anderen Hand, in beiden kein Geld für die Gasrechnung, dafür freundliches Flugzeuggedröhn in den Ohren.
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Aus Erschöpfung wagte ich schließlich doch einen Blick. Sonst konnte ich wie eine Klette da hängenbleiben, bis ich saftund kraftlos abfiel und buchstäblich keine Reserven mehr hatte, um noch einmal auf die Beine zu kommen. Wenn ich etwas sehen wollte, mußte ich loslassen. Ich suchte woanders Halt, doch das klappte nicht ganz. Die erste ablaufende Welle trug mich unweigerlich davon, die nächste ankommende warf mich wieder zurück. In der Flaute dazwischen bekam ich das Ufer zu sehen. Straße, Felsen, Steinbruch, alles wie gehabt. Auch der Wagen. Und Leute. Verdammt noch mal, dachte ich. Ich klammerte mich wieder an den Stein. Meine Finger waren kalt, verkrampft und fingen wieder an zu bluten. Herrgott, dachte ich. Wie lange denn noch? Drei Wellen kamen und gingen, bis mir in meiner Erschöpfung klar wurde, daß da nicht Wexfords Wagen stand und davor auch nicht Wexford. Wenn es nicht Wexford war, konnte mir alles egal sein. Ich ließ mich von der nächsten Welle aus dem Spalt heraustragen, um von ihm wegzuschwimmen, bevor die Gegenbewegung mich wieder zurückwarf. Unter Wasser waren aber immer noch überall Felsen. Ein paar Meter konnten verdammt weit sein. Vorsichtig richtete ich mich auf, tastete mich, anders als bei der überstürzten Flucht nach draußen, ruhig zum Ufer vor und sah mir genauer an, was sich dort tat. Ein grauweißer Wagen. Daneben, zusammenstehend, ein Paar; der Mann hielt die Frau in den Armen. Hübsches, ruhiges Plätzchen dafür, dachte ich ironisch. Ich hoffte, sie würden mich irgendwo ins Trockene bringen. Sie lösten sich voneinander und starrten aufs Meer hinaus. Ich starrte zurück.
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Im ersten Moment schien es unmöglich. Dann fuchtelten sie aufgeregt mit den Armen und liefen aufs Wasser zu – es waren Sarah und Jik. Jik warf seine Jacke ab und stürzte sich mit Eifer in die Fluten, blieb aber jäh stehen, als er sich die ersten Schrammen an den Beinen einfing. Gewarnt, kam er mir vorsichtig weiter entgegen. Ich hielt meinen Kurs. Auch bei noch so wohlgesetzten Schritten war der Gang durch dieses wellenumspülte Reibgestein tödlich für die Haut. Als ich bei Jik ankam, waren wir beide rot verschmiert. Wir blickten auf das Blut. Jik sagte: »Heiland«, und ich sagte: »O Gott«, und mir kam der Gedanke, daß der Allmächtige der Meinung sein könnte, wir hätten ihn in letzter Zeit reichlich oft angerufen. Jik legte mir den Arm um die Taille, ich faßte ihn um die Schulter, und so stapften wir gemeinsam an Land. Ab und zu stürzten wir. Kamen keuchend wieder hoch. Erneuerten den Schulterschluß und liefen weiter. Er ließ mich los, als wir auf festen Boden kamen. Ich setzte mich an den Straßenrand, die Füße zum Meer hin, und krümmte mich. »Todd«, rief Sarah besorgt. Sie kam näher. »Todd!« Ihre Stimme klang ungläubig. »Lachst du etwa?« »Klar.« Ich sah grinsend zu ihr hoch. »Warum denn nicht?« Jiks Hemd war zerrissen und meines nur noch ein Fetzen. Wir zogen sie aus und wischten damit unsere Wunden, die immer noch hartnäckig bluteten. Nach Sarahs Gesichtsausdruck zu urteilen, mußte es irre aussehen. »Ein wirklich idiotischer Badespaß«, meinte Jik. »Geht unter die Haut.« Er sah mir über die Schulter. »Dein Alice-Springs-Verband hat sich gelöst.« 225
»Und die Nähte?« »Die haben gehalten.« »Hervorragend.« »Ihr holt euch eine Lungenentzündung, wenn ihr da sitzen bleibt«, sagte Sarah. Ich nahm die Reste der Trageschlinge ab. Alles in allem hatte sie mir gute Dienste geleistet. Der Pflasterverband für die Rippen saß zwar einigermaßen an seinem Platz, klebte aber kaum noch, weil er zu naß geworden war. Ich nahm ihn ab. Blieben noch die Pflaster an meinem Bein, und auch die hatten sich bei der Wasserschlacht gelöst. Ich sah es durch die Risse in meiner Hose. »Verdammte Schinderei«, meinte Jik fröstelnd, während er das Wasser aus seinen Schuhen schüttete. »Wir brauchen ein Telefon«, sagte ich, seinem Beispiel folgend. »Meine Nerven«, sagte Sarah. »Was ihr braucht, ist ein heißes Bad, etwas zum Anziehen und einen Psychiater.« »Wie seid ihr hergekommen?« fragte ich. »Wieso bist du nicht tot?« fragte Jik. »Ihr zuerst.« »Als ich aus dem Laden kam, wo ich das Shampoo gekauft hatte«, erzählte Sarah, »sah ich Greene vorbeifahren. Ich wäre fast gestorben. Ich bin stehengeblieben und habe gehofft, daß er nicht zu mir hersieht, und das ging auch gut... Gleich danach bog der Wagen nach links ab... dabei sah ich, daß noch zwei Mann im Fond saßen... und dann bin ich gleich zu Jik und hab ihm das gesagt.« Jik betupfte immer noch blutende Wunden. »Wir waren heilfroh, daß er sie nicht gesehen hatte. Als wir dann zurück ins Hotel kamen, warst du nicht da, und die Frau am Empfang meinte, du seist mit Freunden im Auto weggefahren... so einem Mann mit hängendem Schnurrbart.« »Von wegen Freunde!« rief Sarah. 226
»Jedenfalls«, erzählte Jik weiter, »haben wir unsere Wut, Trauer, Zerknirschung und was nicht alles hinuntergeschluckt und uns auf die Socken gemacht, um deine Leiche zu suchen.« »Jik«, fuhr Sarah auf.
Er grinste. »Wer von uns hat denn geheult?«
»Halt den Mund.«
»Sarah hatte dich in Greenes Wagen zwar nicht gesehen,
aber wir dachten, du liegst vielleicht verschnürt wie ein Sack Kartoffeln im Kofferraum oder so, und da haben wir die Straßenkarte rausgeholt, Gas gegeben und die Verfolgung aufgenommen. Wir sind wie Greene links abgebogen, und auf einmal ging es endlos den Berg hoch.« Ich betrachtete unsere zahlreichen Kratzer und Abschürfungen. »Es wird besser sein, wir besorgen etwas zum Desinfizieren.« »Am besten für ein Vollbad.« »Gute Idee.« Seine Zähne klapperten mit meinen um die Wette. »Gehen wir aus dem Wind«, sagte ich. »Wir können auch im Auto bluten.« Steif stiegen wir ein. Ein Glück, daß die Sitze Kunststoffbezüge hätten, meinte Sarah. Jik setzte sich automatisch wieder ans Steuer. »Meilenweit sind wir gefahren«, sagte er. »Und dabei fast verrückt geworden. Das ging über den Berg und auf dieser Seite wieder runter. Unten zieht sich die Straße in weitem Bogen nach links, und auf der Karte sahen wir, daß sie über etliche Buchten dem Lauf der Küste folgt und schließlich wieder in Wellington herauskommt.« Er ließ den Wagen an, wendete und fuhr los. Ein nicht alltäglicher Chauffeur mit seiner klatschnassen Hose und dem nackten Oberkörper, auf dem sich noch perlende Blutstropfen bildeten. Der Bart forsch wie immer. 227
»Wir sind erst da lang«, sagte Sarah. »Aber da gab’s kilometerweit nur zerklüftete Felsen und Meer.« »Diese Felsen werde ich malen«, sagte Jik. Sarah blickte von ihm zu mir. Ihr war die Entschlossenheit in seinen Worten nicht entgangen. Die goldene Zeit näherte sich dem Ende. »Nach einer Weile haben wir gewendet«, erzählte Jik. »An der Abzweigung nach hier hieß es: ›Keine Durchfahrt‹, also haben wir es damit probiert. Kein Todd weit und breit. Hier haben wir dann angehalten, und Sarah ist raus und hat angefangen, sich die Augen auszuweinen.« »Du warst auch nicht gerade fröhlich«, sagte sie. »Hm.« Er lächelte. »Jedenfalls habe ich ein paar Steine herumgetreten und überlegt, wie es weitergehen soll, und da lagen die Patronenhülsen.« »Die was?« »Am Straßenrand. Dicht beieinander. Vielleicht aus so einem Revolver mit Auswerferstern, der alle Hülsen gleichzeitig zurückschiebt.« »Als wir die sahen«, sagte Sarah, »dachten wir...« »Die hätten von jemand sein können, der auf Seevögel ballert«, sagte ich. »Und ich finde, wir sollten zurückfahren und sie uns holen.« »Ist das dein Ernst?« fragte Jik. »Ja.« Wir hielten an, wendeten und folgten unseren Reifenspuren. »Niemand schießt mit einem Revolver auf Seevögel«, sagte er. »Dann schon eher auf Nichtskönner, die lahme Gäule malen.« Der Steinbruch kam wieder in Sicht. Jik hielt davor an, und schon sprang Sarah aus dem Wagen und sagte, wir sollten sitzen bleiben, sie würde die Hülsen holen gehen. »Haben sie wirklich auf dich geschossen?« fragte Jik. »Greene. Aber getroffen hat er nicht.« 228
»Halbe Sache.« Er rutschte auf seinem Sitz und zuckte zusammen. »Wahrscheinlich sind sie über den Berg zurück, als wir die andere Strecke nach dir abgesucht haben.« Er warf einen Blick auf Sarah, die am Straßenrand suchte. »Haben sie die Liste kassiert?« »Die habe ich ins Meer geworfen.« Ich lächelte schief. »Ich wollte sie ihnen nicht einfach brav in die Hand drücken... und es war auch eine gute Ablenkung. Sie konnten noch eine Seite rausfischen und sehen, daß sie ihr Ziel erreicht hatten.« »Muß ja ergötzlich gewesen sein.« »Zum Totlachen.« Sarah fand die Hülsen, hob sie auf und kam rasch zurück. »Alles klar... ich tu sie in meine Handtasche.« Sie stieg neben Jik ein. »Und jetzt?« »Telefonieren«, sagte ich. »So vielleicht?« Sie musterte mich. »Weißt du eigentlich...« Sie unterbrach sich. »Also gut. Ich kaufe euch beiden im nächsten Laden ein Hemd.« Sie schluckte. »Und ich will jetzt nicht hören, ›hoffentlich ist es kein Lebensmittelladen‹.« »Hoffentlich ist es kein Lebensmittelladen«, sagte Jik. Wir fuhren wieder los und hielten uns an der Kreuzung links, um über den Berg zurückzufahren, denn der andere Weg war viermal so weit. In einem großen Dorf auf der Höhe gab es einen Laden, der vom Hammer bis zur Haarnadel alles verkaufte. Auch Lebensmittel. Auch, so erfuhren wir, Hemden. Sarah schnitt Jik ein Gesicht und verschwand im Innern. Ich zog das marineblaue T-Shirt, das sie mir mitbrachte, über und ging auf wackligen Beinen mit Sarahs Geldbörse zum Telefon. »Vermittlung... welche Hotels haben Telex?« Sie nannte mir drei, darunter das Townhouse. Ich dankte ihr und legte auf.
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Ich rief im Townhouse an. Erinnerte mich so gerade noch, daß mein Name Peel war. »Aber Mr. Peel...«, sagte die Empfangsdame verwirrt. »Ihr Freund... der mit dem Schnurrbart, nicht der mit dem Bart... er hat vor einer halben Stunde Ihre Rechnung bezahlt und Ihre Sachen abgeholt... Nein, üblich ist das nicht, aber er hatte ja Ihr Schreiben dabei, mit der Bitte, ihm Ihren Zimmerschlüssel auszuhändigen... Tut mir leid, daß Sie das nicht geschrieben haben, wußte ich nicht... Ja, er hat alles mitgenommen, das Zimmer wird jetzt gerade saubergemacht...« »Hören Sie«, sagte ich, »können Sie für mich ein Fernschreiben aufgeben? Setzen Sie es meinem Freund, ehm... Mr. Andrews auf die Rechnung.« Sie sagte, das werde sie tun. Ich diktierte ihr den Wortlaut. Sie wiederholte ihn und meinte, das Telex sei schon unterwegs. »Wegen der Antwort rufe ich gleich noch mal an«, sagte ich. Sarah hatte uns auch Jeans und Socken gekauft. Jik fuhr zu einem weniger öffentlichen Ort außerhalb, und wir zogen uns um. Nicht das Eleganteste, aber es verdeckte die Blessuren. »Wohin jetzt?« fragte er. »Zur Intensivstation?« »Zurück zum Telefon.« »Allmächtiger Himmel.« Er fuhr zurück, und ich rief im Townhouse an. Die Empfangsdame sagte, die Antwort sei da, und las sie mir vor. »Rufen Sie bitte sofort als R-Gespräch unter folgender Nummer an...« Sie ließ mich die Nummer wiederholen, nachdem sie sie zweimal vorgelesen hatte. »Genau.« Ich dankte ihr. »Kein Problem«, sagte sie. »Tut mir leid wegen Ihrer Sachen.« Ich rief das Fernamt an und gab die Nummer durch. Das sei ein Vorranggespräch, hieß es. Die Verbindung sei in zehn Minuten hergestellt. Man werde mich zurückrufen.
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Das Telefon hing an der Wand einer Kabine in der Gemischtwarenhandlung. Keine Sitzgelegenheit. Was hätte ich dafür gegeben! Die zehn Minuten zogen sich lange hin. Neuneinhalb, um genau zu sein. Es klingelte, und ich nahm den Hörer ab. »Ihr Gespräch nach England...« Die Wunder der Technik. Um den halben Erdball, und ich unterhielt mich mit Inspektor Frost, als sei er nebenan. Elf Uhr dreißig in Wellington, dreiundzwanzig Uhr dreißig in Shropshire. »Ihr Brief ist heute angekommen, Sir«, sagte er. »Und wir sind gleich in Aktion getreten.« »Lassen Sie den Sir weg. Ich bin an Todd gewöhnt.« »In Ordnung. Wir haben also die Polizei in Melbourne per Fernschreiben benachrichtigt und uns die Liste der englischen Kunden vorgenommen. Was sich da abzeichnet, ist unglaublich. Alle aus der Liste Gestrichenen, die wir überprüft haben, sind Opfer von Einbruchsdiebstählen. Wir informieren jetzt die Polizei auch in den anderen betroffenen Ländern. Allerdings ist die Liste, die Sie uns geschickt haben, eine Fotokopie. Haben Sie das Original?« »Nein... die Liste ist weitgehend zerstört worden. Spielt das eine Rolle?« »Eigentlich nicht. Können Sie uns sagen, wie sie in Ihren Besitz gelangt ist?« »Ehm... sagen wir mal, ich hatte sie einfach.« Ein trockenes Lachen reiste zwölftausend Meilen weit. »Auch gut. Und was ist so dringend, daß Sie mich vom Schlafengehen abhalten?« »Sind Sie zu Hause?« fragte ich zerknirscht. »Im Dienst zufällig. Schießen Sie los.« »Zweierlei... Das zweite ist, ich kann Ihnen bei den Katalognummern auf die Sprünge helfen. Aber vorher...« Ich 231
erzählte ihm, daß Wexford und Greene in Wellington waren und daß sie mein Gepäck gestohlen hatten. »Sie haben meinen Paß, meine Reiseschecks und einen Koffer mit meinen Malsachen.« »Den habe ich bei Ihrem Cousin gesehen«, warf er ein. »Stimmt. Und es kann sein, daß sie eine oder zwei Seiten von der Liste haben...« »Sagen Sie das noch mal.« Ich sagte es noch einmal. »Sie ist ins Meer geflogen, aber ich weiß, daß Wexford zumindest eine Seite herausgefischt hat. Also... ich nehme an, sie fliegen heute noch nach Melbourne zurück, vielleicht noch heute vormittag, und wenn sie dort landen, könnten sie durchaus das eine oder andere Interessante bei sich haben...« »Ich kann den Zoll einschalten«, sagte er. »Aber warum hätten sie so leichtsinnig sein sollen, Ihre Sachen zu stehlen?« »Die wissen nicht, daß ich es weiß«, erwiderte ich. »Ich glaube, sie halten mich für tot.« »Guter Gott. Wieso?« »Sie haben auf mich geschossen. Können Sie mit Patronenhülsen etwas anfangen? Eine Kugel habe ich zum Glück nicht eingefangen, aber sechs Hülsen hätte ich für Sie.« »Wäre nicht schlecht...« Ihm schienen die Worte zu fehlen. »Was ist mit den Katalognummern?« »In der kleineren Liste... haben Sie die?« »Ja, sie liegt vor mir.« »Gut. Der erste Buchstabe steht für die Stadt, in der das Bild verkauft wurde; M für Melbourne, S für Sydney, W für Wellington. Der zweite Buchstabe bezeichnet den Maler – M gleich Munnings, H gleich Herring und R, glaube ich, gleich Raoul Millais. Das K steht für Kopie. Alle Bilder auf der kleinen Liste sind Kopien. Alle auf der großen sind Originale. Haben Sie das?« »Ja. Weiter.« 232
»Die Zahlen sind laufende Nummern. Sie hatten vierundfünfzig Kopien verkauft, als ich, ehm... in den Besitz der Liste kam. Das nachgestellte R steht für Renbo. Das ist Harley Renbo, der Abmaler in Alice Springs. Von dem ich Ihnen voriges Mal erzählt habe.« »Ich weiß«, sagte er. »Wexford und Greene haben die letzten Tage damit verbracht, in Neuseeland herumzukurven; wenn wir also Glück haben, sind sie noch nicht dazu gekommen, belastendes Material in der Melbourner Galerie zu vernichten. Mit einem Durchsuchungsbefehl könnte die Polizei dort allerhand zutage fördern.« »Die Polizei Melbourne geht davon aus, daß nach dem Verschwinden der Liste alles sonstwie Verdächtige vorsorglich vernichtet worden ist.« »Sie könnte sich irren. Wexford und Greene wissen nicht, daß ich die Liste fotokopiert und Ihnen zugeschickt habe. Sie glauben, die Liste und ich, wir treiben irgendwo aufs weite Meer hinaus.« »Ich gebe Melbourne Bescheid.« »Außerdem gibt es noch eine Galerie hier in Wellington und eine Herring-Kopie, die sie an jemand in Auckland verkauft haben...« »Du liebe Zeit...« Ich nannte ihm die Ruapehu-Adresse und wies ihn auf Norman Updike hin. »Auf der großen Liste taucht auch immer wieder ein B auf, also existiert wahrscheinlich noch eine Filiale. Ich tippe auf Brisbane. Und jetzt könnte es auch wieder eine in Sydney geben. Ich glaube, die Galerie im Vorort haben sie dichtgemacht, weil sie zu weit vom Schuß lag.« »Halt«, sagte er.
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»Entschuldigung«, sagte ich. »Aber diese Organisation ist wie ein Pilz. Sie verzweigt sich unbemerkt und schießt überall aus dem Boden.« »Ich habe nur halt gesagt, damit ich das Tonband umdrehen kann. Fahren Sie fort.« »Ach so.« Ich mußte beinah lachen. »Tja... haben Sie von Donald Antwort auf meine Fragen bekommen?« »Haben wir.« »Ohne ihn zu drängen?« »Sie können beruhigt sein«, meinte er trocken. »Wir haben uns genauestens an Ihre Vorgabe gehalten. Mr. Stuarts Antwort auf die erste Frage war: ›Ja, natürlich‹, auf die zweite: ›Nein, wie käme ich dazu?‹, und auf die dritte: ›Ja.‹« »War er ganz sicher?« »Vollkommen.« Er räusperte sich. »Es scheint, als ob ihn nichts berührt. Nichts interessiert. Aber er war sicher.« »Wie geht es ihm?« fragte ich. »Er verbringt seine Tage damit, sich ein Bild seiner Frau anzuschauen. Immer wenn wir zu ihm kommen, sehen wir durchs Fenster, wie der Mann davorsitzt.« »Ist er noch... gesund?« »Das kann ich nicht beurteilen.« »Sie könnten ihn zumindest wissen lassen, daß er nicht mehr in Verdacht steht, für den Einbruch und für Reginas Tod verantwortlich zu sein.« »Das müssen meine Vorgesetzten entscheiden«, sagte er. »Dann treten Sie sie mal«, erwiderte ich. »Oder ist die Polizei scharf darauf, in einem schlechten Licht zu stehen?« »Sie haben uns immerhin um Hilfe gebeten«, sagte er bissig. Und euch eure Arbeit abgenommen, dachte ich. Ich sprach es nicht aus. Das Schweigen sagte genug. »Nun ja...« Seine Stimme hatte etwas Entschuldigendes. »Um unsere Mithilfe.« Er schwieg. »Wo sind Sie jetzt? Wenn
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ich Melbourne benachrichtigt habe, muß ich Sie vielleicht noch mal sprechen.« »In der Telefonzelle eines Dorfladens oberhalb von Wellington.« »Und wo wollen Sie hin?« »Ich bleibe hier erst mal. Wexford und Greene treiben sich noch in der Stadt herum, und ich will ihnen nicht aus Versehen unter die Augen kommen.« »Dann geben Sie mir bitte die Nummer.« Ich las sie vom Apparat ab. »Ich möchte möglichst bald nach Hause«, sagte ich. »Können Sie in der Paßfrage was für mich tun?« »Da müssen Sie sich ans Konsulat wenden.« Tausend Dank, dachte ich müde. Ich hängte ein und kehrte mit wackligen Beinen zum Auto zurück. »Wißt ihr was«, sagte ich, als ich mich auf den Rücksitz fallen ließ, »ich könnte jetzt einen doppelten Hamburger und eine Flasche Brandy vertragen.« Wir saßen zwei Stunden lang im Auto. Der Laden führte weder Spirituosen noch warmes Essen. Sarah kaufte eine Schachtel Kekse. Die aßen wir. »Wir können nicht den ganzen Tag hierbleiben«, platzte sie nach einem längeren, düsteren Schweigen heraus. Ich hielt es für möglich, daß Wexford jetzt mit Mordabsichten hinter ihr und Jik her war, aber es hätte sie wohl kaum gefreut, das zu hören. »Hier kann uns nichts passieren«, sagte ich. »Außer, daß wir langsam an Blutvergiftung eingehen«, stimmte Jik bei. »Ich habe meine Pillen im Hilton gelassen«, sagte Sarah. Jik starrte sie an. »Was hat denn das damit zu tun?« »Nichts. Ich dachte nur, du solltest es wissen.« »Die Pille?« fragte ich. 235
»Ja.« »Heiland«, sagte Jik. Ein Lieferwagen tuckerte den Berg hinauf und hielt vor dem Laden. Ein Mann im Overall öffnete die Hecktür, zog ein großes, beladenes Backblech hervor und trug es hinein. »Essen«, sagte ich hoffnungsvoll. Sarah ging nachschauen. Jik nutzte die Gelegenheit, sein TShirt von den heilenden Schrammen zu lösen, was ich lieber bleiben ließ. »Nachher kriegst du die Sachen nicht mehr runter«, sagte Jik mit schmerzverzogenem Gesicht. »Ich weiche sie ab.« »Im Meer hat man die Schrammen und das alles gar nicht so gespürt.« »Nein.« »Jetzt geht das erst richtig los, hm?« »Mhm.« Er warf mir einen Blick zu. »Warum schreist du eigentlich nicht?« »Zu mühsam. Und du?« Er grinste. »Ich schreie in Farbe.« Sarah kam mit frischen Krapfen und einigen Dosen Cola zurück. Wir machten uns darüber her, und endlich fühlte ich mich besser. Nach einer weiteren halben Stunde erschien der Ladenbesitzer am Eingang und rief und winkte. »Anruf für Sie...« Steifbeinig ging ich zum Telefon. Es war Frost, klar und deutlich. »Wexford, Greene und Snell haben einen Flug nach Melbourne gebucht. Man wird sie dort am Flughafen empfangen...« »Wer ist Snell?« fragte ich.
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»Woher soll ich das wissen? Er reist mit den beiden anderen.« Der Schrank, dachte ich. »Nun hören Sie zu«, sagte Frost. »Die Leitung zwischen uns und Melbourne ist heiß gelaufen, und die dortige Polizei erbittet Ihre Mitarbeit, damit sie den Sack zubinden kann...« Lange Ausführungen folgten. Zum Schluß fragte er: »Sind Sie dabei?« Ich bin müde, dachte ich. Ramponiert und gerädert. Ich habe die Nase gestrichen voll. »Na schön.« Jetzt konnte ich es ebensogut auch zu Ende bringen. »Die Polizei in Melbourne läßt zur Sicherheit noch mal fragen, ob die drei Munnings-Kopien, die Sie... ehm, aus der Galerie haben, wirklich noch dort sind, wo Sie gesagt haben.« »Ja.« »Okay. Also... alles Gute.«
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Von Engeln in Seegrün betreut, flogen wir mit der Air New Zealand nach Melbourne. Sarah sah frisch aus, Jik etwas angeschlagen, und ich laut Jik wie ein Gemisch aus Ockergelb, Paynesgrau und Weiß, was ich ihm aber nicht abnahm. Amtliche Fernschreiben hatten uns den Weg geebnet. Kaum waren wir vom Townhouse, wo die Tragetüten mit Sarahs Siebensachen warteten, zum Flughafen gekommen, wurden wir in einen reservierten Raum geführt und mit starken Getränken abgefüllt, bis uns ein Wagen direkt zur Maschine brachte. Nach tausend Meilen Flug übers Tasmanische Meer und einem gepflegten Nachmittagstee wurden wir vom Ausstieg direkt zu einem kleinen Dienstraum befördert, wo uns leider keine scharfen Getränke, sondern lediglich ein großer, sperriger Beamter der australischen Kripo erwartete. »Porter«, stellte er sich vor und quetschte uns die Knochen mit dem Händedruck eines Hufschmieds. »Wer von Ihnen ist Charles Todd?« »Ich.« »Okay, Mr. Todd.« Er sah mich ohne Wohlwollen an. »Fehlt Ihnen was?« Seine kräftige, knarrende Stimme und seine ruppige Art waren dazu angetan, die Bösen ins Schwitzen zu bringen und die Nervösen an den Rand des Zusammenbruchs. Mir hatte er, wie ich bald merkte, immerhin die Rolle eines ihm vorübergehend unterstellten Mitarbeiters zugedacht. »Nein«, sagte ich leise seufzend. Flugpläne warten auf niemand. Wenn ich mich verarzten ließ, verpaßten wir vielleicht den einzig möglichen Flug. »Ihm kleben die Kleider am Leib«, bemerkte Jik in einem Ton, als wollte er nur sagen, mir sei heiß. Es war kühl in Melbourne. Porter sah ihn unsicher an.
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Ich grinste. »Haben Sie nach Plan verfahren können?« fragte ich. Er tat Jik als Spinner ab und wandte sich wieder mir zu. »Es wurde beschlossen, zu warten, bis Sie da sind«, sagte er achselzuckend. »Draußen steht ein Wagen bereit.« Er fegte zur Tür hinaus, ohne sie für Sarah offenzuhalten, und marschierte gleich weiter. Der Wagen hatte einen Fahrer. Porter setzte sich zu ihm nach vorn und gab in geschraubten, vorsichtigen Worten über Funk durch, daß die fragliche Person eingetroffen sei und der Einsatz wie geplant anlaufen könne. »Wohin fahren wir?« fragte Sarah. »Dahin, wo deine Kleider sind«, sagte ich. Ihr Gesicht hellte sich auf. »Wirklich?« »Und wozu?« fragte Jik. »Um die Maus zum Käse zu bringen.« Und den Stier zum Degen, dachte ich. Die Stunde der Wahrheit für den Zauberer. »Ihre Sachen haben wir wieder, Todd«, sagte Porter mit Genugtuung. »Wexford, Greene und Snell wurden bei der Landung gefilzt, und man hat alles bei ihnen gefunden. Die Schlösser an Ihrem Koffer waren verbeult und verkratzt, aber nicht aufgebrochen. Müßte noch alles drin sein. Können Sie sich dann morgen abholen.« »Wunderbar«, sagte ich. »Hatten sie auch noch was von der Kundenliste?« »Ja. Naß geworden, aber lesbar. Namen von Leuten in Kanada.« »Gut.« »Im Moment durchsuchen wir gerade diese Yarra-Galerie, und Wexford hilft uns dabei. Wir haben ihn hören lassen, was er hören sollte, und sobald ich grünes Licht gebe, kann er seinen Zug machen.« »Ob er’s denn auch tut?« »Würden Sie das nicht, guter Mann?« 239
Ich dachte bei mir, daß ich mich vor Danaergeschenken eher gehütet hätte, aber andererseits war ich nicht Wexford, und mir drohte keine Gefängnisstrafe. Wir hielten am Seiteneingang des Hilton. Porter war mit einem Satz auf dem Gehsteig, stand da wie ein Baum und beobachtete mit schlecht verhohlener Ungeduld, wie Jik, Sarah und ich im Schneckentempo ausstiegen. Wir gingen durch die vertraute feudale Halle mit ihrem Rot und Blau, dann durch die Rezeption nach hinten in das Büro des Managers. Ein langer, dunkel gekleideter Hotelangestellter bat uns, Platz zu nehmen, und lud uns zu Kaffee und Sandwiches ein. Porter sah auf seine Armbanduhr und lud uns ein, unbestimmte Zeit zu warten. Es war sechs Uhr. Nach zehn Minuten brachte ein Mann mit Hemd und Krawatte ein Funksprechgerät für Porter, der den Ohrknopf ansteckte und körperlosen Stimmen zu lauschen begann. Das Büro hatte Neonlicht und war funktionell eingerichtet, die Wände tapeziert mit Schautafeln und Dienstplänen. Da es keine Fenster gab, sahen wir nicht, wie es draußen dunkel wurde. Wir tranken Kaffee und warteten. Porter aß drei Sandwiches auf einmal. Die Zeit verging. Sieben Uhr. Sarah sah in dem künstlichen Licht blaß und müde aus. Jik, den Bart auf der Brust, ebenso. Ich dachte über Leben und Tod und gepunktete Fliegen nach. Um elf Minuten nach sieben drückte Porter die Hand aufs Ohr und blickte konzentriert zur Decke. Als er sich dann wieder entspannte, ließ er uns an der elektrisierenden Nachricht teilhaben. »Wexford hat genau das getan, was wir erwartet haben, und jetzt läuft die Maschinerie.« »Welche Maschinerie?« fragte Sarah. 240
Porter sah durch sie hindurch. »Alles läuft, wie wir es geplant haben«, erklärte er. »Ach so.« Er lauschte wieder seinem Funkgerät und wandte sich direkt an mich. »Er hat angebissen.« »Ist der dumm«, sagte ich. Porters Gesichtsausdruck kam einem Lächeln nahe. »Alle Gauner sind Dummköpfe, so oder so.« Es wurde halb acht. Fragend sah ich Porter an. Er schüttelte den Kopf. »Wir dürfen über Funk nicht zuviel sagen«, meinte er, »weil man nie weiß, wer mithört.« Genau wie in England, dachte ich. Die Presse konnte vor der Polizei am Schauplatz eines Verbrechens sein, und die Maus konnte von der Falle hören, bevor sie zuschnappte. Wir warteten. Das Warten zog sich hin. Jik gähnte, und Sarah hatte dunkle Augenringe. Draußen ging das rege, feudale Hotelleben ungestört seinen Gang, freuten sich die angeregt plaudernden Gäste auf den bevorstehenden Renntag, den letzten der Woche. Das Derby am Samstag, der Cup am Dienstag, das Oaks (ohne uns) am Donnerstag und das International wieder am Samstag. Vorher fuhr kein ernsthafter Freund der Rennbahn nach Hause, wenn es sich vermeiden ließ. Porter hielt wieder sein Ohr zu und straffte sich. »Er ist da«, sagte er. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund begann mein Herz im Akkord zu schlagen. Wir waren völlig außer Gefahr, und doch hämmerte es wie eine Dampforgel. Porter nahm den Ohrknopf ab, stellte das Gerät auf den Schreibtisch und ging hinaus ins Foyer. »Was tun wir jetzt?« fragte Sarah. »Wir hören erst mal zu.«
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Alle drei gingen wir zur Tür hinüber und hielten sie einen Spaltbreit offen. Wir hörten Leute nach ihren Zimmerschlüsseln fragen, nach Briefen und Nachrichten, nach Mr. und Mrs. Soundso, wie man nach Toorak kam und wie am besten zu Fanny’s. Dann fuhr mir plötzlich ein Kribbeln in die Fingerspitzen: die Stimme, die ich kannte. Selbstbewußt, nichts Böses ahnend. »Ich möchte ein Paket abholen, das ein Mr. Charles Todd hier am Dienstag zurückgelassen hat. Es soll in der Gepäckaufbewahrung sein. Daß Sie es mir aushändigen dürfen, geht aus diesem Brief von ihm hervor.« Papier raschelte, als der Brief überreicht wurde. Sarahs Augen waren rund und verblüfft. »Hast du das geschrieben?« fragte sie leise. Ich schüttelte den Kopf. »Nein.« Draußen sagte der Portier: »Danke, Sir, wenn Sie einen Augenblick warten, hole ich Ihnen das Paket.« Danach war Ebbe. Mein Herz machte viel Krach, aber sonst geschah wenig. Der Portier kam zurück. »Bitte sehr, Sir. Es sind Gemälde.« »Ganz recht.« Man hörte, wie die Leinwände und die Grafikmappe nach vorn getragen wurden. »Ich bringe sie Ihnen, Sir«, sagte der Portier, plötzlich näher bei uns. »Bitte sehr.« Er ging am Büro vorbei und durch die Schwingtür am Empfang nach vorn. »Schaffen Sie das allein, Sir?« »Jaja. Vielen Dank.« Jetzt, wo er die Beute in den Händen hielt, hatte er es offenbar eilig. »Danke. Auf Wiedersehen.« Sarah hatte ein enttäuschtes »Das war alles?« auf den Lippen, als Porters laute Stimme wie eine Axt in den HiltonPlüschsamt krachte. »Die Bilder übernehmen wir mal, wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte er. »Porter, Stadtpolizei Melbourne.« 242
Ich öffnete die Tür etwas weiter und sah hinaus. Porter stand breitbeinig in der Halle, groß und kantig, die Hand fordernd ausgestreckt. Neben ihm zwei Beamte in Zivil. Am Haupteingang zwei in Uniform. Wahrscheinlich waren auch die anderen Ausgänge bewacht. Sie gingen kein Risiko ein. »Aber Inspektor... ich bin doch nur im Auftrag hier, ehm... für meinen jungen Freund Charles Todd.« »Und die Gemälde?« »Fragen Sie mich nicht. Er hat mich nur gebeten, sie für ihn abzuholen.« Leise trat ich aus dem Büro und ging durch die Schwingtür nach vorn. Ich lehnte mich etwas flatterig gegen die Theke. Er stand keine zwei Meter entfernt, rechts vor mir. Ein Schritt, und ich hätte ihn berühren können. Hoffentlich fand Porter das für seine Zwecke nah genug. Ein gewisses Unbehagen hatte sich unter den Gästen des Hilton breitgemacht. Sie standen mehr oder minder im Halbkreis und beobachteten das Geschehen aus den Augenwinkeln. »Mr. Charles Todd hat Sie gebeten, diese Bilder abzuholen?« fragte Porter laut. »So ist es.« Plötzlich blickte Porter zu mir. »Stimmt das?« »Nein«, sagte ich. Die Wirkung war so durchschlagend, wie es sich die Polizei von Melbourne nur wünschen konnte, und weitaus stärker, als ich erwartet hatte. Es gab keine höfliche, diskrete Gegenüberstellung mit anschließender höflicher, diskreter Festnahme. Ich hätte an meine Theorie von der Brutalität des Kopfs der Bande denken sollen. Jetzt blickte ich dem Stier direkt in die Augen. Er begriff, daß er überlistet worden war. Daß er sich durch sein 243
Erscheinen und durch die dafür gelieferte Begründung verraten hatte. Die Wut schoß wie ein Geiser in ihm hoch, und er sprang mir an die Gurgel. »Du bist tot!« schrie er. »Du bist tot, du Arsch!« Durch die Wucht seines Angriffs verlor ich die Balance und schlug mit dem Knie auf, während er mich im Würgegriff hielt, und seine zweihundert Pfund mich halb erdrückten, da es mir nicht gelang, ihn mit den Fäusten abzuwehren. Sein Zorn ergoß sich wie Lava über mich. Weiß der Himmel, was er vorhatte, aber Porters Männer rissen ihn zurück, ehe es zum Schlimmsten kam. Als ich mich hochrappelte, hörte ich die Handschellen klicken. Er stand dicht vor mir, zitternd, als wäre er kaum zu halten, schwer atmend, zerzaust, mit bitterem Blick. Alles Kultivierte weggefegt in einem Moment unbezähmbarer Wut. Der gewalttätige Kern lag blank. »Tag, Hudson«, sagte ich. »Tut mir leid«, meinte Porter obenhin. »Hätte nicht gedacht, daß er wild wird.« »Daß er es so ausläßt«, korrigierte ich. »Bitte?« »Er war immer wild, nur nicht nach außen.« »Wenn Sie es sagen. Ich sehe den Mann heute zum ersten Mal.« Er nickte Jik, Sarah und mir zu, bevor er seinem entschwindenden Gefangenen nacheilte. Wir sahen uns ein wenig ratlos an. Die zuerst noch neugierigen Hotelgäste entfernten sich langsam. Matt ließen wir uns auf das nächste blaue Samtsofa sinken, Sarah in der Mitte. Jik nahm ihre Hand und drückte sie. Sie legte ihre Hand auf meine. Neun Tage hatte es gedauert. Ein weiter Weg lag hinter uns. 244
»Ich weiß nicht, wie es mit euch ist«, sagte Jik, »aber ich könnte ein Bier vertragen.« »Todd«, sagte Sarah, »erzähle.« Wir waren oben in meinem Zimmer, sie beide in friedlicher Stimmung, ich in Jiks Morgenmantel, er und ich eingehüllt in eine aseptische Wolke. Ich gähnte. »Von Hudson?« »Was sonst? Und schlaf nicht ein, bevor wir ganz im Bilde sind.« »Tja... ich habe nach ihm – oder jemand wie ihm – gesucht, bevor ich ihn überhaupt kannte.« »Und wieso?« »Wegen des Weins«, sagte ich. »Weil Donalds Weinkeller ausgeräumt worden war. Der Weindieb wußte nicht nur, daß der Wein dort im Basement war, hinter einer unauffälligen Tür, die nach Besenkammer aussieht – ich war schon öfter im Haus und hatte keine Ahnung von dem Keller –, sondern muß laut Donald auch mit entsprechend vielen Kisten angerückt sein. Weinkisten fassen gewöhnlich zwölf Flaschen... und Donald wurden mindestens zweitausend Flaschen gestohlen. Die wollen erst mal bewegt sein. Das dauert, und Zeit ist für Einbrecher immer ein Risiko. Außerdem waren es besondere Weine. Ein kleines Vermögen wert, sagte Donald. Weine, die als Kapitalanlage gehandelt werden und die, falls sie überhaupt jemand trinkt, schließlich einen Wochenlohn pro Flasche kosten. Jedenfalls mußte der Wein fachmännisch behandelt und gehandelt werden... und da Donald Weinhändler ist und Wein ihn auch nach Australien geführt hat, habe ich von Anfang an nach jemand gesucht, der Donald kennt, weiß, daß er einen Munnings gekauft hat, und etwas von gutem Wein und Weinhandel versteht. Prompt stieß ich auf Hudson Taylor, auf den das alles zutraf. Aber es schien zu simpel... weil der äußere Eindruck dagegen sprach.« 245
»Elegant und freundlich«, nickte Sarah. »Und reich«, ergänzte Jik. »Geldoman wahrscheinlich«, sagte ich, schlug die Bettdecke zurück und betrachtete sehnsüchtig die kühlen, weißen Laken. »Bitte?« »Geldoman. Das Wort habe ich mir gerade ausgedacht für Leute, die hemmungslos hinter Knete her sind.« »Von denen wimmelt es«, lachte Jik. Ich schüttelte den Kopf. »Trinken tut jeder, aber bei Alkoholikern ist es eine Sucht. Geldomanen sind süchtig. Sie kriegen einfach nie genug. Wieviel sie auch haben, sie wollen immer mehr. Und ich rede hier nicht von uns Normalverbrauchern, sondern von wirklich Verrückten. Geld, Geld, Geld. Wie eine Droge. Geldomanen tun dafür alles... Entführung, Mord, Banken und Datenbanken ausrauben, ihre Großmutter verkaufen... ganz egal.« Ich saß mit ausgestreckten Beinen auf dem Bett und fühlte mich alles andere als fit. Zu viele blaue Flecke, die schmerzten, zu viele Schnittwunden, die brannten. Sicher auch bei Jik. Die Steine hatten es in sich gehabt. »Geldomanie«, dozierte Jik wie vor einer müden Studentenschaft, »ist eine weitverbreitete Krankheit mit einem Syndrom, das jeder kennt, der schon mal einen Anflug von Habgier verspürt hat, also wirklich jeder.« »Mach weiter mit Hudson«, sagte Sarah. »Hudson hatte das nötige Organisationstalent... Als ich herkam, wußte ich zwar nicht, daß die Organisation so groß war, aber daß Organisation dahintersteckte, wußte ich. Das Ding lief international. So was geht nicht mit links. Da gehört schon allerhand dazu.« Jik riß eine Dose Bier auf und verzog das Gesicht vor Schmerz, als er sie mir herüberreichte. »Aber er überzeugte mich, daß ich bei ihm falsch lag«, sagte ich und trank einen Schluck. »Weil er so vorsichtig war. Er hat 246
getan, als müßte er den Namen der Galerie, wo Donald sein Bild gekauft hat, erst nachschauen. Wobei er mich gar nicht als Bedrohung ansah, sondern eben nur als Donalds Cousin. Bis er dann mit Wexford sprach.« »Auf der Rennbahn«, sagte Sarah. »Du meintest, jetzt sei alles zu spät.« »Mhm... weil ich dachte, jetzt hat er Wexford erzählt, daß ich Donalds Cousin bin, aber umgekehrt hat Wexford ihm da natürlich auch erzählt, daß ich Greene bei Maisies abgebranntem Haus in Sussex gesehen und mir in seiner Galerie dann das Original von Maisies verbranntem Bild angeschaut hatte.« »Allmächtiger«, sagte Jik. »Kein Wunder, daß wir nach Alice Springs verduftet sind.« »Ja, aber da hatte ich Hudson eigentlich nicht in Verdacht. Ich war hinter einem brutalen Kerl her, der Leute hat, die für ihn Gewalt gebrauchen. Hudson hatte nichts Brutales an sich.« Ich schwieg. »Nur einmal bekam der Lack einen ganz kleinen Riß, und zwar, als beim Pferderennen seine Wette platzte. Da hat er sein Fernglas so fest gepackt, daß die Knöchel weiß hervortraten. Aber man hält ja nicht gleich jemand für einen Schwerverbrecher, bloß weil er sich über eine verlorene Wette aufregt.« Jik grinste. »Sonst wäre ich auch verdächtig.« »Doppelt und dreifach«, sagte Sarah. »Im Krankenhaus in Alice Springs habe ich darüber nachgedacht... In der kurzen Zeit zwischen dem Kauf von Renbos Bild in der Galerie und meinem Flug vom Balkon konnten die Schläger nicht von Melbourne nach Alice gekommen sein, sehr wohl aber von Adelaide aus, und in Adelaide saß Hudson... aber das schien mir viel zu dünn.« »Sie könnten auch schon vorher in Alice gewesen sein«, gab Jik zu bedenken.
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»Könnten sie, aber wozu?« Ich gähnte. »Dann habt ihr mir am Abend nach dem Cup erzählt, Hudson hätte sich ausdrücklich nach mir erkundigt... und ich habe mich gefragt, woher er euch kennt.« »Das hat mich auch gewundert«, fiel Sarah ein, »aber was war schon dabei? So wie wir ihn von der Tribüne aus gesehen hatten, konnte er uns ja irgendwo mit dir gesehen haben.« »Der Junge kannte euch«, sagte ich. »Und er war auf der Rennbahn, denn er ist euch mit Greene zum Hilton gefolgt. Der Junge wird Greene auf euch hingewiesen haben.« »Und der wiederum Wexford, und Wexford Hudson?« fragte Jik. »Sehr wahrscheinlich.« »Und da wußten sie inzwischen«, sagte er, »daß sie dir dringend den Mund stopfen mußten und daß sie schon mal eine Gelegenheit dazu gehabt hatten, ohne sie zu nutzen... Ich wäre zu gern dabeigewesen, als sie in der Galerie unseren Einbruch entdeckt haben.« Er lachte leise und hob die Bierdose an, um die letzten Tropfen aufzufangen. »Am Morgen danach«, sagte ich, »wurde ein Brief von Hudson im Hilton abgegeben. Woher wußte er, daß wir dort wohnen?« Sie starrten mich an. »Wahrscheinlich von Greene«, sagte Jik. »Von uns bestimmt nicht. Wir haben es keinem erzählt. Da waren wir vorsichtig.« »Ich auch«, sagte ich. »Der Brief war eine Einladung zur Weinbergbesichtigung. Nun... hätte ich nicht so an ihm gezweifelt, wäre ich vielleicht darauf eingegangen. Er war ein Bekannter von Donald... und Weingüter sind schon interessant. Von seinem Standpunkt aus lohnte es sich jedenfalls, das zu versuchen.« »Heiland!« »Als wir am Abend nach dem Cup in dem Motel hinter Box Hill waren, habe ich die Polizei in England angerufen und mit 248
dem Mann gesprochen, der Donalds Fall bearbeitet, einem Inspektor Frost. Ich bat ihn, Donald ein paar Fragen zu stellen... und heute morgen, außerhalb von Wellington, habe ich die Antworten bekommen.« »Heute morgen scheint einige Lichtjahre weit weg zu sein«, meinte Sarah. »Mhm...« »Was für Fragen und was für Antworten?« wollte Jik wissen. »Gefragt hatte ich, ob Donald Hudson von dem Wein in seinem Keller erzählt habe, ob er auch Wexford von dem Wein im Keller erzählt habe und ob der Vorschlag, sie sollten sich den Munnings im Arts Centre ansehen, von Hudson gekommen sei. Und die Antworten waren: ›Ja, natürlich‹, ›Nein, wie käme ich dazu?‹ und ›Ja‹.« Schweigend dachten sie darüber nach. Jik ging an den Kühlschrank und holte noch eine Dose Foster’s aus dem Getränkefach. »Und dann?« fragte Sarah. »Der Polizei Melbourne genügte das nicht als Beweis, aber wenn sich Hudson einwandfrei mit der Galerie in Verbindung bringen ließ, war der Fall klar. Also haben sie Hudson die Bilder und die anderen Sachen, die wir aus der Galerie gestohlen hatten, unter die Nase gehalten, und schon kam er, um sie abzuholen.« »Wie denn unter die Nase gehalten?« »Sie ließen Wexford wie zufällig Bruchstücke aus einem fingierten Bericht hören, in dem es um nicht abgeholtes Gepäck in verschiedenen Hotels ging, darunter auch die Bilder im Hilton. Nachdem wir dann hier angekommen waren, gaben sie ihm Gelegenheit, ›ungestört‹ zu telefonieren, und er rief Hudson unter der Adresse an, die er während der Rennwoche immer bewohnt, und gab ihm Bescheid. Prompt stellte sich Hudson eine Vollmacht von mir aus und kam angedüst, um das belastende Material zu entfernen.« 249
»So ein Irrsinn.« »Dumm. Aber er dachte ja, ich sei tot... und er ahnte nicht, daß er unter Verdacht stand. Normalerweise hätte er sich sagen müssen, daß die Polizei Wexfords Anruf mithört... aber wie ich von Frost weiß, war alles so eingerichtet, daß Wexford annahm, er spreche von einer normalen Telefonzelle aus.« »Hinterhältig«, meinte Sarah. Ich gähnte. »Heimtücker fängt man mit Heimtücke.« »Bei Hudson hätte ich überhaupt nicht gedacht, daß er derart ausrasten kann«, sagte sie. »Er sah so... so gefährlich aus.« Sie fröstelte. »Man sollte nicht meinen, daß jemand eine so beängstigende Gewalttätigkeit unter äußerer Freundlichkeit verbergen kann.« »Der nette Ire von nebenan«, sagte Jik im Aufstehen, »kann eine Bombe legen, die Kindern die Beine abreißt.« Er zog Sarah hoch. »Was glaubst du eigentlich, was ich male?« sagte er. »Blumensträuße?« Er sah auf mich herunter. »Pferde?« Wir trennten uns am nächsten Morgen auf dem Flughafen von Melbourne, auf dem wir inzwischen schon recht heimisch waren. »Komisch, jetzt so auseinanderzugehen«, meinte Sarah. »Ich komme wieder«, sagte ich. Sie nickten. »Tja...« Wir sahen auf unsere Uhren. Es war wie jeder Abschied. Viel zu sagen gab es nicht. Ich sah in ihren Augen, und sie in den meinen sicher auch, daß die vergangenen zehn Tage bald zur wehmütigen Erinnerung verblassen würden. Ein Streich aus unserer verrückten Jugend. Weit entfernt. »Würdest du das Ganze noch mal machen?« fragte Jik. Ich mußte ohne rechten Zusammenhang an Luftwaffenpiloten denken, die vierzig Jahre nach dem Krieg 250
Rückschau hielten. Waren ihre Erfolge das Blut, den Schweiß, die Lebensgefahr, unter denen sie errungen wurden, wert gewesen? War da ein bitterer Nachgeschmack? Ich lächelte. In den nächsten vierzig Jahren war alles möglich. Was die Zukunft aus der Vergangenheit machte, war ihr Problem. Was wir aus dem Heute machten, nur darauf kam es an. »Ich denke schon«, sagte ich. Ich beugte mich vor und küßte Sarah, die Frau meines ältesten Freundes. »He«, sagte er, »such dir selber eine.«
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Maisie sah mich zuerst und stürzte sich wie ein großer scharlachroter Vogel mit ausgebreiteten Schwingen auf mich. Montag Mittag auf der Rennbahn von Wolverhampton, neblig und kalt. »Tag, mein Lieber, wie schön, daß Sie gekommen sind. Hoffentlich hatten Sie einen guten Flug – das ist doch so weit, da kommt doch die ganze innere Uhr durcheinander?« Sie tätschelte mir den Arm und musterte mich aufmerksam. »So richtig gut sehen Sie nicht aus, wenn ich das sagen darf, Charles. Und braun geworden sind Sie auch nicht, obwohl anderthalb Wochen dafür vielleicht auch etwas knapp sind, aber die Hand haben Sie sich ja bös zerschnitten, und mir fällt auf, daß Sie sehr vorsichtig gehen.« Sie schwieg und sah zu, wie eine Reihe Jockeys an uns vorbei zum Start galoppierten. Leuchtende Farben gegen den dünnen grauen Nebel. Ein Sujet für Munnings. »Schon gewettet, mein Lieber? Und ist Ihnen der Anorak auch wirklich warm genug? Ich finde immer, Jeans sind nichts für den Winter, das ist schließlich nur Baumwolle, und wie ist es Ihnen denn nun in Australien ergangen? Ich meine, haben Sie da drüben was erreicht?« »Das ist eine furchtbar lange Geschichte...« »Die man sich am besten in der Bar erzählt, nicht wahr?« Sie bestellte uns zwei große Brandys mit Ginger-Ale und ließ sich an einem kleinen Tisch nieder, gespannte Erwartung in den freundlichen Augen. Ich erzählte ihr von Hudsons Organisation, von der Galerie in Melbourne und der Liste der Einbruchskandidaten. »Stand ich da drauf?« Ich nickte. »Ja.«
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»Und Sie haben sie der Polizei gegeben?« fragte sie ängstlich. Ich grinste. »Seien Sie unbesorgt, Maisie. Ihr Name war schon gestrichen. Ich habe ihn noch ein paarmal mehr durchgestrichen. Den kann jetzt keiner mehr entziffern, schon gar nicht auf einer Fotokopie.« Sie lächelte breit. »Sie sind wirklich auf Draht.« Da war ich mir nicht so sicher. »Ihre neuntausend Pfund«, sagte ich, »müssen Sie aber wohl abschreiben.« »Und wenn schon«, meinte sie vergnügt. »Das hab ich eben davon, daß ich den Zoll betrügen wollte, aber offen gestanden würde ich es beim nächsten Mal wieder so machen, denn die Steuer ärgert mich doch gewaltig. Allerdings bin ich schon froh, daß sie diesmal nicht bei mir anklopfen, oder vielmehr bei meiner Schwester Betty, denn wie man Ihnen im Beach sicher gesagt hat, wohne ich wieder bei ihr, bis mein Haus fertig ist.« Ich stutzte. »Welches Haus?« »Nun, mein Lieber, ich habe mir überlegt, daß ich das Haus in Worthing doch nicht wieder aufbauen lasse, denn ohne die Schätze, die Archie und ich dort zusammengetragen haben, wäre es doch nicht dasselbe, und so habe ich das Seegrundstück für ein Vermögen verkauft und mir ein hübsches Plätzchen in Sandown gesucht, ganz nah an der Rennbahn.« »Sie gehen also nicht nach Australien?« »Ach nein, Charles, das wäre mir zu weit weg. Von Archie, wenn Sie verstehen.« Ich verstand. Ich mochte Maisie sehr. »Ihr Geld habe ich leider ganz ausgegeben«, sagte ich. Den gut frisierten Kopf auf die Seite gelegt, lächelte sie mich an und streichelte gedankenverloren ihre Krokodilhandtasche. »Das macht nichts, Charles. Dann malen Sie mir eben zwei Bilder. Eins von mir und eins von meinem neuen Haus.«
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Ich ging nach dem dritten Rennen, nahm den Zug nach Shrewsbury und fuhr von dort mit dem Bus zu Inspektor Frosts Dienststelle. Er saß an seinem Schreibtisch, bis zum Hals in Akten vergraben. Ebenfalls anwesend war der durchdringend blickende Kommissar Wall, der Donald so zermürbt hatte und den ich noch nicht kannte. Beide gaben mir ruhig und geschäftsmäßig die Hand, wobei Walls Augen unbeeindruckt über den Anorak, die Jeans und meine Wüstentreter glitten. Ein lehnenloser Stuhl aus Formplastik wurde mir angeboten. »Da haben Sie ja einen wahren Termitenbau aufgedeckt«, meinte Frost mit einem leisen Lächeln. Wall zog die Brauen zusammen, als wäre ihm dieser Ton zu locker. »Wie es ausschaut, sind Sie auf eine recht große Organisation gestoßen.« Beide Männer blickten auf den Berg von Papieren. »Was ist mit Donald?« fragte ich. Frost hielt den Blick gesenkt. Seine Mundwinkel zuckten. Wall sagte: »Wir haben Mr. Stuart mitgeteilt, daß für den Einbruch in sein Haus und für den Tod von Mrs. Stuart nach unseren Erkenntnissen Dritte verantwortlich sind, die ohne sein Wissen und ohne sein Zutun gehandelt haben.« Ein schwacher Trost. »Hat er das auch verstanden?« Wall zog die Brauen hoch. »Ich war heute früh selbst bei ihm. Es dürfte ihm alles eingegangen sein.« »Und was ist mit Regina?« »Mit der Leiche von Mrs. Stuart«, verbesserte Wall. »Donald möchte sie beerdigen«, sagte ich. Frost sah mit einem direkt menschlichen Ausdruck von Mitgefühl auf. »Das Problem ist«, sagte er, »daß in einer Mordsache die Leiche des Opfers bereitgehalten werden muß für den Fall, daß die Verteidigung eine eigene Leichenschau beantragt. Hier haben wir bislang keine Anklage wegen Mordes erheben können, und Verteidiger konnten schon gar 254
nicht bestellt werden.« Er räusperte sich. »Wir werden Mrs. Stuarts Leichnam zur Bestattung freigeben, sobald die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind.« Ich schlug die Augen nieder, verschränkte die Finger. »Sie haben schon sehr viel für Ihren Cousin getan«, sagte Frost. »Mehr kann er nicht verlangen.« Ich lächelte schief und stand auf. »Ich werde ihn besuchen«, sagte ich. Wall gab mir die Hand, und Frost kam mit mir hinaus zur Straße. Lampen leuchteten hell im frühen Winterabend. »Inoffiziell«, begann er, während er langsam auf dem Gehsteig neben mir herging, »will ich Ihnen sagen, daß die Melbourner Polizei in der Galerie eine Liste mit den Namen einschlägig bekannter Einbrecher sichergestellt hat. Aufgeteilt nach Ländern, wie die Überseekundschaft. Vier Engländer waren dabei. Wahrscheinlich sollte ich darüber nicht spekulieren, und bestimmt sollte ich Ihnen das jetzt nicht sagen, aber es könnte durchaus sein, daß der Mörder von Mrs. Stuart darunter zu suchen ist.« »Glauben Sie?« »Ja. Aber behalten Sie das für sich.« Er sah besorgt aus. »Sie haben mein Wort«, sagte ich. »Die Einbrüche sind also von Inländern verübt worden?« »Das war offenbar das übliche Verfahren.« Greene, dachte ich. Mit ›e‹. Greene konnte sie angeworben haben. Um nach getaner Arbeit dann die Brandruinen zu inspizieren. Ich blieb stehen. Wir waren vor dem Blumengeschäft, in dem Regina gearbeitet hatte. Frost betrachtete die großen, bronzefarbenen Chrysanthemen im hell erleuchteten Schaufenster und sah mich fragend an. Ich griff in meine Tasche und zog die sechs Patronenhülsen hervor. Gab sie Frost.
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»Die sind aus dem Revolver, mit dem der Mann namens Greene auf mich geschossen hat«, sagte ich. »Er hat sie beim Nachladen verloren. Ich habe Ihnen am Telefon davon erzählt.« Er nickte. »Wahrscheinlich läßt sich nicht viel damit anfangen«, sagte ich. »Aber immerhin ersehen Sie daraus, daß Greene imstande ist zu morden.« »Und weiter?« »Es ist nur so ein Gefühl...« »Heraus damit.« »Greene«, sagte ich, »war um die Zeit, als Regina starb, in England.« Er starrte mich an. »Vielleicht kannte Regina ihn«, sagte ich. »Sie war ja mit in der Galerie in Australien. Vielleicht hat sie ihn unter den Einbrechern in ihrem Haus gesehen... er könnte den Ablauf überwacht haben... und vielleicht wurde sie umgebracht, weil es eben nicht genügt hätte, sie zu fesseln und zu knebeln – sie hätte ihn zweifelsfrei identifizieren können, wenn sie am Leben geblieben wäre.« Er sah aus, als fiele ihm das Atmen schwer. »Das sind reine... Vermutungen«, sagte er. »Ich weiß genau, daß Greene zwei Wochen nach Reginas Tod in England war. Ich weiß genau, daß er in den Verkauf und den anschließenden Diebstahl von Gemälden verwickelt war. Ich weiß genau, daß er nicht davor zurückschreckt, jemand umzubringen, der ihn überführen könnte. Alles weitere... liegt bei Ihnen.« »Mein Gott«, sagte Frost. »Mein Gott.« Ich ging weiter in Richtung Bushaltestelle. Er blieb mit glasigem Blick neben mir. »Uns würde interessieren«, sagte er, »was Sie überhaupt auf die Spur der Organisation gebracht hat.« 256
Ich lächelte. »Ein heißer Tip.« »Von wem?« Von einer Schmugglerin in scharlachrotem Mantel, mit glanzgelacktem Haar und Krokodilhandtasche. »Informanten gibt man nicht preis«, sagte ich. Er seufzte, schüttelte den Kopf, blieb stehen und zog einen Telexstreifen aus dem Jackett. »Kennen Sie einen australischen Kriminalbeamten namens Porter?« »Allerdings.« »Dann ist das hier für Sie.« Er gab mir das Blatt Papier, und ich las die säuberlich getippten Worte: »Ich lasse dem Pinselschwinger danken.« »Würden Sie ihm für mich antworten?« Er nickte. »Und was?« »›Kein Problem‹«, sagte ich. Ich stand im Dunkeln vor dem Haus meines Cousins und schaute hinein. Er saß im erleuchteten Wohnzimmer, der ungerahmten Regina auf dem Kaminsims gegenüber. Ich seufzte und klingelte an der Tür. Nach einer Weile hörte ich Donald. Er öffnete mir. »Charles!« rief er überrascht. »Ich dachte, du seist in Australien.« »Seit gestern zurück.« »Komm rein.« Wir gingen in die Küche, wo es wenigstens warm war, und setzten uns einander gegenüber an den Tisch. Er war hager im Gesicht und sah wie fünfzig aus, der Schatten eines Mannes, der sich vom Leben zurückgezogen hat. »Wie geht das Geschäft?« fragte ich. »Geschäft?« »Der Weinhandel.« 257
»Ich war nicht im Büro.« »Wenn deine finanzielle Lage nicht ohnehin schon kritisch war«, sagte ich, »dann wird sie es bald sein.« »Das ist mir ziemlich egal.« »Du bist stehengeblieben«, sagte ich. »Steckengeblieben wie die Nadel auf der Schallplatte. Die immer wieder das gleiche Ende spielt.« Er sah an mir vorbei. »Die Polizei weiß, daß du mit dem Einbruchsdiebstahl nichts zu tun hattest.« Er nickte langsam. »Dieser Wall war da... und hat es mir gesagt. Heute morgen.« »Na siehst du.« »Das ändert doch auch nichts.« »Wegen Regina?« Er gab keine Antwort. »Du mußt damit aufhören, Donald«, sagte ich. »Sie ist tot. Seit fünf Wochen und drei Tagen ist sie tot. Möchtest du sie sehen?« Er sah mich entsetzt an. »Nein! Natürlich nicht.« »Dann hör auf, an ihren Leichnam zu denken.« »Charles!« Er stand so heftig auf, daß er seinen Stuhl dabei umwarf. Sichtlich geschockt, schwankte er zwischen Zorn und Empörung. »Sie liegt in einem Kühlfach«, sagte ich, »und du hättest sie gern in einer Kiste unter der kalten Erde. Wo ist da der Unterschied?« »Verschwinde«, sagte er laut, »ich will davon nichts hören.« »Du meinst, es geht dir um Regina«, sagte ich, ohne mich zu rühren, »aber du bist besessen von einem Haufen Mineralien. Diese... diese Hülle da in der Tiefkühlung ist nicht Regina. Die wahre Frau ist in deinem Kopf. In deiner Erinnerung. Du kannst sie nur am Leben erhalten, indem du an sie denkst. Da,
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in deinem Kopf, ist sie unsterblich. Wenn du dich dem Leben verweigerst, bringst du sie noch einmal um.« Er drehte sich auf dem Absatz um und marschierte hinaus. Ich hörte ihn auf dem Flur und nahm an, er wollte ins Wohnzimmer. Nach einer Weile folgte ich ihm. Die weiß gestrichene Tür war geschlossen. Ich öffnete sie. Trat ins Zimmer. »Geh weg«, sagte er. Was nützt es dem Menschen, dachte ich, wenn er von Balkons geworfen, beschossen und von Felsen aufgespießt wird und doch die Seele seines Cousins nicht retten kann? »Ich nehme das Bild mit nach London«, sagte ich. Bestürzung. Er sprang auf. »Das tust du nicht!« »Doch.« »Nein. Du hast es mir geschenkt.« »Es muß gerahmt werden«, sagte ich. »Sonst verzieht es sich.« »Du darfst es nicht mitnehmen.« »Komm doch auch mit.« »Ich kann hier nicht weg«, sagte er. »Wieso nicht?« »Werd nicht blöd«, fuhr er auf. »Du weißt genau, warum. Weil ich...« Seine Stimme erstarb. »Regina wird bei dir sein, wohin du auch gehst«, sagte ich. »Wann immer du an sie denkst, wird sie dasein.« Nichts. »Sie ist nicht hier im Zimmer. Sie ist in deinem Kopf. Du kannst hier weggehen und sie mitnehmen.« Nichts. »Sie war eine tolle Frau. Es ist sicher schrecklich ohne sie. Aber sie hat verdient, daß du dein Bestes gibst.« Nichts.
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Ich ging zum Kamin hinüber und nahm das Bild vom Sims. Reginas Gesicht lächelte mich lebhaft an. Ihr linker Nasenflügel war mir nicht so ganz gelungen, fand ich. Donald versuchte nicht, mich aufzuhalten. Ich legte die Hand auf seinen Arm. »Komm, wir holen deinen Wagen raus und fahren zu mir«, sagte ich. »Jetzt gleich.« Keine Antwort. »Komm«, sagte ich. Und endlich konnte er weinen. Ich holte tief Luft und wartete. »Okay«, sagte ich schließlich. »Wie sieht’s mit Benzin aus?« »Wir können...«, er zog die Nase hoch, »wir können auf der Autobahn tanken.«
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