Der Lächler
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 168 von Jason Dark, erschienen am 28.03.1995, Titelbild: Bolton
Onopko...
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Der Lächler
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 168 von Jason Dark, erschienen am 28.03.1995, Titelbild: Bolton
Onopko war ein Prototyp. Er war die erste dämonische, aber menschlich aussehende Killermaschine des KGB. Und er war der Lächler. Die Zeiten änderten sich. Die UdSSR verschwand, der KGB verlor seine alte Macht, nur Onopko blieb. Er war inzwischen zu einem Risikofaktor geworden, der beseitigt werden mußte. Man versuchte es. Onopko war schlauer und entwischte. Von nun an begann die Angst. Onopko würde sich rächen. Er würde die holen, die ihn einmal geschaffen hatten, und die wiederum hielten den Lächler für unbesiegbar...
Es war nicht der Weg in die Freiheit, es war die Reise in den Tod, das wußte Onopko, der Lächler, genau, auch wenn ihm etwas anderes versprochen worden war und die Freiheit unter dem Hubschrauber in Form von kleinen Seen, Wäldern aus Niederholz und dunkelgrünen, sumpfigen Ebenen hinwegglitt. Onopko kannte die Regeln, er wußte, daß sie ihn nicht mehr brauchten, daß er ein Stück der alten UdSSR war, das entsorgt werden mußte. Er roch noch immer den verdammten Knastgestank. Eine Mischung aus Urin, Kot und Dreck, in der sich nur Ratten wohl fühlten, aber keine Menschen. Die hatte man in die Zellen eingepfercht, und den Wächtern war es oft genug egal, ob die Gefangenen krepierten oder überlebten. Der Lächler war nicht gestorben. Er lebte, er würde leben, denn er war so etwas wie ein Mythos. Er war geschaffen worden, der KGB hatte sich damals seiner bedient, nur wollte man davon heute nichts mehr wissen. Typen wie Onopko paßten nicht in das neue Reformprogramm, sie mußten deshalb ausgelöscht werden. Doch der Lächler lebte. Er würde immer leben, darüber machte er sich keine Sorgen. Deshalb war er auch nicht nervös, trotz der Handschellen, mit denen sie ihn gefesselt hatten. Sie hatten ihm die Arme auf den Rücken gebogen und die beiden Stahlkreise um seine Handgelenke geschlagen. Das Metall schnitt tief in die Haut des Mannes. Er verspürte Schmerzen wie jeder Mensch. Nur litt er nicht so wie andere. Er steckte sie einfach weg, mit einem Lächeln. Drei Bewacher hatte man ihm mitgegeben. Eigentlich nur zwei, denn den Piloten, einen finster aussehenden Mann, der bisher noch kein Wort mit ihm gewechselt hatte, zählte er nicht. Die beiden anderen Aufpasser hockten im hinteren Teil des Hubschraubers neben ihm. Er kannte ihre Namen nicht. Sie waren nur Nummern. Der eine die Nummer eins, der andere die Nummer zwei. Es gehörte einfach zum Image des Knasts. Man verlor die Menschlichkeit. Man war nur eine Nummer, nicht mehr und nicht weniger. Und wurde jemand entlassen, konnte er dieses Gefühl und Wissen auch im normalen Leben nicht mehr abschütteln. Wer aus dieser Hölle herauskam, der blieb im Kreislauf. Onopko hockte zwischen den beiden Aufpassern. In der Maschine war es kalt. Der Winter hatte sich in diesem Teil des Landes schon angemeldet. Zwar war in den Ebenen noch kein Schnee gefallen, doch lange würde es nicht mehr dauern. Noch lag das Land wie ein unendliches grünbraunes Bild unter ihm, menschenleer, verwaist, auch von Tieren verlassen. Die Taiga, wie sie im Buche stand. Der Lächler bemerkte die Unruhe der beiden Aufpasser. Immer öfter schauten sie durch die Scheiben in die Tiefe. Zudem hatte der Hubschrauber an Höhe verloren, und der Pilot hatte auch die
Geschwindigkeit gesenkt, alles war vor dem Flug genau abgesprochen worden. Nummer eins zündete sich eine Zigarette an, obwohl das Rauchen verboten war. Niemand kümmerte sich darum. Es war eine Zigarette aus dem Westen, an diese Ware war jetzt besser heranzukommen als früher. Der Mann saugte den Rauch ein und blies ihn durch die Nasenlöcher wieder aus. Vor seinem Kinn dampften Wolken, die auch gegen das Gesicht des Lächlers zogen, das unbeweglich blieb. Es war ein besonderes Gesicht. Kalt und bösartig. Sehr breit und sehr lang, mit einer ungewöhnlich hohen Stirn, auf der eine dünne Narbe wie ein querlaufendes Band zu sehen war. Die Haut war vorhanden, sie hätte ebensogut durch etwas anderes ersetzt werden können, durch ein dünnes Stück Stoff, zum Beispiel, denn sie wirkte steinern, als wäre sie durch nichts in Bewegung zu bringen. Leblose Augen, eine kräftige, zum Ende hin breite Nase, und darunter der Mund mit den ebenfalls sehr breiten Lippen, der aussah wie eine genmanipulierte Banane. Onopkos Haare sahen mehr aus wie ein Schatten. Sie waren dunkel, mit leichten Grauschleiern darin. Er war kompakt, schwer, aber nicht fett. Er war wie eine Wand, wie ein Schrank, der sich durch nichts von seiner Position wegrücken ließ. Im Knast hatte er nie etwas erzählt. Auch die Wächter wußten nicht viel über ihn, und so war es dann zu einer Legendenbildung gekommen. Er wurde als Monster angesehen, als ein Mensch ohne Gefühl, fast schon als russischer Frankenstein. Daß mit Onopko etwas nicht stimmte, wußte man. Es war nur nicht bekannt was, und wenn Onopko lächelte, dann ergriffen alle, die dieses Lächeln sahen, die Flucht. Sein Lächeln war das Markenzeichen. Das Grinsen wie der Tod. So war er bekannt geworden, und in der Kartei des KGB war er zu den alten Zeiten nur als der Lächler geführt worden. Als eine Person ohne Hintergrund, als Kämpfer, als Töter, als jemand, der eine ultimative Waffe sein sollte. Das lag zurück. Lange schon. Zu lange für Onopko, der sich bisher noch immer unter Kontrolle gehabt hatte, als er in der engen Einzelzelle sein verfluchtes Dasein fristete. Das aber gehörte der Vergangenheit an. Es gab jetzt wichtigere Dinge zu erledigen, und Onopko war bereit, auf den richtigen Zeitpunkt zu warten, um dann zuzuschlagen. Der Pilot drehte den Kopf. In seinen dunklen Augen stand eine Frage. Onopko bemerkte dies sehr deutlich, obgleich er so tat, als hätte er nichts gesehen, auch nicht das Nicken der beiden Wächter rechts und links neben ihm.
Dafür verdrehte er die Augen, um nach rechts aus dem Fenster zu blicken, wo noch immer die Unendlichkeit der Taiga unter ihm hinwegfloß wie ein Meer, das nie aufhören wollte. Er sah nicht mehr so viele Waldstücke. Dafür mehr eine freie Fläche, noch grün, aber hin und wieder unterbrochen von unterschiedlich großen, stumpfen Augen, als lägen Riesen dicht unter der Oberfläche, die mit ihren Augen noch in die Höhe glotzten. Es waren Tümpel, kleine Teiche, Mini-Seen, die eben zu einem Sumpfgelände dazugehörten. Das genau war es. Der Sumpf. Unendlich, unheimlich und gierig. Er verschluckte alles und gab nichts mehr zurück. Würde man ihn mit einer Stadt füttern, er würde auch sie verschlingen, und ein Mensch war für ihn kein Hindernis. Der Lächler rechnete sich aus, was auf ihn zukommen würde, aber sein Gesicht blieb völlig ausdruckslos. Mit keiner Bewegung gab er zu verstehen, daß er Bescheid wußte. Nummer zwei seufzte. Es war ein Geräusch, das Onopko aufmerksam werden ließ. Er schaute den Mann an, der sich nach vorn beugte und die Hand nach der Lehne des Co-Piloten-sitzes ausstreckte, um sich dort beim Hochkommen festzuhalten. Geduckt blieb er stehen. Der Pilot hatte die Bewegung mitbekommen. Die Maschine verlor noch mehr an Geschwindigkeit, sie glitt dabei etwas tiefer und kam schließlich zum Stehen. Der Lächler schaute rasch aus dem Fenster. Unter ihm lag der Sumpf und direkt unter dem Hubschrauber einer dieser größeren Tümpel. Seine Oberfläche kräuselte sich im Wind der Rotorblätter. Nummer zwei bewegte sich auf den Ausstieg zu. Mit einer Hand am Griff wandte er sich noch einmal an den Piloten. Was die beiden sprachen, erfuhr Onopko nicht. Das zufriedene Nicken der Männer deutete allerdings an, wie sehr sie übereinstimmten. Der Wächter riß den Ausstieg auf. Scharfer Wind peitschte in die Maschine und wirbelte sogar einige braune Blätter hinein. Onopko rührte sich nicht, aber der Typ neben ihm stieß ihn mit einem harten Gegenstand an. Der Lächler schaute hin, und sein Blick fiel auf den Lauf einer Pistole. »Steh auf!« »Warum?« »Hoch mit dir!« Nummer eins rammte Onopko die Mündung gegen den Hals. In seinen Augen lag kein Gefühl. Er würde schießen, aber er hatte, ebenso wie sein Kollege, einen anderen Befehl erhalten. Sie würden Onopko aussteigen lassen. Der Sumpf würde ihn für immer verschlucken. Daß sie ihn nicht als Leiche in die Tiefe werfen wollten, sah er als reine Boshaftigkeit ihrerseits an. Sie wollten ihn leiden sehen.
Und irgendwo waren die Aufpasser auch nicht besser als die Gefangenen. Männer ohne Seele und Gefühl. »Ist gut!« sagte Onopko. In seiner Stimme hatte kein Gefühl mitgeklungen. Andere hätten gezittert und gebebt, was normal gewesen wäre, nicht aber der Killer, denn bei ihm war nichts normal und vergleichbar mit einem Menschen aus Fleisch und Blut. Er stand auf. Gebückt. Den Kopf hielt er vorgestreckt, der Blick seiner Augen war auf das Ziel – den offenen Ausstieg mit dem Wächter daneben – fixiert. Die Hände lagen auf dem Rücken, wobei die Gelenke von den Stahlklammem fest umschlungen waren. Nummer eins, der die Waffe hatte sinken lassen, schaute auf diese Hände, und er dachte daran, daß sie schon manchen Menschen vom Leben in den Tod befördert hatten. Es waren Killerpranken, daraus machte Onopko auch keinen Hehl. Er mußte sich zwischen den beiden Sitzen durchdrängen. Es war ein Hubschrauber, der seine besten Zeiten bereits hinter sich hatte. In den Staaten wäre er sicherlich bereits verschrottet worden. Sie standen noch immer in der Luft, als würden sie an einem dicken Band hängen. Der Typ an der Tür hatte den Kopf gedreht, um in Onopkos Gesicht zu schauen. Bisher war es ohne Ausdruck gewesen. Das aber änderte sich in den folgenden Sekunden, denn der Killer bewies, weshalb man ihm den Spitznamen gegeben hatte. Er lächelte. Sein Mund nahm an Breite zu. Es war kein normales Lächeln, sondern ein widerliches und bösartiges Grinsen. Ein Vorbote auf das, was noch im Kopf des Killers schlummerte, aber sehr bald hervorbrechen konnte. Die Zähne, breit und lang, bildeten eine gefährlich aussehende Reihe. Und mit dem Lächeln kam die Kraft. Das sah Nummer zwei nicht, denn die schon unmenschliche Kraft breitete sich an der Rückseite aus, dort wo die Gelenke durch Handschellen verbunden waren. Die Arme zuckten zu verschiedenen Seiten weg. Erst eine ruckartige Bewegung, dann spannte sich die Kette zwischen den Kreisen, und das bekam der Wächter noch mit. Wie hypnotisiert schaute er zu, auch irgendwie wissend, daß etwas passieren würde, aber er war nicht in der Lage, einzugreifen, denn was er sah, wollte ihm nicht in den Kopf. Obwohl es ihm vorkam wie zeitverzögert, schaute er bewegungslos zu, wie Onopko die Kette zwischen den Handschellen sprengte. Er war frei, und fuhr herum! ***
Der Wächter dachte daran, daß er seine Waffe in der rechten Hand hielt. Er rieß den Arm in die Höhe, um die Mündung so einzurichten, daß sie auf Onopkos Körper zeigte, doch schon in der Bewegung wußte er, daß er zu langsam war. Der Lächler schlug zu. Als wäre ein Amboß auf seinen Kopf niedergesaust, so traf der Schlag den Wächter. Nummer eins hätte sofort bewußtlos werden müssen, aber das Schicksal meinte es anders mit ihm. Es schickte ihm noch ein letztes Bild zu, das er nicht vergaß. Das breite Lächeln oder Grinsen auf dem kantigen Gesicht und die Veränderung des Schädels. Die Narbe glühte feurig auf, und neben ihr pulsierte ein rotes, verschlungenes Etwas wie ein Organ, das aus irgendeinem Körper entnommen worden war, ein fremdes Gehirn. Schlagartig zerplatzte das Bild, und der Wächter sackte auf seinem Sitz zusammen. Der Ausdruck seiner offenstehenden Augen zeigte dem Lächler, daß ein Toter vor ihm hockte. Onopko handelte rasch und zielsicher. Seine jetzt freien Hände griffen zu. Die Finger waren wie Stäbe aus Stahl, als sie den Körper festhielten, ihn sofort danach in die Höhe wuchteten und anschließend herumwirbelten. Nummer zwei stand noch an der Tür. Er hatte sich ebenfalls gedreht und von seinem Standort aus alles mitbekommen. Er hatte auch eingreifen wollen, doch die Veränderung am Kopf des Killers hatte ihn zu sehr in seinen Bann gezogen, obwohl er nur die Rückseite des Schädels gesehen hatte. Aber das rote Leuchten war nach wie vor vorhanden, so daß er auch in den Schädel hineinschauen konnte und die fremde Masse sah, die sich zusammengedrückt und gequält hatte wie eine Menge dicker Würmer. Der Mann begriff es nicht, und als ihm dämmerte, in welch einer Gefahr auch er schwebte, da hatte Onopko die Leiche des Kollegen bereits vom Sitz gerissen. Er wuchtete sie auf den Mann an der Tür zu. Der Wächter schaffte es nicht, seine Waffe zu ziehen. Der schwere Körper prallte gegen ihn. Zwar hielt sich der Mann fest, doch der Aufschlag sorgte dafür, daß sich seine Hand vom Griff löste und Nummer zwei plötzlich ohne Halt am Rand des Einstiegs balancierte. Es konnte nicht gutgehen, und es ging nicht gut! Die starre Leiche fegte ihn aus dem Hubschrauber. Nummer zwei schrie noch auf, als er fiel und ihm dabei auch bewußt wurde, was sich unter dem Hubschrauber befand. Onopko gab sich selbst die Sekunden Zeit, um den Flug des Lebenden und des Toten zu verfolgen. Zugleich klatschten sie auf die Oberfläche des Sumpfes. Wasser spritzte in die Höhe. Der Tote versank sofort. Das Moor würde ihn nicht mehr freigeben. Der lebende Wächter aber tauchte noch einmal auf. Er ruderte mit den
Armen und schrie so laut, daß seine Stimme selbst die Lärmkulisse des Hubschraubers übertönte. Die Panik hatte sein Gesicht zu einer Fratze werden lassen, denn die Kräfte des Sumpfs zerrten an seinen Beinen und kannten kein Pardon. Als die Schreie in einem gurgelnden Geräusch erstickten, rammte Onopko den Ausstieg wieder zu und drehte sich dem Piloten entgegen. Der Mann saß schreckensstarr auf seinem Sitz. Er hatte die Befehle befolgt, aber er war unfähig zu begreifen, was sich innerhalb dieses beengten Raumes abgespielt hatte. Erst als der Lächler sich drehte und der Pilot die schwere Pranke auf seiner Schulter spürte, da war ihm klar, daß es die beiden anderen Männer nicht mehr gab und er jetzt mit dieser menschlichen Bestie allein war. Das Grinsen des anderen jagte ihm Angstschauer über den Körper. Er hatte in seinem vierunddreißigjährigen Leben schon einiges erlebt, was jedoch in seiner unmittelbaren Nähe geschehen war, das wollte er nicht begreifen, denn es war einfach unfaßbar. Angefangen bei der Befreiung von den Handschellen bis hin zu den beiden Morden. Das Lächeln blieb, aber die Augen lächelten nicht mit. Sie waren eiskalt, böse und nur darauf fixiert, durch Blicke entsprechende Befehle zu geben. Onopkos Mund zog sich wieder zusammen. Sein Gebiß verschwand. Er blähte die Nasenflügel auf, als er atmete. Der Pilot betrachtete den Kopf, wo das rote Gehirn und der Streifen verschwunden waren. Der Killer sah wieder normal aus. »Du hast gesehen, was geschehen kann?« Verdammt, das habe ich gesehen, dachte der Mann. Sprechen konnte er nicht, deshalb nickte er. »Wunderbar.« Onopko redete wie eine Maschine. Aus seinen Worten war kein Gefühl herauszuhören. »Du willst doch nicht, daß es dir ebenso ergeht wie den beiden – oder?« »N… nein…« »Das ist gut, sogar sehr gut, mein Freund. Deshalb wirst du genau tun, was ich von dir verlange. Denk daran, es gibt hier oben nur uns beide, und ich bin es, der zu bestimmen hat. Du scheinst ein guter Mann zu sein, der auch Nerven hat. Andere hätten sicherlich vor Schreck die Maschine in den Sumpf fallen lassen, das hast du nicht getan, und deshalb freut es mich, wenn wir zusammenarbeiten können.« Wenn du wüßtest, dachte der Pilot. Wenn du wüßtest, was ich hier durchmache. »Wie heißt du?« Der Mann war so überrascht, daß er zunächst keine Antwort geben konnte. Erst als Onopko ihn hart anfaßte, erwachte er aus seiner Lethargie. »Ich bin Slatko.«
»Gut, Slatko, machen wir weiter.« »Was denn?« Onopko grinste für einen Moment, schaute nach draußen und stellte fest, daß sich die Oberfläche des Sumpfes nicht mehr bewegte. Die beiden Wächter hatten ihr Grab gefunden, was auch gut war. »Wir werden jetzt von hier verschwinden.« »Und wohin?« Der Lächler nahm auf dem Sessel des Co-Piloten Platz. »Das will ich dir sagen. Ich möchte weg von diesem Sumpf. Du kennst dich hier in der Gegend aus?« »Nicht sehr gut, aber…« »Kennst du dich aus?« Der Lächler zischte die Frage. Der Pilot duckte sich, als hätte er einen Schlag abbekommen. Dann sah er die knochige Faust vor seinem Gesicht erscheinen. Um das Gelenk saß die Handschelle straff wie ein Armreif. »Ich… ich… versuche es.« »Schön.« Die Hand wurde wieder zurückgezogen. »Ich will nicht viel von dir, auch nichts Unmögliches. Ich verlange nur, daß wir aus diesem Sumpfgebiet herauskommen.« Slatko nickte. »Ist schon klar«, murmelte er. »Ich… ich… habe verstanden.« »Dann flieg los!« Der Angesprochene saugte die Luft ein. Er hatte das Gefühl, nicht mehr auf seinem Sessel zu hocken, sondern in einem luftleeren Raum zu schweben. Seine Augen brannten, die Knie zitterten, und auf der Gesichtshaut lag der kalte Schweiß. Er überlegte. Einen genauen Kurs hatte ihm Onopko nicht angegeben, der Killer wollte einfach nur weg, und Slatko erinnerte sich daran, daß sie am nördlichen Rand des Sumpfgeländes entlangfuhren. Jenseits davon gab es einen breiten Damm, auf dem die Schienen der Transsibirischen Eisenbahn entlangliefen, das Land dahinter war trocken und nur dünn besiedelt. Slatko konnte sich vorstellen, daß Onopkos Ziel ungefähr in dieser Richtung lag. Dem Killer dauerte es zu lange. Er sprach davon, daß er Slatko des Genick brechen würde, wenn sie nicht bald starteten. »Ich muß überlegen.« »Im Norden ist die Bahn.« Der Pilot zitterte, als er erfuhr, über welche Ortskenntnisse dieser Mensch verfügte. Er konnte keine Tricks anwenden. Durch ein Nicken gab er sein Einverständnis bekannt, bevor er für eine Kursänderung sorgte und auch dafür, daß die Maschine wieder an Höhe gewann. Unter ihnen glitt das Land hinweg. Malerisch, einsam und düster. Ein gewaltiger Sumpf, der von den Einheimischen die Todesschüssel genannt wurde. Wer einmal in sie hineinfiel oder sich in ihr verirrte, war verloren. Die Luft war nicht überall klar. Nebelinseln wanderten dahin
und reichten bis zum Hubschrauber hoch. Von den wirbelnden Rotorblättern wurden sie zerrissen. Onopko saß unbeweglich auf seinem Sitz. Er hatte sich nicht angeschnallt, er starrte geradeaus, und seine Killerhände lagen im Schoß verschränkt. Manchmal bewegten sich seine Wangen, dann sah es so aus, als wäre er dabei, auf etwas zu kauen, ansonsten zeigte er kaum eine Reaktion, wie Slatko hin und wieder mit einem Seitenblick nach rechts feststellte. Nicht daß er sich an die Gesellschaft des Mörders gewöhnt hätte, aber er akzeptierte ihn, und seine erste große Furcht war zudem verschwunden. Er wußte, daß es auf ihn ankam, und er wußte auch, daß er alles tun mußte, um den anderen bei Laune zu halten. Nur kein Verfliegen, keine Abweichung vom Kurs, das würde Onopko bemerken. Er war schlauer, als der Pilot gedacht hatte. Zwei tote Wächter hatte der Lächler zurückgelassen. Slatko überlegte, wann’ ihr Verschwinden auffallen würde. Er hatte keine genaue Zeit für die Rückkehr angegeben bekommen, es gab keine schriftlichen Protokolle, alles hatte so geheim wie möglich ablaufen sollen, denn für das Verschwinden eines Menschen sollte es keine Beweise geben. Unter ihnen bekam das Land ein etwas anderes Gesicht. Nicht sehr schnell, sondern unmerklich. Die weiten, leeren Flächen waren zwar nicht ganz verschwunden, aber sie hatten schon den NiedrigholzWäldern Platz schaffen müssen, die sich wie kleine Inseln aus dem Boden erhoben und weiter nördlich immer mehr zusammenrückten. Slatko wurde durch eine Bewegung neben sich aufmerksam. Er schaute hin und sah, daß Onopko genickt hatte. Ein Zeichen, daß er mit dem Kurs zufrieden war. Der Mann am Steuerknüppel war es auch. Noch – denn er wußte nicht, was nach der Landung passieren würde. Onopko mußte sich etwas einfallen lassen. Slatko war Realist. Er machte sich nichts vor und ging davon aus, daß der Killer keine Zeugen gebrauchen konnte. Für den Lächler mußte sein Tod eine sichere Sache sein. Daran zu denken war schlimm. Das schnürte ihm den Hals zu. Seinen Augen wollten wieder tränen. Er flog nicht mehr so konzentriert, ließ den Hubschrauber einige Meter tief absacken und reagierte auf den Fluch des Killers mit einem Ducken. »Entschuldigung…« »Schon gut.« Slatko wischte über seine Stirn. Der Schweiß darauf war eine Folge der Angst gewesen. Die Flüssigkeit brannte auch in seinen Augen. Er spürte sie an den Lippen und den Mundwinkeln. Immer stärker zitterte er, und plötzlich schössen ihm die verrücktesten Gedanken durch den Kopf. Wenn er schon sterben sollte, dann konnte er auch bestimmen, wie das geschah.
Nicht durch den Killer, durch ihn selbst. Der Pilot hatte es in der Hand. Er brauchte den Hubschrauber nur zum Absturz zu bringen, was allerdings Mut erforderte, und den wiederum brachte er nicht auf. Er traute sich einfach nicht. Erstens aus Angst, und zweitens schössen ihm zu viele Wenns und Abers durch den Kopf, denn er stellte sich auch die Frage, ob Onopko ihn überhaupt töten wollte. Konkret gesagt hatte er jedenfalls nichts. Wie dem auch sei, Slatko mußte sich schnell entscheiden, denn die nördliche Grenze des Sumpfgeländes war bereits in Sicht, und dahinter erstreckte sich der Bahndamm. Wie mit dem Lineal gezogen zerschnitt er das flache Land. Slatko durchlief es wie ein elektrischer Schlag, als er die Berührung an seinem rechten Arm spürte. Onopko hatte ihn berührt und stellte auch mit gerade noch hörbarer Stimme eine Frage. »Du hast dich doch nicht gedanklich mit irgendwelchen anderen Dingen beschäftigt – oder?« Der Pilot fühlte sich ertappt. Er hoffte nur, daß der Killer die Röte in seinem Gesicht übersah. »Nein, nein«, erwiderte er schnell. »Wie kommst du darauf?« »Nur so…« »Ich dachte nur an die Bahn und an das Gelände dahinter. Ich weiß ja nicht, wo ich landen soll…« »Kriegst du gesagt.« »Gut.« Onopko kümmerte sich nicht um den Piloten. Er schaute aus dem Fenster, denn er wollte sehen, wie weit die Grenze noch entfernt war. Ein schiefes Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht, als er den Damm erkannte, der die flache Landschaft beherrschte. Auf seiner Oberfläche schimmerte das Schienenpaar wie lange Finger, die in die Unendlichkeit hineinführten. Der Hubschrauber bewegte sich auf den Damm zu. In seiner Nähe breitete sich kein Wald aus. Rechts und links davon griff Gestrüpp mit seinen dürren Armen in die Luft. Ein Zug war nicht zu sehen. Der Dunst war innerhalb des Sumpfgeländes geblieben, und eine freie Sicht erlaubte den Blick bis zu den Häusern einer Ortschaft, die sich im Osten abmalte und an der Bahnlinie lag. Der Killer lächelte. Glück muß man haben. Zudem sah er es ebenfalls als einen glücklichen Zustand an, daß die Gegend um den Ort herum waldreich und einsam war. Aber nicht zu dicht bewaldet, es gab immer wieder Lücken, wo ein Hubschrauber aufsetzen konnte. Onopko lehnte sich zufrieden zurück, nachdem er den Piloten mit dem neuen Kurs vertraut gemacht hatte.
Slatko wunderte sich, gab aber keinen Kommentar ab. Sollte er tatsächlich in diesem einsam liegenden Taigaort landen? Er konnte daran nicht glauben und wartete gespannt auf die nächsten Minuten, in denen sich auch sein Schicksal entscheiden konnte. Laubbäume huschten unter ihnen hinweg. Ihre Kronen zeigten bereits die starken Verfärbungen des Herbstes. Die Blätter leuchteten in zahlreichen Farben. Angefangen vom hellen Gelb bis hin zu einem tiefen Violett oder Rotbraun. »Da ist eine Lücke!« sagte Onopko. »Eine Lichtung. Ich denke, sie ist groß genug, um landen zu können.« Slatko nickte. Plötzlich schwitzte er wieder. Er sah sein Ende näher kommen. Wieder dachte er darüber nach, ob er die Maschine zum Absturz bringen sollte oder nicht. Er tat es nicht. Statt dessen verloren sie an Höhe, und die Baumwipfel rückten näher. Ein normaler Wind durchstrich sie zusammen mit dem Sturm der Rotorblätter. Die beiden sahen einen schmalen Flußlauf, der sich durch die Gegend schlängelte, sie sahen Wiesen in der Nähe und auch die Lichtung. »Landen!« »Hier unten?« »Ja.« Onopko hatte nicht mehr weiterfliegen wollen. Es war genau die richtige Entfernung zum Ort und auch zur Bahn. Von der Lichtung aus würde er die kleine Stadt zu Fuß erreichen können, um sich dann als blinder Passagier in den Zug zu schmuggeln. Daß eine Großfahndung nach ihm eingeleitet wurde, darüber brauchte er sich keine Gedanken zu machen. Offiziell gab es ihn nicht, er war ein Relikt aus der harten Zeit, und man wollte heute nicht mehr daran erinnert werden. Viele würden sogar froh sein, wenn er verschwunden war. Für einige aber würde es ein böses Erwachen geben, wenn der Lächler plötzlich wieder auftauchte. Die Helligkeit verschwand. Das noch immer dichte Laub der Bäume schluckte sie. Graues Dämmerlicht sickerte durch die Scheiben und erfüllte das Innere des Hubschraubers. Es verwandelte auch die Farbe der Gesichter und gab ihnen einen gespenstischen Glanz. Vom Boden her wurde Laub in die Höhe gewirbelt. Das dichte Gras senkte sich mit seinen Spitzen dem Boden entgegen. Noch ein letzter Ruck, dann berührten die Kufen des Hubschraubers den Untergrund. Er war doch etwas weich, besonders an der rechten Seite, denn zu ihr hin senkte sich die Maschine, kippte aber nicht um. Slatko stellte den Motor ab. Plötzlich sah er das Zittern seiner Finger. Er spürte auch überdeutlich den inneren Druck. Er stand kurz vor einer Explosion, sein Körper würde bald zerfetzt werden.
Das geschah nicht. Es blieb bei der Einbildung und bei einem lauten Stöhnen des Mannes. »Steig aus!« Slatko hatte den Oberkörper nach vorn gebeugt und atmete geräuschvoll ein. So miserabel wie in dieser Minute war es ihm noch nie ergangen. Wenn man sich überhaupt mehr tot als lebendig fühlen konnte, so war dies bei ihm der Fall. Er öffnete den Ausstieg an seiner Seite und machte sich jetzt Vorwürfe, daß er nicht bewaffnet war. Eine Pistole hätte jetzt Wunder bringen können, doch als Pilot hatte er nie daran gedacht. Er sprang hinaus. Der Boden war so weich, als wollte er den Mann schlucken. Seine Schuhe versanken im Laub. Nur mehr wenige Blätter trudelten durch die Luft. Mit traurigen Bewegungen senkten sie sich dem Boden entgegen, als wären auch sie über das bevorstehende Schicksal des Mannes mehr als entsetzt. Eine kühle Luft umwehte ihn. Sie roch so, als hätte es in der Nacht zuvor schon Frost gegeben, aber die Blätter waren nicht von einer dünnen Schicht überzogen. Er drehte sich, als er Onopkos Tritte hörte. Sie schleiften durch das Laub und kamen ihm zugleich dumpf vor, als wäre ein Dampfhammer dabei, sich ihm zu nähern, um ihn zu zerstören. Er hatte nicht gesehen, wie der erste Wächter gestorben war, aber er konnte sich gut vorstellen, daß der Killer ihn erschlagen hatte. Onopko blieb in einer Entfernung vor Slatko stehen, als wollte er ihn zum Revolverduell auffordern. Beide starrten sich an, und der Pilot versuchte, in den Augen des anderen zu lesen, was ihm nicht gelang. Es gab keinen Ausdruck, nicht einen Funken von Gefühl, statt dessen sah er eine Person vor sich, die aschgraue Gefängniskleidung trug, eine Hose und eine Jacke, dunkelgraue, klobige Schuhe, und mehr an ein Denkmal erinnerte als an einen Menschen. »Komm her!« Slatko setzte sich in Bewegung. Ihn quälten Fragen, nur schaffte er es nicht, sie zu stellen. In seinem Kopf drehte sich alles. Die Schritte, die er setzte, zählte er, als wären es die letzten in seinem Leben. Er blieb stehen, als Onopko ihn berührte. Der Killer hatte seine Hand ausgestreckt, und der Pilot war dagegengelaufen. Es wurde still. Selbst der Wind schlief ein. Kein Rascheln der Blätter mehr. Die Stille war ein Vorbote des Todes. So dachte Slatko, und er glaubte nicht an eine Einbildung. »Sieh mich an!« Wie unter Zwang hob Slatko den Kopf. In den folgenden beiden Sekunden blieb das Gesicht des Killers ausdruckslos, dann aber
veränderte es sich, und der Mann machte dem Namen Lächler alle Ehre. Er lächelte und grinste! Das Gfesicht bekam zwar einen anderen Ausdruck, aber es wurde zugleich zu einer widerlichen Maske, die wie verzerrt wirkte, als gehörte sie zu keinem Menschen, sondern zu einem roboterhaften Wesen aus irgendeiifiem Kinofilm. »Ich habe alles getan, was du wolltest, Onopko.« »Das stimmt. Deshalb bin ich dir auch dankbar.« »Was? Wie? Dankbar…?« Der Pilot konnte es nicht fassen. Das Durcheinander in seinem Kopf war einfach zu groß. »Ja«, erklärte der Killer, ohne von seinem Grinsen zu lassen. »Ich werde dir auch beweisen, wie dankbar ich dir bin. Ich werde dich nämlich schnell und schmerzlos töten. Ich könnte auch anders, dich quälen, dich langsam sterben lassen, aber du hast mich hergebracht und du bist nicht widerspenstig gewesen. Das werde ich belohnen.« Slatko stand kurz vor dem Durchdrehen. Er hatte die Worte gehört, doch ihm fehlte der Glaube, sie zu realisieren. Ex kam damit nicht zurecht, das Durcheinander war einfach zu groß geworden, aber er hatte sich nicht verhört und auch mit seinem Ende schließlich gerechnet Aber jetzt, als es fast soweit war, da kam er damit nie it zurecht, und seine Augen bewegten sich, als suchten sie verzweifelt nach einem Ausweg. Niemar d würde ihm helfen. Die Laubbäume am Rand der Lichtung, durch die Bank weg Birken, standen da wie stumme Wachtposten, die sein Flehen nicht erhören würden. Man konnte sie; als grausam ansehen, als kalte Arme, als Wächter zum Reich der Toten, als… Weg, nur weg! Der Schlag war brutal. Er riß den Piloten von den Beinen und hatte ihn auch völlig unvorbereitet erwischt. Rücklings fiel Slatko in das weiche Laub. Er hielt die Augen offen. Die Welt über ihm zitterte wie ein Film. Sein Hals war an der rechten Seite starr, dort hatte ihn der Treffer erwischt, und in das zittrige Bild der Umgebung hinein erschien plötzlich das Gesicht des Killers. Er lächelte noch immer. Dem Liegenden fiel der Vergleich mit einem stummen und starren Grinsen ein. Zwei Schatten näherten sich ihm von verschiedenen Seiten. Es waren keine langen Stangen, sondern Arme mit kräftigen Händen, die den Piloten in die Höhe zerrten und ihn plötzlich in einen Klammergriff nahmen, aus dem sich der Mann nicht mehr befreien konnte. Der Griff war grausam. Der Griff war tödlich. Und Onopko beherrschte ihn perfekt.
Sekunden später lag Slatko tot vor seinen Füßen. Der Lächler hatte ihm das Genick gebrochen. Erst jetzt war er zufrieden… *** Der Lächler erreichte die kleine Stadt noch vor Einbruch der Dunkelheit, was ihm nicht besonders gefiel, denn er wollte nicht unbedingt gesehen werden. Deshalb versteckte er sich in der Nähe des Bahnhofs, in einem Schuppen, dessen Tür er kurzerhand aufgebrochen hatte. Dann war er in den dunklen Schuppen eingetaucht. Obwohl er die Tür hinter sich geschlossen hatte, konnte er sich umschauen, denn durch die Ritzen in den Bretterwänden sickerte genügend Licht. Der Schuppen diente als Lagerplatz für Felle. Sie waren übereinandergestapelt worden, und als Onopko seine Handfläche darüber hinweggleiten ließ, da schloß er für einen Moment die Augen. Diese Weichheit der Felle gefiel ihm. In seinen Träumereien verwandelten sie sich in die Haut einer Frau, die er berührte, die ihm gehörte, und er stöhnte knurrend auf. Sehr lange hatte er keine Frau mehr besessen, aber das würde sich ändern, da war er sich sicher. Sie konnten ihn nicht aus dem Verkehr ziehen. Nicht ihn und erst recht nicht nach allem, was so mit ihm passiert war. Er hatte ein Prototyp werden sollen, er war es auch, wenn auch noch nicht so perfekt. Andere hatten folgen sollen, aber die russische Wende war ihm dazwischengekommen. Die neuen Machthaber, demokratisch gewählte Volksvertreter, wollten mit einem wie ihm nichts mehr zu tun haben. Die würden sich noch wundern, da war sich Onopko sicher, denn sie hatten sich eine Laus in den Pelz gesetzt, sogar eine tödliche. Er würde sie alle finden, die an seiner Entstehung beteiligt gewesen waren, das schwor er sich, und es gab kein Versteck auf der Welt, wo sie sich vor ihm verkriechen konnten, denn auf eine rätselhafte Art und Weise war er trotzdem noch mit ihnen verbunden, und das wußten die anderen auch. Er fragte sich, was sie tun würden. Als ihm dieser Gedanke kam, fing er an zu kichern wie ein Teenager und preßte sogar seinen rechten Handballen gegen den Mund. Sein Verschwinden würde nicht geheimbleiben, die richtigen Personen würden schon informiert werden und in Panik geraten. Sie würden vor Angst vergehen, sein Verschwinden würde sie um den Schlaf bringen, sie würden zittern und darauf warten, daß er bei ihnen erschien. Er würde auch kommen, aber er würde sein wie das Jüngste Gericht. Niemand kannte den Zeitpunkt. Wenn er da war, dann war er da, dann würde er alles niedermachen.
Er atmete wieder normal. Er hatte seinen Körper gegen den Stapel der Felle gelehnt. Die davon ausgehende Wärme tat ihm gut, und er spürte, wie die Müdigkeit in seine Knochen kroch. Ein Bett aus Fellen kam ihm gerade recht. Er kletterte auf den Stapel und hockte sich darauf. Dann ließ er seinen Körper zusammensinken und drückte sogar den Kopf nach vorn. Die Felle strömten noch einen strengen Geruch aus, der störte ihn nicht, denn die Augen fielen ihm wie von selbst zu. Er beherrschte das schnelle Einschlafen, denn das hatte er hinter den Zuchthausmauern gelernt. Jede Gelegenheit ausnutzen, die Augen schließen und sich erholen. Aber auch genau wissen, wann der Schlaf beendet war, das kam noch hinzu. Kein Bewohner in der einsamen Taigastadt bemerkte, welch eine Gestalt sich in seiner Nähe aufhielt. Hier ging alles seinen üblichen Gang, hier lebte man in den Tag hinein. Man handelte mit Stoffen und Fellen und wartete darauf, daß der Zug ankam, in dem die Händler saßen, die den Menschen ihre Waren abkauften. Sie schafften sie auf die Märkte der großen Städte. Wann der Zug hielt, konnte niemand so recht sagen. Verspätungen gab es immer wieder bei diesen langen Strecken von Ost nach West und umgekehrt, aber die Zeit war hier einfach eine Größe, die kaum existierte. Man wartete, man gab sich gelassen, irgendwie würde es schon laufen, und ans Ziel gekommen war man immer. Der Lächler erwachte! Urplötzlich war er wieder da. Er benötigte auch keine Übergangszeit, um zu wissen, wo er sich befand. Er war eben da, richtete sich auf und spürte unter sich die weichen Felle. Für einen Moment blieb er hocken, die Hände gegen sein Gesicht gepreßt. Die Einzelheiten seiner Befreiung und der anschließenden Flucht hatte er längst vergessen, ihm kam es jetzt darauf an, in die Zukunft zu blicken. Onopko kannte sich genau. Er war nicht grundlos erwacht. Es lag an seiner inneren Uhr, die ihn geweckt und ihm auf ihre Weise erklärt hatte, daß es jetzt soweit war, um den Weg fortzusetzen. Als angenehm empfand er die Dunkelheit um ihn herum. Kein Lichtschein drang durch die Ritzen. Er räusperte sich, bevor er von dem Fellstapel rutschte. Mit zwei Schritten hatte er die Tür erreicht, lauschte, war zufrieden, daß er nichts hörte, und schob sein rechtes Bein zuerst ins Freie. Das linke folgte, er war eingehüllt von einer kalten abendlichen Dunkelheit, und am Himmel waren keine Sterne zu sehen, weil Wolkenschichten die Gestirne verdeckten. Onopko lächelte, weil er diese idealen Bedingungen vorfand, und er bewegte sich nach links, denn dort schimmerten die Lichter des kleinen Bahnhofs.
Da würde der Zug halten. Es dauerte sicherlich eine Weile, bis alle Geschäfte getätigt waren und sich die Wagenschlange wieder in Bewegung setzte. Von den beiden Hauptgleisen zweigten mehrere andere innerhalb des Bahngeländes ab. Gleise für Güterzüge, und in diesem Teil des Geländes gab es kaum Lampen. Der Zug würde bald eintreffen, denn auf dem Bahnsteig hatten sich bereits die Menschen versammelt, die ihre Waren feilboten. Sie standen da mit Karren und Kisten, eingepackt in warme Kleidung, denn die Temperatur war stark gesunken, sie näherte sich allmählich dem Gefrierpunkt, und es konnte auch zu ersten Schneefällen kommen. Keine Ausnahme im Oktober. Onopko ging nicht bis in den hellen Lichtstreifen am Bahnsteig hinein. Er wartete im Hintergrund, wo ihn das Dunkel schützte. Er fand einige Bahnschwellen, wo er sich niederließ, starrte ins Leere und konzentrierte sich dabei auf seine Umgebung, in der keinerlei fremde Geräusche zu hören waren. Warten… Minuten vergingen. Vom Bahnhof her erreichte ihn der Klang der Stimmen, während sich Onopko mit seinen Rachegedanken beschäftigte. Er würde all diejenigen finden, die an ihm verdient und von ihm profitiert hatten. Er würde ihnen eine Rechnung präsentieren, die sich aus Blut und Gewalt zusammensetzte. Er schreckte nicht zusammen, sondern hob nur den Blick, als er den schrillen Pfiff der Lok in der Ferne hörte. Der Lächler erhob sich. Er streckte seine Glieder. Er wollte geschmeidig und auf alles gefaßt sein. Der Zug kam. Die Menschen auf dem Bahnsteig schauten nach links. Sie hofften darauf, daß genügend Händler aus den Wagen stiegen, um ihnen die angebotenen Waren zu einem vernünftigen Preis abzukaufen. Darüber machte sich Onopko keine Sorgen. Im Schutz der Dunkelheit schlenderte er dem Bahnsteig entgegen und sah in der Ferne die Scheinwerfer. Das war die Lok. Er lächelte wieder. Gelassen wartete er die Ankunft der Wagenschlange ab. Die Lok zeigte mit ihrer Stirnseite in Richtung Westen. Es war die Fahrt von der Küste in Richtung Moskau, denn dort lief alles zusammen. Dorthin wollte auch Onopko. Er kicherte. Noch mußte er warten. Kaum stand der Zug, begannen die Geschäfte. Jeder am Bahnsteig hatte nur Augen für sich, seine Ware, für den Händler, und niemand achtete darauf, daß sich eine fremde Person unter die Bewohner der kleinen Stadt gemischt hatte.
Wie ein Müßiggänger schlenderte der Lächler an der Wagenschlange entlang. Vor dem zweitletzten Waggon blieb er stehen. Er nahm die hintere Tür, weil an der vorderen Kinder spielten. Sekunden später war er verschwunden. Wieder lächelte er. Diesmal vor Freude, denn nun befand er sich auf dem grausamen Feldzug der Rache… *** In den letzten Jahren war es gefährlich geworden, in einer Stadt wie Moskau zu leben, und es war müßig, nach den Gründen zu forschen, obwohl Begriffe wie Russen-Mafia und Korruption haargenau paßten. Man hatte sich an die Schreckensmeldungen gewöhnt, an Bandenkriege und an Mord und Totschlag. Doch es gab auch viel Positives aus Rußland zu berichten. Es gab Leute, die sich auch für den Staat engagierten. Zum Beispiel Wladimir Golenkow, ein ehemaliger KGBAgent, der aber nie der seelenlose Apparatschik gewesen war. Er hatte in seinem Bereich auch Menschlichkeit walten lassen und hatte schon damals einsehen müssen, daß es Dinge zwischen Himmel und Erde gab, die mit dem normalen Verstand nicht zu begreifen waren, wie der gute Shakespeare so treffend formuliert hatte. Wladimir hatte viele Freunde. Darunter waren zwei Männer in London, die Geisterjäger John Sinclair und dessen Kollegen Suko. Gemeinsam hatten sie manch magische Nuß geknackt, und das war auch nach dem Zerfall der UdSSR nicht anders geworden, denn ein Riesenreich wie Rußland wurde von den Dämonen nicht verschont, wie Wladimir wußte. Da brauchte er nur an ihren letzten gemeinsamen Fall, den Höllensog, zu denken. Wladimir hatte einen neuen Posten bekommen. Er war nicht nur so etwas wie ein Dämonenjäger, sondern auch ein erklärter Feind der Russen-Mafia, und er mußte immer damit rechnen, aus dem Hinterhalt erschossen zu werden. Die Probleme wuchsen ihm über den Kopf. Daß er unter ihnen nicht zusammenbrach, lag an seinem Naturell. Er war von Natur aus ein Kämpfer und jemand, der nie aufgab, sondern immer wieder versuchte, sich an kleinen Erfolgen hochzuziehen, wobei er noch hoffte, daß diese kleinen die großen irgendwann nachziehen würden. An diesem Abend war er unterwegs, um einen Mann zu treffen, den er kannte, aber nicht mochte. Er hieß Talin, war eigentlich Este, hatte aber trotzdem in der damaligen UdSSR beim Geheimdienst Karriere machen können. Womit er damals beschäftigt gewesen war, wußte auch Wladimir nicht genau. Gerüchte besagten, daß Talin so etwas wie ein Bindeglied
zwischen dem KGB und einem geheimen Forschungszentrum irgendwo in Zentralrußland gewesen war. Es gab ihn auch jetzt noch. Und er verfügte wiederum über einen gewissen Einfluß. Ein paarmal war Wladimir der Name in den letzten beiden Jahren bei seinen Fällen untergekommen. Talin wollte ihn treffen. Nicht in einem Büro, sondern in einer Wohnung, die nahe dem GorkiPark lag, versteckt in einer kleinen Seitenstraße. Die Hausnummer kannte Wladimir, und als er in die schmale Straße einbog, da blieb er für einen Moment stehen, denn in der engen Schlucht zwischen den Häusern ballte sich die Dunkelheit. Er spürte den Druck im Magen. Unter dem dunklen Staubmantel mit dem Innenfutter tastete er nach seiner Waffe und lockerte sie. Straßen wie diese eigneten sich ideal als Überfallorte, besonders dann, wenn so wenig Lichter brannten, wie es hier der Fall war. Er wartete, entdeckte keine verdächtigen Bewegungen und setzte seinen Weg fort. Vielleicht war die Straße früher einmal mit Pflastersteinen völlig bedeckt gewesen, das aber war vorbei, denn jetzt zeigte sie Löcher, als hätten Menschen die Steine herausgerissen, um sich damit Schlachten zu liefern. Alles war möglich in dieser Stadt. Und dennoch liebte Wladimir sie. Er wollte Moskau und auch sein geliebtes Rußland nicht aufgeben und es den Verbrecher-Kartellen überlassen. Er würde kämpfen, denn Mütterchen Rußland war es einfach wert. Die Mafia war nicht das russische Volk, sie war nur ein Geschwür, das irgendwann ausgemerzt sein würde. Die enge Gasse nahm ihn auf. Häuser warfen keine Schatten, sie waren einfach da, denn sie vermischten sich mit dem dunklen Grau des Bodens. Hier und da parkte ein Fahrzeug am Rand. So dicht an den Häusern, daß die seitlichen Karosserien fast über das Gestein schrammten. Hauseingänge waren wie Nischen, die später als Flure in andere Welten zu führen schienen. Wladimir hörte nur wenige Laute. Die meisten Geräusche stammten aus irgendwelchen Radios oder Fernsehern. Normale, menschliche Stimmen flatterten nicht an seine Ohren. Talin hatte ihm keine Hausnummer angegeben, sondern nur das Haus beschrieben. Es war ein schmaler, dunkler Bau auf der rechten Seite, der allerdings bis zur ersten Etage einen hellen Anstrich zeigte. Eine Mischung aus weißer und gelber Farbe. Er war nicht zu übersehen, hatte Talin mitgeteilt. Golenkow vertraute ihm. Er ließ seine Blicke an der rechten Häuserzeile intensiver entlangwandern als an der linken, und er brauchte nicht mehr weit zu gehen, denn das helle Schimmern fiel ihm schon auf. Es war
noch nicht Mitternacht, und Wladimir wunderte sich darüber, daß ihm in der Straße bisher kein Mensch begegnet war. Sie war wie ausgestorben, als hätte sich hier die Lungenpest ausgebreitet. Vor dem Haus blieb er stehen. Eine dunkle Tür war nicht ganz geschlossen. Wladimir schob sie mit dem Fuß auf und hörte, wie das Ende kratzend über den Boden schleifte. Der Flur vor ihm stank. Der Geruch nach altem Fett, Schweiß und Kohl hing zwischen den Wänden fest. Wladimir wollte weitergehen, als er abrupt stehenblieb und sofort die Augen schloß, weil der starke Strahl einer Taschenlampe direkt sein Gesicht erwischte und dabei die Augen auch nicht ausgelassen hatte. Eine Falle? War er wie ein Blinder hineingetappt? Hatte er sich von dieser Person namens Talin leimen lassen? In Moskau war es gefährlich, und Wladimir mußte mit allem rechnen, auch mit einer Kugel, die sein Leben ausgelöscht hätte. Sekunden vergingen. Die Zeit dehnte sich. Wladimir atmete aus und hörte das Flüstern von mindestens zwei Stimmen, das seine Ohren erreichte. Der nächste Befehl war lauter gesprochen und galt ihm ganz allein. »Keine Bewegung, Freund! Hände an die Wand! Du weißt ja, wie das geht.« »Was soll das?« »Die Fragen stellen wir hier!« antwortete der zweite Mann. Trotz seiner nicht beneidenswerten Lage war Wladimir beruhigt. Er kannte eine derartige Prozedur. Es gab immer mehr Menschen in Moskau, die sich eine private Leibgarde hielten, und Talin schien ebenfalls zu dieser Gruppe zu gehören. Er wollte auf Nummer Sicher gehen, und Wadimir erlebte wenig später, als ihn flinke Hände abtasteten, seine Waffe an sich nahmen und die erste Männerstimme ihm vor seinem Protest erklärte, daß er die Pistole zurückbekommen würde. »Hoffentlich.« »Du kannst dich wieder hinstellen!« Das tat Wladimir auch. Er reckte sich, und als er den Kopf nach links drehte, um mehr von seinen >Freunden< zu sehen, da hatten sie sich wieder zurückgezogen. Sie standen am Beginn einer Treppe und leuchteten ihn von zwei Seiten an. »Geh hoch bis zur ersten Etage.« Golenkow schirmte die Augen mit der Hand ab. »Gut, und wie geht es dort weiter?« »Du kannst eine Tür aufstoßen und die Wohnung betreten. Das ist alles. Man erwartet dich!« »Soll ich euch jetzt dankbar sein?« »Geh endlich!«
Golenkow setzte sich in Bewegung. Schließlich wollte er mit Talin reden. Es kam für ihn nicht einmal überraschend, daß sich dieser Mann eine Leibgarde zugelegt hatte. Typen wie er waren noch immer im Geschäft, und sie würden es auch bleiben bis zu ihrem zumeist nicht friedlichen Tod. Die Stufen bestanden aus Stein, waren abgetreten. In ihrer Mitte hatten sich Kuhlen gebildet. Außerdem waren sie unterschiedlich hoch und bildeten deshalb Stolpersteine. Golenkow war froh, an der rechten Seite ein Geländer zu haben, an dem er sich festhalten konnte. So erklomm er Stufe für Stufe und erreichte die erste Etage. Auch dort brannte kein Licht. Seine Augen hatten sich mittlerweile an die Verhältnisse gewöhnt. Es fiel ihm nicht schwer, den Umriß einer Tür auszumachen. Talin oder wer auch immer auf ihn wartete, mußte ihn gehört haben, denn hinter der Tür wurde es hell. Der gelbliche Lichtschimmer drang auch durch den Spalt und zeichnete sich auf dem Flurboden ab. Golenkow wußte jetzt, wo er herzugehen hatte, blieb für einen Moment vor der Tür stehen und hörte das leise Lachen. »Tritt schon ein, Kollege Golenkow.« Wladimir hob die Schultern. Es war Talin, der zu ihm gesprochen hatte. Seine Stimme war unverkennbar. Sie hatte einen hohen, fast fraulichen Klang, aber davon sollte sich niemand täuschen lassen. Talin erwartete seinen Besucher in der relativ breiten Diele, dessen Boden mit einem billigen, grauen Filz bedeckt war. Er hatte sich nicht verändert. Inmitten des möbellosen Raums wirkte er beinahe wie ein zu groß geratener Zwerg. Nur auf seinem Hinterkopf wuchsen noch ein paar Haare. Unter der hohen Stirn zeichnete sich ein flaches Gesicht ab, wobei Nase, Mund und Kinn etwas mit dem Gesichtsausdruck einer Kaulquappe gemein hatten. Deshalb war Talin damals als >Kaulquappe< bekannt und gefürchtet gewesen. Er war schon immer irgendwie alterslos gewesen und hatte sich auch jetzt kaum verändert. Nur seine Kleidung war besser. Der dunkelblaue Anzug mußte von einem Schneider aus dem Westen stammen, denn er saß perfekt. Für Talins Größe gab es nichts von der Stange zu kaufen. Er wollte Wladimir die Hand schütteln. Der aber nickte ihm nur zu und ließ seine Rechte an der Seite hängen. »Warum die Feindschaft?« »Wieso Feindschaft?« Talin lachte. »Schon gut, mein Lieber, vergessen wir die alten Zeiten.« Er griff unter sein Jackett und holte Golenkows Waffe hervor. »Die gehört doch dir.« »Stimmt.« Wladimir nahm sie entgegen. Er schaute nach, sie war geladen. Im Magazin fehlte keine Kugel. »Woher hast du sie?« »Zauberei.«
Golenkow schaute nach links. In der Wand malte sich ein Viereck ab. Der Eingang zu einem Speiseaufzug. Talin hatte den Blick seines Besuchers bemerkt und grinste. »Immer auf der Höhe, wie?« »Ja. Besser denn je.« »Das ist gut, finde ich prima, denn du wirst es brauchen, Freund Golenkow.« »Warten wir es ab.« Talin bewegte seine Arme. »Was sollen wir hier reden? Komm in mein kleines Büro.« Er drehte sich nach rechts und ging auf eine braun gebeizte Tür zu. »Es ist noch nicht alles eingerichtet, aber das wird sich geben.« Wladimir stiefelte hinter Talin her. Er war gespannt, was dieser Hundesohn von ihm wollte. Ja, er bezeichnete ihn als Hundesohn, denn früher hatte sich Talin mit Dingen beschäftigt, die durchaus als Verbrechen hatten angesehen werden müssen. Das Zimmer war nicht sehr groß. In einer Ecke stand ein schwarzer Ofen, der den Raum wärmte. Ein Schreibtisch, ein Sofa, zwei Stühle und ein verschlossener Stahlschrank gehörten zur Einrichtung. Vor dem Schreibtisch stand ein schwarzer Stuhl mit hoher Lehne und einer schmuddeligen roten Samtpolsterung als Sitzfläche. Talin deutete auf den Stuhl, und sein Besucher nahm dort Platz, wobei er die Beine übereinanderlegte. Da Talin seinen Bürostuhl in die Höhe hatte fahren lassen, konnte er Golenkow ins Gesicht schauen. Er grinste ihn an, aber seine kalten Fischaugen blieben ohne Ausdruck. »Was zu trinken?« »Nein.« »Auch recht.« »Komm zur Sache, Talin.« Der andere lachte. »Keine Sorge, das werde ich, aber schnall dich gut an, Towaritsch.« »Wir werden sehen.« Talin hatte nach einer Whiskyflasche gegriffen und ließ die Flüssigkeit in das Glas gluckern. Golenkow konnte sich eine Frage nicht verkneifen. »Du trinkst keinen Wodka mehr?« »Nur noch selten, man paßt sich an.« Talin hob das Glas und schlürfte es zur Hälfte leer. Dann stellte er mit einem heftigen Ruck das Glas neben das schwarze Telefon, legte die Unterarme auf den Schreibtisch und starrte Wladimir für einen Moment an, als suchte er nach irgendwelchen Flecken in seinem Gesicht. Die erste Frage schoß er förmlich ab. »Kannst du dich an Onopko, den Lächler, erinnern?« »Nein!« »Nicht so schnell.« »Ich kenne ihn nicht.« »Er stammt noch aus damaliger Zeit.«
»Die ist vorbei.« »Für dich schon, für mich auch, aber für andere nicht«, konterte Talin. »Also für Onopko.« »Richtig.« Talin grinste fett. »Der Name ist dir glatt über die Lippen gekommen, du scheinst ihn doch zu kennen.« »Ich habe von ihn mal gehört«, gab Wladimir widerwillig zu. »Sehr gut, sehr gut«, lobte Talin. »Da kommen wir uns schon ein ganzes Stück näher.« »Vorausgesetzt, ich spiele mit.« Talin zeigte einen beinahe mitleidigen Gesichtsausdruck. »Das wirst du wohl oder übel tun müssen, denn Onopko gibt es noch immer. Und nicht nur das, er hat es geschafft, auszubrechen. Er ist verschwunden, und er wird unterwegs sein, um sich zu rächen.« Eine Pause entstand, in der Golenkow nachdenken konnte. »Na und«, sagte er schließlich. »Was habe ich damit zu tun? An mir wird er sich nicht rächen wollen.« »Kann – muß aber nicht sein.« »War das alles?« »Nein«, erwiderte Talin erstaunt und leerte sein Glas. »Auf keinen Fall, ich fange erst an.« »Womit?« »Onopko, der Lächler.« »Ist er so interessant?« »Aber sicher. Weißt du überhaupt, wer er genau war?« »Nein, aber du wirst es mir sicherlich erzählen.« »Gern.« Talin grinste wieder zum verkehrten Zeitpunkt. »Onopko war, so ungewöhnlich es sich anhört, ein Prototyp. Er war die erste dämonische, menschlich aussehende Killermaschine des KGB. Und er hat nichts, aber auch gar nichts in der Zwischenzeit verlernt…« *** Der Lächler hatte Moskau erreicht! Es war alles glatt gegangen. Er hatte auf seiner Fahrt ans Ziel nicht einmal einen Toten hinterlassen, aber in dieser Stadt würde sich das ändern. Die ersten Stunden hatte er in einem Park verbracht, im Schutz eines Denkmals, und man hatte ihn auch dort in Ruhe gelassen. Erst bei Anbruch der Dunkelheit wagte er sich aus seinem Versteck hervor. Er hatte dann zwei Touristen beraubt und sich mit etwas Bargeld eingedeckt. Die beiden Franzosen hatten ihm die Scheine schon in die Hände gedrückt und waren dann vor ihm geflohen. Onopko hatte hinter ihnen hergegrinst. Er war in ein Kaufhaus gegangen und hatte sich neue Kleidung gekauft. Eine dunkle Cordhose, ein
helleres Hemd, einen dicken Pullover und einen Mantel, der bei diesem Wetter wichtig war. So ausgerüstet war er gegangen, hatte in einem amerikanischen Schnellrestaurant gegessen und getrunken, um sich dann an seine eigentliche Aufgabe zu machen. Die Namen auf der Todesliste hatte er im Kopf. Es waren nicht einmal ein Dutzend, aber sie alle konnten als handverlesen bezeichnet werden. Namen, die in der damaligen UdSSR Gewicht gehabt hatten. Männer, auf die sich das System hatte stützen können, in wissenschaftlicher und auch in politischer Hinsicht. Nach der Auflösung des Riesenreiches war einiges anders geworden. Da hatten sich eben gewisse Leute neue Kanäle gegraben, in die sie eintauchen konnten, und alte Beziehungen hatte es auch zu den Zeiten des Kommunismus in Richtung Westen gegeben. Dorthin hatten sich einige der Experten abgesetzt. Nach England, auch in die Staaten, das wußte Onopko, denn der Kontakt war nie richtig erloschen. Auch im Knast war er über sie informiert gewesen, er hatte ihre Fluchten auf einer bestimmten Ebene verfolgen können und wußte auch, daß er einen seiner Feinde in Moskau fand. Der hielt sich nicht einmal versteckt, sondern mischte wieder mit in irgendwelchen schmutzigen Geschäften. Er gehörte zu den Schiebern, die mit Baugrundstücken spekulierten, und man sagte ihm auch gute Kontakte zur Moskauer Unterwelt nach. Er hatte sich ein neues Imperium aufgebaut, er würde auch beschützt werden, doch darüber machte sich der Lächler keine Gedanken. Er war ein Mensch, der direkt auf sein Ziel zuging und dabei vor allen Dingen das Naheliegende nicht aus den Augen ließ. Es hieß Talin! Kurz vor Ladenschluß begab sich Onopko in ein Geschäft, schlenderte zuerst ziellos durch eine bestimmte Etage und entschied sich dann für ein stabiles Küchenmesser mit einer besonders langen Klinge. Im Prinzip haßte der Lächler Waffen, aber er wollte auf Nummer Sicher gehen, und ein Messer tötete lautlos. Die junge Verkäuferin fröstelte, als sie das Messer einpackte. »Ein schlimmes Ding«, murmelte sie. »Warum?« fragte Onopko. »Ich mag keine Messer.« »Beißt du das Fleisch denn auseinander?« Die junge Frau lächelte schief. »Nein, außerdem kann ich mir kein Fleisch leisten.« Sie kassierte den Betrag und war froh, als der Kunde ihre Kasse verlassen hatte. Dieser hochgewachsene, knochige Mann hatte ihr Furcht eingejagt. Sie konnte ihn sich gut vorstellen, wie er mit dem Messer bewaffnet durch die Nacht schlich, auf der Suche nach Opfern.
Onopko verschwendete daran keine Gedanken. Er steckte die Waffe in eine viel zu kurze Scheide am Gürtel. Der Killer überlegte, wie er die Strecke zurücklegen sollte. Geld hatte er genug, er hätte sich auch ein Taxi leisten können. Er entschloß sich trotzdem, den Weg zu Fuß zurückzulegen. Lange genug hatte er hinter dicken Mauern verbringen müssen, und er war begierig darauf, etwas von dieser Riesenstadt Moskau zu sehen, auf die er so lange hatte unfreiwillig verzichten müssen. Also wanderte er durch die Straßen, schaute sich um, war manchmal erschreckt über den dichten Verkehr und die damit verbundene Luftverschmutzung. Er sah die Abgase wie bläuliche Nebelschleier über den Fahrbahnen und Gehsteigen stehen. Die Dunkelheit war ein guter Schutz. Sie ballte sich zusammen. Sie bildete an manchen Stellen schwarze Wände, in der sich die Menschen versteckten, die darauf warteten, wehrlose Personen zu überfallen. Onopko sah neue Hotels, er sah deren Beleuchtung, und die Häuser schimmerten in der Dunkelheit wie Kreuzfahrtschiffe auf dem Meer, über das sie langsam hinwegtrieben. Sein Ziel hieß Rache, sein Ziel hieß Mord, und sein Ziel war Talin. Der hatte sich nicht aus Moskau zurückgezogen, aber er würde sicherlich Bescheid wissen, was im fernen Zentralrußland geschehen war. Und sicherlich würde ihm jetzt der Arsch auf Grundeis gehen. Wenn dem so war, erfreute sich Onopko daran, denn Angst, eine hündische, hundsgemeine Angst, sollten sie alle haben. Sie sollten zittern, sie sollten beben, denn sie hatten ihn erschaffen und letztendlich dafür gesorgt, daß er bei Anbruch der neuen Zeitrechnung hinter den Mauern verschwand. Da konnte man mit Personen wie dem Lächler nichts mehr anfangen. Man wollte auch nicht daran erinnert werden, zudem waren die alten Konturen des KGB aufgelöst worden. Zwar gab es noch die alten Kumpane, die sich zu Seilschaften zusammengeschlossen hatten, sie aber ließen die frühere straffe Organisation vermissen. Das konnte für den Killer nur nützlich sein. Onopko erreichte die Gegend des Gorki Parks, ein ziemlich dunkler Flecken, trotz des Verkehrs, der um den Park herumfloß. Er lenkte seine Schritte auf einen Straßenhändler zu, der aus einem Samowar heißen Tee verkaufte. Der Lächler erwarb einen Becher. Er blieb neben dem Verkäufer stehen, trank in kleinen Schlucken und wurde von dem Mann etwas ängstlich beobachtet. Als der Becher leer war, stellte ihn Onopko wieder weg. »Hat gut getan«, lobte er. »Danke.« Onopko ging weiter. Er mußte eine breite Straße überqueren, hinter der die Gegend begann, wo er auch sein Ziel zu finden hoffte. Eine ziemlich
schmale Gasse, die kaum beleuchtet war und einen idealen Tunnel für lichtscheues Gesindel darstellte. Davor fürchtete sich eine Person wie Onopko nicht. Wenn ihn jemand angriff, war es der andere selber schuld, und mit der Sicherheit eines Sieges bewegte er sich an der Häuserzeile auf der rechten Seite entlang. Ab und zu glitt die Zunge aus seinem Mund hervor und beleckte die spröde gewordenen Lippen. Vor seinem Gesicht kondensierte der Atem. Hausnummern waren nicht überall vorhanden. Er sah hin und wieder eine und mußte rechnen, aber der Killer war sicher, das richtige Haus entdeckt zu haben, als er vor der Wand stehenblieb, die bis zur ersten Etage hin einen helleren Anstrich zeigte. Er war noch nicht bis zur Tür vorgegangen und blieb auch weiterhin auf der Hut. Im Schatten der Hauswand schaute er sich um. Es konnte durchaus sein, daß Talin Wachen aufgestellt hatte. Diesem schmierigen Hundesohn, der selbst nicht stärker war als ein Kind, traute er alles zu, aber verdächtige Gestalten gerieten nicht in sein Blickfeld. Alles war und blieb ruhig. Der Lächler war zufrieden. Noch immer nahe der Hauswand ging er so weit vor, bis er die Tür erreicht hatte. Sie lag in einer Nische, war nur schwer zu sehen, und Onopko tauchte in diese Höhle ein. Er war überrascht, wie leicht sich die Tür öffnen ließ. Er schlich in einen stockdunklen Flur, in dem er die Hand nicht vor Augen sehen konnte. Er war nicht allein, er spürte die Menschen! Der Killer war mit besonderen Sinnen ausgerüstet, und die brachten ihm den meisten Menschen gegenüber einen großen Vorteil. Er konnte sich darauf einstellen, um wenig später sein schauspielerisches Talent zu testen. Er spielte den Angetrunkenen, tappte in den stinkenden Flur, und seine Hände streiften über den rauhen Putz der Wand hinweg auf der Suche nach einem Lichtschalter. Licht erwischte ihn auch. Nur war es nicht der Schein einer Deckenleuchte, sondern die beiden Strahlen der Taschenlampen, die von Talins Leibwächter gehalten wurden. Onopko tat überrascht. Er duckte sich sogar und riß schützend die Arme hoch. »He, wen haben wir denn da?« »Keine Ahnung«, sagte ein zweiter. »Bleib nur so stehen, Scheißkerl!« Onopko rührte sich nicht. Seine Trümpfe würde er später ausspielen, er wollte erst einmal abwarten und die anderen in Sicherheit wiegen. »Ja, ja, alles klar. Ich… ich… bin eine arme Sau. Wenn ihr Geld wollt, bei mir ist nichts zu holen.«
»Was wir wollen, werden wir dir schon sagen.« Er hörte am Klang der Stimme, daß zumindest einer der beiden auf ihn zukam, und er richtete sich darauf ein. Zudem bewegte sich der Lampenstrahl im Takt der Schritte, er huschte mal an der Wand entlang, glitt auch über seinen Körper und traf ebenfalls seinen Kopf. »Himmel!« Der Mann blieb stehen. »Was ist denn?« »Schau ihn dir mal an.« »Wieso?« »Komm schon her!« Der zweite Kerl kam. Onopko hörte seine schleichenden Schritte. Dann hatte er seinen Kumpan erreicht, blieb stehen und staunte hörbar. »Verflucht, da ist das Gesicht!« »Nein, ein Kopf.« »Was machen wir mit ihm?« »Moment, warte.« Onopko rechnete mit einer gewaltigen Auseinandersetzung. Bisher schützte er noch immer seinen Kopf, das änderte sich blitzartig, als er die Arme senkte, und zwar so schnell, daß er beide Männer damit überraschte. Zugleich hatte er sich auch gedreht und stand jetzt vor ihnen. Er schlug zu. Mit der rechten Faust, die dem Kerl vorkommen mußte wie ein Stück Beton, erwischte er das Gesicht, und dieser Treffer zerschmetterte einiges darin. Nicht einmal einen leisen Schrei stieß der Mann aus. Blutend sank er nahe der Flurwand zusammen und blieb liegen. Sein Kumpan griff nach der Waffe. Wieder war die Faust schneller. Diesmal hatte Onopko mit der Linken zugeschlagen. In ihr steckte der gleiche Dampf wie in der rechten, und die hatte die Schädelplatte des Mannes erwischt. Vor den Füßen des Lächlers sank er zusammen. Er rührte sich nicht mehr, lag aber im Weg. Deshalb bückte sich der Killer, packte den Mann und legte ihn auf seinen Kumpan. Zufrieden war er allerdings nicht. Er hatte möglichst unauffällig erscheinen wollen, jetzt lagen die beiden Männer zu seinen Füßen. Wenn jemand zufällig das Haus betrat, würde er über sie stolpern. Er mußte sie wegschaffen. Onopka nahm eine Taschenlampe in die Hand, die zweite steckte er in die rechte Manteltasche. Dann begab er sich auf die Suche nach einem Kellereingang. Er fand eine Tür und knirschte vor Wut mit den Zähnen. Nicht etwa weil sie verschlossen war, man hatte sie aus Eisen gebaut, das selbst er mit seinen Fäusten nicht aufbrechen konnte.
Um einen halben Erfolg zu erreichen, schleifte er die beiden Körper zumindest bis in die Nähe der Kellertür, wo sie nicht so schnell entdeckt werden konnten. Halbwegs zufrieden ging er wieder ein Stück zurück. Vor der Treppe blieb er stehen. Er wollte hinaufgehen, als er Stimmen hörte. Eine erkannte er sofort. Talin hatte gesprochen. Die Stimme des anderen Mannes war ihm unbekannt, und der Sprecher schien auch nicht eben ein Freund des anderen zu sein. Die Tür wurde zugeknallt. Der Lächler hörte, daß jemand über die Treppe nach unten eilte. Er hatte längst die Lampe gelöscht, suchte in der Nähe des Kellers Schutz und wartete ab, bis der Besucher durch den Flur ging und die Haustür öffnete. Erst als sie zugefallen war, löste sich Onopko aus seinem Versteck. Jetzt konnte ihn keiner daran hindern, Talin zu besuchen… *** Wladimir Golenkow hatte die Erklärung gehört und zunächst einmal nichts gesagt. Durch seinen Kopf schössen zahlreiche Gedanken, und er fragte sich, warum er nicht einfach aufstand und davonging? Er blieb sitzen. Weshalb? Hatte es an dem Begriff magisch gelegen, der wiederum verbunden war mit dem Wort Killermaschine? Es war möglich, es war überhaupt alles möglich, nicht nur in Rußland, sondern überall auf der Welt, und so blieb er sitzen, seinem Gegenüber in die Augen schauend, in denen er nicht den Anflug einer Lüge entdeckte. Talin hatte es ernst gemeint. »Hast du gehört, mein Freund?« »Du hast laut genug gesprochen!« »Gut. Die nächste Frage liegt auf der Hand. Glaubst du mir auch?« Golenkow schwieg. »Glauben ist so eine Sache, denn glauben heißt nicht wissen. Das solltest du doch am besten…« Talin winkte barsch ab. »Die Sache ist ernst, also red jetzt keinen Unsinn!« »Wie ernst?« »Tödlich!« »Dann möchte ich Einzelheiten wissen. Ich denke, deshalb hast du mich kommen lassen. Du selbst kommst nicht damit zurecht. Du bist also gezwungen, dir Hilfe zu holen. Wenn ich dir tatsächlich helfen soll, muß ich mehr wissen. Also pack aus.« »Ja, Golenkow, ja«, sagte Talin nickend, »das werde ich auch.« »Ich höre!«
Talin fing an, über die alten Zeiten zu sprechen, und Wladimir hörte ein gewisses Bedauern heraus. Talin redete über den Erzfeind im Westen, über dessen Einfluß und natürlich über die Geheimdienste, die stets versuchten, noch mehr Einfluß zu gewinnen. Talin war davon überzeugt, daß der Westen die UdSSR damals hatte überfluten wollen. Beinahe kindlich naiv schaute er Golenkow an. »Und dagegen mußten wir uns doch wehren – oder? Du stimmst mir sicherlich zu, Towaritsch.« »Durch Onopko wehren?« Talin goß Whisky nach, lächelte und murmelte dabei. »Unter anderem, mein Lieber.« »Wie habt ihr das getan?« Talin antwortete mit einer Gegenfrage. »Was ist dir über Onopko bekannt? Wie viele Dinge weißt du von ihm?« »So gut wie nichts.« Talin schlürfte seinen Whisky. »Aber du weißt etwas, entnehme ich deiner Antwort.« »Ich gehörte nicht zu den auserwählten Personen, die man in alles einweihte«, erklärte Golenkow. »Mir waren keine Einzelheiten bekannt. Ich habe nur in der Ferne etwas läuten gehört, daß man sich mit ungewöhnlichen Forschungen beschäftigt, die sich um den Menschen drehen. Dabei fiel der Begriff Züchtung.« Der kleine Mann lachte wie ein altes Waschweib. »Ja, ja, gut. Züchtung kommt der Sache schon näher.« »Gene?« Talin schüttelte den Kopf. »Nicht direkt. Es sei denn, du verbindest den Begriff Gene mit dem der Magie.« »Geht das denn?« Wladimir bekam ein breites Grinsen geschenkt. »Im Prinzip schon, denn wir haben uns auf alte Kräfte oder Dinge besonnen, die schon immer innerhalb der Menschheit präsent waren. Magie«, flüsterte er, als hätte er Furcht vor einem Zuhörer. »Wir haben uns mit Magie beschäftigt, und wir haben auch die entsprechenden Personen gefunden, die sich damit auskennen. Es ist jemandem gelungen, an Onopko herumzuexperimentieren. Magie und Wissenschaft trafen sich, und sie schlugen eine Brücke. Es war einfach wunderbar. Ich selbst war nicht dabei, aber ich koordinierte. Jedenfalls entstand Onopko, eine dämonische Kampfmaschine. Ein Mensch mit einem fremden Gehirn.« Golenkow schauderte etwas, als er fragte: »Welches Gehirn habt ihr denn eingepflanzt?« »Das eines Dämons.« Schweigen. Bedrückend für Wladimir, gespannt bei Talin. »Kennst du Einzelheiten?« »Nein.« »Warum nicht?«
Talin hob die Schultern. »Ich bin nicht eingeweiht worden. Ich befand mich auch nicht im inneren Zirkel. Diese Arbeit ist von anderen übernommen worden, die man durchaus als Experten bezeichnen kann. Jedenfalls haben sie Onopko geschaffen, und er wäre wirklich eine ausgezeichnete Waffe gewesen, wenn nicht«, Talin schnappte nach Luft, »ja, wenn nicht die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen dazwischengekommen wären. Plötzlich taute das Eis zwischen den Großmächten. Die Welt erhielt ein anderes Gesicht, auch die UdSSR verschwand, und die Strukturen des KGB lösten sich auf.« »War Onopko überflüssig?« »In gewisser Hinsicht schon.« »Weiter!« »Was soll ich sagen?« Talin grinste wieder. »Er war da. Man wollte ihn auch nicht töten. Das wäre so gewesen, als hättest du ein Kunstwerk zerstört, auf das du sehr stolz bist. Also überlegte man sich etwas anderes. Man schaffte ihn in einen Gulag. Dort wurde er hinter den Mauern versteckt. Er war gewissermaßen lebendig begraben und wurde auch vergessen, bis jemand auf die Idee kam, daß er immer noch lebte. Da wandte man sich an mich, denn ich war noch greifbar. Wir sprachen von einer Entsorgung, das heißt, Onopko mußte verschwinden. Möglichst schnell und möglichst leise. In der Nähe des Gulags gibt es Sümpfe. Es erschien uns am wirkungsvollsten, Onopko in einen Sumpf zu werfen, denn das Moor frißt alles.« »Das gelang nicht?« »Nein.« »Onopko floh.« »Muß man sagen. Der Hubschrauber und der Pilot wurden gefunden. Der Mann war tot. Onopko hatte ihm das Genick gebrochen. Von seinen Aufpassern sahen wir nichts. Wir nehmen an, daß er sie in den Sumpf geworfen hat. Er aber ist seitdem verschwunden. Wir nehmen an, daß er sich mit der Transsibirischen Eisenbahn abgesetzt hat. Eine Haltestation war nicht sehr weit entfernt. Wir nehmen an, daß er dort eingestiegen ist, um zu verschwinden.« »Wo könnte er sein?« Talin hob die Schultern. »Keiner weiß etwas Genaues. Vielleicht hier, vielleicht in St. Petersburg, man wird sehen.« Wladimir schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Talin, das ist mir zu wenig. Du hast mich herkommen lassen, weil du Angst hast. Auch deine beiden Leibwächter werden dir nicht helfen können, diese Angst zu überwinden. Ich denke nicht, daß sie in der Lage sind, Onopko zu stoppen. Aber hast du auch einen Grund, um Angst zu empfinden?« Er hob die Schultern. »Haben andere Menschen Gründe?« »Man muß es von seiner Warte aus sehen.«
»Und wie sieht das aus?« »Ganz einfach, Towaritsch. Er wird sich an den Leuten rächen wollen, die ihn geschaffen haben und dann vernichten wollten. Das ist genau die Schiene, auf der er fährt. Deshalb hast du mich kommen lassen. Du willst, daß ich Onopko stoppe.« Talin streckte den Finger aus. »Du mußt ihn stoppen, mein Lieber.« »Warum?« »Er wird durchdrehen.« »Bei mir?« Talin schüttelte den Kopf. »Vergiß nicht, daß ihm das Gehirn eines Dämons eingepflanzt wurde. Er reagierte so, er hat…« »Hör mal zu, Talin«, unterbrach Wladimir den Mann. »Wieso hast du dich eigentlich an mich gewandt? Ich habe mit diesen Dingen überhaupt nichts zu tun. Ich bin nicht Mitglied dieses Zirkels gewesen. Löffelt ihr die Suppe aus, aber laßt mich in Ruhe!« »Du bist der Beste!« »Soll ich jetzt lachen oder mich geschmeichelt fühlen?« »Das sollst du wirklich. Wir haben dich damals schon tun und machen lassen, was du wolltest, obwohl es unter der früheren Regierung ja keine Dämonen oder ahnliches Zeug gab. Erinnere dich, daß wir dir keine großen Steine in den Weg gelegt haben. Wir haben dich nicht so unterstützt, wie es vielleicht hätte sein sollen, aber du konntest dich in der UdSSR bewegen, und deine Freunde und Helfer ebenfalls. Ich erwarte keine Dankbarkeit, aber es wäre auch in deinem Interesse und in dem anderer Menschen, wenn du ihn stoppst.« Wladimir lächelte, als er fragte: »Von welchen anderen Personen sprichst du eigentlich? Von denen, die bei Onopkos Entstehung mitgemischt haben?« »Sicher.« »Sie befinden sich also in Gefahr. Du rechnest damit, daß Onopko seine Rachetour beginnen wird?« »Das liegt auf der Hand.« »Du zitterst jetzt schon.« Talin zeigte ein verbissenes Grinsen. »Was heißt zittern? Daß mir nicht gerade wohl zumute ist, kannst du dir vorstellen.« »Das glaube ich auch. Wer sind die anderen, und wo kann ich sie finden?« Talin senkte den Kopf. »Da ist ein gewisses Problem«, gab er zu. »Halten sie sich versteckt?« »Nein, auf keinen Fall. Oder man kann es so nicht nennen. Es gibt Menschen, die haben die Wende genutzt und haben sich abwerben lassen.« »Was heißt das?«
»Sie gingen ins Ausland. Du darfst nicht vergessen, daß sie in ihrem Beruf allesamt Spezialisten sind.« Talin spielte mit seinen kurzen Fingern, auf denen dunkle Härchen wuchsen. »Die Staaten und England lockten. Man warb sie ab. Sie erhielten Verträge von Firmen, und ich habe mir sagen lassen, daß zwei von ihnen sogar in den USA lehren.« Talin griff in die rechte Innentasche seines Jacketts und holte einen neutralen Briefumschlag hervor. »Ich habe dir einige Namen aufgeschrieben, die in Gefahr sein könnten. Onopko wird nichts vergessen haben, er wird sich daranmachen wollen, sie zu vernichten, und ich glaube nicht, daß ihn die Breite eines Ozeans wird stoppen können. In seinem Hirn denkt er anders. Du darfst nicht vergessen, daß es ausgetauscht wurde. Er lebt jetzt auf eine ungewöhnliche Art und Weise. Nimm den Umschlag, schau dir die Liste in Ruhe an, und dann reden wir weiter.« Wladimir zögerte noch. Es paßte ihm nicht, daß er für Talin und gewissermaßen noch für das alte System arbeiten sollte. Er hätte es auch nie getan, wenn es nicht einen Prototypen wie Onopko gegeben hätte, einen gefährlichen Killer, der sicherlich nicht nur die Menschen mordete, die auf seiner Liste standen. Drei Leichen gingen bereits auf sein Konto, und Wladimir wollte nicht, daß es noch mehr wurden. Das war der Grund, weshalb er nach dem Brief griff und ihn ungeöffnet ebenfalls in seiner Innentasche verschwinden ließ. Talin atmete auf. Er tupfte endlich die Schweißperlen von seiner Stirn und nickte. »Ich sage danke, mein Freund.« »Laß das. Ich tue es nicht deinetwegen, auch nicht wegen der Leute, die damals die Experimente durchgeführt haben. Es geht mir einzig und allein um die unschuldigen Menschen, die Onopko schon gekillt hat und die er noch killen wird, möglicherweise.« Talin winkte ab. »Mir ist es egal. Hauptsache, er wird vernichtet, Towaritsch.« »Und du glaubst wirklich, daß ich es schaffe?« »Wenn nicht du, wer dann?« »So gut bin ich nicht.« Talin verengte die Augen, so daß sie wie Schlitze aussahen. »Ich weiß, daß du Freunde hast.« »Aha. Denkst du dabei an bestimmte?« »Klar«, flüsterte der andere. »Freunde, die nicht hier in Rußland leben, sondern in anderen Ländern. Existiert da nicht ein gewisser John Sinclair, mit dem du eng zusammengearbeitet hast?« »Ich kann es nicht nicht bestreiten.« »Eben. Und dieser Sinclair lebt in London. Aber es gibt jemand, der hat sich nach England abgesetzt. Einer der Männer, die an Onopkos Entstehung beteiligt gewesen waren. Wie gefällt dir das?« »Gar nicht.«
»Dir sind keine Grenzen gesetzt. Ich denke schon, daß du ins Ausland mußt, wenn du ihn stellen willst.« Wladimir überlegte. Im Prinzip hatte Talin leider recht. Er versuchte auch, sich in die Lage des Killers zu versetzen, und er konnte sich vorstellen, daß er ebenfalls versuchen würde, das Land zu verlassen. Trotzdem mußte er sich an die Regeln halten, und deshalb wollte er wissen, ob man so etwas wie eine Spur von Onopko gefunden hatte. Talin schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht geschehen. Wir haben eine stille Fahndung ausgelöst, aber was bedeutet das schon, nachdem die alten Strukturen zerschlagen wurden? Nichts mehr, wir haben nicht die Macht, die nötig ist, um…« Er winkte ab. »Jedenfalls haben wir ihn nicht entdecken können.« Golenkow tippte gegen sein Jackett. »Und an die Namen dieser Personen wollt ihr euch offiziell nicht erinnern, denke ich.« »Sie sind zu weit weg.« »Bist du der einzige, der noch in Moskau geblieben ist?« »Wahrscheinlich, doch ich gehörte nicht zum inneren Zirkel. Wie schon erwähnt, ich war nur das Bindeglied. Ich mußte meine Vorgesetzten über den Ablauf der Fortschritte informieren. Direkt dabei bin ich nicht gewesen.« »Trotzdem hast du Angst?« »Ich bin greifbar«, gab Talin zu. Wladimir nickte. »Altlasten«, sagte er und gab sich keine Mühe, den Triumph in seiner Stimme zu unterdrücken. »Altlasten wiegen oft sehr schwer. Ich bin gespannt, wie du sie überstehen wirst, wenn überhaupt.« »Das packe ich schon!« flüsterte er. »Mit Alkohol?« Talin winkte ab. »Hör zu, Towaritsch. Tu deinen Job, für dich, für andere und meinetwegen für das neue Rußland. Aber Onopko muß gestoppt werden. Er ist eine dämonische Altlast der UdSSR und mit das Gefährlichste, was zurückbleiben konnte. Daran solltest du denken, wenn du dich auf den Weg machst.« Golenkow schaute Talin an. »Ich denke daran, mein Lieber. Noch eine Frage.« »Bitte.« »Hast du keine Angst davor, daß man dich als Altlast unter Umständen entsorgen könnte?« Talin schwieg. *** Im Flur atmete Wladimir Golenkow tief durch. Er mußte zur Ruhe kommen. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken. Man hatte ihn mit Informationen gefüttert über einen Killer, von dem er bis vor einer Stunde noch wenig gewußt hatte. Jetzt war er informiert, und er zeigte ein hartes Grinsen, wobei er gleichzeitig den Kopf schüttelte, denn er mußte daran
denken, wie standhaft sich die offizielle Regierung damals geweigert hatte, die Existenz von Dämonen, Geistern oder dämonischen Wesen anzuerkennen. Dabei hatten Wissenschaftler parapsychologische Forschungen durchgeführt. Immer und immer wieder waren in den geheimen Labors Versuche mit Menschen und Tieren unternommen worden, und auf eine ähnliche Art und Weise mußte auch der Killer Onopko entstanden sein. Er bildete tatsächlich eine Gefahr, und nur weil Wladimir ein verantwortungsvoller Mensch war, hatte er sich entschlossen, in den Fall einzusteigen. Er würde Onopko jagen, aber nicht wegen der Vergangenheit, er wollte nur nicht, daß weitere Menschen ihr Leben verloren und diese Taten auch noch Kreise im Ausland zogen, wie in England, wo sein Freund John Sinclair mit großen Problemen zu kämpfen hatte. Im Haus war es ruhig. Von den beiden Leibwächtern sah Wladimir nichts. Vor ihm malte sich der Schatten der Treppe ab. Das Licht brannte nicht, und Wladimir sah auch keinen Grund, es einzuschalten. Im Dunkeln ging er die Stufen hinab, hielt sich dabei am Geländer fest. Er rechnete damit, daß ihn die beiden Typen im Hausflur unten erwarten würden. Seltsamerweise war das nicht der Fall. Niemand hielt an der Tür Wache, als Wladimir das Licht einschaltete. Das wunderte ihn, als er auf halber Strecke zwischen Treppe und Tür stoppte. Ihn überkam ein bedrückendes Gefühl. Es griff nach ihm wie eine Klammer, die sein Herz zusammendrücken wollte. Im Kopf spürte er das Hämmern hinter den Schläfen, er räusperte sich, aber auch auf dieses Geräusch hin erhielt er keine Antwort. Etwas stimmte nicht. Wladimir drehte sich auf der Stelle wie jemand, der nach Dingen suchte, die er glaubte, übersehen zu haben. Es war vorbei, es gab einfach nichts, was ihm aufgefallen wäre. Die schmutzigen Wände des Flurs atmeten nicht nur den Geruch aus, sondern auch die Stille. Es hatte sich nichts verändert, und trotzdem waren einige Dinge anders geworden. Damit kam er nicht zurecht. John Sinclair hatte des öfteren von seinem sensiblen Gefühl für Gefahr gesprochen, das ihn in bestimmten Dingen überkommen hatte. Zum erstenmal spürte Wladimir etwas Ähnliches, obwohl niemand zu sehen war. Er wäre sich lächerlich vorgekommen, hätte er versucht, nach jemandem zu rufen, deshalb ließ er es bleiben und setzte seinen Weg fort. Bevor er die Tür öffnete, warf er einen Blick zurück. Der Flur und das Haus kamen ihm plötzlich vor wie eine große Bühne, in deren Hintergrund die Akteure auf den Auftritt lauerten.
Ihm zeigten sie sich nicht, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als das Haus zu verlassen. Wieder betrat der ehemalige KGB-Mann die enge Straße. Noch immer stand die Finsternis zwischen den Häusern wie dichte Watte. Sie klebte an den Wänden, sie drückte gegen die Fenster und Türen, als wollte sie alles öffnen. Hinter ihm fiel die Haustür zu. Er stand auf dem Gehsteig. Wladimir hätte froh sein müssen, diese nicht eben vorzeigbare Gasse verlassen zu können. Er tat es nicht. Seine Schritte waren langsam und abwartend. Zwei vor, drei zurück, so sah es aus, als er sich in der Dunkelheit bewegte und dorthin ging, wo er hergekommen war. Schon kurze Zeit später lag das Haus hinter ihm, und noch einmal drehte er sich um. Sein Standort war gut. Er konnte zur ersten Etage schauen und das Arbeitszimmer sehen, hinter dessen Scheibe Licht brannte. Sein Blick klebte an der Scheibe fest. Den genauen Grund wußte er auch nicht, aber etwas hielt ihn zurück. Da sah er den Schatten. Talin? Nein und ja. Noch ein zweiter erschien. Groß, wuchtig, zudem bizarr. Und dieser große Schatten beugte sich über den kleineren, der verzweifelt versuchte, dem anderen zu entkommen. Es gelang ihm nicht. Der kleine Schatten wirbelte auf das Fenster zu. Einen Moment später brach die Scheibe. Die Schreie des kleinen Mannes mischten sich in das Klirren des Glases, als Talin kopfüber in die Tiefe stürzte und mit einem harten und dennoch klatschenden Laut auf das Pflaster schlug… *** Als der Besucher die Tür zu Talins Wohnung hinter sich geschlossen hatte, blieb der kleine Mann noch hinter seinem Schreibtisch sitzen und lauschte seinem keuchenden Atem. Er war wieder in Schweiß gebadet, und er mußte zugeben, daß er selten zuvor in seinem Leben eine derartige Angst verspürt hatte. Er war nie ein Held gewesen, aber ein Mensch, der nur wenig Rücksicht auf andere nahm, und er gab auch zu, daß er die Schuld am Tod einiger Menschen trug, indirekt allerdings, was sein Gewissen nie groß belastet hatte. An diesem Tag war es anders. Da ging es einzig und allein um ihn. Diesmal stand er auf der Liste, und er ging davon aus, daß Onopko ihn jagen würde. Er konnte sich sogar vorstellen, daß er oben auf der Todesliste des Killers stand, schließlich war er greifbar, da er sich in Moskau aufhielt. Und auch seine
Leibwächter würden ihm kaum helfen können, denn Talin wußte genau, wie gefährlich, brutal und gnadenlos Onopko war, der wegen seines Grinsens der Lächler genannt wurde. Alles mußte schnell gehen. Er hoffte, daß Golenkow es schaffte. Dieser Mann verfügte über eine große Erfahrung, er kannte sich nicht nur bei normalen Gangstern aus, er wußte auch, daß… Talins Gedanken stockten. Er hatte etwas gehört. Für wenige Sekunden blieb er unbeweglich auf seinem Schreibtischstuhl sitzen, hatte aber die Arme vorgestreckt und die Hände flach auf die Platte gelegt. Da war etwas. Geräusche. Er erhob sich. Nichts geschah. Talin atmete schnaufend. Wieder wischte er über seine Stirn und verfluchte gleichzeitig seine Nerven, die ihm einen Streich gespielt hatten. Zumindest zog er diese Möglichkeit in Betracht. Warten, abwarten… Nichts passierte. Talin holte tief Luft. Dann erst kam Bewegung in ihn. Er umging seinen Schreibtisch und näherte sich der Tür. Plötzlich wollte er genau wissen, ob er sich geirrt hatte oder nicht. Er mußte es einfach tun, es drängte ihn, es war wie eine Peitsche, die ihn vorantrieb. Er ging sogar schnell auf die Tür zu – und erreichte sie nicht mehr. Bevor er nach der alten Klinke fassen konnte, rammte jemand die Tür von außen auf, und sie wuchtete ihm entgegen. Talin konnte nicht mehr ausweichen. Das harte Holz erwischte seine Hände, drückte die Arme zurück und prallte – zwar etwas gedämpft – gegen seinen Kopf. Die Wucht war trotzdem stark genug, um ihn zurückzutreiben. Er fand sich an seinem Schreibtisch wieder, an dem er sich abstützte. Den Besucherstuhl hatte er bei seinem Gang zurück umgeworfen, die Kopfschmerzen waren so stark, daß ihm die Augen tränten und er nicht genau erkennen konnte, wer da sein Büro betrat. Der kleine Mann sah nur einen wuchtigen, kompakten Schatten, der ihm wie ein Riese vorkam. In der Tat betrat der Lächler geduckt das Büro. Einen großen Schritt machte er nach vorn, geriet so besser in das Licht, und auch Talins Blick klärte sich. Er sah ihn. Und sein Herzschlag trommelte plötzlich in der Brust. Er konzentrierte sich nicht auf den kantigen Körper, sondern einzig und allein auf das Gesicht, das für ihn ein mächtiger Alptraum war, aus dem er nie wieder erwachen würde. Er sah den Kopf, er sah die Narbe, die wie ein roter, querlaufender Faden von einer Stirnseite zur anderen lief, und er sah darüber ein schauriges Bild.
Die Stirn des Killers war zu einer Leinwand geworden oder durchsichtig, denn hinter ihr pulsierte dickes, wurm- oder darmartiges Gebilde, etwas Unheimliches, Fremdes, eben das Gehirn des Dämons, das dem Menschen eingepflanzt worden war. Talin schüttelte sich. Die Angst war wie eine frostige Kälte, die seine Glieder eingefroren hatte. Onopko zog den Mund in die Breite, und damit zeigte er sein widerliches und häßliches Grinsen, dem er seinen Spitznamen Lächler verdankte. Wenn er lächelte, tötete er! Talin glaubte, diesen Satz einmal gehört zu haben. Er hatte ihn auch zur Kenntnis genommen, war sogar froh darüber, aber nicht jetzt, wo er betroffen war. »Hau ab!« keuchte er und wedelte mit den kurzen Armen. »Hau ab, verdammt! Geh zu den anderen. Wir haben nichts miteinander zu tun. Ich habe mit dir nichts zu schaffen!« Der Lächler schüttelte den Kopf. Sein Grinsen behielt er bei, und er machte den nächsten Schritt. Da erst kam auch Bewegung in Talin. Dieser Schritt hatte ihn aus seiner Lethargie gerissen. Seine Hand griff wahllos zu, er bekam noch einen alten Locher zwischen die Finger und schleuderte ihn auf den Lächler zu. Lieber hätte er auf ihn geschossen, doch seine Waffe lag in der Schreibtischschublade, er kam so schnell nicht an sie heran. Der Locher traf. Er klatschte in das grinsende Gesicht des Lächlers, den das nicht störte. Für ihn war er kein Hindernis. Ein Mückenstich hätte die gleichen Folgen gehabt. Onopko ging weiter. Sein Grinsen war brutal geworden. Der nächste Schritt. Talin wieselte davon. Er wollte zur Tür, doch Onopko war schneller und wuchtete ihm den ausgestreckten Arm entgegen. Talin federte davon, er flog zurück und taumelte mit rudernden Armen auf die Fensterscheibe zu, gefolgt von Onopko. Der Killer erwischte Talin noch vor der Scheibe. Er beugte sich über ihn, und es sah so aus, als wäre ein monströser Vampir dabei, sich seine Beute zu holen. Talin schrie nicht, seine Kehle war zu. Er versuchte auch nicht mehr zu entwischen, er riß nur die Arme hoch und wurde plötzlich von zwei harten Händen ergriffen. Sie hoben ihn an und schleuderten ihn zurück. Hinter mir ist die Scheibe, dachte Talin noch. Beim letzten Wort prallte er mit ihr zusammen. Er hörte das schrille Klirren, er spürte, wie etwas in sein Gesicht und auch in seinen Hals
schnitt. Er schmeckte Blut, dann schrie er und fiel wie ein schwerer Stein in die Tiefe… *** Wladimir Golenkow hatte Talin fallen und aufschlagen sehen, und er war für einen Augenblick entsetzt. Hinzu kam die Überraschung, mit Onopko konfrontiert zu werden, denn er glaubte fest daran, daß es sich bei dem großen Schatten um keinen anderen gehandelt hatte als eben um diesen Killer. Er war also schon da – Talin hatte recht behalten –, und er begann seine Mordserie. Und bei Talin hatte er angefangen. Golenkow löste sich aus seiner Starre. Er schaffte es jetzt, den Blick in die Höhe zu richten, wo das Fenster zwar zerbrochen war, im Raum aber noch immer das Licht brannte und sich deshalb dieser Onopoko so deutlich abmalte. Das Licht erwischte ihn von der Rückseite her, so daß die Vorderfront seines Körpers ziemlich düster blieb und er mehr einem kompakten Schatten glich. Viel konnte Wladimr nicht von ihm erkennen. Aber das starre, kantige Gesicht war schon zu sehen, und auch die ungewöhnliche dunkelrote Stirn, hinter der sich das Gehirn abmalte, das ihm von irgendwelchen Wissenschaftlern eingepflanzt worden war. Unglaublich… Wladimir zog seine Waffe. In diesem Augenblick wich der Killer zurück. Er tauchte in das Zimmer ein, es war kein Geräusch zu hören. Für den Mann auf der Straße sah es aus, als würde Onopko schweben. Golenkow wollte ihn haben. Er sollte ihm auf keinen Fall entwischen, die Chance war auf der einen Seite günstig, auf der anderen aber mußte Wladimir daran denken, wie gefährlich diese Person war. Und er stand allein gegen ihn. Von den Leibwächtern konnte er keine Hilfe mehr erwarten. Er rechnete sogar mit ihrem Tod, denn der Lächler ging bekanntlich über Leichen. Der Russe hatte den Hauseingang schnell erreicht. Im Flur war das Licht erloschen, er schaltete es wieder ein und ging zur ersten Etage hoch. Die Pistole hielt er in der rechten Hand. Sie war mit Neun-MillimeterGeschossen geladen, die streckten auch einen Elefanten nieder, wenn es sein mußte. Die Wohnungstür war nicht geschlossen. Wladimir wuchtete sie mit einem Tritt ganz auf, dann drängte er sich über die Schwelle, den rechten Arm angehoben, wobei die Mündung der Waffe gegen die Decke wies. Er war bereit, die Pistole sofort zu senken und auf ein schnell erscheinendes Ziel zu schießen, das aber ließ sich nicht blicken. Schon
beim ersten Hinschauen sah er, daß die Wohnung leer war. Niemand hielt sich in seiner Umgebung auf. Sein Ziel war das Büro. Da die Tür offenstand, überblickte er beinahe den gesamten Raum. Aus seiner Sicht war er leer, kein Killer stand am Fenster oder in der Nähe des Schreibtisches. Natürlich gab es einen toten Winkel, an den dachte Wladimir auch, als er sich blitzschnell über die Schwelle katapultierte, sich sofort drehte und bereit war, auf ein Ziel zu schießen. Es gab keines. Onopko war verschwunden! Scharf atmete der Russe aus. Er spürte den Durchzug, in dessen Zentrum er stand, und überlegte, wohin dieser Lächler geflohen sein könnte. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Er hatte aus dem Fenster springen oder weiter nach oben flüchten können. Für eines mußte sich Wladimir entscheiden. Er schaute durch das zerstörte Fenster nach draußen. Auf der Straße war Talin von einigen Gestalten umringt, und Wladimir hörte den Kommentar eines gebückt stehenden Mannes. »Verdammt, er ist tot!« In der Stimme war nicht die Spur eines Bedauerns mitgeklungen, typisch für diese neue Welt. Hier ging es nur darum, sich durchzusetzen, hier war sich jeder selbst der nächste. Golenkow zog sich wieder zurück. Er wollte nicht unbedingt von der Straße aus gesehen werden. In den anderen Räumen der Wohnung schaute er gar nicht erst nach, sondern lief in den Flur und nahm die Treppe nach oben. Sehr bald wußte er auch, weshalb sich keine Menschen auf der Etage hatten blicken lassen. In den oberen Etagen wohnte niemand mehr. Die Räume standen leer, und es waren nicht mal alle Türen geschlossen worden. Man war dabei, die Buden zu renovieren. Auf dem Flur lagen Trümmer, alte Holzbalken und Säcke mit Sand. Die letzte Treppe war sehr eng. Sie führte auf eine alte Bohlentür zu, die nicht geschlossen war. Auf halber Strecke spürte Golenkow den Wind, der in sein Gesicht fuhr. Er rechnete damit, bald das Freie zu erreichen, und behielt recht, denn jenseits der Tür lag ein Speicher, umhüllt von der Kälte der Nacht, denn vom Dach war nichts mehr zu sehen. Da stand nur noch das Gebälk, die Pfannen waren verschwunden, aber das neue Gerüst hatte man schon aufgesetzt. Das Holz roch noch frisch. Auf dem Boden lagen Späne. In einer Ecke sah es aus wie in einer Werkstatt. Golenkow leuchtete sie ab. Er sah eine Säge und weitere Balken, er sah eine Kiste mit langen Nägeln und dicke Arbeitsschuhe. Nur den Killer entdeckte er nicht. Bis zum Abgemauerten waren es nur wenige Schritte. Golenkow blieb davor stehen und schaute in die Tiefe. Es war nicht die Straßenseite, in die er hineinblickte. Er schaute zur anderen Seite hin, wo es einen Hinterhof gab und er auch die Dächer
anderer Häuser wie dunkle, kleine Plateaus liegen sah, denn nicht alle hatten eine spitze Form. Auf einem der Flachdächer bewegte sich jemand. Er lief nicht mal schnell und hatte Golenkow den Rücken zugewandt. Das mußte Onopko sein, es gab keine andere Möglichkeit, denn Wladimir erkannte ihn an seiner kompakten Gestalt. Er war schon ziemlich weit entfernt, doch nicht zu weit, und der Russe riskierte es. Was Onopko konnte, das würde er auch schaffen. Das Flachdach, mit einem Sprung würde er es erreichen. Der Blick über die Gegend hinweg interessierte ihn nicht. Er wollte dem anderen auf den Fersen bleiben. Er schob sich zwischen zwei Dachbalken hindurch auf den Rand des Abgemauerten, schaute noch einmal nach – und sprang. Etwas hart, aber durchaus sicher prallte er auf. Wladimir war nur kurz in die Knie gegangen, kam wieder hoch und konzentrierte sich auf den weglaufenden Killer. Er nahm die Verfolgung mit raschen Schritten auf. Onopko hatte langst ein anderes Dach erreicht, das etwas höher lag als das, auf dem sich Wladimir bewegte. Und er lief auf ein weiteres Dach zu, das ihm wie ein dunkler, schräg laufender Teppich entgegenstarrte. Es war ein normales Schrägdach, er würde seine Schwierigkeiten bekommen, wenn er dort hochkletterte. Das gab Wladimir Hoffnung. Geduckt eilte er weiter. Hin und wieder erwischte ihn der Rauch, der aus zahlreichen Schornsteinöffnungen quoll und so etwas wie einen stinkenden Nebel bildete, wenn der Wind ihn in die entsprechende Richtung wehte. Ein paarmal wischte Golenkow über seine Augen. Er ärgerte sich, daß der Rauch die Sicht beeinträchtigte. Zum Glück nicht sehr lange. Bei freier Sicht entdeckte er den Killer wieder – und blieb vor Überraschung stehen. Der Lächler hatte es tatsächlich geschafft, das schräge Dach zu erreichen. Er war gesprungen, hatte sich an der Dachrinne festgehalten und sich dann in die Höhe geschwungen, die Rinne dabei als Reckstange benutzend. Jetzt befand er sich auf der Schräge. Auf allen vieren näherte er sich dem First, wobei er durch die Lücke zwischen zwei kleinen, vorstehenden Gauben huschen mußte. So dachte Wladimir und irrte sich. Vor der linken Gaube stoppte Onopko. Mit einer Handbewegung gelang es ihm, das Fenster aufzudrücken und sich durch die Öffnung zu schieben. Wenig später war er verschwunden! Wladimir Golenkow stand da, hielt seine Waffe fest und kam sich vor wie jemand, der an der Nase herumgeführt worden war. Es hatte keinen
Sinn mehr, den Killer zu verfolgen. Er war zu weit von ihm entfernt, zudem bot das andere Haus zahlreiche Fluchtwege und auch Möglichkeiten, sich ungesehen abzusetzen. Vorbei. Er hatte verloren. »Scheiße!« flüsterte Golenkow und sprach damit aus, was er in diesem Moment dachte. *** Nicht einmal acht Minuten später hatte er wieder die Straße vor dem Haus des Toten erreicht. Talin war auf den Gehsteig gezerrt worden. Noch immer umstanden ihn einige Menschen, unter ihnen befanden sich auch junge Frauen, die aussahen, als würden sie dem ältesten Gewerbe der Welt im nahen Gorki Park nachgehen. Sie waren zu dünn angezogen, froren und flüsterten miteinander, wobei die Atemwolken vor ihren Lippen niemals abrissen. Golenkow trafen kalte Blicke, als er sich bückte. Im Schein seiner Lampe schaute er sich den Toten genauer an. Er entdeckte auch die Glasscherbe in seinem Gesicht. Daran war er wohl nicht gestorben. Er war jedoch mit dem Kopf aufgeschlagen und hatte einen Schädelbruch erlitten. Wladimir richtete sich wieder auf. »Kennt einer von euch den Mann?« Kopfschütteln. Der Russe lächelte eisig. Die Reaktion hätte er voraussehen müssen. In dieser Gegend kannte, wenn es darauf ankam, der eine den anderen nicht. Das war für die Gesundheit besser, und die Umstehenden hatten Wladimir sehr wohl als einen Polizisten eingestuft. »Hat jemand die Polizei benachrichtigt?« Auf diese Frage gab es nur ein Grinsen als Antwort. »Gut, dann werde ich es tun.« Golenkow ging zurück in das Haus, denn ihm war eingefallen, daß sich in Talins Zimmer ein Telefon befand. Er hoffte, daß es in Ordnung war, um von dort die Kollegen anrufen zu können. Als er das Haus betreten hatte, fielen ihm die beiden Leibwächter ein. Von ihnen hatte er nichts gesehen. Er suchte sie im Flur und fand sie nahe der Tür zum Keller leblos übereinander liegen. Bei diesem Anblick durchfuhr ihn ein Stich wie mit einer glühenden Nadel geführt. Er hatte bisher nur von Onopkos Brutalität gehört, nun war er selbst damit konfrontiert worden, und als er die beiden Männer untersuchte, stellte er fest, daß sie nicht mehr lebten. Im nachhinein kriegte er Herzklopfen. Er stellte sich die Frage, wie der Kampf wohl zwischen ihnen beiden ausgegangen wäre, wenn er den anderen hätte stellen können. Möglicherweise nicht zu seinen Gunsten, denn einen Gegner wie Onopko hatte er noch nie erlebt. Das war auch kein Vampir, Werwolf
oder Zombie, er war jemand, der nicht nur so aussah wie ein Mensch, der auch so handelte, allerdings von einem Gehirn getrieben, das einmal einem Dämon gehört hatte. Jedenfalls war ihm das erzählt worden, und er selbst hatte auch die rote Stirn dieses mordenden Monstrums gesehen. Das Telefon war nicht vom Schreibtisch gerutscht. Im Zimmer war es hell genug, um Wladimir die Sicht auf die altmodische Drehscheibe zu ermöglichen. Er wählte die entsprechende Nummer und hörte die müde klingende Stimme eines Kollegen. Golenkow gab seine Meldung durch. »Schon wieder ein Toter?« »Kommen Sie so schnell wie möglich.« »Ja, ja, wir…« »Ihr Name, Ihr genauer Dienstgrad, bitte…?« »Gut, wir sind gleich da.« Der Mann legte auf, und auch Wladimir drückte den Hörer auf die Gabel. Seine Handfläche hatte auf dem Kunststoff einen Schweißfilm hinterlassen. Tief atmete er ein und aus. Für einen Moment kam er sich völlig hilflos vor und preßte seine Hand gegen die Stirn. Talin hatte von einer Todesliste gesprochen, und er hatte sich nicht geirrt. Er war das erste Opfer dieser Liste gewesen, die in Wladimirs Tasche steckte, und die plötzlich eine gewaltige Bedeutung für ihn bekommen hatte. Die anderen Männer hatten Rußland den Rücken gekehrt, waren in die Staaten oder auch nach England gegangen. Die Insel lag näher als Amerika, und Wladimir ging davon aus, daß Onopko sie als erste besuchen würde. Gut oder schlecht? Golenkow tippte eher auf gut, denn in England lebten zwei Männer, die sich mit dem Killer beschäftigen würden, wenn er sie darum bat. Es waren John Sinclair und Suko. Er schaute auf die Uhr. Drei Stunden mußte er zurückrechnen. Das reichte. Und diesmal lächelte er hart, als er den Hörer des Telefons in die Hand nahm… Lady Sarah Goldwyn hatte sich für einige Tage in eine Klinik zurückgezogen, aber nicht, weil sie krank war, nein, sie wollte sich mal durchschecken lassen und auch etwas für ihre Haut tun, wie sie allen, die es hören oder nicht hören wollten, erzählt hatte. Unter anderem auch Jane Collins und mir, und sie hatte uns noch augenzwinkernd eine sturmfreie Bude gewünscht, was wir beide auch genießen wollten. Zumindest am zweiten Tag der Abwesenheit, denn da hatte Jane vorgeschlagen, für uns zu kochen.
»Nur für uns beide.« »Kannst du das denn?« hatte ich gefragt. Die Reaktion darauf war nicht nur ein scharfer Blick gewesen, sondern auch ein leichter Tritt gegen die Wade, und Jane hatte dabei gefragt, wie ich auf so etwas kam. »Ganz einfach.« »Dann sag es.« Vor der Antwort nahm ich sicherheitshalber Abstand. »Ich mußte unwillkürlich an die Blondinenwitze denken…« »Vergiß es!« rief sie und streifte schon einen Schuh ab. Ich verzog mich blitzschnell aus meinem Büro, wo mich Jane besucht und mir den Vorschlag unterbreitet hatte. Um es kurz zu machen. Wir einigten uns trotzdem auf den folgenden Abend, und Jane hatte sich wirklich Mühe gegeben, nicht nur mit der Tischdekoration. Es brannten zwei Kerzen, die Decke war zum Geschirr abgestimmt, das Silber der Bestecke blinkte wie neu, die Servietten waren blütenweiß, und es drang auch leise Musik aus den Lautsprechern, die uns einlullte, denn die klassischen Melodien wurden von einem kleinen Orchester etwas verfremdet gespielt und klangen eigentlich zu süßlich, was jedoch keinen von uns störte. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß Jane dieses Essen tatsächlich so ernst und feierlich nahm. Ich war nicht dementsprechend gekleidet und trug nicht mal eine Krawatte. Jane hatte mich darauf nicht angesprochen, sondern mich nur angeschaut. Ich wußte ja, welchen Vorwurf sie verschluckte, und ich kam mit einer lahmen Ausrede. »Das hättest du mir ja auch sagen können.« »Weiß man denn so etwas nicht?« Ich hob die Schultern. »Typisch Sinclair. Aber deine Beretta hast du nicht vergessen?« »Richtig.« Ich grinste lahm. »Du kennst mich ja lange genug und weißt deshalb, daß ich nicht gerade ein so vornehmer Typ bin. Ich habe das angezogen, in dem ich mich wohl fühle.« »Ja, man sieht’s.« Wie dem auch sei, das Essen jedenfalls war top. Es gab eine Cremesuppe als Vorspeise, von der ich noch Nachschlag nahm. Anschließend Piccata Milanese, vorzüglich panierte und gebratene Kalbsschnitzel mit Nudeln und einer frischen, mit Gewürzen veredelten Tomatensauce, einen Salat dazu, und als Nachtisch hatte sich Jane für etwas Herbstliches entschieden, nämlich Pflaumen in Rotweinsoße und Zimtreis dazu. Das Dessert schaffte ich nur mit Mühe und überlegte dabei, ob ich nicht den obersten Hosenknopf öffnen sollte. Ich wollte nicht noch einen Faux pas begehen, denn Jane hatte sich für diesen trauten Abend richtig fein gemacht.
Sie trug ein dunkelblaues Kleid mit tiefem V-Ausschnitt, die Haare waren frisch frisiert und mit zwei kleinen Perlenketten verschlungen worden. Die eine Kette hing auch urn ihren Hals, und zwei Ohrringe vervollständigten den Schmuck. Natürlich tranken wir zum Essen kein Wasser. Jane hatte sich für einen weißen Fendant entschieden, einen Wein aus der Schweiz, der süffig und griffig über unsere Zungen rann, um einmal bei der blumigen Beschreibung des Weines zu bleiben. Ich brauchte nicht zu fahren, trank trotzdem nicht zu viel von diesem Wein, denn ich ahnte, daß uns beiden noch eine lange Nacht bevorstehen würde. Nach dem Essen streckte ich die Beine aus und stöhnte leise auf. »Hast du was?« fragte Jane. »Nein, im Prinzip nicht. Nur, ich kann nichts mehr esssen.« »Wie schön. Das ist ja auch Sinn der Sache gewesen.« Jane lächelte. »Faß es als Kompliment auf.« »Ich hätte es nie anders gesehen.« Sie schob einen der beiden Kerzenständer zur Seite. »Wie wäre es mit einem Kaffee und einem exzellenten Cognac dazu?« »Beides hört sich gut an.« Sie erhob sich. »Ich kümmere mich um den Kaffee, du um den Cognac. Du weißt ja, wo Sarah ihre Getränke aufbewahrt.« Das wußte ich in der Tat. Da wir in ihrem Zimmer saßen, brauchte ich nicht weit zu gehen. Jane war schon in der Küche verschwunden, als ich eine Schranktür öffnete, einen Blick über die dort versammelten Flaschen warf und mich nicht so recht für eine entscheiden konnte. Letztendlich griff ich nach einem sehr alten Remy Martin und nahm sicherheitshalber ein zweites Glas für Jane mit. Wenn sie Kaffee kochte, dann war er anders als der meiner Sekretärin Glenda. Jane liebte den Espresso. Sie trank ihn stark und ohne Zucker, auf den ich bei diesem Gebräu nicht verzichten wollte. »Du auch einen Absacker?« rief ich durch die offene Wohnraumtür in die Küche. »Nur einen kleinen.« »Okay, den großen nehme ich dann.« »Etwas anders habe ich von dir auch nicht erwartet, John.« Ich enthielt mich einer Antwort und schenkte ein. Schon bei der Tätigkeit spürte ich etwas von der herrlichen Blume des Getränks, schon jetzt schmeckte ich die Weichheit auf der Zunge, riß mich aber zusammen und legte statt dessen eine andere CD auf, auf der Oldies und wiederum klassische Melodien gemixt waren, gespielt von Richard Clydermann. Ich hatte kaum meinen Platz eingenommen, als Jane mit dem Tablett erschien. Sie hörte die Musik und lächelte. »Das ist genau das richtige für den Fortlauf des Abends.«
Ich tat unwissend. »Wieso?« Sie stellte das Tablett ab. »Wirst du schon sehen.« Über den beiden Tassen lag der Dampf des heißen Getränks wie dünner Nebel. Jane hatte auch die Porzellandose mit dem Würfelzucker nicht vergessen. Ich klaubte mit der Zange zwei Stückchen hervor und ließ sie in die Tasse fallen. Dann rührte ich um. Während ich das tat, sprach Jane mich an, dabei hatte sie die Lippen zu einem Lächeln verzogen. »Um noch einmal auf die Blondinenwitze zurückzukommen, John, weißt du überhaupt, weshalb sie erzählt werden?« Ich schaute hoch. »Nein.« »Das will ich dir gern sagen. Damit einfältige Männer wie du sie auch begreifen. Nur deshalb sind sie so blöd.« »Danke, danke. Jetzt habe ich begriffen.« Jane lächelte weiter und hob ihre Tasse an. »Darauf sollten wir den ersten Schluck nehmen.« Das taten wir. Ich gab wieder mal nicht acht und zuckte zusammen, als das heiße Getränk meine Lippen berührte. »Du bist nichts mehr gewöhnt, wie?« »Kann sein.« »Wie kocht Glenda ihn denn?« wurde ich gefragt. »Etwa kalt?« »Natürlich kocht sie ihn so, daß man ihn trinken kann. Es ist auch kein Espresso, der muß heiß getrunken werden.« Ich nahm den zweiten Schluck, und jetzt klappte es besser. Wenig später hatten wir die Tassen geleert, griffen zu unseren mit edlem Cognac gefüllten Gläsern, prosteten uns zu, und wir beide spürten wohl, daß sich die Atmosphäre verändert hatte. Sie knisterte zwischen uns, es lag etwas in der Luft, und es passierte auch etwas, das allerdings mehr zu einer Sitcom-Serie gepaßt hätte, denn plötzlich meldete sich das Telefon. »Wer kann das sein?« fragte Jane entäuscht und trotzdem neugierig. »Du brauchst nur den Arm auszustrecken und den Hörer zu nehmen, dann weißt du es.« »Lady Sarah?« »Heb ab.« »Ich habe keinen Bock.« »Soll ich?« Jane stöhnte auf. »Nein, nein, ich werde es tun. Was sollen denn die Leute denken?« Das war mir egal, aber Jane dachte da wohl anders. So ganz ernst konnte ich sie auch nicht nehmen, und sie meldete sich mit einer Stimme, die klang, als wäre sie dabei, einen Erotikfilm zu synchronisieren. »Ja bitte, wir möchten eigentlich nicht gestört werden…«
Ich schlug die Hände vors Gesicht, schaute durch die Lücken der gespreizten Finger und bekam mit, wie Jane Collins sich veränderte. Sie setzte sich steif hin, runzelte die Stirn und sprach mit normaler Stimme weiter. »Natürlich ist er hier. Wenn Suko das gesagt hat, dann stimmt es auch. Einen Moment bitte.« Sie nahm den Hörer vom Ohr weg und reichte ihn mir. »Wer ist es denn?« flüsterte ich. »Ein Ferngespräch aus Moskau.« Ich bekam große Augen. »Wladimir Golenkow?« »Ja.« Sekunden später preßte ich den Hörer gegen mein Ohr und vernahm die Stimme meines russischen Freundes. »Da bin ich aber froh, daß ich dich erwische.« »So? Ich nicht!« »Habe ich euch gestört?« »Kann man sagen.« Er lachte. »Ja, die Stimme der netten Jane klang so, als hättet ihr beide gerade…« »Haben wir nicht, Towaritsch. Rufst du tatsächlich aus Moskau an?« Ich kam wieder zur Sache. »Ja.« »Ärger?« »Liegt in der Luft. Hast du Papier und etwas zu schreiben in der Nähe?« »Habe ich«, sagte ich und holte mit einem Griff eine Zeitung von der Anrichte. »Wenn es zuviel wird, besorge ich mir einen Block. Sag es lieber vorher.« »Nein, du mußt dir nur einige Namen notieren, denke ich. Den Rest wirst du behalten können.« »Gut. Um was geht es?« »Um sechs Leichen und einen mörderischen Killer, der Onopko heißt und der Lächler genannt wird. Ihm ist das Gehirn eines Dämons eingepflanzt worden.« Ich war sprachlos. »Bitte…?« »Soll ich es wiederholen, John?« »Nein, nein, nicht mehr. Ich habe mich nur vergewissern wollen, ob es auch stimmt.« »Darauf kannst du dich verlassen.« »Gut, ich höre.« In den folgenden Minuten war ich froh, schon gegessen zu haben, denn was mir der gute Wladimir Golenkow berichtete, war dazu angetan, meinen Appetit zu stoppen. Seine Erlebnisse, zusammen mit den Taten dieses dämonischen Killers sorgten für ein Zusammenkrampfen meiner Magenmuskeln, und ich hatte auch Mühe, meine Kehle freizuräuspern.
Nach einigen Minuten intensiven Redens zog Wladimir Golenkow ein erstes Fazit. »Ich gehe beinahe mit hundertprozentiger Sicherheit davon aus, daß Onopko in England auftauchen wird.« »Du auch?« »Ja, ich komme rüber.« »Was macht dich denn so sicher?« »Seine Todesliste. Ich habe sie mir angesehen. Du hast etwas zu schreiben dabei?« »Ja«. »Dann gebe ich dir jetzt die Namen durch. Die ersten beiden sind die Männer, die nach England ausgewandert sind und dort Jobs gefunden haben. Ich denke, es dürfte dir nicht schwerfallen, herauszufinden, wo sie tätig sind und wo sie wohnen.« »Laß hören.« Ich schrieb mir fünf Namen auf und ließ sie mir sogar noch buchstabieren. Dann wiederholte ich sie und konnte mir vorstellen, wie Wladimir im fernen Moskau nickte. Jane mischte sich nicht ein. Sie saß starr auf ihrem Platz und hielt das Glas mit dem Cognac umklammert, als könnte es ihr den Halt geben, um eine Enttäuschung zu überwinden. »Es ist okay, John. Jetzt bist du an der Reihe. Ich will dich ja nicht drängen und dir nicht völlig den Abend verderben, aber ich kann mir vorstellen, daß die Zeit schon drängt.« »Sicher, da liegen wir auf einer Linie. Stellt sich nur die Frage, wie lange dieser Onopko brauchen wird, um von Moskau nach London zu gelangen.« »Da habe ich keine Ahnung.« »Wie sieht es mit der Überwachung aus?« »Werden wir machen. Bahnhöfe und Flughäfen.« »Gut.« Ich dachte nach. »Gesetzt den Fall, er schafft es doch, das Land zu verlassen, könnte er frühestens und bei Annahme der günstigsten Bedingungen in vierundzwanzig Stunden die Insel erreicht haben. Liege ich da auf deiner Linie?« »Ich glaube eher, daß es länger dauert.« »Du willst auf jeden Fall herkommen?« »Ja, ich nehme die erste Maschine und komme zu dir ins Büro.« »Ich hole dich dann nicht vom Flughafen ab.« »Nicht nötig.« »Bis morgen, Wladimir, und guten Flug.« »Okay…« Als ich Jane den Hörer gegeben und sie ihn wieder aufgelegt hatte, herrschte zwischen uns zunächst ein gespanntes Schweigen. Die Detektivin löste es schließlich mit einem Seufzer auf, betrachtete ihr Glas und das edle Getränk darin und sagte mit leiser Stimme einen alten Spruch auf. »Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps.« »Sehr richtig.«
»Was steht jetzt bei dir im Vordergrund?« »Nicht der Schnaps«, murmelte ich. Sie senkte den Kopf. »Das dachte ich mir.« Dann leerte sie das Glas mit einem Ruck, lehnte sich auf dem Stuhl zurück, ließ die Arme zu beiden Seiten herabhängen, lächelte verloren und sagte leise: »Wie hätte es auch anders sein können. Es mußte ja was dazwischenkommen.« Sie verengte die Augen und sagte sehr undamenhaft: »Scheiß-Job, wie?« Ich gab ihr recht. »Was willst du tun?« »Sechs Leichen«, murmelte ich. »Wie bitte?« »Ich muß einen sechsfachen Mörder finden, in dessen Kopf sich das Gehirn eines Dämons befindet. Das ist alles, und du hast recht, wenn du sagst, daß es ein Scheiß-Job ist.« Jane setzte sich wieder normal hin. Sie schenkte sich noch einen Cognac ein. »Wer ist dieser Mörder?« »Onopko.« Jane staunte. »Was ist das denn für ein Name?« »Ein russischer oder ukrainischer wohl. Ich weiß es nicht so genau. Ist auch egal. Man kann Onopko als ein Relikt aus alten Zeiten betrachten. Da hat man ihn als die Killermaschine entwickelt. Genie und Dämonie kamen zusammen, aber der Lächler, wie er auch genannt wird, ist nicht mehr zum zum Einsatz gekommen, da sich die Zeiten änderten. Jetzt ist er dabei, seine Erschaffer zu jagen.« »Hier bei uns?« »Zwei von ihnen haben sich nach England abgesetzt.« »Wie heißen sie denn?« Ich schaute auf meine kleine Liste. Die Namen hatte ich auf den nicht bedruckten Rand der Zeitung geschrieben. »Sie heißen Igor Krommow und Leonid Tacharin.« Jane überlegte. »Nie gehört.« »Ich auch nicht.« »Du willst sie finden?« »Klar. Dieser Killer hat sechs Tote hinterlassen. So etwas macht heiß. Es wird ihn auf seiner Rachetour bestärken, und ich kann mir vorstellen, daß er auch Hindernisse wie Landesgrenzen überwindet. Er wird irgendwann hier eintreffen.« »Wo du ihn erwartest?« Ich hob die Schultern. »Wann fängst du an?« »Morgen früh, Jane. An diesem Abend werde ich wohl nichts mehr erreichen können.« »Das denke ich auch.« Jane drehte sich auf ihrem Stuhl und hob den Hörer hoch.
»Wen willst du anrufen?« fragte ich. »Niemanden.« Sie lächelte, dann legte sie den Hörer neben das Telefon und stand auf. »Ich gehe jetzt nach oben. Wenn du willst, kannst du nachkommen. Vergiß nicht, die beiden Flammen auszublasen. Bis später, denke ich.« Nach diesen Worten verschwand Jane. Ich blieb erst einmal sitzen, riß die Notiz vom Zeitungsrand ab und verstaute das kleine Stück Papier in meiner Geldbörse. Ich stellte dabei fest, daß ich von meinem Cognac so gut wie nichts getrunken hatte. Das holte ich nach. Die CD war abgelaufen. Dafür hörte ich die Musik aus der ersten Etage, wo Jane ihre Wohnung hatte. Traummelodien, Liebeslieder, wie immer man es nennen wollte. Jedenfalls das Richtige für eine Stunde zu zweit oder auch länger. Ich stellte das Glas ab. Zum Teufel mit Onopko, dachte ich. Das Leben besteht nicht nur aus der Jagd nach Dämonen oder Psycho-Killern. Es hat auch etwas anderes zu bieten, und dieses andere hielt sich eine Etage höher auf. Auch ich erhob mich, blies die Kerzen aus und machte mich auf den Weg. Der Rest ist reine Privatsache… *** »O je«, sagte Suko am anderen Morgen, als er mich im Büro sah, denn ich war von Janes Wohnung aus direkt ins Büro gefahren. »Wie siehst du denn aus?« »Was meinst du damit?« »Schau mal in den Spiegel.« Ich nahm hinter dem Schreibtisch Platz. »Und?« »Hast du die Ringe unter deinen Augen nicht gesehen, oder hast du dich erst gar nicht getraut, in den Spiegel zu schauen? Sei froh, daß Glenda heute einen freien Tag hat. Der wärst du sicherlich ins offene Messer gelaufen.« »Bin ich dir das nicht auch?« Er hob beide Arme. »Ich kann schweigen.« »Ist auch gut«, brummelte ich und holte den kleinen Zettel wieder hervor. Im Prinzip hatte Suko recht. Ich sah auch ziemlich verhauen aus, was nicht nur an mir lag, sondern auch an Jane Collins. Wir hatten wirklich eine Nacht hinter uns, in der Himmel und Hölle zusammengetroffen waren. Erst in den frühen Morgenstunden waren wir im Fegefeuer eingeschlafen. Jane hatte es tatsächlich geschafft, mich Wladimirs Anruf vergessen zu lassen. Sie war in der Form ihres Lebens gewesen und hatte auch mich zu wahren Höchstleistungen angespornt. Es lag auf der Hand, daß davon etwas sichtbar zurückblieb, wie Suko ja mit seinen eigenen Worten so treffend ausgedrückt hatte.
Das Thema war für ihn erledigt, denn neugierig schaute er auf den kleinen Zettel, den ich noch einmal mit dem Finger geglättet hatte. Ich wollte ihm eine Erklärung geben, aber das Klopfen an der Tür des Vorzimmers erreichte auch unsere Ohren, und kurz danach betrat ein junger Mann das Büro und schwenkte das dünne Papier aus einem Fax. »Für Sie, Mr. Sinclair.« »Danke.« »Soll ich auf eine Antwort warten?« »Nein, Sie können gehen.« »Danke. Und schönes Wochenende noch.« »Wie?« »Wir haben heute Freitag«, erinnerte mich Suko. »Hatte ich schon vergessen.« »Ja, man wird alt.« Ich ließ mich nicht mehr ablenken, sondern beschäftigte mich mit dem kurzen Text und machte ein langes Gesicht. Das Fax hatte mir Wladimir Golenkow geschickt, und er teilte mir darin mit, daß er nicht in London erscheinen konnte, zumindest vorerst nicht, da man ihn wegen der Ermittlungen der drei Morde brauchte. Er wußte auch nicht, wann er sich loseisen konnte, wollte mir aber Bescheid geben. »Man sieht dir an, daß du dich ärgerst«, sagte Suko. »Stimmt.« »Was ist denn?« »Lies selbst.« Ich reichte ihm das flatternde Stück Papier rüber, zündete mir eine Zigarette an und bekam von Suko einen mißbilligenden Blick zugeworfen. Das war kein guter Anfang vom Wochenende. Nicht daß ich mich über den Text sehr ärgerte, ich hätte Wladimir schon allein wegen seines Wissens gern bei mir gehabt, aber das war nun nicht mehr möglich. So mußten wir zusehen, daß wir ohne ihn zurechtkamen. Suko legte das Fax weg. »Es läuft nicht alles glatt im Leben, Alter. Also klemmen wir uns dahinter. Was hast du denn da auf dem Zettel notiert? Und was hat dir Wladimir erzählt, nachdem ich ihm erklärt habe, wo er dich finden kann.« »Es ist ein Hammer, Suko. Eine Sache, die unter die Haut geht.« »Ich höre.« Das tat er wirklich. Er war die gespannte Aufmerksamkeit, und seine etwas aufgesetzte Lockerheit an diesem Morgen verschwand ebenfalls aus seinen Zügen. Später stand er auf und trat ans Fenster, um in einen Himmel zu schauen, der von einer beinahe schon widerlich strahlenden Bläue war. Keine Wolke zeigte sich, die Sonne wärmte. »Was sagst du?« »Nichts, John.«
»Glaubst du es?« »Natürlich. Ich frage mich nur, ob er es tatsächlich schafft, so einfach nach London zu kommen.« »Der schafft es, Suko, der bestimmt. Vergiß nicht, daß er anders denkt als ein Mensch. Er hat das Gehirn eines Dämons, was ich auch durchaus glaube. Da wird uns Wladimir keinen Bären aufgebunden haben. Wichtig sind die Namen der fünf Männer, die damals mit ihm experimentiert haben.« »Nein, zwei Männer.« »Ja, die beiden, die nach England ausgewandert sind.« Suko drehte sich um und nahm wieder seinen Platz ein. »Es wird doch keine Schwierigkeiten geben, herauszubekommen, wo sie sich aufhalten. Sie werden von der Einwanderungsbehörde registriert worden sein, und da läßt sich ihre Spur dann weiter verfolgen.« So dachte ich auch, griff zum Hörer und ließ mich mit dem Erkennungsdienst und der Fahndungsabteilung verbinden, um dort meine Wünsche vorzutragen. Sollten die Kollegen für uns arbeiten. Sehr schwer würde es sicherlich nicht sein. Man versprach mir, die Sache vorrangig zu bearbeiten, und ich erklärte den Kollegen noch, wo ich zu erreichen war. Ich hatte nur die beiden Namen Igor Krommow und Leonid Tacharin erwähnt. »Und jetzt können wir nur warten«, sagte Suko, als ich den Hörer wieder aufgelegt hatte. »Sehr richtig – und hoffen, nicht zu vergessen…« *** In der großen Lagerhalle war es kalt geworden, was auch Fred Goose spürte. Deshalb hatte er sich den Arbeitsanzug aus dickem Stoff übergestreift, bevor er auf seinen Gabelstabler geklettert war, um in >sein Gebiet< damit zu fahren. Er mußte dort die Fracht sortieren, die aus den osteuropäischen Ländern herangeschafft worden war, wobei Rußland an erster Stelle stand. Die Kisten und kleinen Container hatten den Zoll bereits passiert, jetzt wurden sie neu geordnet, und diese Aufgabe oblag Fred Goose und seinen Kollegen. Es war eine einsame Arbeit. Er hatte sich immer Gedanken über den Job machen können, und wenn er durch die Halle mit der hohen Decke fuhr, kam er sich immer verloren vor. Er hatte das Gefühl, kein Lebewesen mehr zu sein, sondern nur zu funktionieren, denn die hohen Regale zu beiden Seiten der Halle waren mit Laufwerken bestückt, die über einen Computer gesteuert wurden.
Derjenige Kollege, der am Computer saß, konnte dann die mit bestimmten Symbolen bestückten Kisten und kleinen Container per Automatik abrufen, und als Mensch kam sich Goose manches Mal überflüssig vor. Greifer holten die Waren automatisch und führten sie dann einem bestimmten Platz zu, wo andere Kollegen warteten und sie zu den Transportern schafften. Auf der einen Seite stand der Mensch, auf der anderen die Technik. Manchmal haßte Fred diese glatte Mechanik, mit der er sich nicht unterhalten konnte. Sie war kein Mensch, sie funktionierte, sie wurde ihm unheimlich, und auch das kalte Licht der Lampen half dabei nicht viel. Dann aber, wenn seine Gedanken zu traurig wurden, schaltete er persönlich um. Da bekam er die Wut. Da ballte er dann die Hände und stellte sich vor, daß er als Mensch trotz allein stärker war als die Technik. Er brauchte diese Glätte nur einmal aufzurauhen, einen Kontakt zu unterbrechen, und alles stand still. Er hätte diesen Gedanken nie in die Tat umgesetzt, aber er träumte des öfteren davon. Auch an diesem Morgen hatte er den Eindruck, als würde ein sehr langer Tag vor ihm liegen. Manchmal gingen die Stunden schnell vorbei, dann wieder dauerte es länger, und er verfluchte sich und seinen Job. Das Bauwerk der Kisten stand schon bereit. Sie waren so auf die Paletten gestellt worden, daß er mit seinem Gabelstabler bequem heranfahren und die langen Stahlarme in die Lücken schieben konnte. Ein Routinejob, er brauchte kaum hinzuschauen. Daß draußen die Sonne schien, sah er deshalb, weil die Rückseite dieser Halle nur durch eine bewegbare und dicke Gummiwand geschützt war. Dahinter schwamm die Welt in einem hellen Licht. Es gab kaum ein idealeres Flugwetter als an diesem Tag. Goose rollte auf die erste Palette zu. Sie war vollbepackt. In seiner Nähe befand sich kein Kollege. Die Vorarbeiten lagen bereits hinter ihm, er brauchte nur die Palette anzuheben. Eine Kleinigkeit. Und trotzdem stoppte er den Stapler. Mit einem leichten Ruck blieb er stehen. Fred Goose wischte über seine Augen. Er dachte an einen Irrtum und schaute genauer auf den ersten Stapel, aber das stimmte nicht. Ein Irrtum war ausgeschlosssen. Eine Kiste war beschädigt worden. Goose wunderte sich. In den letzten beiden Jahren war so etwas noch nicht passiert. Natürlich kontrollierte der Zoll hin und wieder die Ladungen, Kisten wurden geöffnet und später wieder fachmännisch verschlossen. Hier sah es so aus, als wäre sie erst im nachhinein aufgebrochen worden, und zwar dann, als sie schon in der Halle gestanden hatte, weil sich auf dem Boden einige Splitter und Späne verteilten.
Es war eine Holzkiste, kein glatter Metallcontainer, sondern so etwas wie früher. Komisch… Goose stieg vom Fahrersitz, schaute sich um. Er hatte einfach das Gefühl, dies tun zu müssen, weil es durchaus sein konnte, daß sich gewisse Fremde in die Halle verirrt hatten. Es war zwar unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen. Schließlich gab es unter der Ladung immer Dinge, die sich zu stehlen lohnten. Auf der anderen Seite gingen irgendwelche Diebe ein Risiko ein, wenn sie sich auf dem Gelände des Flughafens bewegten, das schon überwacht wurde. Der Druck in Freds Magen nahm zu. Er hatte den Eindruck, daß hier etwas nicht stimmte. Deshalb näherte er sich dem Gegensstand auch mit gemischten Gefühlen, um ihn, wenn er dicht davor stehenblieb, genau unter Kontrolle zu nehmen. Es war versucht worden, die Bruchstelle wieder einigermaßen zu schließen. Goose fiel ein Vergleich ein. Er dachte daran, daß ihre vordere Seite aussah wie eine Tür, die nicht fachgerecht zugedrückt worden war. Sein Interesse nahm zu, gleichzeitig wuchs das mulmige Gefühl. Er dachte an sein Sprechgerät am Gürtel. Durch diesen Gegenstand konnte er Verbindung zur Leitstelle aufnehmen, was er aber noch nicht wollte. Eine vorherige Prüfung sollte ihm mehr Informationen bringen. Vor dem Gegenstand blieb er stehen. Er überragte ihn nicht, war dafür ziemlich breit. Von innen her war die Kiste geöffnet worden, was nur einen Schluß zuließ. Hier hatte jemand versucht, sich zu befreien. Goose dachte sofort an ein Lebewesen. Er fühlte sich innerlich verkrampft, sein Mund wurde trocken. Es gab verschiedene Alternativen. Es hätte sich ein Mensch in der Kiste ebenso aufhalten können wie ein Tier. Auf einmal fühlte sich Goose allein. Die Umgebung war noch kälter geworden. Die Innenwände der Halle dampften Eis ab, und die Gänsehaut blieb auch weiterhin auf seinem Körper. Da stimmte einiges nicht. Er traute sich auch nicht, die Kiste noch einmal aufzubrechen, um hineinzublicken. Wenn so etwas eintrat wie jetzt, mußte er sich sofort mit der Zentrale in Verbindung setzen. Er griff bereits nach dem Hörer, als ihn ein Geräusch mitten in der Bewegung erstarren ließ. Scharren, schleifen…? Er hatte keine Ahnung, er wußte nur, daß er sich nicht geirrt hatte. Er drehte sich vorsichtshalber nach rechts, denn von dort war das Geräusch erklungen. Es war alles okay, es gab keinen sichtbaren Grund für seine Angst. Es lief wunderbar, keine Panik, aber das Geräusch wiederholte sich.
Er drehte sich. Da sah er den Schatten. Schwach zeichnete er sich auf dem Boden ab, und er glich dem eines Menschen, der sich von einem bestimmten Ort gelöst hatte. Aus einer Lücke… Noch ein Schritt. Er war da! Goose packte das Entsetzen. Er hätte nie gedacht, einmal so böse überrascht werden zu können. In diesem Moment war er wie eingefroren, da stand er auf dem Fleck, eingepackt in einen Kokon aus Eis, ohne in der Lage zu sein, auch nur einen Finger zu bewegen. Seine Augen brannten, der Schatten manifestierte sich trotzdem, und es dauerte eine Weile, bis er herausgefunden hatte, daß hier ein Mensch vor ihm stand. Einer, der grinste. Goose schaute in ein glattes, seiner Meinung nach schreckliches Gesicht, das einem lebenden Menschen gehörte, aber trotzdem leblos wirkte und gleichzeitig Proportionen hatte, mit denen er nicht zurechtkam, denn die obere Kopfhälfte war überdimensional. Das war kein Gesicht mehr, auch kein Kopf, es glich bereits einem Zustand, und er wollte die Gestalt nicht als einen gewöhnlichen Menschen akzeptieren. Hier hatte sich jemand eingeschlichen, der auf eine bestimmte Gelegenheit gewartet hatte und dies auch durch sein triumphales und widerliches Grinsen andeutete. Zugleich veränderte sich die Stirn. Ungefähr in der Hälfte leuchtete in der gesamten Breite eine dünne Narbe auf. Darüber war die Farbe etwas schwächer, aber zwischen Narbe und dem Haaransatz bekam die Stirn einen durchsichtigen Glanz. Da pulsierte etwas. Es zuckte, es schlug. Es war eine rötliche Masse, als hätten sich mehrere dicke Würmer zusammengeschlungen, um ein faustgroßes Etwas zu bilden, für das er keine Erklärung hatte, denn ein normales Gehirn konnte es nicht sein. Goose wußte, daß dieser Mann in der Kiste gesteckt hatte, und er wußte plötzlich noch mehr. Den Gedanken führte er nicht zu Ende. Er riß das Sprechfunkgerät hervor, aber ein Schlag prellte es ihm aus der Hand. Der Grinser hatte blitzschnell reagiert. Das Gerät fiel mit einem scheppernden Geräusch zu Boden, und Goose schaffte es nicht mehr, sich danach zu bücken. Eine Faust tauchte wie ein kantiger Stein vor seinem Gesicht auf, bevor sie hineinschmetterte und ihn zurückschleuderte. Er fiel mit dem Rücken gegen die seitliche Kante der Kiste, was sehr schmerzhaft war. Die Welt war für ihn nicht mehr wie sonst. Er sah sie auch nicht mit klaren Augen, denn durch die grauen, beinahe schwarzen Nebel schob
sich die Gestalt auf ihn zu. Er wurde gepackt, er wurde gedreht und blitzartig und routiniert in die richtige Position gebracht. Daß ihm der Lächler das Genick brach, bekam Goose nicht mehr mit. Seine Leiche stopfte der Killer in eine Lücke zwischen zwei Kisten, und das Lächeln in seinem Gesicht wurde noch breiter. *** Warten und hoffen, damit hatten wir uns selbst Mut gemacht. Gleichzeitig wünschte ich mir, daß unser Freund Wladimir Golenkow übertrieben hatte, aber den Gedanken konnte ich mir abschminken. Wenn Wladimir anrief, brannte der Busch. Suko war meiner Ansicht, als er meinte: »Wir können ja vieles hier in London gebrauchen und noch schlucken, nur keinen abgewrackten KGB-Killer, denke ich.« »Wenn er das nur wäre…« »Woran denkst du denn noch?« »An sein verdammtes Gehirn. Es stammt nicht von einem Menschen, sondern von einem…« Suko unterbrach mich. »Du akzeptierst also, daß der Killer das Gehirn eines Dämons hat?« »Ja.« Suko hob die Augenbrauen, was mich zwangsläufig zu einer nächsten Frage brachte. »Du etwa nicht?« »So recht kann ich es nicht akzeptieren.« Er lächelte schief. »Kann Wladimir nicht übertrieben haben?« »Warum?« »Dieser Onopko stammt noch aus einer anderen Zeit.« Suko klopfte mit der Spitze seines rechten Zeigefingernagels auf seinen Schreibtisch. »Und die andere Zeit ist vorbei. Aber in der anderen Zeit hat damals das Regime nicht akzeptiert, daß es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die eben mit Logik nicht in einen Gleichklang zu bringen sind. Dämonen«, seine Stimme nahm einen spöttischen Klang an. »Was sind schon Dämonen? Oder was waren Dämonen? Eine Erfindung des Klassenfeindes, die sich auch nur auf den Klassenfeind gestürzt hat, aber nicht auf das andere System.« Suko wartete auf meine Antwort, und er kriegte sie. »Ich glaube nicht, daß es dein Ernst ist. Wir beide wissen doch, was damals hinter den Kulissen gespielt wurde. Daß man mit den sogenannten unerklärlichen Dingen experimentiert hat, und daß viele Versuche am Gehirn eines Menschen unternommen worden sind. Man hat Köpfe auf andere Körper transplantiert, die Fotos der Hunde sind damals um die Welt gegangen, und ich denke, daß die Sowjets nur die Spitze des Eisbergs gezeigt haben. Tatsächlich aber sind sie auch den anderen Weg gegangen. Der
Kampf gegen den Klassenfeind heiligte doch alle Mittel, auch unkonventionelle. Und einen Killer zu schaffen wie Onopko ist für sie sicherlich das Optimale gewesen. Die Zeit hat sie eingeholt und überrollt. Der Lächler wurde zu einer Altlast, die sie loswerden wollten, aber es nicht geschafft haben.« Suko nickte. »Das ist deine Meinung?« »Hundertprozentig.« »Und was will Onopko?« »Keine Ahnung.« »Frei sein…?« »Vor allen Dingen.« »Und natürlich killen«, murmelte Suko. »Der Sohn tötet seine Väter, die sich zum damaligen Klassenfeind hin abgesetzt haben. Der Idealismus war nicht mehr vorhanden, der Klassenfeind wurde zum Freund, und diesem Freund war es letztendlich auch egal, was seine neuen Freunde einmal gedacht haben. Es zählte allein das Wissen. Man nahm den ehemaligen Feind mit offenen Armen auf und gab ihm Gelegenheit, seine Arbeit fortzuführen. Kann das stimmen?« »Ich denke schon.« »Zwei sind bei uns auf der Insel, die anderen befinden sich in den Staaten. Wobei ich mich frage, wer hier die eigentlichen Verbrecher und Menschenverächter sind? Onopko oder die Personen, die an seiner Erschaffung beteiligt gewesen sind?« »Suche es dir aus.« »Das brauche ich nicht, ich weiß es.« Sukos Stimme hatte bitter geklungen. »Das sind Augenblicke, wo ich alles hinschmeißen könnte. Ich habe den Eindruck, daß alles verloren ist. Daß einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird.« Suko schüttelte den Kopf. »Sony, aber ich komme damit nicht zurecht.« »Gewöhne dich daran.« »An unsere Gesellschaft, von der ein Teil verlogen ist?« »Sicher.« »Sind wir es auch, John?« »Manchmal schon, wenn wir mit den Wölfen heulen.« »Dann aber bitte nicht zu oft und nicht zu laut.« Ich atmete tief ein. »Was hast du, Suko? Warum bist du plötzlich so sauer?« Er legte seine Stirn in Falten. »Das kann ich dir sagen. Ich bin deshalb sauer, weil wir diejenigen Typen schützen sollen, die alles in die Wege geleitet haben. Sie sind letztendlich dafür verantwortlich, daß ein Monster wie Onopko hatte entstehen können. Sie allein, verstehst du das? Und jetzt soll ich sie…?« Er ballte die Hände zu Fäusten. »Ich kann Onopko sogar verstehen, wenn er sich auf die Suche nach seinen Erfindern macht, um sie zu vernichten, denn letztendlich haben sie ihr
Produkt nicht geschützt, sondern es seinem Schicksal überlassen, und das hasse ich, John.« »Stimmt.« »Aber wir müssen unseren Job machen, ob es uns paßt oder nicht.« Ich hob die Schultern. »Okay, schon verstanden. Lassen wir meine persönlichen Empfindungen beiseite, und kommen wir wieder zurück auf die konkreten Tatsachen. Wir wissen, daß sich Krommow und Tacharin hier im Land aufhalten, wir wissen aber nicht, wo sie stecken.« Ich hob eine Hand. »Noch nicht, Suko.« Er lächelte skeptisch. »Bist du dir denn sicher, daß wir herausfinden, wo sie stecken?« Die Frage überraschte mich. »Ja, warum nicht? Oder zweifelst du an den Möglichkeiten deines Arbeitgebers?« »Nicht im geringsten, John.« »Dann verstehe ich deine Worte nicht.« Suko setzte sich bequemer hin und legte die Beine auf die Schreibtischplatte. »Ich will es dir sagen. Diese beiden Wissenschaftler waren in der damaligen UdSSR Kapazitäten und haben sicherlich nichts von ihrem Wissen verloren. Sie werden also mit offenen Armen empfangen und an die Brust des neuen Arbeitgebers gedrückt. Man wird sie hätscheln, man wird sie schützen, man wird ihnen Gelegenheit geben, sich zu etablieren, um ihre Forschungen hier weiterführen zu können. Und man wird versuchen, alles von ihnen abzuhalten, was ihnen gefährlich werden könnte. Damit schließe ich uns ein, John.« Suko brauchte nicht so ernst zu schauen, ich hatte ihn schon verstanden. »Du rechnest also damit, daß man uns Steine in den Weg legen wird.« »Ja, so kann es laufen.« Ich räusperte mich. »Wenn man deiner Denke folgt, habe ich nichts dagegen einzuwenden.« »Aber du denkst anders?« »Bisher, aber es kann durchaus passieren, daß ich in deine Richtung einschwenke.« »Wir werden es erfahren.« Ich war sehr nachdenklich geworden. Mit Sukos Überlegungen hatte ich mich nicht beschäftigt. Es konnte durchaus sein, daß man uns Schwierigkeiten machen würde. Wenn irgendwelche wichtigen Menschen an geheimen Projekten arbeiteten, wurden sie abgeschottet, daran gab es nichts zu zweifeln. Männer wie Krommow und Tacharin waren wichtig, und man würde ein Auge auf sie halten. »Schwenkst du um, John?« »Ich bin dabei, hoffe allerdings, daß wir unrecht haben.«
Suko hob die Schultern und deutete dabei auf das Telefon. »Die Kollegen haben sich noch nicht gemeldet, obwohl einige Zeit vergangen ist. Es hätte normalerweise keine Probleme geben können, es sei denn, sie sind hausgemacht. Und dorthin tendiere ich.« »Wir werden es herausfinden.« Ich stand auf und erntete einen erstaunten Blick. »Jetzt?« »Ja, ich gehe selbst…« Nein, ich ging nicht, denn der Apparat meldete sich. Da ich stand und außerdem dichter dran war, brauchte ich nur die Hand auszustrecken und den Hörer anzuheben. Ich war überrascht, die Stimme des Abteilungschefs zu hören. Der Mann hieß Lancaster. Ich kannte ihn flüchtig. Er war ziemlich groß und hager und hatte einen Brillentick. Fast jeden Tag erschien er mit einer anderen, meist farbigen. »Ja, Mr. Lancaster«, gab ich mich locker. »Auf ihren Anruf haben wir gewartet.« Er hüstelte trocken. »Das kann ich mir denken.« Ich hatte mich wieder gesetzt. »Und? Welche positiven Nachrichten können Sie uns übermitteln?« »Keine, fürchte ich.« »Ach.« Ich hörte ihn atmen. Wahrscheinlich rang er nach Worten, deshalb half ich ihm. »Sagen Sie nur nicht, Mr. Lancaster, daß diese Namen nicht eingegeben worden sind.« »So ähnlich«, quälte er sich die Antwort hervor. »Und wie sieht es tatsächlich aus?« »Nun ja, Sie wissen ja selbst, daß wir eine fast gläserne Gesellschaft haben, aber eben nur fast. Auf Ihren Fall, Mr. Sinclair, trifft dieses Fast leider zu.« »Genauer!« verlangte ich, jetzt schon etwas schärfer. »Es gibt eine Sperre!« »Innerhalb Ihres Informationsnetzes, denke ich.« »So ist es. Wir kriegen keine Informationen. Um es spannend zu machen, kann ich Ihnen sagen, daß die beiden Namen unter den Begriff top secret fallen. Der Computer will nicht, daß etwas über sie an die Öffentlichkeit genannt.« »Aber es gibt sie doch.« »Das schon, nur…« »Was sind die Gründe?« unterbrach ich ihn. »Ich kann es Ihnen nicht sagen. Ich bin ein zu kleines Licht.« »Hören Sie auf, Mr. Lancaster.« Ich hatte Mühe, meinen Ärger zu unterdrücken. »So klein sind Sie nicht. Auch wenn Sie nicht herankommen, Sie müssen sich doch auf gewisse Erfahrungswerte
stützen können, sage ich mal. So etwas ist Ihnen nicht zum erstenmal passiert.« »Es geschieht nur selten.« »Immerhin. Deshalb frage ich Sie, was dahintersteckt und an wen ich mich wenden muß.« »Haben Sie gute Kontakte zur Regierung und zu den Geheimdiensten, Mr. Sinclair?« »Nicht die besten…« »Sehen Sie.« »Aber ich kenne Personen, die über solche Kontakte verfügen. Sie können mir also nicht weiterhelfen?« »Richtig. Mir sind in diesem Fall die Hände gebunden. Ich komme da nicht weiter.« »Ja, das haben Sie leider deutlich genug gesagt. Schade eigentlich.« »Der Meinung bin ich auch, denn ich gehöre zu den Menschen, die Ihre Arbeit schätzen.« »Danke, Mr. Lancaster, und einen schönen Tag wünsche ich Ihnen noch.« »Ihnen ebenfalls.« Ich legte auf und schaute ziemlich bedrückt aus der Wäsche. Dann sah ich Sukos Nicken, verbunden mit einem wissenden Ausdruck auf seinem Gesicht. »So ist es, John, so und nicht anders. Ich habe mir schon gedacht, daß in diesem Fall geblockt wird. Krommow und Tacharin sind einfach zu wichtig, um sie der Öffentlichkeit preiszugeben. Wir müssen akzeptieren, daß wir an eine Grenze gelangt sind. Wenn Onopko London erreicht hat, wird er auch seine Spuren hinterlassen. Doch noch wissen wir nicht mal, wie er aussieht. Es wird kein Foto von ihm geben, das uns Wladimir faxen könnte. Wir stehen allein auf weiter Flur. Ich bin beinahe so weit, daß ich sage, vergessen wir den Lächler.« »Nein, das tun wir nicht.« Suko lachte leise. »Und wie willst du an ihn herankommen?« »Da wir keine Kontakte zu gewissen Stellen haben, müßte uns Sir James helfen.« Suko hatte seinen Pessimismus nicht verloren. »Der wird auch blocken, denke ich.« »Meinst du?« »Natürlich. Es gibt Dinge, mit denen er nicht zurechtkommt. Auch er ist nicht allmächtig. Wir werden nicht an die beiden Russen herankommen. Außerdem würde doch auch unser Geheimdienst jubeln und der amerikanische ebenfalls, wenn es den beiden gelingt, einen Killer wie Onopko zu schaffen. Einen neuen Prototyp, möglicherweise sogar einen stark verbesserten, der dann für uns arbeitet.« »Mir reicht erst mal einer.« »Wo finden wir ihn?«
»Bei uns.« »Dann bist du der Meinung, daß er England schon erreicht hat.« Ich stand auf und nickte. »Ja, ich glaube daran. Deshalb wird es Zeit, ein paar Worte mit Sir James zu reden.« Suko erhob sich ebenfalls. »Ich habe nichts dagegen…« *** Der Lächler war in London! Das Glück der Hölle hatte sich auf seine Seite gestellt, denn ihm war es gelungen, nach seiner schrecklichen Tat ungesehen zu verschwinden. Er befand sich in einem fremden Land, in einer fremden Stadt, zwischen fremden Menschen, fremden Straßen und auch fremden Gebäuden. Eigentlich Gründe genug für ihn, um sich unsicher zu fühlen, doch das traf auf Onopko nicht zu. Ihm ging es gut. Er hatte den Toten noch ausgeraubt und befand sich im Besitz einer kleinen Menge Bargeld, nicht viel, aber für den Anfang würde es reichen. Obwohl oder gerade weil sich sein Gehirn von dem eines Menschen unterschied, gelang es ihm, sich in der Stadt sofort zurechtzufinden. Es gab keine Unsicherheit, er wußte, was man tun mußte, um die UBahn zu besteigen, die ihn in die Londoner City brachte. Er hockte zwischen den Menschen wie eine unbewegliche Statue, den Blick zu Boden gerichtet, wo sich niemand um eine leere Bierdose kümmerte, die mal nach vorn und dann wieder nach hinten rollte. Er sprach nicht, er starrte nur, und er wurde auch nicht angesprochen, denn die Fahrgäste, in der Regel Passagiere der gelandeten Clipper, waren mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Es gab einige, die Zeitungen lasen, andere wiederum schauten ins Leere, und dann gab es noch welche, die das aßen, was sie im Flugzeug noch hatten abstauben können. Wenn die Bahn hielt, schaute Onopko kurz hoch. Fuhr der Zug an, senkte er seinen Blick wieder. Auch die Sprache machte ihn nicht unsicher. Er verstand so gut wie nichts, was er jedoch nicht als störend ansah. Überhaupt machte er den Eindruck eines Mannes, der genau wußte, wo sein Ziel lag. Der Kontakt war auch bereits vorhanden. Er hatte die Stiche in seinem Kopf gespürt, die erste Botschaft, und damit war die Verbindung bereits geschlossen. Er wußte, daß er Krommow und Tacharin finden würde, auch wenn ihm nicht bekannt war, wo sich die beiden genau aufhielten, aber das ließ sich ändern. London war für ihn wichtig. Er wußte, daß die Themse die Stadt durchquerte. Man hatte ihn gut vorbereitet, er war mit Informationen über den Westen gespickt worden, er hatte auch die Sprache gelernt, und er merkte, wie dieses Wissen aus der Tiefe der Vergessenheit in die Höhe
stieg. Auf einmal verstand er, was die Menschen redeten, da war etwas in seinem Kopf gerissen, er konnte frei denken, er würde zurechtkommen, und über seine Lippen huschte wieder dieses Lächeln, das die Augen nicht erreichte. Onopko fühlte sich wohl. Er war nicht mehr unsicher, er war jetzt einer von ihnen, er würde sich durchsetzen können, er würde… er würde… Der Zug hielt. Menschen stiegen aus, andere ein, und der Lächler spürte so etwas wie einen gefährlichen Strom, der unsichtbar auf ihn zuwehte. Er hätte sich gern hingestellt, um sich umzuschauen, aber er blieb hocken und bewegte sich langsam. Er durfte nur nicht auffallen. Wenn er das tat, konnte er seinen Auftrag vergessen. Deshalb schaute er nur langsam. Die Türen hatten sich geschlossen. Ihm gegenüber waren einige Sitze leer. Onopko schaute durch die leicht beschlagenen Scheiben. Sie waren auch bekritzelt. Der Bahnsteig und die Menschen gaben nur ein verschwommenes Bild wieder, aber die vier Gestalten, die zwischen den Fenstern und ihm erschienen, sahen beim besten Willen nicht verschwommen aus, sondern waren sehr klar. Sie setzten sich. Grell und bunt. Dunkle Kleidung, farbige Haare. Einer trug eine knallrote Baskenmütze. Er war dick, ein Fleischkloß mit verschlagenen Augen und einem schiefen Grinsen im Gesicht. Auf seinem T-Shirt war das Hinterteil eines sich bückenden Menschen abgebildet, und der passende Spruch stand darunter. Onopko las ihn. Vielleicht hatte er zu lange hingeschaut, denn der dicke junge Mann war aufmerksam geworden, und es hatte ihm nicht gepaßt, daß er beobachtet worden war. Er schob seine Unterlippe vor, auch die Zungenspitze tauchte für einen Moment auf, dann schnellte sie wieder zurück und tanzte in seinem Mund, was Onopko an den Bewegungen der Wangen erkannte. »Was ist? Gefällt dir meine Mütze nicht?« Der Lächler schwieg. Das paßte dem Kerl auch nicht. »He, ich habe mit dir gesprochen. Was ist mit meiner Mütze?« Die anderen drei lächelten, sie freuten sich. Sie hatten sich breit hingelümmelt und warteten darauf, was der Kerl mit den dunklen, kurzen Haaren unternehmen würde. Wenn es zu hart kam, würden sie eingreifen und auch auf den Ort keine Rücksicht nehmen. »Sie ist gut«, sagte Onopko. Es waren seine ersten Worte in dieser fremden Sprache, und er wunderte sich darüber, wie glatt sie ihm aus dem Mund gerutscht waren. Der Dicke hatte mit dieser Antwort nicht gerechnet. Er pustete seine Wangen auf, was sein Gesicht noch mehr veränderte. Dabei überlegte er
sich eine Antwort und sagte: »Mehr weißt du nicht zu sagen, verdammt?« »Nein.« »Das ist mir nicht genug.« »Warum nicht?« »Die Mütze ist nicht gut, sie ist einmalig, verstehst du?« Onopko verstand wirklich nicht, deshalb schüttelte er den Kopf. »Sag, daß sie einmalig ist.« Der Killer zögerte einen Augenblick. »Sie ist einmalig«, wiederholte er, was dem Mützenträger auch nicht paßte, denn er hatte sich innerlich bereits auf eine Konfrontation eingestellt. Auch seine Freunde grinsten, was ihn noch wütender machte. Er suchte nach einem Ausweg aus dieser Misere, hatte sich dann entschlossen und riß die Mütze mit einer heftigen Bewegung ab. Das flache Stück lag auf seiner rechten Hand, deren Arm er ausstreckte. »Da ist sie, Mann. Toll, nicht? Ich erlaube dir, sie aufzusetzen. Das ist eine Ehre für dich, glaube es mir. Setz meine Mütze ruhig auf.« Onopko hob den Blick. Da der Dicke ihn ebenfalls anschaute, ließ es sich nicht vermeiden, daß sich ihre Blicke trafen. Zum erstenmal entdeckte der junge Mann etwas in den Augen des Killers, das ihn frösteln ließ. Er kam plötzlich nicht mehr zurecht. Er war unsicher geworden, die Kälte in den Augen machte ihm Angst. Er hatte damit gerechnet, Unsicherheit zu sehen, wenn nicht Furcht, aber dieser Typ da gegenüber war alles andere als furchtsam. Er hatte die Augen eines Toten, die trotzdem alles sahen und registrierten. Einen Mensch, der so schaute, den hatte der Dicke noch nie gesehen. Seine Kumpane verstanden das Zögern nicht. Einer von ihnen fragte: »Was ist, Fatty? Machst du nicht weiter?« Fatty schwitzte. Er wußte nicht, wie er sich verhalten sollte und was gut oder schlecht war. Noch immer starrte der andere ihn an. Und er lächelte dabei. Seine Mundwinkel waren in die Breite gezogen. Er zeigte seine Zähne, die wie Klötze aussahen, als warteten sie darauf, die Kehle des Menschen zerreißen zu können. Fatty zog seine Hand zurück. Er wollte plötzlich nicht mehr. Er hatte auf seine innere Stimme gehört und konnte nicht wissen, wie gut das gewesen war, denn es wäre der Zeitpunkt gekommen, wo Onopko keine Rücksicht mehr genommen hätte. Die Lage entspannte sich. Zudem lief der Zug in einem Bahnhof ein und verlor rasch an Tempo. Fatty stand auf. Über seine dicken, hellen Wangen lief der Schweiß in dünnen Bahnen. »Ich steige aus«, sagte er zu seinen Kumpanen, ohne Onopko noch eines Blickes zu würdigen.
»Aber hier nicht, Fatty, wir wollten zum Piccadilly.« »Ich steige trotzdem aus.« Die anderen verstanden seine Reaktion nicht, hielten ihn auch nicht zurück. Sie waren unsicher. Erst als sie der Lächler ebenfalls angeblickt hatte, da spürten sie auch etwas von dieser anderen Kraft, die in ihm steckte. Sie nickten und stemmten sich hoch. Der Zug hatte gestoppt. Aus den offenen Türen quollen die Fahrgäste auf den Bahnsteig und mit ihnen vier junge Leute, die nicht wußten, wie ihnen geschehen war, was eine Person wie Onopko nicht weiter störte. Er vergaß sie schnell. Das Schicksal meinte es gut mit ihm. Er hatte die Reise ausgezeichnet überstanden. Es war ihm gelungen, sich in der Kiste zu verstecken, er war durch den Zoll gelangt, und er hinterfragte auch nicht, wie das so rasch hatte geschehen können. Wahrscheinlich stand ihm die Hölle zur Seite. Er war eben etwas Besonderes. Onopko mußte noch einige Stationen fahren, bis er sein Ziel erreicht hatte. Nahe der Themse würde er aussteigen und dort auch irgendwo die Nacht verbringen. Der Kontakt zu seinen Schöpfern mußte intensiviert werden. Er würde sie besuchen, und er würde mit ihnen abrechnen. Er würde einen blutigen Weg hinterlassen, denn sie hatten ihn verraten. Onopko lehnte sich zurück. An seinem Rücken spürte er den Druck des im Gürtel steckenden Messers. Noch hatte er es nicht gebraucht – das aber würde sich ändern… *** Sir James hatte uns zugehört, hin und wieder die Brille mit den dicken Gläsern abgenommen, sie über den Schreibtisch geschoben, und wir hatten auf einen Kommentar seinerseits gewartet, doch er hatte sich in diesem Fall zurückhaltend gezeigt. Dann war der Anruf erfolgt. Man hatte am Flughafen in einer Lagerhalle die Leiche eines Mitarbeiters gefunden. Dem Mann war das Genick gebrochen worden. Sein Mörder schien aus einer Kiste geklettert zu sein, die aus Rußland eingetroffen war und den Zoll sogar passiert hatte. Ein Toter in der Lagerhalle eines Flughafens. Eine schlimme Sache. Kein normaler Fall, ein ungewöhnlicher Mord. Sir James hatte sich auf unsere Bitte hin kurz vor dem Gespräch noch mit einer Zentrale in Verbindung gesetzt und darum gebeten, daß er über alle Verbrechen informiert wurde, die in nächster Zeit passierten, und dazu hatte das Auffinden der Leiche gehört. Wir wußten, daß es Onopko gewesen war, denn die Ladung hatte aus Rußland gestammt.
»Er ist es, Sir«, wiederholte ich einige Male und schaute auf das Nicken meines Vorgesetzten. »Ja, er ist es.« »Und wir haben einen Grund, einzugreifen.« Sir James lehnte sich zurück. »Den haben wir in der Tat, John, und ich bin auch dafür – aber«, er legte eine Pause ein, »manchmal können Situationen eintreten, in denen wir zurückstecken müssen.« Das wollten wir nicht akzeptieren, und Suko kam mir zuvor. »Was heißt das, Sir? Sind wir draußen?« »Ich denke schon.« »Warum?« »Wir werden an die beiden Russen nicht herankommen. Sie haben mir von der Informationssperre berichtet. Ich denke, daß sie nicht nur für Sie beide gilt, sondern auch für andere Menschen, mich eingeschlossen, und ich sehe keine große Hoffnung, daß ich es schaffe, so leid es mir tut.« »Sie geben auf?« Ich stellte die Frage so, als hätte ich ihm nicht geglaubt. »Nein.« »Was dann?« »Ich fange erst gar nicht an.« »Das verstehe ich nicht, Sir«, flüsterte ich, und auch Suko schüttelte den Kopf. »Man wird mich nicht lassen. Sie und ich werden uns auf ein gefährliches Gebiet begeben. Es gibt da Menschen, die leider sehr empfindlich sind, spricht man sie auf Dinge an, zu denen sie offiziell nicht stehen können. Was macht es denn für einen Eindruck, wenn die Öffentlichkeit erfährt, daß unsere Leute mit Menschen zusammenarbeiten, die einmal ihre Feinde gewesen sind.« »Einen verdammt miesen, Sir«, erklärte Suko. »Eben. Und deshalb werden sie alles tun, um uns aus dem Spiel herauszuhalten.« Ich knirschte mit den Zähnen. »Wäre es nicht so ernst, hätte ich gelacht. Mir ist doch egal, ob Krommow und Tacharin hier in London oder an einem anderen Ort arbeiten. Wir wollen den Killer, wir wollen Onopko, den Lächler.« »Den es nicht gibt.« »Doch, Sir, es gibt ihn. Rufen Sie Wladimir Golenkow an.« Sir James winkte ab. Er lächelte dabei so seltsam, als würde er an unserem Verstand zweifeln. »Es gibt ihn nicht«, begann er und widersprach sich selbst. »Obwohl es ihn doch gibt. Aber niemand wird zugeben, daß es ihn offiziell gibt. Onopko stammt aus einer anderen Zeit. Das sind Altlasten, die niemand übernehmen will, damit sollten Sie sich abfinden.
Sie werden immer wieder auf Granit dabei stoßen, man wird Sie auflaufen lassen, wenn Sie bestimmte Fragen stellen…« »Wem können wir sie stellen?« fragte Suko. »Gewissen Leuten in hohen Geheimdienstpositionen oder in den Ministerien, die involiert sind. Wir können uns in diesem Fall nicht weit aus dem Fenster lehnen, Gentlemen.« Ich wippte mit dem rechten Fuß, um meine Ungeduld zu demonstrieren. »Hören Sie, Sir, das ist alles nicht wahr. Man… man… kanzelt uns hier ab wie Anfänger. Auch andere Personen sollten sich bewußt sein, daß Onopko eine Gefahr darstellt.« »Vielleicht sind sie sich das auch.« »Und warum tun sie nichts?« »Wer sagt Ihnen denn, daß dies so ist?« Mir gefiel das Lächeln unseres Chefs nicht. Ich hatte den Eindruck, als wäre er bereits von anderer Seite informiert worden und instruiert worden, uns aus der Sache herauszuhalten. Er bemerkte meinen Blick, und sein Lächeln verschwand. »Ich weiß, was Sie denken, John.« »So? Und was, Sir?« »Daß ich einen Hinweis bekommen habe. Einen Tip, mich aus der Sache herauszuhalten.« »Das glaube ich.« »Und ich ebenfalls«, sagte Suko. Sir James putzte wieder seine sauberen Brillengläser. Er wollte die Pause nutzen, um nach den richtigen Worten zu suchen. Als er sein Sehgestell wieder aufgesetzt hatte, begann er, mit der Sprache herauszurücken. »Es hat in Rußland schon einige Aufregung um das Verschwinden dieses Killers gegeben. Sein Abtauchen ist nicht nur Ihrem Freund Wladimir Golenkow aufgefallen, sondern auch anderen Menschen, die etwas zu sagen haben. Es gibt ja Verbindungen, und es existiert auch ein Geheimdienst, wenn auch nicht mehr in der Form wie damals. Aber man hat Informationen, man weiß Bescheid, und man weiß auch, woher auch immer, daß sich zwei dieser – sagen wir – Wissenschaftler nach England abgesetzt haben. Sie zählten zu Onopkos Ziehvätern, und er, der nun einsam ist, wird möglicherweise versuchen, sich wieder an seine Ziehväter zu wenden, die ihn gewissermaßen erschaffen haben.« Als er unser Kopfschütteln sah, sagte er: »Ich sehe schon, Sie können damit nicht leben.« »Auf keinen Fall, Sir«, bestätigte ich, und mein Freund Suko nickte dazu. »Das habe ich mir gedacht. Aber mir sind die Hände gebunden. Ich habe gewissermaßen Order erhalten, mich selbst und vorrangig auch Sie beide ruhig zu halten.« Mein Ärger war zu einer Wolke geworden, die immer höher stieg. »Das heißt, wir sind raus?«
»Sie fangen erst gar nicht an.« »Das können Sie uns nicht antun, Sir.« Der Superintendent hob die Schultern. »Es ist nicht meine Entscheidung, John.« »Und wer kümmert sich um den Lächler?« »Andere, denke ich.« »Wer?« hakte Suko nach. »Es wird genügend Menschen geben, die bereit sind, sich auf die Jagd zu machen. Und so unterbesetzt sind die Geheimdienste letztendlich auch nicht, sage ich mal.« Ich schüttelte den Kopf, weil ich die Worte unseres Chefs nicht fassen konnte. »Das haben Sie sich so einfach gefallen lassen, Sir?« »Pardon, John, aber ich bin nicht allmächtig. Die Aufgaben sind genau abgetrennt. Auch ich hätte es nicht gern, wenn Fremde in meinem Revier wildern. Das verstehen Sie doch.« »Ich kann es nachvollziehen, Sir, aber nicht begreifen«, sagte Suko. »Ganz und gar nicht. Hier geht es nicht um irgendeinen Killer, der für den Geheimdienst gearbeitet hat, hier existiert ein Wesen, das aussieht wie ein Mensch, in dessen Kopf aber das Gehirn eines Dämons eingepflanzt wurde. Was sagen Sie dazu?« »Ich gebe Ihnen recht.« »Dann werden Sie auch zustimmen, daß dies ein Fall für uns ist.« »Natürlich, Suko, aber was soll ich tun? Mit diesem Problem Onopko wollen andere fertig werden. Die beiden Wissenschaftler haben den entsprechenden Schutz erhalten. Wir können nichts tun. Man wird Onopko ausschalten, wenn er sich in dem Netz verfängt.« »In welchem Netz?« wollte ich wissen. »Ich denke, daß man ihn erwartet und man sich schon auf ihn vorbereitet hat.« »Wo erwartet?« »Bei seinen Schöpfern.« »Und die sind zusammen?« »Das ist möglich.« Ich beugte mich vor. »Wissen Sie denn, Sir, wo sich Tacharin und Krommow aufhalten?« Da ich die Antwort nicht sofort bekam, konnte ich davon ausgehen, daß unser Chef so uneingeweiht nicht war. Er sprach sehr indirekt, als, er sagte: »Jedenfalls befinden sie sich nicht in ihren Labors oder in den ihnen zur Verfügung gestellten Wohnungen.« »Wo dann?« Er wiegte den Kopf. »Ich kann es Ihnen beiden nicht sagen. Man hat mich zum Schweigen verpflichtet. Ich mache Ihnen folgenden Vorschlag. Gehen Sie ins Wochenende. Genießen Sie die beiden freien Tage. Das wunderbare Wetter wird sich halten. Dieser Oktober ist wirklich golden.
Es wäre eine Schande, wenn Sie in der Stadt zurückbleiben würden. Fahren Sie aufs Land, bewundern Sie die Natur und erfreuen Sie sich daran, daß man auch in einer gewissen Farbenpracht sterben kann.« Himmel, wie redete Sir James? Es war mir neu, daß er derartig poetisch sein konnte. »Das ist Ihr Ernst?« »Ja, so denke ich…« Ich war sprachlos. Auch Suko redete nicht. Wir kannten Sir James beide schon ziemlich lange, aber einen derartigen Ratschlag hatte er uns noch nie erteilt. Ich konnte mir beim besten Willen nicht erklären, wie er dazu gekommen war. Es mußte etwas zu bedeuten haben, das war nicht einfach so dahergesagt worden. Auch sein Blick verstärkte mich in meiner Meinung. Da lauerte etwas in seinen Augen, und er wartete darauf, daß ich ihm eine Frage stellte. Das ließ ich zunächst bleiben, ich wollte mich nicht blamieren und versuchte, seine letzten Worte als einen Ratschlag anzunehmen. »Ein Wochenende, meinen Sie, Sir?« »Ja.« »Suko und ich?« »Das denke ich mir.« »Wir beide ohne Partnerinnen.« »Wäre besser.« Er schaute nach draußen und deutete auf das Fenster. »Dieses Wetter lädt doch dazu ein. Was glauben Sie, was an diesem Wochenende alles in Bewegung ist. Der Oktober ist auch gleichzeitig Jagdzeit, in den Revieren knallen die Gewehre. Menschen laden Freunde ein, um auf die Jagd zu gehen, das hat Tradition, und ich könnte Ihnen sogar ein Jagdhotel vorschlagen, in dem Sie dann zwei Nächte verbringen. Es sind noch zwei Zimmer frei.« »Die sie schon reserviert haben, nehme ich an«, sagte Suko. »Ich kann es nicht leugnen.« »Sind Sie um unsere Entspannung so besorgt?« fragte ich mit einem leichten Lächeln. »Hin und wieder schon«, gab er zu. In seinen Augen blühte die List. »Sie werden natürlich nicht allein in diesem Hotel wohnen, das steht fest, es sind auch andere Gäste da.« »Die Jagdgesellschaft«, sagte Suko. »Ja.« »Und was sind dies für Leute?« Sir James hob die Schultern. »Hochgestellte Persönlichkeiten, sage ich mal.« »Aus Politik und Wissenschaft?« »Kann man sagen. Man will gewissen Leuten eine Freude machen und sie von ihrem Streß ablenken.« »Aha.« »Fahren Sie am besten hin. Es ist nur eine kleine Gesellschaft, nichts Offizielles, aber Sie werden sich bestimmt wohl fühlen. Ach so, ich
vergaß, es könnte sein, daß auch ausländische Jagdfreunde eingeladen worden sind.« »Russen?« fragte Suko. »Möglich.« »Die wir natürlich nicht kennen.« »Nein, nein, nicht persönlich.« Sir James lächelte. Er reichte Suko einen Umschlag. »Dort finden Sie den Hotelprospekt, und ich wünsche Ihnen ein wunderbares Wochenende«, sagte er mit einem Blick auf seine Uhr. Wir wußten Bescheid. Sir James hatte das Gespräch beendet, wir waren entlassen, und er reichte uns zum Abschied die Hand, wobei er uns Jagdglück wünschte. »Horrido!« sagte ich nur, als ich das Büro verließ und Suko bereits im Gang stehen sah. Er grinste. »Alles klar?« »Fast. Wir kennen die Mitglieder nicht persönlich, hat Sir James gesagt, aber es wäre möglich, daß uns zwei Namen bekannt sind.« »Krommow und Tacharin.« »Zum Beispiel.« Suko rieb seine Hände. »Dann würde ich sagen, daß wir es packen. Oder hast du was dagegen?« »Wie käme ich dazu? Außerdem wird uns ein Wochenende in der Natur gut zu Gesicht stehen, da hat Sir James schon recht.« »Fühlst du dich denn als Jäger?« »In diesem Fall schon. Aber mehr wie jemand, der Jagd auf zweibeinige Beute macht…« »Die dann Onopko heißt.« »Ich kann nicht widersprechen…« *** Der Lächler war glücklich, denn er hatte das richtige Versteck gefunden. Zuerst aber war die Vergangenheit zurückgekehrt. In seinem Kopf hatte sich das gespeicherte Wissen wieder gelöst, und er hatte es praktisch wie ein Programm abfahren können. Da war Information zu Information zusammengekommen, und es hatte sich ein Bild hervorgeschält, das vor seinen Augen schwebte. Er wußte plötzlich, wo er hinzugehen hatte. Es gab einen Ort, an dem man ihn erwartete. Der Ort lag einsam. Er war von Wäldern und Wiesen umgeben, aber auch von kleinen Flußarmen und Bächen. Kleine Seen und Teiche gab es dort ebenfalls, wobei die Ufer von Schilfgürteln umgeben waren. Den Ort zu finden, würde ihm keine Schwierigkeiten bereiten, es war für ihn nur wichtig, den richtigen Weg zu finden, um letztendlich in ihrer Nähe zu sein.
Daß er ihnen schon nähergekommen war, spürte er sehr deutlich. Ihre Gedanken konnten sie nicht mehr von den seinigen trennen. Sie waren seine Väter, und Familien gehörten schließlich zusammen. Als er daran dachte, mußte er lachen, und zwar so laut, daß die Gäste am Nachbartisch des Schnellrestaurants die Köpfe hoben und zu ihm hinüberblickten. Er starrte sie nur einmal an, dann schauten sie wieder weg. Diese kalten Augen hätten besser zu einem Toten gepaßt. Bei einem Lebenden wirkten sie fremd. Onopko hatte von einem Hamburger wohl schon gehört, das Verspeisen einer derartigen Mahlzeit war für ihn eine Premiere. Er öffnete den Mund, dann biß er hinein. Er kaute auf dem weichen Zeug herum und aß, ohne zu schlucken. Aus dem Pappbecher stürzte er die Cola in seinen Rachen, und die im Becher rutschenden Eiswürfel klickten gegen sein mächtiges Gebiß, dann stellte er ihn wieder hin. Satt war er nicht. Es gab Tage, da konnte er wahnsinnig viel essen. Heute war solch ein Tag, aber der Hamburger hatte ihm nicht geschmeckt, und so verzichtete er auf einen zweiten. Er verließ das Restaurant, blieb stehen und schaute sich den Trubel an. Er wußte, daß er aus der großen Stadt heraus mußte. Der Zwang zog ihn nach Westen, hinein in die Natur, deim nur dort würde er sein Ziel auch finden. Er besaß noch etwas Geld, allerdings nicht genug, um mit dem Zug fahren zu können. Deshalb hatte er sich für eine andere Möglichkeit entschieden. Ihm war vieles beigebracht worden. So kannte er sich mit westlichen oder japanischen Automarken aus, und es bereitete ihm keine Mühe, sich einen fahrbaren Untersatz zu besorgen. Den Honda fand er in einer Seitenstraße, wo soeben ein junger Mann ausstieg. Die Passanten kümmerten den Lächler nicht. Wenn er handelte, war er schnell wie eine Schlange, die nach Beute stieß. Den jungen Mann überraschte er, als dieser soeben seinen Autoschlüssel einstecken wollte. Der Fahrer sah die Faust nicht einmal. Er spürte nur einen irrsinnigen Schmerz in seinen Nacken, der ihn regelrecht vibrieren ließ, dann brach er zusammen und wurde von dem Lächler aufgefangen. Sekunden später hielt Onopko den Schlüssel in der Rechten und hatte den Bewußtlosen unter dem Lastwagen, der vor dem Honda parkte, geschoben. Onopko mußt sich ducken, als er einstieg. Der Wagen gehörte zwar zur Mittelklasse, ihm aber war er zu eng, und so stellte der Lächler den Sitz weit zurück und arbeitete zudem an der Rückenlehne. Jetzt kam er einigermaßen zurecht. Er mußte nur aus der Parklücke heraus, was nicht so einfach war. Doch mit der eiskalten Gelassenheit eines Killers schaffte er auch dies. Ein
Blick auf die Tankanzeige bewies ihm, daß er eine gute Wahl getroffen hatte, denn der Tank war fast voll. Onopko war zufrieden. Er fuhr seinem Gefühl nach, blieb nahe der Themse, unterquerte sie durch den Blackwell Tunnel, fuhr dann in Richtung Woolwich, hielt sich dabei oft in Sichtweite des Flusses, dessen Bett von Meile zu Meile an Breite zunahm. Auch die Gegend hatte sich verändert. Die Stadt lag hinter ihm, er glitt hinein in die Natur, wo die Straße schmaler wurde. Onopko ließ sich Zeit. Er wußte, daß er das Ziel bis zum Einbruch der Dunkelheit erreicht haben würde. Die Signale in seinem Gehirn hatten sich verstärkt, sie wiesen ihm den Weg, und er freute sich darüber. Nur schaffte er es nicht, herauszufinden, wer ihm diese Signale zusandte, ob es nun Krommow oder Tacharin war. Er schaltete auch das Radio ein. Fremde Musik erreichte seine Ohren. Für Onopko war es keine Musik, nur eine Anhäufung von Tönen und Geräuschen. Von Techno hatte er noch nie etwas gehört, es gefiel ihm nicht, und er schaltete die Dudelkiste wieder aus. Der Lächler konzentrierte sich auf seine Fahrt. Er kam sich vor wie in einem Märchen. Es gab eine wunderbare Welt um ihn herum, vom Sonnenschein gefärbt, von Wäldern und Feldern duchzogen, wobei die Bäume bereits ihr buntes Kleid übergestreift hatten, denn das Laub schillerte in zahlreichen Farben. Er fing an, dieses Land zu lieben, denn die letzten Jahre wollte er vergessen. Da hatte er den Sonnenschein vermißt, da war viel Dunkelheit um ihn herumgewesen. Das Grau der Zelle, vermischt mit einer widerlichen Kälte, denn einen Ofen hatte es in seinem Knast nicht gegeben. Diese Welt hier war anders. Sie gefiel ihm, er würde sich wohl fühlen können, und trotzdem wuchs sein Haß an, denn er dachte daran, was mit ihm geschehen war. Was man ihm in den letzten Jahren vorenthalten hatte. Das alles hier hätte er viel früher haben können, und er regte sich schrecklich darüber auf, daß dem nicht so gewesen war. Seine Rachepläne nahmen konkretere Formen an. Er malte sich aus, wie er wen umbringen würde, denn seine Väter hatten diese Landschaft im Gegensatz zu ihm schon lange genießen können. Die Hände mit den breiten Gelenken umkrampften das Lenkrad so hart, als wollten sie es zerbrechen. In seinem Kopf spürte er das dumpfe Gefühl, er hatte den Eindruck, schwer darunter zu leiden, und seine Gesichtsmuskeln fingen an zu schmerzen. Er grinste und schaute sich dabei im Innenspiegel an. Sein Gesicht war zu einer bösartig wirkenden Maske erstarrt, die Augen glichen kalten Kugeln, aber er fand sich gut. Er fand sich wunderbar, und noch besser fühlte er sich, als er sich auf den Druck des Messers in seinem Rücken
konzentrierte. Er würde es ihnen zeigen, allen würde er es zeigen. Sie sollten sich wundern. Schatten lenkten ihn ab. Wie flüchtig gemalte Bilder huschten sie über die Scheiben des Honda hinweg, als wäre er von seltsamen Lebewesen umringt, was nicht so recht stimmte, denn die Schatten wurden von den Zweigen der Bäume hinterlassen, die den Wald bildeten. Er schloß ihn und die Straße ein. Wie ein rollendes Phantom huschte das Auto durch die Einsamkeit. Der nächste Ort lag einige Meilen entfernt, und als der Killer ihn erreicht hatte, langsamer fuhr, sich dabei noch umschaute, da fiel ihm auch die Idylle auf, die hier herrschte. Verschlafen, verträumt, wenig Verkehr, so lag das Dorf inmitten eines flachen Geländes und auch nicht weit vom Fluß entfernt, in dessen Nähe er fahren mußte, das spürte der Killer. Der Strom mit seinen zahlreichen Nebenarmen drückte der Landschaft sein Zeichen auf. Der Lächler war in einen schmalen Pfad abgebogen. Er hatte einfach das Gefühl gehabt, dies tun zu müssen, wahrscheinlich auch deshalb, weil hin und wieder das Dach einer Hütte oder eines kleinen Hauses über das Strauchwerk hinweggeschaut hatte. Onopko wußte, daß er sich nicht mehr weit von seinem Ziel entfernt befand. Einige Meilen noch, dann war er da, und der Kontakt hatte sich verdichtet. Riefen sie ihn? Rief er sie? Es stand nicht fest. Es war auch möglich, daß sie ihn nicht wollten und schon ihre Vorbereitungen getroffen hatten, aber das störte ihn nicht im geringsten. Er würde kommen, er würde sie packen, denn das Band zwischen ihnen konnte nur durch den Tod des anderen zerrissen werden. Ansonsten waren sie stets an einer langen Leine miteinander verbunden. Das wiederum freute ihn. Da konnten sie machen, was sie wollten, er würde sie immer finden. Der schmale Pfad verengte sich noch mehr. Er war jetzt kaum zu sehen, denn auf der Oberfläche hatte sich eine dichte Grasschicht festgesetzt. Sie wirkte wie ein Teppich, unter dem die Unebenheiten des Bodens verschwunden waren. Der Lächler wußte, daß der Weg bald enden würde. Wahrscheinlich im weichen Ufergelände eines kleinen Flußarmes, wo er mit seinem normalen Fahrzeug nicht mehr weiterkam. Noch trugen die Sträucher ihre Blätter. Sie gaben auch Lücken frei, und dort fand Onopko genau das, was er suchte. Eine kleine Hütte. Er hielt an.
Den Wagen brauchte er nicht zu verstecken. Hierher würde kaum jemand kommen. Und wenn einer eintraf, dann hieß der Grund einzig und allein Onopko, aber auf den war er vorbereitet. Er blieb neben dem Honda stehen und schnüffelte. Es war die Luft, die ihm so herrlich in die Nase stieg. Ein besonderer Geruch, den er nicht kannte oder sich zumindest nicht mehr an ihn erinnern konnte, obwohl es in seiner Heimat auch die Jahreszeit des Herbstes gab, aber das hatte er längst vergessen. Es roch nicht alt, es roch auch nicht frisch oder jung. Alles lag irgendwo dazwischen. Er schaute hoch zum Himmel. Er war nicht mehr so klar. Dunst hatte sich hier am Wasser gebildet, der sich am Abend zu Nebelschwaden verdichten würde. So etwas machte ihm nichts aus. Wo er hinkommen wollte, da kam er auch hin. Er war nur gespannt, wie seine Väter reagieren würden. Sie hatten ihn längst bemerkt, sie mußten ihn bemerkt haben, denn das beruhte auf Gegenseitigkeit. Sie würden Gegenmaßnahmen ergreifen müssen, denn er glaubte nicht daran, daß sie ihn ungeschoren lassen würden. Sie hatten sich nach dieser Wende eine eigene Welt aufgebaut, in der sie die Vergangenheit nicht einholen sollte, denn so etwas konnte ihrer Reputation schaden. Der Kontakt zwischen den Vätern und dem Sohn war nie abgebrochen. Er war nur schwächer geworden, bedingt durch die Distanz, und trotzdem hatte Onopko gespürt, daß sie ihn nicht vergessen hatten. Möglicherweise wegen ihres schlechten Gewissens, das sie ihm gegenüber haben müßten. Sie kamen aber nicht aus ihrem geistigen Gefängnis heraus, er und die beiden waren verbunden, sie bildeten ein Dreieck, wobei sich der Killer selbst als die Spitze bezeichnete. Während er die Zweige der Sträucher zur Seite bog, um sich Platz zu schaffen, dachte er darüber nach, welche Gegenmaßnahmen sie wohl ergriffen hatten. Sie würden ihn sicherlich vernichten wollen. Möglicherweise hatten sie noch ihre alten Kontakte in die Heimat aktiviert, damit man ihn dort verschwinden ließ. Er grinste wieder, als er daran dachte, wie er es ihnen gezeigt hatte. An Aufgabe würden sie nicht denken, sie mußten etwas tun, sollte ihre Zukunft nicht schon beendet sein. Wahrscheinlich hatten sie mächtige und auch einflußreiche Freunde, die ihnen zur Seite standen. Derartigen Leuten würde es nicht schwerfallen, sich Killer zu besorgen, die gewisse Aufgaben gern übernahmen. Auch Onopko wußte von Geheimdiensten und deren Beziehungen. Er rechnete damit, daß er mit dem einen oder anderen Mitgied einer derartigen Truppe in Kontakt treten würde, aber davor hatte er keine Angst. Überhaupt war ihm dieser Begriff fremd.
Endlich hatte er freie Sicht bekommen. Schon beim flüchtigen Hinschauen überzog ein Lächeln sein gesamtes Gesicht. Idealer hätte er es nicht antreffen können, denn er sah vor sich das schmale Bett des Nebenarms, dessen Wasser eine Farbe in unterschiedlichen Grüntönen zeigte. Er sah den dunklen Gürtel aus Gras und Sträuchern am anderen Ufer, und er sah zum Greifen nahe das kleine Bootshaus. Ein Steg führte zum Wasser, und dort dümpelte ein Ruderboot. Das Bootshaus bestand aus braunen Bohlen. Es war ziemlich windschief, und danach sah auch die Tür aus, die der Killer öffnen mußte. Er gab sich ganz locker, er wußte, daß niemand im Haus war, und wenn, dann hätte dieser unbekannte Gast ihn auch nur als einen vom Flußdunst umgebenen Schatten gesehen. Onopko war trotzdem auf Nummer Sicher gegangen. Er hielt sein Messer in der Hand. Die mattblinkende Klinge wies schräg in das Bootshaus hinein, in dem sich nicht mal eine Katze versteckt hielt. Eine direkte Einrichtung gab es auch nicht. Zwei alte Feldbetten, die zusammengeklappt werden konnten, ein Tisch, ein paar Konservendosen und Angeln, die in der Ecke im Winkel standen. Nicht einmal ein Dieb wäre hier zufrieden gewesen, es sei denn, er sammelte Angeln. Onopko grinste wieder. Er schaute auf das Bett und spürte plötzlich so etwas wie Müdigkeit. Er brauchte nicht unbedingt zu schlafen, er hätte über Tage wach bleiben können, wenn sich aber die Gelegenheit bot, dann legte er sich nieder. Zuerst schloß er die Tür. Fenster gab es in dieser Hütte nicht. Zumindest keine, die den Namen verdient hätten. Zur Wasserseite hin sah er zwei Luken, in denen aber kein Glas schimmerte. Er stellte sich vor eine und blickte auf den träge dahinfließenden Fluß. Die Sonne war mittlerweile tiefer gesunken, so daß das jenseitige Ufer bereits im Schatten lag. Auf der Fläche zeichneten sich schwach die Umrisse der Sträucher ab, sich manchmal bewegend im Rhythmus der Wellen. Er strich über seine Stirn. Kein Schweißtropfen hatte auf der Haut gelegen. Im Gegenteil, er spürte mehr eine gewisse Kälte in sich. Er konnte sich die Herkunft nicht erklären, sie war einfach da und schien sich wie Eis über seine Knochen gelegt zu haben. Er trat einen kleinen Schritt zurück. Dann probierte er das erste Feldbett aus. Er war zufrieden und streckte sich aus. Die Kälte aus seinen Gliedern war wie ein Spuk verschwunden, und er wollte auch nicht darüber nachdenken, wie es möglich gewesen war, daß sie ihn erwischt hatte. Alles war so anders geworden, so gleichgültig. Nur das eine Ziel interessierte ihn, und das hatte sich in seinem Kopf festgesetzt, allerdings nicht so stark, als daß es ihn hätte wach bleiben lassen. Es dauerte gar nicht lange, da war der Lächler eingeschlafen.
*** »Na denn«, sagte Suko und atmete tief durch, als wir London endlich hinter uns gelassen hatten. »Was hast du?« »Nichts. Ich freue mich nur über diesen herrlichen Tag und die wunderbare Luft.« »Wie schön.« Suko hatte meine Antwort nicht gefallen. »Bist du sauer, wütend oder etwas in dieser Richtung?« »Wie kommst du darauf?« »Deine Stimme klingt so.« »Ich kann mich eben nicht verstellen.« »Hast du denn einen Grund?« »Und ob.« Ich erhöhte das Tempo, weil die Straße glatt wie eine Piste vor uns lag. »Man hat uns doch für dumm verkaufen wollen. Wenn wir nicht so stark nachgebohrt hätten, wäre gar nichts gelaufen, verstehst du? Überhaupt nichts. Sir James wäre verschlossen wie eine Auster geblieben, was er auch jetzt noch ist, denn Konkretes hat er nicht gesagt. Alles ist verschwommen, indirekt, und ich weiß nicht mal, ob wir in diesem Fall bei Sir James Rückendeckung haben.« »Warum das nicht?« »Kann er sich die leisten?« Suko lächelte und hob die Schultern. »Ich meine, daß du ihn nicht so verurteilen sollst, John. Der saß schon in einer Zwickmühle, das kannst du mir glauben. Wie sagt man? Sachzwänge oder so.« »Kann sein.« »Aber der indirekte Tip war gut.« »Das wird sich herausstellen.« Das kleine Jagdhotel lag auf halber Strecke in Richtung Caterbury. Wir rollten nach Westen, sahen hin und wieder die Themse, die hier breiter geworden war. Das Land war eben*. Wälder, Wiesen, kleine Seen und schmale Flußarme zeichneten es wie Adern die Gesichtshaut eines Menschen. Auf dem Prospekt war angegeben worden, wie man zu fahren hatte, um das Hotel zu erreichen. Es lag abseits einer jeglichen Ansiedlung, umgeben von dichten Wäldern, und die Jagdreviere waren zu Fuß zu erreichen. Darauf wurde im Text extra hingewiesen. Die Welt um uns herum hatte ihre herbstliche Klarheit verloren. Leichter Dunst war aufgezogen. Vom Fluß her breitete er sich aus und trieb wie dünne Watte in das Land hinein. Das herrliche bunte Laub der Bäume begleitete uns ebenso wie die allmählich dunkler werdende Bläue des Himmels. Wir hatten eine Weile nicht gesprochen, und es war Suko, der das Schweigen brach. »Ich habe nur eine Befürchtung«, sagte er. »Welche?«
»Daß man uns erkennt.« Ich hob die Augenbrauen und wollte von meinem Freund wissen, wer uns denn erkennen könnte. »Vielleicht ist uns das eine oder andere Mitglied der Jagdgesellschaft schon über den Weg gelaufen. Zudem ist vorstellbar, daß Tacharin und auch Krommow durch Bodyguards geschützt werden, und so unbekannt sind wir bei den Brüdern vom Geheimdienst auch nicht.« »Da könntest du leider recht haben.« Keiner von uns hoffte es. Trotzdem mußten wir uns darauf einstellen. Ich wartete darauf, daß eine Straßenkreuzung erschien, an der wir nach Nordwesten hin abbiegen mußten. Der Weg führte direkt zum Hotel, vorbei an einer kleinen Ortschaft, die Wood-on-Themse hieß, in der wir aber nicht anhalten würden. Wir konnten sie auch auf einer Nebenstraße umfahren und bogen sehr bald in einen Weg ein, der direkt zum Ziel hinführte. Hinein in den Wald, der tatsächlich durch die tiefliegenden Strahlen der Sonne wie vergoldet wirkte. Selbst die dunklen Stämme der Bäume hatten einen matten Schimmer bekommen, und manche Blätter glänzten wie kostbare Taler oder Goldstücke. Eine wunderbare frische Luft drang durch die halbgeöffneten Seitenscheiben in den Rover. Es war wirklich ein Tag zum Spazierengehen, zum Faulenzen, zum nochmaligen Luftholen, bevor sich die schöne Jahreszeit endgültig verabschiedete und den dunklen Wintermonaten Platz schuf, mit seinen kurzen Tagen und langen Nächten. Ab und zu tauchte ein Hinweisschild auf das Hotel auf. Die Schrift war schon verwaschen, doch wer es finden wollte, der kannte den Weg sicherlich. Auch wir gelangten hin, und ich mußte unwillkürlich an ein Märchen denken, als sich der Weg verbreiterte, dann öffnete und uns den Blick auf ein Gebäude freigab, das beim flüchtigen Hinsehen tatsächlich an ein kleines Märchenschloß erinnerte, es aber nicht wahr, denn das Hotel bestand aus einem wie wuchtig dahingestellten Herrenhaus mit einer relativ glatten Fassade ohne viel Schmuck und Prunk, dafür aber von Efeu und anderen Pflanzen überwuchert, die die Flächen zwischen den einzelnen Fenster bedeckten und sich wie ein dünnes Spinnennetz spreizten. Man hatte die Wärme der Sonne ausgenutzt und zahlreiche Tische sowie Stühle nach draußen gestellt. Im Hochsommer wurden sie in den Schatten der Bäume gesetzt, das war um diese Zeit nicht mehr nötig, denn der glühende Ball hatte sich schon zurückgezogen. Von uns aus gesehen links standen die Wagen der Hotelgäste. Ich mußte zugeben, daß die Leute nicht gerade zu den ärmsten gehörten, denn einige Fahrzeuge zählten zur Oberklasse, die Geländewagen eingeschlossen, auf deren Lack sich noch letzte Sonnenstrahlen
spiegelten. Wir fanden eine Lücke, rollten hinein, stiegen aus und holten unser Gepäck vom Rücksitz. Als ich den Wagen abschloß, bemerkte ich Sukos skeptischen Blick. »Was hast du?« Er hob die Schultern. »Es sieht seltsam aus, dieses Hotel. So leer, als wäre es unbewohnt.« »Vielleicht sind die Gäste im Wald.« »Mmh.« Wir gingen auf den Eingang zu, der aus einer doppelflügeligen Tür bestand, die, kurz bevor wir sie erreicht hatten, von innen geöffnet wurde. Eine junge Bedienung verließ das Hotel. Sie sah uns, lächelte und hieß uns willkommen. Ich sprach sie an. »Pardon, aber uns interessiert, ob die Mitglieder der Jagdgesellschaft schon eingetroffen sind.« »Natürlich.« Sie lächelte, und ihre Augen wurden groß. »Seit einigen Stunden schon. Sie haben sich im Jagdsaal versammelt.« »Wann startet die Jagd?« »Im Morgengrauen.« »Danke, das wollte ich wissen.« Die Kleine nickte uns zu. Dann ging sie zu den Tischen, um sie abzuwischen. Wir betraten das Hotel und gelangten in eine Halle, deren hohe Decke mir sofort ins Auge stach, wie auch die mit Bildern geschmückten Wände, deren Motive allesamt mit der Jagd zu tun hatten. Wir sahen Ölgemälde ebenso wie Stiche, aber auch Geweihe sowie präparierte Fuchs-, Hasen- und Rebhuhnköpfe. Die Einrichtung war dem Stil des Hauses angepaßt. Schwere Sessel mit grünem Leder bezogen, ein großer Teppich, rund wie ein gewaltiger Vollmond, auf dem ebenfalls Jagdmotive zu sehen waren. Ein Lüster hing von der Decke. Die Helligkeit seiner Lampen konnten durch einen Dimmer gesteuert werden. Noch war die Stärke nicht voll aufgedreht worden, aber das Licht reichte aus, um gewisse Einzelheiten erkennen zu können. Eine sehr breite Treppe führte nach oben. Sie war allerdings nur zur Hälfte einsehbar, dann knickte sie nach links weg. Die Rezeption befand sich in einem abgeteilten Areal der Halle rechts von uns, und zwei junge Damen mit weißen Blusen und grünen Westen lächelten uns entgegen. Wir sagten den üblichen Spruch auf, wurden noch einmal begrüßt und erhielten die Zimmerschlüssel. Eine der beiden Damen deutete auf einen Flur. »Wenn Sie sich nach rechts wenden, liegen die Zimmer in der ersten Etage.« »Danke.« Der Gang war nicht sehr breit. Die Wände zeigten ein trübes Weiß. Vor diesem Hintergrund malten sich die ausgestopften Tiere und Geweihe um so deutlicher ab.
Wir konnten die Treppe nehmen oder den Lift. Da wir lange genug gesessen hatten, entschieden wir uns für die Treppe, gelangten in die erste Etage und hatten nur noch wenige Schritte bis zu den beiden Zimmern, die direkt nebeneinander lagen. Die Türen zeigten einen rustikalen Touch. Ihre Farbe lag zwischen Grün und Braun, doch wir kamen nicht mehr dazu, sie zu öffnen. Aus dem Hintergrund des Flurs löste sich ein Schatten, und eine uns bekannte Stimme erreichte unsere Ohren. »Willkommen im Jagd-Hotel, ihr Geisterjäger…« Uns hatte es vor Überraschung den Atem verschlagen, denn gesprochen hatte Wladimir Golenkow… Urplötzlich war Onopko wach, blieb aber noch wie tot liegen und öffnete die Augen auch nur spaltbreit. Er hatte etwas gehört! Oder auch nicht? Wie dem auch sei, jedenfalls hatte sein Unterbewußtsein eine Warnung an das Bewußtsein geschickt – falls das überhaupt möglich war. Jedenfalls war er wach. Und er atmete tief ein. Es entstand dabei ein zischendes Geräusch, und nach diesem Atemzug fühlte er sich regelrecht leicht und beschwingt. Dennoch blieb er liegen. Er wußte ja, was er sich selbst und seinem Job schuldig war. Nur nichts übereilen, immer abwarten, bis der günstigste Zeitpunkt eingetreten war, um dann überraschend zuzuschlagen. Stille umgab ihn. Er hörte nicht mal das Plätschern des Wassers. Er öffnete die Augen völlig und konnte jetzt die beiden Fenster links und rechts der zweiten Tür sehen, hinter der der Steg begann und ein Stück ins Wasser hineinführte. Es war schon ziemlich finster geworden. Ideale Verhältnisse für jemand, der sich ungesehen an ein Ziel heranschleichen wollte. Hatte ihn dieser Gedanke geweckt? War er durch sein Unterbewußtsein gegeistert? Möglich, nein, bestimmt sogar. Onopko dachte darüber nach, als er sich aufrichtete und zugleich das Gesicht verzog, weil er das Knarren seines provisorischen Betts nicht verhindern konnte. Er blieb sitzen. Wieder lauschte er. Onopko war jetzt hellwach. Mit der rechten Hand tastete er nach seinem Messer. Es war noch da. Die Schneide verbarg die Klinge. Er grinste in das Zwielicht hinein, als er seine Beine zur Seite schwang und die Füße auf den Boden stellte. Seine klobigen Schuhe hatte er nicht ausgezogen. Sie hatten glücklicherweise eine weiche Sohle, so daß er sich beinahe lautlos bewegen konnte. Für einen Moment blieb er stehen, um sich zu recken, dann ging er vor und blieb direkt am rechten der beiden Fenster stehen. Der erste Blick nach draußen. Es war nichts zu sehen, wie er sich schon gedacht hatte.
Der stumme Fluß und das Buschwerk verschwammen im Zwielicht. Er war kaum in der Lage, Unterschiede auszumachen. Grüne und graue Farben mischten sich. Der Himmel hatte die Röte der untergehenden Sonne nicht ganz verloren. Sie war noch im Westen zu sehen, wo sie dem Himmel einen schalen Glanz gab, in dem das Grau der hereinbrechenden Dunkelheit immer mehr die Oberhand gewann. Onopko leckte über seine wulstigen Lippen. Es war widerlich anzusehen. Hinzu kam das leise Lachen, das dieses Lecken begleitete, und er zog auch die Schultern in die Höhe, als würde er frieren. Seine Augen hatten sich geweitet, nur so glaubte er, die Dunkelheit durchdringen zu können. Er war geweckt worden, eine Gefahr sah er nicht, aber er spürte sie. In seinem Gehirn begann es zu arbeiten. Es war nicht das Gehirn eines Menschen, das mußte er sich immer wieder ins Gedächtnis zurückrufen, er dachte zwar wie ein Mensch, wenn es um die lebensnotwendigen Dinge ging, tatsächlich aber war er besser, viel besser geworden. Man hätte ihn auch als sensibler bezeichnen können, aber darauf iegte Onopko keinen Wert. Er war auf der Welt, um gewisse Vorgänge zu führen, auch diejenigen, die hinter den normal sichtbaren waren. Das schaffte er. Und deshalb hatte ihn die Kraft geweckt. Die Warnung eben seines fremden Gehirns, und urplötzlich war er sich sicher, daß die Gefahr nahte. Sie war nicht mehr weit entfernt. Er konnte sie nur nicht sehen, aber durch sein verändertes Gehirn tasten. Sie lauerte… Aber auch er lauerte! Und sein Mund zog sich wieder in die Breite, um zu einem grinsenden Maul zu werden. In den Augen erschien kein Leuchten, sie blieben starr, aber sehr aufmerksam. Und noch etwas war geschehen. Hinter der Stirn begann das Gehirn zu arbeiten. Die Stelle, die wegen der Operation aufgeschnitten worden war, fing an zu glühen. Es sah aus, als hätte ihm jemand einen roten Faden querüber die Stirn gezogen, und auch im Innern seines Kopfes wollte das Glühen nicht aufhören. Er war bereit! Mit einem Schritt nach rechts war er vom Fenster weggetreten. Für einen Moment lehnte er sich gegen die Wand. Er wollte nicht, daß die Stirn auch weiterhin glühte. Es war einfach zu gefährlich, denn es hätte zu leicht gesehen werden können. Kein Ziel bieten. Wenn es je ein Ziel gab, dann sollten es die anderen sein. Er spürte, wie sein Kopf wieder normal wurde. Durch die Nase holte er Luft. Er war überzeugt, daß er das Hindernis schaffte, und wenn er ehrlich gegen
sich selbst war, dann freute er sich sogar darauf, es aus dem Weg zu schaffen. Einfach so… Wieder warf er einen Blick nach draußen. Es hatte sich etwas verändert, denn das rote Glühen des Himmels war verschwunden. Die Dunkelheit hatte den Kampf gegen den Tag gewonnen. Das Wasser des Flusses war mit ihr eine Verbindung eingegangen, es gab keine festen Konturen mehr, die Zeit der Mörder und heimtückischen Killer war angebrochen, denn bessere Voraussetzungen konnten sie nicht finden. Sie würden kommen, er spürte sie, und er wußte, daß er sich genau die richtige Seite ausgesucht hatte. Seine Augen konzentrierten sich auf das Wasser. Es war für ihn die einzige Möglichkeit, die es gab. Durch das Wasser zu kommen gab eine ideale Deckung, das wußte Onopko genau, und er konzentrierte sich dabei auf die Oberfläche. Sie kräuselte sich im leichten Wind. Doch die Dunstschwaden blieben. Normal…? Bis jetzt schon, aber etwas störte ihn. Es befand sich im Wasser, ungefähr in der Mitte des toten Flußarms. Ein Kräuseln auf der Oberfläche, als hätte jemand in der Tiefe herumgerührt. Danach bewegte sich dieses Kräuseln weiter, die Wellen nahmen an Stärke zu, und für den Lächler gab es nur eine Erklärung. Dort bewegte sich jemand. Oder waren es zwei? Er konnte es nicht sagen. Auf keinen Fall trugen für die Bewegungen irgendwelche Fische die Verantwortung. Das hätte er mit keinem Strich unterschrieben. Zudem hätte er die Fische auch vorher schon sehen müssen, sie waren es nicht. Zwei Killer! Er lachte leise, als sie sich zeigten. Etwa dort, wo der Steg im Wasser endete, tauchten sie für einen kurzen Moment auf. Es waren keine Gesichter zu sehen, in der Finsternis wirkten sie wie aufgeschwemmte Blasen, was ganz natürlkii war, denn die beide Männer trugen Taucherbrillen. Sie wollten sich orientieren, und Onopko gratulierte sich dazu, daß er nicht am Fenster stand, wo er von draußen gesehen worden wäre. Er wartete. Zeit verging… Die beiden Männer hatten sich vom Steg entfernt. Sie gingen jetzt durch das flachere Wasser. Bevor sie im toten Winkel verschwanden, konnte Onopko sie noch genauer sehen. Beide Gestalten waren von dunklen Neoprenanzügen umhüllt, so daß sie aussahen wie zwei überlebensgroße Fische, das war alles.
Sie hielten sich unter dem Steg auf. Dort würden sie sich von den Masken und ihren Schnorcheln befreien. Sicherlich würden sie ihr weiteres Vorgehen beraten, das gab dem Killer Gelegenheit, sich auf sie einzustellen. Er wollte sie erwarten. Aber wie? Es gab verschiedene Möglichkeiten. Er konnte sich in den toten Winkel verdrücken und einfach abwarten, bis etwas geschah. Eine andere Möglichkeit bestand ebenfalls. Die Flucht durch die Vordertür. Das wäre nicht seine Art gewesen, also hatte er sich für die dritte Alternative entschieden. Einfach so tun, als wäre nichts geschehen. Sich ins Bett legen, gut vorbereitet sein und darauf warten, daß sie kamen. Es war ein Risiko, das er damit eingehen würde, aber er liebte die Gefahr und zog sich zurück. Kein Licht, auch die anderen würden sich im Dunkeln vortasten, aber er kannte sich in der Hütte aus, das war sein Vorteil. Onopko setzte sich auf die Bettkante. Vorsichtig legte er sich nieder, die dabei entstehenden Geräusche ignorierte er. Er wollte sie einfach nicht wahrhaben. Dann lag er auf dem Rücken. Hätte ihn jemand beobachtet, so hätte man ihn für einen schlafenden Menschen halten können, das aber war Onopko nicht. Er gehörte zu den Personen, die das autogene Training beherrschten. Er wirkte so völlig entspannt, und niemand sah ihm an, daß er es schaffen würde, mit einer einzigen Bewegung zu einem mordenden Roboter zu werden. Seine Lippen waren diesmal zu einem dünnen Lächeln verzogen, weil der Strom der Freude durch seinen Körper zog. Ja, er freute sich auf die kommenden Ereignisse. Noch immer spürte er keine Furcht, seine Gedanken beschäftigten sich mehr mit pragmatischen Vorgängen. Er grübelte darüber nach, wie die beiden Killer wohl vorgehen würden. Es gab verschiedene Methoden, einen Menschen umzubringen. Sie brauchten nicht unbedingt leise vorzugehen. Gut war es, sehr gut… Er lachte leise. Vielleicht versuchten sie es auch mit Messern. Lautloses Töten gefiel ihm am besten. Er benutzte dazu seine Hände oder auch eine lange Messerklinge. Wie dem auch sei, der Killer hatte sich innerlich auf alles gefaßt gemacht. Sie waren da! Obwohl sie sich bemühten, leise zu sein, hörte er sie doch. Das Wasser hatten sie längst verlassen, der Steg lag auch hinter ihnen, nun befanden sie sich an der Tür. Er hörte sie nicht atmen, aber sie flüsterten miteinander, und sie bewegten sich auch, was er an den Geräuschen unter ihren Füßen
hörte, denn hin und wieder knarrte eine Holzbohle, was in der herrschenden Stille besonders auffiel. Lautlos war die Tür nicht zu öffnen. Das würden sie wissen. Also würden sie in die Hütte wie die Berserker hineinstürmen müssen, und Onopko lächelte, als er daran dachte. Das Messer hatte er längst aus der weichen Lederscheide gezogen. Er hielt es in der rechten Hand, deren Arm nahe an seinem Körper lag. Die Klinge zeigte schräg in die Höhe und wirkte in der Dunkelheit wie ein tödlicher Gruß… *** »Du?« fragten wir wie aus einem Mund. Wladimir nickte und kam näher. Er schälte sich aus dem Hintergrund hervor, als wäre ein Geist dabei, allmählich die menschliche Gestalt anzunehmen. »Ja, ich…« »Sollen wir uns jetzt freuen?« fragte Suko. »Oder was sollen wir überhaupt tun?« Wladimir war stehengeblieben und schaute sich um. »Ich finde, wir sollten uns für ein Zimmer entscheiden. Hier auf dem Flur ist es wenig gemütlich.« »Gut«, sagte ich, »gehen wir in meines…« Ich schloß auf, noch immer überrascht und auch leicht ärgerlich, denn ich fühlte mich überfahren oder als Ziel eines Komplotts, das sich einige Personen ausgedacht hatten. Den Schlüssel mußte ich zweimal drehen, dann war die Tür offen, und wir betraten ein geräumiges Zimmer mit alten Möbeln, das einfach nicht zu dem normalen Hotelstandard passen wollte. Als ich das Licht eingeschaltet hatte, ging Wladimir zum Fenster und zog die Vorhänge zu. So konnte uns von draußen her niemand sehen, wir waren unter uns. Suko hatte die Tür geschlossen. Er ging auf Wladimir zu und schlug ihm auf die Schulter. »Daß wir dich hier sehen, ist wirklich eine Überraschung. Ich denke, du hast uns einiges zu berichten.« »Eigentlich nicht viel.« »Fange trotzdem an.« Ich hatte mich auf einen Stuhl gesetzt und die Beine ausgestreckt. Wladimir nahm auf der Bettkante Platz. Suko lehnte mit dem Rücken an der Wand, nicht weit vom Fenster entfernt. »Wißt ihr…«, er räusperte sich, »ich möchte mich erst einmal bei euch entschuldigen für diese Überraschung, aber sie ist nicht mir eingefallen.« »Sondern?«
Er schaute Suko an, der ihn auch gefragt hatte. »Das ging über meinen Kopf hinweg, und ich denke, daß auch euer Vorgesetzter, Sir James, mitgespielt hat.« Ich lachte nur. Wladimir zeigte daraufhin ein gequältes Grinsen. »Wißt ihr, ich bin ja selbst nicht froh darüber, aber gewisse Dinge lassen sich eben nicht vermeiden. Ich mußte den Mund halten, denn es gab Restriktionen von ganz oben.« »Wer?« »John – ich weiß es nicht. Da haben die Chefs der Geheimdienste miteinander gekungelt. Jedenfalls lief alles über unseren Köpfen hinweg. Es sollten so wenig Leute wie möglich etwas erfahren, auch ich bin erst sehr spät eingeweiht worden, aber das ist vergessen. Wichtig war eben nur, daß nichts an die Öffentlichkeit gelangte, und bisher haben wir es schaffen können.« Er zündete sich eine Zigarette an und stellte einen Ascher auf seine Knie. »Es ist auch ein Problem, wenn ich ehrlich sein soll. Es gibt nicht nur chemische, atomare oder biologische Altlasten, es gibt auch andere, nämlich die der UdSSR, und die sind nicht leicht zu beseitigen, das kann ich euch sagen. Wir tun uns schwer damit, auch mit der Geheimhaltung, denn zu viele der alten Spezies sitzen noch in besonderen Positionen und unterstützen teilweise sogar die RussenMafia. Wie sie es geschafft haben, weiß ich nicht. Wir müssen es einfach als Tatsache hinnehmen.« »Wie auch Onopko«, sagte Suko. Wladimir nickte uns beiden zu. »Wie auch er. Ich will mal sagen, daß Onopko eine besondere Altlast für den neuen Staat ist. Okay, auch wir haben einen Geheimdienst, einen neuen, meinetwegen, aber der Lächler ist noch ein Relikt aus der anderen Zeit. Da ist der KGB über seinen eigenen Schatten gesprungen. Er hat mit Dingen experimentiert, die er offiziell hat ablehnen müssen. Aber der Erfolg heiligt die Mittel, so wurde gesagt. Also ging man diesen Weg.« »Man erschuf Onopko«, sagte ich und wurde im nächsten Augenblick von Wladimir korrigiert. »Falsch, man erschuf ihn nicht. Er war bereits da, es gab ihn. Man veränderte ihn nur.« Ich grinste. »Das Gehirn, wie?« »Ja, man transplantierte ihm ein Dämonengehirn. Fünf Spezialisten abeiteten daran. Zwei von ihnen befinden sich hier im Hotel.« »War es wirklich das Gehirn eines Dämons?« fragte Suko. »Es deutet alles darauf hin.« »Dann hätte man«, fuhr Suko fort, »Kontakt mit einem Dämon haben müssen, denke ich.« »Stimmt.«
»Wer hatte ihn?« »Keine Ahnung.« Golenkow hob die Schultern. »Danach habe ich mich noch nicht erkundigt. Ich weiß auch nicht, wen ich hätte fragen sollen, da bin ich ganz ehrlich.« »Krommow und Tacharin«, sagte ich. »Nein, John, denn sie hätten mir keine Antwort gegeben. Die Aktion war streng geheim. Jedenfalls ist Onopko eine Tatsache, er ist offiziell nicht mehr zum Einsatz gekommen, denn die Verhältnisse im Land veränderten sich. Viele verschwanden aus dem Rampenlicht. Er aber blieb. Sie sperrten ihn ein, vergaßen ihn in den Wirren der neuen Zeit und erinnerten sich erst später wieder an ihn, als etwas Ruhe eingetreten war. Da wollten sie ihn vernichten. Ein Sumpf hätte ihn schlucken sollen, doch Onopko konnte sich befreien. Und er hinterließ dabei die ersten drei Toten. Das war der Beginn eines grausamen Rachefeldzugs.« »Jetzt ist er hier!« stellte ich fest. »Das nehmen wir an.« »Du hast ihn also noch nicht gesehen?« »Nein.« »Und was ist mit Tacharin und Krommow?« »Auch mit ihnen habe ich noch nicht sprechen können. Sie wollen auch nicht an den Lächler erinnert werden, als fürchteten sie sich davor, wieder in den Strudel hineingerissen zu werden. Über unseren Köpfen hinweg hat sich etwas zusammengebraut. Zwei Geheimdienste arbeiten zusammen, und beide wissen auch, daß sich Onopko durchaus in dieser Umgebung aufhalten kann.« »Was heißt das?« fragte ich. »Man hat Killer losgeschickt.« »Aha.« Suko lachte leise, worauf Wladimir ihn verwundert anschaute. »Was hast du denn?« »Nicht viel, aber ich denke mal, daß sich der Lächler von diesen Killern nicht ausschalten läßt.« »Das befürchte ich auch. Aus diesem Grunde warten wir praktisch als zweite Mannschaft im Hintergrund.« Ich schlug mit der flachen Hand auf meinen Oberschenkel. »Allmählich bin ich es satt. Am liebsten würde ich meinen Koffer nehmen und das Hotel hier verlassen. Ich komme mir vor, als hätte man uns bewußt aus dem Rennen geworfen. Ja, ich habe das Gefühl, verarscht worden zu sein, von allen, auch von dir.« Ich zeigte mit dem Finger auf den Russen, der sich unwohl fühlte, dagegen aber nichts machen konnte. »John, ich war gezwungen, den Mund zu halten. Es gab keine Chance für mich.«
»Schon gut, vergessen. Können wir davon ausgehen, daß die hier im Hotel wohnenden Gäste über unseren Beruf Bescheid wissen? Ist das so?« »Nicht alle«, schränkte Wladimir ein. »Aber Krommow und Tacharin?« »Ich denke nicht.« Meinen Ärger verschluckte ich. »Trotzdem muß ich einfach mit den beiden reden. Nur sie besitzen das Hintergrundwissen, auf das es mir ankommt. Ich möchte Hintergründe wissen, ich will sie einfach erkennen, denn daß Onopko und der Dämon ohne Gehirn eine gewisse Einheit bilden, sollte doch jedem klar sein.« »Stimmt.« Ich schaute auf die Uhr. »Zu spät ist es noch nicht. Weißt du, in welchen Zimmern die beiden wohnen?« »In einem. Sie haben ein Doppelzimmer.« Ich stand auf. »Dann laß uns hingehen.« Wladimir zog ein Gesicht, als hätte er Essig getrunken. »Versprechen kann ich aber nichts«, murmelte er. Ich winkte ab. »Das ist auch nicht nötig. Jedenfalls bin ich die Geheimhaltung endgültig leid…« *** Die beiden reagierten so, wie es sich der Lächler vorgestellt hatte. Sie rammten urplötzlich die Tür auf, weil sie gemerkt haben mußten, daß sie die Hütte leise nicht betreten konnten. Und sie drangen in die Hütte ein wie ein lebendiges Unwetter, das sich noch mit seinen Blitzen zurückhielt. Trotz ihrer Professionalität hatten sie einen Fehler begangen, denn sie hatten die Hütte zuvor nicht inspiziert. Das mußten sie nun nachholen, schauten sich um und konnten in der grauen Finsternis nicht allzu viel sehen. Sie waren bewaffnet, aber sie hatten sich für die lautlose Methode entschieden, denn sie hielten lange Kampfmesser in den Händen. Der auf dem Bett liegende Onopko sah das Schimmern der Klingen, und plötzlich kam in seinen starren Körper Bewegung. Er schnellte hoch – und warf sein Messer. Der rechts von ihm stehende Killer bekam die Klinge in die Brust. Sie durchdrang die Haut des Neoprenanzugs zuerst, dann war die richtige Haut kein Hindernis mehr, und das Messer bohrte sich tief in seinen Körper. Der Mann taumelte durch die offene Tür anach draußen, und Onopko hörte seine polternden Tritte auf dem Steg. Er lag längst nicht mehr im Bett. Mit einer schwungvollen Bewegung hatte er sich herumgeschwungen und auf die Füße gestellt. Es waren
mehrere Bewegungen hintereinander, aber jede ging in die andere über, so daß der zweite Killer von der Schnelligkeit des Lächlers überrscht wurde. Er war ebenfalls dabei, herumzufahren und riß seinen rechten Arm hoch, um Onopko die schwere Klinge des Kampfmessers in den Körper zu jagen. Der Lächler war bereits unterwegs. Seine Stirn glühte, der zweite Killer war deshalb irritiert, und als sein Arm nach unten raste, da hatte Onopko den Mann erreicht und drosch mit der rechten Hand zu. Seine Handkante wuchtete gegen den Arm des Killers. Das Messer geriet aus der Stoßrichtung, der Mann selbst taumelte zur Seite und machte den Arm lang. Dabei prallte nicht nur er gegen die Innenwand der Hütte, auch die Klinge des Kampfmessers erwischte das Holz. Sie hämmerte hinein, sie blieb darin stecken, und der Mann versuchte noch, sie herauszuziehen. Onopko trat zu. Der Tritt wuchtete den Mann zur Seite, wo er sich überrollte, und sein gepreßt klingender Fluch war ein Ausdruck der Hilflosigkeit. Aber er schnellte hoch. Onopko war schneller. Diesmal erwischte er den anderen in der Magengrube. Es war so etwas wie ein ultimativer Treffer. Der Killer beugte sich vor und torkelte gleichzeitig zurück. In seinem Innern mußte nach diesem Schlag die Hölle los sein, was Onopko mit einem Grinsen quittierte. Er schaute so lange zu, bis der andere am Boden lag, bewegungslos und dabei leise wimmernd. Dann zerrte er ihn in die Höhe und schaffte ihn zum Bett. Dort tötete der Lächler den Mann, so wie er schon den Lagerarbeiter am Flughafen umgebracht hatte. Onopko richtete sich auf. Er atmete tief durch. Trotz seiner geschlossenen Lippen war ein zufriedenes Stöhnen oder Grunzen zu hören. Wieder einmal hatten sie es versucht, und wieder einmal hatten sie verloren. Die Kette riß nicht, und das sah er als gut an. Sie hatten ihn geschaffen, und sie würden die Folgen für ihr Tun tragen müssen. So leicht war er als Altlast nicht zu beseitigen. In seinem Kopf spürte er ein leichtes Stechen. Er konnte sich den Grund nicht erklären, obwohl ihn dieses Stechen schon öfter gepeinigt hatte. Für einen Moment blieb er mit gesenktem Kopf stehen, preßte seine Fingerkuppen gegen die Stirnseiten und konzentrierte sich auf seine weiteren Aufgaben. Onopko wollte die beiden Killer nicht in und vor der Hütte liegenlassen. Der tote Flußarm war die ideale Lösung. Zwar würden sie auch dort an die Oberfläche treiben, aber wenn er die Leichen in das sperrige Ufergebüsch hineindrückte, würde es eine geraume Zeit dauern, bis die beiden Körper sichtbar waren.
Er schleifte die Leiche mit dem gebrochenen Genick aus der Hütte. Auf dem Steg legte er sie nieder, direkt neben den ersten Killer, in dessen Brust noch Onopkos Klinge steckte. Eine kurze Untersuchung bewies ihm, daß auch dieser Mann nicht mehr lebte. Ihn faßte er als ersten unter und rollte ihn über die rechte Stegseite ins Wasser. Der Tote fiel ins Schilf, dann half Onopko noch mit dem rechten Fuß nach und drückte die Leiche tiefer. Die zweite Leiche schaffte sich Onopko auf dieselbe Art und Weise vom Hals. Er ging zurück in die Hütte und hob das Messer auf. Zuerst dachte er nach, dann aber steckte er es in den Gürtel und war froh, eine zweite Waffe zu besitzen. In der Hütte wollte er nicht mehr bleiben. Es konnte durchaus sein, daß andere nach den beiden Killern suchten und zwangsläufig auf ihn treffen würden. Nicht daß er sich davor gefürchtet hätte, aber er war jemand, der selbst bestimmen wollte, wann und wo er jemand traf. Das eigentliche Ziel lag ja nicht sehr weit entfernt. Zwar hatte er ihm erst beim Morgengrauen einen Besuch abstatten wollen, wenn die Gesellschaft zur Jagd ging, das brauchte er nicht aus den Augen zu verlieren. Er würde eben im Freien so lange warten, bis sich das Grau des Tages über den Himmel schob. Er schloß die Tür zur Hütte. Eine Jacke nahm er nicht mit. In Hemd und Hose machte er sich auf den Weg. Was war sclüon die Kälte der Nacht gegen das innere Feuer der Rache, das in ihm loderte? *** Diesmal befanden wir uns in Sukos Zimmer. Mein Freund lag auf dem Bett, ich hockte in einem Sessel, starrte wütend zu Boden und hörte, wie mein Freund mir zuflüsterte: »Was regst du dich auf, John? Du kennst diese Typen doch.« »Ja, ich kenne sie!« knirschte ich, »und ich lerne sie immer besser kennen.« »Willst du packen?« »Am liebsten ja.« »Und warum tust du es nicht?« »Klar – warum? Vielleicht will ich ihnen beweisen, daß wir besser sind. Jeder hat seinen Stolz, selbst ein Geisterjäger, und deshalb werde ich nicht verschwinden.« »Ich ebenfalls nicht.« Wir waren beide sauer, denn man hatte uns abfahren lassen wie kleine Kinder. Es war uns bewußt gemacht worden, wer hier das Sagen hatte, der Geheimdienst nämlich. Für uns war das Zimmer der Wissenschaftler verschlossen geblieben. Wir waren wieder zurückgeschickt worden, von einem Menschen, der hier die Oberaufsicht hatte und sich Frogg nannte.
Auch unsere Hinweise auf eventuelle dämonische Aktivitäten hatten ihn nicht von seinem hohen Roß stürzen können. So hielten sich also zwei frustrierte Geisterjäger in einem Hotelzimmer auf und verfluchten ihren Job. »Willst du noch etwas tun?« fragte mich Suko. »Würde ich gern.« »Was denn?« »Einen Killer fangen.« »Und warum tust du es nicht?« Ich winkte ab, weil ich den Spott in Sukos Stimme nicht überhört hatte. Dann stand ich auf und ging zur Tür. »Du willst ihn doch fangen, sehe ich.« »Nein, ich werde noch an die Bar gehen und einen Drink nehmen. Damit spüle ich den Ärger runter. Willst du mitkommen?« Im Liegen schüttelte Suko den Kopf. »Das mach mal alleine. Ich liebe dieses Bett hier.« »Ja, wir sehen uns dann morgen.« »In alter Frische?« Ich dachte an den Drink und erwiderte: »Kann ich dir noch nicht sagen.« Sukos Lachen begleitete mich bis in den Flur. Ich nahm wieder die Treppe und betrat die Halle, wo ich nahe der Tür stehenblieb. Im Hintergrund war als Halbrund die sogenannte Jägerbar aufgebaut worden. Mit bequemen Hockern, die eine dicke, grüne Lederpolsterung aufwiesen, und auch das Holz der Bar schimmerte grünlich. Alle Hocker waren besetzt, das hatte ich mit einem Blick festgestellt. Auch in den Sesseln hockten die Gäste zusammen, und es gab nur ein Thema, über das sie sprachen: über die im Morgengrauen beginnende Jagd. Zwar kannte ich Krommow und Tacharin nicht, trotzdem versuchte ich herauszufinden, ob sich diese beiden unter den in der Halle sitzenden Gästen befanden. Es konnte jeder sein, der Mann mit den roten Haaren oder der kleine, über dessen Bauch sich eine schwarze Weste spannte. Ich wollte auch nicht fragen, aber mein Zimmer reizte mich ebenfalls nicht. Deshalb ging ich in die Dunkelheit der Nacht, blieb aber vor der Tür stehen und betrachtete eine Landschaft, die sich im Vergleich zu meinem eisten Besuch doch ziemlich verändert hatte. Es lag nicht allein an der Dunkelheit, daß der Waldrand so verschwamm. Nebelschwaden zogen lautlos wie Gespenster vorbei. Es waren keine Unterschiede mehr auszumachen, der Wald erstickte fast in den Schwaden, und eine Bewegung darin zu erkennen war so gut wie unmöglich. Ich wartete auch weiterhin und fragte mich, weshalb mich gerade dieser Waldrand so magisch anzog. Der Grund lag auf der Hand. Sollte sich Onopko tatsächlich in der Nähe aufhalten, so bot ihm der Wald eine ideale Deckung.
Von dort aus konnte er das Hotel und auch die nach vorn hin zeigenden Fenster der Zimmer unter Kontrolle halten. Wartete er schon? Lauerte er auf eine Chance? Ich mußte zugeben, daß mir bei diesem Gedanken ein Schauer über den Rücken rann. Deshalb war es besser, wenn ich aus dem Lichtbereich des Eingangs hinaustrat und… Jemand kam, ich hörte das Knirschen, und dieser Jemand bewegte sich vom Waldrand her auf das Hotel zu. Natürlich dachte ich an Onopko, fragte mich aber gleichzeitig, ob der Killer wirklich so abgebrüht war und einfach auf den Bau zuging. Das wollte ich nicht glauben. Wenig später wurde meine Vermutung bestätigt. Ich erkannte schon anhand des Gangs, daß es Wladimir Golenkow war, der sich dem Hotel näherte und auch mich gesehen hatte, denn er sprach mich an. »Na, frische Luft schnappen?« »Auch das.« »Wartest du auf ihn?« »Kann sein.« Wladimir lachte, bevor er sich eine Zigarette anzündete. Für Sekunden erhellte die Flamme seine Gesichtszüge, so daß sie wirkten wie ein rötliches Gemälde. »Ich hatte den gleichen Gedanken wie du und bin deshalb im Wald unterwegs gewesen, aber ich kann dir sagen, daß er sich kaum zeigen wird.« »Meinst du?« »Ja.« Wladimir stäubte Asche ab und nickte. »Der geht seinen eigenen Weg, das kannst du mir glauben. Ein Typ wie er läßt sich von niemandem in die Suppe spucken, auch nicht von uns.« Er deutete auf die Tür. »Nehmen wir noch einen zur Brust?« »Nein, ich möchte noch etwas draußen bleiben.« »Wie du willst, aber Onopko wirst du nicht finden. Er ist ein Typ, der selbst bestimmt, wann und wo er erscheint.« Golenkow trat die Zigarettenkippe aus. »Dann bis spätestens morgen.« »Geht klar.« Er verschwand, ich blieb, allerdings nicht mehr an derselben Stelle. *** Auch der Lächler befand sich im Schutz des dunklen Waldes. Er war ziemlich schnell gelaufen, ohne auch nur den geringsten Ansatz von Erschöpfung zu spüren. Sein Ziel sah er nicht, aber er konnte es wittern. Es lag hinter dem Wald, ein rauhes Gebäude mit zahlreichen Fenstern, die zu Räumen gehörten, in denen sich bestimmt die beiden nächsten Opfer auf der Todesliste aufhielten. Er kannte die Zimmer nicht, aber er
würde sie finden, denn das ungewöhnliche Band zwischen ihnen hatte sich in den letzten Stunden gefestigt. Je näher er an sein Ziel herangekommen war, um so stärker war es geworden, und zwischendurch, wenn der Aufprall des magischen Sturms besonders groß gewesen war, hatte auch die Narbe auf seiner Stirn wie ein querlaufender Glühfaden aufgeleuchtet. Der Wald war sein Freund. Jeder Baum gefiel ihm, jedes Stück Unterholz war für ihn wie ein kleines Wunder. Dieser weiche Untergrund, der seine Schritte so stark dämpfte, daß hin und wieder nur ein leises Rascheln zu hören war, wenn er sich durch feuchtes Laub bewegte. Der Nebel umtanzte ihn als ein nie abreißendes Gespinst. Er hatte sich über und in den Wald hineingedrückt. Mal war er dichter, mal dünner. Mal wolkig, mal glatter. Es wehte kaum Wind. Geräusche erstarben sehr schnell, weil der Dunst sie dämpfte. Onopko blieb stehen. Seine Augenlider bewegten sich flatternd. Etwas hatte ihn gestört. Es war für ihn nicht sichtbar gewesen, aber die Ruhe des Waldes war schon unterbrochen worden, und zwar eine Ruhe, die er nur als solche ansah. Eine Botschaft? Nein – oder…? Er dachte an die beiden Russen, die auf seiner Liste standen. Zwischen ihnen und ihm existierte das Band, daran gab es nichts mehr zu rütteln. Und er war auch ziemlich nahe an sie herangekommen. Es konnte durchaus sein, daß sie ihn gespürt hatten. Er schüttelte den Kopf. So ist es nicht, dachte er, so ist es auf keinen Fall. Es ist etwas anderes. Onopko erstarrte und hob den Blick an. Nebel, wohin er schaute, aber vor ihm, so glaubte er zumindest, zeigte sich die weiße Wand erhellt. Als läge etwas dahinter, das duchschimmern wollte, es aber nicht ganz schaffte. Licht? Das war durchaus möglich, denn der Hotelbau befand sich nicht mehr weit entfernt. Er ging weiter. Vorsichtiger, noch vorsichtiger. Ihn überkam der Eindruck, von einem Feind belauert zu werden. In seinem Kopf zuckten die Schmerzen auf, als wäre das neue Gehirn eine zentrale Sonne, von der die Stiche in alle Richtungen abgeschickt wurden. Wieder stoppte er seine Schritte. Unter ihm war der Boden feucht. Die Schuhe sanken ein. Der Nebel hing wie ein großes Tuch um seinen Körper. Er war klamm und naß und fühlte sich im Nacken an wie ein feuchter Schal. Was hatte ihn gestört?
Onopko holte sein Beutemesser hervor. Er hatte den Wunsch, es tun zu müssen, und er war eine Person, die immer ihren Gefühlen folgte. Das Messer zählte, das Messer würde seinen Feinden Respekt beibringen. Noch immer tuckerte es in seinem Kopf. Er konnte diese Schmerzen auch deshalb nicht ignorieren, weil sie sich verstärkten, je weiter er sich nach vorn bewegte, auf den Waldrand zu. Das Hotel war noch immer nicht zu sehen. Die Bäume und der Nebel nahmen ihm die Sicht. Seltsamerweise interessierte er sich auch nicht mehr für diesen Bau, denn die Gefahr, so hatte er zumindest festgestellt, erreichte ihn aus einer anderen Richtung. Er konzentrierte sich und schaute dabei nicht nur nach links oder rechst, sondern auch in die Höhe, wo sich das bunte Laub ebenfalls der Dunkelheit angepaßt hatte und wie ein riesiger grauer Baldachin wirkte. Kein Rascheln der alten Blätter, weil kaum Wind wehte. Dennoch fiel hin und wieder ein Blatt ab und trudelte zu Boden. Onopko betzte seinen Weg schleichend und geduckt fort. Der Kopf störte ihn. Die Schmerzen hatten zugenommen. Irgend etwas befand sich in der Nähe, von dem sie ausgingen. Die beiden Russen konnten es nicht sein, da mußten andere Gründe vorliegen, die der Lächler noch nicht herausgefunden hatte, was noch mehr Ärger in ihm hochsteigen ließ. Das Hotel zog ihn trotz allem an. Auch seine Pläne hatten sich verselbständigt. Er wollte nicht mehr bis zum Morgengrauen warten, weil er einfach den Eindruck hatte, die Schmerzen so lange nicht aushalten zu können. Deshalb lief er weiter. Das neue alte Ziel vor Augen. Und das kalte Grinsen auf seinen Lippen, womit er dem Namen Lächler alle Ehre machte. *** Ich war nicht mehr weitergegangen, weil mich etwas störte. Hätte man mich nach dem Grund gefragt, ich hätte ihn nicht nennen können. Die Störung aber war vorhanden, sogar fühlbar vorhanden, denn in meinem Kopf wirbelten plötzlich Gedanken, die mir in ihrer Intensität doch ziemlich fremd vorkamen. Ich hatte den Eindruck, nicht mehr weit von dem Lächler entfernt zu sein. Dazu hatte auch mein Kreuz ein gutes Stück beigetragen, denn ich spürte es auf meiner Brust. Es strahlte eine leichte Wärme aus, die über meine Haut glitt wie zarte, ebenfalls leicht erwärmte Fingerkuppen. Dieses Zeichen war mir natürlich bekannt. Mein Talisman reagierte übersensibel auf die Nähe einer gewissen Magie. Da Onopko das Hirn eines Dämons in seinem Schädel trug, ging ich davon aus, daß er
insgesamt magisch beeinflußt war, auch wenn er sich wie ein Mensch bewegte. Und diesen magischen Druck hatte mein Kreuz gespürt. Ich übersah die erste Warnung auf keinen Fall und wurde vorsichtig. Im Schatten eines hohen Baumes blieb ich stehen, um mein Kreuz abzunehmen. Die Kette streifte über das vom Nebel feucht gewordene Haar, dann lag das Kreuz auf meiner linken Hand, die ich zur Faust schloß und spürte, daß es keinen Wärmeverlust erlitten hatte. Gut so… Ich ging weiter. Rechts, links, geradeaus? Ich probierte die Richtungen und hatte den vagen Verdacht, daß ich an der linken Seite genau richtig war. Wenn ich mich dort durch den Wald bewegte, nahm die Wärme leicht zu. Hoffentlich war es keine Täuschung, aber auf das Kreuz konnte ich mich verlassen. Meine Schritte waren vorsichtig gesetzt. Ich achtete auf jedes Teil in der Umgebung, aber der verdammte Dunst hatte den Wald in ein graues Meer verwandelt, in dessen Tiefe ich schwamm und die mächtigen Bäume mich an die Beine von zweibeinigen Seeungeheuern erinnerten, die sich in den Grund gestemmt hatten. Er war da. Er ging durch den Wald! Was ich vor kurzem nur angenommen hatte, würde sich nun bestätigen. Mein Herzschlag hatte sich etwas beschleunigt. Viel hatte ich von dem Lächler gehört, ihn noch nicht zu Gesicht bekommen, aber ich mußte bei ihm mit allem rechnen, besonders mit seiner Unmenschlichkeit, denn das Menschliche war ihm durch die Wegnahme seines eigenen Gehirns genommen worden. Er war jetzt nur mehr ein Töter, ein Killer, ein Vernichter, jemand, der sich durch nichts aufhalten ließ. Das plötzliche Gefühl in mir war mit dem Wort Angst nicht zu beschreiben. Ich sah es mehr als Spannung an – und fror plötzlich. Es war kein normales Frieren, es kam vielmehr von innen her, als hätten meine Adern eine Gänsehaut bekommen, wobei das Blut zu kleinen Eiskrümeln gefroren war. Meine Bewegungen glichen denen eines Schleichers. Ich blieb weiterhin aufgeregt und innerlich angespannt, und ich war auch dabei, den Nebel zu verfluchen. Er paßte mir überhaupt nicht ins Konzept. Er nahm mir die Sicht. Ich kam mir blind vor, auf der anderen Seite jedoch konnte ich davon ausgehen, daß Onopko unter dem gleichen Schicksal litt, was mich keineswegs froher stimmte. Das leise Rascheln warnte mich, und ich blieb stehen. Wo, welche Richtung? Mir schössen die Gedanken wie Pfeile durch den Kopf. Ich selbst blieb auf dem Fleck stehen, als ich mich drehte, aber da war nichts zu
erkennen. Dennoch wußte ich, daß sich der verfluchte Killer unmittelbar in meiner Nähe aufhalten mußte. Er hielt sich nur gut versteckt. Sekundenlang blieb es still. Dann ging ich weiter. Ein Schatten ragte vor mir hoch. Ein mächtiger Baum, dessen Astwerk weit nach unten wuchs, so daß ich mich ducken mußte, um seinen Stamm in der unmittelbaren Nähe zu passieren. Auf einmal war der Schatten da. Und es war kein Baum, denn Bäume bewegten sich nicht. Der Schatten huschte weg. Ich >hörte< ihn, denn seine Füße wühlten das Laub auf dem Boden auf. Ich reagierte heftig und zu schnell, denn plötzlich peitschte ein Schlag mein Gesicht. Es war einer der zu tief nach unten wachsenden Äste, der mich erwischt hatte, und nach den nächsten Schritten wurde ich vorsichtiger, denn da zog ich den Kopf ein. Auf einmal sah ich ihn. Es gab Stellen, wo der Nebel dünner geworden war, und genau durch eine dieser Stellen huschte er hindurch. Ein Fliehender auf zwei Beinen, kein Tier, ein Mensch, und ich hörte jedesmal das wuchtige Aufschlagen seiner Füße, wenn er den Boden berührte. Es hatte keinen Sinn, wenn ich ihn anrief. Er würde sowieso nicht stehenbleiben, aber ich nahm die Verfolgung auf. Er mußte mich hören. Ich keuchte bewußt lauter, und ich hatte auch Glück, daß ich den hin und herzuckenden Schatten trotz des dichter werdenden Nebels nicht aus den Augen verlor und sogar erkannte, in welch eine Richtung er sich bewegte. Es war einfach selbstverständlich, daß er sich das Haus ausgesucht hatte, ein Hotel, in dem diejenigen wohnten, die er töten mußte. Ich hetzte ihm nach. Mein Laufen wirkte grotesk, denn ich war gezwungen, die Beine sehr hoch anzuheben, um nicht über irgendwelche Wurzeln oder im Weg liegende Gegenstände zu stolpern. Etwas tanzte vor meinen Augen. Rot, breit, klobig und gleichzeitig verschwommen. Ich wußte nicht, was es war, duckte mich instinktiv, hörte einen bösen Fluch, und einen Moment später huschte etwas auf mich zu – und vorbei! Noch einmal schrak ich zusammen, als ich einen dumpfen und gleichzeitig auch singenden Aufprall vernahm. Ich bückte mich noch tiefer, drehte mich gleichzeitig und konnte erkennen, was geschehen war. Der Killer hatte ein Messer auf mich geworfen und zum Glück nicht getroffen. Dafür würde jetzt ein Baumstamm >bluten