MONOGRAPHIEN ZUR PHILOSOPHISCHEN FORSCHUNG Begründet von Georgi Schischkoff Band 194
Die Wiederholung Analysen zur Grun...
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MONOGRAPHIEN ZUR PHILOSOPHISCHEN FORSCHUNG Begründet von Georgi Schischkoff Band 194
Die Wiederholung Analysen zur Grundstruktur menschlicher Existenz im Verständnis Sören Kierkegaards
Victor Guarda
Forum Academicum in der Verlagsgruppe Athenäum • Hain • Scriptor • Hanstein
MONOGRAPHIEN ZUR PHILOSOPHISCHEN FORSCHUNG Begründet von Georgi Schischkoff Band 194
Die Wiederholung Analysen zur Grundstruktur menschlicher Existenz im Verständnis Sören Kierkegaards
Victor Guarda
Forum Academicum in der Verlagsgruppe Athenäum • Hain • Scriptor • Hanstein 1980
CIP - Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Guarda, Victor: Die Wiederholung: Analysen zur Grundstruktur menschl. Existenz im Verständnis Sören Kierkegaards / Victor Guarda. - Königstein/Ts.: Forum Academicum in d. Verlagsgruppe Athenäum, Hain, Scriptor, Hanstein, 1980. (Monographien zur philosophischen Forschung: Bd. 194) ISBN 3-445-02088-4 © 1980 Verlag Anton Hain Meisenheim GmbH, Forum Academicum Königstein/Ts. Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlags ist es auch nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Gesamtherstellung: Friedrich Pustet, Regensburg Printed in Germany ISBN 3-445-02088-4
Mein Leben ist bis zum Äußersten gebracht, es ekelt mich des Daseins, welches unschmackhaft ist, ohne Salz und Sinn. Wäre ich gleich hungriger als Pierrot, ich mochte dennoch nicht die Erklärung fressen, welche die Menschen anbieten. Man steckt den Finger in die Erde, um zu riechen, in welch einem Land man ist, ich stecke den Finger ins Dasein - es riecht nach nichts. Wo bin ich? Was heißt denn das; die Welt? Was bedeutet dies Wort? Wer hat mich in das Ganze hineinbetrogen, und laßt mich nun dastehen ? Wer bin ich? Wie bin ich in die Welt hineingekommen; warum hat man mich nicht vorher gefragt, warum hat man mich nicht erst bekannt gemacht mit Sitten und Gewohnheiten, sondern mich hineingesteckt in Reih und Glied als wäre ich gekauft von einem Menschenhändler? Wie bin ich Teilhaber geworden in dem großen Unternehmen, das man Wirklichkeit nennt? Warum soll ich Teilhaber sein? Ist das nicht Sache freien Entschlusses? Und falls ich genötigt sein sollte es zu sein, wer ist denn da der verantwortliche Leiter - ich habe eine Bemerkung zu machen -? Gibt es keinen verantwortlichen Leiter? An wen soll ich mich wenden mit meiner Klage? Das Dasein ist ja eine Diskussion, darf ich bitten, meine Betrachtung mit zur Verhandlung zu stellen? Wenn man das Dasein nehmen soll wie es ist, wäre es dann nicht das Beste, man erführe wie es ist? Sören Kierkegaard DIE WIEDERHOLUNG
Vorwort Mit der Schrift DIE WIEDERHOLUNG lege ich das Ergebnis einer langjährigen Forschungsarbeit vor, die ihre intensivste Phase in den Jahren von 1967-1971 an der Universität Hamburg hatte und die ermöglicht wurde durch ein Stipendium der Fritz Thyssen Stiftung, für das ich mich an dieser Stelle noch einmal bedanken mochte. Mein Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Pierre Aubenque (damals noch Universität Hamburg), der meine Arbeit betreut hat; ebenso Herrn Prof. Dr. Niels Thulstrup, Direktor des SörenKierkegaard-Instituts, der mir stets mit Rat und Tat zur Seite gestanden hat. Zu danken habe ich schließlich der Tiroler Landesregierung und dem Sü'dtiroler Kulturinstitut für die Gewährung einer Druckbeihilfe. - Ein Teil meiner Forschungsarbeit ist unter dem Titel KIERKEGAARD-STUDIEN (Beiheft zur „Zeitschrift für philosophische Forschung", Heft 34, Meisenheim am Glan 1975) bereits erschienen. Auf diese Schrift, die in gewisser Weise eine Vorarbeit darstellt, wird des öfteren Bezug genommen werden. Meran, Frühjahr 1980
Victor Guarda
Inhalt Einleitung I. Die Frage nach der Wiederholung 1. Die Persönlichkeit Kierkegaards 2. Das Regine-Erlebnis und die Konzeption der Wiederholung . . 3. Ideelle und materielle Wiederholung II. Die Funktion der Wiederholung 1. Gentagelse-Wiederholung 2. Wiederholung und Erinnerung 3. Wiederholung und Vermittlung III. Die Dialektik derWiederholung 1. Die Menschwerdung a) Die mythische Stufe: Dasein als Nachahmung b) Die geschichtliche Stufe: Dasein als Wieder-holung c) Die heilsgeschichtliche Stufe: Dasein als Versöhnung . . . . 2. Die drei großen Ideen a) Das Ästhetische oder die wiederholte Unmittelbarkeit (der Verführer) b) Das Ethische oder das verdoppelte Interesse (der Ehemann) . c) Das Religiöse oder die „Doppelbewegung der Unendlichkeit" (der Glaubensritter) 3. Die Selbstwerdung
13 13 18 25 30 30 31 35 40 40 43 57 66 71 72 82 89 96
IV. Die Grenzen derWiederholung
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Quellenverzeichnis
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Anmerkungen
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Einleitung Die hier vorliegende Schrift will eines nicht: Kierkegaard von irgendwelchen ideologischen Voraussetzungen her bestätigen oder widerlegen. Sie ist vielmehr gedacht als ein Beitrag zum Versuch, jenes kritische Bewußtsein zurückzugewinnen, von dem die philosophische Diskussion beseelt war, ehe sie in einer Art babylonischer Sprachverwirrung zu einem Nebeneinander weltanschaulicher Positionen verweste. Das Werk des Dänen ist für ein solches Vorhaben sicherlich nicht der einzige mögliche Ausgangspunkt, wohl aber ein besonders günstiger, allein schon der geistesgeschichtlichen Konstellation wegen, der es entstammt. Wenn etwas in unserer Zeit zu einer Kunst geworden ist - wie sehr hat schon Kierkegaard darüber geklagt! -, dann bestimmt nicht das Wissen und Reden, sondern jenes sokratische Nichtwissen und Zuhörenkönnen, durch das ein Individuum, eine Gemeinschaft, eine ganze Generation dazu gebracht wird, nicht immer nur steril sich selbst zu reproduzieren, sondern dialektisch (dialogisch) über sich hinauszuwachsen. Diese Untersuchung sieht es daher auch keineswegs als ihre Aufgabe an, Kierkegaards Schriften auf „Zeitgemäßes" und „Unzeitgemäßes" abzuklopfen. Sie will vielmehr Kierkegaard so zu Wort kommen lassen, daß sich über die Zeiten und alles Trennende hinweg ein wahrhafter, fruchtbringender Dialog entwickeln kann. Darauf, daß alle von Kierkegaard aufgegriffenen Themen und Probleme zur Sprache kommen, wird kein Wert gelegt. - Dennoch dürfte, wenn die Intention der Untersuchung sich erfüllt, kaum etwas Wesentliches vermißt werden. So wenig ist Kierkegaards Werk aphoristisch oder gar der momentanen Eingebung verpflichtet, daß man es nur an einer zentralen Stelle anzugehen braucht, damit das Ganze fast zwangsläufig mit in die Betrachtung einfließt. Allerdings ist dieses Ganze derart komplex, daß man es auf verschiedenen Denkebenen wiederholt in Angriff nehmen muß. Die Wiederholung ist also nicht allein das Thema, sondern in gewisser Weise auch die Methode der vorliegenden Untersuchung. Nachteile, die sich daraus ergeben - ein etwas umständlicher und langwieriger, einkreisender statt zupackender Denkvorgang -, sind gerechtfertigt auch durch Kierkegaards eigene Methode, die aus gutem Grund zu verhindern trachtet, daß Verstehen sich sozusagen im Kurzschluß vollzieht: indem es zum billigen Resultat macht, was in dialektischer Existenz mühsam gewachsen ist. Wie man weiß, ist Kierkegaards indirekte Form der Mitteilung vor allem durch den gezielten Gebrauch von Pseudonymen gekennzeichnet. Es gilt dabei zu unterscheiden zwischen Pseudonymen, die nicht ohne weiteres die Überzeugung des Autors wiedergeben, obwohl sie Verkörperungen seiner Lebenserfahrungen sind; und Pseudonymen, die im Prinzip des Autors
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eigene Überzeugung vertreten, obwohl sie als Vorbilder für ihn unerreichbar bleiben. Gleichzeitig muß man aber bedenken, daß die verschiedenen Pseudonyme nicht einfach verschiedene Ansichten darstellen, mit denen man alles belegen und die man nötigenfalls gegeneinander ausspielen kann, sondern Denkebenen, Brechungen der Reflexion im Prisma existierender Subjektivität, deren Stimmigkeit herzustellen und deren Unstimmigkeit aufzudecken ist. - Hieraus leitet sich dann ganz von selbst die Forderung ab, im Zusammenbang zu interpretieren, und das heißt: im Bewußtsein des Stellenwertes der einzelnen Schriften und Aussagen. Auch und gerade für Kierkegaard gilt Hegels Satz, daß die Wahrheit das Ganze ist! Bei aller aufgebotenen Mühe und Sorgfalt kann diese Schrift aber lediglich die Richtung weisen. Vieles muß, manches soll Andeutung bleiben. Das Muß wird diktiert von Grenzen, wie sie ähnlich jeder einzelnen Interpretation gesetzt sind; das Soll vom Charakter des zu interpretierenden Werkes. Denn es hieße einen Alptraum des Dänen wahrmachen, wollte man sein durchlebtes und nicht selten durchlittenes Denken in einem abgeschlossenen System zum Gerinnen bringen. Der christlich-humanistische Geist, der dieses Philosophieren durchwaltet, erfordert eine Form der Wiedergabe, die von der Einsicht geprägt ist, daß die „wesentliche Wahrheit" wesentlich der selbsttätigen Aneignung durch den persönlichen einzelnen bedarf.
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I. Die Frage nach der Wiederholung 1. Die Persönlichkeit Kierkegaards Kierkegaard interessiert nicht nur die Philosophen. Neben den Theologen, deren Interesse an einem ebenso prominenten wie zwielichtigen Mitstreiter ohne weiteres einleuchtet, haben sich auch die Psychoanalytiker seiner angenommen, für die er zweifellos ein ungewöhnlich dankbarer Fall ist. Daß man ferner von soziologischer Seite auf ihn aufmerksam wurde, braucht nicht zu überraschen. Vor allem der marxistisch orientierte Soziologe mußte sich durch die Ausnahmeerscheinung des Dänen angesprochen und förmlich dazu herausgefordert fühlen, den reduktionistischen Grundgedanken der Marxschen Theorie auch und gerade an ihr als universales Interpretationsinstrument zu erproben. Und Kierkegaard erwies sich einmal mehr als dankbarer Fall. Was auf den ersten Blick wie ein Vorteil aussieht: im Schnittpunkt weitgestreuter Interessen zu stehen, kann einem Denker in Wirklichkeit zum Verhängnis werden. Ein „dankbarer Fall" für Psychologen und Soziologen (welcher Schule auch immer) zu sein, bedeutet fast mit Notwendigkeit, daß die Aufmerksamkeit von dem, was zur Debatte gestellt wurde, auf die Person dessen, der zur Debatte stellt, abgelenkt wird. Und in der Tat: Je konsequenter die Interpretation sich bemühte - durch vorsorgliches sich Verbergen hinter Pseudonymen eher ermutigt als abgehalten - Kierkegaards Werk von der Person her (psychologisch, soziologisch oder auch theologisch) ein für allemal zu „entschlüsseln", um so mehr ging das philosophische Anliegendes Interpretierten verloren, und wurde der offene, produktive Dialog durch eine monologische Explikation der je eigenen Voraussetzungen verdrängt. Die vorliegende Untersuchung wird sich davor hüten, ihre Auseinandersetzung mit der Philosophie Kierkegaards von dessen Person her zu führen. Wenn dennoch an ihrem Anfang der Veranlagung, der Erziehung und der sozialen Stellung dieses Denkers nachgefragt wird, so einzig und allein mit der Absicht, einen möglichst natürlichen, der ursprünglichen Denkbewegung gemäßen Zugang zu den Problemen zu gewinnen, die hier anstehen. Ein solcher Einstieg in die Erörterung erscheint bei Kierkegaard deswegen besonders angebracht, weil bei ihm Leben und Werk eine in existentiellem Denken bewußt angestrebte Einheit bilden - „uno tenore" sind. Unser Autor gehört ganz offensichtlich zu jener Art von Menschen, deren geistiges Schaffen durch ein großes Erlebnis bestimmt ist und dementspre- t chend aus lauter Variationen zu ein und demselben Thema, aus der vielfältigen und vielschichtigen Abwandlung eines einzigen Grundmotivs zu bestehen scheint. Kierkegaards Erlebnis bestand bekanntlich in seiner unglücklichen Liebe
14 zu Regine Olsen. 1837 - mit 24 Jahren - hatte er sie kennengelernt, 1840 verlobte er sich mit ihr, und schon ein Jahr später löste er das Verlöbnis wieder auf. Obwohl der Däne zu diesem Zeitpunkt erst 28 Jahre alt war und bis zu seinem Tod noch 14 Jahre zu leben hatte, blieb Regine die einzige Frau, zu der er in ein näheres Verhältnis trat. Auf sonderbare, doch für ihn typische Weise ist er ihr Zeit seines Lebens treu und innerlich verbunden geblieben. Nietzsche spricht einmal von der Kraft, „aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich nachzuformen", und meint, es gebe Menschen, die diese Kraft so wenig besäßen, daß sie an einem einzigen Erlebnis, an einem einzigen Schmerz wie an einem kleinen blutigen Riß verbluteten1. Kierkegaard mag an seinem Erlebnis tief und nachhaltig gelitten haben: daran zugrunde gegangen ist er jedenfalls nicht. Es gelang ihm sogar, aus dem Scheitern der angestrebten Verbindung reiches geistiges Kapital zu schlagen. - Ein Vergleich Kierkegaards mit Goethe erscheint mir aber mehr irreführend als erhellend, besonders wenn er so direkt und unbekümmert gehandhabt wird wie bei Martin Thust. „Man denke hier . . . etwa an Goethe", sagt er mit Bezug auf das Regine-Erlebnis, „und die Liebesgeschichten, die er abbrach und gerade so dichterisch nacherlebte und weitergestaltete!"2 Wie sehr Kierkegaards Verhaltensweise an die anderer großer Persönlichkeiten erinnern mag: wirklich zu verstehen ist sie nur aus seinem eigenartigen, vom Zusammenwirken vieler, verschiedener Faktoren bestimmten Wesen. Daß uns dieses nicht weitgehend verborgen bleiben muß, haben wir zu einem guten Teil Kierkegaard selbst zu verdanken, der stets sehr nüchtern und freimütig über sich gesprochen hat - und scharfsinnig noch dazu. Erwähnenswert zunächst Kierkegaards Einsicht, daß seine Persönlichkeit - auch und gerade sein Profil als Schriftsteller - schon in den ersten, noch stark den Umwelteinflüssen überantworteten Phasen der Entwicklung geprägt wurde. Die autobiographische Schrift „Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller" enthält hierzu folgende Bemerkung: „Über meine vita ante acta (d. h. mein Leben von der Kindheit an bis zu der Zeit, da ich Schriftsteller wurde) kann ich hier nicht ausführlich mich ergehen, wie merkwürdig es für mich auch ist, wie ich von meiner frühesten Kindheit an und Schritt für Schritt in meiner ganzen Entwicklung in voraus bereitet worden bin eben die Art Schriftsteller zu werden, die ich wurde. "3 Detailliertere Einblicke in die angedeuteten Zusammenhänge gewähren vor allem die Tagebücher, in denen Kierkegaard mit geradezu selbstquälerischer Insistenz den Ursachen seiner Vorzüge und Schwächen nachfragt. Natürlich verrät er dabei nicht selten mehr, als er sich bewußt ist, wie etwa durch das harmlos anmutende Bekenntnis: „Mit einer unzeitigen Ängstlichkeit habe ich die zu nahe Berührung mit den Erscheinungen zu vermeiden gesucht, deren Anziehungskraft vielleicht zu große Gewalt über mich aus-
15 üben würde." 4 Diese Sätze enthüllen die wohl entscheidenste Ursache für Kierkegaards permanentes, in den Ereignissen um Regine nur besonders deutlich zutage tretendes Spannungsverhältnis zur Umwelt: die in pietistischer Erziehung gründende scharfe, wertende Trennung zwischen Geist und Sinnlichkeit, welche wie ein Riß den gesamten Kosmos durchzieht5. Kierkegaard hat später genau gesehen, wie verhängnisvoll ihm die väterliche Erziehung geworden ist. Seine Versicherung, den Vater stets aufs innigste geliebt zu haben, klingt dabei wie eine Selbstvergewisserung und dient als Legitimation für das Eingeständnis, daß gerade sein Vater derjenige war, der ihn unglücklich machte. „Als Kind ward ich streng und mit Ernst im Christentum erzogen, menschlich gesprochen, auf wahnsinnige Weise erzogen: bereits in der frühesten Kindheit hatte ich mich verhoben an den Eindrücken, unter denen der schwermütige alte Mann, der sich auf mich gelegt hatte, selbst zusammenbrach - ein Kind, auf wahnsinnige Weise dazu verkleidet ein schwermütiger alter Mann zu sein. Fürchterlich! Was Wunder denn, daß Zeiten kamen, da mir das Christentum vorkam als die unmenschlichste Grausamkeit. . ."6 Von Anfang an, fast systematisch bekam Kierkegaard also den Keim jener Schwermut eingepflanzt, die ihm dann sein ganzes Leben hindurch zu schaffen machte. - Und natürlich auch den Keim der Angst, die nicht von ungefähr eines seiner zentralen Themen wurde. Die Zusammenhänge sind klar: „Daß der Fremdheit des Sinnlichen vor dem Bewußtsein Angst entspringt, war christliche Tradition - und das persönliche Erlebnis dieses Nachfahren des Heiligen Antonius . . "7 Unter der konsequenten Anleitung seines Vaters lernte Kierkegaard auch bald, sich als Ersatz für die tabuierte Außenwelt ein „inneres Reich" zu errichten. Die nachfolgenden, autobiographisch zu verstehenden Sätze schildern diesen Vorgang auf etwas naive, aber eindringliche Weise. „Wenn Johannes zuweilen um Erlaubnis bat, ausgehen zu dürfen, wurde er zumeist abschlägig beschieden; wohingegen der Vater gelegentlich zum Entgelt ihm vorschlug, an seiner Hand die Diele auf und nieder zu spazieren. Dies war beim ersten Augenschein ein dürftiger Ersatz, und doch ging es damit ebenso wie mit der Friesjacke, er barg etwas ganz anderes in sich. Der Vorschlag ward angenommen, und es wurde Johannes ganz überlassen zu bestimmen, wo es hingehen sollte. Sie gingen dann aus dem Tore, zu einem naheliegenden Lustschlößchen, oder hinaus zum Uferstrand, oder umher in den Straßen, alles gemäß dem wie Johannes es wollte; denn der Vater vermochte alles. Während sie so die Diele auf und nieder gingen, erzählte der Vater alles, was sie sahen; sie grüßten die Vorübergehenden, Wagen ratterten an ihnen vorüber und übertäubten die Stimme des Vaters; die Früchte der Straßenhändlerin waren einladender denn je. Er erzählte alles so genau, so lebendig, so gegenwärtig bis zur unbedeutendsten Einzelheit, die Johannes bekannt war, daß er, wenn er eine halbe Stunde mit dem Vater spaziert war, so
16 überwältigt und müde geworden war, als wenn er einen ganzen Tag aus gewesen wäre."8 Dieses abnorme Verhalten - Kierkegaard spricht rückblickend sehr treffend von einem fast vegetativen Hindämmern in der Phantasie - kehrt später in abgewandelter, sublimierter Form allenthalben wieder, und man hat darin ein typisches Symptom von Psychasthenie zu erkennen geglaubt. Doch abgesehen von der Fragwürdigkeit solcher verallgemeinernden und leicht abqualifizierenden Diagnosen, darf nicht vergessen werden, daß Kierkegaard seine Fehleinstellung nicht nur gesehen, sondern auch in ihrer Herkunft durchschaut hat. Damit war er in der Lage, gegen sie anzukämpfen, ja sie zum Motiv seiner gesamten Bestrebungen zu machen. Anstrengungen dieser Art läßt bereits der Zweiundzwanzigjährige erkennen, wenn er in sein Tagebuch hineinschreibt: „Was mir eigentlich fehlt, ist, daß ich mit mir selbst ins Reine darüber komme, was ich tun soll, nicht darüber, was ich erkennen soll - es sei denn, soweit Erkennen jedem Handeln vorausgehen muß. Es kommt darauf an, meine Bestimmung zu verstehen, zu sehen, was die Gottheit eigentlich will, daß ich tun soll; es gilt eine Wahrheit zu finden, die Wahrheit/«r mich ist, die Idee zu finden, für die ich leben und sterben will."9 Mit den letzten Sätzen ist zugleich die Chance angedeutet, die der Mangel an Unmittelbarkeit, an Natürlichkeit und Spontaneität mit sich bringt: eine bewußtere, dialektische Daseinsweise zu entwickeln, die es dem einzelnen erlaubt, das für ihn Wesentliche (die „Idee") und letztlich Entscheidende (die „Bestimmung") ausfindig zu machen und zu realisieren. Kierkegaard hat diese Chance auch tatsächlich zu nützen gewußt und eine Lebenseinstellung gewonnen, die ihn sowohl zur nüchternen Kritik als auch zum leidenschaftlichen Engagement befähigte. Nicht umsonst hat man ihn den „Sokrates des Nordens" genannt. Genau hier setzt nun aber die Kritik des marxistisch orientierten Kierkegaardinterpreten ein. Er spricht von „Subjektivismus", von „schlechtem Idealismus", von der Ohnmacht „reiner Innerlichkeit" und führt all das auf die sozio-ökonomischen Verhältnisse und die entsprechende „geschichtliche Konstellation" zurück. - So Adorno10. Vor dem Hintergrund der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erscheint ihm der dänische Philosoph als der typische kleinbürgerliche Repräsentant kapitalistischer Gesellschaftsordnung. Den Schlüssel zu einer solchen Interpretation gibt ihm das von Kierkegaard gelegentlich gebrauchte Bild, die Szenerie bürgerlicher Wohnung in die Hand, die als „Interieur" die Ökonomische Bedingtheit seines philosophischen Standorts symbolhaft sichtbar machen soll. In der bloßen, „objektlosen" Innerlichkeit, deren Chiffre das Interieur angeblich ist, manifestiert sich laut Adorno der untätige, vom wirtschaftlichen Produktionsprozeß ausgeschlossene, aber entsprechend von ihm gezeichnete Rentner und Private. Wie dieser durch den Reflexionsspiegel am Fenster „nur den Schein
17 von Dingen" in seine Wohnung bringt, so verfügt er überhaupt über „bloß reflektierte und reflektierende intersubjektive Wirklichkeit". Die in der ständig zunehmenden Entfremdung verzweifelt beschworene Unmittelbarkeit zeigt sich ihm nur im mythischen Bild, die Natur als Urgeschichte. „In seiner Philosophie kann das erkennende Subjekt sein objektives Korrelat so wenig mehr erreichen wie in einer von Tauschwerten besetzten Gesellschaft dem Menschen die Dinge in ihrer ,Unmittelbarkeit' zugänglich sind." - Z u diesem Bild paßt nach Adorno auch ein weiterer kleinbürgerlicher Zug Kierkegaards: sein „ohnmächtiger Haß gegen die Verdinglichung", in der sich, mit Karl Marx gesprochen, nur der kapitalistisch Mächtige wohl und bestätigt fühlt, weil er die Entfremdung als seine eigene Macht versteht und in ihr den Schein einer menschlichen Existenz besitzt, die sie dem Privaten nur widerruflich spendet. Und auch dies nicht mehr lange, denn für Kierkegaards Typus läßt der fortschreitende Konkurrenzkampf bald keinen Raum mehr. Die Aufgabe philosophischer Kritik sieht Adorno darin, das im Interieur von historischer Dialektik und ewiger Naturmacht gestellte Rätselbild aufzulösen, derart, daß sie den „realen Grund" idealistischer Innerlichkeit im Geschichtlichen wie im Vorzeitlichen zu erreichen sucht". Das ist es denn auch, was Adorno mit seiner Kierkegaardinterpretation leisten möchte. So sicher es ist, daß zwischen der sozio-ökonomischen Lage und dem geistigen Schaffen Kierkegaards ein Zusammenhang besteht, so sicher ist es auch, daß mit diesem Aufweis noch längst nicht über Wert und Gültigkeit seiner Philosophie entschieden ist. Überhaupt muß gesagt werden, daß die philosophischen Gedankengänge des Dänen viel zu komplex, zu verschlungen und zu widersprüchlich sind, um sich so einfach auf einen Nenner bringen zu lassen. - Adorno macht es sich diesbezüglich zu leicht. Auch reicht die kritische Durchleuchtung des Standortes seiner Kritik nur bis zur Forderung einer „vorsichtigen Interpretation", die nicht unvermittelt philosophische Lehrgehalte aus der ökonomischen Lage der Philosophen herleitet12. Einen Umstand gilt es hier vor allem festzuhalten: daß Kierkegaard den von Adorno thematisierten Zusammenhang selbst gesehen und in aller Offenheit bedacht hat. Er ging dabei so weit, seine ökonomische Lage und seine soziale Stellung als die conditio sine qua non für sein geistiges Schaffen hinzustellen. „Hier steckt doch in gewissem Sinne mein ganzes Unglück", schreibt Kierkegaard in seinem Tagebuch und fährt fort: „hätte ich kein Vermögen gehabt, so wäre es mir niemals möglich gewesen, das furchtbare Geheimnis meiner Schwermut zu bewahren. Aber dann wäre ich auch nicht geworden, was ich geworden bin. - Ich wäre gezwungen gewesen, entweder wahnsinnig zu werden oder hindurchzudringen. Nun glückte es mir, einen Salto mortale zu machen in die reine Geistes-Existenz. Aber so werde ich denn wieder völlig andersartig als die Menschen im allgemeinen. Was mir eigentlich fehlt, sind Leib und leibliche Voraussetzungen."" Angesichts
18 solcher Analysen erweist sich die Behauptung, Kierkegaard habe im Sinne eines „ursächlichen Zusammenhangs" die gesellschaftliche Frage verleugnet und gerade dadurch die gesellschaftliche Bedingtheit seines Denkens aufgedeckt, schlicht als unkorrekt. Die Wahrheit ist, daß er aufgrund seiner religiösen Überzeugung - die nicht so ohne weiteres als falsches Bewußtsein abgetan werden kann - die gesellschaftliche Frage hintangestellt hat. Denn das Christentum, so schien es ihm, verbietet es, den Menschen von der Menge und den materiellen Verhältnissen her zu bestimmen - auch wenn dies faktisch gerechtfertigt erscheinen mag.
2. Das Regine-Erlebnis und die Konzeption der Wiederholung Als Kierkegaard bei Aufnahme des Studiums erstmals wirklich mit der Umwelt in Berührung kam, mußte ihm notgedrungen das Unnatürliche, ja Krankhafte an seiner Haltung der angstvollen und schwermütigen Abkapselung zu Bewußtsein kommen. Und da er den Zusammenhang zwischen dieser seiner Haltung und der Atmosphäre seines Elternhauses -vergleichbar mit der eines Landes, „wo die Sonne niemals am Horizont erscheint" -sehr bald durchschaut hatte, konnte es nicht ausbleiben, daß er auszubrechen versuchte. Bestärkt wurde er in seinem Vorhaben durch die mehr zufällige Entdekkung, daß seines Vaters Schwermut und übertriebene Frömmigkeit zu einem guten Teil von Vergehen herrührten, die er sich vor Jahren hatte zuschulden kommen lassen14. - Zweifel an der Lauterkeit der Motive, die bislang so übermächtig sein Leben bestimmt hatten, wurden wach. Wie, „wenn ein Mann, der sehr ausschweifend gewesen wäre, gerade um seinen Sohn von dem gleichen Recht abzuschrecken, den Geschlechtstrieb selbst als Sünde auffaßte . . .?" Verzweifelt versuchte Kierkegaard das belastende Erbe abzuschütteln. Er entfremdete sich dem väterlichen Hause - eine Zeitlang hatte er sogar eine eigene Wohnung - und führte das Leben eines vornehmen Müßiggängers. In Kopenhagens Kaffeehäusern und Gesellschaften war er häufig anzutreffen, denn er liebte es, sich sehen und seines Witzes wegen feiern zu lassen. Aber er fand nicht das, was er suchte: jenes normale Leben, um das er sich im wahrsten Sinne des Wortes betrogen fühlte. Dieses andere Extrem, die „ästhetische" Lebensweise, blieb ihm äußerlich, konnte ihn nicht befriedigen, es sei denn - „gemäß dem Schmerz der Schwermut" - als Maskerade, als Kunst der Täuschung, die als Ersatzbefriedigung eine große Faszination auf ihn ausübte15. Wie seine Schwermut, so blieb auch sein Schuldgefühl stets wach. Was andere Menschen, wenn überhaupt, als belächelnswerte Schuld empfunden hätten - so etwa das harmlose Bordellerlebnis -, das steigerte sich in seiner inquisitorisch geschulten Phantasie geradezu ins Ungeheuerliche. Es war
19 eigentlich nur eine Frage der Zeit, wann er moralisch zusammenbrechen und diesen gewaltsamen Versuch, seinem Schatten zu entfliehen, aufgeben würde. Um das Jahr 1838 war es dann so weit. Mit der Gewißheit eines Gesetzes und der Vehemenz eines Erdbebens stieg in ihm der Gedanke auf, daß über seiner ganzen Familie ein schrecklicher Fluch laste. „Da ahnte ich, daß meines Vaters hohes Alter kein göttlicher Segen sei, sondern eher ein Fluch; daß die hervorragenden Geistesgaben unserer Familie nur da seien, um einander gegenseitig aufzureiben; da fühlte ich die Stille des Todes um mich wachsen, wenn ich in meinem Vater einen Unglücklichen sah, der uns alle überleben sollte, ein Grabkreuz auf dem Grab all seiner eigenen Hoffnungen." Mehr noch, die ganze Familie sollte verschwinden, „ausgestrichen werden von Gottes gewaltiger Hand, ausgelöscht wie ein mißglückter Versuch"16. Obwohl dieses „unfehlbare Deutungsgesetz" bald darauf ins Wanken geriet - nachdem er bereits fünf von insgesamt sechs Geschwistern verloren hatte, starb überraschenderweise der Vater -, änderte sich an Kierkegaards Grundeinstellung kaum etwas. Der Prädestinationsglaube wurde etwas modifiziert und gemildert, aber niemals aufgegeben. Ahnlich verhielt sich Kierkegaard, als er mit noch weitaus schwierigeren Problemen konfrontiert wurde. - In einem seiner Bekanntenkreise lernte er Regine Olsen kennen und verliebte sich sogleich in sie. Regine verkörperte auch alles, was er an sich so schmerzlich vermißte: Jugend, Lebenslust, Sorglosigkeit. Doch das Sichfinden im anderen will gelernt sein! Wenn Kierkegaard darüber klagt, daß er außerstande sei, im tiefsten Sinne zu sich selbst du zu sagen -, daß er sich vorkomme wie jemand, der ein großes Landgut übernommen hat und nicht damit fertig wird, es kennenzulernen, so dokumentiert er damit zugleich und vor allem sein Unvermögen, zu einem anderen im tiefsten Sinne du zu sagen. Mit sophistischem Scharfsinn versucht er die Schwierigkeit zu überwinden: Er denkt sich zwei aneinander grenzende Reiche, von denen er das eine ziemlich genau, das andere ganz und gar nicht kennt; indem er nun beständig der Grenze des ihm bekannten Reiches entlanggeht und dabei den Umriß des unbekannten Reiches beschreibt, glaubt er eine Vorstellung desselben gewinnen zu können, ohne auch nur einen Fuß in es hineingesetzt zu haben17. Das Sichfinden im anderen verlangt aber nicht zuletzt Selbstpreisgabe, den Mut, sich dem anderen zu überantworten. Kierkegaard scheint gehofft zu haben, Regine werde „dem so unglücklich und qualvoll Gefangenen" die Tür zu einem neuen, echteren Dasein aufstoßen, ohne ihm etwas Wesentliches abzufordern. Als er dann merkte, daß davon keine Rede sein konnte, gab es für ihn nur ein EntwederOder: entweder sich selbst aufgeben oder Regine. Die Vorstellung, sich selbst aufgeben zu müssen - zumal in seinem Verhältnis zur Sinnlichkeit -,
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ängstigte ihn dabei so sehr, daß sich seine „Natur" schließlich „gewaltig" dagegen erhob. „Es blieb nur eines zu tun: mit aller Gewalt abzustoßen." Diese lapidare Feststellung wird dann noch durch folgende aufschlußreiche Bemerkung ergänzt: „Sie kämpfte wie eine Löwin; hätte ich nicht geglaubt, einen göttlichen Widerstand zu haben, so hätte sie gesiegt."18 Wieder hilft ihm ein göttliches Deutungsgesetz aus dem Konflikt. Im Sinne dieses Gesetzes verwandelt sich seine menschliche Unzulänglichkeit in eine Auszeichnung: den „Pfahl im Fleisch"; das Schmerzhafte in etwas Tröstendes. „Weit zurück, in meiner Erinnerung, geht der Gedanke, daß da in jeder Generation zwei oder drei sind, die für die andern geopfert werden, dazu gebraucht, in entsetzlichen Leiden zu entdecken, was den andern zugute kommt." Regine wird damit folgerichtig zur verkörperten Versuchung - gemäß der christlichen Vorstellung von der besonderen Sündhaftigkeit der Frau. „Gefangen werden sollte ich. Und ich mußte dadurch gefangen werden, daß ich im tieferen Sinne dahin kam, mit mir selbst zu streiten . . . Dazu wurde ein Weib gebraucht, ein Weib, welches weiblich streitet durch Schwachheit." - Der Gott, bei dem Kierkegaard Zuflucht sucht, ist grausam. Es ist der Gott des Alten Testaments, dem an Gehorsam mehr gelegen ist als am Fett von Widdern19. Wer von ihm geliebt wird, hat allen Grund, in Furcht und Zittern zu ihm aufzusehen, den prüft er nämlich besonders hart. Eifersüchtig verlangt er, daß man ihm das Liebste aufopfert. Kierkegaard sieht sich in die Situation Abrahams gestellt. Er entzieht sich der Zerreißprobe, indem er gehorcht und das erwartete Opfer vollbringt. Doch auch dieses Deutungsgesetz wurde alsbald in Frage gestellt. Bei Kierkegaards gnadenloser Selbstanalyse konnte es nicht ausbleiben, daß sich sein Akt der Stärke zugleich als ein Akt der Schwäche enthüllte: der heroische Gehorsam als die Unfähigkeit zur Realisierung des Allgemeinen. In einer Tagebuchaufzeichnung mit der vielsagenden Überschrift „Etwas mich selbst Betreffendes, was stets festgehalten werden muß" legt er folgendes Geständnis ab: „Ich habe niemals behauptet, ich behaupte nicht, daß ich in einem außerordentlichen Maße Christ sei. O nein. Wäre ich mit meiner Phantasie, meinen Leidenschaften usw. im gewöhnlichen menschlichen Sinne: Mensch gewesen, so hätte ich das Christentum wohl sogar völlig vergessen. Aber gebunden in qualvollem Elend, wie ein Vogel, dem man die Flügel gestutzt hat, so steht es mit mir, während ich doch die ganze Kraft meines Geistes, meine gewiß außerordentliche Kraft behalten habe. Aber gerade die einfachsten Bedingungen des Menschseins sind mir versagt, während mir in einem andern Sinne das Außerordentliche vergönnt ist."20 Ein anderes Mal vergleicht er sich - vielleicht noch treffender - mit einer alten, vor einen Wagen gespannten Schindmähre, die den Futtersack vor dem Maul hat und doch nicht fressen kann, sei es aus eigener Ungeschicklichkeit, sei es, weil die Mähre den Futtersack verkehrt umgehängt bekommen hat, und niemand daran denkt, ihr zu helfen.
21 Diese Einsicht konnte Kierkegaard aber wiederum nur dazu veranlassen, das Deutungsgesetz zu modifizieren, nicht es aufzuheben. Es erscheint ihm plötzlich zweifelhaft, ob er die Forderung der Gottheit auch richtig verstanden hat, oder ob es nicht vielmehr seine religiöse Pflicht gewesen wäre, bei Regine zu bleiben - trotz, ja gerade wegen seiner Schwermut. Denn eine kritische Stimme sagte ihm: Schwermut ist Sünde, ist eigentlich die Mutter aller Sünden; sie ist die Sünde, nicht tief und innig zu wollen. „Schwermütig wird ein Mensch nur durch eigene Schuld." Und auf echt protestantische Weise wird das Willensproblem dann in ein Glaubensproblem umgewandelt. „Meine Sünde ist es", so folgert er weiter, „daß ich keinen Glauben hatte, Glauben daran, daß für Gott alles möglich ist, aber wo ist die Grenze dazwischen und zwischen dem Versuchen Gottes . . .?" Resolute Schlußfolgerung: „Hätte ich Glauben gehabt, so wäre ich bei Regine geblieben. Gott sei Lob und Dank, das habe ich jetzt eingesehen."" Damit waren alle subjektiven Voraussetzungen geschaffen, die Verbindung zu wiederholen. Und daß Kierkegaard tatsächlich an eine Wiederholung dachte, davon legen die Briefe und Tagebuchnotizen aus jener Zeit ein beredtes Zeugnis ab. Aus Berlin, wohin er sich nach Auflösung des Verlöbnisses in geistiger Not geflüchtet hatte, schreibt er an seinen Freund Boesen: „Hab ich Dir nicht bereits in meinem ersten Brief gesagt, daß noch nicht die Rede davon sein kann, sie zu vergessen . . .? Das will ich nicht, es wäre unverantwortlich . . . Und was willst Du jetzt, soll ich jetzt etwa schwanken, jetzt etwa mich fürchten, daß der Eindruck der aufgehobenen Verlobung nicht zu verwinden wäre, falls sie zu mir zurückkehrte? Dergleichen fürchte ich nicht; dazu kommt, daß ich sie ja nicht zurückkehren lasse, weil ich ihr goldene Berge verspreche, Schmerz wird es allezeit genug geben, sondern ich sage lediglich, daß sie es besser haben wird, als wenn sie allein steht. Mehr verlange ich nicht."22 Die Idee der Wiederholung hat Kierkegaard vom ersten Augenblick an fasziniert; wohlgemerkt: die Idee! Denn statt sich entschlossen um eine Wiedergewinnung Regines zu bemühen, setzte er sich hin - und schrieb eine Abhandlung über das Problem der Wiederholung. Boesen gegenüber jubelt er: „Jetzt bin ich wieder flott. Ich habe im gewissen Sinne schon gewonnen, was ich mir wünschen konnte, wovon ich nicht wußte, ob es dazu eine Stunde brauchen würde oder lA Jahr - eine Idee - ein Wink - dem Weisen ist es genug, jetzt klettere ich."23 Kierkegaards Enthusiasmus gilt dem Umstand, daß seine immer schon rege, aber gewissermaßen gegenstandslose Phantasie mit einem Mal zu einem wahren Springquell geworden war, den er durch schriftstellerische Produktion gar nicht schnell genug auffangen konnte. Innerhalb kurzer Zeit entstanden jetzt die meisten seiner Hauptwerke, die er später nur noch zu kommentieren und zu ergänzen brauchte. Dieser auffallende Umstand hat Anlaß zu einem verbreiteten Mißverständnis gegeben. Man hat geglaubt, von da her Kierkegaards Verhalten
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Regine gegenüber als die notwendige Reaktion eines Dichtergenies interpretieren zu müssen, und sein Werk infolgedessen als Dichtung. Ähnlich wie Martin Thust, der bereits zitiert wurde, meint auch Peter Rohde: „Das Verhältnis zum Vater hatte, indem es die Phantasie stärkte, seine ganze dichterische Gabe zum Leben erweckt. Das Verhältnis zu Regine hatte ihm den Stoff beschert, aus dem er seine Dichtungen schaffen konnte: das Verhältnis zwischen Mann und Frau. Regine hatte ihn zum Dichter gemacht, aber die Produktion konnte nicht beginnen, ehe sie nicht selber aus dem Bild verschwunden war. Daher mußte er zustoßen. Die Aufgabe des Dichters ist nicht, ein Verhältnis zu leben, sondern es zu erinnern.'1" Gerade weil sich diese doch reichlich simple Theorie durch Aussagen des Dänen beziehungsweise seiner Pseudonyme belegen läßt, bedarf es der Richtigstellung! Kierkegaards Liebe ist nicht deswegen gescheitert, weil er durch sie seine Dichter-Qualitäten entdeckte, sondern umgekehrt: weil seine Liebe unglücklich war, suchte er Zuflucht in der Dichtung, ohne jedoch wirklich ein Dichter zu werden. Letzteres lag auch gar nicht in Kierkegaards Absicht, weil er sehr schnell erkannte, daß die Schwierigkeiten, vor die Regine ihn gestellt hatte, dichterisch nicht zu bewältigen waren. - Wenn er dennoch mit der Dichterexistenz kokettierte, so war das Teil seiner Methode philosophischer Wirksamkeit, mit der die ästhetische Lebensweise gerade überwunden, dialektisch aufgehoben werden soll. „Ich strebte durch mein persönliches Existieren die Pseudonyme, die ganze ästhetische Schriftstellerei zu unterstützen", erklärt er selbst, bekennt freilich auch, eine gewisse Befriedigung bei diesem Leben der „umgekehrten Täuschung" gefunden zu haben - was darauf hindeutet, daß die Täuschung zugleich „eine notwendige Ergießung" war, Ausdruck des schon erwähnten Bedürfnisses, das Fehlen von Unmittelbarkeit zu kompensieren. „Deshalb konnte ich auch wünschen, Schauspieler zu werden, damit ich durch das Eingehen in die Rolle eines anderen sozusagen einen Ersatz für mein eigenes Leben bekäme und durch die äußere Abwechslung eine gewisse Zerstreuung fände. Das war es, was mir fehlte: ein vollkommen menschliches Leben zu führen und nicht bloß eines der Erkenntnis . . ."25 In der Tat, Kierkegaards Leben war ein Leben der Erkenntnis, und seine „Dichtung" wie auch seine „Dichterexistenz" nur ein „nachgemachtes Ding", das heute, aus der Distanz zu den literarischen Moden und zum Dandytum jener Epoche, mehr denn je als ein solches durchschaubar ist26. Bezeichnet sich Kierkegaard allen Ernstes als Dichter, dann ist dem Begriff des Dichterischen durchwegs ein unkonventioneller Sinn unterstellt. So erinnert er in einem Brief an Boesen daran, daß er imstande sei, sein Leben „dichterisch in der Hand zu halten"; noch deutlicher wird er mit der folgenden Feststellung: „Was ich oft genug gesagt habe, kann ich nicht oft genug wiederholen: ich bin ein Dichter, aber einer ganz eigener Art, denn das Dialektische ist die Naturbestimmung meines Wesens . . ."2? Wie aus diesen
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Bemerkungen ohne weiteres hervorgeht, gilt die Bezeichnung „Dichter" hier jenem Menschen, der sein Leben schöpferisch zu gestalten weiß, dabei aber ein gebrochenes, gedanklich distanziertes Verhältnis zur Wirklichkeit hat. In diesem Sinne ist es ja auch gemeint, wenn Kierkegaard sich einen „Dichter des Religiösen" nennt: Bei aller ursprünglichen, elementaren Affinität zum Christentum muß er doch eingestehen, diesem gegenüber in einem bloßen MöglichkeitsVerhältnis verharrt zu sein. „. . . daß ich Dichter bin, ist Ausdruck dafür, daß ich mich selbst nicht mit der Idealität verwechsle", schreibt Kierkegaard und fügt hinzu, seine Aufgabe sei es gewesen, das Christentum in die Reflexion zu setzen und die ganze Idealität „dichterisch brennend" nach dem idealsten Maßstab darzustellen, um dann stets damit zu enden: ich bin es nicht, aber ich strebe23. Wie wenig der Däne in der gängigen Bedeutung des Wortes Dichter ist, läßt sich übrigens sehr gut anhand eines Vergleiches zeigen, der für gewöhnlich in genau gegenteiliger Absicht angestellt wird. Gemeint ist der Vergleich Kierkegaards mit Goethe. Goethes Leben und Schaffen ist geprägt vom Versuch, Glück im Augenblick als dem zeitlichen Abbild des Ewigen festzuhalten. Bezeichnend, was in „Dichtung und Wahrheit" über die Liebe gesagt wird. „Alle Liebe bezieht sich auf Gegenwart; was mir in der Gegenwart angenehm ist, sich abwesend mir immer darstellt, den Wunsch des erneuten Gegenwärtigseins immerfort erregt, bei Erfüllung dieses Wunsches von einem lebhaften Entzücken, bei Fortsetzung dieses Glücks von einer immer gleichen Anmut begleitet wird, das eigentlich lieben wir und hieraus folgt, daß wir alles lieben können, was zu unserer Gegenwart gelangen kann: ja, um das Letzte auszusprechen: die Liebe des Göttlichen strebt immer danach, sich das Höchste zu vergegenwärtigen.