Scan by Schlaflos
Buch: Unaufhaltsam rückt das Ende der fünfundzwanzig Äonen näher: jener Augenblick, da die vier Älte...
22 downloads
588 Views
757KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Scan by Schlaflos
Buch: Unaufhaltsam rückt das Ende der fünfundzwanzig Äonen näher: jener Augenblick, da die vier Älteren Götter ihren Nachfolgern, den Jüngeren Göttern, weichen und sich dem ewigen Schlaf hingeben müssen. Und genau diesen Zeitpunkt hat sich das grausame Vlagh ausgesucht, um zu seinem bisher gefährlichsten Schlag auszuholen und der vereinten Macht der Älteren und Jüngeren Götter die Stirn zu bieten. Verborgen im Ödland, brütet es seine bislang größte und tödlichste Insektenhorde aus, die das Land Dhrall überrennen und die gesamte Menschheit verschlingen soll. Doch als sogar noch gefährlicher könnte sich eine ganz andere Entwicklung erweisen, die niemand voraussehen konnte: Denn Aracia, eine der Älteren Göttinnen, hat so viel Gefallen an ihrem jetzigen Dasein gefunden, dass sie ihrer Nachfolgerin um keinen Preis weichen will - und so plant sie das Undenkbare: den schlimmsten Verrat, den man sich vorstellen kann ... Autoren: David Eddings, geboren 1931 in Spokane, Washington, wurde 1982 mit seinem ersten Fantasy-Epos, der »Belgariade«, bekannt. Seither hat er teils alleine, teils in Zusammenarbeit mit seiner Frau Leigh von der Kritik viel beachtete Werke in der Tradition Tolkiens verfasst, die ihm eine ständig wachsende, begeisterte Leserschaft eingetragen haben. David und Leigh Eddings leben in Carson City/Nevada. Außerdem bei Blanvalet erschienen: GÖTTERKINDER: I. Das wilde Land (24279), 2. Dämonenbrut (24280), 3. Im Flammenmeer (24281), 4. Der Verrat (24282)
David & Leigh Eddings
Der Verrat Götterkinder 4 Deutsch von Andreas Heiweg
Vorwort Jene von uns, die wir unser Leben der Sorge um die Mutter widmen, waren überaus bekümmert wegen ihres Zorns nach dem Desaster mit dem »blauen Feuer«, welches so viele ihrer Kriegerkinder verschlungen hatte. Den Kriegerkindern obliegt die Pflicht zu sterben, wenn es den Zielen der Mutter dient, doch Tod in diesen Ausmaßen dezimiert unsere Anzahl und schwächt den Überverstand, der uns alle führt. Und wahrlich, die Schwächung des Überverstands setzt uns allen zu, die wir doch nur leben, um unserer geliebten Mutter zu dienen. Von jenen, die uns vorausgingen, wurde überliefert, dass Mutter in ihrem Nest, in dem wir alle Schutz finden, zufrieden war, bis sich vor gar nicht allzu langer Zeit - das Wetter wandelte und es mit jedem Jahr weniger zu essen gab als im Jahr zuvor. Damals geschah es, dass Mutter jene Diener aussandte, die wir die »Sucher des Wissens« nennen, und als sie schließlich zurückkehrten, berichteten sie Mutter von dem Land hinter den hohen Bergen, in dem man genug für alle zu essen finde. Das erfreute ihr Herz. So verfiel sie auf folgenden Gedanken: Wenn jene, die nach Dingen suchen, die wir essen können, hinter die hohen Berge zögen und viel zum Essen herbeischaffen würden, könnte sie mehr Nachkommen zur Welt bringen - und immer noch mehr. Und schließlich wäre unsere Zahl so groß, dass keine anderen Mütter es wagen würden, ihre Kinder in den Kampf um 7 das Essen zu schicken, weil wir deren Nachkommen vernichten würden, und bald säßen sie ganz allein in ihren Nestern und würden vor Verzweiflung schreien. Daher veränderte Mutter die Kinder, die in den Ländern jenseits der hohen Hügel nach Dingen zu essen suchen sollten. Viele, viele Veränderungen nahm sie vor, denn die Menschenwesen, die in den Ländern jenseits der hohen Berge lebten, waren sehr, sehr klug und benutzten Waffen, die nicht Teil ihres Körpers waren. Das erfüllte Mutter mit großer Sorge, denn es ist für jedes Geschöpf unnatürlich, Dinge als Waffen zu benutzen, die nicht zu seinem Körper gehören. Und Mutter stellte sich die Frage, ob ihre Kinder es nicht ebenso halten könnten wie die Menschenwesen. Also sandte sie weitere Sucher des Wissens aus, um Geschöpfe zu finden, die ungewöhnliche Körperteile hatten und dadurch Vorteile bei der Suche nach Essensdingen besaßen.
Nach einer Weile kehrten diese Sucher des Wissens zurück und brachten vieles, das Mutter vielleicht nützlich erscheinen könnte. Es gab Geschöpfe ohne Beine, aber mit langen scharfen Zähnen, und diese Geschöpfe ohne Beine konnten alles, was sie zu essen sahen, unverzüglich töten. Andere Geschöpfe mit acht Beinen anstelle von sechs konnten das Innere von Essensdingen in Flüssigkeit verwandeln, die sie dann genüsslich schlürften. Dann gab es Geschöpfe mit harten Panzern, die ihre Körper bedeckten und schützten, und wieder andere hatte scharfe Mäuler, mit denen sie Stücke aus dem Essensding reißen konnten. Je länger die liebe Mutter überlegte, desto mehr kam sie zu dem Schluss, dass die Zähne der Geschöpfe ohne Beine am wirkungsvollsten wären. Schließlich schickte Mutter eine Generation nach der anderen während langer Zeit zur Arbeit in die hohen Berge, die zwischen unserem Nest und dem Land des Sonnenuntergangs liegen. Dort gab es Höhlen, durch die Mutters Kinder sicher die Gipfel der 8 hohen Berge unterqueren konnten, und an den Hängen der hohen Berge waren viele flache Steine aufgestapelt, bei denen es sich wohl um leere Nester der Menschenwesen handelte, die sich vielleicht als nützlich erweisen würden, um sie zu überlisten. Nach einer Zeit war alles fertig, und Mutter wartete, bis die älteren Gottheiten noch älter und unaufmerksam wurden. Im Frühjahr des gegenwärtigen Jahres war alles bereit, und Mutter befahl den Kindern, die Menschenwesen anzugreifen, die sich in der Nähe des besonders hohen Berges versammelt hatten. Aber die Menschenwesen wussten nicht, dass die meisten Diener unserer lieben Mutter durch die Höhlen unter den hohen Bergen krabbelten und zwischen den verschiedenen Felsstapeln auf der Sonnenuntergangsseite herauskamen. Und Mutter war hocherfreut, denn der Sieg lag in greifbarer Nähe. Doch sollte es anders kommen, denn großes Unheil ereilte die Diener in den Höhlen. Zwei der hohen Berge begannen unvermittelt, flüssiges Feuer hoch in den Frühlingshimmel zu speien. Doch nicht das flüssige Feuer im Himmel bereitete der Mutter Kummer, sondern jenes, das in die Höhlen floss und die Diener verschwinden ließ, als hätte es sie niemals gegeben. Und als die Nachricht Mutter erreichte, stieß sie vor lauter Qualen einen schrillen Schrei aus, und alle, die lebten, um ihr zu dienen,
schrien desgleichen, war doch der Überverstand durch dieses Unglück geschwächt. Indes hatten die Sucher des Wissens über Generationen hin viel Zeit in den Ländern der Menschenwesen verbracht, und sie hatten gelernt, auf welche Weise die Menschenwesen Laute benutzten, um sich zu verständigen. Und viele der Sucher des Wissens hatten gelernt, wie man diese Laute erzeugte, welche die Menschenwesen »Sprache« nennen. Und als unsere geliebte Mutter beschloss, dass wir hinunter ins Land der längeren Sommer ge9 hen sollten, wo es so viel zu essen gab, stiegen die Sucher die Hänge der hohen Berge hinauf, um Wissen über die Menschenwesen jener Gegend zu sammeln. Und während die Sucher mit dieser Aufgabe beschäftigt waren, brachte die geliebte Mutter eine Vielzahl neuer Gestalten für die Kriegerkinder hervor. Diese neuen Formen sollten die Vorteile ausgleichen, welche die Menschengeschöpfe im Land des Sonnenuntergangs gehabt hatten. Und als die Sucher zurückkehrten, waren sie überaus unzufrieden, hatten ihnen die Menschenwesen doch vieles erzählt, das gar nicht der Wahrheit entsprach. In Wirklichkeit erschien es so, dass die Menschenwesen mehr Dinge gesagt hatten, die nicht der Wahrheit entsprachen, als solche, die wirklich wahr waren. Allerdings hatten die Sucher eine Sache gefunden, die sie als ausgesprochen wichtig erachteten. Obwohl in diesem Land der längeren Sommer derjenige, der herrschte, Veltan genannt wurde, hatte ein anderes Menschenwesen namens Omago viel, viel mehr Macht. Dieses Omago-Wesen hatte seine Macht jedoch noch nicht ganz erkannt und sie niemals eingesetzt. Zudem gab es ein anderes Menschenwesen namens Ära, das dieses Wissen mit dem Omago teilte, hingegen nie mit dem Omago über diese Macht sprach. Nachdem die nächste Brut von Kriegerdienern herangereift war, schickte die geliebte Mutter sie zum Land der längeren Sommer, und wir alle glaubten, unsere Kriegerdiener würden die Menschenwesen leicht überwinden, und das Land des längeren Sommer würde noch vor dem Wechsel der Jahreszeit uns gehören. Aber so geschah es nicht, denn viele andere Menschenwesen waren ins Land der längeren Sommer gekommen und hatten etliche Haufen flacher Steine aufgestapelt, um uns am Vormarsch zu hindern, obwohl wir dazu alles Recht besaßen. Und abermals benutzten die
verfluchten Menschenwesen Dinge als Waffen, die nicht Teile ihrer Körper waren. So begegneten uns, wie schon einmal, fliegende Stöcke, wenngleich keiner von uns zu verste10 hen vermochte, wie die Menschenwesen die Stöcke zum Fliegen brachten. Manche von uns waren der festen Überzeugung, dass diese fliegenden Stöcke lebten und von den Menschenwesen beherrscht wurden. Wenn ein Menschenwesen sagte: »Fliege«, so gehorchte der Stock. Wenn der Stock dann in der Luft war, sprach das Menschenwesen erneut und befahl: »Töte.« Und der Stock tötete. Wir suchten und suchten nach Stöcken, die unseren Befehlen gehorchen würden, fanden jedoch keine. Die Menschenwesen setzten noch andere Waffen ein. Der lange Stock flog zwar nicht, doch war er fast genauso grausam wie der fliegende. Die langen Stöcke hatten breite Spitzen, die eigentlich gar nicht so recht dazugehörten. Diese Spitzen waren sehr spitz, und allzu leicht durchbohrten sie die Leiber der Kriegerdiener. Es wurde uns klar, dass viele der Menschenwesen, denen wir begegneten, nicht mit den Menschenwesen verwandt waren, die im Land der Sonnenuntergangs und nun im Land der längeren Sommer lebten. Der Kampf am Hang dauerte lange an und barg Schwierigkeiten, und unsere geliebte Mutter schickte viele Diener mit neuer Gestalt in die Schlacht, doch konnten sie die Menschenwesen nicht besiegen, welche hinter ihren Steinstapeln Schutz suchten und sich nur zeigten, um unsere Angreifer zu töten. Uns, die wahren Diener unserer geliebten Mutter, erfüllte es mit großer Sorge, als sie darauf beharrte, dass wir sie aus dem Nest in das Gebiet bringen sollten, wo der Kampf stattfand. Ihre Sicherheit ist stets unsere oberste Pflicht, aber Mutter sah keinen Grund zur Beunruhigung. Gewiss, sie ist unsterblich, aber im Land der längeren Sommer wütete Krieg. Im Nest war es sicher, nicht jedoch auf dem Feld der Schlacht. Sie ist die Mutter, und uns blieb keine andere Wahl als zu gehorchen. II
Schließlich jedoch stürmte eine weitere Gruppe dieser Menschenwesen aus dem Land der längeren Sommer heran, und sie hatten offenbar ein anderes Ziel als den Sieg über die Kriegerdiener der Mutter. Von den Suchern gab es viele Berichte, dass diese Menschenwesen, die gegen Mutters Kriegerdiener gekämpft hatten,
zur Seite traten und die Neuankömmlinge einfach passieren ließen. Und die neue Gruppe preschte auf der anderen Seite den Hang hinauf und auf unserer wieder hinunter - fast so, als würden sie Mutters Kriegerdiener gar nicht bemerken. Zu unserem Leidwesen mussten wir erfahren, dass diese Menschenwesen ungemein klug sind, aber die Neuen schienen sich nur wenig oder gar keine Gedanken zu machen, als sie blindlings den Hang hinabstürmten auf etwas zu, das für uns unsichtbar blieb. Und Mutters Kriegerdiener in der veränderten Gestalt töteten diese geistlosen Menschenwesen zu Tausenden, doch die anderen geistlosen Menschenwesen schenkten dem Schicksal ihrer Gefährten keine Beachtung, sondern stürmten weiter den Hang hinauf auf etwas zu, das für uns unsichtbar blieb. Dann strömte plötzlich diese unfassbare Menge Wasser aus einem der Berge über uns, und Mutters Kriegerdiener und die geistlosen Menschenwesen wurden gleichermaßen von Wasser umschlossen und den Hang hinunter in die sichere Vernichtung gespült. Und die Mutter schrie in Qualen, während jene von uns, die nur leben, um ihr zu dienen, sie in die Sicherheit des Nestes zurücktrugen, denn nun hatten wir gelernt, dass Wasser ebenso tödlich sein kann wie Feuer. Und das Land der längeren Sommer blieb von nun an auf immerdar für uns unerreichbar. Groß war das Leid unserer geliebten Mutter, doch nach einer Weile überzeugten die Sucher des Wissens sie davon, dass hinter den hohen Bergen noch zwei Länder lagen, die uns nicht für jetzt 12 und immerdar versperrt blieben. Es gab das Land des Sonnenaufgangs und das Land der kürzeren Sommer. Streit brach zwischen jenen Kriegerdienern aus, die das Land der kürzeren Sommer bevorzugten, und denen, die das Land des Sonnenaufgangs bevorzugten, und dieser Streit wurde immer hitziger, bis jene, die die kürzeren Sommer bevorzugten, und jene, die für den Sonnenaufgang waren, einander zu töten begannen. Und schließlich wählte die geliebte Mutter, um weiteres Töten zu verhindern, die kürzeren Sommer, und nachdem sie entschieden hatte, nahm das Töten ein Ende. Die Sucher waren sehr an einem niedrigen Baum interessiert, der flackerte und Licht und dunkle Wolken verströmte, welche entweder nahe am Boden schwebten oder hoch in den Himmel aufstiegen, und die Sucher erkannten in dem niedrigen Baum ein Mittel, wie man die
Menschenwesen aus großer Distanz töten könnte, ohne dass einer der Diener unserer geliebten Mutter in Gefahr geriet. Und die Sucher waren höchst zufrieden, als sie entdeckten, dass der niedrige Baum sehr großzügig war und sein Flackern und seine Wolken mit anderen niedrigen Bäumen seiner Art teilte. Nun waren andere Sucher in die hohen Berge gezogen, die den Weg zum Land der kürzeren Sommer versperrten, und bald fanden sie einen schmalen Weg durch die hohen Berge und gelangten, gut getarnt, in das Land der kürzeren Sommer. Unsere geliebte Mutter hingegen war vorsichtig, und sie sandte Diener aus, die die Laute der Menschenwesen erzeugen konnten, um die Menschenwesen zu verwirren und sie zum Krieg gegeneinander zu verleiten, denn der Überverstand war zu der Erkenntnis gekommen, dass die Menschenwesen sich manchmal noch mehr gegenseitig hassten als uns und sich auch gern gegenseitig töteten, was wiederum die Sache für die Kriegerdiener der Mutter vereinfachen würde. 13 So zogen wir durch das ebene Gebiet, wo es keine Essensdinge gibt, und erreichten schließlich den schmalen Pfad, der aus dem Land der Mutter in das Land der kürzeren Sommer führte. Groß war die Enttäuschung, als wir dort anlangten, denn abermals hatten die Menschenwesen flache Steine auf andere flache Steine gestapelt und uns so den Weg versperrt. Nun jedoch verfügten wir über ein Mittel, die Menschenwesen zu vertreiben. Die Sucher betraten einige Nesthöhlen in den hohen Bergen unterhalb der Stapel aus flachen Steinen und häuften die flacheren in diesen Nesthöhlen an. Dichte schwarze Wolken wehten über die Steinstapel, und dann machten die Menschenwesen kehrt und flohen und gaben den Kriegerdienern den Weg frei. Freude bemächtigte sich der Mutter, und sie befahl den Kriegerdienern, rasch über den schmalen Pfad auf das Land der kürzeren Sommer weiterzuziehen, denn die niedrigen Bäume - die unsere geliebte Mutter gewisslich beinahe so sehr lieben wie wir, die ihr dienen und sie beschützen - vertrieben die Menschenwesen weiter. Und so geschah es, dass die Kriegerdiener den schmalen Pfad hinaufstürmten, den sicheren Sieg vor Augen. Aber dann entfesselte eines der Menschenwesen, das jedoch nicht zu den Lebendgebärenden zählte, etwas, das wir nie zuvor gesehen
hatten. Wir, die Diener der geliebten Mutter, kannten die Feuer der Menschenwesen, aber dieses Menschenwesen, das nicht zu den Lebendgebärenden zählte, sandte eine riesige Woge Feuer den Pfad hinab, Feuer, das nicht gelb war. Stattdessen hatte es eine blaue Farbe, und es verzehrte unzählige Kriegerdiener, während es sich den schmalen Pfad hinunterwälzte. Das an sich war schon entsetzlicher als alles, was wir bis dahin erlebt hatten, doch dann erzeugte das Menschenwesen, das nicht lebend gebärt, ein weiteres Feuer am Fuße unseres schmalen Pfades. Und dieses blaue Feuer erhob sich höher als die Stapel aus 14 flachen Steinen, welche die Menschenwesen errichtet hatten, und zeigte keine Anzeichen, dass es jemals zu brennen aufhören würde. Und abermals schrie unsere geliebte Mutter vor Qualen, und wir, die wir ihr dienen, stimmten in ihr Wehklagen ein. In ihrem großen Zorn hörte die Mutter auf den Vorschlag eines der Sucher - einen Vorschlag, dem sie, wäre sie ruhiger gewesen, niemals Beachtung geschenkt hätte. Der Sucher erklärte, die Menschenwesen würden sicherlich wissen, wo die Kriegerdiener als Nächstes angreifen würden, denn es gab nur noch einen Teil des Landes, dessen Zugang nicht versperrt war, und dort würden wir auf riesige Massen von Menschenwesen stoßen. »Du wirst viele, viele Kriegerdiener brauchen, um die Menschenwesen zu überwinden, geliebtes Vlagh«, sagte er. »Kannst du diesmal noch mehr Nachkommen erzeugen als zuvor für die Angriffe in die anderen Richtungen?« »Viel, viel mehr«, antwortete die teuere Mutter. »Ich werde die Menschenwesen unter frisch geschlüpften Nachkommen begraben. Ich bekomme das Land des Sonnenaufgangs, und meine Kinder werden sich an den Überresten der Menschenwesen gütlich tun, die dieses ganze Land verunreinigen - und dann wird es für immer mir gehören.« Wir wollten die geliebte Mutter nicht daran erinnern, dass eine Brut von dieser Größe jegliche zukünftigen Brüten beeinträchtigen würde und nicht mehr genug von jenen schlüpfen könnten, die sich um ihre Bedürfnisse kümmern. Daher würden ungezählte Jahreszeiten verstreichen, ehe sie eine neue Brut zur Welt bringen könnte. Gewiss taten wir unser Möglichstes, sie darauf aufmerksam zu machen, doch sie schenkte uns keine Beachtung, sondern befahl uns, sie unverzüglich in die Brutkammer zu tragen. Und wir taten, wie es uns
befohlen ward. Sollte wieder eine Katastrophe über uns hereinbrechen, wer15 den die Brüten in der Zukunft so wenige Kinder hervorbringen, dass es in den kommenden Jahreszeiten im Nest unserer geliebten Mutter nur sehr wenige - falls überhaupt noch welche - von jenen geben wird, die sich um ihre Bedürfnisse kümmern, und eines Tages könnte sie sogar ganz allein sein. Der Berg Shrak 1 Mitternacht war vorüber. Zelana stand allein auf dem Balkon des Raumes, den ihr großer Bruder Dahlaine als seine »Kriegshöhle« bezeichnete. Ihr schien es, als hätte Dahlaine schon immer eine Schwäche für solch ausgefallene Namen gehabt. Aus irgendeinem Grund verspürte er ständig diesen Drang, beinahe allem einen übertriebenen Namen zu geben. Wenn er so viel Zeit damit verbracht hätte, ein Problem zu lösen, wie er für gewöhnlich brauchte, einen Namen dafür zu finden, wäre er schon ein ganzes Stück weiter gewesen. Im Augenblick jedoch versuchte Zelana einige höchst sonderbare Ereignisse zu verdauen. Offensichtlich hatten sie eine geheimnisvolle Helferin, die Wunder aus dem Hut zaubern oder aus dem Ärmel ziehen konnte, und zwar ganz ohne jede Vorwarnung. Unten im Süden, in der Domäne des kleinen Bruders Veltan, war Langbogen von einer Reihe eigenartiger Träume geplagt worden, die ihm ein Wesen in den Kopf setzte, das er »unsere unbekannte Freundin« nannte, obwohl er Zelana und den anderen gesagt hatte, dass er ihre Stimme kenne - sie jedoch nicht mit dem Namen der Sprecherin in Verbindung bringen könne. So leicht, das wusste Zelana, ließ sich Langbogen bei einer derart wichtigen Angelegenheit nicht durcheinander bringen, also hatte diese »unbekannte Freundin« zweifelsohne auf eine Weise an ihm herumgepfuscht, die Zelana einfach nicht begreifen wollte. 17 Eine Sache war jedoch mehr als deutlich. Die »unbekannte Freundin« konnte nicht nur Erinnerungen auslöschen, sie konnte außerdem einige sehr grundlegende Regeln brechen - oder sich zumindest darüber hinwegsetzen. Zelana und ihre Familie durften zum Beispiel nicht töten. Die »unbekannte Freundin« dagegen hatte die Angehörigen der trogitischen Kirche mit ihrem »Meer aus Gold«
verführt und sie in eine offene Konfrontation mit den Wesen des Ödlands gelockt. Als die beiden feindlichen Streitmächte sich dann in eine Schlacht verstrickt hatten, die vermutlich in der gegenseitigen Auslöschung geendet hätte, vernichtete die »unbekannte Freundin« sie alle mit einer riesigen Wand aus Wasser, das sie aus einer Tiefe von ungefähr sechs Meilen aus der Erde holte. Offensichtlich verfügte ihre Freundin über Kräfte, die Zelana sich nicht einmal vorstellen konnte, obwohl sie fast sicher war, dass sie sich dabei von den Träumern helfen ließ. Je länger Zelana darüber nachdachte, desto mehr war sie davon überzeugt, dass Elerias Flut und Yaltars Doppelvulkan ebenfalls der Fantasie ihrer »unbekannten Freundin« entsprungen waren. Die Beteiligung der Träumer wurde auch durch die gemeinsame Vision der Kinder bestätigt, in der von einem »Feuer, wie es noch niemand gesehen hat«, die Rede war, und dieses Feuer war als blaues Inferno in Erscheinung getreten, das vermutlich eine gesamte Brut des Vlagh vernichtet hatte. Das hatte Aracia in ihrer Torheit dazu veranlasst, Lillabeths Traum von vornherein verschweigen zu wollen. Aracia war stets von ihrer eigenen Göttlichkeit besessen gewesen, aber jetzt -wahrscheinlich aufgrund der übertriebenen Anbetung durch die verschiedenen Faulpelze, die sich als ihre Geistlichkeit betrachteten - hatte sie die Reste ihres Verstandes eingebüßt und schien der Überzeugung anzuhängen, das wichtigste Wesen des Universums zu sein. Den absurden Versuch ihrer Schwester Aracia, Lillabeths Traum zu verheimlichen, musste man als eindeutigen 18 Hinweis darauf betrachten, dass ihr jegliche Vernunft abhanden kam. Je länger Zelana darüber nachdachte, desto deutlicher erinnerte sie sich daran, dass Aracia schon immer mit einem gewissen Unwillen schlafen gegangen war und ihre Domäne Enalla überlassen hatte. Tief im Innersten schien Zelanas Schwester Enalla zu hassen. Die Länge des Schlafzyklus machte Veränderungen unausweichlich. Zelana erinnerte sich trübselig daran, wie sie einmal vor langer, langer Zeit aufgewacht war und feststellen musste, dass ihre Domäne von mindestens zwei Meilen dickem Eis bedeckt war. Dahlaine hatte Zelana dies wochenlang erklären müssen, bis sie sich damit abgefunden hatte. Er versicherte ihr, die Tauperiode habe bereits eingesetzt, dennoch hatte es fast fünf Jahrhunderte gedauert, bis das Eis verschwunden war, und Zelanas Domäne sah hinterher überhaupt
nicht mehr so aus wie zu dem Zeitpunkt, als sie in den Schlaf hinübergedämmert war. Noch beunruhigender war vielleicht der Umstand gewesen, dass die Geschöpfe, die sie im vorhergegangenen Zyklus kennen gelernt hatte, sämtlich verschwunden und an ihre Stelle eigenartige neue Tiere getreten waren. Dahlaine hatte dafür den Begriff »Aussterben« verwendet, und bei dem Wort war ihr ganz schauerlich zumute geworden. Während jenes Zyklus hatte sie so gut wie keinen Kontakt zu Aracia, aber sicherlich hatte ihre Schwester die Sache so lange gedreht, bis sie Enalla die Schuld in die Schuhe schieben konnte für das Zeitalter des Eises und das Verschwinden fast aller Geschöpfe, die noch in ihrer Domäne gelebt hatten, als sie sich schlafen gelegt hatte. Das passte zu Aracia. Zelana wurde inzwischen immer müder, und nur zu gern hätte sie die Verantwortung für ihre Domäne des Westens an Balacenia übergeben - die erwachsene Version von Eleria -, doch sicherlich würde Aracia ganz anderer Ansicht sein, und ihre Priesterschaft befand sich mittlerweile vermutlich am Rande der Panik. Ob sie nun wollte oder nicht, Aracia musste schlafen gehen, und zwar in sehr naher Zukunft, und Enalla würde an ihre Stelle treten. Zelana hatte von Eleria einige Andeutungen aufgeschnappt, dass Enalla - die eigentliche Version der kleinen Lillabeth - einige Pläne hatte, die Aracias Priester nicht unbedingt vor Freude hüpfen lassen würden. »Es würde sich fast lohnen, so lange aufzubleiben und sich das anzuschauen«, murmelte sie. »Fast«, fügte sie hinzu, »aber so recht nun doch wieder nicht.« Wenn sie es richtig einschätzte, blieben nur mehr einige Monate bis zur »Schlafenszeit«. Schon lange hatte sie entschieden, diesmal in der rosa Grotte auf der Insel Thurn zu nächtigen. Die rosa Delfine würden ihr ein Schlaflied singen, und vielleicht würde sie diesmal sogar eigene Träume haben - Träume vom Lande Dhrall ohne ein Vlagh, von einem Land, wo ihre Freunde nicht alt wurden und starben und wo sie singen und dichten konnte, wo ewig Frühling herrschte und die Blumen niemals welkten. Ja, das wäre der allerschönste Traum. »Ich dachte, ich hätte deine Anwesenheit gespürt, liebe Schwester«, sagte Dahlaine und gesellte sich zu Zelana auf dem Balkon über der »Skulpturenkarte« seiner Domäne. »Du wirkst so besorgt. Worüber zerbrichst du dir den Kopf?« »Natürlich über Aracia«, erwiderte Zelana. »Ich glaube, ihr Verstand hat sich noch mehr verflüchtigt als zu dem Zeitpunkt, als sie
Lillabeths Traum verheimlichen wollte. Ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, wie wir sie diesmal ein paar Monate eher zum Schlafen bewegen könnten. Dann könnten wir uns auf das Vlagh konzentrieren und brauchten uns nicht ständig Sorgen wegen ihr zu machen.« »Ja, bestimmt wäre dann alles viel einfacher.« »Was ist eigentlich mit Aracia los, dass sie am Ende jedes Zyklus die Nerven verliert?«, wollte Zelana wissen. »Ich habe mal 20 nachgedacht, und soweit ich mich erinnern kann, hat sich Aracia noch nie schlafen gelegt, ohne sich mit Händen und Füßen dagegen zu sträuben. Warum muss das eigentlich immer so sein?« Dahlaine zuckte mit den Schultern. »Minderwertigkeitsgefühle wahrscheinlich. Also, wenn wir unsere Stellvertreter dazunehmen, sind wir zusammen acht, und soweit ich feststellen konnte, handhaben sie die Sache mit der Führung genauso wie wir. Dementsprechend hat Aracia nur für fünfundzwanzigtausend Jahre das Sagen. Danach muss sie hundertfünfundsiebzig Jahrtausende warten, bis sie wieder an der Reihe ist. Aus irgendeinem Grund kann sie das nicht ertragen. Sie möchte ständig im Mittelpunkt des Universums stehen. Wenn ich mich recht erinnere - was gewöhnlich der Fall ist -, hat sie sich beim letzten Mal, als sie unser Vorstand war, richtiggehend in dieser Position geaalt. Gewiss, damals hatten sich die Menschen noch nicht so entwickelt wie heute, also war sie die Einzige, die sich anbeten konnte, aber diese Selbstverehrung war schon ein wenig extrem.« Zelana lächelte. »Vielleicht sollten du und ich uns Veltan anschließen, wenn der nächste Wachzyklus beginnt. Bestimmt war es ja nur wieder einer seiner Scherze - wir wissen ja alle, wie sehr Veltan Scherze mag -, doch kürzlich hat er mir gegenüber fallen lassen, dass er lieber wieder auf den Mond zieht, wenn Aracia beim nächsten Mal das Zepter in die Hand bekommt, und ich glaube, er hat es mindestens zur Hälfte ernst gemeint.« »Ganz unser kleiner Bruder. Sobald er irgendwo von fern Verantwortung herannahen sieht, macht er die Biege.« Dahlaine kratzte sich an der Wange. »Vermutlich hätte es auch in den vergangenen Zeitaltern nur einen kleinen Unterschied ausgemacht, aber jetzt leben in den Domänen Menschen. Ich weiß ja nicht, wie du das siehst, aber ich werde auf keinen Fall zulassen, dass Aracia die Bewohner meiner Domäne tyrannisiert.«
»Du hörst dich fast so an, als wolltest du unserer Schwester den Krieg erklären.« 21 »Krieg würde ich es nicht nennen, Zelana. Von Aracias Menschen wird erwartet, jeden wachen Moment damit zu verbringen, sie zu verehren, daher geht von ihnen keine große Bedrohung aus.« »Jetzt steckst du unsere Schwester in die gleiche Kategorie wie den heiligen - und wahnsinnigen - Azakan aus der Atazakan-Nation in deiner eigenen Domäne, großer Bruder«, meinte Zelana. Dann runzelte sie die Stirn. »Es gibt schon einige Ähnlichkeiten, oder?« »Mit einem Unterschied: Aracia verfügt über die Macht, tatsächlich etwas zu bewirken. Der arme Azakan hat der Erde und dem Himmel ständig befohlen, ihm zu gehorchen, nur, fürchte ich, haben die ihn wenig beachtet. Aracia besitzt durchaus eine gewisse Macht, und sie kann in die Tat umsetzen, was sie als notwendig erachtet.« »Vielleicht. Trotzdem ist es uns nicht erlaubt, unsere Macht zu verwenden, wenn dadurch jemand zu Tode kommen könnte. Falls Aracia diese Grenze überschreitet, wird sie sich wahrscheinlich auf der Stelle in Nichts auflösen«, gab Zelana zu bedenken. »Und wenn sich Aracia in Nichts auflöst, werden wir dann weiterexistieren? Zwischen uns vier besteht doch ein Band, Dahlaine, und wenn einer von uns nicht mehr da ist, werden wir dann nicht einfach alle verschwinden?« »Zelana, langsam bekomme ich Kopfschmerzen.« »Immerhin hast du noch einen Kopf, der Schmerzen empfindet, mächtiger Bruder.« »Wenigstens in einer Hinsicht haben wir Glück gehabt, Zelana. Dein Piratenhäuptling hat Kommandant Narasan überredet, seine Siebensachen nicht zu packen und nicht nach Hause zu fahren. Wir brauchen Forts im Langen Pass, und wenn jemand >Forts< sagt, denkt er dabei für gewöhnlich an Trogiten. Hast du bei Sorgans kleinem Komplott die Finger im Spiel gehabt?« »Nein, großer Bruder. Soweit ich es sehe, ist Hakenschnabel 22 allein darauf gekommen. Bestimmt hatte es Einfluss auf seine Entscheidung, dass er Aracia wahrscheinlich einen Haufen Gold abschwatzen kann, doch abgesehen davon zählt auch seine Freundschaft zu Narasan. Er wird in ihren Tempel gehen und bei ihr für so helle Aufregung sorgen, dass sie Narasan vermutlich völlig vergisst. Dann wird er unsere nicht ganz so helle Schwester davon
überzeugen, dass er sie allzu gern verteidigen würde, wenn sie ihm genug Gold gibt.« »Gegen wen soll er sie denn verteidigen?«, fragte Dahlaine. »Die Diener des Vlagh kommen den Langen Pass herunter, geraten also kaum in die Nähe von Aracias Tempel.« Zelana lächelte. »Wenn ich Sorgan richtig einschätze - und dessen bin ich mir sicher -, wird ihm schon etwas einfallen, wie er Aracia mitsamt ihrer Priesterschaft so sehr in Angst und Schrecken versetzen kann, dass sie nicht einmal auf den Gedanken kommt, jemanden hinauf zum Langen Pass zu schicken, wo derjenige Narasan belästigen könnte, während er die Forts baut.« Nicht lange darauf öffnete sich die Tür des Kartenraums einen Spalt weit, und Eleria spähte herein. »Ach, hier bist du, Geliebte«, sagte sie zu Zelana. »Wir hätten es uns denken können, dass du dich mit dem alten Graubart unterhältst.« »Vergiss deine guten Manieren nicht, Eleria«, schalt Zelana ihren Träumer. »Entschuldige, Alter Graubart«, sagte Eleria und setzte ihr spitzbübisches Grinsen auf. »Wir suchen schon stundenlang nach dir und der Geliebten.« »Wir?«, fragte Dahlaine neugierig. »Na, das Große Ich und ich. Mutter möchte mit euch reden.« »Mutter?« Zelana war verwirrt. »Wir haben jeder eine Mutter, weißt du, Geliebte. Das Große Ich kann es dir ganz bestimmt viel besser erklären als ich.« Dann 23 trat Eleria in den großen Raum, unmittelbar gefolgt von einer außergewöhnlichen Schönheit. Dahlaine stockte der Atem. »Was machst denn du hier, Balacenia?«, wollte er wissen. »Du solltest überhaupt noch nicht wach sein.« »Werd langsam erwachsen, Dahlaine«, erwiderte die Dame. »Mit deinem kleinen Spiel hast du fast die Welt zerstört. Wir hatten eine Menge Arbeit, um die Sache auszubügeln, und dabei brauchten wir eigentlich wirklich noch nicht einmal wach zu sein.« Zelana starrte die Dame an. »Bist du wirklich ...« An dieser Stelle hielt sie inne. »Ja, Geliebte, ich bin deine Mitgöttin. Unsere Domäne untersteht jedoch noch deiner Gewalt. Ich verspreche dir, nicht herumzupfuschen, es sei denn, Mutter trägt es mir auf - uns.« Sie legte Eleria die Hand auf die Schulter. »Manchmal ist das ganz
schön verwirrend. Dies ist mein Kleines Ich. Ihr kennt sie unter dem Namen Eleria, was schon in Ordnung ist, glaube ich. Sie bringt mich häufig zum Lachen, und Lachen ist gut für die Seele - hat man mir jedenfalls gesagt. Eine Sache würde mich allerdings sehr interessieren. Wo in aller Welt hat sie das mit dem Knuddeln und Küssen her? Den armen Vash hat sie damit so durcheinander gebracht, dass er nicht mehr weiß, was er tun soll.« Plötzlich lächelte Zelana. »Die Idee kam Eleria in der rosa Grotte, als sie noch sehr, sehr jung war. Mit einem Küsschen kann sie jeden rosa Delfin im Nu dazu bringen, alles für sie zu tun.« Dann schaute sie sich Balacenia, ihre Mitgöttin, genau an. »Die Ähnlichkeit ist unverkennbar, Balacenia. Du bist tatsächlich die erwachsene Ausgabe von Eleria, der Träumerin. Wieso könnt ihr beide euch zur gleichen Zeit am gleichen Platz aufhalten?« »Die Antwort ist nicht ganz so einfach, Geliebte. Eigentlich sind wir nicht zur gleichen Zeit hier. Oder besser gesagt, eigent24 lich bin ich gar nicht hier. Ich schlafe immer noch fest, und was wir alle sehen, ist mein Traum.« »Das ist unmöglich!«, widersprach Dahlaine. »Warum - und wie - bin ich dann bitte schön hier?«, wollte Balacenia wissen. »Dein kleines Spielchen war recht klug, Dahlaine, aber es ist eigentlich gleich von Anfang an aus dem Ruder gelaufen. Du hast geglaubt, du könntest uns mit diesem Kinderschwindel austricksen, aber die Geschichte klappte schon nicht bei Eleria und ihrem ersten Traum. Das war der, in dem sie die Entstehung der Welt sah. Ein wenig später im Lande Maag hatte sie eine Variation dieses Traums, die du nicht einmal erwartet hast. Es handelte sich um einen >WarntraumSkulpturenkarte< der Domäne meiner Schwester Aracia angefertigt. Eigentlich hätten wir uns wegen der Karte auf Aracia verlassen sollen, doch sie hat ein eher vages Bild von ihrer Domäne, weil sie ihren Tempel fast niemals verlässt.« »Angebetet zu werden beansprucht vermutlich eine Menge Zeit«, sagte Sorgan Hakenschnabel und schaute hinunter auf die gut beleuchtete Karte. »Und wo genau liegt nun diese >Tempelstadts über die sich alle so aufregen?« Dahlaine streckte die Hand aus, und ein Lichtstrahl aus seinem Zeigefinger erhellte einen Punkt an der Ostküste. 28 »Das ist aber eine nützliche Idee, Herr Dahlaine«, sagte Sorgan, »besonders, wenn wir alle zehn Fuß über der Karte stehen.« »Doch, ja, es scheint seine Aufgabe zu erfüllen«, antwortete Dahlaine bescheiden. »Und wo ist dieser >Lange Passfett< scheint ja fast untrennbar mit dem Wort >Priester< verbunden zu sein«, stellte Langbogen fest. »Berufskrankheit, nicht wahr, großer Bruder?«, meinte Zelana. »Priester verbringen den größten Teil ihrer Zeit damit, sich Essen in den Mund zu stopfen.« 29 »Davon werden sie fett, und am Ende machen ihre Herzen das nicht mehr mit, und die Kerle kippen einfach tot um«, fügte Dahlaine hinzu. »Na, das wäre doch mal eine Idee«, sagte Hase. »Wir brauchen nur zwanzig oder dreißig Tonnen mit Essen auf die Stufen von Aracias Tempel zu stellen, und die Priester fressen sich innerhalb einer Woche tot.« »Der Gedanke gefällt mir, Bruder«, wandte sich Zelana an Dahlaine. »Wir würden nicht gegen unsere Beschränkungen verstoßen, wenn wir den Priestern unserer lieben Aracia Essen schenken, oder? Und wenn sie zu viel in sich hineinstopfen und tot umfallen, ist es doch nicht unsere Schuld.« Dahlaine blickte zur Decke. »Damit solltest du lieber zu Mutter gehen, Zelana. Wenn wir Aracias Priester mästen und sie daran sterben, wäre das nicht so, als würden wir sie vergiften?« »Spielverderber«, murrte Zelana. »Kannst du dir vorstellen, "was sich in Aracias Tempel für ein Geschrei erhöbe, wenn sie eines Morgens aufwachte und feststellte, dass alle ihre Priester in der Nacht gestorben sind?« »Wir behalten die Idee im Hinterkopf, liebe Schwester«, sagte
Dahlaine. »Machen wir jetzt erst einmal weiter.« Er blickte Narasan an. »Wer, würdest du sagen, ist das Oberhaupt von Aracias Priesterschaft?« »Er heißt Takal Bersla«, antwortete Narasan, »und er ist fast so fett, wie Adnari Estarg von der amaritischen Kirche es war -ehe diese übergroße Spinne ihn sich zum Mittagessen geholt hat. Bersla hat sich das Reden zum Beruf gemacht. Stundenlang erzählt er eurer Schwester, wie heilig sie ist, und Aracia ist von Berslas übertriebenen Schmeicheleien fast hypnotisiert. Padan ist einmal, kurz nach unserer Ankunft, die ganze Zeit dabeigeblieben, und Bersla hat sechs Stunden zu eurer Schwester gesprochen. Dann hat er Mittag gegessen - und zwar so viele Speisen, dass sie vier oder fünf neue Menschen satt gemacht hätten -, 3° dann hat er wieder fünf oder sechs Stunden geredet. Der Mann spricht und spricht ohne Unterlass, doch eure Schwester scheint von dieser weitschweifigen Anbetung nicht genug bekommen zu können.« »Das hört sich an, als wäre es noch schlimmer mit ihr geworden, Dahlaine«, stellte Zelana fest. »Sie braucht die Anbetung fast so sehr wie ein Trinker das Bier.« »Kein gutes Zeichen, werter Herr Dahlaine«, sagte Sorgan. »Wenn sie schon derart viel von ihrem Verstand verloren hat, könnte es schwierig werden, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen.« »Nicht unbedingt, Vetter«, widersprach Tori. »Wenn dieser Priester Bersla der Hauptanbeter im Tempel der werten Aracia ist und er eines Morgens tot umfällt, könntest du ihre Aufmerksamkeit sicherlich sofort auf dich lenken.« »Vielleicht, Tori«, lenkte Sorgan ein, »bloß woher sollen wir wissen, ob er in nächster Zukunft sterben wird?« Tori schob die Hand in den Stiefel und zog einen langen zierlichen Dolch hervor. »Das könnte ich dir sogar garantieren, Vetter«, sagte er und spielte mit dem Dolch herum. »Diese Möglichkeit sollte man durchaus in Betracht ziehen, werter Dahlaine«, schlug Sorgan vor. »Wenn deine Schwester eines Morgens auf dem Thron sitzt und die Priester die Leiche ihres liebsten Anbeters in den Thronsaal schleppen und ihr vorführen, dass jemand - oder etwas - in den Tempel geschlichen ist und ihren obersten Priester ermordet hat, wird sie zusammenbrechen. Wenn ich ihr dann erkläre, die Stichwunden in Berslas Leiche stammten
höchstwahrscheinlich von den Zähnen der Insektenmenschen, wird sie mir bestimmt sehr aufmerksam zuhören. Ich könnte ihr alle möglichen wilden Geschichten über Insektenmenschen erzählen, die durch die Hallen ihres Tempels schleichen und die Priester zu Dutzenden töten.« »Würde sie nicht die Leichen sehen wollen?« 31 Sorgan zuckte mit den Schultern. »Wenn sie Leichen sehen will, zeigen wir ihr Leichen. Tori muss seinen Dolch vielleicht sechs- oder achtmal am Tag wetzen, aber das wäre nicht so schlimm.« »Danke, Vetter«, meinte Tori säuerlich. »Nicht der Rede wert, Tori«, gab Sorgan zurück. »Also meiner Meinung nach sollte es gut für euch sein, wenn wir den Langen Pass und Aracias Tempel strikt voneinander getrennt halten«, meinte Langbogen eine Weile später zu Sorgan und Narasan. »Ihr könnt an der Ostküste entlang zu der Flussmündung segeln, und dort gehen diejenigen, die in den Langen Pass aufbrechen, an Land, während Sorgan mit seinen Maags weiterzieht, um Aracia zu beschwichtigen. Sie und ihre Diener werden gar nicht erfahren, dass ihr dort oben seid, Narasan, und deshalb kann sie euch auch nicht den Befehl erteilen, nach Süden zu marschieren und sie zu verteidigen.« »Eine hervorragende Idee, Langbogen«, stimmte Narasan zu. »Ohne Frage wird sich Bersla ausschließlich für die Verteidigung des Tempels interessieren. Was aus dem einfachen Volk in Aracias Domäne wird, kümmert ihn nicht. Selbst wenn der ganze Rest von Aracias Domäne von Insektenmenschen überrannt wird, würde ihn das nicht jucken.« »Da hätte ich einen Einfall, Kapitän Hakenschnabel«, sagte Keselo. »Wenn du Kundschafter ausschickst und die berichten, dass die Insektenmenschen die Landbewohner fressen, bekommen die Priester Angst und werden sich nicht aus dem Tempel trauen, um selbst nachzuschauen. Sie werden sich verkriechen -und sich so gewissermaßen selbst in Gefangenschaft begeben.« »Jedenfalls laufen sie uns dann nicht vor den Füßen herum«, befand auch Sorgan. Er blickte seinen Freund Narasan an. »Du warst schon einmal da, ich jedoch nicht«, sagte er. »Gibt es vielleicht in der Nähe des Tempels etwas, das man als Baumaterial benutzen könnte? Felsen oder Baumstämme, solche Dinge? 32
Wenn wir zum Schein so täten, als würden wir eine Mauer zur Verteidigung errichten, müssten wir schließlich irgendetwas bauen, das zumindest so aussieht wie ein Fort.« »In Sumpfgebieten findet man weder Felsen noch Baumstämme, Sorgan«, entgegnete Narasan. »Na ja«, sagte Sorgan, »der Tempel ist ja auch noch da. Es sollte nicht zu schwer sein, ihn abzureißen und aus den Steinen ein Fort zu bauen.« »Unsere Schwester wird einen Zusammenbruch erleiden, wenn du das machst, Sorgan«, warnte Zelana. »Und das Geschrei der Priester wird man noch zehn Meilen entfernt hören«, fügte Dahlaine hinzu. »Nicht, wenn meine Kundschafter berichten, die Insektenmenschen würden die Bauern bei lebendigem Leib fressen«, widersprach Sorgan. »Wenn die Fetten das hören, werden sie vielleicht sogar ihre Hilfe anbieten. Wie groß ist denn der Tempel ungefähr, Narasan?« »Ungefähr eine Meile im Quadrat«, antwortete Narasan. »Du scherzt!« »Die Priesterschaft hat Jahrhunderte an Aracias Tempel gebaut, Sorgan«, meinte Dahlaine. »Mit so viel Steinen müsstest du doch eine recht hübsche Mauer bauen können, Sorgan«, warf die Kriegerkönigin Trenicia ein. »Sie werden trotzdem eine Weile lang krakeelen«, meinte Veltan. »Nicht, wenn die Berichte meiner Kundschafter schrecklich genug sind«, widersprach Sorgan abermals. »Sobald die Priester von einem zwölf Fuß hohen Käfer hören, der einem Menschen die Leber herausreißt, wenn er hungrig ist, werden sie uns erlauben, alles zu tun, was erforderlich ist, solange wir nur die Ungeheuer zurückdrängen - und sie werden sich tief im Tempel verstecken und sich mindestens für einen Monat nicht ans Tageslicht trauen.« 33 »Mir gefällt das.« Narasan freute sich wie ein Kind. »Also wird's so gemacht, alter Freund«, erwiderte Sorgan und grinste breit. Zelana lächelte. Die Freundschaft zwischen Sorgan und Narasan, diesen beiden so unterschiedlichen Männern, schien fester und fester zu werden, und inzwischen hatte sie schon fast den Eindruck, die beiden würden beinahe alles füreinander tun. Während sich die Männer für den langen Marsch zur Ostküste von Dahlaines Teil des Landes Dhrall rüsteten, verbrachten Sorgan,
Narasan und einige andere viel Zeit damit, die Karte zu studieren. »Ich brauche die Schiffe zurück, sobald deine Männer unten in Aracias Tempelstadt von Bord gegangen sind, Sorgan«, erinnerte Narasan seinen Freund. »Und trotzdem wird zunächst mehr als die Hälfte meiner Armee am Strand festsitzen.« »Kein Problem«, beruhigte Sorgan ihn. »Die Schiffe würden den Hafen von Tempelstadt doch nur verstopfen. Und wenn sich die Priester deine Schiffe zu lange anschauen, kommen sie womöglich noch auf die Idee, dass sie eine Flotte brauchen, um draußen auf dem Meer den Fischen zu predigen.« Er runzelte die Stirn. »Nennen die Leute dort unten ihren Ort tatsächlich >Tempelstadt