Kurt von Fischer
Die Passion Musik zwischen Kunst und Kirche
Bärenreiter Metzler
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einh...
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Kurt von Fischer
Die Passion Musik zwischen Kunst und Kirche
Bärenreiter Metzler
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Fischer, Kurt von: Die Passion: Musik zwischen Kunst und Kirche 1 Kurt von Fischer. Kassel; Basel ; London ; New York ; Prag : Bärenreiter; Stuttgart ; Weimar: Metzler, 1997 ISBN 3-7618-2011-9 märenreiter} ISBN 3-476-01530-0 <Metzler}
© 1997 Bärenreiter-Verlag Karl Vcitterle GmbH & Co. KG, Kassel Gemeinschaftsausgabe der Verlage Bärenreiter, Kassel, und
J. B. Metzler, Stuttgart und Weimar Einbflndgestaltung: )örg Richter, Bad Emstal-Sand, unter Verwendung des Gemäldes »Kreuzigung« (um 1590/1600> von EI Greco (Madrid, Museo dei Prado; Foto: Archiv für Kunst und Geschichte Berlin) Satz und Innengestaltung: Dr. Rainer Lorenz, Kassel Druck und Bindung: Thomas Müntzer, Bad Langensalza ISBN 3-7618-2011-9 märenreiter} ISBN 3-476-01530-0 <Metzler} Printed in Germany
Inhalt
Vorbemerkung
Einleitung
7
9
Die Anfänge der Passionsliturgie
13
Der einstimmige Passionsgesang
15
Von der lehrhaften zur mitleidsvollen Passion: Von der doctrina zur compassio 23 Vom Mitleid zur Imitation des Leidens Jesu: Die Anfänge der mehrstimmigen Passion 26 Systematik der älteren mehrstimmigen Passionskomposition
30
Frohe Beispiele mehrstimmiger Passionen aus Deutschland, England, Italien und Spanien 33 Die erste Summa passionis
35
Die Blüte der Passionskomposition im 16. Jahrhundert in katholischen Gebieten 40 und deren Weiterentwicklung bis zum 18. Jahrhundert Italien 40 Iberische Länder und Einflußgebiete 46 50 Deutschsprachige Gebiete Die Summa passionis in slawischen Ländern Frankreich 55
53
Die evangelisch-protestantische Passion zur Zeit der Reformation
56
Die Musik der responsorialen Passion des 16. Jahrhunderts im evangelischen Bereich 62 Motettisch durchkomponierte Passionsharmonien des 16. und frohen 17. Jahrhunderts evangelischer Provenienz 65 Die Passionen von Heinrich Schütz
75
Anfänge der oratorischen Passion und Einflüsse pietistischer Frömmigkeit im 17. Jahrhundert 79
Die oratorisch-poetische Passion im 18. Jahrhundert
91
Von der Kirche zur Schaubühne: Die Anfange des protestantischen Passionsoratoriums 97 Hamburger Passionen des Spätbarock
99
101
Bürgerliche Passionsfrömmigkeit
Johann Sebastian Bachs für den Gottesdienst bestimmte Passionen Johannespassion 103 Matthäuspassion 104 Theologische Aspekte 109 Die Passionskomposition nach Bachs Tod und die Verabschiedung 112 des Passionsgesangs aus dem protestantischen Gottesdienst Die Wiederentdeckung von Bachs Matthäuspassion Vorsichtige Neuanfange 114 Die Passion im 20. Jahrhundert
117
Historisierende und individualisierende Tendenzen in kriegerischen Zeiten 118 Passionen nach 1945 119 Engagiertes Komponieren 127 Von stammelnder und verstummender Frömmigkeit
13 9 Sachworterklärungen Literatur 141 Bildnachweis 143 Personenregister 144
113
13 2
102
Vorbemerkung
D
ie vorliegende Geschichte der Passion will ein Buch zum Lesen, zum Anschauen und vielleicht auch zum Mithören sein. Entstanden ist es aufgrund langjähriger wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Stoff, der in zahlreichen Aufsätzen und Vorlesungen immer wieder Gestaltung gefunden hat. Meine Arbeit geht davon aus, daß Vertonung und Vortrag der Texte vom Leiden und Sterben Jesu, wie sie einige Jahrzehnte nach den historischen Ereignissen der Passion in den vier Evangelien aufgezeichnet wurden, als rezeptionsgeschichtliche Vorgänge zu verstehen sind, die im Laufe der Jahrhunderte und bis heute eng mit dem Wandel theologischer, liturgischer, kirchen- und frömmigkeitsgeschichtlicher Anschauungen zusammenhängen. Aufzuzeigen sind aber auch Zusammenhänge zwischen Musik, allgemeiner Geschichte, Bildender Kunst und Literatur, die, vielfach nur andeutungsweise, als Denkanstöße für eine an geistesgeschichtlichen Fragen interessierte Leserschaft gedacht sind. Von hier aus ergab sich die Gestalt dieser Darstellung im Sinne eines knapp gefaßten Versuchs, die Geschichte der Passion in großen Linien nachzuzeichnen und, ohne Belastung durch allzuviele Details, mit zahlreichen Notenbeispielen und Abbildungen anschaulich zu machen. Auf Fußnoten wurde bewußt verzichtet. An ihre Stelle tritt im Anhang eine Liste der wenigen im Text direkt zitierten Arbeiten in alphabetischer Reihenfolge der Autoren. Anschließend folgt eine allgemeine Kurzbibliographie einiger lexikographischer und handbuchartiger Publikationen, in denen weiterführende Informationen sowohl sachlicher wie auch bibliographischer Art zu finden sind. Eine Liste mit Sachworterklärungen kann als Lesehilfe dienen. Schließlich sei mein Dank an Kollegen ausgesprochen, die mir in theologischen und kunsthistorischen Fragen mit Rat und Tat zur Seite standen. Insbesondere gilt dieser Dank meinem Freund Robert Leuenberger, Honorarprofessor für praktische Theologie an der Universität Zürich, sowie Jutta Schmoll-Barthel, der überaus aktiven und einfallsreichen Lektorin des Bärenreiter-Verlages. Erlenbach-Zürich, im Frühjahr 1997
Kurt von Fischer
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Einleitung »Et homo factus est Crucifixus etiam pro nobis: Sub Pontio Pilato passus, et sepultus est« »Und ist Mensch geworden. Gekreuzigt wurde er sogar für uns: Unter Pontius Pilatus hat er den Tod erlitten und ist begraben worden.«
s
o lauten die Worte des im 4. Jahrhundert am Kirchenkonzil zu Nicäa formulierten Glaubensbekenntnisses, das sich auf die von den vier Evangelisten überlieferten Berichte vom Passionsgeschehen stützt. Damit ist dieser Text als zentrale und für alle christlichen Konfessionen von der Frühzeit bis zur Gegenwart verbindliche Glaubenswahrheit deklariert worden. So steht denn auch, zusammen mit dem österlichen Auferstehungsglauben, das Kreuz im Mittelpunkt allen theologischen Denkens. Besonders in der Westkirche hat sich im Verlaufe der Jahrhunderte eine Theologia eruds entwickelt, die sich, ausgehend von und mit der Passionsliturgie, auf Dichtung, bildende Kunst und Musik ausgewirkt hat. Zum theologisch-liturgischen Gedankenkreis tritt als weiteres Element die Volksfrömmigkeit, die für jede künstlerische Gestaltung des Passionsthemas von wesentlicher Bedeutung gewesen ist. Vordergründig sichtbar wird das Thema Passion in der bildenden Kunst, wo die Jesus- und Kreuzigungsbilder Zeugnis ablegen vom jeweiligen Passionsverständnis, wie es von Theologen und Kirche im Laufe der Jahrhunderte formuliert worden ist. Die bildlichen Darstellungen können deshalb oft als Orientierungshilfe dienen, wenn nach dem Wesen und nach den Wandlungen auch der Passionsmusik gefragt wird. Wenn die Mosaiken des frühchristlich-byzantinischen Ravenna des 5./6. Jahrhunderts den Körper des triumphierenden Christus in jugendlich kraftvoller Gestalt darstellen und wenn das Kreuz als Triumphkreuz, als Kreuz der Verklärung und ohne den Leib des Gekreuzigten erscheint (s. Abb. I, S. 10), so macht sich, fünf Jahrhunderte später, in den ekstatischen Bildern der Bamberger Apokalypse zwar eine spiritualistische Tendenz bemerkbar (s. Abb. VI, S. 17), doch bis zu den Portalen der großen romanischen Kirchen wie denen von Autun und Vezelay ist es immer noch der Herrscher Christus, der Pantokrator, und nicht der Gekreuzigte, der im Mittelpunkt der damaligen Bilderwelt steht. Kreuzesdarstellungen fehlen zwar auch in der Frühzeit nicht, man denke etwa an die Holztüren der im 5. Jahrhundert in Rom errichteten Kirche S. Sabina (s. Abb. 11, S. 11), doch erscheinen diese vor allem innerhalb kleinforrnatiger Bilderzyklen : Die Kreuzigung ist eine unter anderen Stationen im Leben Jesu.
9
Abb. I Das Kreuz der Verklärung Ravenna, Kirche Sant' Apollinare in Classe, Mosaik des 6. Jahrhunderts in der Apsis der Kirche
10
Mit der Gotik beginnen in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts neue Bilder in den Mittelpunkt zu rücken. An die Stelle des Pantokrators tritt jetzt immer mehr der leidende Jesus, der Menschensohn. Solches wird etwa sichtbar am Beispiel der Kathedrale von Chartres: Das um 1150 geschaffene Hauptportal zeigt noch den majestätischen Christus im Kreise der vier Evangelistensymbole (s. Abb. 111, S. 12 oben); das sechzig Jahre später entstandene Portal des südlichen Querschiffes (s. Abb. IV, S. 12 unten) stellt zwar noch nicht den Gekreuzigten dar, wohl aber die Gestalt des richtenden Jesus Christus mit Wundmalen und, in der Hand der äußeren Figuren, mit MartelWerkzeugen (Peitsche und Speer).
Abb. 11 Kreuzigungsdarstellung um das Jahr 432 Rom, Holztür der Kirche Santa Sabina
In der Westkirche erfolgt der endgültige Wandel vom Pantokrator zum Schmerzensmann im 13. jahrhundert in Verbindung mit der gewaltigen Ausbreitung des Franziskaner-Ordens und dessen Theologie. Damit wird zugleich deutlich, weshalb in der Westkirche, im Gegensatz zur Ostkirche, der Karfreitag gegenüber Ostern immer mehr an Bedeutung gewonnen hat. So ist es denn auch kein Zufall, wenn im ausgehenden 12. jahrhundert nun auch die ersten Passionsspiele mit ihren figürlichen Darstellungen der Leidensgeschichte neben die um fast zweihundert Jahrhunderte älteren Osterspiele getreten sind. Die Geschichte der jesus- und Christusbilder könnte hier weiter und bis in die Gegenwart hinein verfolgt werden: Überall sind engste Zusammenhänge zwischen Theologie, Volksfrömmigkeit, Geistes-, Sozial- und Kunstgeschichte erkennbar, welche bei den nun folgenden Besprechungen von in Musik gesetzten Passionstexten zur Vorsicht gegenüber absolut verstandenen stilistischen und ästhetischen Kriterien mahnen. Bezogen auf das Thema Passion ist in jedem Fall nach den theologischen, aber auch nach den historischen und gesellschaftspolitischen Hintergründen zu fragen, welche hinter den jeweiligen Passions-Interpretationen stehen.
II
12
Die Anfange der Passionsliturgie
D
ie biblischen Passionsberichte, wie sie von der römisch-katholischen Liturgie und später auch von der evangelisch-lutherischen übernommen worden sind, finden sich in den Kapiteln 26/27 des Matthäus-, 14/15 des Markus-, 22/23 des Lukas- und in den Kapiteln 18/19 des Johannesevangeliums. In ihrer unterschiedlichen, jeweils auch durch Herkunft und Ziel publikum des Evangelisten bedingten Betrachtungsweise bestimmten Gestalt sind die vier Evangelien nicht gleichzeitig, jedoch, vielleicht mit Ausnahme des Markustextes, erst nach der Zerstörung des jüdischen Tempels in Jerusalem durch die Römer im Jahre 70 entstanden. Als ältestes gilt das Evangelium nach Markus, auf das, sowie auf heute verlorene Quellen, Matthäus und Lukas zurückgehen. Die genannten drei Evangelisten werden unter dem Namen Synoptiker zusammengefaßt. Den jüngsten, von den übrigen Evangelisten vielfach unabhängigen Text überliefert das Johannesevangelium, das erst um das Jahr 100 entstanden sein dürfte. Mit Bezug auf die Passionsberichte stimmen alle vier Evangelisten relativ eng miteinander überein. Vom 5. Jahrhundert an wurden diese Berichte im Rahmen der Messe-Gottesdienste der Karwoche als Evangelienlektionen vorgetragen. Hierbei handelt es sich um die längsten, jeweils zwei Kapitel umfassenden Bibellesungen im Rahmen der Messe überhaupt. Konstitutives Element ist hierbei die Aufteilung der Texte in Erzählung und direkte Rede. Diese in allen vier Evangelienberichten erscheinende Gestalt dürfte, wie heute angenommen wird, auf liturgisches Brauchtum der frühchristlichen Gemeinden zurückzuführen sein; ja, es ist zu vermuten, daß die ersten Kurzfassungen der Passionstexte in der Liturgie geformt und innerhalb der Liturgie auch weiter ausgeformt worden sind. So ist auch die gesungene Passion schon von ihrer Entstehung her untrennbar mit liturgischen Funktionen verbunden, die ihrerseits wiederum in ihren Aussagen auf bestimmten theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichen Anschauungen beruhen. Das früheste bekannte Zeugnis liturgischer Passionslesungen stammt aus dem späten 4. Jahrhundert. Es ist der ausführliche Bericht einer Pilgerin namens Etheria (auch als Aegeria bekannt) über ihre Fahrt nach Jerusalem und die dort miterlebten christlichen Gottesdienste. Ihr Bericht läßt erkennen, daß Passionslesungen in der --_._--------
Oben: Abb. 111 Pantokrator mit Evangelistensymbolen Chartres, Porte Royal der Kathedrale (um IlsOl Unten: Abb. IV Christus als Weltenrichter mit Wundmalen, Maria und lünger Johannes, links und rechts außen Figur mit Speer und Peitsche (Marterwerkzeugel Chartres, Portal des südlichen Querschiffes der Kathedrale (um 12061
13
I4
Karwoche dort eine ganz wesentliche Rolle gespielt haben. Dabei ist die besondere Stellung Jerusalems in Betracht zu ziehen: Hier ist der historische Schauplatz der Geschehnisse, von denen die Evangelisten beziehungsweise deren Gewährsleute berichteten. Was in Jerusalem zur Zeit der Etheria in den Gottesdiensten der Christen vorging, ist deshalb unter dem Aspekt einer unmittelbaren Erinnerungsfeier an die Passion Jesu zu verstehen; hier lebten die Pilger und Mönche gewissermaßen das Leben und Sterben ihres Erlösers nach. So erklärt sich auch der Charakter der von Etheria beschriebenen Passionsgottesdienste: "Wenn man in Gethsemane angekommen ist, spricht man ein Gebet und einen Hymnus; dann liest man aus dem Evangelium die Stellen, da der Herr verhaftet worden ist. Beim Vortrag dieses Abschnitts entsteht ein solches Geschrei und Seufzen des ganzen in Tränen aufgelösten Volkes, daß man die Klagelaute fast bis in die Stadt hinein hören kann.« Zum Karfreitag berichtet Etheria: ,>Von der sechsten bis zur neunten Stunde [d.h. nach Markus die Zeit von Jesu Sterben am Kreuz] hören die Lesungen nicht auf«, wobei unter Lesungen kein gewöhnliches Lesen, sondern psalmodischer Sprechgesang, sogenannte Kantillation, wie sie im Vorderen Orient zur Tradition gehört, zu verstehen ist. Weiter heißt es bei Etheria: "Bei jeder Lektion und jedem Gebet sind alle Anwesenden in einem derartigen Zustand und stoßen solche Seufzer aus, daß es ganz außerordentlich ist; denn es gibt niemanden, der nicht während dieser drei Stunden in einer unglaublichen Weise darüber wehklagt, daß der Herr so viel für uns gelitten hat.« So gehört im Jerusalem des 4. Jahrhunderts eine engagierte Beteiligung am Passionsgeschehen mit zum Ritual. Eine ganz entscheidende Wandlung erfuhr das Passionsverständnis in der Westkirche. Mit Augustins auf den paulinischen Texten beruhender Theologie gewannen im ausgehenden 4. und S. Jahrhundert spiritualistische, aber auch schon dogmatische Züge die Oberhand über die affektiv erlebten Erinnerungen an das Passionsgeschehen. Für Augustin ist die Passion nicht bloß ein Gedenken an ein trauriges und beklagenswertes Ereignis, sondern ein ganz zentrales theologisches Faktum, das mit der Lehre von der Sündenvergebung durch Christus verbunden ist und für jeden Menschen Gültigkeit besitzt. Davon zeugt ein Abschnitt aus Augustins Sermo 218, der den besonderen Charakter der Passionstexte hervorhebt; gefordert ist eine feierliche Lesung mit der Begründung, daß durch Christi Blut unsere Sünden vergeben sind: "Cujus sanguine delicta nostra deleta sunt, solemniter legitur passio, solemniter celebratur« ("Durch Christi Blut sind unsere Schulden vergeben; deshalb soll die Passion würdig und feierlich gelesen und gefeiert werden«). So verstanden verlangt die Erinnerung an dieses Geschehen keine Aufforderung zum Mitleiden; vielmehr sind die Passionstexte als lehrhafte Aussagen, d.h. als doctrina, zu verstehen. Das Leiden jesu ist denn auch für Augustin göttlich gewollte Tatsache, es entzieht sich jeglichem Zugriff des Menschen. In diesem gewissermaßen objektivierenden Sinn ist nun auch die zur Zeit Papst Leos des Großen um die Mitte des 5. Jahrhunderts erfolgte Institutionalisierung der auf bestimmte Tage der Karwoche festgelegten Passionslesungen im Messe-Gottesdienst zu sehen; bedeutet doch Institutionalisierung immer auch Gewinnung objektivierender Distanz. Schon zur Lebenszeit Leos wurde die Lesung der Matthäuspassion auf den Palmsonntag und die der johannespassion auf den Karfreitag
festgelegt, eine Ordnung, die sich im römischen Ritus bis zum zweiten Vatikanischen Konzil (1960-1965) unverändert erhalten hat. Von den Kirchenvätern begründet wird die Zuordnung der johannespassion zum Karfreitag damit, daß johannes der einzige jünger gewesen sei, der unter dem Kreuz ausgeharrt habe. Voraussetzung für eine solche Deutung war, daß man damals und bis weit ins 20. jahrhundert hinein den Evangelisten johannes mit dem jünger johannes identifizierte. Erst in der Zeit vom 7. bis zum 10. jahrhundert beginnt sich dann der Brauch einzubürgern, die Lukaspassion am Mittwoch und die Passion nach Markus am Dienstag der Karwoche vorzutragen. Heute, seit dem zweiten Vatikanischen Konzil, werden in der römischen Kirche die Passionstexte der Synoptiker (Matthäus, Markus, Lukas) jährlich wechselweise am Palmsonntag, die Passion nach dem historisch zuletzt verfaßten Text des schon im Mittelalter als »Theologus« bezeichneten johannes immer noch am Karfreitag vorgetragen. Für die evangelischen Gottesdienste bildeten Matthäus- und johannespassion von der Reformationszeit an die wichtigsten Passionsberichte. Der liturgische Vortrag vollständiger Passionstexte ist an westkirchliche Riten gebunden. So wird es erklärlich, daß sich die Passion im Laufe der jahrhunderte nur im römisch-katholischen und im protestantisch-lutherischen Bereich musikalisch zu einer eigenen Gattung entwickeln konnte.
Der einstimmige Passionsgesang
D
er Vortrag der Passion im Rahmen des römischen Messe-Gottesdienstes er folgte nach bestimmten traditionellen Lektionstönen, welche mittels differenzierter Tonhöhen die erzählenden von den in direkter Rede überlieferten Texten abhob. Diese Art des Vortrags geht letztlich auf Platons Rhetorik und Affektenlehre zurück: Die narrativen Texte des Evangelisten erklangen als Ausdruck der Mäßigkeit in mittlerer, die Reden jesu als Ausdruck der humilitas (Demut) in tiefer und die direkten Reden anderer singularer oder pluraler Personen und der als Turbae bezeichneten Volkschöre als Sinnbild der ira (Zorn) in hoher Lage. Dabei sprechen die bekannten römischen Liturgie-Vorschriften (ordines) des 9. bis 13.114. jahrhunderts stets nur von einem einzigen Liturgen, vom Diakonus, der sowohl die indirekten wie auch die direkten Reden der Passionsevangelien, wohl ohne besondere Affektgebärden, jedoch unter Berücksichtigung der in den Handschriften angedeuteten Tonhöhen und Tempovarianten vortrug (s_ Abb. V, S. 16). Diese schlichte, auf besonderen melodischen Formeln beruhende Art der Rezitation entspricht durchaus dem Passionsverständnis und der Passionsfrömmigkeit, wie sie in der Westkirche bis ins frühe und mittlere 12. jahrhundert vorherrschend waren und dem Leitsatz des Kirchenvaters Aurelius Augustinus entsprachen: »Lignum
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pendentis cathedra factum est docentis« (»Das Holz des am Kreuz Hängenden ist zur Lehrkanzel geworden«). Es ist dies dieselbe Haltung, die auch auf den frühen Kreuzigungsbildern zum Ausdruck kommt: Nicht der leidende, sondern der lebende, meist ohne Zeichen der Qual dargestellte Jesus erscheint am Kreuz (s. Abb. VII, S. 18). Vom 9. Jahrhundert an finden sich in den Passionstexten der Evangeliarien sogenannte litterae significativae, d.h. Buchstaben, welche für den Liturgen bestimmte Hinweise auf relative Tonhöhen und auf das Tempo des Vortrags enthalten:
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Abb. V Alls einem Evangeliar des I I. jahrhunderts der Bibliotheque municipale von Chartres: Matthäuspassion mit litterae signi{icativae: Zeile 4 mit Buchstaben s (sursum: hoch) zu den Worten des judas »Ave rabbi« (»Gegrüßt seist du Rabbi«) und c (cito: schneID zu den Worten des Evangeli· sten »Et osculatus est« (»und küßte ihn«); Zeile 5 mit Buchstaben 9 (graviter: schwer, würdevolD zu den jesllsworten »Amice ad qllod venisti?« (»Freund, wozu bist du gekommen?«)
Die Lektionstöne sind offenbar als bekannt vorausgesetzt bzw. mündlich überliefert und erst vom 10.111. Jahrhundert an, zumindest teilweise, in neumatischer, d.h. einer als Gedächtnisstütze dienenden, den melodischen Bewegungsablauf graphisch darstellenden Notation angedeutet, später dann auf Notenlinien aus notiert. Vereinheitlicht und in verwandelter Gestalt finden sich die litterae, zusätzlich zur präzisen Notation der Tonhöhen, bis in das 1930 erschienene Karwochenoffizium der Editio Vaticana: C für Chronista (Evangelist) hervorgegangen aus c für cito (schneID mit Rezitationston c; 5 für Synagoga (Versammlung) aus 5 für surswn (aufwärts, hoch) mit Rezitationston auf hohem und ein Kreuz für die Jesusworte aus t für trahere oder tenere (schleppen, festhalten) mit Rezitationston auf tiefem f (s. Abb. X, S. 21),
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Abb. VI
Pantokrator (Allherrscher) umgeben von den vier Evangelistensymbolen (Matthäus: Mensch, lohannes: Adler, Markus: Löwe, Lukas: Stierl Bamberg, Handschrift des frühen 11. Jahrhunderts (Bamberger Apokalypse)
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Abb. VII Gekreuzigter ohne Zeichen der Qual Lucca, Kirche S. Micheie (12. Jahrhundert!
18
Abb. VIII Heiliger Franziskus, die blutenden Füße des Gekreuzigten umschlingend (13. Jahrhundert). Arezzo, Basiliea S. Francesco, gemalt von l'vIargaritone d'Arezzo
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Abb. IX Ölberggruppe aus dem Jahr 1509 aus der Werkstatt von Jörg Keller Münster im Oberwallis (Schweiz), Eingangshalle zur Pfarrkirche
Feria VI, in Parasceve.
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Abb. X Aus dem Karwochenoffizium der Editio Valicana, Paris, Tournai, Rom 1930 Ausschnitt aus der johannespassion. Ab Mitte Zeile I: »t Wen suchet ihr' C: Sie antworteten: S: Jesum von Nazareth«
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Gegenüber solch späterem Brauch zeigen die frühen Handschriften eine überaus . große, bisher wissenschaftlich erst teilweise erfaßte Vielfalt des Schriftbildes, je nach Orten, Kirchen, Klöstern und Orden wechselnd. Nicht zu berücksichtigen sind hier die entsprechenden Traditionen der Ostkirche, die einen zusammenhängenden liturgischen Vortrag ganzer Passionen nicht kennt. Die oben genannten Neurnierungen erscheinen bei Passionslektionen vom 10./11. Jahrhundert an, und zwar besonders dort, wo vom üblichen Lektionston abgewichen werden soll; so vor allem bei Jesu Worten am Kreuz und hier wiederum beim Ausruf des Gekreuzigten »Eli, Eli lamma sabacthani« (»Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen«), ein Zitat aus dem 22. Psalm, das auch später immer wieder durch besondere Melodiebildung aus seiner melodischen Umgebung heraustritt: bescheiden noch, aber doch durch die dreimalige Dreiklangsfigur hervorgehoben in einer Handschrift des 1 1. Jahrhunderts aus Lucca: Beispiel I
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Zuweilen erscheinen die Kreuzesworte auch durch hohe Lage von den übrigen tief gesetzten Jesusworten abgehoben. Seltener, aber doch hier und dort nachzuweisen, ist die für die Frömmigkeit der älteren Zeit bezeichnende Differenzierung der Rezitationstöne der direkten Reden von Jüngern und Juden; so in französischen Handschriften des 12./13. Jahrhunderts: Im bedeutet hier levare mediocriter (d.h. in mittlerer Tonlage) für die Rezitation von Jüngerworten, Is heißt levare sursum (d.h. »höher hinauf« im Sinne von »schriller«) für die Worte der Juden. Während, mit Ausnahme der genannten und ähnlicher Beispiele die litterae noch durchaus im Sinne des Lehrhaften und zunächst keineswegs als Hinweise auf eine Rollenverteilung auf mehrere Sänger zu verstehen sind, deutet die Differenzierung von Jünger- und Judenturbae auf neue Tendenzen. Nach den bisher bekannten Quellen zu urteilen, erscheint die Notation eindeutiger Tonhöhen mittels auf Linien gesetzter Quadratnoten oder mittels Tonbuchstaben erstmals in französischen Handschriften des 12. Jahrhunderts aus Reims und Corbie. Hier ist der melodische Stimmumfang vom kleinen c bis zum eingestrichenen d' festgelegt. Zu den Jesusworten gehören die Rezitationstöne d und zu den Texten des Evangelisten das a und zu den Reden der übrigen Personen, zu den sogenannten Turbae (Schar, Menge) die hohen Töne bund d':
t
Et
vo - ca - vit
Re - span - dir
Je - sumo et
Je - sus:
di - xit
A
e - i:
te - me
Tu es
Rex Ju - dae- a - rum?
ti - pso
hoc
di - cis"
Bemerkenswert ist in diesem Beispiel der relativ kleine Tonumfang einer Oktave, der ohne Schwierigkeit von einem einzigen Sänger zu bewältigen ist. Sogar auf eine Sexte reduziert ist der Ambitus in einigen etwas späteren, aus dem 13. und 14. Jahrhundert stammenden französischen Handschriften. Ähnlich wie schon die Iitterae signiftcativae unterscheiden sich auch die mehr oder weniger ausnotierten einstimmigen Passionen von Gegend zu Gegend und von Orden zu Orden. Von besonderer Bedeutung sind die in Deutschland vom 14. Jahrhundert an, von den Franziskanern offenbar schon früh verwendeten Passionstöne f (jesus) - c' (Evangelist) - f' (Turbae) geworden, die bis ins ausgehende 19. Jahrhundert neben den von Rom seit dem späten 16. Jahrhundert vereinheitlichten Tönen 9 (mit Kadenz auf fl für Jesus, c' und f' standen.
Von der lehrhaften zur mitleidsvollen Passion: Von der doctrina zur compassio Tm späten 12. und besonders dann im 13./14. Jahrhundert haben das lehrhafte lPassionsverständnis und mit ihm die bildhafte Darstellung der Leidensgeschichte Jesu entscheidende Wandlungen erfahren: Wandlungen, die im Sinne expressiver Steigerungen auch im Vortrag des Passionsgesanges zum Ausdruck gekommen sind und damit den alten lehrhaften Ton augustinischer Prägung überhöht haben. Musikalisch gehören hier hin die Aufteilung der Lektion auf mehrere Vortragende und, spätestens vom zweiten Drittel des 15. Jahrhunderts an, die Mehrstimmigkeit. Wie nicht anders zu erwarten, sind die Gründe für die sich durchaus im Rahmen der Liturgie bewegenden Veränderungen in der zeitgenössischen Theologie und Frömmigkeitsgeschichte zu suchen: in der um die Mitte des 12. Jahrhunderts begründeten Kreuzestheologie des großen Kirchenlehrers Bernhard von Clairvaux, dessen Anschauungen wiederum in engem Zusammenhang mit den damaligen politischen Ereignissen zu sehen sind. Der von 1147 bis 1149 dauernde zweite Kreuzzug, der von Bernhard im Auftrage des damaligen Papstes nachdrücklich propagiert worden war, endete mit einer Katastrophe für das christliche Abendland; die bisherige Ecclesia triumphans wurde zur Ecclesia passiva, zur leidenden Kirche, und damit der Pantokrator Christus zum Schmerzensmann am Kreuz. Die Konsequenz, die sich für Bernhard daraus ergab: eine Leidensmystik, eine Versenkung in das Leiden und in das Blut Jesu, und damit auch eine neue Dimension des menschlichen Leidens schaffend.
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Von da her sind denn auch die Wandlungen zu verstehen, wie sie sich vom späten 12. Jahrhundert an besonders deutlich in der bildenden Kunst, in der Passionsdichtung und auch im Passionsgesang vollzogen haben. Insbesondere bei Bernhards Nachfolgern hat sich immer mehr ein Bedürfnis nach Schilderung der Schmerzen und Wunden des leidenden Jesus entwickelt. Von jetzt an erscheint denn auch nicht mehr der aller Qual enthobene Christus, sondern der Schmerzensmann Jesus. Die Kreuzigungsdarstellungen wandeln sich allmählich von der allerdings noch weiter fortbestehenden Darstellung des Jesuskreuzes mit Maria und Johannes zum vielfigurigen Passions- und Historienbild. Im ausgehenden 13. Jahrhundert ist nicht nur das franziskanische Stabat mater dolorosa entstanden, sondern auch die pseudobernhardinische Schrift mit dem vielsagenden Titel Liber de passione Christi et doloribus et planctibus matris eius (Das Buch von der Passion Christi und von den Schmerzen und Klagen seiner Mutter), Aus derselben Zeit stammt auch der Brauch, ein Kreuz auf den Altar zu stellen. Mit dem Wirken des Franz von Assisi und des volksverbundenen Franziskaner-Ordens ist das Bild des leidenden Jesus weit hinein ins Volk getragen worden. Ausdruck dieser neuen Frömmigkeit sind die berühmten Meditationes vitae Christi des Franziskaners Pseudo-Bonaventura (um 1300>. Besonders bemerkenswert sind hier die Kapitel 74 bis 85, in welchen Einzelheiten der Folterung und des Leidens Jesu dargestellt werden. So heißt es etwa: >>Die Blume allen Fleisches und der ganzen menschlichen Natur [d.h. Jesusl ist voller Flecken und Brüche; überall, von allen Teilen des Körpers fließt das königliche Blut. Es hängt der Herr mit dem abwärts ziehenden Gewicht seines Körpers am Kreuz, nur gehalten von den mit Nägeln durchbohrten Händen.« In dieser Passionsbeschreibung sind die Berichte aller vier Evangelien und damit auch die sieben Worte Jesu am Kreuz zu einer Summa passionis zusammengefaßt, wie sie vom 16. Jahrhundert an dann auch musikalisch bedeutsam werden wird. Aus alle dem wird deutlich, daß jetzt an die Stelle der älteren augustinischen doctrina und cOl1templatio ein neues Element, die compassio, das Mitleiden getreten ist. Von nun an heben alle Passionserzählungen die besonderen Umstände des Leidens Jesu in mitleiderweckender Weise hervor. Ausdruck solcher Geisteshaltung sind auch die sich eben zu dieser Zeit mehrenden Berichte von Kreuzesvisionen und von Stigmatisierungen. Zum Sinnbild wird der die blutenden Füße des Gekreuzigten umschlingende Franziskus von Assisi (s. Abb. VIII, S. 19), Dieselben Züge von Mitleid begegnen auch in den Gesängen der italienischen Laienbruderschaften, der Laudesi. Schuld an all den Qualen des Gekreuzigten aber sind die grausam verfolgten Juden, denen auch das Mißlingen des Kreuzzuges in die Schuhe geschoben wird: schlimme Folge der Fehldeutung des im Passionstext enthaltenen Bibelwortes »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!«. Auch im Bereich der Passionsliturgie macht die neue affekthafte compassio ihr Recht gegenüber der lehrhaften contemplatio Augustins geltend. Deutlich wird das Streben nach ausdruckshafter Gestaltung des Passionsgesangs in den liturgischen Ordnungen, den ordines des 13. Jahrhunderts. So ist im großen ordo des Domes von Siena aus dem Jahre 121 5 beim Kyrie des Mittwochs der Karwoche die Rede vom »Schall des das Kyrie singenden und ihn spöttisch Anbetenden«. Nach demselben Ordo sind die Worte »mortem autem crucis« (Kreuzestod) »flebili voce« (mit »wei-
nender Stimme«) vorzutragen. Solche und ähnliche Formulierungen finden sich im späten 13. Jahrhundert in der berühmten, bis ins 15. und 16. Jahrhundert immer wieder abgeschriebenen und auch im Druck veröffentlichten Kirchenordnung des französischen Bischofs Durandus Mimatensis. Hier wird ausdrücklich für den Passionsvortrag eine "tristitia compassionis«, eine Traurigkeit des Mitleidens gefordert. So ist es denn auch nicht verwunderlich, wenn Durandus für die Passionslesung eine neue, nach Personen und Situationen ausdruckshaft differenzierte Vortragsweise verlangt: einen sanften Ton für die Worte Jesu, dagegen eine laute und rauhe Stimme für die Turbae der "überaus gottlosen Juden« sowie einen schmerzensvollen Klagegesang der Frauen am Grabe. Als Grund für solche Steigerung des Ausdrucks wird genannt: "Um in den Seelen der Zuhörenden Devotion und zugleich Bitterkeit zu bewirken.« Um die Mitte des 13. Jahrhunderts finden sich die ersten Zeugnisse für eine Aufteilung der Passionslektion auf mehrere Sänger. Damit hebt sich die Gattung Passion nun noch deutlicher als bisher von den übrigen Evangelienlesungen ab. Ähnliche Vortragsweisen für die Weihnachts- und Dreikönigsliturgie sind erst aus dem 14. und 15. Jahrhundert bekannt. Als bisher frühestes Dokument eines auf verschiedene Sänger aufgeteilten Passionsrezitativs hat das in der Kirche Santa Sabina in Rom aufbewahrte Gros Livre der Dominikaner aus dem Jahre 1254 zu geIten. Hier findet sich ein modus legendi passion es (Schema der Passionslesung), bei dem drei Personen beteiligt sind: eine mittlere Stimme (vox media) mit Rezitationston ffür die Worte des Evangelisten, eine tiefe Stimme (vox inferior) auf c (mit Abstieg bis ins tiefe A) für die Jesusworte und eine höhere Stimme (vox superior) auf b für Turbae und übrige Einzelstimmen (Soliloquenten): Beispiel 3
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"Passion unseres Herrn Jesu Christi«; "Oie Könige ihrer Völker« (Lukaspassian); "Wohin sollen wir gehen L..J das Osterlamm zu bereiten?« (Markuspassion)
Es ist kaum ein Zufall, daß das erste bekannte Zeugnis dieser Art aus dem Kreis der Dominikaner, eines, wie die Franziskaner, im 13. Jahrhundert gegründeten Ordens stammt, dessen Passionstheologie auf compassio ausgerichtet war.
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Sogar fünf Sänger sind in einer englischen, sich heute in Parma befindlichen Quelle des ausgehenden 13. Jahrhunderts genannt (s. Abb. XI, S. 27): Zeile 4 (prima vox) rezitiert auf hohem t das dem Priester vorgetragene »Dominus vobiscum« (»Der Herr sei mit euch,,), Zeile 4 und 6 seamda vox auf c' für die erzählenden Texte, Zeile 6/7 tertia vox auf tiefem e für die Worte Jesu, Zeile 7/8 quarta vox auf tiefem g für die Juden und hohem t für die Jünger-Turbae und schließlich eine quinta vox (nicht mehr auf Abb. XI) auf hohem d' und es' für die Worte Jesu am Kreuz. Demonstrativ unterscheidet die quarta vox mit ihrem den betreffenden Texten vorangestellten schrägen Kreuz die Juden-Turbae von den Stimmen der Jünger. Im 14. Jahrhundert, der Zeit der großen und verheerenden Pestepidemien, mehren sich die Belege für die von nun an allgemein gültige, der compassio verpflichtete Vortragsweise der Passionslektionen durch drei Sänger. Zudem wird es Brauch, die pluralen Turbae der Jünger und Juden zwar noch einstimmig, aber von mehreren Sängern unison vorzutragen (frühester bekannter Beleg: Breslau 1348l. Hier wird der im Sinne der compassio interpretierte Text, gewissermaßen realistisch, auf eine Mehrzahl von Personen übertragen.
Vom Mitleid zur Imitation des Leidens Jesu: Die Anfänge der mehrstimmigen Passion
S
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obald die Passionslesungen durch mehrere liturgische Sänger vorgetragen wer den, besteht im Prinzip die Möglichkeit eines mehrstimmigen Zusammenwirkens der Stimmen. Damit wird eine Dimension hör- und sichtbar, in welcher sich die Passion, von spätestens 1430 an, neuen klanglichen und stilistischen Einflüssen zu öffnen beginnt. Im Hintergrund des Phänomens Mehrstimmigkeit stehen bezüglich des Passionsvortrags wiederum theologie- und frömmigkeitsgeschichtliche Erscheinungen: »Keine andere Zeit hat sich angelegentlicher mit dem Leiden und Sterben Christi beschäftigt als das späte 14. und vor allem das 15. Jahrhundert." So hat es Kurt Ruh, ein Kenner der damaligen Situation, formuliert. Wenn bisher von compassio die Rede war, so tritt zu dieser nun das Bedürfnis nach bildhafter Nachahmung des Leidens Jesu, nach imitatio und sogar nach identificatio. Besonders deutlich erscheinen solche Züge im berühmtesten, der Mystik zuzuordnenden Buch des 15. Jahrhunderts, in der 1441 vollendeten Schrift des Thomas a Kempis De imitatione Christi (Von der Nachahmung Christil und in den Traktaten des 1493 gestorbenen deutschen Theologen Gabriel Biel. Als Bilddoku-
Abb. XI Aus Salesbury (England) stammende Handschrift des ausgehenden 13. Jahrhunderts (heute in der Biblioteca Palatina in Parma, MS 98): Anleitung zum Singen der Passion; ab Zeile 4 mit Bezeichnung der verschiedenen Stimmen
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ment besonders eindrucksvoll ist Albrecht Dürers Selbstbildnis als Schmerzensmann mit Marterwerkzeugen (s. Abb. XII, S. 291. fmitatio und identifieatio sind zugleich auch Konzepte der damaligen Volksfrömmigkeit: Das Volk beginnt sich intensiver am kirchlich-religiösen Leben zu beteiligen, es interessiert sich für die sakramentalen Geschehnisse und Geheimnisse. Beweggründe für diese Tendenzen sind nicht zuletzt die überaus schwierigen sozialen und politischen Verhältnisse, die indirekt eine Art von Solidarisierung mit dem leidenden Jesus anstreben. Besonders deutlich wird solches wiederum in der bildenden Kunst. So ist es kein Zufall, wenn eben zu dieser Zeit die Errichtung von Kreuzwegstationen (viae erucisl beginnt: Gegen Ende des 15. Jahrhunderts wird auf dem Monte Sacro in Varallo (im oberitalienischen Val Sesial der sich im 16. und 17. Jahrhundert immer weiter ausdehnende Kreuzweg einer Jerusalemme traspot1ata begonnen, veranlaßt durch den Verlust der christlichen Stätten in Jerusalem selbst. Ebenfalls vom Bedürfnis der imitatio inspiriert sind die zu dieser Zeit in Deutschland aut1,vere filius Dei erat« (»Wahrlich, dieser war Gottes Sohn«), In England sind in der Folgezeit kaum mehr Passionsvertonungen nachzuweisen. Bekannt sind einzig die um 1607 vom Katholiken WiIliam Byrd für den römischen Ritus geschaffenen dreistimmigen Turbae zu einer johannespassion. Dieses fast völlige Fehlen englischer Passionen hängt, zumindest für das 16. jahrhundert, mit der kirchlichen Ablösung von Rom um 1531 und mit der Gründung der anglikanischen Kirche zusammen. Im 17. und 18. jahrhundert wirkten sich vermutlich dann die säkularen Strömungen der englischen Aufklärung negativ auf die Passionskomposition aus. Doch zurück zum 15. jahrhundert. Chronologisch noch vor der Passion von Richard Davy entstanden sind zwei Stücke, die vermutlich im oberitalienischen Ferrara für den Gebrauch der Familie d'Este um 1470/1480 aufgeschrieben wurden. Stil und Charakter dieser bei den Werke, einer Matthäus- und einer johannespassion, sind insofern als singulär zu bezeichnen, als sie zwar dem responsorialen Passionstyp zugehören, jedoch wohl nicht für gottesdienstliche, sondern für paraliturgische Zwecke eines Passionsspiels, wie es 1481 in Ferrara nachzuweisen ist, komponiert worden sind. Darauf weisen die einstimmig, zwar im Choralton,
jedoch in der Stimmlage der jeweils singenden Person ausnotierten Texte der Soliloquenten (ohne jesus) hin. Bemerkenswert ist auch die Unterscheidung von jünger- und judenturbae in der Matthäuspassion: diese wie auch die jüngerturbae in der johannespassion im dreistimmigen, nach Fauxbourdon-Manier in Sextakkorden verlaufenden Satz (Beispiel 5), jene sechsstimmig und bei der Frage »Numquid ego sum, Domine?« (»Herr, bin ich's?«) im achtstimmigen Kanon. BeispielS
Non
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e
fe
sto,
»la nicht auf das Fest«
Streng liturgisch responsoriale Passionen mit mehrstimmigen T urbae sind aus Italien erst aus den jahren 1527 und 1532 bei Francesco Corteccia in Florenz bekannt, wobei der Komponist selbst darauf hinweist, daß die Johannespassion von 1527 im Stile seines Lehrers Bernardo Pisano geschrieben sei, von welchem allerdings keine Passionen erhalten sind. Zu den ältesten Dokumenten, die auf mehrstimmig responsorialen Passionsgesang weisen, gehört der von Manfred Schuler wissenschaftlich ausgewertete Bericht des Johannes Burehart, Zeremonienmeister von Papst Alexander VI., einem gebürtigen Spanier: Spanische Geistliche waren es, die in den Jahren 1462 und 1506 Rom besuchten und in der Karwoche Passionen in einer vom römischen Gesang abweichenden Art vortrugen, wobei einzelne kurze Abschnitte nicht nur der Turbae, sondern auch der Worte Jesu und des Evangelisten mehrstimmig erklangen. Burchart berichtet, daß, nach Meinung von Zuhörern, »die Spanier die Passion besser als andere Sänger vorgetragen hätten«,
Die erste Summa passionis
C
hronologisch folgt zu Beginn des 16. Jahrhunderts das für die Zukunft wegweisende Modell der aus kurzgefaßten Texten aller vier Evangelisten zusammengestellten Summa passionis, eines für Karwochenfeiern außerhalb der Messe bestimmten Werkes, auf das hier etwas näher einzugehen ist. Weit herum bekannt, besonders auch im protestantischen Raum, wurde diese mehrstimmig durchkompo-
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nierte, motetten hafte Passion vor allem dadurch, daß sie in vierstimmiger Fassung im Jahre 1538 unter dem Namen des berühmten Jacobus Obrecht im Druck bei Georg Rhaw im lutherischen Wittenberg erschien und von da aus nicht nur weiterverbreitet, sondern auch weiterentwickelt wurde. Nun gibt es aber ältere handschriftliche Quellen, welche eindeutig zeigen, daß diese Passion nicht von Obrecht, sondern von einem französischen, in Paris und vorübergehend auch in Ferrara wirkenden Komponisten namens Antoine de Longueval stammt, der dieses Werk, wie Rainer Heyink gezeigt hat, für eine Karwochenfeier des für seine Musikkultur berühmten Hofes des Ercole d'Este I. in Ferrara schrieb. In ihrer ganzen Anlage entspricht diese Passion dem damals von Ercole gepflegten Frömmigkeitsstil, der sich in einem besonderen Interesse an geistlich zeremonieller Musik äußerte und in Verbindung mit den engen Beziehungen des Fürsten zum Dominikaner-Orden und insbesondere zu dessen berühmtem Ordensbruder Savonarola, dem Sittenprediger und Kritiker der damaligen römischen Kurie, zu sehen ist. Die ältesten zwei Sammelhandschriften, in denen das Werk überliefert ist, stammen aus der vermutlich direkt aus der ferrarensischen Originalquelle kopierten vatikanischen Capella Sistina (geschrieben zwischen 1503/04 und 1512) und aus Florenz (1515/1521), Im Exordium dieser Passion sind, im Gegensatz zu späteren Quellen, alle vier Evangelistennamen, je einer pro Stimme, genannt. Dabei ist bemerkenswert, daß die ältere, römische Handschrift in der obersten Stimme den Namen des dem biblischen Kanon nach ersten Evangelisten Matthäus und im Tenor den des Johannes nennt, während die aus Florenz stammende Quelle (s. Abb. XIV, S. 37) umgekehrt verfährt. Grund hierfür ist offenbar, daß Johannes als Stadtpatron von Florenz hier den ersten Platz beansprucht. Longuevals Werk ist nach motettischem Vorbild in drei Teile aufgeteilt: I. Teil: Exordium, Jesu Verrat durch Judas, Gefangennahme. 2. Teil: jesus vor Pilatus und Kreuzigung. 3. Teil: jesus am Kreuz und, theologisch zentral, die sieben Worte am Kreuz sowie die im Bibeltext nicht enthaltene Conclusio »Qui passus es pro nobis, miserere nobis. Amen« ("Der du für uns gelitten hast, erbarme dich unser. Amen«). Solche und ähnliche Zusammenstellungen von Evangelientexten sind zur Zeit Longuevals nichts Neues; sie gehen letztlich schon auf das späte zweite Jahrhundert zurück, da der altchristliche Apologet Tatian eine allerdings heute nicht mehr erhaltene Evangelienharmonie in syrischer Sprache verfaßte, ein Werk, das als Modell für alle späteren Textzusammenfassungen diente. Bekannt ist die im 6. Jahrhundert geschriebene Harmonie (Summa) des Victor da Capua. Doch schon ein jahrhundert früher hatte Augustin Passionslektionen nach allen vier Evangelien gefordert. Aus dem 14. Jahrhundert sind sodann Evangelienharmonien in italienischer Sprache bekannt. Zu größter Bedeutung gelangte die an Augustin und Victor anknüpfende lateinische Evangelienharmonie mit dem um 1420 entstandenen Monotessaron (d.h.: ein Buch aus vieren gemacht) des französischen Theologen Johannes Gerson. Zahlreich sind die Ausgaben dieses Werks nicht nur in Frankreich und Italien, sondern auch in Deutschland gewesen, wo das Monotessaron zudem ins Deutsche übersetzt worden ist. Gerson war höchste Autorität für die deutsche Theologie des 15./ 16. jahrhunderts. So enthält z.B. ein im Hinblick auf die
Abb. XIV Aus der Handschrift 11 I 232 (1515/1521 l der Biblioteca Nazionale Florenz: Passionsharmonie (Summa passionisl des Antoine de Longueval. Auf der linken Seite: Oberstimme ' Das hier kritisierte "Vier-Passionen-Singen«, das neben anderem KalWochenbrauchtum genannt wird, meint wohl kaum den liturgischen Gesang der nach altem vorreformatorischem Brauch auf bestimmte Tage festgelegten Passionsevangelien, sondern sehr wahrscheinlich den musikalischen Vortrag einer Passiansharmanie, d.h. einer mehrstimmigen, aus allen vier Evangelien zusammengestellten Kurzfassung des Passionstextes. Hierzu findet sich eine aufschlußreiche Bemerkung in der von Luthers Freund Johannes Bugenhagen redigierten Kirchenordnung von 1529. Dort, wie auch in Lübeck, ist für den Frühgottesdienst des Karfreitags nicht das Singen, sondern das Vorlesen einer Passionsharmonie in deutscher Sprache, verfaßt von Bugenhagen selbst, vorgesehen: »Solches ist dem Volke nütze, mehr denn daß man die Passion laut sang [... l und die Laien verstanden es nicht.« Offenbar geht es Bugenhagen um die Verständlichkeit des Textes. Aus Luthers weiteren Äußerungen und anderen Verordnungen der Reformationszeit ergibt sich, daß die Passionslesung in erster Linie ein zur Dankbarkeit aufforderndes Lehrstück sein soll. Damit wird theologisch eine gewisse Rückverbindung zum kirchenväterlichen, insbesondere zum Augustinischen Passionsverständnis sichtbar. Ähnlich wie schon Gersons Manotessaron ist auch Bugenhagens erstmals 1526 in Wittenberg in deutscher Sprache erschienene Passionsharmonie zu einem Volksbuch geworden. In der großen Beliebtheit solcher Evangelien- und Passionskompilationen äußert sich eine Frömmigkeit, die mit erklären hilft, weshalb, trotz aller Einwände Luthers, das »Vier-Passionen-Singen« im evangelischen Raum immer wieder gepflegt worden ist. Überblickt man die lutherischen Kirchenordnungen, so fallt auf, daß in den Verzeichnissen der Kirchenfesttage sowohl Palmsonntag wie auch der Karfreitag zuweilen fehlen; dies offenbar entsprechend Luthers Satz »die KalWoche soll gleich wie andere Wochen sein«, was nun aber keinesfalls heißen soll, daß in der KalWoche keine Passionen gesungen worden wären. Vielmehr läßt sich folgendes feststellen: Der Vortrag einer Passion nach einem einzelnen Evangelisten beschränkt sich nicht ausschließlich auf Palmsonntag und die Tage der KalWoche. Schon an Laetare und Judicare, d.h. an den zwei dem Palmsonntag vorangehenden Sonntagen, wurden an einigen Orten Passionen gesungen; hierbei hatte die mehrstimmige, die sogenannte figurale Passion und insbesondere die Passionsharmonie ihren Platz gewöhnlich nicht im Hauptgottesdienst, sondern in der Mette, d.h. im Früh-
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;:'te fa'1en/palmt~g/vl1b marttrw(tc~cn fanen tvir ble~bct1 mid)t bat) \t1u: ~tmat1b 5" raffcn )'Mngef1 fonon: bas bie pafften "nb bit: i!uangelia/fo auffl~ie fclbige 5e~t gi!9l~"et reinblbl(~be" foHen Iboc~ nicl)t «llfo/bas man bas ~ul1ger tuc~/ palmen rcL)ie~n/bil~ be oe,fenlvtlo was bes g"uc~dwet,fs me~t afll l)au ttrJ lobet' vier PCl flio tl nngenn lObet: M~t f1unbm am ·
l\arfre~tag an ocr paffton 3U pztbigcn ~aben/fonbea:
bie mat:tCtwo(~e fell gle~'b/wie tlubea: wocl)en (ein/ c.n bas mall oie paffton plcbige/oes tages e'9fl( flun& be/burd) bit \l?OC~( lober wie viel tage cs gdufld/ l'nb bas (acrament neme Iwtt bo \\?1(/ i)enn es foll j" alles/umb oes wo:tß vnb facramcntm reillen Vntet: ()(n (q~tf1(n g(fc~el)en im >Den Tod des Herrn verkündet ihr, bis er wiederkommt«). Auch die Conc1usio ist neu, weder Erbarmungsruf wie bei Longueval, noch Danksagung wie bei Walter, sondern rhetorisch-historische, auf das Exordium zurückrundende Confirmatio nach johannes 19,35: »Et qui vidit, testimonium perhibuit, et scimus, quia verum est testimonium ejus. Amen« (»Und der dieses sah, der hat es bezeugt und wir wissen es, weil sein Zeugnis wahr ist«), Chronologisch und stilistisch gesehen folgt 1568, d.h. fünfundzwanzig jahre nach Resinarius die ausschließlich den /ohanneischen Text und das traditionelle Exordium (»Höret das Leiden«) verwendende und stark verkürzende Passion von /oachim a Burck. Sie schließt sich an die motettische Satztechnik des Resinarius an. Daß aber Verbindungslinien auch zu Longueval zurückführen, zeigt das Vorwort dieses als Sonderdruck erschienenen und dem Domkapitel von Magdeburg gewidmeten Werkes; da heißt es: »Also habe ich jetzt die Deutsche PASSION in vier Stimmen bracht I und obwohl der berümbte Musicus jacobus Obrecht [lies Longuevall vor der zeit die lateinische Passion aus trefflichem geiste gesetzet I die
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70
Abb. XIX Gekreuzigter mit Marien, lohannes und San Girolamo (Kirchenvater Hieronymusl von la co po Bassano (1662/63>' Treviso, Museo Civico
Abb, XX Gekreuzigter mit Maria, Maria Magdalena, lohannes und Engeln von EI Greco (1596/ 1600), Madrid, Museo dei Prado
Abb. XXI Aus Bachs Autograph der Matthäuspassion: Der Text des Rezitativs »Da versammelten sich die Hohenpriester« ist mit roter Tinte geschrieben.
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auch allenthalb gesungen wird / So hat ich doch gute Hoffnunge / Es werde auch diese meine arbeit / so ich an die PASSION gelegt / Schulen und Kirchen im deutschen Lande angenehm sein.« In der Conclusio des Burckschen Werkes äußert sich der spezifisch lutherische Gedanke von der glaubenschaffenden Kraft der Passion: "Wir glauben, lieber Herr: mehre unsern Glauben. Amen.« Wörtlich denselben Text hat 1631, d.h. mehr als sechzig Jahre später, noch einmal Christoph Demantius vertont. Doch zuvor ist auf zwei Johannespassionen des ausgehenden 16. Jahrhunderts einzugehen, die, obwohl sie in ihrer Entstehung zwanzig Jahre auseinander liegen und die eine lateinisch, die andere deutsch textiert ist, eng zusammengehören. Die beiden Komponisten, Ludwig Daser und der um zwanzig Jahre jüngere Leonhard Lechner, standen als zeitweilige Mitglieder der Bayerischen Hofkapelle in direkter Verbindung mit Orlando di Lasso, und beide starben als zum Protestantismus Konvertierte oder doch als Sympathisanten des neuen Glaubens in Stuttgart. Beide Passionen sind nach dem Vorbild des Resinarius in fünf Teile gegliedert. Anders als bei den älteren Meistern ist die Conclusio wiederum mit derjenigen Longuevals identisch, wobei Lechner anstelle des »Amen« die Anrufung »0 Jesu« setzt und damit wohl seiner persönlichen Frömmigkeit Ausdruck verleiht. Lechners bedeutendes, 1593 geschaffenes Werk geht in seiner kunstvollen Polyphonie weit über die älteren Passionen hinaus, und doch bewahrt der Komponist feste Bindungen an die Tradition, indem der chorale Passionston als Gerüst des mehrstimmigen Satzes fungiert. Im folgenden Beispiel ist es das tiefe f der Jesusfrage, das a-c im Sopran und Tenor der erzählenden Worte und das höhere f der Turba »Jesus von Nazareth«. Schon der originale Titel des Werkes weist auf die Bedeutung des Passionstones: Historia der Passion L . .l nach dem alten lateinischen Kirchenchoral mit vier Stimmen componiert. Charakteristisch sind überdies tonmalerisch-madrigalistische Tonfiguren, wie sie z.B. zu den Worten »Wen suchet ihr?« erscheinen:
Beispiel 26
"Wen
su
ehet
ihr?" ____
73
,------, ------~.-
Das folgende Beispiel zeigt den Beginn der Conclusio, die mit ihrer schlichten Oberstimmenmelodie und der Chromatik zu dem Wort »gelitten hast« für Lechners Stil charakteristisch ist: Beispiel 27
Der DlI
für
hast,
Der Du für
hast,
Der DlI für
hast, -~ --'--------------~---
Der DlI
für
uns
ge - lit- ten
_t---
hast,
Einen Schritt weiter tat, fast vierzig Jahre später, Christoph Demantius mit seiner Johannespassion von 1631, einem Werk des 64jährigen, in welchem er nicht nur die Vierstimmigkeit der bisherigen Passion dieses Typs zur Sechsstimmigkeit, sondern auch die klanglich expressive Dimension, vielleicht angeregt von C1audio Monteverdi, durch auffallende melodische und harmonische Fortschreitungen erweitert,
74
Die Passionen von Heinrich Schütz A Is letzte schöpferische Frucht des alten responsorialen Passionsmodells sind /""\.die drei von Heinrich Schütz 1665/66 komponierten Passionen nach Matthäus, Lukas und Johannes zu betrachten. Sie sind für dieselbe Dresdener Hofkirche geschrieben, für die hundert Jahre früher schon Scandello seine Passion komponiert und für deren Neubau-Einweihung, nun als katholische Kirche, Johann Sebastian Bach möglicherweise seine h-MolI-Messe bestimmt hat. Im Gegensatz nicht nur zur katholischen Liturgie, sondern auch zu den meisten evangelischen Kirchen wurde hier zu Schützens Zeit am Palmsonntag die Lukas- und nicht die Matthäuspassion gesungen. Diese war für den Passionssonntag Judica (eine Woche vor Palmsonntag) bestimmt. Am traditionellen Tag, dem Karfreitag, erklang die Johannespassion (s. Abb. XXII, S. 78l. Die von Schütz nicht vertonte Markuspassion ist in einer zeitgenössischen Handschrift durch das Werk des in Dresden wirkenden Italieners Marco Gioseppe Peranda belegt. Zu Schützens Passionswerken zu zählen sind auch die vor 1657 entstandenen Die Sieben Wane / unsers lieben Erlösers und Seeligmachers / jESU CHRiSTI /50 er am Stamm des Heiligen Creutzes gesprochen / gantz beweglich gesetzt / von Henn Heinrich Schützen / ChurSächsischen Capellmei5ters. Es ist dies eine Gattung, deren Text sowohl mit dem dritten Teil einer Summa passionis als auch mit dem beiden Konfessionen zugehörigen Lied »Da Jesus an dem Kreuze stund« zusammenhängt. Während Schützens Komposition, ähnlich wie seine Weihnachts- und Auferstehungshistorie, im damals modernen monodischen, d.h. vokal deklamierenden und instrumental begleiteten Stil mit Generalbaß und konzertierenden Instrumenten geschrieben ist, zeigen die drei Passionen einen für ihre Zeit eigenartig nach rückwärts gewandten Stil, was zweifellos mit deren liturgischer Funktion und insbesondere mit dem damals in Dresden gepflegten a cappella-Satz zusammenhängt: Trotz spätem Entstehungsdatum - Schütz war zu dieser Zeit (1665/66) um die achtzig Jahre alt - fehlen sowohl Generalbaß als auch konzertierende Instrumente. Das Rezitativ des Evangelisten, zwar nicht streng im Choralton des 16./17. Jahrhunderts geschrieben, knüpft in Melodieführung und nicht mensurierter, d.h. nicht präzise notierter Rhythmik an diesen an, wobei an einzelnen bedeutsamen TextsteIlen rhetorisch bedingte Abweichungen vom üblichen Rezitationston erfolgen; so beispielsweise zu den Worten »gekreuziget« und »beugeten«: Beispiel
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---
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2~
.. ••
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daß er ge - kreu
•
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. SW -.-..-.-----.. •
zi get wür-de.
... ...
•
und beu-ge-ten die Knie vor ihm, ver·spotteten ihn
75
Einstimmig singt nicht nur der Evangelist, sondern singen auch die SoJiloquenten in personenbezogener Stimmlage; Mehrstimmigkeit für Einzelpersonen, wie im 16. Jahrhundert, ist jetzt nicht mehr möglich: Beispiel 29 Magd:
~8?=. - c=- -u -~.. IFt~==Und es trat zu ihm ei-ne Magd und sprach:
f~
Evangelist:
-
Er leugnete aber
-
Und du, du warest auch mit dem Je-su
Petms: • I . _,
...
I ,."
. - ..
h.
I.
Ir_
- .-.:21
I,.
Ich, ich weiß nicht, was du
und sprach:
sa - gest.
Dieses Beispiel zeigt die Verbindung von personengebundenem Charakter und Affekt: Die Ancilla (Magd) singt mit Hochbetonung des Wörtchens "auch" im Sopran, Petrus in Tenorlage mit Wiederholung und wechselnder Betonung des Pronomens "ich«. An die Tradition knüpft die Baßlage der Jesusworte an, wobei hier auch der weite melodische Bogen und die Fermaten an die Waltersche Passion erinnern (s. Beispiel 22b, S, 63): Beispiel 30 Jesus:
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4
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Für die das rein Liturgisch-Funktionale überhöhende Individualität des Komponisten spricht überdies, daß die drei Passionen drei verschiedene Tonarten verwenden: die Lukaspassion das traditionelle F-Iydisch, die Matthäuspassion g-dorisch und die Johannespassion e-phrygisch. Aber auch in der Melodieführung unterscheiden sich die drei Werke: Beispiel 31 a
LukaspassioJJ
l~ Und
- - . als
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..
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er.
Beispiel 31 b
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76
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I ... schrey abermal
• laut
=
und
-
----
ver - schied.
Beispiel 31 c Johallllespassioll
,-- =,. nei
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••
..
••
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das
Haupt
2'5"
•
•
•
und
•
.0 schied.
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Dem liturgischen Ton am nächsten kommt die Lukaspassion, stark affektiv gestaltet ist die Matthäuspassion, in ruhig meditativen Zweitongruppen bewegt sich das Rezitativ der johannespassion. Dem entspricht auch die jeweilige Conclusio: Die Lukaspassion schließt lehrhaft mit dem Choral »Wer Gottes Marter in Ehren hat«, die Matthäuspassion mit dem auf das vorreformatorisch lateinische »Laus tibi« zurückgehenden Text »Ehre sei dir Christe, der du littest Not«, an dessen seit 1527 im evangelischen Gottesdienst verwendete Melodie sich Schütz deutlich anlehnt und die er im mehrstimmigen Satz ausdrucksstark verdichtet. Die johannespassion bringt als Beschluß, gebetsartig verinnerlicht, den Choral »0 hilf Christe, Gottes Sohn«. Die Turbae, fast ausnahmslos auf vierstimmigen a cappella-Satz beschränkt, sind in einem mit vielen motivischen Imitationen versehenen motettischen Satz komponiert, wobei vom musikalischen Figurenrepertoire bzw. der Tonmalerei, wie sie der Schütz-Schüler Christoph Bernhard beschrieben hat, im Dienste der Textausdeutung reicher Gebrauch gemacht wird. Davon vermittle der Abschluß des breit ausgearbeiteten »Kreuzige«-Chors der johannespassion einen Eindruck: Beispiel 32 Johwl/I"spassion
presto
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U I1 . A Ihn,kreu
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Hinter den Passionen des Komponisten Schütz wird stets auch der Theologe Schütz sicht- und hörbar, der Musiker, der den Bibeltext sprachhaft, und d.h. zugleich auch predigthaft gestaltet. Noch einmal verwendet Schütz in höchster Vollendung, aber schon zu einer Zeit, da neue Passionstypen erscheinen, das responsoriale Modell unter Verzicht zwar nicht auf rhetorisch-musikalische Textausdeutung, wohl aber auf oratorischmonodische Züge opernhafter Provenienz. Was Schütz, zehn bis zwanzig jahre frü-
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Abb. XXII Aus der unter Aufsicht des Komponisten angefertigten Handschrift der lohannespassion von Heinrich Schütz, Weißen fels 1665 (heute in der Herzog August Bibliothek WolfenbütteD
her, an oratorischen Elementen in den Sieben Wonen verwendet hatte, nimmt er ganz bewußt in eine ältere Tradition zurück, in eine Tradition freilich, die der Komponist mit neuer schöpferischer Kraft erfüllt und überhöht.
Anfänge der oratorischen Passion und Einflüsse pietistischer Frömmigkeit im 17 Jahrhundert
O
hne daß die älteren Passionstypen aus dem liturgischen Repertoire ganz verschwunden wären, erscheint im Laufe des 17 Jahrhunderts eine neue, im Gefolge des um 1600 in Italien erfolgten Stilwandels stehende Art der Passionsvertonung. Es ist dies die oratorische, auch als konzertant zu bezeichnende Passion, in welcher die an den Choralton anknüpfenden einstimmigen Partien ersetzt sind durch neukomponierte, sich an die alten Rezitationstöne nur noch lose anschließende oder durch völlig frei konzipierte Rezitative, die sich an den Vorbildem von Oper, Oratorium und Kantate orientieren. Immer mehr löst sich damit auch musikalisch die evangelisch-lutherische Passion von der katholischen. Während diese mit wenigen Ausnahmen als responsoriale Passion weiterbesteht, öffnet sich jene den neuen Stileinflüssen und tritt damit in eine überaus kreative Phase, die sozusagen ungebrochen bis zu den Passionen Johann Sebastian Bachs führt. Abgesehen von der Neugestaltung des Generalbaß-begleiteten Rezitativs und dem Einbezug obligater, oft konzertanter Instrumente sind es im wesentlichen drei weitere Elemente, welche die Entwicklung des oratorischen Passionstyps bestimmen: - Einfügung von evangelischen Gemeindeliedern: Über schon früher bestehende liturgische Gemeindepraktiken hinaus werden Choräle nun mehr und mehr vom Komponisten selbst an bestimmten Stellen vorgeschrieben und formal ins Gesamtwerk integriert. - Zentrales neues Element ist die Einfügung von nicht dem biblischen Passionsbericht zugehörigen Texten, die als Ariosi und Arien vertont sind. - Ausbau von Exordium und Conclusio zu kleineren oder größeren Rahmenchören. Theologie- und frömmigkeitsgeschichtlich sind die genannten Veränderungen des Stils und der Struktur von Passionen vor dem Hintergrund einer Wandlung der lutherischen Strenggläubigkeit (Orthodoxie) zu sehen. Diese Entwicklung hängt, zumindest indirekt, mit dem Aufkommen des Pietismus und später, im 18. Jahrhundert, schließlich sogar mit der Aufklärung zusammen, für die der Pietismus mit seinen betont individualisierenden Zügen als Wegbereiter gewirkt hat. Aber auch die histo-
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risch-politische Situation ist hier zu bedenken: War doch die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts in Deutschland vom Dreißigjährigen Krieg tief überschattet, dessen Leiden und Nöte auch auf das geistliche Leben der Bevölkerung nicht ohne Rückwirkung bleiben konnten. Vorsichtig ausgedrückt läßt sich vielleicht sagen, daß durch die leidvollen kriegerischen Ereignisse und Erfahrungen eine Bereitschaft für neue und persönlich erlebte Frömmigkeit geschaffen worden ist, die dann schließlich in den pietistischen Organisationen, den um I 670 gegründeten Collegia pietatis des Philipp Jakob Spener, theologisch fester umrissene Gestalt gewannen. Im Pietismus erscheint ein neuer und zugleich uralter Frömmigkeitstyp, der, in teilweisem Gegensatz zur lutherischen Orthodoxie, verinnerlichte und persönliche Erfahrungen vermittelt. Vorbereitet scheint er schon in Predigten und im Erbauungslied des vorangehenden 16. Jahrhunderts auf Der Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts versteht sich als eine Art von Lebens- und Liebesgemeinschaft gläubig frommer Christen. Eine zentrale Rolle spielt hierbei die geistliche Bekehrung als Folge einer persönlichen Erfahrung der Liebe Gottes. Auf diese Weise ist der Pietismus auch durch eine Aktivierung des Laien und durch individuelle, nicht notwendigerweise an Vertreter der offiziellen Kirche gebundene Seelsorge gekennzeichnet. Die Pflege der frommen Einzelseele wird in Anlehnung sowohl an mystisches wie auch an puritanisches Gedankengut zu einer Aufgabe jedes Einzelnen. Damit verlieren nun aber zugleich der liturgisch traditionelle Gottesdienst und mit ihm auch die dort gepflegten kunstmusikalischen Formen an Bedeutung, wird doch der Beschäftigung mit dem eigenen lnnern immer größeres Gewicht zugemessen. Es ist wohl kein Zufall, wenn nun neben die reformatorischen »WirLieder« ("Wir glauben all an einen Gott«, »Wir danken dir, Herr Jesu Christ«) immer häufiger »Ich-Lieder« (»Ich singe dir mit Herz und Mund«, »Wenn mich die Sünden kränken«) treten. Pointiert könnte man sagen, daß »mein Heiland« gegenüber »unserem Heiland« im 17./18. Jahrhundert immer mehr an Bedeutung gewinnt: »Aus Liebe will mein Heiland sterben«. So wird auch verständlich, weshalb man zwar von pietistischen Einflüssen, nicht aber von pietistischen Passionskompositionen im Sinne von Liturgie sprechen kann. Viele der bis zu Johann Sebastian Bach erschienenen Passionstexte sind zwar von einer affekthaft persönlichen Frömmigkeit bestimmt, in ihrem Gesamtzusammenhang aber noch durchaus im Rahmen des orthodox lutherischen Gottesdienstes zu sehen. Im Gegensatz dazu sind zumindest größere Passionsaufführungen innerhalb der nicht eben kunstfreundlichen pietistischen Versammlungen nicht denkbar. Was hier zum Phänomen des Pietismus gesagt worden ist, muß als sehr vereinfachte Darstellung überaus vielschichtiger Sachverhalte verstanden werden. Insbesondere ist zu beachten, daß das Verhältnis Pietismus-lutherische Orthodoxie in den verschiedenen Teilen Deutschlands ein je eigenes gewesen ist. So wandten sich z.B. in Württemberg vor allem bürgerliche und bäuerliche Kreise dem Pietismus zu, während in Norddeutschland die pietistische Frömmigkeit vorwiegend im adeligen und gebildeten Milieu zuhause war. Dies erklärt vielleicht auch, weshalb die neuen, künstlerisch ausgearbeiteten Passionstypen oratorischer Richtung insbesondere in norddeutschen Landen zu finden sind. An einigen ausgewählten, in chronologischer Ordnung zu besprechenden Bei-
spielen soll im folgenden gezeigt werden, wie sich, zunächst noch durchaus im kirchlich-liturgischen Rahmen, die Gattung Passion auf dem Hintergrund der skizzierten geistes- und frömmigkeitsgeschichtlichen Entwicklung allmählich gewandelt hat. Als erstes Beispiel eines zum Oratorischen neigenden, fünfundzwanzig Jahre vor Schütz komponierten Werkes ist die 1641 wohl noch im Schleswig-Holsteinischen entstandene und 1643 in Hamburg erweiterte und überarbeitete Johannespassion von Thomas Seile etwas ausführlicher zu beschreiben. Thomas Seile, wahrscheinlich Schüler des Thomaskantors Seth Calvisius, war seit Herbst 1641 Kirchenmusikdirektor in Hamburg. Wie Rudolf Gerber im Vorwort zu seiner Erstausgabe von Seiles Passion in der Fassung von 1643 feststellt, spiegelt sich in diesem Werk etwas von der Spannung "zwischen orthodox-kirchlicher Gebundenheit und frühpietistischer Gefühlsbetontheit innerhalb der evangelisch-lutherischen Glaubensgemeinschaft«. Während sich in Mitteldeutschland noch lange der Waltersche Passionstypus, der ja auch in Dresden bei Schütz nachwirkt, gehalten hat, wurde Seiles neuer Wirkungsort Hamburg zum Ausgangspunkt des neuen Passionsstils. Damit erklärt sich, weshalb der Schnittpunkt zwischen alt und neu ziemlich genau zwischen den beiden Fassungen von Seiles Johannespassion liegt. Zum stark verkürzten Bibeltext nach Johannes treten in der jüngeren Fassung drei als Intermedien bezeichnete große Stücke, deren Texte nicht dem Passionsbericht, wohl aber der biblischen Passionsthematik entnommen sind. Ebenfalls nur in der jüngeren Fassung ist die vokale Besetzung durch konzertante Instrumente (Violinen, Flöten, Cornetti, Posaunen, Gamben, Fagotte) erweitert. Im Vorwort jedoch schreibt Seile, das Werk könne durchaus auch ohne Intermedien, d.h. auf den biblischen Passionstext reduziert, und auch ohne konzertante Instrumente, d.h. als responsoriale Passion traditionell liturgischer Art aufgeführt werden. Seiles Passion besteht aus drei Teilen, die zwar nicht wörtlich, wohl aber inhaltlich Longuevals Dreiteiligkeit entsprechen: I. Teil: Sechsstimmiges Exordium ("Höret das Leiden L .. l aus dem Evangelisten Johannes«), im Wechselspiel vorgetragen von vokalen Solostimmen und instrumental verstärktem Chor; Rezitative und Turbae tragen die Erzählung von der Gefangennahme lesu bis zur Gerichtsszene vor dem Hohenpriester vor; als Abschluß folgt das erste doppe1chörige Intermedium für drei Solostimmen mit konzertanter Violine, fünfstimmigem Chor mit Instrumenten (Violinen, Fagotte) und Generalbaß. Der Text ist dem Propheten Jesaja, Kap. S3, Verse 4 und 5 entnommen: "Fürwahr, er trug unsere Krankheit«. Es ist dies derselbe Text, den zwölf Jahre früher auch Demantius in einer auf die Passion folgenden Motette, d.h. hier noch außerhalb der Passion selbst, vertont hatte. 2. Teil: Dieser umfaßt die Gerichtsszenen am Hofe des Pilatus, gefolgt vom zweiten Intermedium, einer Vertonung der Verse 1-25 des klassischen Passionspsalmes 22 (»Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen«). Schon Joachim a Burck hatte diesen Psalm in Musik gesetzt und mit Passio überschrieben. Der 3. Teil schließlich umfaßt die Kreuzigung in der Version des lohannes. Im Anschluß an die knappe Conclusio, "Wir glauben, lieber Herr, mehre unsern
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Glauben. Amen« folgt als Schlußchor eine Choralmotette über »0 Lamm Gottes unschuldig«; auch hier wieder mit Bezug auf ein älteres Werk, auf Scandellos Passion, in die, zumindest in einer der Quellen, dieser Choral als Gemeindelied eingeschoben ist. Was bei Scandello und anderen Komponisten des 16. und 17. Jahrhunderts noch variable gottesdienstliche Zutat war, erscheint bei Seile nun als obligater Bestandteil des Werkes. Wie schon in der Tenorstimme des doppelchörigen Exordiums sind bei Seile die vom Generalbaß gestützten Rezitative noch an den liturgischen Passionston gebunden: c' für den Evangelisten, f für die Jesusworte und f' für die Soliloquenten: Beispiel 33a Fagott!
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und in die übrigen drei tieferen Stimmen, welche den Choraltext in überaus kunstvoller Weise mittels bestimmter musikalischer Figuren interpretieren; so wird
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in der ersten Zeile das Wort »bewein« im Baß wiederholt und durch Klagemotive und Pausen verdeutlicht: Beispiel 48b
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be - wein,
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In der dritten Zeile erscheint im Baß zu den Worten »und kam auf Erden« eine über eine Dezime sich erstreckende, das Absteigen auf Erden zum Ausdruck bringende, von oben nach unten führende Skalenfigur: Beispiel 49a
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Sehr bezeichnend ist, daß in der vierten Choralzeile, obgleich diese melodisch mit der ersten Zeile identisch ist, die Beweinungsmotive in den Unterstimmen fehlen, weil hier im Text nicht von Beweinen, sondern von Weihnachten die Rede ist: ,,von einer Jungfrau rein und zart«. Die zu Notenbeispiel 48b analoge Zeile heißt nun im Baß: Beispiel 49b
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Schließlich sei auf die letzte Choralzeile »wohl an dem Kreuze lange« hingewiesen. Im Gegensatz zu allen übrigen Versen setzt die Choralmelodie des Soprans erst drei Takte nach den Unterstimmen ein. Der musikalische Kommentarcharakter der tieferen Stimmen tritt damit besonders deutlich hervor: klagender Halbtonschritt verbunden mit einem expressiven suspirium, d.h. einer ausdrucksvollen Pause in Alt und Tenor sowie auffällige Oktavsprünge mit anschließend absteigender und dann unvermittelt um eine Septime hinaufspringender Melodielinie im Baß auf das Wort »lange«: Beispiel 50
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108
Das Intervall der Oktave weist auf die allumfassende Bedeutung des Kreuzes; die ab-, auf- und wieder absteigende Melodielinie des Basses in den Takten 2 und 3 ist als sogenannter Chiasmus, d.h. als ein die Kreuzform nachbildendes Zeichen zu verstehen.
Theologische Aspekte An diesem den ersten Teil der Matthäuspassion beschließenden Stück wird deutlich, wie Bach das traditionelle, im Choral zur Sprache kommende Gemeindebewußtsein mit figural bedeutenden und den Text predigthaft explizierenden Elementen verbindet. Hierbei sind die den Text interpretierenden Motive der Unterstimmen in zweifacher Richtung zu verstehen: einmal als Ausdruck einer im Luthertum begründeten und auch für Bach gültigen, ja zentralen Kreuzestheologie und andererseits als affektive Werte, die zumindest teilweise vom Gedankengut des Pietismus gespeist sein dürften. Ein weiteres Beispiel, das mit seinem als eine Art Meditation über Jesu Tod zu verstehenden Dialog zwischen Solostimme und Choral sowohl theologisch als auch musikiilisch als eines der zentralen Stücke in Bachs Johannespassion zu bezeichnen ist: die Baßarie »Mein teurer Heiland laß dich fragen«, die vom vierstimmigen Choral »Jesu, der du warest tot« kontrapunktiert wird. Ohne den Choral würde man von der Musik her an den eigenartig gelösten und säkularen Ton der oben in Beispiel 45 (S. 100) zitierten Gethsemane-Arie Telemanns erinnert; der 12/8-Takt des Adagios, als viermal drei Achtel gelesen, kann als eine Art von Menuett gedeutet und damit als Hinweis auf den Text des Auferstehungs-Chorals »Jesu, der du warest tot, lebest nun ohn' Ende« verstanden werden: Beispiel 51 :\
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WIe aber erklärt sich gegenüber dem milden Charakter dieses Chores der dramatische Ton der Johannespassion in den Gerichtsszenen? Die Ausführlichkeit der Erzählung vom Prozeß um Jesus hängt damit zusammen, daß der Evangelist den Gegensatz zweier Welten, einer dies- und einer jenseitigen, herausarbeiten möchte, dem Wort Jesu entsprechend: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt« (joh. 18,36). Rezitativisch vorgetragen bringt dieser Text Bachs Absicht deutlich zum Ausdruck:
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Beispiel 52 ,.;
Jesus: ... ..
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..
Mein Reich ist nicht von die-ser Welt, 11 OJ
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-,..,
... . a - ber
nun ist rri'ein Reich nicht von dan - nen.
11 OJ
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-Dreiklang und Oktave, Figuren der plenitudo, d.h. der Fülle, und zweimal melodischer Hochton e' auf dem Wort »Reich«. Zum Schluß dieser knappen Ausführungen zu Bachs Passionen folge nun noch ein Wort zur Charakterisierung der zwei vollständig erhaltenen Werke, wobei, neben den entstehungsgeschichtlichen und musikalischen Fragen, dem theologisch-frömmigkeitsgeschichtlichen Aspekt noch einmal Bedeutung zu schenken ist. Gerade hier aber ist Vorsicht geboten. Alfred Dürr formuliert dies so: »Eine Bibelkritik im heutigen Sinne war der Bachzeit fremd. Vielmehr pflegte man den Evangelistenbericht gleichsam synoptisch zu hören, also mit dem Bericht des johannes zugleich auch den der übrigen Evangelisten [den Synoptikern im engeren Sinne des Wortes] mitzudenken.« Und doch treten gerade in Bachs zwei Werken die Unterschiede zwischen johanneischer Erlösungstheologie und synoptischer, das Leiden betonender Theologie auch in den frei gedichteten Texten deutlich hervor. Anfangs- und Schlußchor lassen dies erkennen: In der Matthäuspassion beginnt das Werk mit einem großen zweichörig dialogisierenden Klagechor, zu welchem als dritte Schicht noch der das Leiden jesu thematisierende Choral ,,0 Lamm Gottes unschuldig« als cantus firmus des Soprans tritt. Die johannespassion dagegen beginnt, entsprechend ihrem auf das kommende Gottesreich ausgerichteten Text, mit einem auf Psalm 8 anspielenden, die Herrlichkeiten Gottes preisenden Chor (»Herr unser Herrscher, dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist«), der sich in reichen jubelfiguren ergeht:
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Beispiel 53
Herr
Herr
Herr
scher, un - ser
Herr
scher, un - ser
Analog verhalten sich die beiden Schlußchöre: »WIr setzen uns mit Tränen nieder" in der Matthäuspassion und "Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine« in der johannespassion, wo nun aber nicht die Tränen, sondern die "Gebeine, die ich nun weiter nicht [!] beweine" das letzte Wort haben. Obwohl beide Chöre in dorisch c-Moll und im 3/4-Takt stehen, ist ihr Charakter doch grundverschieden. Das auftakt/ose Stück der Matthäuspassion wirkt eher schwer und traurig, während der Chor der johannespassion mit seinem Auftakt und folgender Betonung der Takt-Eins locker und fast tänzerisch erscheint. Zudem, und dies ist entscheidend, folgt im Anschluß an den großen Chor der johannespassion noch der Es-Dur-Choral »Ach Herr, laß dein lieb Engelein«, der in seiner letzten Zeile »ich will dich preisen ewiglich« die alte reformatorische gratiarum actio (Danksagung) aufnimmt. Eigenartig an diesem Choralschluß ist der ausgesprochen weiche zwischendominantische Septakkord auf dem ich-Pronomen, der vielleicht als Chiffre für pietistisches Gedankengut zu verstehen ist. In diesem gebetsartig stillen Choral kommt der auch inhaltlich nach vom offene, auf Erlösung und Auferstehung ausgerichtete Charakter von Bachs johannespassion zum Ausdruck.
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Die Passionskomposition nach Bachs Tod und die Verabschiedung des Passionsgesangs aus dem protestantischen Gottesdienst
D
I 12
ie noch durchaus als liturgische Feier verstandene Leipziger Aufführung von Bachs Johannespassion am Karfreitag 1749 war nicht nur zu Lebzeiten des Komponisten, sondern auf achtzig Jahre hinaus überhaupt die letzte Aufführung einer Passion des großen Thomaskantors, bis dann, unter völlig anderen Bedingungen, am 11. März 1829 die allerdings stark gekürzte Matthäuspassion unter der Leitung Felix Mendelssohn Bartholdys in Berlin von neuem erklang. Schon 1766 hatten die Kirchenbehörden in Leipzig verfügt, daß der liturgische Vortrag einer Passion nur noch als Lesung zu erfolgen habe, während sich die Gemeinde mit dem Singen von Pass ions liedern am Gottesdienst beteiligen sollte. Wenn sich auch der musikalische Vortrag der Passionslektionen in anderen Städten - und nicht nur in Hamburg - noch einige Jahre länger hielt und deshalb Passionen von Kantoren wie z.B. dem Bach-Schüler Gottfried August Homilius in Dresden vertont wurden, so verschwand jedenfalls mit der Jahrhundertwende die Passion als musikalische Gattung mit ganz wenigen Ausnahmen aus dem protestantischen Gottesdienst. Anders im katholischen Raum, wo die über Jahrhunderte tradierte responsoriallateinische Passion ihren festen Platz in den Karwochenmessen ungebrochen bis zum zweiten Vatikanischen Konzil 0960-1965) behielt, wobei das kompositorische Interesse an den meist bescheidenen Turbasätzen nicht eben groß war. Zur weiteren Entwicklung der gottesdienstlichen Passion auf deutsch-evangelischem Gebiet hat sich der 1769 geborene Musikschriftsteller Johann Friedrich Rochlitz geäußert, der als Knabe noch unter Bachs zweitem Nachfolger als Thomaskantor, dem Komponisten einiger Passionsmusiken Johann Friedrich Doles, gesungen hatte. In seinem Aufsatz von 1832 über Sebastian Bachs große Passion nach dem Evangelisten Johannes schreibt er rückblickend auf die ?:eit nach Bachs Tod: "Vor den Ansichten, Raisonnements und Maximen« der damals führenden Ästhetiker »konnte ein mit Musik singender Evangelist, L.. l konnte die gesamte bisherige Fassung und Anordnung der musikalischen Passionsfeier keine Gnade finden. Die deutschen Direktoren (Doles auch) legten Bachs und ihre eigenen Oratorien ähnlicher Form leise bei Seite und griffen nach dem, was nun, jenen Ansichten, Raisonnements und Maximen Gemäßes neu aufkam L .. l Was dies Neue war? Ich brauche nur das in Dichtung und Musik ausgezeichnetste aller dieser Werke zu nennen L .. l nämlich Ramlers und Grauns Tod !esu.«
Mit diesen Worten umschreibt Rochlitz nicht nur den Übergang von der liturgischen Passion zur nicht mehr liturgischen Passionskantate und zum Passionsoratorium, d.h. zu Werken, die sich nicht mehr wörtlich des sakralen Bibeltextes, sondern dichterisch freier Bibelparaphrasen bedienten, sondern auch den grundlegenden Wechsel von einem älteren zu einem nun modern aufgeklärten Frömmigkeitstypus. Charakteristisch für die neuen Passionswerke sind Der Fremdling auf Golgotha von Johann Christoph Bach (1776), Christus am Ölberg von Ludwig van Beethoven (803) oder Louis Spohrs Des Heilands letzte Stunden 0834/35). Es ist der leidende Mensch Jesus, der im Sinne einer neuen liberalen Theologie im Mittelpunkt eines menschlichen Dramas steht und dessen Gesangspartie bezeichnenderweise nun nicht mehr von einer in der liturgischen Passion üblichen Baß-, sondern von einer Tenorstimme vorgetragen wird. Gleichzeitig mit solcher Distanzierung vom alten Passionsritual vollzog sich im protestantischen Raum ein Abbau von Kantoreifunktionen und die allmähliche Übernahme der Passionsmusiken durch neu gegründete bürgerliche Chorvereinigungen. Auch im katholischen Bereich lassen sich, hier freilich unter Beibehaltung der streng liturgischen Passionslesungen, Spuren einer für das 19. Jahrhundert bezeichnenden gefühlsbetonten Jesus-Frömmigkeit erkennen (s. Abb. XXV, S. 121).
Die Wiederentdeckung von Bachs Matthäuspassion Als entscheidendes Ereignis in der Geschichte der Passion und zugleich der Passionsrezeption durch ein teilweise neues Publikum hat die bis heute nachwirkende Wiederaufführung von Bachs Matthäuspassion durch Felix Mendelssohn Bartholdy zur Passionszeit 1829 zu gelten. Das Werk erklang in einem Wohltätigkeitskonzert im Rahmen von Karl Friedrich Zelters Berliner Sing-Akademie in stark verkürzter, ungefähr auf die Hälfte der Gesamtdauer reduzierter Gestalt: Sechs von fünfzehn Chorälen und sechzehn von dreiundzwanzig Solostücken wurden gestrichen. Die sich daraus ergebende Konzentration auf die rezitativischen und chorischen Bibeltexte führte zu einer gegenüber der Originalfassung wesentlich verstärkten Dramatisierung des Werkes. Das Publikum bestand aus der damaligen geistigen Elite Berlins; u.a. waren anwesend: der Theologe Friedrich Daniel Schleiermacher, der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel und der Dichter Heinrich Heine. Die Wirkung des Werkes war, wie Fanny Mendelssohn berichtet, gewaltig: Die Aufführung verwandelte den Saal »in den Anblick einer Kirchen L.. l Die tiefste Stille, die feierlichste Andacht herrschte in der Versammlung, man hörte nur einzelne Äußerungen des tief erregten Gefühls.« Entsprechend waren auch die Rezensionen: »Mit tiefem Sinne und ächt religiösen Gefühlen sind die Choräle L.. l in den Text des Evangeliums verwebt L .. l Unter den Soli's steht die einfach ausdrucksvolle Declamation der Recitation des erzählenden Evangelisten L . .l nächst der würdevollen Behandlung des sprechenden Erlösers oben an.«
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Dreieinhalb Jahre später folgte in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung die Rezension einer Aufführung derselben Matthäuspassion in Königsberg: »Die ausgesprochenen Urtheile über dieses Werk waren sehr verschieden. Manche Verehrer Seb. Bachs gaben selbst zu, daß er höher als Contrapunctist und Fugen-Componist, denn als Melodiker und Gesangs-Componist stehe. Die trockenen Worte des Evangelii in Music zu setzen, ist gewiß an sich schon eine schwere Aufgabe L . .1 Doch scheint Bachs Behandlung des Textes verfehlt, sie ist nicht episch, nicht dramatisch, sondern ein Gemisch von Beydem L .. I Daß sich das Volk mit Chorälen anschließt, nach Art der griechischen Chöre, ist schon recht. Die Recitative haben wenig Modulation und ermüden L .. I Manche, die nur in verba magistri schwärmen, wollten in ihrem Leben nichts Herrlicheres gehört haben. Andere wieder, und darunter - leicht erklärlich - viele Musiker von Profession [.. .1 nannten das ganze Werk veralteten Trödel, der in die Rumpelkammer gehöre [.. .1 Ein Theil der Zuhörer lief schon in der ersten Hälfte zur Kirche hinaus.« Aus diesen zum Teil extrem kontroversen Beurteilungen desselben Werkes, auf die Hans Besch schon vor vielen Jahren aufmerksam gemacht hat, wird deutlich, daß die Rezeptionsgeschichte einer Komposition, selbst wenn sie aus der Feder eines Komponisten vom Format eines Johann Sebastian Bach stammt, wesentlich vom religiösen Klima des Aufführungsortes und dem anwesenden Publikum mitbestimmt wird. Es ist durchaus denkbar, daß die in Berlin ausgelösten positiven Reaktionen auf Bachs Werk mit der damals in Berlin verbreiteten pietistischen Frömmigkeit, die kritischen Töne aus Königsberg hingegen mit der dort noch durchaus virulenten bibelkritischen Aufklärung zusammenhängen. Bezeichnend ist, daß beide Rezensionen, jede in ihrer Art, deutlichen Bezug auf die Textdeklamation, und das heißt hier offenbar primär auf die Rezitation der Bibeltexte nehmen. Mit der Loslösung der Bachschen Passion von ihrer ursprünglichen liturgischen Bestimmung und ihrer Überführung in den Konzertsaal oder in einen zum Konzertsaal höherer Weihe umfunktionierten Kirchenraum erfolgte bald auch die Entkonfessionalisierung dieser Musik. Von nun an war Bachs geistliche Musik Gemeingut beider Konfessionen, ja Gemeingut der Kultur auch im säkularen Sinne.
Vorsichtige Neuanfänge
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Auf dem Hintergrund eines neuen Interesses an älterer, geistlicher, durch ihr Alter gewissermaßen sakralisierter Musik ist auch die Rückbesinnung auf Passionen des 16. Jahrhunderts, im Katholizismus in Verbindung mit der restaurativen Bewegung des Caecilianismus, zu sehen: Kurz vor und nach 1850 wurden Ausgaben der Passionen von Tomis Luis de Victoria und Orlando di Lasso, aber auch vereinzelter Stücke aus dem evangelischen Bereich publiziert, mit dem Zweck, diese Werke auch liturgisch zu verwenden. Denn gegen den Einsatz Bachscher Passionen im Gottesdienst sprach nicht nur deren außergewöhnliche Länge, sondern auch die Diskrepanz zwischen dem damals praktizierten schlichten Gemeindegesang einer-
seits und der überaus anspruchsvollen Musik Bachs mit ihren oft schwer verständlichen barocken textlichen Formulierungen andererseits. Dabei ist nicht zu vergessen, daß es in der Regel dieselben Menschen waren, die Bachs Musik im Konzert und im Gottesdienst einfache Gemeindechoräle sangen. In diesem Dilemma erwies sich die Musik des kurz vor der Jahrhundertmitte für die Praxis neu entdeckten Heinrich Schütz als hilfreich. Verglichen mit den hochbarocken kunstvollen Werken des Thomaskantors waren die geistlichen Stücke und insbesondere gerade auch die Passionen von Schütz mit ihrer knappen, den Text unmittelbar verständlich machenden Deklamation für gottesdienstliche Zwecke geeigneter. Seit 1885 erschien die vom Bach-Biographen Philipp Spitta betreute erste große SchützAusgabe, und ein Jahr später publizierte Friedrich Spitta, der Bruder Philipps, im Anschluß an die erste Wiederaufführung der Matthäuspassion einen vielbeachteten Aufsatz über die Passionen von Schütz. Zum Kreis um die Brüder Spitta gehörte der trotz seiner katholischen Herkunft dem Protestantismus zugetane Komponist Heinrich von Herzogenberg, der 1896 ein gewichtiges Werk veröffentlichte, dessen biblische Texte vom Theologen Friedrich Spitta zusammengestellt worden waren: Die Passion, Kirchenoratorium jiir Gründonnerstag und Karfreitag. Ohne sich musikalisch einem älteren Stil anzuschließen, war es Herzogenbergs Anliegen, die konzerthafte Trennung von Ausführenden und Aufnehmenden im Gemeindegottesdienst wenigstens im Prinzip aufzuheben, indem alle Anwesenden sich zu einer »musikalischen Feierstunde« vereinigen sollten. Ganz neu waren solche Bestrebungen einer Reliturgisierung der gottesdienstlichen Musik nicht. Schon ein halbes Jahrhundert vor Herzogenberg hatte der bedeutende preußische Diplomat, Archäologe und Theologe Christian Carl Josias von Bunsen zusammen mit dem katholischen Musiker Sigismund Neukomm eine Karwochenliturgie unter dem Titel Die heilige Leidensgeschichte und die stille Woche geschaffen, in ähnlich ökumenischer Zusammenarbeit also wie Herzogenberg und Spitta, welche ihrerseits die Ideen einer 1885 erschienenen Denkschrift über die Einjiihrung von Oratorien mit Gemeindebeteiligung des Theologen und Gründers des evangelischen Diakonievereins, Friedrich Zimmer, übernommen hatten. In Herzogenbergs musikalisch vielgestaltiger, Solostimmen, Chor und instrumentale Abschnitte umfassender Passion ist die Gemeindebeteiligung bei sechs Chorälen vorgeschrieben, wobei jeweils die von einem auskomponierten Orgelsatz begleiteten, der Gemeinde vertrauten Melodien zu singen sind. Originell, in ihrer Wirkung jedoch nicht unbedingt überzeugend sind die Texte der Rezitative vertont: Im ersten, für den Gründonnerstag bestimmten Teil der Passion sind sie auf die Melodie des Abendmahlliedes »Schmücke dich, 0 liebe Seele«, im Karfreitagsteil auf den Passionschoral »0 Haupt voll Blut und Wunden« zu singen (s. Beispiel 54, S. 116). Zu diesem Verfahren schreibt der Komponist, seine Stellung zwischen Schütz und Bach bezeichnend: »Der Evangelist in meinem Werke ist nun ebenso weit davon entfernt, nur ein unbeteiligter Lektor zu sein, wie er es in den alten Mysterien bis in die Zeit von H. Schütz war - als andererseits durch überempfindsamen Vortrag der Erzählung dem lyrischen Erguß der darauf folgenden Einzel- und Chorgesänge das Beste oft schon vorwegzunehmen ~ wie dies in den Bachschen Passionen meiner Ansicht nach an vielen Stellen unleugbar geschieht.«
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Beispiel 54
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Mit dieser Kritik läßt sich Herzogenberg der im ausgehenden 19. Jahrhundert einsetzenden neuen liturgischen Bewegung zuordnen. Ganz wesentlich für die religionsgeschichtliche Stellung von Herzogenbergs Passion ist der von Friedrich Spitta zusammengestellte Text, der, außer einigen zur Abendmahlsthematik gehörenden Worten aus der dem Neuen Testament nahestehenden, aus dem zweiten Jahrhundert stammenden Lehre der zwölf Apostel, sich streng auf Bibelworte, nicht nur des Neuen, sondern auch des Alten Testaments, und auf Choräle beschränkt. Das Grundgerüst bildet hierbei das Johannesevangelium, das im Gegensatz zur im Vordergrund der barocken Passion stehenden Leidensthematik die Dankbarkeit für die Erlösertat Jesu in das Zentrum rückt. Dazu schreibt Spitta: »Der Ausdruck hiefür wird vornehmlich in der Darstellung der Leidensgeschichte bei Johannes gegeben, in der sich derjenige Jesus zeigt, der im Unterliegen siegt.« Wenn auch Herzogenbergs Passion, die in ihrer Klangwelt dem Stil von Brahms nicht allzu fern steht, kaum unmittelbar liturgische noch musikalische Folgen zeitigte, so wurde das Werk in Leipzig doch während rund zwanzig Jahren regelmäßig zur Aufführung gebracht. Daß gegen Ende des 19. Jahrhunderts hin Reliturgisierungstendenzen auch auf dem Gebiete des italienischen Passionsoratoriums begegnen, zeigt das zu seiner Zeit berühmte, 1897 komponierte Erstlingswerk des Lorenzo Perosi: Trilogia Sacra: La Passione di Cristo secondo S. Marco. Ähnlich wie Herzogenberg hatte sich auch Perosi mit italienischer Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts und sogar mit dem Schaffen von Heinrich Schütz befaßt, wobei sich in seinem instrumentalen Satz, merkwürdig konträr zum übrigen Konzept, auch Wagnersche Klangelemente bemerkbar machen. Um so mehr fällt deshalb auf, daß Perosis Markuspassion, neben kurzen Zitaten aus der katholischen Karwochenliturgie, ausschließlich den biblischen Passionstext nach Markus verwendet. Perosis mit »Storico« (Erzähler der Historial bezeichnete Evangelistenpartien bewegen sich stilistisch zwischen oratorischem und choralem Ton. Zwischen Passion, Passionsmotette und Passionsoratorium stehen die Vertonungen der Sieben letzten Worte Jesu am Kreuz, unter denen besonders Joseph Haydns 1785 in zwei Fassungen für Streichquartett und für Orchester und 1792/93 von Joseph Friebert für Chor und Orchester bearbeitetes Werk herausragt. Bemerkens-
wert ist, daß es sich hier um eine Auftragskomposition für einen Karfreitagsgottesdienst, also um liturgische Musik, für eine Kirche in Cadiz handelt. Fast hundert Jahre später, 1878179, schrieb Franz Liszt in Rom ein Stück für Chor, Solostimmen und Orgel oder Klavier mit dem Titel Via eruds, ein Zyklus, der in vierzehn Abschnitten die Kreuzwegstationen musikalisch zur Darstellung bringt und von Liszt als eine für die Frömmigkeit des älter gewordenen Komponisten bezeichnende Art von Prozessionsmusik gedacht war. Von diesem Werk her lassen sich Verbindungslinien nicht nur zu Haydns Komposition, sondern zurück bis zu den Monti sacri des 15. Jahrhunderts (s. oben S. 28) ziehen.
Die Passion im 20. Jahrhundert ..
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berblickt man die Vertonungen der Passionsberichte im 20. Jahrhundert, so fällt zunächst zweierlei auf: eine von den zwanziger und dann wieder von den späten vierziger Jahren an zu beobachtende Vermehrung von Passionskompositionen und eine Rückkehr von den poetisch-dramatischen Texten zum strengen Bibeltext. Es ist wohl nicht abwegig, diese beiden Tendenzen im Zusammenhang mit den politischen und kriegerischen Katastrophen zu sehen. Ähnlich wie schon zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges werden in den Bibeltexten und insbesondere auch in der Passionsgeschichte persönliche und kollektiv geistige Rückhalte gesucht, die in Deutschland in den damaligen liturgischen Bewegungen zum Ausdruck kamen. Im katholischen Raum bedeutet dies zunächst Weiterführung der Tradition, d.h. die Passionslektion im Messe-Gottesdienst lateinisch responsorial vorzutragen, dann aber, zum Teil schon kurz vor und mit dem zweiten Vatikanischen Konzil (1960-1965), zur Volkssprachlichkeit der Texte überzugehen. Frühe Beispiele im Rahmen der katholisch-deutschsprachigen Liturgie bilden die ausdrücklich für den Gottesdienst bestimmten mehrstimmig durchkomponierten a cappella-Passionen von Joseph Ahrens aus den Jahren 1950 und 1961 und vor allem dann die rasch Anerkennung findenden deutschsprachig responsorialen Passionen von Hermann Schroeder (1964 und 1965), von denen das Beispiel 55 (5. 1(8) einen Eindruck vermitteln soll. Zahlreiche andere Kirchenmusiker und Domkapellmeister folgten mit Passionen ähnlicher, zum Teil auch stärker modernisierender Stilrichtung. Mit dem Konzil wird auch eine Änderung der liturgischen Ordnung vollzogen: Beibehalten ist nur der Vortrag der Johannespassion am Karfreitag; die anderen drei Passionen erklingen seither in dreijährigem Turnus am Palmsonntag.
117
Beispiel 55
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Historisierende und individualisierende Tendenzen in kriegerischen Zeiten
I 18
Auf evangelisch-lutherischem Gebiet beginnt mit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg eine neue, überaus kreative Zeit für die Passionskomposition. Die schon auf das späte 19. Jahrhundert zurückgehende Schütz-Renaissance verband sich mit den liturgischen Interessen einer neuen, immer wieder mehr an Schütz als an Bach sich orientierenden Gemeinschaftsmusik und mit den Bestrebungen der Orgelbewegung der zwanziger Jahre. Als erstes Werk ist in diesem Rahmen die 1926 entstandene Passionsmusik nach dem Evangelisten Markus des damals als Theorielehrer am Leipziger Konservatorium wirkenden Kurt Thomas zu nennen. Wie schon sein Lehrer Amold Mendelssohn hat sich Thomas von der Spätromantik abgesetzt; sein Vorbild war, neben Schützens Werk, die Johannespassion von Leonhard Lechner (593). Der in fünf Abschnitte gegliederte Bibeltext ist den Kapiteln 14 und 15 des Markusevangeliums entnommen. Dazu treten Exordium und Conc1usio sowie zwei Choralstrophen aus Liedern des 16./17. Jahrhunderts: »Jesu, deine Passion will ich jetzt bedenken« und »Wir danken dir, Herr Jesu Christ«. Das Werk ist für gemischten a cappella-Doppelchor geschrieben. Sowohl die Texte des Evangelisten als auch diejenigen Jesu und der Soliloquenten sind wie in den Passionen des 16. Jahrhunderts mehrstimmig gesetzt. Sechs Jahre nach der Passion von Thomas, vom gleichen Frömmigkeitstypus geprägt, erschien die Choral-Passion op. 7 des Günter Ramin-Orgelschülers Hugo DistIer, komponiert 1932 für fünfstimmigen a cappella-Chor und zwei Vorsänger (Evangelist und Jesus). Der Text ist in der Art der Passionsharmonie allen vier
Evangelien entnommen; mitangeregt könnte das Werk von der damals unter dem Namen Obrecht veröffentlichten Longueval-Passion sein (s. oben S. 35ffJ. Wie DistIer allerdings im Nachwort schreibt, war für ihn »der packende Eindruck, den das erstmalige Miterleben der in Lübeck L .. 1 am Karfreitag [19321 zur Aufführung gelangenden Matthäuspassion von Heinrich Schütz bestimmend«. Musikalisch ist das in sieben Abschnitte aufgeteilte und von acht Choralstrophen des schon von Thomas verwendeten Liedes »Jesu, deine Passion« durchsetzte Werk mit seiner vorbachsehen Diatonik auch den Chören der damals restaurativen Laienbewegung durchaus zugänglich. Im Gegensatz zu Thomas sind, im Anklang an Schütz, die Reden der Einze\personen und des Evangelisten einstimmig vertont und daher auch Wort für Wort verständlich. Mehrstimmig sind, abgesehen von den Choralstrophen, nur die durch überaus plastische Deklamation und meist rasche Tempi gekennzeichneten Turbae (s. Beispiel 56, S. 120). Es fällt auf, mit welcher Ausführlichkeit und Intensität die im Jahre 1932 gewiß nicht nur biblisch, sondern, unmittelbar vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten, wohl auch politisch verstandene Turba »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder« gestaltet ist. .
Passionen nach 1945 Neben zahlreichen meist überaus schlichten, für den gottesdienstlichen Gebrauch komponierten Passionen der Nachkriegszeit folgt in der Linie Thomas-Distler als herausragende Komposition Ernst Peppings 1949/50 entstandene Matthäuspassion. Das bedeutende Werk ist als »Passionsbericht«, d.h. als Historia im alten biblisch-reformatorischen Sinn bezeichnet. Pepping galt zur Zeit der Entstehung seines repräsentativen Werkes als führender Vertreter der damaligen evangelischen Kirchenmusik in Deutschland. In ihrer Anlage ist diese Passion der Tradition verbunden, in Satz- und Klangstil übertriffi: sie die Werke ihrer Vorgänger ganz wesentlich an Komplexität. Insbesondere gegenüber DistIer wirkt Peppings Passion mit ihren klanglichen Raffinements, ihrer postwagnerschen Harmonik und expressiven Deklamation extravertierter und entfernt sich damit, zumindest vom Standpunkt eines strengen Liturgieverständnisses her gesehen, von gemeindegottesdienstlicher Funktion. Der Text folgt dem Matthäus-Bericht vom Verrat des Judas (Matth. 26, 14-16) bis zum Tode Jesu (Matth. 27, 50), ist aber durch zusätzliche, als Kommentare zu verstehende Worte des Alten und Neuen Testaments ergänzt. Dem Exordium »Höre die Passion« vorangestellt ist eine Motette über den schon in Passionen des 16. und 17. Jahrhunderts oft erscheinenden, gewissermaßen klassischen Text aus Jesaja 53 »Fürwahr, er trug unsere Krankheit«. Auch die Conc1usio ist in die Passionstradition eingebunden, indem sie auf die schon von Longueval verwendete Bitte »Herr Christe, erbarm dich unser« zurückgreift, diese aber nun, theologisch überzeugend, mit dem Text aus Johannes 1 »Im Anfang war das Wort« verbindet. Schließlich ist, wiederum nach altem Vorbild - man denke an die Passion von SeIle -, ein Intermedium zwischen die beiden Passionsteile einge-
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Beispiel 56
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Abb. XXVI Gemälde des äthiopischen Malers Gebre Kristos Desta (1963), im Privatbesitz des Künstlers
Abb. XXVII
SLrtll Station aus The Stations of the Cross IKreuzwegstationen) to Latin America (1982/ 83) von Charles Michael Tracy (USA)
Holzgestützte. mit Acryl und Ölfarbe bemalte Riesentafeln vom Format 2,5 x 1,4m
123
124
Abb. XXVIII
Kruzifix, Holzskulptur des Kenyaner Künstlers Samuel Wanjau (19771
fügt, das im Sinne eines Ruhepunktes Texte der nach österlichen )esus-Präsenz motettisch vertont: »Bleibe bei uns« (Luk. 24, 29) und »Ich bin bei euch« (Matth. 28,2m. Jeder Chor hat eine eigene Aufgabe: Der erste trägt votwiegend den biblischen Passionsbericht mit seinen direkten und indirekten Reden vor, während der zweite Chor, neben stellenweiser Beteiligung am Bericht, deutende und theologisch ergänzende Funktionen übernimmt. So ist in der Abendmahlsszene nach Matthäus 26 der in der protestantischen Abendmahlsfeier vetwendete Text »Unser Herr Jesus in der Nacht, da er verraten ward« (1. Korintherbrief 11, 23) eingefügt. Eindrucksvoll auch, wie im Abschnitt Golgatha der Passionsbericht von den mehrfach wiederholten Worten aus dem Credo »Crucifixus etiam pro nobis« kontrapunktiert ist: Beispiel 57 poco animato
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Neben den in der a cappella-Tradition stehenden Passionen gibt es eine andere Entwicklungslinie, die sich an Johann Sebastian Bach und an das Passionsoratorium des 19. Jahrhunderts anschließt. Hierzu gehört vor allem Golgatha, ein
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großes, 1945-1948 unmittelbar nach Kriegsende komponiertes Werk des Genfers Frank Martin für Soli, Chor und Orchester. Das Stück wurde, angeregt durch Rembrandts Radierung Die drei Kreuze (s. Abb. XXIX, S. 127), nicht als Kirchenmusik, wohl aber als »Vorstellung des Dramas der Passion« nach Texten aus den vier Evangelien verfaßt. Anstelle von Arien und Chorälen verwendet Martin Texte des Kirchenvaters Augustin, die als kontemplative Ruhepunkte erscheinen. Bezeichnend für die gläubig christozentrische Haltung des Komponisten ist, daß er sein Oratorium mit dem Auferstehungstext »Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg?« (I. Korintherbrief 15, 55) abschließt. Dreißig jahre vor Martin hatte schon einmal ein in Genf wirkender Musiker, der Graubündner Otto Barblan, eine oratorienhafte Passion geschrieben. Es besteht durchaus die Möglichkeit, daß Martin als junger Mann eine Aufführung dieses bis heute nicht veröffentlichten Werkes gehört haben könnte. In den Nachkriegsjahren sind weitere Passionen für größere vokal-instrumentale Besetzungen entstanden, so 1953 die johannespassion in Form eines sinfonischen Konzertes des Ostdeutschen Herbert Collum und eine für Chor und Orchester, aber ohne Solisten 1970/71 komponierte Markuspassion des Schweizers Adolf Brunner. Es ist wohl kaum ein Zufall, wenn sich unter den um und nach 1950 geschriebenen Passionen, so z.B. derjenigen von Hans Friedrich Micheelsen (1951) und Eberhard Wenzel (1967), auffallend viele Markuspassionen befinden; war doch nun auch in kirchenmusikalischen Kreisen die den Theologen längst bekannte Tatsache vertraut geworden, daß das Markusevangelium den ältesten Text vermittelt, auf den sich Matthäus und Lukas gestützt haben. Als eigenständiges kleineres Werk ist hier ferner die 1964 komponierte johannespassion von johannes Weyrauch zu nennen. Schließlich ist 1992 auch die alte Historia nochmals aufgetaucht, allerdings nicht als reine Passionshistorie, sondern als Histon"e vom Leben und Sterben unseres Herrn jesus Christus von Edison Denissow (+ 19961. Der in russischer Sprache verfaßte siebenteilige Zyklus enthält als letzte drei Stücke Der Garten Gethsemane, Golgotha und Auferstehung. Schon zehn jahre früher war im russischen, damals noch sowjetischen Bereich ein eindrucksvolles Passionsstück entstanden: Sieben Worte für Violoncello, Bajan (Akkordeon) und Streicher der in geistlicher Musik stark engagierten Sofia Gubaidulina, ein Werk, dem ein mottohaftes Zitat aus Heinrich Schütz' Die sieben Worte jesu Christi am Kreuz zugrunde liegt. Einen Sonderfall stellt die 1959 komponierte, betont katholische Passion nach Texten der heiligen Schrift und der Liturgie für Soli, Chor, Sprechchor und Orchester des Distler- und Blacher-Schülers Max Baumann dar. Die sechs Teile, Einzug, Abendmahl, Gethsemane, Pilatus, Golgatha und Agnus Dei stellen von den Texten aus gesehen eine Art Passionsharmonie dar, in welcher auch liturgische Stücke wie Antiphon, Hymne und, wie wenige Jahre später bei Penderecki, auch das Stabat mater mit einbezogen sind. Daß der Textverständlichkeit großes Gewicht beigemessen ist, zeigen die »immer leise und sanft, aber eindringlich« zu sprechenden /esusworte. Mit alledem und der Verwendung kirchentonartlicher Wendungen wird hier eine Art von Reliturgisierung der Passion vollzogen.
Abb. XXIX Rembrandt, Die drei Kreuze Radierung, welche Frank Martin zu seinem Passionsoratorium Colgotha angeregt hat.
Engagiertes Komponieren Einen anderen Typus als die genannten Werke stellen die Passio secundum Lucam des polnischen Komponisten Krzysztof Penderecki und die Jesuspassion des Deutschen Oskar Gottlieb Blarr dar. Bei beiden Stücken handelt es sich um umfangreiche vokal-instrumentale Werke, für welche die Frage nach Frömmigkeit im alten Sinne des Wortes kaum noch relevant ist. Vielmehr sind es von persönlichem Engagement getragene theologische und vor allem nun auch politische Probleme, die in diesen Werken ihren Niederschlag finden. Pendereckis 1963/1965 geschaffene Passion ist trotz ihres lateinischen Textes kein liturgisches, wohl aber ein ausgesprochen geistliches Werk, in welchem die schrecklichen Erfahrungen Polens während der vierziger Jahre zum Ausdruck kommen: Das Leiden Jesu erscheint vor dem Hintergrund des Holocaust und der Gräber von Katyn; das »miserere mei« ist das Leitmotiv dieses Werkes. Die Texte sind nicht nur den Passionskapiteln 22 und 23 des Lukasevangeliums und einzel-
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»Auf dich, Herr, hoffe ich: Herr, wahrer Gott In deine Hände befehle ich meinen Geist.«
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nen Versen anderer Evangelienberichte, sondern, ähnlich wie bei Baumann, auch der römisch-katholischen Liturgie entnommen. Wesentlich ist hierbei, daß die Vielfalt der gesungenen und z.T. auch rezitierten Texte mit ihren verschiedenen Kompositionsweisen zu einern Ganzen von großer Ausdruckskraft zusammengefaßt ist. Das kurz vor Schluß zwischen Jesu Anrede am Kreuz an die Mutter und dem Bericht von der plötzlichen Finsternis und vorn Erdbeben eingeschobene Stabat mater, das zuerst komponierte Stück des Werkes, beansprucht mit seinem Marien-Passionstext ein besonderes Gewicht. Musikalisch beruft sich Pendereckis Passion, trotz ihrer damals jedenfalls in Polen als avantgardistisch geltenden Zwölftonreihen, Geräuscheffekte und Klangclustern, auch auf ältere Form- und Kompositionspraktiken wie Aria und Passacaglia sowie auf chorale Elemente und, als Hommage an Bach, auf das BACHMotiv. Überraschend wirkt in diesem modernen Werk der E-Dur-Schluß (s. Beispiel 58, S. 128fJ Eindrucksvoll und von oft realistischer Wirkung sind die reiche, von Bläsern und Schlagzeug dominierte Instrumentation und die drei auch als Sprechchöre eingesetzten Vokalgruppen (Beispiel 59, S. 13]). Während Penderecki mit seiner berühmt gewordenen Passion den Typus eines im römisch-katholischen Polen der frühen sechziger Jahre verwurzelten Werkes repräsentiert, geht zwanzig Jahre später der Penderecki-Schüler evangelischer Konfession, Oskar Gottlieb Blarr, mit seiner jesus-Passion theologisch und religionspolitisch ganz andere Wege. Ausgangspunkt für dieses Werk war, wie der Komponist schreibt, die ihn erschreckende Feststellung, daß »die unglaublich schöne und große Komposition J. S. Bachs über den Matthäustext - ohne es zu wollen - auch Antijudaismus in die Seelen der Hörer transportiert«. B1arr begab sich 1981/82 für längere Zeit nach Israel, wo er sich mit der Juden-Christen-Moslem-Problematik konfrontiert sah. Dort erlebte er »die Jesus-Geschichte als gerade erst geschehene«. So entstanden in den frühen achtziger Jahren die Oratorischen Szenen in drei Teilen unter dem Titel jesus-Passion: Einzug in jerusalem, jesus in Gethsemane, Kreuzigung. Die Texte sind vorwiegend dem Alten, aber selbstverständlich auch dem Neuen Testament (unter Ausschluß der die den Tod Jesu fordernden Juden belastenden Gerichtsszenen), aber auch dem Talmud und moderner jüdischer und christlichpietistischer Lyrik entnommen. Analog dazu beschränkt sich die Musik nicht auf westeuropäisches Musikgut, sondern verarbeitet auch jüdisches und moslemisches Material. Das für Soli, gemischten Chor, Kinderchor und großes Orchester komponierte, vielschichtige Werk läßt in seiner Klanglichkeit Beziehungen zu Pendereckis Passion erkennen.
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Von stammelnder und verstummender Frömmigkeit
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Die letzten beiden zu besprechenden Werke, Gerd Zachers Passionsmusik nach Lukas: 700 000 Tage später von 1968 und Arvo Pärts Passio Domini nostri Jesu Christi secundum Joannem von 1982 (revidiert 1985), stellen grundsätzliche Fragen: Ist es heute überhaupt noch möglich, Passionen zu komponieren? Kann die biblische Leidensgeschichte jesu noch Stoff für musikalische Formulierungen sein? Mauricio Kagel hat im Bach-jahr 1985 seine persönliche Konsequenz aus dieser Frage in kritischer Weise gezogen, indem er in Ansehung der ungeheuren Verehrung, welche Bachs Passionen im Konzertleben genießen, eine Sanct Bach-Passion komponierte, in welcher der Evangelientext durch den von Lorenz Mizler 1754 veröffentlichten Bach-Nekrolog von Carl Philipp Emanuel Bach und Friedrich Agricola ersetzt ist. Auch der Film hat sich mit der Passion beschäftigt. So das Rockmusical Jesus Christ Superstar, ein Streifen, dem es, bei allen eindrücklichen Partien, gerade in den Passionsszenen jedoch nicht gelungen ist, Trivialitäten und Sentimentalitäten zu vermeiden. Erweckt heute nicht überhaupt jede kunstvolle Passionsverarbeitung, bei aller Glaubwürdigkeit der Gesinnung des Regisseurs oder Komponisten, den leisen Verdacht einer ästhetischen Verbrämung des biblischen Passionsgeschehens, wobei dann Luthers Satz als Warnung auftauchen mag, die Passion >>Dit mit worten und scheyn, sondern mit dem leben wahrhafftig zu handeln«? Auf diese Problematik machten zwei im Bach-jahr 1985 ausgestrahlte Filme des deutsch-schweizerischen Fernsehens aufmerksam: ein Passionsgottesdienst im Münster Allerheiligen zu Schaffhausen, in welchem die stark verkürzte johannespassion von Bach mit anstelle der Arien eingeschobenen Textlesungen der kritischen Theologin Dorothee Sölle aufgeführt wurde, und ebenfalls eine johannespassion in der Regie von Werner Düggelin, die, weit entfernt von anderen jesusund Bibelfilmen, in die Slums von Neapel führt, wo Kinder die Passionsgeschichte darstellen, um damit zum Ausdruck zu bringen, »daß jesus gestorben ist, um Zeugnis davon abzulegen, daß in dieser Welt nicht alles in Ordnung sei«; so die Worte des inzwischen zum Verstummen gebrachten Brasilianers Leonardo Boff, dem populären Vertreter der für das soziale Engagement der Christen in Lateinamerika eintretenden Befreiungstheologie. . . In den oben genannten Passionen verstummt, was früher frommer Kult war, es schweigt oder es schreit. Auch in der bildenden Kunst der Gegenwart gibt es schreiende und schweigende Passionsdarstellungen: der rote jesus am Kreuz auf dem Bilde Golgatha (963) des äthiopischen Künstlers Gebre Kristos Desta (s. Abb. XXVI, S. 122) und die riesigen textlosen Tafeln des vierzehnteiligen, nach Lateinamerika weisenden Kreuzweges des Amerikaners Charles Michael Tracy (1982/83; s. Abb. XXVII, S. 123). Die chronologische Übereinstimmung dieser Werke mit den Passionen von Zacher und Pärt ist auffallend und kann als bildlicher Ausdruck dafür verstanden werden, was die zum Schluß zu besprechenden zwei Passionen in Musik aussagen wollen.
Zachers Passionsmusik wurde als gottesdienstliche Veranstaltung im März 1969 in der Lutherkirche zu HamburglWellingsbüttel uraufgeführt (s. Beispiele 60 und 61, S. 134 und 135). Der Titel 700000 Tage später zielt auf Vergegenwärtigung des Passionsgeschehens im Zeitablauf. Dazu schreibt der Komponist in der im Programmheft veröffentlichten Einführung: "Zunächst liegt der Text in der überlieferten Weise dem Ablauf der ganzen Komposition zugrunde, er taucht aber nur gelegentlich an die Oberfläche der ausgesprochenen Verständlichkeit. Der Ablauf des Textes bildet sozusagen den Weg, den die Musik nimmt. Auf diesem Weg werden einzelne Stationen plötzlich deutlich bewußt L . .l Eine weitere Behandlungsart des Textes ergibt sich aus der Fähigkeit der Musik, zeitlich Auseinanderliegendes einander näher zu bringen L . .l In der Passion, die wir heute singen, findet man den Verrat gleichzeitig mit dem Treuebekenntnis, die Verspottung gleichzeitig mit dem Lobgesang, den Barrabasschrei gleichzeitig mit dem Bachchoral, alles, was man vor 700 000 Tagen vielleicht ähnlich hätte hören können, gleichzeitig mit dem, was wir heute äußern.« Aus diesem Konzept ergibt sich zwangsläufig eine "Musik für Chor«, die sich, nicht ungewohnt für die Avantgarde der späten sechziger Jahre - man denke etwa an die Werke des Theologen-Komponisten Dieter Schnebel -, von allem unterscheidet, was bisher an Passionsvertonungen bekannt war. Zacher formuliert es so: "Wer es heute, 700 000 Tage später, unternimmt, eine Passionsmusik zu verfassen, der wird zunächst einmal völlig verstummen. Wenn er dann die Sprache wiederfindet, wird es eine andere Sprache sein als er bisher kannte. Er wird sie noch nicht sprechen oder singen können, sondern vorerst nur stammeln.« Schon die Notation ist ungewohnt: meist verbal den musikalischen Vollzug nur andeutend und dem Interpreten sehr viele Freiheiten lassend. Statt einer Partitur existieren nur Stimmhefte, "die bloß zur Hälfte vom Komponisten ausgearbeitet sind, zur andern lediglich Anweisungen enthalten, wie der einzelne seine Partie klanglich auszuarbeiten und zu realisieren hat« (s. Beispiel 61, S. 135). Damit besteht eine gewisse Analogie zu Chafles Michael Tracys Kreuzwegtafeln (s. Abb. XXVII, S. 123). Ein Live-Mitschnitt vom 26. Juni 1971 aus Hannover (Hoppe+Weng Verlagsgesellschaft) vermittelt einen Eindruck dieser bei jeder Aufführung variablen Passion, bei der neben zwei im Hintergrund erklingenden Choralstücken (Bachs "Wenn ich einmal soll scheiden« und das Spiritual "Were you there, when they crucified hirn?«) gesprochen, geflüstert, geschrien, gelacht, aber auch geschwiegen wird. Zachers Passion ist, bei allen den Interpreten zugestandenen Freiheiten, ein nicht nur formal, sondern auch theologisch streng durchdachtes Werk. Dies wird u.a. im letzten Abschnitt deutlich, wo die seit der Mitte des 5. Jahrhunderts (Konzil zu Chalcedon) zum Dogma erhobene und bis heute von der Kirche gelehrte Doppelnatur Christi (,>vere deus, vere homo« - »wahrer Gott, wahrer Mensch«) zu verbalbildhaftem Ausdruck gebracht ist: das durch Stammeln und Gebärdensprache Gehörloser angedeutete Bekenntnis des römischen Hauptmanns zur Gottessohnschaft Christi als Hinweis auf die Unverfügbarkeit Gottes und die Hervorhebung des Wortes LEIB im Text von der Grablegung (Luk. 23, 52) als Chiffre für die menschliche Natur Jesu.
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Beispiel 60
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Beispiel 61
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.e-.lS""'- .....,1 ~~ I ~ A ~.....J.,J.. ßt.. ~1M.Qui passus est pro nobis, miserere nobis. Amen«) folgt der Text Wort für Wort der lateinischen Bibelübersetzung (Vulgata). Welche Bedeutung Pärt der Textautorität zuweist, geht daraus hervor, daß die einzelnen Versnummern der Kapitel 18 und 19 des Johannesevangeliums jeweils sorgfaltig, Nummer für Nummer, in die Partitur eingetragen sind. Eine zentrale Rolle spielt auch die objektivierend distanzierte Textdeklamation. Diese erfolgt durchwegs syllabisch. Die Evangelistenpartien erklingen, von gewissen textbedingten Ausnahmen abgesehen, in regelmäßigen Viertelnoten, wobei die ersten und letzten Silben von Sätzen und Satzteilen zu längeren Noten gedehnt sind. Jedes Wort ist vom folgenden durch einen Divisionsstrich getrennt, wobei die Zahl der metrischen Einheiten pro »Takt« im Notentext vermerkt ist; Interpunktionen sind durch Pausen wiedergegeben: Beispiel 63
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