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DIE Reihe Delikte, Indizien, Ermittlungen Werner Steinberg Der Hut des Kommissars
Kriminalroman
Eine ruhige un...
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DIE Reihe Delikte, Indizien, Ermittlungen Werner Steinberg Der Hut des Kommissars
Kriminalroman
Eine ruhige und an Abwechslungen arme Kleinstadt in der Nähe von Nürnberg wird durch ein Verbrechen aufgeschreckt: Der Arzt Dr. Marahn hat den Geliebten seiner Frau, den Bauunternehmer Brumerus, ermordet. Das Sensationelle: Der Mörder stellt sich freiwillig. Er wird sofort verhaftet – die Kriminalpolizei wiegt sich nur allzugern in der angenehmen Hoffnung, wenigstens diesen Fall schnell zu Ende bringen zu können. Marahn gibt unumwunden zu Protokoll, was ihn zur Tat bewogen hat: Er vermochte nicht langer zu ertragen, daß die von ihm noch immer geliebte Frau sich blindlings an einen Mann hängte, für den sie nur Zeitvertreib war. Doch trotz dieses Eingeständnisses erweist sich die Hoffnung der Kriminalpolizei auf schnelle Klärung des Falles als trügerisch, denn ein aus eigenem Antrieb nachforschender Rechtsanwalt stößt auf Tatsachen, die den polizeilichen Ermittlungsergebnissen eine überraschende Wendung geben.
Werner Steinberg
Der Hut des Kommissars
Verlag Das Neue Berlin
ERSTES KAPITEL
1. Der feuchte Kies knirschte mit den Zähnen. Der Mörder bemerkte es und trat einen Schritt seitlich auf den Rasen. Er blieb einen Augenblick stehen, sah sich um und stellte mit Genugtuung fest, daß die Fußspuren sich unter dem unablässig nieselnden Regen bald verwischen würden. Während er weiterging, faßte er mit der Rechten nach der Pistole, die er in die Jackentasche gesteckt hatte. Die Kühle des Metalls beunruhigte ihn nicht. Ohne Zögern näherte er sich dem Bungalow, dessen breites Parterrefenster offenstand. Dort vergewisserte er sich mit einem flüchtigen Blick, daß er nicht beobachtet worden war, und neigte sich ein wenig vor. Die Gestalt im Zimmer konnte er nur undeutlich erkennen. Offenbar suchte der Mann etwas auf dem Schreibtisch. Der Mörder drückte den halb angelehnten Fensterflügel mit der Linken weiter auf. Das Geräusch, das er so verursachte, war nur gering. Aber es genügte, den Mann im Zimmer aufmerksam zu machen. Er richtete sich auf und wandte den Kopf nach dem Fenster. Der Mörder zögerte nicht. Er zog die Pistole aus der Tasche und schoß. 6
Der Knall war kurz und hart, und der Mörder dachte in diesem Augenblick, daß der Regen ihn rasch ersticken würde. Das dachte er in den Bruchteilen der Sekunde, bevor der Mann im Zimmer lautlos zusammenbrach.
2. Erst in der Sekunde, als in der herbstlichen Kastanienallee eine feuchte braune Blätterhand gegen die Windschutzscheibe klatschte, wurde es Dr. Walter Marahn bewußt, daß er sich in höchster Gefahr befand: Durch den blanken Kreisausschnitt der Scheibe, von dem das zuckende Spinnenbein des Wischers den feinen Staub des Regens wetzte, erkannte er den bedrohlichen Straßenbelag aus modernden Blättern, klaffenden Kastanienschalen, blankbraunen Früchten und Dreck. Behutsam nahm er den Gang heraus, hob allmählich den Fuß vom Gaspedal und blickte dabei immer wieder aufmerksam auf das Tachometer, dessen rotes Band gemächlich von hundertzehn zurückglitt, bei neunzig unruhig schwankte, weil der Wagen ins Rutschen geriet, und dann stetig weiter absank. Während Marahn vorsichtig den Gang wieder hineinschob und langsam das Gaspedal niederdrückte, wurde ihm plötzlich deutlich, daß er sich wie ein Mörder auf der Flucht benommen hatte – bewußtlos vor pressender Furcht, entdeckt zu werden. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Freilich – er hatte töten wollen. Aber er hatte sich das nicht vorgestellt wie einen Mord, sondern, nun, wie eine Exekution, wie die Hinrichtung eines Verurteilten, und zwar eines zu Recht Verurteilten. Während der Motor ruhig summte und Marahn trotzdem nicht, wie sonst, die Gelassenheit des sicheren Fah7
rers spürte, erinnerte er sich zurück und begriff, daß er sich bereits vor dem Schuß wie ein Mörder verhalten hatte. Dies alles war noch so verlaufen, wie er es geplant hatte – daß er den Wagen mehrere hundert Meter vom Haus entfernt hinter einer Wegbiegung abgestellt hatte, daß er selbst mit dem uneiligen Schritt des Spaziergängers dem Bungalow des Verurteilten zugestrebt, ja daß er stehengeblieben war, um, gleichsam in Nachdenken versunken, mit spitzem Zeigefinger die aufgesprühte Feuchtigkeit von der Kupferleiste der Pforte zu wischen. Auch diese Geste hatte er geplant, um sich den Anschein der Harmlosigkeit und des Zufalls zu sichern, sollte er von seinem Opfer beobachtet werden. In dem Augenblick jedoch, da er die Pforte aufdrückte und sicher sein konnte, daß sie entgegen seinen Befürchtungen nicht verriegelt war, schien er völlig verwandelt: Er spähte hastig über die Schulter, ob ihn auch niemand wahrgenommen hatte, er spürte sein Herz hämmern, seine Schritte wurden kurz und fahrig, und als der feuchte Kies unter seinen Sohlen mit den Zähnen knirschte, erschrak er tödlich. Er wich auf den feuchten und weichen Rasen aus, und dessen leises Schmatzen versetzte ihm einen erneuten Schock. Unwillkürlich duckte er sich, und seine unruhigen Augen suchten, ob ihm ein Gesträuch Deckung bieten könnte. In den Achselhöhlen spürte er kalten Schweiß, spürte ihn tropfenweise die Haut hinunterrinnen. Das kalte Metall der Pistole, die er in der Jackentasche trug und die er jetzt mit der Rechten ergriff, trieb ihn geradezu an, er fand sich überraschend schnell bei dem offenen Fensterflügel, den er mit der Linken ein wenig wei8
ter aufdrückte, ehe er in das dämmrige Zimmer hineinschoß. Nur der leichte Regen, der unaufhörlich niederrieselte, gab ihm die Kraft zur Flucht, weil er denken mußte, dieses ständige feine Geräusch werde den kurzen harten Knall rasch ersticken. Aber er rannte, rannte in langen Sätzen, den Oberkörper vorgebeugt, nach allen Seiten spähend. Vor der Gartentür erschrak er vor seiner eigenen Flucht, schreckte zusammen bei dem Gedanken, er werde durch sein ungewöhnliches Gebahren die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und ging nun langsam. Dabei merkte er selbst, wie gezwungen und steif sein Schritt wurde. Kaum saß er im Wagen, als er rücksichtslos anfuhr und das Tempo ins Wahnwitzige steigerte, bis ihn endlich diese braune Kastanienhand zur Besinnung brachte. Marahn empfand Scham: Die Vollstreckung eines Urteils sollte es werden – nun erschien es ihm als ein simpler und verabscheuungswürdiger Meuchelmord. Er sah das Gesicht seiner Frau Margit vor sich, wenn er es ihr in wenigen Minuten sagen müßte – und er sah, wie es sich in Haß und Ekel verzerren würde.
3. Margit Marahn stand am Fenster der kleinen Villa, die außerhalb der kleinen Stadt in den Faltenwurf zweier Höhenzüge versteckt war. Der Blick des erfahrenen Architekten hatte die Stelle gut gewählt: Sie gestattete zu gleicher Zeit Zurückgezogenheit und Ausblick in das Tal, in dem sich die Straße schlängelte. Hier wehrte sich das Grundstück durch ein schmiedeeisernes Gitter gegen Eindringlinge, wem aber der Zugang gestat9
tet worden war, der fand sich vor einem einladenden, weiten englischen Rasen, der jetzt freilich struppig aussah wie das nasse Fell eines Köters. Die Frau stand bewegungslos und starrte durch den Rauchschleier des Regens; aber sie war ungeduldig und zornig. Er wußte genau, daß sie beabsichtigte, um diese Stunde wegzugehen, und er wußte, wohin; sie hatte es ihm heute morgen gesagt, und er hatte genickt, wie er seit drei Jahren zu nicken pflegte, wenn sie ihm dergleichen sagte, mit seinem verschlossenen Gesicht, das ihr manchmal grau erschien. Obgleich sie wußte, wie ungerecht, ja vermessen sie war, ärgerte sie sich über ihn, weil er sie hinderte, pünktlich zu sein, obwohl ihm bekannt war, welch großen Wert sie darauf legte. Gut – er war Arzt, er hatte den Patienten zu helfen, wenn sie ihn riefen – er hatte sogar zu folgen, wenn sie ihn grundlos mit irgendwelchen Wehwehchen behelligten; er war vierzig, er mußte daran denken, sich einen festen Patientenstamm zu schaffen. Das war schwierig; denn die Sommergäste, die Bad Berneck besuchten, kamen kaum je wieder, und die Einheimischen hielten an ihren Traditionen fest, und eine ihrer Traditionen war der alte vollbärtige Doktor Rübeland. Margit Marahn schob die Unterlippe vor; sie sah auf die Armbanduhr, sie fühlte ihren Zorn wachsen. Niemand hatte vor fünf Jahren ahnen können, daß es so kommen würde. Damals hatte ihr Mann seine Stellung als Stationsarzt an einer Bayreuther Klinik aufgegeben, weil er diese kleine Villa kaufen wollte, von der sie entzückt gewesen war, und selbst jetzt gestand sie sich, daß er damals noch mehr als nur seine Stellung aufgegeben hätte, um die 10
Wünsche seiner Frau zu erfüllen, die er liebte und die gerade einundzwanzig geworden war. Beide hatten sie geglaubt, hier in einem Traumland leben zu können – die Krokusse hatten den Rasen freundlich gesprenkelt, als sie die Villa besichtigten, der Frühling war angebrochen. Bis vor drei Jahren … Sie atmete erleichtert auf: Den Weg herauf glitt ein gefälliger Opel Rekord. Als ihr Mann ausstieg, um das Tor zu öffnen, ging Margit Marahn mit raschen Schritten in den Flur, schlüpfte in den Mantel und prüfte vor dem Spiegel ihr Gesicht: Ein junges Gesicht, in dessen Wangen hinein die tiefschwarzen Haare gebogen waren, die sie schlicht heruntergekämmt hatte, so daß die braunen Augen um so mehr auffielen. Als sie die leichten Schritte ihres Mannes vor der Tür hörte, wandte sie sich vom Spiegel ab und knöpfte den Mantel zu. Dann stand er im Eingang, hager, mit eingefallenen Wangen und feuchtem Haar, sah sie mit seinen grauen Augen an, rührte sich nicht und bewegte die Lippen, ohne etwas zu sagen. Sie sagte: „So. Endlich bist du da. Ich gehe jetzt.“ Er fand seine Stimme; er sagte: „Brumerus ist tot“ und stand da, hager, mit eingefallenen Wangen und ganz grau. Sie fühlte, wie sie weiß wurde, Ihre Stimme wurde spröde. „Was?“ fragte sie. „Was?“ „Ja“, antwortete er, „Brumerus ist tot. Ich habe ihn erschossen.“ Er rührte sich immer noch nicht.
4. Brumerus hatten sie vor fast genau drei Jahren in Bayreuth kennengelernt. Sie waren dort auf 11
einem Schaufensterbummel gewesen – eine Leidenschaft, der die junge Frau mit backfischhafter Begeisterung frönte – und hatten dann in der ‚Goldenen Klause‘ zu Abend gegessen. Diese Mahlzeiten in versteckten Lokalen hatten sie schon vor ihrer Ehe zu einem verliebten Spiel gemacht, in der sie die verwöhnte junge Dame sein durfte, er der aufmerksame Kavalier zu sein hatte. Wenn sie spätnachts ihre kleine Villa betraten, taten sie es wie ein junges Paar, das soeben zueinander gefunden hatte. Unbewußt füllten sie damit eine Lücke, eine Kluft, ein Vakuum. Er war von seinem ärztlichen Beruf, von dem unablässigen Kampf um die Erweiterung seiner Praxis manchen Abend wie ausgelaugt, und dann reichte es gerade noch zu einer flüchtigen Zeitungslektüre, zu einem gedankenlosen Fernsehen, zum zerstreuenden Blättern in einem Krimi; es reichte nicht mehr zum Studium ärztlicher Fachlektüre und schon gar nicht zur Sonntagsmalerei, die er in seiner Jugend eifrig ausgeübt hatte. Seine Frau wiederum war jung und schön, aber eben nur jung und schön, und sie betrachtete den Beruf der Hausfrau und Ehegattin als eine Art Hobby, das sie allerdings mit Grazie und Liebreiz betrieb. Ernsthafte Arbeit verrichtete sie nicht; den Rasen versorgte ein invalider Gärtner, die wirkliche Hausarbeit tat eine Haushälterin, die sie im Kreise ihrer Freundinnen mit dem Titel Raumpflegerin adelte, ohne es scherzhaft zu meinen. Und ein Kind war ihnen versagt geblieben. Obwohl es zwischen ihnen nie einen Streit gegeben hatte, fühlten beide die Leere, mit der die Tage und Wochen an ihnen vorbeistrichen, sie ahnten die Gefahr, daß sie in ferner Zukunft würden feststellen müssen, ihr ganzes Leben sei so vertan worden. Doktor Marahn versuchte dieser Erkenntnis dadurch auszuweichen, daß er noch 12
mehr als bisher berufliche Anstrengungen unternahm und häufiger und intensiver mit seinem Steuerberater konferierte. Es war, als wollte er aus dem wachsenden Gewinn seiner Praxis wie ein Unternehmer seine eigene wachsende Bedeutung ablesen. Seine Frau wiederum geriet in eine Art Kaufwut; sie erwarb alle nur denkbaren modischen Dinge für sich selbst und das Haus, und sie warf sie achtlos weg, sobald etwas anderes ihr modischer zu sein schien. Allerdings haftete dieser nutzlosen Tätigkeit eine Spur von Berechtigung an; denn die einflußreichsten Patienten, die wichtigsten Kollegen nebst ihren Gattinnen waren Gäste des Hauses, und der Erfolg, der so sichtbar präsentiert wurde, schlug sich in neuen Erfolgen Marahns nieder, dessen – nicht ganz gerechtfertigter – Ruf ihm zahlungskräftige Patienten anzog. Vermutlich hätte sich dieser Kreislauf ins unendliche fortgesetzt, denn Marahn trug sich schon mit dem Gedanken, in dem schönen Berneck – oder vielmehr im gebirgigen Randgebiet – eine Privatklinik zu eröffnen. Da sie über die Autobahn leicht zu erreichen sein würde, rechnete er sich erheblichen Zuspruch aus. So also wäre es gekommen, wenn nicht Brumerus aufgetaucht wäre. Er hatte damals an dem Tisch gesessen, den Marahn für sich und seine Frau hatte reservieren lassen. Als der Ober sie dorthin geleitete, war Marahn verstimmt gewesen; aber Brumerus hatte mit so vollendeter weltmännischer Höflichkeit das Feld räumen wollen, daß dem Arzt eigentlich nichts anderes übriggeblieben war, als auf der Anwesenheit von Brumerus an ihrer kleinen Tafelei zu bestehen. Und seine Verstimmung verflog bald; denn Brumerus erwies sich als ein glänzender Gesellschafter, vollgestopft mit den lustigsten Anekdoten. 13
Er mochte so alt wie Doktor Marahn sein; aber während der Arzt hager war, leicht vornübergebeugt ging und das schmale Gesicht eines Intellektuellen hatte, wirkte Brumerus, obwohl er groß war, eher massig. Er trug das Haar peinlich genau zurückgebürstet, besaß scharfe graue Augen unter leicht vorgezogenen Dächern beinahe buschiger Brauen, füllige Wangen, eine gerade, stumpfe Nase und einen Mund, dessen Lippen abzulesen war, daß er zu genießen wußte – was immer es sein mochte. Seine Hände wirkten keineswegs elegant, und doch fühlte sich die junge Frau sogar von ihnen angezogen, weil sie außerordentlich gepflegt erschienen. Jedenfalls verlieh Brumerus diesem Abend einen unerwarteten Reiz, und auch Marahn war mehr als versöhnt. Außerdem aber zollte Brumerus der jungen Frau derart ritterliche Aufmerksamkeiten, daß sich zwischen ihm und Marahn bald ein stummer Wettlauf entspann, den sich Margit Marahn gern gefallen ließ. Die doppelte Huldigung, die ihr so dargeboten wurde, verwandelte ihr Spiel zu zweit in ein Spiel zu dritt, aber auf jeden Fall vorerst nur in ein Spiel, ein Gesellschaftsspiel, bei dem man die Würfel jederzeit aus der Hand legen konnte, wenn es einen ermüdete oder ärgerte. Als sich zu später Stunde herausstellte, daß Brumerus in Berneck einen Bungalow gemietet hatte, in dem er sich zur Zeit aufhielt, als die Marahns in ihm also sozusagen einen Mitbürger mit ähnlichem Geschmack an der herben Landschaft fanden, bekam das Gespräch eine neue, persönlichere, ja fast freundschaftliche Note, und es war selbstverständlich, daß man gemeinsam aufbrach, um über die Autobahn nach Berneck zu fahren. Vor der Klause begab sich dann noch ein kleiner, chevaleresker Zwischenfall. 14
Brumerus fuhr einen Borgward Isabella. Seit dieser Wagen auf den Markt gekommen war, war es Margit Marahns sehnlicher Wunsch, ihn zu besitzen. Er war ein junger Wagen – er paßte zu ihr! Und selbst der Motor, den die Fachpresse tadelte, zog sie an: Der empfindliche Motor für eine empfindsame junge Frau, so etwa mochte sie fühlen. Aber ihr Mann lächelte dieses Mal nur zu ihrem Wunsch; er gab ihr nicht nach. Er liebte seinen gelben Opel, dessen freundliche Farbe er als einer der ersten gewählt hatte, und wenn er das Modell auch wechseln würde – der Farbe würde er treu bleiben und seinem frommen Opel auch. Es war selbstverständlich, daß Brumerus die junge Frau zu einer Art Probefahrt einlud, und Marahn ließ es sich gutmütig gefallen, daß sie ihn mit dieser Einladung ein wenig verspottete. Erst als die Isabella auf der Autobahn sich von hinten langsam gegen seinen Opel vorschob und ihn überholte, wobei er die lustig winkende Hand seiner Frau wahrnahm, begann er sich zu ärgern. Es war ein leichter Ärger, der gleich wieder verflog, als ihn seine Frau in der kleinen Villa lachend begrüßte. Vielleicht wußte sie um jene Stunde selbst noch nicht, daß es damals begonnen hatte; aber es hatte damals begonnen, und vor Sekunden hatte ihr Mann, reglos in der Tür stehend, gesagt: „Ja, Brumerus ist tot. Ich habe ihn erschossen.“
5. Margit Marahn fühlte nicht nur, wie sie weiß wurde, sie spürte plötzlich, daß sie fror. Mühsam sagte sie: „Das ist nicht wahr!“ 15
Ihre Worte waren kaum verständlich. Marahn starrte sie an, das Gesicht grau; er erwiderte: „Ich habe ihn wirklich erschossen, Margit!“ Er rührte sich dabei nicht. Ihre Augen weiteten sich unnatürlich. Sie ging auf ihren Mann zu, und das fiel ihr so schwer, als müßte sie durch ansteigendes körniges Eis waten, und so kalt war es auch; sie fror schrecklich, und sie bebte vor Kälte. Marahn konnte nichts denken; er sah sie auf sich zukommen wie eine aufgezogene Schaufensterpuppe – fremd, leblos. Vor ihm blieb sie stehen, und im gleichen Augenblick schlug sie mit voller Kraft in sein Gesicht. Seine Brille klirrte auf den Boden; er bückte sich und tastete mit blinden Fingern danach. Seine Frau sah ihm zu. Sie konnte nichts sagen, sie konnte sich nicht rühren; er erschien ihr wie ein grauer, fürchterlicher Käfer. Als er sich aufrichtete und die Brille aufsetzte, schrie seine Frau laut auf, rannte in das Wohnzimmer, schmiß sich in eine Ecke der Couch, krümmte sich zusammen, schrie immer noch und brach dann in verzweifeltes Schluchzen aus. Das alles hatte sich Doktor Marahn völlig anders vorgestellt; er verabscheute sich selbst. Wie er die Geräusche aus dem Nebenzimmer hörte, verursacht von dem maßlosen Jammer seiner Frau, preßte er die Augenlider zusammen und verzerrte das Gesicht: Es war ihm unerträglich. Er atmete tief auf und ging die paar Schritte durch den Korridor zum Zimmer. Dabei sah er unwillkürlich in den Spiegel, in den noch vor wenigen Minuten seine junge Frau geschaut hatte, und er erschrak vor seinem verwüs16
teten Gesicht. Er wollte sie von der Tür her anrufen, aber die Stimme versagte ihm angesichts ihrer Verzweiflung. Niemals hätte er geglaubt, daß seine sanfte und verspielte junge Frau, die ihm immer noch mädchenhaft erschien, eines solchen Ausbruchs fähig gewesen wäre. Vor kurzem war er davon überzeugt gewesen, das Richteramt übernehmen zu müssen. Jetzt stellte er alles in Frage. Er wußte, daß seine Frau diesen Brumerus liebte, mit einer Leidenschaft und Hingabe, wie sie ihm wahrscheinlich nie zuteil geworden waren. Nach jener Autofahrt hatte sie eine Einladung angenommen und Brumerus in seinem Bungalow besucht. Marahn war durch seinen Beruf gehindert gewesen, daran teilzunehmen. Auch in der Folgezeit trafen sich die beiden, sofern Brumerus sich wieder einmal – was nicht allzu häufig vorkam – in Berneck von seinen Geschäften erholte. Auch gemeinsame Autofahrten unternahmen sie. Anfangs war Marahn dem anderen dafür dankbar gewesen, daß er der jungen Frau einige Abwechslung in dem eintönigen Leben am Rande eines so kleinen Ortes verschaffte. Nach kurzer Zeit hatte er allerdings eine befremdliche Veränderung im Verhalten seiner Frau bemerkt; sie war ihm gegenüber nervös und unsicher, sie entzog sich seinen Liebkosungen. Erst, als sie ihm vorschlug, getrennte Schlafzimmer einzurichten, fragte er sie. Sie gestand ihre Leidenschaft, sie gestand, daß sie nicht imstande wäre, sich von Brumerus zu lösen. Obwohl er Schmerz empfand wie nie in seinem Leben, fühlte er Mitleid mit ihrem hilflosen Ausgeliefertsein. Wenig später fragte sie ihn, ob er sich von ihr trennen wollte. Sie sah ihn dabei nicht an. Natürlich hatte er diesen Gedanken erwogen, aber er hatte gefunden, es wäre 17
für ihn unvorstellbar, in einem Hause zu leben, in dem sie nicht anwesend wäre, wie er sich auch nicht denken konnte, eine andere Frau zu sich zu holen. Also verneinte er ihre Frage. Auf seine Gegenfrage, ob sie nicht für immer zu dem anderen gehen möge, zuckte sie nur die Schultern und antwortete nicht. Er forschte ihren Gründen nicht nach. So blieb nach außen hin alles so, wie es gewesen war. Die Gäste, die sie freundlich empfingen, merkten nichts davon, daß sie vor einer im Grunde zerstörten Ehe standen. Er hatte versucht, einiges über seinen Rivalen zu erfahren. Aber außer den Tatsachen, daß er in München seinen ständigen Wohnsitz hatte, offenbar über reichliche finanzielle Mittel verfügte und mit dem Bauwesen zu tun hatte, blieben die Nachrichten aus. So mußte er sich mit diesem mageren Ergebnis bescheiden. Allmählich pendelte sich das Leben zwischen Doktor Marahn und seiner Frau auf eine Art distanzierter Freundschaft ein. Vermutlich wäre das auf Jahre hinaus so geblieben, wäre Marahn nicht einige Monate vor seiner Tat auf eine ungewöhnliche Fahrigkeit seiner Frau aufmerksam geworden, die dann wieder abgelöst wurde von einem minutenlangen Starren irgendwohin. Marahn konnte das Rätsel zunächst nicht lösen. An einem außergewöhnlich blauen Sommertag jedoch kehrte er unerwartet zeitig heim; das Haus war leer. Er war verwundert, argwöhnte aber nichts Böses. Die Zimmer indessen, in denen er untätig umherging, wirkten auf ihn wie Höhlen und machten ihn nervös; er trat vor das Haus, und der volle Prall der Sonne blendete seine Augen so, daß er sie zusammenkniff. Er tauchte zum ersten Male wieder in den Sommer ein, den er über seiner Praxis 18
gar nicht mehr wahrgenommen hatte, hörte das dringliche Summen der Bienen, sah den stummen Schaukelflug der Falter, atmete den betörenden Duft des Heus. Er schlenderte ziellos auf dem Rasen umher, die Hände in den Hosentaschen, das Hemd geöffnet; er stieg den Hang hinan hinter das Haus, wo ein dichter Bestand von Mischwald begann, in den er hineinstrich. Und blieb plötzlich stehen, weil in einer Mulde unter einem Brombeerstrauch seine Frau lag. Es sah aus, als hätte sie sich in einem Nest versteckt, der Körper war zusammengezogen, die Augen waren geschlossen, über dem rechten Ohr lag ihre Hand: Nichts sehen und nichts hören. Er betrachtete sie, er stutzte: Das alles war so ungewöhnlich – und plötzlich war er nicht der Ehemann dieser Frau, er war der Arzt. Um sie nicht zu erschrecken, ging er gerade so laut auf sie zu, daß sie es hören mußte, und setzte sich neben sie. Er rupfte einen Grashalm aus und spielte damit. Dabei begann er zu erzählen und bemühte sich, seiner Stimme einen harmlosen und beruhigenden Klang zu geben. Eigentlich tat er, als wäre es alltäglich, gerade hier, gerade so zu sitzen und zu sprechen. Er berichtete von seiner Praxis, von kleinen Erfolgen, kleinen Ärgernissen, fragte sie um Rat, gab sich aber selbst die Antworten und steuerte – unmerkbar, wie er glaubte – auf ihre eigene Situation zu. Plötzlich setzte sie sich auf, und sie sagte: „Hör auf! Hör doch endlich auf!“ Er schwieg. Sie sagte: „Es ist mir so gleichgültig.“ Er sah mit Kummer, daß ihr Gesicht verweint war. Er sagte: „Ach, Margit! Sieh dich doch um! Sommer …“ Weiter kam er nicht. Sie sprang auf, sie stand zornig vor ihm. Sie sagte: „Etwas anderes weißt du nicht! Und mir ist, als wenn mir jemand die Kehle zudrückt!“ 19
Sie drehte sich mit einem Ruck um und rannte weg, auf das Haus zu, in dem sie verschwand. Er saß da, und seine Linke spielte, ohne daß er es bemerkte, mit einem Stückchen Moos, das er losgerissen hatte. Er sah sie immer noch rennen, die Margit, seine Frau – sie war gerannt wie ein kleines Mädchen. In diesen Minuten hatte sie ihn verabscheut, das hatte er gespürt. Langsam stand er auf. In das Haus wollte er jetzt nicht zurück, er wollte ihr nicht begegnen. Unschlüssig wanderte er über das Grundstück. Dann hörte er drunten auf der Landstraße ein Geräusch; es war der Borgward Isabella. Am Steuer erkannte er Brumerus. Neben Brumerus saß eine Frau. Sie war jung und unbeschwert, sie lachte, und in dem Augenblick, als der Wagen an dem Tor vorbeisurrte, sah Marahn, wie die Frau ihre Hand auf die Schulter von Brumerus legte und mit den Fingerrücken flüchtig liebkosend über seine Wange streichelte. Er wandte sich ab; das Geräusch des Wagens schwamm weg. Als er zum Hause hinaufstieg durch den duftenden Rasen, den er nicht bemerkte, faßte er den Entschluß, Brumerus zu töten.
6. Nun stand er also an der Tür und sah den Jammer seiner Frau. Der Regen hatte sich verstärkt, er vernahm das unaufhörliche Rauschen. Er sagte ins Leere hinein: „Es ist nichts mehr zu ändern, Margit, er ist tot.“ Er sagte und blickte vor seine Füße: „Du hättest nie die Kraft aufgebracht, dich von ihm zu trennen. Das weißt du. 20
Du weißt auch, daß du dich von ihm hättest trennen müssen. Ich wollte nicht, daß du dich erniedrigst.“ Das Schluchzen seiner Frau wurde leiser. Er sagte: „Mögen das andere finden, wie sie wollen, mögen sie mich verurteilen … Und du kannst mich schlagen, ich trage es dir weiß Gott nicht nach … Nur versuche zu verstehen, daß ich einen Menschen, den ich sehr liebe, nicht beschmutzen lassen wollte.“ Er zuckte die Schultern, wandte sich zum Fenster, schaute hinaus. „Was sollte ich tun? Gespräche mit dir? Du hättest mir immer das gleiche gesagt: ‚Ich weiß das, aber ich liebe ihn, ich kann nicht anders!‘ Mit Brumerus sprechen? Du weißt ebensogut, daß es nichts genützt hätte. Was er hatte, das hielt er; andere Menschen kümmerten ihn nichts.“ Er wußte nicht, ob sie zu schluchzen aufgehört hatte oder ob nur das Regengeräusch so stark geworden war, daß es alle anderen Laute übertönte. Er hätte sich gern umgedreht; er unterließ es, weil er das noch sagen wollte: „Ich verstehe dich deshalb so gut, weil ich dich genauso liebe.“ Er seufzte und sagte: „Weil du es nicht konntest, habe ich die Trennung für dich übernommen.“ Erst jetzt wandte er sich um. Seine Frau hatte sich aufgerichtet, sie hockte in der Ecke der Couch, die Beine angezogen, und starrte ihn wortlos an. Marahn schwieg ebenfalls. Welchen Sinn sollte es haben weiterzusprechen? Im Grunde genommen hatte er alles gesagt, was zu sagen war, er hatte Erklärungen abgegeben, ob sie die nun annahm oder nicht, und vor allen Dingen: Irgendwo lag ein Toter, ein Erschossener, und damit waren Schicksale besiegelt, was immer jetzt noch gesprochen werden mochte. 21
Zum ersten Male fühlte er sich etwas ruhiger, gelassener. Er musterte seine Frau mit Anteilnahme. Er konnte ihre Liebe verstehen, er hatte ihre Qualen begriffen, er wußte um ihren Schmerz. Aber wenn er sich jetzt in Ruhe fragen konnte, so antwortete er nach wie vor, für Margit wäre die fremde Hand das einzig Mögliche gewesen, seine Hand, die jene Fessel durchschnitten hatte. Irgendwann würde ihr Schmerz aufhören, so wie im Grunde genommen ihre Liebe zu Brumerus zu sterben begonnen haben mußte, als sie von seiner Untreue erfuhr, als sie begriff, daß sie für ihn nichts war als ein hübsches und reizvolles Spielzeug. Marahn seufzte. Er sah die junge Frau immer noch an, und er sah sie so wie vor fünf Jahren, als sie geheiratet hatten. Da war sie für ihn die Erfüllung aller seiner Hoffnungen gewesen; er hatte geglaubt, die Begleiterin für sein ganzes Leben gefunden zu haben, und er war bereit gewesen, alles für sie zu tun und alles für sie zu opfern, so sehr liebte er sie. Nun hatte er alles getan und alles geopfert, nur, daß er sich dieses Opfer niemals so vorgestellt hatte. Er zuckte noch einmal die Schultern; er sagte: „Ich will die Sache zu Ende bringen.“ Er bemerkte, daß ihre Augen sich weiteten, als wäre sie erneut erschreckt. Sie sagte mit ihrer rauhen Stimme: „Mein Gott – was willst du noch tun!“ „Ich werde die Polizei anrufen.“ Er sagte: „Schließlich“, er zögerte und sagte es endlich doch, „liegt dort ein Toter.“ Sie zuckte kaum merkbar zusammen. Sie sah schräg zur Seite, ihre Stirn runzelte sich. Langsam sagte sie, ohne ihren Mann dabei anzusehen: „Walter, du hast etwas 22
Schreckliches gemacht. Ich habe mir nie vorstellen können …“ Sie preßte sekundenlang die Lippen zusammen, um so einen erneuten Ausbruch ihres Gefühls zurückzudämmen. Sie fuhr fort und sah dabei auf den Fußboden: „Nein, ich habe es mir nie vorstellen können … So etwas nie … Und ich kann gar nicht daran denken, daß du mich liebgehabt hast, daß du mich …“ Ein flüchtiger Blick streifte ihn. Er spürte, daß sie in diesem Augenblick wieder von Schrecken, vielleicht sogar von Abscheu erfüllt war. Aber das war tatsächlich nur ein flüchtiger Blick, eine Flucht. Er hörte ihrer Stimme an, daß sie sich zusammenraffte, um sich nichts anmerken zu lassen, als sie sagte: „Aber jetzt, jetzt, da das geschehen ist – und es ist nicht zu ändern, nicht wiedergutzumachen –, es wird doch nichts besser, wenn du dich der Polizei stellst Es kann alles nur viel schlimmer werden.“ Das klang verwirrt. Marahn glaubte einen Schimmer von Gefühl zu erkennen. Er sagte hart: „Ich will ihn dort nicht so liegenlassen.“ Daran hatte sie nicht gedacht; sicher hatte sie sich das überhaupt nicht vorgestellt. Er erkannte es an dem Ausdruck ihrer Augen. Sie schwieg; sie versuchte, jenes Zimmer zu sehen, in dem sie so oft gewesen war, sie versuchte, den Toten zu sehen, den Erschossenen. Es mußte entsetzlich sein, was sie erblickte. Sie sprang auf, rannte geradezu an das Fenster, und sie rieb sinnlos und heftig mit ausgestreckten Fingern ihre Schläfen. Marahn versuchte, Nüchternheit vorzutäuschen. Er sagte: „Außerdem – ich will das nicht, wie ein Mörder …“ Sie fuhr herum, schrie ihn plötzlich an: „Das bist du doch!“ Er tat, als wäre nichts geschehen. Er fuhr fort: „… 23
wie ein Mörder herumzulaufen, mit Angst, mit Verfolgungswahn, was weiß ich. Nein. Machen wir kurzen Prozeß!“ Während er schräg durch das Zimmer zu dem Bücherregal ging, in das er den Telefonapparat gestellt hatte, fügte er hinzu: „Übrigens – welchen Zweck sollte es haben? Ich habe dir damals gesagt, daß du …“ Er wollte ausdrücken: … der Sinn meines Lebens bist; aber jetzt kam ihm das melodramatisch vor, und er unterließ es. Er murmelte: „… daß du mir alles bedeutest.“ Das Fenster hinter ihr war grau von Regen; sie stand davor als dunkler Schattenriß; auch der Ausdruck ihrer Augen war nicht mehr erkennbar. Tatsächlich kümmerte ihn das in diesen Sekunden nicht; tatsächlich spürte er sich nun in jenem sachlichen Zustand, den er sich vor der Tat vorgestellt hatte. Er stutzte vor dem Apparat; er sagte: „Die hiesige Polizei …?“ Er wandte ihr den Kopf zu: „Das gibt unnötigen Ärger, unnötige Aufregung. Da ist dieser Bifferli. Das Geschwätz der Leute in so einer kleinen Stadt …“ Er atmete auf, nahm das klobige Telefonbuch in die Hand und ging zum zweiten Fenster – Licht machen wollte er nicht (nur ihre Augen nicht sehen!) –, um in dem grauen Schimmer des völlig ermatteten Tages die Nummern entziffern zu können. Er sagte: „Ich werde die Mordkommission verständigen. In Bayreuth. Oder in Nürnberg.“ Er sagte wie zu sich selbst: „Was ist denn vernünftiger, Bayreuth oder Nürnberg …?“ Während er unschlüssig suchte, hörte er ihre Stimme. Zuerst konnte er nicht verstehen, was seine Frau sprach, so sehr war er vernarrt in das, was er zu tun beabsichtigte. Dann machte ihn der Ton aufmerksam: Die Stimme klang ganz anders, als er es seit je gewohnt 24
war, sie klang nicht weich, leise, anschmiegsam, sondern mühevoll akzentuiert, als wenn jemand soeben lerne, Befehle zu erteilen. Immer noch den Block des Telefonbuchs in der Hand, hob er den Kopf, sah jedoch nicht seine Frau an, sondern zum Fenster hinaus und verstand: „… höre ich dich sagen, daß du mich liebst, seit Jahren, und aus Liebe machst du so etwas Wahnsinniges, wie du behauptest. Es stimmt, du hast mir jede Bitte erfüllt, du bist …“, sie unterbrach sich, und ihre Stimme hastete dann etwas, „so großzügig gewesen, wie ich es niemals erwarten durfte …“, sie fing sich wieder, „aber es mag sein, wie es will. Zum ersten Male bitte ich dich ganz ernsthaft: Rufe nicht an! Niemand hat dich gesehn! Niemand wird es erfahren! Die Jahre werden vergehen! Allmählich werden wir es vergessen können.“ Mehr sagte sie nicht. In diesem Augenblick wußte er, daß sie von gemeinsamem Leben sprach. Er sah forschend zu ihr hinüber. Immer noch stand sie am anderen Fenster, und es war inzwischen so dunkel geworden, daß er nicht mehr erkennen konnte, ob der Ausdruck ihres Gesichts seine Vermutung bestätigte. Er spürte die Schwere des Buchblocks in seiner Hand. Er schob ihn auf das Regal in eine Lücke zwischen Büchern; aber er ließ ihn aufgeschlagen. Der Regen draußen lärmte. Unwillkürlich mußte er daran denken, daß die geringen Spuren auf dem Kies, auf dem Rasen bald völlig unlesbar sein würden. Marahn sagte: „Ich fürchte, diesen Wunsch kann ich dir nicht erfüllen.“ Sie antwortete von dem grauen Fenster her: „Wem sollte das wohl nützen, wenn du für immer oder auf zehn 25
Jahre ins Zuchthaus gingest? Ich, Walter, wäre doch ganz alleine hier.“ Es war jetzt so dunkel geworden, daß Marahn die Telefonzahlen mit bloßem Auge nicht mehr hätte lesen können. Dazu würde er Licht machen müssen. Davor scheute er sich.
7. Der gelbe Opel Rekord draußen stand vor der Garage. Marahn hatte ihn nicht hineingefahren, wie es sonst seine Art gewesen war. Der Regen fiel dichter. Der Wagen fror. Er versuchte zu hupen; aber das gelang ihm nicht. So bewegte er die Scheibenwischer wie die Fühler eines Käfers, als wollte er damit pochen und klopfen, um Einlaß zu erhalten. Doch auch das gelang ihm nicht. Es entstand nur ein unmutig schabendes Geräusch. So stand er weiter und wartete und fror, und der Regen fiel unaufhörlich und fiel auf den Rasen, der sich vollsog und wie ein Schwamm war. Im Hause, in der kleinen Villa, waren zwei Fenster erhellt. Ihr Licht erstickte in dem dichten Schleier, den der unaufhörliche Regenfall auf das Gebäude legte.
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ZWEITES KAPITEL
1. „Es ist bald Mitternacht“, seufzte Assistent Griessbühl und unterdrückte einen Gähnen, „ich möchte nur wissen, warum uns die Leute so viel Arbeit machen, indem sie sich gegenseitig erschießen, vergiften, erhängen. Da glauben sie, sich aus der Welt zu bringen; aber nichts ist aus der Welt geschafft. Wir haben den Ärger.“ Kriminalkommissar Groll sah den jungen Mann unwillig an. Solche Reden mißfielen ihm. Überhaupt mißfiel ihm dieser junge Mann. Er mißbilligte dessen Brecht-Frisur, er mißbilligte den ungesunden fahlen Teint, den Anzug, der um die zu schmale Gestalt schlotterte. Hatten Kriminalassistenten so auszusehen?! Er wollte etwas sagen; er unterließ es. Er glaubte zu spüren, daß er alt wurde: Wie konnte er um Mitternacht so ermüdet sein? Er sah auf die Kaffeetasse aus Steingut; daran fanden sich unschöne Spuren von Kaffeesatz. Mit der flachen Linken rieb er seine mächtige Glatze, er massierte sie geradezu. Manchmal hatte das geholfen, jetzt half es nichts; er war ganz einfach todmüde. Er unterdrückte einen Seufzer und schob seinen mas27
sigen Körper aus dem Holzsessel. Auf dem Schreibtisch lag keinerlei Papier mehr; er grunzte zufrieden. Griessbühl half ihm in den Mantel, einen schäbigen alten Lodenmantel von verschossen-grüner Farbe. Davon konnte sich Groll nicht trennen. Trug er diesen Mantel, hatte er immer das Gefühl, ein Jäger auf der Pirsch zu sein, flott auszusehn – und wußte doch, daß er ein alternder Mann war, dessen Gang gebeugt war. Er zerrte am Mantelkragen und fragte unwirsch: „Na, was ist? Kommen Sie nicht mit?“ Dabei sah er durch die halbgeöffnete Tür auf Griessbühls Schreibtisch nebenan, der noch keineswegs reinlich aussah, und er dachte flüchtig daran, wer wohl sein Nachfolger werden würde – vermutlich und Gott sei Dank doch nicht dieser Griessbühl, so fleißig er auch war, sondern irgendein erfahrener Beamter, den man aus einem andern Ort hierher versetzen würde, obwohl, wie er gleichzeitig wieder zugab, das Gehalt eine Versetzung kaum lohnte. „Ich komm’ ja“, antwortete Griessbühl, ging in das andere Zimmer und sah auf seine Akten mit einem Ausdruck, als bedauere er es, sich davon trennen zu müssen, und sei es nur für eine Nacht. Immerhin packte er sie mit raschen Griffen zusammen und verschloß sie in der Schublade. Groll wartete immer noch an der Tür, und als Griessbühl seinen Mantel anzog, bemerkte er knurrend und ungnädig: „Ein Kriminalbeamter sollte so unauffällig wie möglich aussehn! Müssen Sie denn so einen modischen Frack tragen?“ Griessbühl lächelte verzeihend und strich liebevoll mit der linken Handfläche über den olivfarbenen Wildledermantel. „Geschenkt ist geschenkt!“ sagte er, und: „Ich schieß’ den Hirsch nicht im wilden Forst!“ 28
Groll wußte, daß diese Antwort gezielt war, und schon wollte er irgend etwas von „Böckeschießen“ erwidern, als er sich besann: Im Dienst war Griessbühl ganz brauchbar; so beschied er sich mit der boshaften Bemerkung: „Daß ausgerechnet Sie eine so freigebige Freundin haben, lieber Griessbühl!“ Aber der ‚liebe Griessbühl‘ kümmerte sich darum nicht, er klemmte die Aktentasche unter den Arm und sagte: „Gehen wir!“ Da läutete das Telefon. Griessbühl sah Groll fragend an. „Ach was!“ knurrte der. „Ich schlafe! Hat sich einer mit einem Strick erschossen! Nee! Ich schlafe und will mit solchem Popelmannskram nicht geweckt werden!“ Also ging Griessbühl ans Telefon. Er beugte den Oberkörper über die Schreibtischplatte, stützte sich mit den Ellenbogen auf, und in dieser bequemen Haltung – die ihm Groll bereits wieder übelnahm – horchte er auf die rasselnde Stimme. Nun bereute Groll doch, nicht selbst den Hörer genommen zu haben: Tatenlos mußte er an der Tür stehenbleiben, wußte nicht, worum es ging, war auf die Mitteilungen des „Buben“ – wie er ihn ebenfalls manchmal zu nennen beliebte – angewiesen. Ein unwürdiger Zustand. Er knurrte laut: „Na, was ist denn?“ Aber Griessbühl beachtete ihn nicht. Er sagte in die Muschel: „Moment mal, Moment! Ich muß mir das notieren. Warten Sie!“ Er legte den Hörer auf die Tischplatte, sah sich nach Papier und Bleistift um, bekam verzweifelte Augen, weil alles säuberlich weggeräumt war, mußte schließlich eine Schublade wieder öffnen und ihr beides entnehmen. 29
Dann ging er wieder ans Telefon, klemmte den Hörer mit der Schulter ans Ohr und sagte: „Noch mal! Den ganzen Film von vorn!“ Groll knurrte wieder: Welche Ausdrücke diese jungen Leute hatten! Er horchte noch einen Augenblick hin; aber da er nichts verstehen konnte, tat er, als wollte er nichts verstehen, griff seinen Hut vom Haken und begann ihn aufzusetzen. Seit Jahren besaß er diesen Filz mit dem niedrigen, eingedrückten Hutkopf und der zart gewellten Krempe bereits, diesen ehemals vornehmen Sombrero, der allerdings stark gelitten hatte, verwittert war und über dem Band einen dunkleren Schweißrand aufwies; trotzdem geriet Groll jedesmal in Spannung, wenn er ihn aufsetzte, weil er nur durch Erproben und Hin- und Herrücken festzustellen vermochte, welche Seite nach vorn gehörte, und auch dann war er seiner Sache nie ganz sicher. Er brachte es nicht übers Herz, sich davon zu trennen; er war ein Chapeaumane von reinstem Geblüt. Früher hatte er verschlissene Hüte in der Eisenbahn liegenlassen, und er hatte sie auf diese gröbliche Weise von seinem Herzen gerissen; jetzt fuhr er nur mit dem Auto, und er verfluchte die Gewissenhaftigkeit der Chauffeure, deren „Ihr Hut, Herr Kriminalkommissar!“ den alten Deckel wie mit Leim auf seinen nackten Schädel klebte. Er erwachte aus seiner Versunkenheit erst durch jene Redensart „Schiet am Bein!“, die Griessbühl benutzte, wenn sich etwas Unangenehmes ankündigte. Groll sah zu ihm hinüber. Griessbühl stand am Schreibtisch; aber den Hörer hatte er aufgelegt. In seiner Hand hielt er einen Zettel, bedeckt mit Notizen. Griessbühl starrte darauf, als wäre es nicht seine eigene, sondern eine fremde Schrift, die er 30
entziffern müßte. „Was immer es ist, Herr Griessbühl“, sagte Groll vorsichtig und zurückhaltend, „ich bin müde und gehe jetzt schlafen. Mag es stinken, soviel es will; morgen ist auch noch ein Tag, und der Gestank wird nicht aufhören, glauben sie einem alten Manne!“ „Mag sein“, erwiderte Griessbühl und starrte verdächtig interessiert auf seine Notizen, „aber ich fürchte, wir müssen uns jenen Mann trotzdem ansehen.“ „Welchen Mann?“ fragte Groll mißtrauisch. „Den Mörder“, erwiderte Griessbühl und sah den Kriminalkommissar freundlich an. „Den Mörder?“ fragte Groll erstaunt. „Ja, was denn, haben sie ihn schon?“ Er fügte beinahe empört hinzu: „Eigentlich ist es doch unsere Sache, den Mörder zu finden.“ „Ich hatte ihn eben an der Strippe“, erklärte Griessbühl, „er hat selbst hier angerufen, daß er einen erschossen hat und wo und wen und daß er uns jetzt erwartet!“ „Zum Teufel“, knurrte Groll und ging nun doch einige Schritte von der Tür weg zu dem Schreibtisch hin. „So etwas gibt es gar nicht! Das hat ja Seltenheitswert!“ Er dachte nach, schüttelte den Kopf und sagte entschieden: „Nein! Da hält uns einer zum Narren!“ Griessbühl kümmerte sich um das Murren nicht; er kannte diese Angewohnheit, die dem Kriminalkommissar jene Karriere verbaut hatte, die er eigentlich verdient gehabt hätte. Er sah auf seinen Zettel und sagte scheinbar zusammenhanglos: „Aber wie kommen wir jetzt dorthin?“ „Wohin?“ fragte Groll empört. „Nach Berneck“, erwiderte Griessbühl, „Dienstwagen ist nichts um Mitternacht. Also müßten Sie sich mir anvertrauen, Herr Kriminalkommissar!“ 31
Groll sah den jungen Mann mit gespieltem Entsetzen an; er wußte natürlich, daß ihm ein Dienstwagen zur Verfügung stand, er wußte aber auch, daß Griessbühl ein inniges Vergnügen empfinden würde, ihn mit seinem eigenen kleinen, ekelhaft bunt gestrichenen, auffallenden Gefährt auf eine unziemlich waghalsige Art zu befördern. Und da er trotz seines bitteren Berufs im tiefsten Innern ein Spaßvogel war, spielte er mit. „Fahren wir also“, sagte er und rückte wieder an seinem Sombrero. „Übrigens“, bemerkte er, als Griessbühl ihm die Tür öffnen wollte, „sollten wir zweckmäßigerweise die Ortspolizei verständigen. Die sollen die Mordkommission zusammenrufen und den Tatort sichern.“ Er sagte müde: „Es sollen schon Ermordete abhanden gekommen sein …“ Wenige Minuten später sah Griessbühl ihn, den Hörer am Ohr, verblüfft an, deckte die Sprechmuschel mit der Hand zu und sagte erstaunt: „Haben die schon veranlaßt, Herr Kriminalkommissar. Die hatten soeben auch einen Anruf!“ „Na“, antwortete Groll, „das ist mir ein gründlicher Mörder. Wollen wir uns den Mann mal ansehen, Griessbühl!“
2. Auf dieser Fahrt spürte Groll, daß er alterte. Seine Müdigkeit war groß; er ertappte sich mehrere Male dabei, daß er einnickte. Trotzdem fühlte er sich wohl; diese Strecke der Autobahn nördlich nach Hof war noch nicht ein so wildes Getümmel von Warnfeuern und Leuchthupen, ließ noch etwas ahnen von dem angenehmen Eingebettetsein in Wälder und Hügel, und obwohl der immer noch strähnig 32
niederstürzende Regen den Blick verkürzte, sah Groll tief in diese herbe Gebirgslandschaft hinein, so oft hatte er sie in den Jahrzehnten seines Dienstes durchfahren. Bei der Abfahrt Grafenwöhr war die Autobahn gesperrt; Griessbühl fuhr unmutig die 85 hinunter und dann wieder in spitzem Winkel die 2 hinauf. Groll sagte wehmütig: „Daß die jungen Leute immer rasen müssen, mit wahrer Gier schlingen sie die Autobahn in sich hinein! So eine nächtliche Fahrt die Zwei entlang, durch Bayreuth hindurch, bis Berneck hinein … Allein das Stück an der Pegnitz entlang …“ Er sah mit scheelem Blick auf die Tachonadel, lächelte breit und fügte hinzu: „Aber schneller als sechzig ist da nichts zu machen!“ In diesem Augenblick hatte Griessbühl die Autobahn wieder erreicht, mit quietschenden Reifen nahm er die Auffahrt mit ihren höllisch blinkenden Warnfeuern, schlug sich an drei hintereinanderher donnernden Lastzügen vorüber, sah mit Behagen die Tachonadel die Hundert übersteigen und sagte zu dem erschreckten Kriminalkommissar: „Nur, daß Sie auf dem anderen Wege eine Stunde verlieren können!“ Groll sagte nichts, versuchte sich zu beruhigen, und erst als er sich wieder gelassen fühlte und die sittsam niedergeschlagenen Scheinwerferaugen der Laster im Dampf des Regens weit hinten zu ertrinken begannen, erwiderte er: „Na, und was haben Sie gewonnen, wenn Sie die eine Stunde nicht verlieren?“ Aber Griessbühl war weit davon entfernt, sich mit philosophischen Erörterungen abzugeben; er versuchte zu verhindern, daß sein farbenfrohes Gefährt von einem lautlosen, schwarzen Mercedes überholt wurde, der sich von hinten heranschob. Tatsächlich gelang es ihm, talab 33
seinem krachenden Gerümpel eine unwahrscheinliche Geschwindigkeit abzuzwingen, aber hangauf mußte er den Wettlauf verlieren, und der Mercedes warf mit verächtlichen Hinterläufen eine Schmutzwoge über ihn, die die Windschutzscheibe blind machte. Griessbühl betätigte leise und heftig fluchend die Scheibenwischer. Groll grinste und sagte: „Sozialprestige! Die Partie wäre verloren!“ Das war zehn Kilometer vor dem Abzweig Bad Berneck. Hier lächelte Griessbühl wieder; denn als er den Wagen sanft an die Tankstelle rollen ließ, stand da der Mercedes. Er war stumm. Die Tür beim Fahrersitz war geöffnet. In seinem blauen Monteuranzug wartete der Tankwart und schaute neugierig, geduldig und mit leisem Spott einem Mann zu, von dem nur die Beine sichtbar waren, weil er nervös in seinem Wagen herumsuchte. Griessbühl hupte. Der Fremde fuhr aus dem Wagen und starrte sekundenlang herüber, ehe er wieder untertauchte. Groll behielt die dünne rote Mähne, die der Wind zauste, über einem schmalen Gesicht mit dünnen Lippen in Erinnerung. Griessbühl stieg aus und stelzte steif zu dem Mercedes hinüber. „Was ist denn los?“ fragte er. „Der Herr sucht sein Geld“, erwiderte der Tankwart spöttisch. „Lustiger Wagen“, fuhr er fort und nickte zu Griessbühls buntem Vehikel hinüber. Griessbühl lächelte und kniff die Augen zusammen. „Wette“, sagte er, „daß Sie die meisten Autofahrer für ein bißchen wahnsinnig halten!“ Er nickte vielsagend zu 34
dem Rothaarigen hin, der immer noch wie eine Ente in seinem Wagen gründelte, und setzte hinzu: „Nicht nur mich!“ Der Tankwart zog an seinem Ohrläppchen und erwiderte diplomatisch: „Wenn man’s so nimmt …“ Der langweilige Nachtdienst machte ihn gesprächig; er sagte: „Manchmal muß man schon den Kopf schütteln. Heute kam einer von meinen Kunden, der fährt immer nach Berneck hinüber, und macht ein Feuerwerk, nur weil eine Verschlußkappe fehlt und ich ihn darauf aufmerksam mache. Ein Zehnpfennigartikel, na ja …“, er rieb die Hände umeinander, es war kühl, „zugegeben, wer läßt sich schon von einem Fünfziger ’rausgeben, und daraus machen manche einen Nebenverdienst. So eine Verschlußkappe ist schnell weggesteckt, aber sie fehlte wirklich.“ Griessbühl langweilte die umständliche Erklärung. Doch er nickte. In diesem Augenblick drückte Groll auf die Hupe. Erschrocken fuhr der gründelnde Rotkopf wieder aus seinem Mercedes. Griessbühl sagte: „Dann fahren Sie doch Ihren Wagen beiseite und blockieren Sie nicht die Tankstelle, um Himmels willen! Wir müssen möglichst rasch nach Berneck!“ Die rötlichen Haare bauschte der Wind hoch. Der Rothaarige erwiderte: „Nach Berneck? Muß ich doch ebenfalls!“
3. Zum Erstaunen Griessbühls erwies sich, daß Groll sich in Berneck genau auskannte. Nachdem er den Rest der Fahrt schweigsam gewesen war, erklärte er kurz vor der Einfahrt in den Ort: „Sie 35
fahren links ab, dort muß das Haus dieses Doktor Marahn stehen. Ich werde zunächst selbst mit ihm verhandeln. Sie fahren das Stückchen zurück, quer durch ganz Berneck. Passen Sie auf, Sie stoßen auf ein Stoppschild. Dort rechts hinunter, ziemlich weit hinaus, eine Kastanienallee entlang. Da finden Sie den Bungalow. Erlösen Sie unsere arme Ortspolizei, und machen Sie eine genaue Bestandsaufnahme.“ Später sah Griessbühl den Alten nach jenem Zaun gehen, der Regen strömte immer noch, und der Sombrero war in Sekunden dunkel von Nässe. Auf den Beifahrersitz gelehnt, hielt Griessbühl die Tür einen Spalt offen; er hörte Groll läuten und kurz danach den langgezogenen Summerton. Da zog er den Schlag zu und setzte den Wagen wieder in Bewegung. Während der Kriminalkommissar, geduckt unter dem schüttenden Regen, am Rasen entlang aufwärts stieg, dachte er, daß dies einer der seltenen klaren Fälle wäre; es würde wenig Mühe machen, den Hergang der Tat zu rekonstruieren, er würde es mit einem Manne zu tun haben, der zu einem Geständnis und Bekenntnis bereit wäre, und vermutlich würden auch die Tatmotive offen zutage liegen. Noch bevor er die Eingangstür erreicht hatte, wurde sie geöffnet; er erkannte eine weibliche Gestalt, die ihn reglos erwartete. Um diese da würde es also vermutlich gegangen sein, dachte er, seufzte lautlos und beeilte sich nicht. Groll grüßte, zog den Sombrero und schüttelte sorglich das Wasser von dem Hut. Dann trat er ein. Als er den Mantel ablegte, bemerkte er an der Garderobe einen feuchten Trenchcoat. Aus den Augenwinkeln musterte er im Spiegel die Frau, die stumm seitlich von ihm wartete; sie war ihm angenehm, obwohl sie blaß und verweint 36
aussah. Er dachte, daß sie sicher ein reizvoller und ein bißchen verspielter Partner sein mochte. Aber einen Mord, dachte er, ist das doch weiß Gott nicht wert! Sie führte Groll in das Wohnzimmer, in dem sie Stunden zuvor von ihrem Mann über den Mord unterrichtet worden war. In diesen Stunden hatte sich für diese beiden Menschen die Welt bewegt; denn die Frau hatte begriffen, daß sie von ihrem Mann auf eine zwar absonderliche, aber tiefe Art geliebt wurde, und er hatte an der Tatsache, daß sie ihn an der Anzeige bei der Mordkommission hindern wollte, erkannt, daß sie sich ihm wieder zugewandt hatte. Trotzdem hatte er seinen Willen durchgesetzt; ihm war die Vorstellung unerträglich gewesen, über Jahre hinaus verfolgt und schließlich vielleicht doch aufgespürt zu werden. So hatte er es jedenfalls seiner Frau erklärt, und das hatte sie eingesehen. Tatsächlich war sein eigentlicher Beweggrund, daß er zu seiner Tat stehen wollte. Groll stockte an der Tür. In der linken Ecke des großen Raumes brannte nur eine Stehlampe; ihr Licht wurde von einem Metallschirm in einen spitzen Kegel gezwungen. Alles andere war nur schemenhaft sichtbar, zumal übermäßig viel geraucht worden war, und zu diesen schemenhaften Erscheinungen gehörten zwei Männer, einer, den er nicht kannte und in dem er den Mörder vermutete, und ein anderer, dessen dünner roter Schopf ihn als den Mann auswies, der bei der Tankstelle in seinem Mercedes gegründelt hatte. Kriminalkommissar Groll mißfiel das; er kniff die Augen. Rasch ging er auf die beiden Männer zu, die sich aus ihren Sesseln erhoben, gedachte sofort alle Hemmnisse zu beseitigen und sagte: „Habe das Vergnügen! Einer der beiden Herren ist doch wohl der Mörder!“ 37
Der Rothaarige erwiderte mit einer zähen, mürrischen Stimme: „Das sind doch sehr üble Scherze! In diesem Hause gibt es keinen Mörder!“
4. Griessbühl war den Weisungen des Alten genau gefolgt; jetzt hatte er tatsächlich die Kastanienallee erreicht, und er bewunderte das Ortsgedächtnis Grolls. Der Bungalow verriet sich wenig später dadurch, daß alle Fenster hell erleuchtet waren. Griessbühl parkte den Wagen vor der Pforte und wies sich hier dem Polizeibeamten aus, der ihn abfangen wollte. „Abwechslungshalber mal nicht von der Presse!“ scherzte der Kriminalassistent, und er war wenig erfreut, die Antwort zu erhalten: „War schon einer da! Ein zäher Bursche! Weiß der Himmel, woher die Kerle Wind bekommen!“ Griessbühl schauerte in dem Regen zusammen und ging rasch zum Bungalow hinüber. Dabei dachte er: ‚Bei dem Aufwand soll die Presse nicht aufmerksam werden!‘ und dachte auch : ‚Weiß der Himmel, welcher Bursche sich da sein kleines Informationshonorar gesichert hat.‘ Vor der Tür blieb er stehen und blickte, ohne die Wiese zu betreten, durch das immer noch offene Fenster. Griessbühl erkannte zwei Beamte bei der Arbeit, er sah den Fotografen, der Blitzlichtaufnahmen machte, er bemerkte zwei Herren, die sich angeregt unterhielten, offenbar der Arzt und der Staatsanwalt, und dachte: Es ist schade um diesen Aufwand bei einem geständigen Mörder. Er betrachtete den aufgeweichten Rasen, auf den der Lichtschein fiel, bewegte den Fuß im naß knirschenden Kies und überlegte, wie schwierig es sein würde, 38
irgendwelche Spuren hier draußen festzustellen, wäre der Täter unbekannt. Der Kriminalassistent ging rasch in das Haus. Beinahe bereute er jetzt, auf dieser Nachtfahrt bestanden zu haben, so sehr sie ihm Vergnügen bereitet hatte; denn jetzt, während er den Ledermantel auszog und abschüttelte, wußte er, daß öde Stunden vor ihm lagen. Er betrat den großen Raum, blickte flüchtig zu der Leiche hin, die zusammengeknickt auf der rechten Seite neben dem Schreibtisch lag, und sah einen kleinen, runden, gewichtigen Kriminalbeamten, der sich sehr straff hielt; auf ihn machte er den Eindruck, als ob er sich auf eine strenge und väterliche Weise mit Landstreichern und Wilddieben abzugeben pflegte, um sie in der gehörigen Zucht zu halten, aber der unwillige Ausdruck der runden blauen Augen, mit dem er ihm entgegensah, machte ihm klar, daß er es mit dem Ortsgewaltigen zu tun hatte. Also entschied er sich, ihn nicht nur sofort als gleichberechtigt, sondern übergeordnet anzuerkennen, das würde ihm unnötige Scherereien ersparen. Er wies sich aus, erklärte, daß Groll sich bei dem Täter aufhielte, und bat, ihn von dem Ergebnis der Untersuchung zu unterrichten. Inspektor Bifferli gab noch rasch dem Fotografen eine offensichtlich überflüssige Anweisung, blieb dabei gewichtig neben Griessbühl an der Tür stehen und unterrichtete ihn so detailliert, daß der im Stehen einzuschlafen drohte. Um dem zu entgehen, bot er Bifferli eine Zigarette an, der sie als passionierter Nichtraucher entrüstet ablehnte, und hatte sich auf diese einfache Art die Genehmigung verschafft, selber zu rauchen. Die erste noch oberflächliche Untersuchung des Arztes hatte ergeben, daß der Tod durch einen Schuß in die 39
Schläfe sofort eingetreten war. Der Mord mußte zwischen 19 und 20 Uhr durchgeführt worden sein; in diesem Punkt wollte der Arzt sich erst nach einer genaueren Untersuchung endgültig festlegen. Er und der Staatsanwalt, Mitglieder der Mordkommission, der Bifferli bisher vorstand, waren offensichtlich froh darüber, daß Groll den Fall übernehmen würde, weil sie auf diese Art rasch den Tatort verlassen konnten, an dem es ihrer Ansicht nach nichts weiter zu ermitteln gab. Sie würden, so erklärten sie, ihre Berichte zu den Akten geben. Griessbühl war erleichtert, als beide verschwanden; aber Bifferli zeigte sich enttäuscht, weil er fand, daß dadurch der Fall bagatellisiert und sein eigenes Gewicht gemindert würde. Vor dem Fenster sei das Gras niedergetreten gewesen; es stimmte also sicher, daß der Mörder von dort aus geschossen habe, wie von ihm angegeben, sagte Bifferli. Auch die Lage der Leiche und die Einschußstelle ließen darauf schließen. Die Waffe sei bisher nicht gefunden worden. Dann bat er Griessbühl, der sich gerade die zweite Zigarette anzündete, in den Vorraum. Er habe zwar die Anweisung Grolls, den Doktor Marahn nicht aufzusuchen, befolgt, erklärte er dort, wobei seine blauen runden Augen einen gläsernen Glanz bekamen, aber er wolle doch zum Ausdruck bringen, daß er eine solche Anordnung für gewissermaßen leichtfertig halte. Er habe dies nur nicht vor den Beamten, die drinnen die Untersuchung weiterführten, bemerken mögen. In einem solchen extremen Falle sei es doch immerhin möglich, daß der Täter die Flucht ergreife, auch wenn er zuvor die Absicht gehabt habe, sich stellen zu wollen. Griessbühl pochte die Asche auf den Fußboden und sah beiseite; er hatte den Eindruck, daß es Bifferli nur zu 40
sehr gelüstet hatte, in einer peinlichen Befragung sensationelle Intimitäten zu erfahren. Er zuckte deshalb die Schultern, meinte, Groll sei ja jetzt bei dem Täter und werde sicher dem Herrn Inspektor Bifferli bereitwillig Auskunft über seine Entscheidung geben. Er selbst wüßte freilich gern – und nun sah er Bifferli wieder in die blaurunden Murmelaugen –, was über die Gewohnheiten des erschossenen Brumerus bekannt sei. „Nichts!“ erwiderte Bifferli beinahe wütend. „Absolut nichts! Der Bungalow liegt abseits von Berneck, wer kommt schon hierher! Soviel mir bekannt ist, hat dieser Brumerus das Ding einem Schweizer Architekten abgemietet, der überall in dieser Gegend Bungalows baut, weil der Bayrische Wald Gott sei Dank von Touristen noch nicht überlaufen und deshalb vergleichsweise billig ist. Auch Arbeitskräfte sind für solche Bauten hier verhältnismäßig leicht zu bekommen. Polizeilich angemeldet hat sich Brumerus nie, denn er hat sich nur besuchsweise in seinem Bungalow aufgehalten, und zwar zu ganz unbestimmten Zeiten. Mag sein, daß man ihn manchmal überhaupt nicht zu Gesicht bekommen hat; denn eingekauft hat er in Berneck meines Wissens nie, man hat in der kleinen Küche dort hinten heute ganze Berge von Konserven gefunden, auch Wein aller Sorten und Schnäpse, die nicht übel sind, er hat sich also selber verpflegt, sozusagen. Tja, und sonst …“, Bifferli hob die Schultern, machte eine bedeutsame Pause, ließ sie wieder ruckartig fallen, „ob er nun des öfteren Weiberbesuch hatte, ob er sich Huschen mitbrachte, wozu überhaupt dieser Bungalow diente, wenn nicht …“, Bifferli versuchte ein Lächeln, das scheel wurde, „wir wissen es nicht!“ 41
„Und diese Frau Doktor Marahn, war die oft hier?“ wollte Griessbühl wissen. Wieder zuckte Bifferli die Schultern und sagte: „Wir wissen es nicht!“, aber Griessbühl glaubte zu bemerken, daß Bifferli, falls er doch etwas davon wußte, hier zu schweigen gedachte, weil er lieber den ortsfremden Brumerus unter Anklage gewußt hätte als den angesehenen und eingesessenen Arzt. Bifferli mußte den Blick Griessbühls bemerkt haben, denn er setzte hinzu: „Soviel mir bekannt ist, kam er mit dem Wagen und fuhr wieder ab, oftmals nachts. Wer seine Räume säuberte …, jedenfalls niemand aus Berneck!“ „Und Frau Marahn?“ fragte Griessbühl sofort. „Kann ja sein“, erwiderte Bifferli, wobei er seine blauen Glasaugen scheinbar nachdenklich durch den kleinen Vorraum wandern ließ, „offen gestanden – ich meine, sie ist nicht zu diesem Zweck hergekommen.“ Als Griessbühl sarkastisch die Lippen kräuselte, hob er sofort mahnend die kurzfingrige Hand und setzte hinzu: „Sie ist eine attraktive Frau, aber sie ist gebildet, sie stellt Ansprüche, als Aschenputtel kann ich mir sie kaum vorstellen. Übrigens versieht sie auch den Haushalt Doktor Marahns in diesem Sinne nicht, sie steht ihm vor, wenn man es so ausdrücken will.“ Griessbühl schwieg. Er hielt es für untunlich, dem Bifferli erklären zu wollen, daß es mancher Frau wahrscheinlich ein besonderes Vergnügen machte, den Geliebten mit Leckerbissen zu versorgen, ja aufzuräumen, den Tisch nett zu decken und dergleichen mehr, ihm also eine Art Heim und Heimlichkeit zu schaffen. Jedenfalls war in diesen Räumen alles darauf abgestimmt. Griessbühl schlenderte hindurch, von Bifferli wie von einem aufmerksamen und bissigen kleinen Hund 42
gefolgt. Geschmackvoll, modern, das gestand sich Griessbühl. Brumerus mußte einen guten Innenarchitekten gehabt haben, manche Farbzusammenstellung war überraschend. Die Bar war gut bestückt, die Schallplattensammlung enthielt von Beethoven bis zum Jazz alles, was der Stimmung der Stunde entsprechen konnte, das Bad verlockte, in dieser Umgebung mußte man sich wohl fühlen. Trotzdem mußte der Bungalow Brumerus nicht nur als Liebesnest gedient haben. Jedenfalls deutete der zu wuchtige Schreibtisch auf ernsthafte Geschäftsbesprechungen hin, das andere waren wohl mehr angenehme Begleiterscheinungen gewesen. Griessbühl öffnete die Schreibtischtüren, zog die Schubfächer heraus, fingerte in Papieren. Auf der Schreibtischplatte stand ein Umlegekalender. Griessbühl ergriff ihn und blätterte flüchtig die Monate durch. Neben Kritzeleien, die er für unwichtig hielt, fand sich dann und wann, in längeren Zeitabständen, eine Eintragung MM; aber am Tage des Mordes war nichts vermerkt. Der Assistent stellte den Kalender nachdenklich zurück. „Nichts von Belang“, sagte Bifferli beleidigt, und nach wenigen Minuten bestätigte ihm Griessbühl: „Tatsächlich nichts von Belang!“ und ärgerte sich, auch so nichts Wesentliches über den Ermordeten erfahren zu können, der nach wie vor stumm auf der rechten Seite neben dem Schreibtisch lag. Über das Gesicht war jetzt ein Tuch gebreitet. Die Beamten standen nun dienstfertig und gelangweilt herum; sie warteten auf Anweisungen, aber welche waren da noch zu geben? Griessbühl überlegte. Er sagte zu Bifferli: „Morgen muß man sich das genauer anschaun. Aber ums Haus möchte ich doch noch gehen.“ 43
Bifferli entgegnete: „Wie Sie wünschen!“ und hatte offensichtlich keine Lust, sich dem Regen auszusetzen. So ging Griessbühl allein vor die Tür. Er ließ die Taschenlampe aufblitzen. Er leuchtete den Rasen an, den Kiesweg. Der Regen hatte große flache Pfützen geschaffen, in die er unaufhörlich hineinprickelte. Was an Spuren hätte vorhanden sein können, war ertrunken. Griessbühl betrat den Rasen, der unter den Füßen weich wie ein nasser Schwamm war und platschende Laute von sich gab, als hüpften Frösche in einen See. Seitlich des Bungalows stieß er auf eine Garage. Die Wagenspuren waren vom Regen verwaschen. Griessbühl rüttelte am Garagentor; es war verschlossen. Er hatte es nicht anders erwartet und stieg mit spitzen Schritten – hier senkte sich der Boden etwas und war noch nasser als anderswo – um die Garage herum, leuchtete mit der Lampe die Hinterfront des Hauses ab, gähnte unverhohlen und ging wieder zurück. „Das wär’s“, sagte er zu Bifferli, der ihn ernst und rundäugig erwartete. „Lassen wir einen Beamten zurück und machen wir Schluß für heute. Wir sind wohl alle müde. Ich werde den Kommissar holen. Ich nehme an, daß auch er sein Teil erledigt hat. Wo können wir übernachten?“ „Der ‚Schwarze Adler‘ ist zu empfehlen, ein altrenommiertes Haus am Markt“, sagte Bifferli, „jetzt in der Nachsaison kommen Sie bestimmt unter.“ „Verschwinden wir also!“ meinte Griessbühl und ging, nachdem der Inspektor seine Anordnungen getroffen hatte, neben ihm über den knirschenden Kies. „Darf ich Sie mitnehmen?“ fragte er höflich, als er den Schlag öffnete. Bifferli war dankbar. 44
Griessbühl fuhr langsam dem Ort zu. „Es ist kein Umweg für Sie“, sagte Bifferli, „ich wohne in der Hauptstraße, dort müssen Sie durch.“ Und setzte in gekränktem Tone hinzu: „Sollte ich nicht doch zu Doktor Marahn mitkommen? Zu mir dürfte er Vertrauen haben, ich bin sein Patient, er hat mich an der Milz behandelt, ein guter, ein sehr guter Arzt, das muß man ihm lassen.“ „Und ein guter Schütze“, konnte sich Griessbühl zu sagen nicht verkneifen und wehrte den andern schnell ab: „Morgen ist auch noch ein Tag! Ich schätze, der Kommissar wird Sie dann zuziehen.“ „Wie Sie meinen!“ begnügte sich Bifferli zu antworten, aber es klang, als hätte er gesagt: Ich wasche meine Hände in Unschuld – oder: Nach mir die Sintflut! Um ihn zu versöhnen, sagte Griessbühl: „Aber daß sich Doktor Marahn nicht nur an uns, sondern auch an Sie gewandt hat und noch dazu vermutlich zuerst, beweist doch schon, welches Vertrauen Sie bei ihm genießen!“ „Doktor Marahn?“ fragte Bifferli gedehnt zurück. „An mich?“ „Freilich“, versetzte Griessbühl, „als ich mit Ihnen telefonierte, hatte er doch schon bei Ihnen angerufen!“ „Angerufen?“ sagte Bifferli beinahe empört. „Wer behauptet denn so etwas? Nein, Marahn hat bei uns nicht angerufen!“ Nun allerdings war das Staunen an Griessbühl. „Lieber Himmel, wer war es denn sonst?“ fragte er. Bifferli erwiderte: „Irgendwer! Ein Mann! Muß das beobachtet haben. Hat vielleicht den Schuß gehört. Was weiß ich! Ging zur Telefonzelle und verständigte uns.“ „Und Sie haben ihn nicht zugezogen? Haben ihn nicht gehört?“ fragte Griessbühl. 45
„Wie konnte ich denn“, antwortete Bifferli und war nun vollends gekränkt, „wir kennen ihn doch nicht. Er hat seinen Namen nicht genannt.“ Und nach kurzer Pause setzte er hinzu: „Natürlich nicht! Hätten Sie vermutlich ebenfalls nicht gemacht! Wer will schon gern in solche unangenehmen Geschichten gezogen werden, und sei es auch nur als Zeuge!“
5. Um diese Zeit fühlte sich Groll völlig erschöpft. Er sah in das graue Gesicht Marahns, das unter dem verwühlten dünnen Haar zerfallen schien. Der Kommissar hatte gebeten, das Fenster öffnen zu dürfen, der Rauch war hinausgezogen, die Luft frisch und feucht, und der ganze Raum war von dem gleichmäßigen Regengeräusch gefüllt. Groll versuchte nachzudenken; aber sein Kopf war wie betäubt; es fiel ihm keine vernünftige Frage mehr ein. Der Satz des Rothaarigen „In diesem Hause gibt es keinen Mörder“ ging in ihm um, obwohl er dafür keinen vernünftigen Grund hätte angeben können; denn zweifelsohne war dieser Doktor Marahn ein Mörder, nach seinem Willen, nach dem Gesetz, nach allen Gesichtspunkten, die in Frage kamen. Und erschwerend kam hinzu: Marahn war Arzt, er kannte den Wert des menschlichen Lebens, er mußte wissen, daß auch der kleinste Funke erhalten werden mußte, selbst unter Schmerz und Qualen. Genau das war es übrigens, was der Rothaarige mit seinem verwirrenden Temperament gemeint hatte, als er sagte: „In diesem Hause gibt es keinen Mörder.“ Der Rechtsanwalt Sepp Metzendorfer – ein Jugendfreund Marahns oder ein Schulkamerad, das wurde Groll 46
nicht ganz klar – war aus Bayreuth von Marahns Gattin herbeigerufen worden, und zwar gegen Marahns Willen. Er war nur wenige Minuten vor Groll in der Villa aufgetaucht; aber Margit Marahn hatte ihn bereits am Telefon von dem Vorfall unterrichtet, und er hatte auf der Fahrt nach Berneck darüber nachgedacht, wobei es ihm natürlich darauf ankam, zunächst einmal alle juristischen Argumente zu sammeln, die Marahn entlasten könnten. Erst hatte Groll geglaubt, die Zerstreutheit Metzendorfers hätte in der Hast seiner Fahrt ihre Ursache gehabt. Er erkannte jedoch, daß sie seine Eigenschaft war. Metzendorfer lebte nur seiner Juristerei, alles andere war ihm nebensächlich. Groll hatte an diesem Abend gesehen, wie Metzendorf er eine Zigarette am Mundstück anzündete, wie er den Filter rauchte, bis er in einen Hustenkrampf ausbrach, wie er – als der Kommissar ihn aufmerksam machte – das Stäbchen verwundert betrachtete, es dann umdrehte und mit dem noch glimmenden Ende zwischen die Lippen stecken wollte, woran er nur durch ein rasches Dazwischengreifen gehindert werden konnte, worauf er die Zigarette statt im Aschenbecher im Blumenschälchen zerquetschte. Das alles tat er mit langen nervösen Fingern, die breite Nikotinflecken aufwiesen. Das Erstaunliche jedoch war, daß seine Fehlleistungen ihn nicht irritierten; er schien sie überhaupt nicht zu bemerken. Er war von seinen juristischen Gedankengängen nicht abzulenken. Alles, worauf es ihm bei dem Gespräch mit Groll ankam – denn er wußte anfangs das Gespräch an sich zu reißen und seinen Freund Marahn der Antworten zu entheben –, war, daß kein Mord geschehen wäre. Ein Mensch wie Marahn, Arzt, welterfahren, erfolgreich, ein Mensch mit Kultur, wäre völlig unfähig, einen anderen 47
Menschen mit Vorsatz zu töten. Das könne nur in einem Zustand geistiger Verwirrung, höchster Erregung erfolgt sein, und wenn es so scheine, als sei diese Tötung vorbereitet, planmäßig möglicherweise sogar durchgeführt, so scheine es eben nur so. Auch ein Irrer handle unter Umständen in gewissen Phasen planvoll, ebenso wie ein Tier. Es sei nicht seine Sache, die ärztliche Diagnose eines solchen Zustandes zu geben, das werde man nachholen. Groll ließ ihn reden. Die dünnen roten Haare hingen Metzendorfer feucht in die Stirn, gelegentlich strich er sie selbstvergessen zurück. Er sagte: „Ich will nicht voreilig sein, ich vermag mir naturgemäß nur ein vorläufiges Bild zu machen. Ich kenne Herrn Doktor Marahn seit Jahrzehnten, ich weiß, was er denkt, ich glaube zu wissen, wie er fühlt. Das einzige, was ich jetzt wünschte, Herr Kommissar, ist, Sie zu bitten, die Untersuchung zumindest auch unter dem Gesichtspunkt des Totschlags zu führen, nicht nur des Mordes, und alle Indizien zu sammeln, die eben auch auf Totschlag hindeuten könnten.“ Seine kleinen Augen waren unablässig auf Groll gerichtet, er vermied sorgsam jeden Anschein, insgeheim mit Marahn zu korrespondieren. „Vermutlich“, sagte er, „sieht Doktor Marahn seine Handlung selbst unter einem falschen Aspekt. Er ist nicht Jurist. Er könnte irreführende Hinweise geben.“ Groll rieb mit der Hand den nackten Schädel; er begann das Zimmer zu mustern; in Wirklichkeit wollte er den Ausdruck in den Gesichtern der beiden Marahns erkennen. Margit Marahn saß seitab am Kamin in einem schmalen Sessel. Der Trichterschein der Lampe erreichte sie 48
nicht, über ihr blasses Gesicht war ein dünnes, diffuses Licht gestreut, das die Haut weiß schimmern ließ; aber die Einzelheiten der Züge verschwammen, als wäre ein noch feuchtes Aquarell mit dem Daumenballen verwischt worden. Immerhin sah der Kommissar, daß sie mit äußerster Spannung den Worten Metzendorfers lauschte und dann und wann kaum merklich dazu nickte, als wollte sie diese Bemerkungen besonders unterstreichen. Groll dachte, daß in Wirklichkeit sie die Verteidigerin wäre. Diese Frau würde möglicherweise kämpfen. Der Mann – nicht. Denn Doktor Marahn saß in seinem Sessel nahe der Lampe, hatte die Ellenbogen auf die Knie gestützt und den Kopf in die Hände, und er schien nicht zu hören, was Metzendorfer sagte, oder er schien es nicht hören zu wollen, oder er war zu sehr mit seinen eigenen Auseinandersetzungen beschäftigt; möglicherweise dachte er auch den Irrwegen nach, die die Gedanken und Gefühle seiner Frau gegangen waren, bis sie überraschend auf jenem Punkt angelangt waren, an dem er sie vor Jahren bereits glaubte, aber damals irrte er sich. Metzendorfer beugte sich vor, taktierte eindringlich mit der schmalen Hand; seine Stirn geriet in den grellen Lichtkegel, es war, als spräche darunter das Nichts oder das Dunkel. Groll sah ihn an. Es irritierte ihn, daß die blasse Haut der Stirn von Sommersprossen übersät war. Mitten in einen der betonten Sätze Metzendorfers hinein sagte er: „Es wäre mir sehr lieb, wenn ich jetzt unter vier Augen mit Herrn Doktor Marahn reden könnte.“ Er hob abwehrend die Hand, weil er den Einspruch des Anwalts erwartete, er lächelte sogar ein wenig: „Nein, nein, Herr Doktor Marahn wird nicht in seinen Rechten beschränkt, glauben Sie mir! Ich werde ihm, wie es vorgeschrieben ist, erklären, daß er keinerlei Aussagen zu machen braucht. 49
Außerdem seien Sie versichert“, er wandte den Kopf nach dem blassen Gesichtsschatten der Frau, „daß mir nichts ferner liegt, als einem Menschen eine Falle zu stellen. Ich sehe schon Tiere nicht gern in Fallen, geschweige denn Menschen! Ich werde alles, was der Entlastung dienen könnte, sorgsam ans Licht ziehen.“ Der Ausdruck gefiel ihm nicht; er fand keinen besseren. Metzendorf er überlegte, zögerte, schien dann aber zu meinen, es wäre besser, den Kommissar nicht zu vergrämen. Jedenfalls stand er auf. Die lange dürre Gestalt wandte sich zu Margit Marahn, Groll hörte: „Auch ich halte den Vorschlag Herrn Grolls für richtig, gnädige Frau!“, und die beiden verließen den Raum. Marahn rührte sich nicht. Groll betrachtete ihn lange. Er gestand sich, daß dieser Mann ihm sympathisch war, und er spürte gleichzeitig Ärger über diese Gefühlsregung, denn schließlich war Marahn ein Mörder, und er, der Kommissar, hatte ihn zu vernehmen, und zwar ohne Mitgefühl. Er brach das Schweigen, er sagte mit härterer Stimme, als er ursprünglich gewollt hatte: „Ja, das Tier in der Falle! Und nicht nur das! Dann noch darauf schießen, eine lebendige Zielscheibe! Ein Arzt! Wen kann es wundern, wenn es eine Zeit in Deutschland gab, wo Ärzte im Auftrage mordeten.“ Marahn richtete sich auf; er sah Groll an; er dachte nach; er sagte: „Sie haben recht. Ich muß verrückt gewesen sein!“ „Ach!“ erwiderte der Kommissar. „Nehmen Sie dieses Argument des Herrn Anwalts an? Ist das die Verteidigung, die Sie planen?“ 50
Marahn stöhnte. Das war alles. „Nun gut“, sagte Groll, und seine Stimme war wieder gelassen, „beginnen wir! Und pflichtgemäß mache ich Sie darauf aufmerksam, daß Sie die Aussage verweigern können. Sie haben in Ihrem Anruf erklärt, Sie hätten einen Mann namens Brumerus in seinem Bungalow erschossen. Stimmt das?“ So begann das Verhör, und es dauerte lang. In dieser Zeit wurden Groll die Beweggründe dieses Mannes deutlich, und sosehr er sich innerlich auch dagegen wehrte, es gelang ihm nicht, das Gefühl loszuwerden, dieser Mann hätte selber in einer Falle gesteckt und nicht der andere, dieser Brumerus, und der Schuß wäre der verzweifelte Versuch gewesen, sich daraus zu befreien. Schließlich brauchte er überhaupt nicht mehr zu fragen: Marahn schien erleichtert zu sein, über seine Gefühle, seine Gedanken, ja auch über seine Tat reden zu können, einen Menschen zu haben, der ihm zuhörte, aus welchem Grunde auch immer. Dann war er am Ende und schwieg. Groll wollte – auch vor sich selbst – den Eindruck verwischen, als hätte er eine beklemmende Beichte gehört. So fragte er kühler, als er gewollt hatte: „Und die Pistole? Wo haben Sie die?“ Und als Marahn ihn verständnislos anstarrte, fügte er erklärend hinzu: „Ich brauche sie. Sie ist ein Beweisstück. Ich muß sie beschlagnahmen!“ Und dachte: Zu leichte Lösung, sich selbst eine Kugel in den Schädel zu jagen! Marahn schien zu erwachen. „Ja“, sagte er, „aber ja!“ Er griff in die Jackentasche. Groll bemerkte erst jetzt, daß diese Jacke noch Spuren von Feuchtigkeit aufwies. Es mußte die gleiche Jacke sein, die Marahn zum Zeitpunkt der Tat getragen hatte. 51
Marahn schien erstaunt. Er griff in die andere Tasche, stand auf, suchte, tastete, sah wieder Groll an und sagte nervös: „Ich habe sie nicht mehr! Ich weiß wirklich nicht …“ Er beendete den Satz nicht. Die Ratlosigkeit des Mannes war echt. Das erkannte der Kommissar. Beiläufig fragte er dann: „Was war es für eine Pistole?“ „Eine Walther sechs Komma fünfunddreißig“, kam es sofort zurück. „Ich hab’ sie schon lange. Dieses Haus liegt so einsam!“ „Nun gut“, sagte Groll, „und in Ihrem Wagen?“ „Ich weiß es nicht“, antwortete der Arzt. Sie gingen zu dem fröstelnden Opel hinaus: Die Waffe fand sich nicht. „Ich muß sie verloren haben oder habe sie weggeworfen, ich war in Panik“, sagte Marahn, als sie in das Zimmer zurückgekehrt waren. Groll sagte: „Wir werden dies alles schriftlich festhalten müssen. Das tun wir morgen, Herr Doktor Marahn. Vielleicht haben Sie in Ihrem Geständnis das eine oder andere zu korrigieren.“ Marahn schüttelte in verzweifelter Abwehr den Kopf. „Schön“, fuhr Groll fort, „wie dem auch sei. Das soll mein Assistent Griessbühl machen, Sie können zu ihm Vertrauen haben. Er hat übrigens im Bungalow drüben die Ermittlungen geführt. Tja“, sagte er und spürte seine lähmende Müdigkeit, „das wär’s!“ Dies war der Zeitpunkt, als er das Fenster geöffnet hatte. Die frische Luft atmete er unwillkürlich tief ein. Es roch nach feuchter Erde und faulem Laub. Vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Er rieb die inneren Augenwinkel. Er sagte nebenhin: „Warum haben Sie übrigens bei uns angerufen?“ 52
Marahn sah verständnislos auf. „Na ja“, setzte der Kommissar hinzu, „hatten Sie zur hiesigen Polizeistelle kein Vertrauen? Sie haben sie doch wenig später ebenfalls informiert?“ Er sagte noch: „Das war übrigens gut, Griessbühl wird es mit seinen Ermittlungen leichter gehabt haben, weil die hiesige Mordkommission vorgearbeitet hat.“ Marahn starrte ihn an. Er sagte: „Mein Gott, aber ich habe nur Sie angerufen!“ Groll schüttelte den Kopf. „Na ja“, sagte er, „dann war es Ihre Gattin. Es kommt auf dasselbe hinaus.“ Marahn war plötzlich aufgeregt. „Nein, wirklich nicht, von hier aus ist niemand verständigt worden außer Ihnen und meinem Freund! Großer Gott“, sagte er, „dann bekommt möglicherweise dieser Bifferli die Sache in die Hände?“ Groll sah ihn erstaunt an. „Bifferli?“ fragte er. „Der Inspektor der hiesigen Polizeistelle“, erklärte Marahn, „ein unangenehmer Mensch, ein Patient von mir, hat so große blaue Augen, gräßlich, gräßlich.“ Er wiederholte: „Ein ganz gräßlicher Mensch, der allen Klatsch im Orte herumträgt, und wenn er nun erfährt …“ Groll unterbrach ihn kühl. „Damit“, sagte er, „werden Sie sich abfinden müssen, Doktor Marahn! Ob das nun dieser Bifferli ist, den Sie möglicherweise ganz falsch einschätzen, oder jemand anderes: Die Bild-Zeitung erfährt es auf jeden Fall, und alle Ihre Intimitäten werden breitgetreten werden. Geben Sie sich keinen Illusionen hin!“ Daran schien Marahn bis jetzt nicht gedacht zu haben. Er sah entsetzt aus. Aber Groll bedauerte nicht, ihm dies deutlich gemacht zu haben: Wozu sollte er Realitäten verschweigen! Marahn würde sich damit abfinden müssen. 53
In diesem Augenblick schrie draußen in der Nacht jammervoll ein Elefantenjunges. Marahn zuckte zusammen. „Mein Assistent“, sagte Groll ärgerlich. „Er hat immer noch diese verdammte Hupe!“ Er trat ans offene Fenster und sagte ins Leere hinaus: „Würden Sie wohl Herrn Metzendorfer hereinbitten.“ Als er sich umdrehte, stand der hagere Rothaarige schon mitten im Raum. Die Frau lehnte am Rahmen der Tür zum Nebenzimmer, das hell erleuchtet war; ihr Gesicht war wieder im Schatten. Ohne auf sie oder ihren Mann zu achten, trat Groll nahe an den Anwalt heran, schwieg einen Augenblick und sagte dann leise: „Herr Metzendorf er, ich müßte Doktor Marahn jetzt verhaften, das wissen Sie!“ Der Rothaarige sah Groll verbissen an. „Das wissen Sie“, betonte Groll, „Mord oder Totschlag, was immer es gewesen sein mag! Aber wenn ich den Fall prüfe“, er sah auf seine Schuhspitzen, „könnte ich zu dem Schluß kommen, daß weder Fluchtverdacht noch Verdunklungsgefahr gegeben sei, wenigstens im Augenblick nicht, sofern Sie, Herr Metzendorfer, dafür garantieren, daß Doktor Marahn uns morgen früh zur Verfügung steht.“ Er schwieg. Metzendorfer antwortete sofort: „Dafür kann ich garantieren!“ „Schön“, sagte Groll, „Sie übernehmen also die Verantwortung!“, und dachte bei sich, dies wäre doch ein Wagnis und auch das, was er selber entscheide. Er wandte sich knapp um, und als er zur Ausgangstür ging, sagte er unvermittelt: „Guten Abend!“ 54
Während er im Vorraum seinen alten Lodenmantel umhängte und bemüht an dem Sombrero rückte, brüllte wieder das verwundete Elefantenjunge, und Groll ging erbost und eilig hinaus. Die Nacht machte seine Augen blind. Er tappte voran und spürte, daß er alt wurde. Unter seinen Füßen schmatzte der Rasen laut, er ging quer darüber hinweg. Groll war froh, als er den Schlag des bunten Autos zuziehen konnte. Er sagte mühsam: „Mein Gott, Griessbühl, was wir in unserem Berufe erleben müssen …“ Der Assistent schien ungerührt; er jagte den Wagen stadteinwärts über ein Stück Kopfsteinpflaster, daß es krachte. Er sagte: „So schlimm sah die Leiche eigentlich nicht aus. Arzt möchte ich auch wieder nicht sein. Der muß sezieren!“ Er stieg vor dem Hotel geradezu auf die Bremse, der Wagen bockte hoch und stand. Der Kommissar machte eine tiefe Verbeugung vor dem Nichts.
6. Der Nachtportier empfing die beiden Männer mit lautloser Achtung. Er nahm ihre Bestellung auf zwei Einzelzimmer mit jener ergebenen Gelassenheit entgegen, die jeden Gedanken an Trinkgelder weit von sich zu weisen scheint. Während Groll noch an seiner Anmeldung herumkritzelte, ging Griessbühl, den feuchten Wildledermantel überm Arm, gelangweilt umher und sah sich um. Er empfand Bewunderung für dieses Hotel in dem kleinen Berneck, das sicher mit erheblichen Kosten errichtet worden war und auf den ersten Blick jeden Komfort versprach. 55
Dann sah er Groll zu, der tief über seinen Zettel gebeugt stand; von der Krempe des Huts tropfte das Wasser. Der Nachtportier selbst begleitete sie in den ersten Stock, wies sie in ihre Zimmer und bemerkte das Markstück in seiner Hand nicht. Groll entledigte sich seines Mantels, er hängte den Hut an den Haken, blieb in der Mitte des Zimmers stehen und schloß die Augen. Plötzlich war hinter ihm ein Geräusch. Er fuhr herum. Da stand fröhlich Griessbühl, deutete auf eine Verbindungstür zwischen den Einzelzimmern und sagte lachend: „Dienst am Liebeskunden, Kommissar! Da kann auch die Sitte nichts machen!“ Groll schüttelte böse den Schädel. „Lassen Sie mich zufrieden, Griessbühl. Ich muß jetzt meine Ruhe haben!“ „Ja“, sagte Griessbühl, „und eigentlich wollte ich Sie nur fragen, ob Ihnen Marahn gesagt hat, er habe bei Bifferli nicht angerufen.“ Groll rieb den nackten Schädel mit der Rechten. „Ja“, sagte er erstaunt. „Ja – na, und? Das hat jemand gesehen oder gehört, oder was weiß ich, und hat die Polizei informiert, will aber nicht als Zeuge auftreten. Vielen Leuten ist das unangenehm!“ „Richtig!“ sagte Griessbühl. „Daß ich darauf nicht gekommen bin. Übrigens meinte das Bifferli auch.“ „Was soll denn das“, fragte der Kommissar. „Wollen Sie mich mit diesem Bifferli vergleichen?“ „Sie kennen ihn doch gar nicht!“ sagte Griessbühl, und während er in sein Zimmer hinüberging und die Tür leise zuzog, setzte er hinzu: „Denken Sie doch noch mal 56
darüber nach, Kommissar. Vielleicht fällt Ihnen was anderes ein? Mir nicht! Nur fürchte ich, wir werden morgen einige Überraschungen erleben! Gute Nacht!“
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DRITTES KAPITEL
1. Griessbühl erwachte zeitig. Er hob den Kopf und schaute zum Fenster hinüber. Die Scheiben sahen aus wie tote Pferdeaugen – in der Luft schwankten Nebelschwaden. Griessbühl horchte zum andern Zimmer hinüber; er glaubte die regelmäßigen Atemzüge Grolls noch zu hören und dachte: Laß den Alten schlafen, er hat’s verdient. Er stand auf und schlug sich kaltes Wasser ins Gesicht, das machte ihn frisch. Die weichen Teppiche unter den Fußsohlen bereiteten ihm Wohlbehagen; er fühlte sich munter, kleidete sich rasch an und ging in den Frühstücksraum. Dabei ließ er sich, die Hand am Geländer gleitend, genußvoll Stufe um Stufe hinunterfallen. Er spürte Appetit, als er durch die große Glastür die vorbereiteten Tischchen sah, an denen schon vereinzelte Gäste saßen, er glaubte den Duft knuspriger Brötchen zu riechen, und er sah sich bereits Honig auf die weiße Butter träufeln: Griessbühl aß gern und mit Genuß. Er ging durch die Tür, blieb stehen und sah sich um, weil er einen ungestörten Platz finden wollte. 58
Links, nahe einem Fenster, saß der Kommissar und hob grüßend die Hand. Dann sah er Griessbühl zu, wie der aß und trank; er selbst hatte sein Frühstück beendet und rauchte eine Zigarette. Griessbühl störte es nicht, daß der Alte ihm zusah, im Gegenteil empfand er Hochachtung vor ihm und war erfüllt von einem Gemisch von Stolz und Freude, mit ihm zusammenarbeiten zu dürfen. „Scheußliches Wetter“, sagte Groll unzufrieden, „das wird unsern Mörder vollends deprimieren.“ Er seufzte. „Heute müssen wir ihn mitschleppen. Glauben Sie, Griessbühl, daß wir bis zum Abend hier alles hinter uns gebracht haben? Ich möchte heim!“ Der Assistent sah erstaunt auf. Von dem angebissenen Brötchen, das er schon halb erhoben hatte, tropfte schwerflüssig der Honig. „Nanu?“ fragte er. „Wieso denn nicht? Routinesache, denke ich.“ „Gestern abend“, erinnerte ihn Groll, „waren Sie anderer Meinung.“ Der Kommissar sah an Griessbühl vorbei. „Oder irre ich mich?“ „Gestern abend?“ fragte der Assistent, biß wieder ins Brötchen, kaute zufrieden und trank einen Schluck Mokka nach. „Heute morgen, wenn ich erinnern darf!“ Er lächelte schräg zu Groll hinüber. „Das ist lange her, mehr als drei Stunden, vielleicht sogar vier. Ich bin wieder Optimist.“ Ein neues Brötchen krachte unter seinen Zähnen. „Wenn man Sie essen sieht“, sagte der Kommissar langsam, „könnte man denken, die Welt wäre in Ordnung.“ Er blies die Backen rund auf, entließ die Luft und fragte: „Und wer hat Bifferli angerufen?“ „Niemand“, antwortete Griessbühl vergnügt, „denn 59
der war gar nicht am Apparat. Irgendeine Sekretärin war’s. Vielleicht auch ein diensttuender Beamter.“ „Jedenfalls sollten Sie sich das etwas genauer ansehn“, sagte Groll. „So!“ sagte Griessbühl und legte die Serviette weg. „Ihr Wunsch ist mir Befehl.“ Aber er hatte ein merkwürdiges Gefühl, und es ging in ihm um, was der Alte nun wieder habe, in einem Fall, den er selbst für eigentlich völlig geklärt gehalten hatte. Der bunte Wagen draußen machte im Nebel einen betrübten Eindruck. Die Scheiben waren von Feuchtigkeit beschlagen, Griessbühl mußte die Wischer anstellen. Mit der Nebellampe tastete er sich mühsam voran zur Villa der Marahns. Das Tor zum Garten war verschlossen; als Griessbühl läutete, öffnete sich die Eingangstür des Hauses; er sah zum ersten Male den Täter, begleitet von dem rothaarigen Anwalt. Die Frau ließ sich nicht blicken. Der Kommissar schob sich schwerfällig von seinem Sitz und vermittelte die Bekanntschaft. Metzendorfer erklärte, sein Wagen wäre nicht angesprungen, er sei also auf die Freundlichkeit der beiden Beamten angewiesen. Die Nebelschwaden waren noch dichter geworden. Sie hingen sich in die Kleidung, an das Fahrzeug. Die Bäume am Wegrand waren nur noch trostlose Strünke. Jedes Wort wurde erstickt, bevor es ausgesprochen wurde; es war eine schweigsame Fahrt. Doktor Marahn sah aus wie einer, der soeben sein Todesurteil empfangen hat. Groll betrachtete ihn von der Seite, und es war ihm klar, daß in dieser Nacht Marahn endlich nicht nur begriffen hatte, wie wahnwitzig seine Tat gewesen war, sondern auch auf welch irrigen Annahmen er die letzten Jahre seines Lebens aufgebaut hatte: Sie mußten zusammenstürzen, es 60
war unausweichlich gewesen, und eine Katastrophe wäre eingetreten, so oder so. Bifferli erwartete sie bereits; er blähte sich und platzte fast vor Bedeutung. Dem Arzt begegnete er mit ausgesuchter, fast unterwürfiger Höflichkeit, und Griessbühl dachte: Er erinnert sich seiner Leber oder Milz oder seines sauren Magens – oder was es auch war … Das Dienstzimmer Bifferlis sah staubig aus, obwohl es gewiß sorglich aufgeräumt war, wie solche Diensträume aus unerfindlichen Gründen eben stets staubig auszusehen pflegen, vielleicht, um dem Delinquenten von vornherein klarzumachen, daß es kein Spaß sei, hier zu sitzen. Von nebenan war das verlegene Klappern einer Schreibmaschine zu hören, die zweifellos mit zwei ungeschickten Fingern von einem Beamten geschrieben wurde. Groll bestimmte das Programm. Er sagte: „Ich werde den Tatort besichtigen.“ Er wandte sich an Metzendorfer: „Es ist vielleicht für Sie instruktiv?“ Metzendorfer nickte zerstreut. „Aber der Wagen …“, warf Griessbühl ein. „Ich gehe zu Fuß“, sagte Groll und bestimmte so auch, daß Metzendorfer ihn begleiten werde, „das wird mir ganz gut tun, ein wenig Bewegung. Und Sie, Herr Griessbühl, fertigen das Protokoll der Vernehmung.“ Er rieb den kahlen Schädel. „Möglichst genau, wenn ich bitten darf.“ Er fragte Bifferli: „Können Sie eine Schreibkraft zur Verfügung stellen, Herr Kollege?“ Unnötige Frage! Bifferli riß die Tür zum Nebenraum auf und befahl dem jungen Beamten, der dort die Maschine mißhandelte: „Sie schreiben das Protokoll, Mahlmann!“, worauf der das Schriftstück herauszog, die Ma61
schine herübertrug und sich artig mit ihr an einen kleinen, abseits stehenden Tisch setzte. Groll überblickte das Zimmer. Er rückte an seinem Sombrero, ging zur Tür und sagte zu Metzendorfer: „Bitte, Herr Anwalt.“ An der Tür drehte sich Groll noch einmal zu Griessbühl um und fragte, ohne eine Antwort abzuwarten: „Wo bleiben Ihre Überraschungen, Griessbühl?“
2. Griessbühl war verlegen. Da saß nun dieser junge Beamte, wartete und starrte ihn an. Und nebeneinander standen Bifferli und Doktor Marahn und warteten ebenfalls. Er war sich unklar, ob er Bifferli hinausschicken könnte oder nicht. Lästig würde der auf jeden Fall werden. Er seufzte und entschied sich dafür, ihn dazulassen, um nicht auf seine Gegnerschaft zu stoßen. Weiß der Teufel, wozu man ihn in dieser Angelegenheit noch benötigen würde! „Tja, meine Herren“, sagte er, „nehmen wir Platz.“ Um wenigstens die Sitzordnung zu bestimmen, setzte er sich wie selbstverständlich auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch und wies Marahn mit einer Handbewegung auf den, der davorstand. So war Bifferli gezwungen, sich an einem größeren Tisch in der Nähe des jungen Beamten niederzulassen, und damit hatte ihn der Assistent aus dem Blickfeld Marahns manövriert. Er betrachtete seine sorgsam gepflegten Fingernägel. Dann sah er auf und fixierte Doktor Marahn. „Sie haben gestern abend oder auch gestern nacht nicht bei dieser Dienststelle angerufen?“ 62
„Aber nein“, erwiderte Marahn nervös, „das habe ich schon dem Kommissar erklärt.“ „Es wäre doch denkbar“, sagte Griessbühl, „daß Sie es sozusagen gedankenabwesend taten, vielleicht ungewollt, möglicherweise infolge Ihrer ärztlichen Bekanntschaft mit Herrn Bifferli? Versuchen Sie sich doch zu erinnern. In der Aufregung vergißt man solche unwichtigen Dinge ja leicht.“ „Ich vergesse nichts“, erwiderte Marahn trübe, „das ist wie ein Film in mir.“ Bifferli wetzte auf seinem Stuhl. „Außerdem“, warf er dazwischen, „wäre das ja keineswegs so nebensächlich gewesen!“ „Herr Inspektor“, sagte Griessbühl deutlich, ohne Bifferli dabei anzusehen, „die Vernehmung führe ich. Das ist nun mal so, wenn ich bitten darf. Und wenn ich Fragen an Sie habe, werde ich sie stellen.“ Bifferli schwieg zu diesem Verweis; aber seine blauen runden Augen blickten wütend, und sein Mund maulte stumm. Griessbühl sah wieder Marahn an. „Und Ihre Gattin?“ fragte er geduldig. „War sie es möglicherweise?“ „Nein“, antwortete Marahn, „sie hat nur Metzendorfer informiert, und das gegen meinen Willen.“ „Sie hätten es auf jeden Fall gehört, wenn sie mit dieser Dienststelle gesprochen hätte? Oder, sagen wir, vielleicht mit irgendwelchen Bekannten, die dann ihrerseits hier angerufen hätten?“ „Ja“, sagte Marahn, „ich hätte es bestimmt gehört. Das Telefon steht in dem Zimmer, und ich bin nicht hinausgegangen, keine Sekunde, ich …“ Er zuckte die Schultern. „Mir war so merkwürdig, ich hätte aus dem Zimmer nicht gehen können, selbst wenn ich gewollt hätte.“ 63
„Außerdem war es eine Männerstimme!“ meldete sich Bifferli wieder. „Herr Inspektor!“ Griessbühls Worte klangen verwarnend. Dann schwieg er einige Sekunden. Erst danach sagte er, jetzt offen zu Bifferli gewandt: „Ich möchte den gern hören, der den Anruf entgegengenommen hat.“ „Das war ich!“ erklärte überraschend der junge Beamte. „Also, berichten Sie!“ forderte ihn Griessbühl auf. „Ich hatte Nachtdienst“, sagte der Beamte, „und es war nichts los. Es ist kaum jemals was los, wenn wir Nachtdienst haben, ein paar Betrunkene höchstens. Ich hatte das Rapportbuch vor mir Hegen, aber ich las die Zeitung. Gegen elf Uhr läutete das Telefon. Das war der Anruf. Es war ein Mann am Apparat. Er sagte: ‚Passen Sie gut auf, mein Bester! Im Bungalow, der in der Verlängerung der Trappauer Straße steht, liegt ein Toter. Er ist erschossen worden.‘ Ich fragte: ‚Woher wissen Sie das?‘ Er antwortete: ‚Das ist gleichgültig. Genügt Ihnen die Tatsache nicht? Ich würde mich an Ihrer Stelle davon überzeugen.‘“ Der junge Beamte machte eine kurze Pause, dann fuhr er fort: „Ich habe das Gespräch wörtlich im Rapportbuch festgehalten. Dann habe ich nach dem Namen des Anrufers gefragte, aber da hängte er ab.“ Griessbühl fragte: „Konnten Sie feststellen, von wo aus angerufen wurde?“ „Nein“, erhielt er zur Antwort, „das kam alles so überraschend.“ „Na schön“, begnügte sich Griessbühl und wandte sich an Marahn: „Es scheint doch, daß Sie beobachtet worden sind?“ Marahn schüttelte den Kopf. Er erwiderte: „Der Anruf kam abends um elf. Da war ich längst zu Hause. Und ich habe mich …“, er zögerte und fand die Worte 64
schwer, „… vorher und nachher, ich meine, als ich geschossen hatte, genau umgesehen, ich habe niemanden bemerkt. Und ich hätte es eigentlich bemerken müssen, wenn jemand in der Nähe gewesen wäre.“ „Wenn Sie so genau beobachtet haben“, sagte Griessbühl, „dann können Sie uns sicher auch verraten, wo die Waffe geblieben ist. Daheim hatten Sie sie nicht mehr, das sagte mir der Kommissar. Und in der Umgebung des Bungalows haben gestern nacht und heute morgen die Beamten vergeblich gesucht. Haben Sie die Pistole vielleicht später aus dem Wagen geworfen, könnte das sein?“ „Es ist möglich“, sagte Marahn, „aber ich halte das für unwahrscheinlich. Ich kann mich nicht mehr erinnern, glauben Sie mir!“ „Also lassen wir das vorerst“, sagte Griessbühl, „gehen wir gleich dazu über, wie die Tat im einzelnen vor sich ging. Ich möchte Sie bitten, Herr Doktor Marahn, das möglichst im Detail zu berichten.“ Er zögerte und fügte dann noch hinzu: „Möglicherweise ist es für Sie selbst am wichtigsten.“ Es entstand eine Pause. Der Raum war nur wenig erhellt, draußen zogen die Nebelschwaden. Es war sehr still plötzlich, und Marahn erschien dies alles unwirklich, so, als träumte er es, als wäre es unwahr, eine Lüge. Niemals hatte er daran gedacht, in einem solchen gleichsam verstaubten Raum sitzen zu müssen, neugierige Augen auf sich gerichtet, fremde Ohren, die auf ein Geständnis warteten, die erfahren wollten, warum und wie. Unter der Brille drückte er die Finger in die Augen und rieb sie, als wäre er völlig übermüdet. Griessbühl wartete geduldig. Der junge Beamte hatte sich aufrecht gesetzt, griff nach einem Bogen Papier, um es einzuspannen; aber 65
Griessbühl gab ihm ein Zeichen, das zu unterlassen. Er wußte, daß er gut daran täte, jetzt dem Doktor Marahn nicht auch noch das verlegene und hilflose Klappern der Schreibmaschine zuzumuten.
3. Doktor Walter Marahn war keiner von denen, die gern von sich sprechen; er neigte zur Verschwiegenheit, er trug das, was ihn bewegte, mit sich allein aus. Das hatte das Verhör erschwert. Griessbühl mußte immer wieder Fragen stellen; er tat es ungern, es sah aus, als stellte er Fallen. Dabei interessierte ihn die Vorgeschichte des Mordes im Augenblick wenig, wohl aber der Vorgang der Tat. Als ihm endlich der junge Beamte mit raschem Griff die Schreibmaschinenblätter herüberreichte, überflog Griessbühl den Anfang nur und las dann sehr aufmerksam: „Es war zwischen sechs und sieben Uhr. Genau kann ich mich daran nicht mehr erinnern. Ich war zu einer Visite bei dem Patienten Bauer, Talheimer Weg drei, gewesen. Dann fuhr ich mit dem Wagen zu dem Bungalow des Richard Brumerus. Ich fuhr zuerst auf der Straße davor langsam vorbei. Ich war ziemlich sicher, daß er dasein mußte. Meine Frau hatte mir das am Tage vorher angedeutet. Als ich vorbeifuhr, hatte ich auch den Eindruck; denn die Rolläden waren hochgezogen. Ich fuhr ziemlich weit die Landstraße hinaus. Ich wollte noch einmal alles durchdenken. Es begegnete mir niemand. Mein Entschluß stand fest. Ich wendete den Wagen und fuhr ebenso langsam zurück. Von dieser Seite her macht die Straße eine weite Kurve, ehe man zu dem Bungalow kommt. Vor dieser 66
Kurve hielt ich den Wagen an. Die Pistole hatte ich schon in meiner Praxis in die Jackentasche gesteckt. Hinter dem Wagen stellte ich das Warnschild auf. Es sollte so aussehen, als hätte ich eine Panne. Das konnte auch der Grund dafür sein, daß ich zu Fuß zur Stadt ging, falls mir jemand begegnete. So ging ich bis zu der Gartentür vor dem Bungalow. Ich war erstaunt, daß sie nur angelehnt war. Ich hatte erwartet, sie geschlossen zu finden, und ich wollte in diesem Falle von hinten her in das Grundstück eindringen. Ich drückte die Pforte auf. In diesem Augenblick war ich plötzlich ordentlich aufgeregt. Es ist möglich, daß es daher kam, weil der Kies so laut knirschte. Es war naß. Es regnete. Möglicherweise war ich darauf nicht gefaßt. Ich habe mich mehrere Male umgesehen, ob mich jemand beobachtet. Ich habe niemanden entdeckt. Ich bin vom Weg auf den Rasen gegangen, damit Brumerus mich nicht hören sollte. Ja, ich vermutete, daß er in dem Zimmer unten war. Genau wußte ich es nicht. Wäre es nicht der Fall gewesen, so wäre ich vielleicht in das Haus eingedrungen. Wäre es verschlossen gewesen, so hätte ich wahrscheinlich geläutet, und ich hätte auf ihn geschossen, wenn er öffnete. So genau hatte ich mir das nicht überlegt. Das Fenster nahe dem Weg war nur angelehnt. Ich ging vorsichtig hin. Es war schon sehr dunkel im Zimmer, aber ich sah Brumerus. Ich weiß nicht mehr genau, aber ich glaube mich zu erinnern, daß er am Schreibtisch saß. Es wird wohl so gewesen sein, denn ich wunderte mich noch darüber, daß er arbeitete, obwohl das Radio spielte. Es war keine Musik, sondern es wurde gesprochen, von einem Mann. Ich erinnere mich nicht, was gesprochen wurde, ich war viel zu aufgeregt, um darauf zu hören, aber ich glau67
be, es muß ein Wirtschaftsbericht oder etwas Ähnliches gewesen sein. Es kommt mir jetzt so vor. Ich wollte nicht durch die Scheiben schießen, deshalb drückte ich den Fensterflügel etwas auf. Es verursachte kein Geräusch, und Brumerus hatte mich nicht bemerkt, glaube ich. Aber er drehte sich um und stand auf. Da habe ich geschossen, dann bin ich sofort weggerannt. Ich habe mich nicht überzeugt, ob und wie er getroffen war. Ich hatte große Angst, entdeckt zu werden. Ich habe mich auch beim Zurückrennen ein paarmal umgesehen, ob mich jemand beobachtet. Mir ist nichts aufgefallen. Ich habe noch daran gedacht, daß infolge des Regengeräusches der Knall des Schusses nicht weit zu hören sein würde. Ich erinnere mich nicht mehr, was ich mit der Pistole gemacht habe. Ich habe sie wohl verloren; denn zu Hause hatte ich sie nicht mehr. Vor der Gartenpforte ist mir plötzlich eingefallen, daß ich langsam gehen müßte, damit niemand Verdacht schöpfte, wenn ich auf dem Rückweg zum Auto etwa doch gesehen würde. Trotzdem war ich noch heftig erregt und hatte Angst, auch noch, als ich im Wagen saß. Ich bin deshalb auch zuerst mit weit überhöhter Geschwindigkeit gefahren. Ich fuhr direkt nach Hause zu meiner Frau und habe ihr berichtet, was vorgefallen war.“ Während Griessbühl das las, ärgerte er sich über das steife, unbeholfene Deutsch, das kaum einen Eindruck von dem vermittelte, was wirklich geschehen war. Er fragte sich, was ein Untersuchungsrichter eigentlich mit einem solchen Bericht anfangen könnte. Er wollte weiterlesen, als die Tür aufging. Ein Beamter trat ein, bemüht um Lautlosigkeit, ging auf Bifferli zu und reichte ihm ein Blatt Papier. 68
Bifferli nahm es, unwillig über die Störung, und der Beamte verschwand wieder. Schon wollte Griessbühl sich wieder dem Protokoll zuwenden, als ihn ein Ausruf Bifferlis daran hinderte. „Verdammt!“ rief Bifferli, und noch einmal: „Verdammt!“ Dieses Wort nahm sich aus seinem Beamtenmunde geradezu ungeheuerlich aus. Es wirkte wie ein Tier, eine Ratte vielleicht, die Bifferlis Mund entschlüpfte, und die aufgerissenen blauen Augen aus Glas wirkten ebenfalls so, als sähen sie eine Abscheu erregende Ratte. „Ja, das ist doch …“, rief Bifferli noch hilfloser, wußte nicht weiter, und er starrte Griessbühl an, als könnte nur der ihm helfen. Draußen schwadete der Nebel.
4. Groll, der kurze Mensch, war mit langen stracken Schritten durch den Nebel auf sein Ziel zugegangen. Metzendorfer, der Hagere, hielt sich dicht hinter ihm. Er zweifelte daran, ob es richtig war, jetzt dem Kommissar zu folgen, statt seinem Klienten Beistand zu leisten. Andererseits war er sich darüber klar, daß er bei der Vernehmung nicht anwesend sein konnte, und zweifellos würde es eine lange und gründliche Vernehmung werden, Kriminalbeamte hatten das so an sich, wenn auch, wie er aus Erfahrung wußte, die Protokolle trotzdem oftmals Ungenauigkeiten aufwiesen, die bei den Gerichtsverhandlungen zu unliebsamen Interpretationen führen konnten. Das hätte sich vielleicht vermeiden lassen, hätte er die Vernehmung sozusagen überwachen können. 69
Indessen sagte er sich auch, daß er gut daran tue, dem Wink Grolls zu folgen; er hatte von Anbeginn an das Gefühl gehabt, daß dieser Mann für gewisse menschliche Verhältnisse unerwartetes Verständnis aufbrachte, und das wollte er sich nicht verscherzen. Eigentlich hoffte er, der Kommissar würde zu reden beginnen. Aber Groll schwieg. Der Nebel näßte die dünnen roten Haare Metzendorfers, der nie einen Hut zu tragen pflegte; er empfand es unangenehm. Schließlich wurde ihm das Schweigen unerträglich, und er fragte vorsichtig, immer noch einen halben Schritt hinter dem Kommissar: „Glauben Sie denn wirklich, Herr Groll, daß ich unbedingt dorthin mitkommen muß?“ Groll blieb unvermittelt stehen und drehte sich halb zu Metzendorfer um, zu dem er aufsehen mußte. Er sagte deutlich: „Nicht nur das, Herr Anwalt! Ich, wenn es nach mir ginge, würde jeden Verteidiger sehen lassen, was sein Klient angerichtet hat. Auf dem Papier nimmt es sich oft ganz sanftmütig aus, und über eine Leiche kann man gut reden. Aber sie sehen, und sehen, wie das ist – na, da ändern sich oft die Aspekte.“ Er setzte sich wieder in Bewegung, und Metzendorfer hörte, wie er ruhiger erklärte: „Ich selbst weiß nicht, was wir zu sehen bekommen, und ich will auch nichts behaupten, was für Doktor Marahn ungünstig sein könnte. Aber gerade, weil Sie mit ihm befreundet sind und sich so sehr für ihn einsetzen und noch einsetzen werden, war es mein Wunsch, daß Sie sich ein objektives Urteil machen. Und dazu gehört das eben auch.“ Dann war wieder Schweigen. Die beiden Männer gingen fast lautlos durch den Nebel, der sie schwimmend umwucherte wie Schlingpflanzen in einem stehenden 70
Gewässer, nachgebend, sich zerteilend, sich wieder schließend, immer schwankend. Endlich gelangten sie an ihr Ziel. Der Bungalow war von der Straße her nur in schwachen Umrissen zu erkennen, aber der Kies knirschte auch heute wieder übermäßig laut. Metzendorf er fröstelte: Hier war gestern abend sein Freund entlanggeschlichen, die Pistole in der Tasche. Der in der Nacht wachhabende Beamte war abgelöst worden; der jetzt um den Bungalow herumschlenderte, war ausgeschlafen und fröhlich. Seine Neugier war gesättigt, nun drängte es ihn danach, auf jede Frage ausführlich zu antworten. Doch Groll stellte ihm keine, sondern ordnete an, daß er vor der Tür stehenbleiben sollte. So betraten die beiden Männer allein den Raum. Während der Kommissar umherging und dies und jenes untersuchte, auch später durch die anderen Räume wanderte, blieb Metzendorfer an der Tür stehen und sah in dieses Zimmer hinein, wo vor dem Schreibtisch immer noch der Tote lag mit dem roten Fleck an der Schläfe, verkrümmt auf der Seite, überrascht von dem unerwarteten Ansprung. Er sah nicht nur den Toten. Er sah auch den Raum, dieses mit dem kühlen Geschmack der Moderne eingerichtete Zimmer, das zum Verweilen, zum Plaudern, zum Ausruhen einlud, eine Pause mitten im zermürbenden Getriebe des Alltags, und er sah darin die Frau seines Freundes, sah Margit Marahn hin- und hergehn, freundlich, gelöst, dies und jenes bereitend, sah das flackernde Feuer im Kamin, hörte die Schallplatte – und plötzlich war dies alles nichts, was seinem Freunde angetan worden war, aber das, was der Freund getan hatte, war etwas Entsetzliches, war ein Schuß mitten hier hinein, ein 71
Schuß, der auch das Herz der Frau hätte treffen können, auf jeden Fall aber die Schläfe eines Mannes getroffen hatte, dessen Geliebte sie zweifellos in vielen Nächten gewesen war, und wahrscheinlich hatte der Raum hier von ihrem Glück geatmet, mochte der Mann gewesen sein, was und wie immer er wollte. Da also lag der Grund für das Gesetz: Du sollst nicht töten, und welches immer die Motive eines Totschlägers oder Mörders sein mochten, dies Gesetz mußte gelten, mußte gelten auch für den Freund, für Marahn. „Nun“, sagte der Kommissar plötzlich hinter ihm, „nachdenklich geworden, Herr Metzendorfer?“ Er wartete nicht auf Antwort, sondern ging hinüber zu dem Toten, nahm von dem Sessel das weiße Tuch, das irgendwer von dem Erschossenen genommen hatte, und er legte es wieder darüber. Metzendorfer fröstelte: Das sah noch schrecklicher aus als zuvor, endgültig, unabänderlich. Möglicherweise, dachte er, wollte der Kommissar das damit bezwecken. Tatsächlich war es nicht so. Bei Groll war es eine beinahe automatische Handlung gewesen. Er hatte auf diese Weise häufig den Abschluß eines Lebens gesehen, und manchmal war aus gutem Grund über den ganzen Körper ein Laken gebreitet. Er setzte sich, ohne Metzendorfer zunächst zu beachten, an den Schreibtisch und nahm aus der linken oberen Schublade Papiere heraus. Er begann sie nicht nur zu durchblättern, sondern sorgsam zu lesen, und – der Nebel draußen wogte – bald war ihm, als wäre er völlig allein, als gäbe es nichts auf der Welt als ihn und diesen Toten, so daß er später – er wußte nicht, wie lange Zeit verstrichen war – durch eine Bewegung Metzendorfers mit Schrecken an ihn erinnert wurde. Er sagte: „Setzen Sie 72
sich doch dort hinüber. Es wird eine Weile dauern, und hier drinnen ist weiter nichts Beachtenswertes. Zünden Sie sich ruhig eine Zigarette an.“ Metzendorfer befolgte den Rat. Die Zigarette wurde zu Ende geraucht, Metzendorfer zündete eine neue an. Ein Buch lag aufgeschlagen auf dem Gesicht, er griff es vom Rauchtisch. Der Kommissar bemerkte es und sagte: „Ach, zeigen Sie doch mal her.“ Metzendorfer gab es hinüber, Groll blätterte darin, betrachtete lange den Umschlag, gab es zurück und sagte dann nur: „Na ja. Das ist eben der Geschmack …“ Und nach einer Pause: „Ich möchte gern wissen, ob auch die Frau Marahn das gelesen hat.“ Er versuchte nicht, diese Frage zu beantworten. Aber Metzendorfer, der nun eine Zigarette nach der anderen rauchte, während der Kommissar mit seinen Papieren raschelte, mußte darüber nachdenken, bis er sich endlich sagte, es wäre völlig gleichgültig, was die Frau seines Freundes hier gelesen hätte: Auf jeden Fall wäre sie glücklich gewesen, glücklich immerhin über eine verhältnismäßig lange Zeit, und das wäre viel, denn dem menschlichen Leben wäre nicht sehr viel Glück beschieden. Er besah seine langen, nikotingelben Finger, drehte sie vor den Augen hin und her und dachte daran, wie wenige Gespräche er in den letzten Jahren mit Marahn gehabt hatte und daß diese Gespräche eigentlich stets Lichtblicke in seinem eintönigen Leben gewesen waren. Er seufzte. Das machte Groll aufmerksam. Der war bereits bei der dritten Schublade angelangt. Jetzt sah er Metzendorfer an, lächelte, legte den Packen zurück, sagte: „Das kann ich auch später noch 73
lesen!“ Er griff den Kalender vom Schreibtisch, den am Abend zuvor schon Griessbühl in der Hand gehabt hatte. Auch er bemerkte die Notizen „MM“, zeigte sie dem Anwalt und sagte: „Das bedeutet wohl ‚Margit Marahn‘?“ Metzendorfer runzelte die rötlichen Brauen unwillig und antwortete: „Mag sein.“ Der Kommissar sagte: „Sehr häufig sind diese Notizen nicht.“ Auch er stellte fest, daß das gestrige Blatt unberührt war. Er seufzte, legte den Kalender an seine Stelle zurück und sagte: „Gehen wir ums Haus herum. Das wird uns guttun, etwas Bewegung, und vielleicht sehe ich zufällig etwas.“ Metzendorfer wunderte sich, was der Kommissar sehen wollte. Aber er erhob sich. Beide traten vor die Tür, wo, nun schon sehr gelangweilt, der Beamte stand und rauchte. Die Nebelfische schwammen wie vorher durch die Luft und schlugen langsam mit den langen Federflossen. „Durch dieses Fenster!“ sagte Groll bedeutungsvoll und blieb einen Augenblick stehen. Metzendorfer sah hindurch und gewahrte das weiße Tuch über dem Gesicht. Er blickte weg. Von den Bäumen fielen schwere Tropfen, träge und unablässig. Die beiden Männer gingen schweigend bis zu der Garage. Groll betrachtete den Boden davor. Er sagte: „Da hat der Regen alles zunichte gemacht.“ Metzendorfer wußte darauf nichts zu antworten. Er dachte an seinen Freund, an seinen Klienten; er dachte daran, wie dessen Frau manchmal hier fröhlich über das Gras gegangen sein mochte, während ihr Mann grübelnd und verzweifelt zu Hause saß, und er verstand wieder vieles. 74
Der Kommissar klopfte mit den Knöcheln gegen die Garagentür. „Vielleicht“, sagte er, „sind im Wagen Papiere, die Aufschluß geben können.“ Er sah Metzendorfer an. „Wir wissen nämlich über Brumerus fast nichts.“ „Hat das überhaupt Bedeutung?“ fragte Metzendorfer zurück. Groll zuckte die Schultern und spielte mit dem Vorhängeschloß. Plötzlich ging er weg, kam mit einem Eisenstab wieder, steckte ihn durch den Schloßbügel und brach ihn auf. Dann zog er das Schloß heraus und öffnete den rechten Flügel der Tür. Er sah in die Garage. Sie war leer. Metzendorfer blickte ihm über die Schulter.
5. In den Augen Bifferlis war so ein merkwürdiger Ausdruck gewesen, daß Griessbühl die Hand hob. Bifferli stand auf und kam zu dem Schreibtisch herüber. Er gab Griessbühl das Papier und wollte etwas sagen, aber Griessbühl kam ihm zuvor: „Abwarten und Tee trinken, Herr Inspektor!“ Während er das sagte, dachte er belustigt daran, daß es Groll stets nervös machte, wenn er mit solchen abgegriffenen Wortmünzen zahlte. Er hatte es sich trotzdem nicht abgewöhnt. Das Papier knisterte in seiner Hand. Er begann zu lesen, las weiter, stockte, las noch einmal, ließ das Papier auf die Schreibtischplatte sinken und sah nun seinerseits Bifferli an, der vor ihm stehengeblieben war. 75
„Teufel“, sagte er. „Das hat uns noch gefehlt.“ Jetzt sah er Marahn an, der apathisch dahockte; aber er untersagte es sich, dem etwas zu verraten. Er stand auf. Er sagte: „Wir fahren zum Bungalow hinüber. Das Papierchen hier muß ich dem Kommissar zeigen. Außerdem“, und jetzt blickte er auf Marahn herab, „wird es nun wohl doch notwendig sein, eine Tatortverhandlung durchzuführen.“ „Sie“, sagte er zu dem jungen Beamten, der eilfertig aufgestanden war, „bleiben hier!“ Der packte enttäuscht seine Schreibmaschine und trug sie in den Nebenraum zurück. „Gehen wir!“ sagte Griessbühl. „Ich auch?“ fragte Marahn verwirrt. „Selbstredend“, erwiderte Griessbühl, „das muß schon sein!“ „Das muß schon sein!“ wiederholte Bifferli und sah den Arzt mit seinen runden Glasaugen an, in die wieder der Ausdruck unverhohlener Neugierde getreten war. Der befremdend bunte Wagen, vor dem Bifferli geradezu zurückschrak, tropfte vor Nässe. Er klapperte mit der Karosserie, als ihn Griessbühl anließ. Es hörte sich an, als fröre er entsetzlich. Sie mußten langsam fahren; es war zwar heller geworden, aber der Nebel erstickte jede Sicht. So durch die Stadt zu gleiten war ein merkwürdiges Gefühl. Menschen waren kaum zu sehen, denn bis zu den Bürgersteigen reichte der Blick nicht, und die Fahrzeuge, die ihnen entgegenkamen, rollten lautlos und wie mit Gazeschleiern behängt vorüber. Marahn hatte im Fond Platz genommen; Griessbühl sah ihn manchmal durch den Rückspiegel. Er saß unbe76
teiligt da und schwankte wie ein Schwerkranker. Nichts um ihn her erregte seine Aufmerksamkeit. Bifferli wies gewichtig den Weg. Endlich bedeutete er: Halt! Als sie durch die Pforte gehen wollten, zögerte Doktor Marahn. Er sah Griessbühl an. Aber der zuckte die Schultern. „Sie müssen sich schon dazu bekennen“, sagte er. So schritten sie hintereinander über den nassen Kies durch die Nebelschwaden, die auch den Bungalow verhüllten; doch bevor sie ihn erreicht hatten, dröhnte die Stimme des Kommissars herüber: „Griessbühl! Ich möchte Ihnen Ihre Überraschung zeigen!“ Unwillkürlich blieben sie stehen. Im wallenden Dampf sahen sie links die ungewissen Umrisse Grolls und Metzendorfers, und Griessbühl sagte: „Na, wenn er schon ruft, müssen wir wohl folgen!“ und stapfte in den triefenden Rasen, gefolgt von den beiden anderen. „Kommen Sie! Kommen Sie!“ sagte der Kommissar und führte sie weiter, bis sie vor der geöffneten Garage standen. Griessbühl sah den Kommissar verständnislos an. Der rieb mit der flachen Hand den nackten Schädel, der vom Nebel feucht geworden war, und sagte: „Leer I Kein Wagen! Können Sie mir vielleicht sagen, wie Brumerus hierhergekommen ist?“
6. Marahn hatte ganz leere Augen; ihn schien es nichts anzugehen, ob in der Garage ein Wagen stand oder nicht Aber Bifferli hatte impulsiv antworten wollen; ehe er jedoch sprechen konnte, hatte Griessbühl seinen Jacken77
ärmel gefaßt und ihm zu schweigen bedeutet. Der Kommissar hatte es nicht bemerkt. So inspizierte Griessbühl die Garage, auf deren Zementboden lediglich die üblichen Schmutz- und Ölspuren zu sehen waren. Auf einem Bord standen und lagen Schwämme, Polierwatte, Reinigungsmittel. Ein abgenutzter Reifen lehnte an der Stirnwand als Schutz gegen das Anfahren. Griessbühl hob ihn mit der Linken hoch und beäugte ihn, als wäre er etwas Besonderes. Groll war draußen stehengeblieben und sah ihm befriedigt zu, die Hände in den Hosentaschen. In Marahn ging etwas um, das freilich die anderen seinem Gesicht nicht ablesen konnten: Hier also hatte der Borgward Isabella gestanden, der Wagen, in dem seine Frau ihre erste verhängnisvolle Fahrt mit Brumerus gemacht hatte, damals, von Bayreuth hierher, jene Fahrt … Dem Kommissar dauerte es zu lange. Er sagte gemütlich: „Wirklich, da haben Sie Ihre Überraschung, Griessbühl! Können Sie das erklären?“ Griessbühl sah ihn an und lächelte schräg. Er sagte: „Es gibt schließlich eine Eisenbahn!“ „Und Sie glauben, daß Brumerus mit der Bahn nach Berneck gekommen ist?“ fragte der Kommissar verächtlich. „Brumerus, der nie anders kam als mit seinem Wagen? Und können Sie mir überhaupt einen Autofahrer nennen, der sich gern in die Bahn setzt, noch dazu, wo die Fahrt hierher so angenehm ist bei dem geringen Verkehr auf dieser Strecke?“ „Nein“, antwortete Griessbühl gelassen, „nein. Ich glaube weder das eine noch das andere.“ „Ja, zum Teufel“, rief der Kommissar aus, „mit dem Wagen ist er nicht gekommen, per Bahn ist er nicht ge78
kommen, vielleicht mit dem Hubschrauber? Wollen Sie das sagen, Griessbühl?“ Der kam aus dem Innern der Garage heraus und stand jetzt vor Groll. „Auch nicht“, erwiderte er, „Brumerus ist nämlich überhaupt nicht gekommen, nach dem hier zu urteilen!“ Dabei zog er das Papier aus der Tasche. Es war ein Telegramm. Er reichte es dem Kommissar. Der las es. Um seine Überraschung zu verbergen, las er es nochmals, während Griessbühl ihn lächelnd beobachtete: KRIMINALAMT BAD BERNECK + VERWAHRE MICH SCHÄRFSTENS GEGEN DIFFAMIERENDE UND GESCHÄFTSSCHÄDIGENDE PRESSEMELDUNGEN DIE AUF AUSKÜNFTE DES KRIMINALAMTS ZURÜCKGEHEN + LEBE UND BIN GESUND + MORDVERSUCH HAT NIE STATTGEFUNDEN + KOMME NOCH HEUTE SO BALD ALS MÖGLICH NACH BERNECK + RICHARD BRUMERUS
Groll sah auf. Er sagte zu Griessbühl: „Das ist ja unverständlich!“ Der schwieg. Groll hob das Telegramm nochmals vor die Augen und sagte: „Von wo aus ist denn das abgesandt? Ach, von Stuttgart! Na, dann wird er wohl gegen Mittag erscheinen!“ Er seufzte und steckte das Papier in die Tasche. Bifferli sah ihn mit glänzenden Glasaugen an.
7. Sie standen im ziehenden Nebel – fünf Männer, von denen nur einer nicht ahnte, was vorgegangen war: Marahn. 79
Endlich sagte Metzendorfer, nachdem auch er das Telegramm gelesen hatte, und schien sich eine Sommersprosse am linken Nasenflügel wegkratzen zu wollen: „Es könnte eine absichtliche Irreführung sein.“ Griessbühl sah ihn an wie einen Wahnsinnigen. Metzendorfer fügte hinzu: „Eine Verschleierung, was weiß ich. Wer kann beschwören, ob der Name unter dem Telegramm stimmt? Wir nehmen es an, aber sicher sind wir nicht. Und ob der Betreffende kommt … auch das könnte zu irgend etwas dienen.“ „Ich wüßte nicht, wozu“, sagte Griessbühl. „Ich auch nicht“, antwortete der Anwalt, „aber es ereignen sich die seltsamsten Dinge. Man käme nie auch nur im Traume darauf. Doch wenn das Telegramm stimmt, dann müßte …“ Er schwieg und sah Marahn an. „Ja“, bestätigte Groll, „dann müßte …“ Auch er schwieg an dieser Stelle und sah Marahn an. „Immerhin kann keiner von uns das entscheiden“, bemerkte Griessbühl, „also, gehen wir hinein!“ Groll nickte, und die fünf stapften über den triefenden Rasen zum Hauseingang. Beim immer noch angelehnten Fenster sah Griessbühl Doktor Marahn an und sagte: „Von hier aus!“ Der senkte die Augen und erwiderte nichts. An der Zimmertür sagte Groll zu Doktor Marahn: „Bleiben Sie bitte hier stehen!“ Im Gesicht Metzendorfers zuckte es nervös; er blieb nahe bei dem Arzt. Der Kommissar gab Griessbühl mit den Augen einen Wink. Der ging langsam quer durch den Raum. Er beugte sich zu dem Toten nieder, doch so, daß er ihn gegen Marahn deckte. Er zog ihm das Tuch herunter, faßte mit 80
beiden flachen Händen die Wangen und wandte den Kopf ein wenig. Dann erst trat er beiseite. Er sah Marahn an. Metzendorfer sah Marahn an. Groll sah Marahn an. Bifferli sah Marahn an. Und Doktor Marahn starrte auf den Erschossenen. Er schluckte. Plötzlich ließ er den Kopf nach vorn fallen, schlug die Hände vor das Gesicht und versuchte ein Schluchzen zu ersticken, das ihn schüttelte. Groll nickte. Er fragte ruhig: „Kennen Sie den Toten, Doktor Marahn?“ Den schüttelte immer noch das Schluchzen, der hob die Hände nicht von dem Gesicht. Endlich kam ein halbersticktes „Nein“. Der Kommissar winkte Griessbühl abermals mit den Augen. Der ging zu dem Ermordeten und bedeckte dessen Antlitz wieder. „Gehen wir“, sagte Groll, „das Rätsel können wir jetzt nicht lösen!“ Er sah Marahn nochmals an. Der regte sich nicht, der stand und schluchzte qualvoll. Da faßte ihn Metzendorfer unter den Arm und führte ihn behutsam hinaus, vorbei an dem Beamten, der ihnen verständnislos nachsah. Der Nebel war in Bewegung geraten; ein kleiner Wind hatte sich aufgemacht, und die grauen Strähnen zogen langsam dahin. Aber Griessbühl, der den hustenden Wagen lenkte, mußte feststellen, daß die Sicht nicht besser geworden war.
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VIERTES KAPITEL
1. Der Nebel schloff die Berge hinauf. Der Tag blieb grau. Die fünf Männer fuhren zunächst in das Kommissariat zurück. Unterwegs bat Metzendorfer, an einer Kraftfahrzeug-Reparatur zu halten. Er schickte einen Monteur zur Villa hinauf, damit sein Wagen in Ordnung gebracht werde. Groll dachte darüber nach, wie man den Toten identifizieren könnte. Nichts wies darauf hin, daß der Ermordete nicht Brumerus war. Bifferli zuckte die Schultern. Brumerus mußte tatsächlich, wie Bifferli anfangs behauptet hatte, seinen Bungalow sehr verschwiegen benutzt haben, daß er so wenig bekannt war. Eine vage Hoffnung knüpfte der Kommissar zunächst an die paar Beweisstücke, die beschlagnahmt worden waren und die sich im Kommissariat befanden. Aber die Durchsicht ergab auch hier keine Anhaltspunkte, so daß Griessbühl bemerkte, Brumerus werde wohl der einzige sein, der Aufschluß geben könnte. Die völlig unerwartete Wendung der Dinge nahm Griessbühl und den Kommissar so in Anspruch, daß sie kaum mehr an Marahn dachten, der in einer Ecke des staubigen Raumes auf einem Holzstuhl saß und durch die 82
Scheiben hinausstarrte. Er war unfähig, noch irgend etwas zu erkennen; denn alles, was er sich mühsam zur Rechtfertigung seiner Tat zusammengebaut hatte, war durch einen Blick in ein fremdes Gesicht zusammengestürzt. Er hatte sich weismachen wollen, er wäre eine Art Richter oder Rächer, keinesfalls ein gemeiner Mörder. Nun aber war das Opfer ein anderes; einer, den er gar nicht gemeint hatte, lag stumm am Boden, würde nie mehr atmen, nie mehr sehen, keinen Duft spüren, würde von keinem Sturm wissen und von keinem Sonnenschein. Was das für ein Mensch gewesen war, ahnte er nicht; er kannte nicht einmal seinen Namen. Konnte es schlimmer sein? War es nicht wie ein feiger Sprung aus dem Hinterhalt auf einen Fremden und auf jeden Fall Unschuldigen? Dann erinnerte sich Marahn seiner Frau. Ihr würde er es sagen müssen, oder es würde ihr gesagt werden, er wußte es nicht. Sie würde es auf jeden Fall erfahren. Wie würde diese Tatsache das Bild verändern, das sie sich von ihm gemacht hatte? Und Brumerus war gesund und tatkräftig wie immer, er, wegen dem alles dieses geschehen war. Nicht lange würde es dauern, und er würde in Berneck eintreffen, würde durch die Räume seines Bungalows gehen, würde jene Erinnerungen an Margit haben, die er, Marahn, für immer hatte auslöschen wollen. Und vermutlich würden sie wacher als je sein, und möglicherweise würde Brumerus morgen oder in zwei Monaten den Klingelknopf der Villa drücken und dasein, lebendig, großsprecherisch, witzig, bezaubernd, und der Motor seines Wagens würde vor der Haustür noch leise brummen, und wer weiß, ob morgen oder in einem Vierteljahr eine solche Aufforderung überhörbar war, trotz allem, was gestern abends und nachts gewesen war. Er, Marahn, würde weit weg sein und davon niemals etwas erfahren. 83
Und dann war dies wieder in ihm: einen Menschen getötet zu haben, einen Fremden, erschossen aus dem Hinterhalt … „Passen Sie auf ihn auf!“ sagte Groll leise zu Metzendorfer. „Jetzt kommen seine schlimmen Stunden.“ Metzendorfer sah ihn an. „Ja“, sagte Groll, „das sind die Stunden der Einsamkeit. Er wagt gar nicht mehr, nach einem Menschen zu greifen, so weit weg sind sie von ihm.“ „Nun gut“, sagte er betont laut. „Lassen wir es im Augenblick, Griessbühl. So kommen wir nicht weiter. Warten wir unseren Besuch ab, bis wir eine Fahndung herausgeben. Es gibt schließlich keinen Menschen auf der Welt, der nicht irgendwelche Spuren hinterläßt. Wir werden sie finden.“ „Kollege Bifferli“, sagte er freundlich zu dem kleinen, runden Inspektor. „Lassen Sie bitte den Raum abschließen, damit uns niemand an den Kram hier geht. Wir wollen inzwischen essen, und wenn der Bewußte kommt, benachrichtigen Sie mich bitte gleich.“ Griessbühl fuhr in seinem bunten Wagen den Arzt und seinen Freund hinauf nach der Villa, wartete nicht ab, bis die beiden im Haus verschwunden waren, sondern wendete hart und fuhr zurück. An einem Zeitungsstand am Stadtrand hielt er, sprang heraus und kaufte „Bild“. Schon im Zurückgehen sah er auf der ersten Seite: ARZT ALS MÖRDER Dr. Marahn erschießt Rivalen aus Eifersucht Liebestragödie im Bungalow Daneben fand sich ein Foto Marahns im weißen Arztkittel. 84
Während er einstieg, dachte Griessbühl, nun doch mit einer Art unbestimmter Bewunderung: Woher die Burschen das haben mögen? Bevor er anfuhr, warf er noch einen Blick auf das Blatt, das er auf den Nebensitz geworfen hatte. Vermutlich aus einem Foto heraus vergrößert, von einer Ärztetagung möglicherweise. Er dachte erst wieder daran, als er die Zeitung mit spitzen Fingern Groll präsentierte, der bereits selbstvergessen die Suppe löffelte. Groll nahm das Blatt nicht an. „Ja“, knurrte er böse, „so ungefähr habe ich mir das gedacht!“, und löffelte seine Suppe weiter. Griessbühl studierte die Speisekarte. Der Ober kam lautlos herbei und stand geduldig neben ihm. Um diese Jahreszeit waren nur wenige Gäste hier. Griessbühl sah gedankenverloren dem Kommissar zu, der jetzt fertig war, bedachtsam den Löffel auf den Teller legte, so daß es nicht klirrte, kaum merkbar mit der Zunge über die Lippen fuhr und sich zurücklehnte. Groll sagte: „Das ist ein schwerer Schlag für den Marahn. Nun ist ihm alles, aber auch alles quer gegangen. Auch vor sich selbst ist er ein hinterhältiger Schurke.“ Er rieb mit der Linken den nackten Schädel und sagte nachdenklich : „Wir müssen wissen, wer der Tote ist. Ich bin nicht so sicher, daß uns dieser Brumerus helfen kann. Wenn der in Stuttgart war …“ „Aber Kommissar!“ antwortete Griessbühl, während der Ober die Speisen servierte. „Das ist doch wohl irrig! Nichts an dem Bungalow weist darauf hin, daß dort einer gewaltsam eingedrungen ist. Also wird dieser Fremde vermutlich mit Wissen von Brumerus sich dort aufgehalten haben. Mein Gott …“, sagte er leichthin, während jetzt er seine Suppe mit kräftigem Appetit zu löffeln be85
gann, „vielleicht wollte er einem Freund einmal ein ebenso intimes Stelldichein verschaffen, wie er selbst es genossen hatte.“ „Na“, Groll schaute mit hochgezogenen Brauen vom Teller auf, „ausgerechnet mit seiner eigenen Freundin? Mann! Griessbühl! Sie halten unsere Zeit für verruchter, als sie ist!“ „Ach, Kommissar“, sagte Griessbühl zweifelnd und fischte nach einem Bratklößchen, „kann man’s wissen? Sehen Sie mal …“ – er schob das Klößchen in den Mund –, „Brumerus hatte die Marahn über, das steht fest. Vielleicht wollte er sich so eine Art moralisches Alibi verschaffen? Und gleichzeitig noch ein paar Fliegen mit der gleichen Klappe schlagen? Daß er nämlich ihr einen Ersatz verschaffte und einem Freund, möglicherweise auch nur einem Geschäftsfreund, einen angenehmen Zeitvertreib? À la dolce vita?“ „Sie kennen die Frauen nicht“, erwiderte Groll und fügte hinzu: „Die Roulade ist wirklich ausgezeichnet, fein abgeschmeckt die Füllung.“ „Hätte ich mir auch kommen lassen sollen“, sagte Griessbühl mit leichtem Neid. „Aber was die Frauen betrifft, ich fürchte, Sie täuschen sich über deren Fähigkeiten!“ „Mag sein“, sagte der Kommissar gleichgültig, „mag auch sein, daß sie zu meiner Zeit anders waren.“ Sie aßen schweigend weiter. Groll tupfte sich den Mund ab, er faltete flüchtig die Serviette und legte sie beiseite. „Allerdings“, sagte er nachdenklich, „ist Ihre Erklärung am einleuchtendsten. Ich wüßte wirklich nicht, wie sich das anders reimen sollte.“ Er sah zur Decke hinauf. „Das würde auch erklären, wieso kein Wagen in der Ga86
rage ist. Brumerus könnte den Mann hergebracht haben und dann wieder abgefahren sein.“ „Ich denke“, warf Griessbühl ein, „er sollte erst gestern kommen? So hat doch Marahn sich geäußert, und an diesem ersten Tage sollte auch das Stelldichein stattfinden. Deswegen ist er doch gleich hingefahren, er wollte die neue Begegnung verhindern.“ Als sie beim Kompott angelangt waren, ging der Geschäftsführer behutsam von Tisch zu Tisch und fragte zurückhaltend: „Herr Groll? Zum Telefon! Herr Groll? Zum Telefon!“ Wenig später kehrte Groll an den Tisch zurück, blieb jedoch stehen. Auf in den Kampf, Griessbühl!“ sagte er. „Brumerus ist angelangt! Bifferli hat angerufen!“
2. Welchen Trost hätte Margit Marahn ihrem Mann geben sollen? Metzendorfer hatte ihr, aufgeregt flüsternd, mitgeteilt, was sich herausgestellt hatte; sie war bleich geworden, sie hatte ihn angesehn und gestammelt: „Das ist nicht wahr! Das kann ja nicht wahr sein!“ Metzendorfer begriff, daß in Sekunden auch für sie alles anders geworden war, so nämlich, daß der tote Brumerus heute oder morgen oder in drei Monaten vor der Tür stehen könnte, und was würde dann sein? Margit Marahn, das sah ihr Metzendorfer an, wußte es nicht. In den qualvollen Stunden, in der schlaflosen Nacht, in den endlosen Gesprächen war es für sie endgültig gewesen, daß Brumerus nicht mehr unter den Lebenden weilte. Und ohne es sich einzugestehen, hatte sie endlich doch etwas wie Erlösung empfunden, weil ihr das Geschick 87
eine Entscheidung abgenommen hatte, zu der sie selbst möglicherweise niemals fähig gewesen wäre. Marahn saß blind und taub am Kamin. Sie sah ihn an, den Mann, der sie liebte. Liebte sie ihn? Sie hätte es nicht zu sagen gewußt. Aber Mitleid empfand sie. War das genug? Sie konnte ihm jetzt nicht helfen, sie erkannte es. Sie mußte ihn sich selbst überlassen. Leise fragte sie Metzendorfer: „Wird es schlimmer dadurch?“ Der zuckte die Schultern, sah beiseite, war aufrichtig genug zu antworten: „Besser jedenfalls nicht! Bisher habe ich mit dem Verständnis des Gerichts gerechnet.“ Er sah sie an. „Am Tatbestand hat sich nichts geändert, überhaupt nichts. Doch nun ist ein völlig Unschuldiger …“ Er schwieg. Sie verstand ihn. Ihre Stirn kräuselte sich. Sie fragte: „Und es ist nicht festzustellen, wer …“ „Das ist ja das Eigenartige!“ antwortete Metzendorfer. „Nichts, überhaupt nichts! Es sieht aus, als hätte eine unsichtbare Hand alle Kennzeichen weggeräumt.“ „Das ist nicht möglich!“ sagte sie entschlossen. „Es müssen irgendwelche Hinweise dasein! Es ist unvorstellbar, daß ein Fremder irgendwohin fährt und keinerlei Möglichkeiten hat, sich auszuweisen.“ Er blickte wieder beiseite. „Unmöglich?“ fragte er leise. Dann atmete er tief auf. „Aber Brumerus kommt! Ich hoffe sehr, daß er uns die Lösung des Rätsels mitbringt!“ Er wußte, daß ihr dieser Name Qual bereitete. Es war besser, so meinte er, nicht mehr darüber zu sprechen. Er sagte: „Es bleibt uns nichts anderes übrig, als abzuwarten.“ Und immer noch schloff der Nebel berghinan, lautlos auf Filzschuhen, stieg über die kleine Villa; aber der Tag blieb grau. 88
Später läutete anhaltend die Klingel der Pforte Metzendorfer sah zum Fenster hinaus, dann schüttelte er zu Margit Marahn hin beruhigend den Kopf und verließ das Haus. Draußen stand der Monteur, ratlos. Er sagte: „Das ist eine verwickelte Sache, wir kriegen den Wagen heute bestimmt nicht mehr flott!“ Das Motorrad bellte mit seinem Auspuff dazwischen. „Ja, aber wann denn?“ fragte Metzendorfer hilflos. „Ich habe morgen früh Verhandlung!“ Der junge Mann sah auf seine Fußspitzen, als könnte er dort des Rätsels Lösung finden. „Kann sein, daß wir ihn heute abend fertig haben“, antwortete er und blickte auf, als hätte er Trost gespendet. „Kann aber auch nicht sein!“ fauchte Metzendorfer. „Kann auch sein, daß es nicht sein kann!“ antwortete der Monteur melancholisch und setzte hinzu: „Wissen Sie, ich könnt’s ja in Überstunden machen; aber gerad’ heut’ hab’ ich eine Verabredung, und die kann ich nicht sitzenlassen.“ Das Motorrad bellte leiser. „Ja mein!“ sagte Metzendorfer. „Gibt’s denn so was auch!“ Er sah den jungen Mann verstört an, er sagte: „Also deshalb wollen Sie kein Geld verdienen?“ Der Monteur blickte wieder verstockt auf seine Schuhspitzen. „Ja, dann …“, sagte Metzendorfer langgedehnt, als hätte er das Geheimnis dieser jungen Generation entdeckt, und setzte hinzu: „Fährt wenigstens ein Zug in der Nacht noch?“ „Sicher“, antwortete der junge Mann, obwohl er nie in der Nacht gefahren war und es nicht wußte, „da können Sie ganz beruhigt sein!“ 89
Damit war das Gespräch für ihn beendet, er ging zu seinem Motorrad, und die Art, wie er sich in den Sattel schwang, und die Art, wie er darin saß, machten einen anderen Menschen aus ihm, einen Mann, der die Explosionen unter seinem Gesäß beherrscht und das auch weiß. Metzendorfer sah ihm nach, wie er mit leiserem Knattern die gewundene Straße hinunter verschwand; er seufzte. Im Zimmer beruhigte er Margit: „Ach was, nur der Monteur!“ Sie sagte: „Und daß kein Auto da war! Und wenn Brumerus gestern überhaupt hiergewesen wäre, er hätte mir bestimmt eine Nachricht zukommen lassen. Ich meine, falls er wieder fortgemußt hätte. Das ist ja auch gelegentlich vorgekommen!“ „Ist vorgekommen?“ vergewisserte sich Metzendorfer. „Natürlich“, erwiderte sie und dachte ganz etwas anderes. „Manchmal mußte er zu geschäftlichen Besprechungen überraschend wegfahren, oder sie hielten ihn fest.“ Sie sah plötzlich den Anwalt an, und ihr Blick konzentrierte sich, ihre Stirn kräuselte sich wieder. „Jetzt merke ich erst, daß mir überhaupt nicht bekannt war, was Brumerus eigentlich getan hat.“ Sie verbesserte sich: „Welche Geschäfte er hatte oder so, er war oft abgehetzt, ließ es sich vor Fremden nur nicht anmerken, und er hatte riesige Telefonrechnungen dort unten. Ich glaube“, sagte sie zögernd, „er war Architekt. Oder so etwas. Bauunternehmer. Mitinhaber einer Baufirma.“ Sie sagte lebhaft: „Über Bauten wußte er jedenfalls Bescheid.“ „Warum hat er sich dann nicht selbst den Bungalow errichtet?“ fragte Metzendorfer. „Ja …“, sie zögerte wieder etwas, „er meinte: ‚Kleinvieh macht auch Mist‘, ja, so hat er wohl gesagt, ‚aber ich gebe mich eben nicht mit Kleinvieh ab, das ist mein 90
Prinzip.‘“ Sie wollte nicht falsch verstanden werden: „Hat Brumerus von sich gemeint.“ Metzendorfer merkte, wie auch ihr der Name Brumerus schwer von den Lippen ging. Unwillkürlich betrachtete er die junge Frau. Brumerus – nein, das paßte zu ihr nicht. Und Richard? Ausgeschlossen, solche Lippen, verdammt, konnten nicht Richard sagen, da gab es sicher ein Kosewort. Er sah auf Marahn und rief sich zur Ordnung. „Hatte Brumerus denn nie einen Bekannten hier?“ fragte er. Sie schüttelte den Kopf. Metzendorfer schwieg. Da setzte sie hinzu, leise: „Vielleicht meinetwegen …“ Sie runzelte die Stirn. „Ich kann mir nicht vorstellen, daß er den … den Fremden kannte. Das war sicher einer, der eingebrochen war … oder so.“ Sie zuckte hilflos die Schultern. Mit einer dünnen, völlig unbekannten Stimme, so daß Metzendorfer und die Frau zusammenfuhren, rief plötzlich Marahn herüber: „Aber er hat dich hinbestellt, wie konnte er nicht dasein, und wenn du gegangen wärst, und der Fremde wäre …“ Er beugte sich plötzlich vor, vergrub das Gesicht in den Händen, schüttelte den Kopf, als hätte ihn ein Krampf gepackt, und stieß zwischen den Zähnen hervor: „Nein, nein doch, das kann ich nicht sagen!“ Die Frau lief hinüber, faßte Marahn an den Schultern, rief ihn an; aber er konnte nicht hören, den zog es von innen zusammen, er stöhnte nur noch. Metzendorfer strich sacht und bedenklich das dünne rote Haar aus der Stirn. Er sah die beiden drüben an, und er dachte: Mörder, das wollte er sagen, der Fremde wäre ein Mörder gewesen … 91
Er spürte an der linken Schläfe einen stechenden Schmerz und kniff die Augen zusammen. Mein Gott, dachte er und war zum ersten Male verzweifelt, reimt sich denn hier überhaupt nichts? Oder ist jeder Reim möglich?
3. „Das wird ein Zirkus!“ hatte Griessbühl ahnungsvoll gesagt, als er sich den Mantel überzog. „Wenn Brumerus will, kann er uns schrecklichen Ärger machen!“ Der Kommissar rückte vergeblich an seinem Hut und knurrte nur als Antwort; das war ein schlechtes Zeichen, wußte Griessbühl, der Alte war nicht leicht in Verlegenheit zu bringen; wenn er sich aber im Nachteil fühlte, sprach er kaum. „Wollen wir fahren?“ fragte Griessbühl mit einem Blick auf seinen bunten Wagen, der sich in der trostlosen Herbststimmung seltsam frühlingshaft ausnahm. Doch auch jetzt knurrte Groll nur und schlug als deutliches Zeichen, daß er das farbenfreudige Vehikel nicht benutzen wollte, den Weg zum Kommissariat ein. Griessbühl bedauerte das; ein Autofan wie er verabscheute es, auch nur die kleinsten Strecken ohne Wagen zurückzulegen, und während sie schweigend nebeneinanderher gingen, mußte er plötzlich an die neue Hochhausgarage in München denken; das versetzte ihn in die beste Stimmung und die hellste Begeisterung: Nun endlich in einem Haus nicht mehr Treppen steigen oder mit dem Fahrstuhl sich hochleiern lassen zu müssen, sondern mit dem Auto hochgleiten zu können! Eine halbe Minute lang hing er dem törichten utopischen Projekt nach, angesichts der steigenden Motorisierung künftig in Wohn92
häusern eben nicht mehr Stufen und Fahrstühle, sondern Gleitbahnen einzurichten. Groll riß ihn aus seinen Träumereien; er hatte den Assistenten schon mehrere Male mißtrauisch von der Seite her beäugt und an dessen sich erheiternder Miene gemerkt, daß er nicht mehr an Mord und Totschlag dachte; daran wollte er ihn deutlich erinnern; er sagte: „Und Sie halten den Mund, Griessbühl!“ Der Assistent zwinkerte mit den Augen vor Schreck. „Ja mein!“ sagte er. „Wozu komme ich dann überhaupt mit?“ Aber Groll war auf Diskussionen nicht eingestimmt. Er knurrte: „Der Brumerus kann uns teeren und federn, wenn er will; da müssen wir in Gottes Namen ergeben sein; aber Sie sind ein vorwitziger Mensch, Griessbühl, das wissen Sie!“ Der Assistent verzog den Mund. „Nicht nett von Ihnen“, sagte er, „mir so was zu sagen!“ Und er setzte mit einem anzüglichen Blick hinzu: „Aber das ist ein alter Hut von Ihnen!“ „Der Hut“, erwiderte Groll giftig und zog den Sombrero, um liebevoll über die wellige Krempe zu fahren, „ist mehr wert als viele junge Männer! Der hat nämlich was durchgemacht!“ „Sieht man ihm an“, erwähnte Griessbühl nur und sagte im gleichen Atemzuge – sie waren vor dem Kommissariat angelangt -: „Natürlich das neueste Modell!“ Groll sah ihn irritiert an, bemerkte jedoch gleich, daß Griessbühl ihn narrte und mit dem letzten Hinweis den Borgward Isabella von Brumerus meinte, der vor der Tür stand, warmgelaufen und schläfrig. Griessbühl hätte ihm am liebsten die Flanke geklopft, er hatte eine Schwäche für diesen empfindlichen Wagen mit dem 93
hohen Anzugsvermögen, den er sich auch in Jahren noch nicht würde leisten können. Während sie in den staubigen Schlund des Kommissariats eintauchten, dachte er bitter daran, daß der Umgang mit Leichen schlecht bezahlt würde – der Umgang mit realen Leichen, verstand sich; die Leute, die es mit imaginären Toten zu tun hätten, beispielsweise die Verfasser von Kriminalromanen, wären weitaus besser daran. Da sah er zum ersten Male Brumerus. Groll hatte kräftig die Tür geöffnet und war vor ihm eingetreten. Die Augen von Brumerus und Bifferli richteten sich deshalb auf den Kommissar, und so hatte sein Assistent Muße, den Geliebten der Arztfrau zu betrachten. Er hatte ihn ausgesprochen unsympathisch finden wollen – angesichts der Umstände, die Marahn zu dem Mord verlockt hatten, angesichts des Umstandes auch, daß Brumerus ihnen Schwierigkeiten bereiten würde, die seiner Karriere erheblich schaden könnten. So war er überrascht, daß ihm der Mann gefiel. Vielleicht war das nur deswegen, weil Bifferli offensichtlich vollkommen vernichtet war. Sein runder Kopf war so rot vor Blutandrang, daß ein Schlagfluß zu befürchten war, die blauen Glasaugen traten so weit hervor, daß sie wie bei Plüschtieren angeheftet wirkten, und die kurzen Ärmchen streckte er dem Kommissar hilfesuchend entgegen. Er sagte auch etwas, aber das war so verquollen, daß Griessbühl es nicht verstand. Das mußte schon ein Kerl sein, der es fertigbrachte, den selbstgerechten Bifferli mit Worten so zuzurichten, und dieser Mann saß – beinahe gemütvoll hingelehnt – auf einem der unbequemen Holzstühle und lächelte. Das schien ihm für einen Bifferli zu genügen! Griessbühl 94
erkannte, daß die grauen Augen unter den buschigen Brauendächern sicher unerbittlich und hart blicken, daß die genußsüchtigen Lippen deutliche, eigensinnige Behauptungen aussprechen konnten, doch davon machte Brumerus jetzt keinen Gebrauch. Als Groll sich und den Assistenten vorstellte, erhob er sich sogar und sagte dabei: „Meinen Namen werden Sie sich zweifellos gemerkt haben! Ein Ermordeter, der darauf besteht, unter den Lebenden zu weilen, dürfte der Kriminalpolizei nicht oft über den Weg gelaufen sein!“ Zu Griessbühls Überraschung sagte Groll in einem völlig ungewohnten, verbindlichen Ton: „Herr Brumerus, ich bin der Verantwortliche für die gesamte Untersuchung dieses Falles, und ich habe mich bei Ihnen zu entschuldigen. Ich möchte nicht auf die ungewöhnlichen Umstände ausweichen; ein scharfsinnigerer Mensch als ich hätte möglicherweise keine Kurzschlüsse gezogen. Ich, Herr Brumerus“, dabei drehte er beinahe einfältig den Sombrero an der Krempe pausenlos herum, „habe keine große Karriere gemacht, Sie sehen, ich verschweige es nicht.“ Er seufzte. So kannte Griessbühl seinen Kommissar noch nicht, er bewunderte ihn. Brumerus sah Groll unentwegt an und wartete einfach. Auch das war, erkannte Griessbühl, genaue Überlegung. „Tja“, sagte Groll, „das ist fast alles.“ Er zögerte eine Sekunde und setzte beinahe hastig hinzu: „Vielleicht das eine noch: Eine Mitteilung an die Presse haben wir nicht gegeben. Wo die ihre Informationen herhat, weiß ich nicht; die Burschen sind eben manchmal fixer als die Polizei.“ Der träge Mund von Brumerus schien ein Lächeln anzudeuten; möglicherweise sollte das dem, was er sagte, 95
die Tragweite nehmen. „Es ist nicht meine Sache, das nachzuprüfen. Ich habe, Herr … Groll? Nicht wahr? Ja, also Herr Groll – ich habe keine Zeit, mich damit zu beschäftigen, soll das mein Anwalt tun.“ Er schien zu überlegen und setzte hinzu: „Wie ich es eigentlich überhaupt meinem Anwalt überlassen möchte, zu entscheiden, ob und in welcher Form er vorgehen will.“ Er schob die Unterlippe vor. Der Kommissar wartete geduldig auf das, was noch kommen würde. Brumerus sah Groll durchdringend an. „Ich verstehe nur eines nicht: Sie hätten doch sofort feststellen können, daß ich nicht …“, er machte mit dem Daumen eine halb deutende Bewegung, „da drüben liege. Warum, um Himmels willen, haben Sie nicht den Doktor Marahn einmal an die Stätte seines löblichen Wirkens geführt? Oder seine Frau? Die kennen doch beide den Brumerus sehr genau!“ In diesem Augenblick hustete Griessbühl und wandte sich ab. Dazu wollte er nichts sagen; aber der Mann, der ihm bisher nicht unangenehm gewesen war, hatte plötzlich ein ganz anderes Gesicht bekommen. In solcher Art über die Frau zu sprechen, die ihn liebte, die jahrelang seinetwegen ihre Ehe gefährdet hatte, der er tiefen Kummer bereitet hatte, das schien Griessbühl unappetitlich. „Ja, ja“, hörte er Groll sagen, „genau das ist meine Unterlassungssünde, Herr Brumerus. Aber wissen Sie – es schien alles so völlig klar zu sein. Der Anruf Marahns war deutlich, er bezichtigte sich des Mordes an Ihnen. Auch seiner Frau hatte er das gebeichtet, sie selbst war völlig sicher, daß der tödliche Schuß auf Sie abgegeben worden war, Sie hatten mit ihr für diesen Abend einen …“, er zögerte ganz kurz, „Besuch vereinbart, und sie hatte sich, wie sie erzählte, schon für diesen 96
Besuch vorbereitet, als ihr Mann heimkam und ihr die Mitteilung machte …“ Griessbühl wandte sich wieder um und sah gerade noch, wie der Kommissar scheinbar hilflos die Schultern zuckte. Er wollte Groll unterstützen, er sagte: „Sie hatten sich doch tatsächlich angesagt, Herr Brumerus, und …“ Der unterbrach ihn unwirsch: „Angesagt! Angesagt! Was soll das heißen! Ich hatte die Absicht herzukommen, und ich habe das Frau Marahn wissen lassen. Das war zwischen uns üblich, das war schon – Routine, sagen wir mal! So eine große Bedeutung hatte das nicht. Sie hätte einen vergeblichen Spaziergang gemacht, und damit basta!“ Groll schien ihn zu unterstützen, er bemerkte: „Ganz richtig, Herr Brumerus, und …“, er sah flüchtig durch den Raum, das hatte den Anschein, als wollte er sich davon überzeugen, daß seine Worte gerade noch gestattet wären, „unter uns Männern können wir ja gestehen, daß man solchen Verhältnissen keinen allzu großen Wert, keine umwerfende Bedeutung zumessen kann. Das alles verlischt eben im Laufe der Zeit, es nutzt sich ab, und man trennt sich. Ist die Frau klug, so findet sie sich damit ab.“ Er hob etwas die Brauen, als wollte er sich eine kleine Neugierde gestatten, und er deutete dabei sogar ein Schmunzeln an: „Übrigens, war das vielleicht der Grund, warum Sie nicht kamen? Wollten Sie Frau Marahn auf diese Art wissen lassen, daß Sie die Verbindung zu lösen beabsichtigten?“ „Nein“, erwiderte Brumerus geradezu, „Unsinn! Das sind falsche Rücksichten. Sie wußte seit ein paar Wochen, daß ich an ihr nicht mehr sonderlich interessiert war.“ Er sah zum Fenster hinüber. „Ich pflege solche 97
Verhältnisse niemals abrupt zu zerstören, ich lasse sie einschlafen, das ist weniger strapaziös. – Aber wo, ich hatte die Absicht hierherzukommen. Doch da wurde ich aus geschäftlichen Gründen dringend nach Stuttgart gerufen und bin also dorthin gefahren. Das ist alles.“ „Und Frau Marahn haben Sie wohl deshalb nicht verständigt“, fragte Groll, „weil das ja sowieso in Ihre Pläne paßte, eine erste Enttäuschung, sozusagen?“ „Enttäuschungen kann man sehr einfach produzieren“, antwortete Brumerus, „dazu hätte ich diesen Kniff nicht benötigt. Einmal war es sehr eilig, und dann, vergessen Sie doch nicht, Herr … Groll, nicht wahr? Ja, also, Herr Groll, ich hätte ja mit einem Telefonat sozusagen ihrem Mann in die Arme laufen können! Na, und die waren mir dazu nicht schön genug!“ Griessbühl ging leise zu dem Fenster und lehnte sich auf das Sims; er fühlte sich nur als Zuschauer eines Stücks, dessen Charakter ihm noch nicht klar war. Er bewunderte in diesen Minuten den Alten: Hatte der nicht geschickt verstanden, Brumerus zum Befragten zu machen, der Auskünfte geben mußte, hatte er nicht unmerklich die Rollen verkehrt? Eine Meisterleistung, spürte er, und von „Anwalt“ und „Anzeige“ würde Brumerus nicht mehr viel reden mögen. Er, der junge Mann mit der Brecht-Frisur, bestaunte aber auch Brumerus: die Kälte, mit der jener agierte, die Rollen, die er beherrschte, nicht nur ein Weltmann, nein, ein Allerweltsmann, der in diese anstrengende Zeit paßte, ein Mensch ohne Anfechtungen durch andere oder durch sich selbst, der jede Fährnis ohne sichtbare Lädierung überstehen würde. Gut, daß Brumerus so war! Er war erleichtert, der Assistent. Eine massive Attacke von Brumerus hätte Groll und ihm reichlichen Ärger 98
bereiten können. Allein eine Dienstaufsichtsbeschwerde bei ihren Vorgesetzten hätte genügt. Solche Vermerke, ob berechtigt oder nicht, waren wie Stempel in der Personalakte, die sich nicht löschen ließen. Drei solcher Stempel genügten erfahrungsgemäß, um jede außerplanmäßige Beförderung unmöglich zu machen. Bifferli begriff jedoch nichts; er stand noch genauso hilflos irgendwo im Zimmer herum, wagte kaum einen Schritt zu tun, beteiligte sich nicht an dem Gespräch, sondern wartete das Ergebnis ab, den Kopf hochrot, die blauen Rundaugen starr. Groll hingegen zog jetzt wie selbstverständlich einen Stuhl an der Lehne herbei und ließ sich darauf nieder, dicht gegenüber von Brumerus. „Ja“, sagte er dabei, „so ist es wohl. Und anstrengend genug für Sie. Ich hocke da Tag um Tag einfach in meinem Büro, das Leben, die Taten ziehen sozusagen an mir vorbei, vieles bemerke ich gar nicht. Aber wenn ich mir nur vorstelle, wie schwierig es sein muß, kurzfristig in Stuttgart ein akzeptables Hotelzimmer zu bekommen …“ Brumerus lächelte mitleidig über den kleinen, unbeholfenen Beamten. „Erstens“, sagte er, „bekomme ich das jederzeit, das ist nur eine Frage der Höhe des Bakschischs. Zweitens wohne ich in Stuttgart stets bei Peter-Paul Bröseltau. Ein bekannter Skribent. Kennen Sie den?“ Groll hob die Schultern. „Wann komme ich schon zum Lesen, leider.“ „Na ja“, akzeptierte Brumerus den Einwand großzügig, „er macht in der Hauptsache Übersetzungen. Simenon beispielsweise. Den kennen Sie doch? Fällt ja in Ihre Sparte.“ Groll nickte. Brumerus fuhr fort: „Und er verfertigt für mich Artikel. Die bezahle ich ihm. Er schreibt elegant und unauffällig, und wenn sie die Presse außerdem noch honoriert, 99
kann er das behalten. Das ist unschätzbar. Ich bin Architekt, das wissen Sie wohl …“ (Groll wußte es nicht, aber er nickte), „und, sagen wir, Bauunternehmer …“ (wieder nickte Groll, und Griessbühl war erstaunt), „da ist es manchmal einfach notwendig, die öffentliche Hand oder sonstwen von der Notwendigkeit eines Projekts zu überzeugen. Bröseltau macht das sehr gut, subkutan sozusagen, er schreibt über den Stilwandel im späten Barock, und irgendwo taucht der Name Brumerus auf. Ausgezeichnet!“ Er rieb sich die Hände, er schien mit Bröseltau und sich sehr zufrieden zu sein, und Griessbühl war überzeugt, daß diese Taktik Erfolg haben mußte. „Sie haben also keine Ahnung“, fragte der Kommissar jetzt sehr direkt, „wie der Erschossene in Ihren Bungalow gekommen ist?“ Im gleichen Moment verwandelte sich Brumerus; war er bisher konziliant, so wurde er jetzt böse. „Das ist es doch gerade, was die Polizei feststellen muß, großer Himmel! Dazu sind Sie da, dafür werden Sie bezahlt, das ist Ihre Aufgabe! Ich bestehe darauf, daß Sie das herausbekommen! Man ist ja seines Lebens nicht mehr sicher!“ „Ich wollte mich lediglich vergewissern, ob vielleicht eine Verabredung bestanden hätte …“, gab Groll nach. Brumerus wollte auffahren, aber der Kommissar dämpfte ihn mit einer Handbewegung und sagte leichthin: „Es wäre doch eine Geschäftsbesprechung in Ihrem Bungalow möglich gewesen. Manchmal wünscht man den Gesprächspartner in einer intimeren Umgebung zu haben, er öffnet sich leichter.“ Er sagte rasch: „Aber das alles wissen Sie besser als ich!“ „Jedenfalls war es nicht so“, erwiderte Brumerus, „und vermutlich handelt es sich um einen ganz simplen Einbrecher. Weiß Gott, welche Wertsachen er dort vermutet 100
hat. Manchem ist schon mit ein paar alten Klamotten gedient.“ Das Wort „Klamotten“ nahm sich in diesem Munde befremdend aus, fand Griessbühl. „Ach nein“, sagte der Kommissar, „es war alles unverletzt, keine Scheibe eingedrückt, kein Schloß aufgebrochen, nichts. Man hatte das Gefühl, dieser Mann kannte sich aus.“ Darauf antwortete Brumerus nichts. „Nun“, sagte der Kommissar in einem Tone, als wäre das verabredet gewesen, „dann wollen wir uns den Schaden noch mal besehen!“, und erhob sich umständlich. Brumerus blickte auf. „Sie wollen doch nicht, daß ich mit dabei bin?“ fragte er bestürzt. „Ich habe eine Abscheu vor Toten!“ „Mag sein“, sagte Groll nebenbei. „Wer sieht schon gern seine eigene Zukunft? Aber es könnte ja sein, daß Sie den Toten kennen!“ Er wandte sich zu Griessbühl, der am Fenster lümmelte: „Und Sie tummeln sich und holen mir den Doktor Marahn herbei, verstanden?“ Im eiligen Hinausgehen hörte Griessbühl den Kommissar noch fragen: „Es ist Ihnen doch nicht unangenehm, Herr Brumerus?“ und den entrüstet antworten: „Warum denn? Habe ich denn auf ihn schießen wollen?“ Dann klappte die Tür zu. Von der Frau war nicht mehr die Rede.
4. Griessbühl hupte nur laut, es klang wie Eselsgeschrei, und wenig später sah er hinter Brumerus den Kommissar und Bifferli aus der Tür des Kommissariats treten und in den Borgward Isabella steigen. 101
Doktor Marahn blickte starr geradeaus. Sein schmales Intellektuellengesicht sah noch zerstörter aus: Er wußte, daß er dem Mann, den er hatte erschießen wollen, gegenübertreten mußte, dem Mann, der ihm die Frau aus einer Laune heraus gestohlen hatte. Griessbühl hörte Metzendorf er sagen: „Walter, du mußt versuchen, ruhig zu bleiben, du mußt! Es hängt viel davon ab!“ Durch den Rückspiegel sah er, wie der Anwalt Marahn die Hand auf die Schulter legte. Marahn reagierte darauf nicht. Der Assistent gab Gas, das bunte Gefährt klapperte energisch durch die Straßen, der Borgward Isabella folgte elegant und lautlos, gebändigt, gezähmt. Es sah nicht aus, als wollte der Borgward ein Wettrennen versuchen; das beruhigte Griessbühl. Dann standen sie an der Pforte des Bungalows, der Assistent, der Anwalt und Doktor Marahn, der den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen hatte. Der Borgward schob seine Stoßstange gefährlich nahe an den farbenfreudigen Bastard heran, und obwohl der Assistent auf die Auseinandersetzung gespannt war, die nun folgen mußte, lächelte er: der alte Witz der Autofahrer! Brumerus stieg zuerst aus, er reckte ein wenig die Glieder. Er schloß sorgfältig die Türen, nachdem Bifferli und der Kommissar gebückt herausgekrochen waren, Groll den Hut in der Hand, ungeschickt, als trüge er einen Orden auf einem Samtkissen. Bifferli und Groll traten rasch zu den Wartenden, dann erst kam Brumerus aufrecht und mit eiligen Schritten herbei, und der Kommissar versuchte, den Zusammenprall, den er erwartete, zu mildern, indem er zu Brumerus sagte: „Das ist Herr Metzendorfer, der Verteidiger.“ 102
Brumerus lächelte und zog eine Braue hoch, gab jedoch dem Anwalt die Hand, wobei er sagte: „Eine schwierige Aufgabe. Übrigens sind Sie mir dem Namen nach bekannt.“ Der Zusammenprall unterblieb; denn Brumerus schien den Arzt nicht zu sehen, er stieß die Pforte auf und sagte in einem Ton, als lüde er zu einer Party ein: „Ich gehe voran, ich bin ja hier zu Hause!“ Erst als sie in jenem Räume standen und Griessbühl das Tuch von dem Antlitz des Toten zog, als sie stumm und beinahe andächtig wie eine Trauergemeinde an der Tür versammelt waren, sagte Brumerus unvermittelt, so daß sogar Griessbühl fror, mit harter Stimme: „Das ist nun Ihr Werk, Herr Doktor. Finden Sie, daß sich das lohnt, Sie, ein Arzt?“ Marahn atmete tief auf, es hörte sich an wie ein Schluchzen. Er schwieg. Er hob den Kopf nicht. Daraufhin fügte Brumerus noch hinzu: „Na ja!“
5. Groll zerstörte diese Stimmung, indem er zu dem Erschossenen ging, hinunter auf das Gesicht sah, dann zur Tür hin, wo die anderen stehengeblieben waren, und sagte: „Wenn Sie so freundlich wären, Herr Brumerus? Sie müssen sich den Toten ja ansehn!“ „Nicht gern“, erwiderte der. „Aber wenn Sie wollen, Kommissar“, dabei ging er bereits durch den Raum, „tu’ ich Ihnen den Gefallen. Ich kenne jedoch den Mann nicht.“ Jetzt stand er unmittelbar vor dem Toten. „Das hab’ ich schon von der Tür aus gesehen! Scheußlich, wahrhaftig! Man möchte nicht glauben, daß ein Mensch einer solchen Tat fähig ist!“ 103
Er schien zu dem Kommissar zu sprechen, aber der fühlte sehr wohl, daß diese Worte für Marahn bestimmt waren. „Indessen“, fuhr Brumerus fort, „gibt es ja noch Schlimmeres. Sexualmorde beispielsweise sollen manchmal geradezu bestialisch ausgeführt werden?“ Er beendete den Satz wie eine Frage und sah dabei Groll an. „Ja, ja“, sagte der beiläufig und rieb mit der platten Hand den nackten Schädel, wandte sich zu Griessbühl und ordnete an: „Decken Sie ihn wieder zu.“ Während das geschah, fragte er Brumerus: „Nichts zu machen?“ „Nichts!“ sagte der bestimmt, zögerte und setzte hinzu: „Allerdings, wie ein Einbrecher sieht er nun auch wieder nicht aus, da muß ich mich korrigieren, da muß ich Ihnen recht geben.“ Er hob wie bedauernd die Hände. „Finden Sie heraus, wie der Mensch hier hereingekommen ist, und vor allem: Warum! Und dann eine herzliche Bitte: Lassen Sie die Leiche wegschaffen, so bald wie möglich! Ich möchte meinen Bungalow ja wieder benutzen können!“ Hart, dachte Griessbühl, sehr hart für den Marahn, und hörte den Kommissar erwidern: „Selbstredend! Ich habe schon angeordnet, daß die Leiche seziert wird. Vielleicht finden wir Anhaltspunkte, ich glaub’s zwar nicht, und es ist eigentlich auch nicht nötig. Aber lassen wir das Routinekarussell ruhig fahren!“ Er war an den Tisch getreten und hatte das Buch aufgenommen, das er sich bei seinem ersten Besuch bereits angesehen hatte, hob es hoch und sagte leichthin: „Wohl übersetzt von Herrn Bröseltau?“ Griessbühl hörte den Anwalt drüben an der Tür sagen: „Laß uns vor der Tür warten, Walter!“ und hörte Brume104
rus dicht neben sich verblüfft antworten: „Nein! Wie kommen Sie darauf?“ „Ach, ich dachte!“ sagte der Kommissar, blickte noch einmal durch den Raum und forderte Brumerus und Griessbühl auf: „Also schauen wir uns draußen noch einmal um.“ Erst als sie – nahe bei dem Anwalt und Marahn – in der Tür standen, nahm er das Thema wieder auf und fragte Brumerus: „Wohl ein berühmter Autor? Nabokov: Lolita – und bei Rowohlt erschienen, im Impressum habe ich gelesen: vierte Auflage! Das ist ja beachtlich!“ „Ach“, erwiderte Brumerus, und wieder spürte Griessbühl, daß die Antwort nicht für Groll, sondern für den Arzt bestimmt war, „ich lese solches Zeug nicht. Ich liebe härtere Kost. So etwas bevorzugen Damen. Deshalb liegt es hier.“ Griessbühl stopfte die Fäuste fester in die Taschen seines Wildledermantels. Er sah zu Marahn hinüber. Das, was Brumerus sagte, mußte für den bitterer sein als ein verächtliches Wort, an ihn selbst gerichtet. Doch Marahn schwieg. Marahn nahm es hin.
6. Sie stapften um das Haus herum. An den nackten Ästen der Bäume hingen die schweren Glastropfen des Regens immer noch. Die Luft fröstelte. Der Boden war feucht und weich. Griessbühl bemerkte erstaunt, daß Metzendorfer sich von Marahn entfernte und wie unbeabsichtigt an die Seite von Brumerus schob. „Ein merkwürdiger Fall“, hörte er ihn sagen. „Ach was, ein einfacher Mord!“ erwiderte Brumerus. 105
„Ich werde auf Totschlag plädieren“, sagte Metzendorfer. „Ich könnte mir vorstellen, daß Marahn außer sich war.“ Brumerus sah ihn von der Seite her an. „Außer sich?“ fragte er kühl. „Aber lieber Herr Metzendorfer, warum ist er dann nicht schon vor drei Jahren außer sich gewesen oder vor zweien? So lange dauerte die Affäre doch schon! Wenn er wirklich außer sich sein sollte, dann nicht ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als sich der Knoten zu lösen begann!“ „Wie man’s nimmt!“ wich der Anwalt aus. Brumerus lächelte leicht und sagte verbindlich: „Im übrigen verstehe ich Sie! Jeder gute Anwalt bemüht sich, seinen Mandanten zu entlasten!“ Er schien ein paar Augenblicke lang zu überlegen. „Ich selbst“, fügte er hinzu, „werde Ihnen dabei nichts in den Weg legen. Mir ist es gleichgültig, wieviel Jahre Marahn hinter Gittern sitzt, meinetwegen könnte er sogar freigesprochen werden.“ Jetzt sah Metzendorf er ihn an, wie es Griessbühl schien: gespannt. „Ich könnte sogar auf Ihre Linie einschwenken“, sagte Brumerus, fuhr sich mit der Hand um das Kinn und sprach jetzt sehr leise, „unter einer Bedingung allerdings: Daß Sie alles tun, um die Erörterung gewisser, nun, Intimitäten zu unterbinden! Wenn wir uns darin einig sind … Ja, ich könnte Sie, glaube ich, unterstützen. Ich will nicht durch die Presse gezogen werden, das ist doch verständlich!“ „Darüber läßt sich reden“, erwiderte der Anwalt genauso leise. „Ich bin kein heuriger Hase“, hörte Griessbühl Brumerus sagen. „Ich weiß also, daß es dem Gericht auf das Gemüt schlagen wird, wenn Sie von dem betrogenen Ehemann sprechen oder von einer jungen Frau, die ihre 106
große Liebe und Leidenschaft einem Unwürdigen dargebracht hat.“ Brumerus verstummte, sie stapften langsam über den feuchten lehmigen Boden. Brumerus sah sich vorsichtig um, dann fuhr er fort: „Aber dies alles kann man dem Richter vor der Verhandlung beibringen, man kann ihm die Situation auch von meiner Seite aus menschlich verständlich machen, der gehetzte Manager, der einfach einmal ausspannen muß und dergleichen mehr. Warum sollte das coram publico geschehen?“ Der Anwalt erwiderte: „Wir werden das heute nicht endgültig besprechen können, Herr Brumerus; ich bin immer zu Kompromissen bereit. Meistens bekommt das beiden Parteien am besten. Ich müßte Sie allerdings bitten, mich zu besuchen. Mein Wagen ist hier in Reparatur, und ich habe vorhin die dumme Nachricht erhalten, daß die Werkstatt einige Zeit braucht, um ihn wieder flottzumachen. Ja. Und ohne Wagen ist man nur ein halber Mensch!“ „Selbstredend kann ich das tun. Vielleicht kommen Sie auch später zu mir“, hörte Griessbühl, und nach einer Pause, in der nur ein leises Schmatzen der Schritte im saugenden Boden vernehmbar war: „Aber wie kommen Sie jetzt von Berneck nach Bayreuth?“ Metzendorfer zuckte die Schultern. „Irgendwann abends oder nachts soll ein Zug gehen.“ „Aber was“, entrüstete sich Brumerus, „dann fahren Sie mit mir! Ich nehme Sie gern mit! Und wir wollen uns doch beide hier nicht länger als unbedingt notwendig aufhalten!“ „Sehr freundlich von Ihnen“, sagte der Anwalt. „Ich habe morgen früh eine Verhandlung, ich muß mir noch die Akten zu Gemüte führen.“ 107
„Das ist selbstverständlich“, meinte Brumerus, und dann schwiegen sie. Wenig später standen sie alle vor der Garage, die Köpfe waren gesenkt, die Augen suchten die Spuren der Räder ab. Diese Spuren waren kaum mehr erkennbar. Griessbühl öffnete noch einmal das Garagentor, er blickte hinein; er seufzte. „Ich möchte wissen“, sagte Groll, „wie der Mann hierhergelangt ist! Kann ja nicht mit einem Wagen gekommen sein, sonst wäre der doch da!“ „Herr Kommissar“, sagte Brumerus beinahe mitleidig, „der Mann konnte doch nicht in die Garage, denn ich habe die Schlüssel! Wenn er mit einem Wagen gekommen sein soll, dann hat er ihn an der Straße geparkt, da bin ich sicher. Ich möchte wetten, wenn Sie Untersuchungen anstellen lassen, können Sie nur die Profile von meinen eigenen Reifen feststellen!“ Groll bückte sich, griff in das Erdreich, rieb es gedankenverloren, richtete sich schwerfällig wieder auf, wischte die beschmutzten Finger ab. Groll sah Brumerus an und sagte: „Sie haben recht. Unzweifelhaft. Wahrscheinlich ist der Unbekannte mit der Bahn gekommen oder mit dem Autobus. Möglich auch, daß ihn jemand hergebracht hat, vor der Pforte draußen hielt und dann weitergefahren ist.“ Er seufzte. Er bewegte sich langsam auf den Kiesweg zu, und die anderen folgten ihm. Dabei sagte Groll: „Wir müssen die Identität des Toten feststellen. Sonst kommen wir überhaupt nicht weiter.“
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7. Griessbühl sah durch das Fenster des Kommissariats. Drunten auf der Straße setzte sich der Borgward Isabella lautlos in Bewegung, unmerklich steigerte er die Geschwindigkeit. Der Assistent nickte seinem Traumwagen zu. Metzendorfer war nur noch einmal für ein paar Minuten mit heraufgekommen. Er hatte zu Marahn gesagt: „Im Augenblick kann ich nichts für dich tun. Aber ich übernehme deinen Fall. Und ich werde mich um Margit kümmern.“ Er hatte eine Pause gemacht und leise hinzugefügt: „Jeder Tag Untersuchungshaft geht von der Strafhaft ab, so mußt du das betrachten.“ Marahn hatte nicht geantwortet, hatte den Anwalt nicht einmal angesehen, hielt den Kopf gesenkt. Metzendorfer hatte lautlos geseufzt und sich dann an Groll gewandt: „Könnte ich die Durchschläge der Protokolle von Doktor Marahn und Herrn Brumerus haben?“ und hinzugefügt, als der Kommissar zögerte: „Machen Sie’s mir leicht! Sonst kann ich die Sachen doch nur beim Untersuchungsrichter einsehen, und ich möchte mich jetzt bereits mit dem Fall beschäftigen.“ Der Kommissar rieb seinen nackten Schädel. Er verzog das Gesicht zu einer bedenklichen Grimasse. „Ich weiß“, lenkte der Anwalt ein, „Sie dürfen es nicht. Aber ich versichere Ihnen, daß ich davon keinen Gebrauch machen werde. Es wäre nur eine freundschaftliche Geste von Ihnen!“ Groll sah Metzendorfer an, als wollte er erwidern: Seit wann sind wir Freunde?, und seufzte. Trotzdem hatte er gesagt: „Kommen Sie mit hinauf!“ In dem staubgrauen Zimmer hatte er in den Papieren gewühlt, und den Kopf gesenkt, hatte er zu Metzendorfer gesagt: „Ich kann Ihre Gefühle begreifen, ich kann Sie 109
verstehen, ein guter Freund, und nun das. Man will ihn heraushauen. Und die Frau! Wer kümmert sich um sie? Sie wird hier wegziehen müssen, sie kann sich in Berneck nicht halten, jeder wird ihr nachsehen und sagen oder denken: Ach, das ist die, die mit zweien abwechselnd im Bett gelegen hat, ach, das ist die, um derentwillen einer erschossen wurde! Ekelhaft. Aber da können Sie mit der besten Verteidigung nicht viel retten. Alles, was herauskommen könnte – und da müßten Sie viel Glück haben –, wäre: Totschlag an einem Unbekannten. Oder sagen wir: an einem vorerst Unbekannten.“ Er hatte so leise gemurmelt, daß ihn Marahn, der dicht am Fenster saß, nicht verstehen konnte. Er hätte auch laut sprechen können, denn Marahn schien das, was um ihn her vorging, nicht mehr wahrzunehmen. Metzendorfer hatte als Antwort nur leise geseufzt; es war ein deutliches Zeichen dafür, daß er wußte, wie schlecht die Sache Marahn stand. Während Groll dem Anwalt die wenigen Blätter aushändigte, saß drunten – Griessbühl beobachtete das durch das Fenster – Brumerus in aller Ruhe in seinem Borgward Isabella und spielte ein wenig mit dem Lenkrad. Dieser Mann schien durch nichts berührt werden zu können. Er blieb gelassen, er blieb überlegen, und er schien die Frau, um derentwillen sich die Tragödie abgespielt hatte, vergessen zu haben. Sie war bei ihm bereits – wie er als Kaufmann möglicherweise zu sagen pflegte – abgeschrieben. Ihr Wohl und Wehe, ihre Liebe oder ihr Schmerz gingen ihn nichts mehr an, er hatte sie in seinem Hirn registriert als „gewesen“, er hatte sie in die Reihe jener Frauen gestellt, die in seinem Leben ihre kleinen und für ihn angenehmen Rollen gespielt hatten. Nun war der Vorhang zugezogen, die Bühne wurde umdekoriert, 110
die neue Hauptdarstellerin hatte sich – für ihn – geschminkt, den Text, der zu sprechen war, kannte er auswendig, aus einem neuen verlockenden Munde hörte er sich jedoch immer wieder angenehm an. Er würde ihr „Lolita“ zu lesen geben, drüben im Bungalow, wenn die Leiche weggeschafft war – das würde noch heute geschehen –, und er würde daran denken, die Presse zu beruhigen, keine anstößigen Sensationen aufkommen zu lassen. Er benötigte ein gutes Image bei den Auftraggebern, die bestechlich waren, privat und verständlicherweise durch das, was man die ‚öffentliche Meinung‘ nannte und was durch die ‚Bild‘-Zeitung repräsentiert wurde. Griessbühl ahnte die Gedanken des kraftvollen Mannes am Steuer, zu dem jetzt der Anwalt einstieg. Sie unterhielten sich. Griessbühl überlegte, ob der Anwalt den Arzt gut beraten werde. Mochte er dessen Freund sein, gewesen sein – man konnte nicht wissen, welche neuen und lukrativen Verbindungen sich aus diesem Autobahngespräch ergeben würden. Griessbühl hörte, wie der Kommissar dem Inspektor Bifferli die notwendigen Anweisungen erteilte; aber er tat es in der Form von Vorschlägen, um den andern nicht zum Widerspruch zu reizen – er war eben doch ein Menschenkenner, der Groll! Bifferli gewann allmählich sein Selbstvertrauen wieder. Eigentlich war alles gut gegangen, Berneck hatte seine Sensation gehabt, Doktor Marahn würde man vergessen müssen, das war peinlich für den Patienten Bifferli; aber die Frau, die derart ins Gerede gekommen war, würde die kleine Villa verkaufen, ein anderer Arzt würde sich niederlassen, würde die Praxis Marahns überneh111
men, und Bifferli würde auch bei dem anderen geduldiges Gehör finden. Im übrigen konnte er alles Unangenehme, was vielleicht noch von oben her drohte, leicht ablenken: Groll war verantwortlich, er würde immer wieder darauf hinweisen, daß er selbst nur Handlanger gewesen wäre, ja, wenn Groll ihn nur hätte machen lassen, dann … So fing er sich allmählich; es wurde ihm klar, welche gewichtige Rolle er auch noch in den folgenden Tagen spielen konnte und mit wie vielen diffizilen Fragen er von Freunden und Bekannten bestürmt werden würde, auf die er im Hinblick auf seine Schweigepflicht nicht antworten würde, keine Silbe würde er verraten, Donnerwetter!
8. Am Fenster einer Villa, sanft an den Berg gelehnt, stand eine Frau und schaute hinaus. Sie sah über die trübe, braune, nasse Wiese hinweg auf den Weg drunten, den sie so oft entlanggefahren, der ihr so vertraut war. Die Nebelfetzen waren höher getrieben worden, sie hatten sich an den Bergkuppen festgehakt und wurden von einem ungemütlichen Wind gebläht und gezerrt und hingen waagerecht weggeweht wie schmutzige Gazeschleier. Hoch über ihnen war der Himmel mit einem gleichmäßigen Grau bedeckt. Mit einer scheußlichen Zementglocke war dieser Teil der Erde eingemauert, jeder Blick zerbrach daran. Nur an einer Stelle zeigte der Zement eine silbrige Verfärbung, dort mußte die Sonne stehen. 112
Margit Marahn dachte daran, daß sie dieses Daheim würde aufgeben müssen. Das war ihr klar. Sie wußte auch, daß ihr Mann verurteilt werden würde. Er würde von ihr getrennt sein, wie lange, wußte sie nicht. Metzendorfer hatte auf diese Frage mit den Schultern gezuckt und beiseite gesehen. Sie versuchte, sich die Gedanken des Richters vorzustellen, der diesen Fall zu beurteilen haben würde; sie gestand sich, daß sie nicht milde verfahren würde. Es war ihr klar, daß sie sich würde scheiden lassen können; aber das wollte sie nicht. Sie bemühte sich, sich nichts vorzumachen; sie war jung, Männer würden sich um sie bewerben, mochte es sein, daß sie dem oder jenem nachgeben würde; aber gehören wollte sie ihrem Mann. Er hatte so viel um sie gelitten und geduldet, er hatte etwas Wahnwitziges getan, aber er hatte es für sie getan; kein anderer Mensch würde sich um ihretwillen in eine solche Gefahr begeben, würde ein solches Opfer zu bringen bereit sein, und daran änderte nichts, daß die Tat verwerflich und im tiefsten Grunde sinnlos war. Sie sah den Borgward Isabella auf den Straßen entlanggleiten, und sie fror. Ihr war zumute, als führen Jahre ihres Lebens einfach vorbei, davon, Jahre, die sie verspielt hatte, nicht nur drei vergangene Jahre, sondern auch eine unbestimmte Anzahl von Jahren in die Zukunft hinein. Sie beugte sich etwas vor; sie bemerkte an der Seite von Brumerus den rothaarigen Freund ihres Mannes. Die beiden sahen nicht herüber, sie schienen sich zu unterhalten. Es war alles so unwirklich: Der Mann am Steuer war erschossen worden, daran hatte sie geglaubt, und nun saß er unverletzt und möglicherweise unverletzlich dort, ent113
glitt ihren Augen und plauderte und würde noch viele Jahre plaudern, mit wem auch immer, würde Geschäftsabschlüsse tätigen, würde der Geliebten etwas ins Ohr raunen, würde mit munteren und witzigen Erzählungen eine Gesellschaft amüsieren. Aber er glitt weg von ihr, in wenigen Sekunden würde sie seinen Wagen nicht mehr sehen. Sie wunderte sich nicht darüber, daß Metzendorfer mitfuhr. Es befremdete sie lediglich, daß die beiden diesem Hause keinen Blick schenkten, sondern sich miteinander unterhielten, als wäre das andere überhaupt nicht geschehen, als hätte es keinen Mord gegeben, mit dem der eine und der andere so oder so zu tun hatte. Sie blieb reglos am Fenster stehen. Die Tür des Zimmers wurde geöffnet; sie hörte die befangenen Schritte der Haushälterin, die seit heute früh ratlos im Hause herumgelaufen war wie ein verscheuchtes Huhn. Sie hörte eine Stimme fragen: „Gnädige Frau, wie soll ich es heute mit dem Abendbrot halten? Welche der Herrschaften essen bei uns?“ Es schien ihr ganz natürlich, daß sie darauf nicht antwortete, nicht antworten konnte und daß sich nach einer Pause die Tür wieder schloß. Irgendwo in ihrem Unterbewußtsein sah sie ganz blaß das Bild der gutmütigen, korpulenten und häßlichen Frau, sah, wie sie sich in die Küche zurückschlich, wie sie dort den Herd ansah und den Kopf schüttelte und nicht wußte, was tun. Aber dieses Bild drang nicht durch, verursachte keine Bewegung, kein Wort, keine Handlung; sie erschien sich selbst wie eingeschlossen in eine steinerne Kruste aus Schmerz und Ratlosigkeit, die sich seit gestern abend allmählich gebildet hatte und die immer stärker und fester zu werden schien. 114
Sie konnte gar nicht anders, als reglos am Fenster zu stehen, auf die Straße hinüberzustarren und auf etwas zu warten. Worauf, wüßte sie selbst nicht. Jedenfalls nahm sie das Pferdefuhrwerk nicht wahr, nicht den mit irgend etwas hoch behäuften grauen Bretterwagen, nicht die grämliche Silhouette des Mannes auf dem Kutschbock, nicht die leise klappernden Hufe des talab trabenden Pferdchens. Als die Sonne sank, stand sie immer noch da. In den Talmulden hatten sich bereits dünne Grauseen von Nebel gebildet, die dort umherschwammen, und auch unter jedem der naß hinfaulenden Grasbüschel des Rasens vorm Haus nistete zaghaftes Grau. Aber das würde zusammenwachsen, und es würde eine jener Nebelnächte werden, in denen Trostlosigkeit wie Schimmelpilze wucherte. Sie lehnte die Stirn an die kühle Fensterscheibe, als könnte sie so deutlicher sehen: Aus Berneck herauf klapperte das bunte Auto des Assistenten, der das Standlicht bereits eingeschaltet hatte. Sie hoffte so sehr, es würde vor der Gartenpforte halten! Aber es schepperte vorüber. Es zögerte nicht einmal, und ihr Mann, der auf dem hinteren Sitz kauerte, wandte nicht den Kopf. Als das heftige Gefährt verschwunden war, löste sich endlich die Erstarrung. Sie ging langsam bis zur Tür, die in den Garten führte, und öffnete sie. Dort blieb sie stehen und sah über die Landschaft hin, die sich mehr und mehr umdunstete. Sie trat vor das Haus und blickte nach rechts und nach links, als wäre ihr alles fremd und sie sähe es zum ersten Male; aber vermutlich war das nur deshalb so, weil sie nicht nur ahnte, sondern wußte, daß sie dies würde aufgeben müssen. 115
Dabei entdeckte sie den gelben Opel Rekord, dessen Lack von der Feuchtigkeit mit winzigen Perlen überzogen war, und auch die Scheiben trugen einen undurchsichtigen Belag. Sie ging zu dem Wagen hinüber, schob den Riegel aus der Garagentür und öffnete sie weit. Sie setzte sich in den Wagen, ließ den Motor an und betätigte die Scheibenwischer, die einen hastigen Halbkreis in den Belag schlugen. So saß sie lange, ruhig und wie nachdenklich, obwohl sie nicht denken konnte. Sie hatte den Führerschein; aber bisher war sie kaum selbst gefahren, sie war zu ängstlich dazu. Es war ihr weit angenehmer, an der Seite eines gewandten Lenkers über die Straßen zu gleiten. Endlich schob sie den ersten Gang hinein und setzte langsam den Wagen in Bewegung. In der Garage schaltete sie die Scheinwerfer an, auch ihr Mann hatte das stets getan, und sie fuhr weiter, bis die Lichtflecke an der hinteren Garagenwand klein waren. Später ließ sie das unverwechselbare Geräusch, das beim Zuwerfen des Schlags entstand, aufhorchen. Während sie an dem gelben Wagen entlangging, den ihr Mann so sehr gemocht hatte, wurde ihr bewußt, daß dieser Wagen veraltet und verrottet sein würde, wenn sein Fahrer wieder zurückkehrte. Sie krümmte sich über den Kofferraum, als hätte sie Magenkrampf, und weinte haltlos.
9. Niemand hätte den beiden Wagen, dem kapriziösen Borgward Isabella und dem bunten exzentrischen Flickenteppich Griessbühls, angesehen, daß die Insassen mit einem Mord oder zumindest mit einem Totschlag zu tun hatten. Beide Autos fuhren mit hohem 116
Tempo von Berneck auf die Autobahn Richtung München zu; schon schwappten da und dort aus den Niederungen dünne Nebelfladen über die Straße, und die Wagen wollten ihnen entkommen, bevor das Grau undurchsichtig in die Scheinwerfer wucherte. „Eigentlich“, sagte Brumerus lässig, „kommt es mir gelegen, daß Sie heute auf mich angewiesen sind!“ Dabei lächelte er zu dem Anwalt hinüber. Metzendorfer blickte ihn fragend an. „Sehen Sie“, sagte Brumerus und schaute wieder geradeaus, „es wäre mir unlieb gewesen, hätte ich wegen der Ungeschicklichkeit dieses Kommissars Lärm schlagen müssen! Wo Lärm ist, sammeln sich Menschen, Menschen sind neugierig. Es werden Privatangelegenheiten an die Öffentlichkeit gezerrt. Niemandem ist damit gedient. Lediglich die Sensationslust wird befriedigt.“ Er sah kurz zu dem Anwalt hinüber und fuhr fort: „Im Augenblick bin nicht mehr ich die Sensation als ein Ermordeter, ist nicht mehr das Verhältnis zwischen Frau Margit und ihrem Mann Sensation“ – der Anwalt bemerkte sehr gut, daß Brumerus sich selbst bei diesem Gespräch unter vier Augen aus der Sache auszuklammern wünschte –, „sondern die Tatsache, daß ein Unbekannter und ein auf jeden Fall Unschuldiger der Kugel zum Opfer gefallen ist. Man kann leicht“, er lenkte den Wagen spielerisch nach links, um einen alten Mercedes zu überholen, „die Aufmerksamkeit der Presse auf die Frage konzentrieren: Wer ist der Tote?“ Er lenkte den Wagen ebenso nach rechts zurück und fügte hinzu: „Sofern wir beide in die gleiche Kerbe schlagen.“ Metzendorfer wollte sich vergewissern. Er sagte in fragendem Ton: „Immerhin hat Marahn auf Sie gezielt – oder wie?“ 117
Schon redete Brumerus wieder: „Aber glauben Sie mir, ich hege da keine Rachegefühle. Wenn es auf mich ankäme, könnte man Marahn frei herumlaufen lassen! Warum denn auch nicht! Auf mich würde er nicht mehr schießen, auf jemand anderen auch nicht, und daß er gegen seinen Willen einen ermordet hat, der nun weiß Gott nichts in meinem Bungalow zu suchen hatte – tja, darüber kann man doch verschiedener Meinung sein! Wieso hat sich der Mensch da herumgetrieben? Was wollte er überhaupt dort? Freundliche Absichten hat er sicherlich nicht gehabt! Ich könnte mir vorstellen, daß auch ich auf ihn geschossen hätte, wäre ich dort gewesen.“ Vorsichtig lenkte Brumerus den Wagen in die Auffahrt zur Autobahn. Metzendorfer seufzte. Er fühlte sich plötzlich erleichtert: Es würde seinem Plädoyer außerordentlich zugute kommen, wenn er nicht gezwungen war, Brumerus als den schlechthin bösen Menschen hinzustellen, der Marahn bis aufs Blut gereizt hätte; denn er wußte, Richter wie Geschworene würden sich sofort fragen: Warum hat denn Marahn nicht vor drei Jahren geschossen, warum hat er so lange gewartet? Wenn aber Brumerus eine sachliche Aussage machte, möglicherweise einiges Verständnis für die Tat zeigte, schließlich vielleicht sogar darauf hinwies, daß ein vermutlich Krimineller dem Anschlag zum Opfer gefallen sei, dann ließen sich die Sympathien zu Marahn hinspielen, zumal der einen gebrochenen Eindruck machte. Möglicherweise, erwog der Anwalt, hatte dieser Einbrecher, oder was immer er gewesen sein mochte, Marahn sogar durch irgendeine Handlung erschreckt, war irgendwie zum Angriff übergegangen, vielleicht hatte Marahn das nur deshalb verschwiegen und nicht zu 118
Protokoll gegeben, weil er zunächst der festen Überzeugung gewesen war, Brumerus erschossen zu haben. Na, er würde mit seinem Freunde darüber noch ausführlich sprechen, sobald die Sache beim Untersuchungsrichter gelandet war. Jedenfalls erwies sich seine Panne als nützlich für Marahn und seine Verteidigung. Er lächelte ins Ungewisse hinein und antwortete Brumerus: „Ich glaube auch, es liegt in allseitigem Interesse, den Fall nicht unnötig aufzubauschen. Was mir möglich ist, werde ich jedenfalls tun.“ Brumerus nickte und widmete seine Aufmerksamkeit der Autobahn. Er hatte den Borgward bis auf 130 beschleunigt. „Ein wunderbarer Wagen“, sagte der Anwalt, „ein geschmeidiger Wagen, könnte man sagen!“ Brumerus blickte weiter geradeaus. Er sagte: „Das Anzugsvermögen ist großartig. Freilich, er hat seine Mucken. Der Motor ist immer noch anfällig. Aber wenn man anfangs peinlich die Durchsichten beachtet, kann eigentlich auch nicht viel passieren, und ich bin da sehr genau!“ Brumerus lenkte den Wagen elegant über die Autobahnüberfahrt, nahm das Gas weg und bog dann zu der Tankstelle ein, an der Metzendorfer nachts zuvor nach seinem Geld gegründelt hatte. Dabei bemerkte Brumerus noch: „Ich hab’ gestern erst wieder die große Durchsicht machen lassen. Ich benutze immer den gleichen Service, dicht bei meiner Wohnung. Nur als Stammkunde kann man sich einigermaßen darauf verlassen, was die Brüder wirklich machen!“ Er kurbelte das Seitenfenster herunter. Metzendorfer dachte: Mit meinem Auto ist nicht mehr viel los, schob die Unterlippe vor und erwog, als 119
nächsten Wagen sich ebenfalls einen Borgward Isabella zuzulegen. Da stand bereits der Tankwart, grüßte höflich und sagte: „Schon wieder da, Herr Brumerus? Das ging ja schnell! Was soll’s denn sein?“ „Voll!“ antwortete Brumerus. „Wie immer!“ Der Tankwart verschwand. Brumerus öffnete den Schlag, und während er sich hinausschob, sagte er: „Der Mann kennt mich! Ich hab’ stets hier getankt, wenn ich nach Berneck fuhr, eine bequeme Sache. Heute morgen war ich auch hier.“ Metzendorfer, den der Borgward Isabella immer stärker zu verlocken begann, beugte sich nach links hinüber, um das Armaturenbrett näher zu betrachten. Er stützte sich mit der Hand auf den Fahrersitz, wobei er gleichzeitig wohlwollend die Federung prüfte, und tippte mit dem rechten Zeigefinger hierhin und dahin, neigte prüfend und wägend den Kopf nach rechts oder links, erprobte schließlich sogar mit leichtem Fingerdruck den Schalthebel. Er fragte sich, wieviel Kilometer der Wagen wohl gelaufen sein möge, und nickte zufrieden, als er vom Tachometer 13 017 ablas. In diesem Augenblick schreckte er aus seiner Verträumtheit auf, weil der Wagen plötzlich leise zu schaukeln begann; er drehte sich um und sah, daß Brumerus mehrere Male leicht auf das Heck drückte, einer alten Gewohnheit von Kraftfahrern folgend, die ihren Tank gern randvoll wissen. Metzendorfer rückte sich wieder auf seinem Sitz zurück und sah durch den linken Seitenspiegel, wie Brumerus achtzehn Liter Sprit bezahlte. Dann ließ sich Brumerus auf seinen Sitz fallen, zog den Schlag zu. Auch dieses Geräusch gefiel Metzendorfer. 120
Es klang ihm angenehm, irgendwie füllig und wohlhabend. Der Motor lief lautlos, Brumerus schob den Gang ein. Der Tankwart, der aufmerksam neben den Schlag getreten war, lächelte erfreut über Brumerus’ spendable Laune, neigte sich vor und fragte in den Wagen: „Luft, Herr Brumerus?“ Der antwortete, während er den Wagen anlaufen ließ: „Danke! Habe alle Verschlußkappen!“, zeigte Metzendorfer, welche Kraft in dem Motor saß, und bemerkte, während er behutsam wieder in die Autobahn hineinschlenderte: „Versteht mich schon, der Gute!“ Er setzte hinzu: „Ich bringe Sie wohl am besten über den Zubringer Ost nach Bayreuth?“ „Sehr freundlich!“ erwiderte Metzendorfer und fügte gedankenverloren hinzu: „Wissen Sie, Herr Brumerus, ich werde wohl auch einen Isabella kaufen!“ Brumerus lächelte breit, nickte kurz und sagte: „Glauben Sie mir, Herr Metzendorfer, wenn ich etwas besitze, dann können Sie darauf vertrauen, daß es Qualität hat.“ Er drückte den Gashebel, schob überlegend das Kinn vor und sagte mit trägem Aufschlag der Augenlider: „Wie Frau Marahn auch!“ Metzendorfer kniff die schmalen Lippen und erwiderte darauf nichts, so daß die Fahrt bis nach Bayreuth hinein schweigend verlief.
10. Das gleiche Schweigen herrschte in dem bunten Flickenteppich Griessbühls. Zwar hätte der Assistent manches mit Groll besprechen und erwägen mögen; aber er war sich bewußt, daß hinter ihnen Doktor Marahn saß, immer in der gleichen Stellung, vorgebeugt, 121
die Ellenbogen auf den Knien, das Gesicht in den Händen verborgen, ein gezeichnetes Gesicht. Möglicherweise hätte Marahn überhaupt nicht gehört, was die beiden Kriminalisten zu besprechen hatten, möglicherweise waren seine Gedanken so weit fort, daß er von seiner Umgebung überhaupt nichts bemerkte. Indessen, so meinte Griessbühl, konnte ein einziges unbedachtes Wort ihn wachrütteln, ihm zum Lauscher machen, und das wollte er vermeiden. So saß er stumm über das Lenkrad gebeugt, sah die Autobahn in den Wagen hineinlaufen, grau und grau und grau, und nur manchmal unterbrochen durch die Tümpel und Lachen des Nebels, der sich allmählich zu sammeln begann, der aus den Niederungen herüberrann wie Wasserfäden in einen Teich. Die Umleitung war verschwunden, Griessbühl bemerkte es mit Genugtuung. Er brauchte die Geschwindigkeit nicht zu verringern. Verstohlen sah er zu dem Kommissar hinüber; Groll schien eingenickt zu sein. Der Kopf war nach vorn gesunken, die faltigen Lider waren über die großen Augäpfel gezogen. Unwillkürlich dachte Griessbühl: Wenn den ein Herzschlag getroffen hätte und den anderen auch … Eine Leichenfuhre! Und sofort ärgerte er sich über solche unziemlichen Gedanken. Es wurde kein Wort gewechselt, bis sie Nürnberg erreichten; da begann schon die Nacht. In dem Licht, das von der Seite her in den Wagen hereinschlug, sah Griessbühl, wie Groll den Kopf hob und sich eine straffe Haltung gab. Auch dann dauerte es noch einige Zeit, bevor er sprach, und er richtete seine Worte 122
nicht an den Assistenten, sondern an Doktor Marahn, freilich ohne sich umzudrehen. Er sagte, während der Lärm des Stadtverkehrs bereits tosend in ihre Ohren wogte, unüberhörbar laut: „Wir liefern Sie jetzt im Untersuchungsgefängnis ab, Herr Doktor Marahn. Es wird nicht lange dauern, bis der Untersuchungsrichter Sie hören will. Sie haben jetzt Gelegenheit, mit Ihrem Anwalt zu korrespondieren, Sie können ihn zu sich bitten. Unsere Aufgabe ist lediglich noch, den Abschlußbericht fertigzustellen.“ Eine wunderbare Aufgabe, dachte Griessbühl mißvergnügt und hörte – zu seinem Erstaunen – Marahn ebenso deutlich antworten: „Ich habe das verstanden, Herr Kommissar. Es ist gut.“ So geschah es denn auch; die Formalitäten wurden erledigt, Marahn eingeliefert, und dann fuhren Groll und sein Assistent ihrem Amt zu, beide müde, Griessbühl außerdem von einem wölfischen Hunger befallen, der ihn reizbar machte und insgeheim seinen Beruf verfluchen ließ. Er fuhr jetzt sehr langsam, seine Blicke glitten wachsam nach rechts und nach links, und plötzlich kam Bewegung in ihn: In der Herde parkender Wagen hatte er eine Lücke entdeckt, in die er triumphierend hineinglitt. Während er das tat, fragte Groll ironisch: „Gehört wohl auch zum Sozialprestige: Parklücken aufspüren?“ Griessbühl würdigte ihn keiner Antwort. Er verschwand mit stakenden Schritten. Als er zurückkehrte, trug er auf dem linken Unterarm ein riesiges Paket, das er sorglich auf dem Rücksitz verstaute. Der Kriminalkommissar sah schweigend zu, wie Griessbühl anfuhr, den Wagen rückwärts aus der Lücke bugsierte, eine Hand am Steuer, den Kopf nach hinten gewandt, akrobatisch beinahe: Diese Fähigkeiten moch123
ten der jungen Generation eigen sein, der nächsten würden sie schon ins Kindbett zugeboren werden, die übernächste würde sich in Raumanzügen so wohl fühlen wie er in seinem alten Lodenmantel; Groll kam sich aussichtslos veraltet vor. Er hustete scharf. Von dem Augenblick an, in dem Griessbühl das Paket besaß, fühlte er sich übermütig und tatenfroh; am Amt riß er dem Kriminalkommissar übertrieben höflich die Türen auf, sprang vor ihm dreistufenweise mit offenem flatterndem Wildledermantel die Treppen hinauf, wartete in den Stockwerken auf den Alten, der seinen massigen Körper nur langsam Stufe um Stufe herauf bewegte. In seinem Zimmer ließ sich der Kriminalkommissar zwar murrend aus seinem Loden helfen; aber den welligen Sombrero hängte er liebevoll selbst auf den Haken und dachte dabei, daß für solche Anhänglichkeiten auch alle diese Millionen junger Griessbühls kein Organ mehr hätten, dachte, ihre Verbundenheit ginge gerade noch so weit, daß sie aus ihrem alten Wagen die Fußmatte in den neuen schleiften, genausoviel wert, als wenn sie einer verstorbenen Geliebten eine Stirnlocke abschnitten, um sie der nächsten an die Schläfe zu heften – und wußte nicht, daß sein Assistent, der jetzt sorglich das weiße Paket auf seinem Schreibtisch auspackte, ihn tatsächlich auf eine kühle, spöttische Art verehrte. Das weiße Paket gab sein Geheimnis preis, einen Berg belegter Brötchen: roher Schinken, gekochter Schinken, Ei mit Sardelle, Salami, Schweizer Käse, Camembert, Leberpastete, Thunfisch, Lachs und Kaviar, verziert mit Radieschen, Tomatenscheiben, Petersilie, saurer Gurke, Paprika – eine leckere Fülle. Während Griessbühl den Kommissar mit gastgeberischer Geste einlud, kaute er selbst bereits werwolfhungrig und zufrieden. 124
In dem Augenblick bekam Groll selbst Appetit. Er lächelte wider Willen seinen Assistenten an. Er setzte sich in seinen Holzsessel, schob mit einer Handbewegung die Akten beiseite, die sich in dem einen Tag angesammelt hatten, kaute, ließ sich von Griessbühl eine der Steinguttassen bringen, nippte an dem widerlich kalten Rest des Kaffees und sagte: „Sie machen den Bericht, Griessbühl!“ Dessen gute Laune zerfiel zu Asche. Er antwortete: „Der Tote ist ein Unbekannter. Das können wir dem Untersuchungsrichter doch nicht unter die Nase reiben!“ „Die Fahndung“, erwiderte der Kommissar, „wird schon herausbringen, wer das ist. Da bin ich zuversichtlich. Irgendeiner kennt den schon und meldet sich, da sind die Leute zu sensationslüstern, um zu schweigen, da sind die Wichtigtuer, das kommt uns zugute.“ Er dachte nach, biß von dem Lachsschinkenbrötchen ab und bemerkte: „Ich hatte nicht den Eindruck, daß das ein Räuber und Mörder war, nicht mal ein Einbrecher.“ „Nee!“ sagte der Assistent entschieden. „Da fress’ ich einen Besen, den Typ kenn’ ich!“ Groll sah ihn mißbilligend an, schmeckte sein Brötchen und unterdrückte eine Rüge. „Bleibt die weitere Frage“, meinte Griessbühl, „wie kam der Mann in den Bungalow?“ „Durchs offene Fenster!“ antwortete Groll gelassen. „Nachschlüssel oder Dietrich wurden nicht gefunden, ein Schloß wurde nicht erbrochen, also vermuten Sie in Ihrem Bericht, daß er durch ein versehentlich offengelassenes Fenster einstieg.“ Er griff nach dem nächsten Brötchen. „Tatsächlich“, sagte er und sah Griessbühl listig an, „war ja der Rasen vor jenem Fenster ziemlich zertreten. Einzelne Spuren konnte man nicht mehr feststellen.“ 125
„Aber“, erwiderte der Assistent, „dort hat doch Marahn gestanden, als er schoß! Daher kam der zertretene Rasen!“ „Richtig“, meinte Groll, „aber warum war denn das Fenster überhaupt offen? Bei der scheußlichen Witterung – wozu? Kein vernünftiger Mensch macht da das Fenster auf! Und noch dazu ein Einbrecher, nehmen wir an! Nein, dieser Kaviar, alle Hochachtung, und nett garniert!“ Er drehte das Brötchen vor den Augen hin und her, sah wieder Griessbühl an und fuhr fort: „Nein, der Mann ist durch dieses Fenster eingestiegen, er ließ es offen, er wollte wieder dort hinaus, und von dort hat Marahn geschossen! Das leuchtet jedem Untersuchungsrichter ein!“ Griessbühl sah ihn skeptisch an. „Außerdem“, sagte der Kommissar und schluckte den letzten Bissen herunter, „wissen wir nichts Besseres.“ Griessbühl machte zu den Brötchen hin eine neue einladende Geste, aber Groll schüttelte den Kopf. Der Assistent fand keinen Grund, nicht seinerseits mächtig weiterzukauen, wobei Groll stumm darüber staunte, wieviel dieser junge Mann, um dessen Gestalt der Anzug schlotterte und dessen Teint so ungesund aussah, in sich hineinstopfen konnte. Griessbühl dachte nach, er legte die Stirn in dicke Querfalten, das nahm sich unter der Brecht-Frisur außerordentlich angestrengt aus. Schließlich meinte er: „Wieso ist aber der Bifferli so spät angerufen worden? Das war Stunden nach der Tat! Das muß man doch in dem Bericht begründen!“ „Erstens“, antwortete Groll, „wissen wir es nicht, und zweitens vertrauen Sie wenigstens einmal einem alten Hasen!“ Er beugte sich vor: „Zugegeben, Griessbühl, es 126
gibt da dunkle Punkte: Wer ist der Tote? Wie kam er nach Berneck? Was wollte er in dem Bungalow? Alles offene Fragen, gewiß!“ Er zuckte die Schultern und setzte sich wieder zurück, schlug sogar gemütlich ein Bein über das andere und sah dem jungen Mann zu, wie der weiter Brötchen in sich hineinstopfte. Dabei sagte er: „Für den Fall selbst ist das alles unerheblich. Auch der Untersuchungsrichter, auch der Staatsanwalt sind Routiniers, und sie sind die einzigen, die wir zufriedenstellen müssen, und das werden Sie mit diesem Bericht. Denn die offenen Fragen ändern nichts an der Sache. Hier geht es darum: Marahn hat geschossen, Marahn wollte töten, er gesteht das ein. Er gibt zu, eine automatische Walther, Kaliber sechs Komma fünfunddreißig, besessen und benutzt zu haben. Der Sektionsbefund wird morgen vorliegen, ich bin sicher, daß eine solche Pistole benutzt wurde. Gut, sie ist verschwunden, Marahn konnte uns darüber nichts sagen, die Beamten haben die Waffe nicht gefunden. Erklärung: Marahn hat sie in seiner Panik verloren oder weggeworfen, nicht alles Verlorene oder Weggeworfene ist wieder auffindbar. Möglicherweise hat sie ein Passant, ein Halbstarker vielleicht, entdeckt und an sich genommen. Nachdem Marahns Geständnis vorliegt, sind das alles sekundäre Dinge. Und wenn Marahn auch infolge widriger oder glücklicher Umstände – wie Sie wollen – den Falschen erwischt hat, juristische Frage ist nur noch: Mord oder Totschlag? Alles andere ist geklärt – und um den juristischen Kram darf der Anwalt kämpfen, und der scheint sich mit Brumerus ja schon abgestimmt zu haben. So!“ Er legte beide Hände flach auf die Tischplatte, beugte sich vor, reckte Griessbühl seinen mächtigen kahlen Schädel hin und 127
starrte ihn an. „Was wollen wir mehr?“ fragte er. „Die Zeiten, in denen sich Kriminalbeamte unnötigerweise strapazierten, die sind doch wohl vorbei! Auch wir sind Beamte, wir steigen planmäßig auf, große Chancen haben wir nicht, und Bürokratismus wird groß geschrieben. Nein, Griessbühl, wenn die Fahndung uns noch den Namen des Toten bringt, und das wird sie tun, dann sind alle zufriedengestellt, und der Untersuchungsrichter und der Staatsanwalt auch!“ Er gähnte mit weit offenem Munde, riß die Kiefer geradezu auseinander und deckte nur flüchtig die Hand davor; mit der anderen rieb er den massigen Schädel. Als er die Zeremonie beendet hatte, schielte er zu seinem Sombrero hinüber, entschloß sich aufzustehen, und während er langsam zu Hut und Mantel ging, meinte er beruhigend: „Haben Sie keine Angst, Griessbühl! Schreiben Sie unsern Bericht. Der Fall ist geklärt!“ Er fuhr in den Lodenmantel und rückte den Sombrero verzweifelt und liebevoll auf seinem Schädel zurecht. Griessbühl hatte die Brötchen verspeist. Er knüllte das Papier zusammen und warf es mit einem erleichterten Seufzer in den Papierkorb.
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FÜNFTES KAPITEL
1. Wer Sepp Metzendorfer, den rothaarigen Anwalt, zum ersten Male kennenlernte, hielt ihn für einen zerstreuten Sonderling, dem eine juristische Vertretung anzuvertrauen ein außerordentliches Risiko zu sein schien. Wie sollte ein Mann, der sich ständig in allen Dingen des Alltags irrte, der vergeßlich war und nicht selten nervös und fahrig, wie also sollte der erfolgreich eine Verteidigung aufbauen, bei der Zug um Zug sorgfältig und genau durchdacht werden mußte? Die flüchtigen Bekannten, die ihn so einschätzten, täuschten sich. Die Kollegen Metzendorfers, die Richter und Staatsanwälte auch, hatten ihn anders kennengelernt, sie würdigten in ihm den eleganten Redner, dessen Verteidigung auf profunder Sachkenntnis beruhte, sie bewunderten immer erneut sein erstaunliches Gedächtnis, das scheinbar nebensächliche Geschehnisse und Bemerkungen stumm aufspeicherte und erst dann parat hielt, wenn diese Nebensächlichkeiten sich als wichtige Beweismomente herausstellten, und sie lächelten nicht mehr über sein manchmal absonderliches Gehabe, weil ihnen klar war, daß seine Fahrigkeit, seine Vergeßlichkeit in vielen Umständen des Alltags einfach aus der 129
außerordentlichen Konzentration auf die Hauptsache resultierte. Am Abend des Tages, an dem Metzendorfer aus Bad Berneck, belastet mit jener heiklen Angelegenheit, zurückgekehrt war, prüfte er in seinem Büro die Termine, die er am folgenden Tage zu wahren hatte. Es war eine lange Liste, aber es handelte sich, wie er zufrieden feststellte, durchweg um Routinesachen. Er strich die dünnen roten Haare aus der Stirn, drückte den Summer und schob die Liste in die Mitte der Schreibtischplatte. Seine Sekretärin erschien, ein säuerliches, tantenhaftes Wesen, das er geradezu liebte, weil sie ihre Arbeit mit größter Gewissenhaftigkeit erledigte. Sie blieb stehen und sah ihn aufmerksam an. „Fräulein Große“, sagte er, „ich komme morgen nicht ins Büro. Ich habe da diese Sache Marahn, sie macht mir Kopfschmerzen. Ich muß eine Linie finden. Ich glaubte zuerst, das wäre einfach. Ich habe festgestellt, es ist nicht einfach.“ Sie antwortete nicht. Er fuhr freundlich fort: „Ich mußte, wie Sie wissen, meinen Wagen in Berneck lassen. Kann sein, daß ich mich entschließe, ihn morgen zu holen. Würden Sie die Freundlichkeit haben, alle Akten zu dieser Liste zusammenzutragen und sie meinem Vertreter zu übermitteln. Es sind Routinesachen, laufen sämtlich auf Vertagung hinaus. Er findet sich da schon zurecht.“ Er zögerte; was er nun zu sagen hatte, war ihm peinlich. „Und wenn Sie ihn bitte verständigen wollten, Sie wissen ja, er wird nicht sehr erfreut sein …“ Fräulein Große wußte das; der Vertreter würde immerhin Abend –, wenn nicht Nachtstunden opfern müssen, um 130
sich einen Überblick zu verschaffen; er pflegte zunächst heftig zu reagieren. Sie sagte: „Ich erledige das schon, Herr Metzendorfer!“ Er sah sie dankbar an. „Ich kann mich auf Sie verlassen, das ist schön!“ bemerkte er, und das galt ihr mehr, als wenn er ihr einen Strauß roter oder wenigstens gelber Rosen überreicht hätte. Wenig später saß Metzendorfer in seiner Wohnung. Er war Junggeselle geblieben. Frauen, fand er, waren anstrengend, sie würden ihn ablenken. Jetzt dachte er flüchtig an Margit Marahn und fühlte sich in seiner Meinung bestätigt. Er stand wieder auf und holte aus dem Kühlschrank die belegten Brötchen, die ihm die Haushälterin wie üblich zurechtgemacht hatte, entnahm dem Büfett die Thermosflasche mit schwarzem Kaffee. So fand er es gemütlich. Er setzte sich an den runden Rauchtisch, und während er die Protokolle aus Berneck zu lesen begann, aß er und trank dann und wann einen Schluck. Das Protokoll Marahns prüfte er Zeile um Zeile; dann stockte er an einer Stelle; automatisch trank er einen Schluck Kaffee, er rieb sich die Schläfe und starrte in das Zimmer, als ob es in dem dunklen Raum, der nur durch die Tischlampe erhellt war, etwas Besonderes zu sehen gäbe. Er blickte abermals in das Protokoll und nagte mit den Zähnen an der Unterlippe, die er dabei schräg verzog. Dann erhob er sich, ging zu einem Wandschrank, holte Papier und Bleistift und begann zu skizzieren. Er versuchte sich die Lage des Bungalows ins Gedächtnis zu rufen, die Gartenpforte, das Fenster, die Bäume, die Sträucher; er verbesserte, er war sichtlich mit seinem 131
Werk unzufrieden, seufzte, nahm ein anderes Blatt, auf das er den Grundriß des Mordzimmers warf. Danach füllte er diesen Grundriß mit jenen Gegenständen, an die er sich erinnerte. Er suchte irgend etwas, es mußte dasein, aber er vermochte nicht, es sich ins Gedächtnis zurückzurufen. Wieder griff er zu dem Protokoll, wieder stockte er an jener Stelle, dann dachte er: Auch das ist möglich, auch das ist möglich …, und schüttelte wieder den Kopf. Er gebärdete sich wie ein Fisch, der auf einen Köder gebissen hat und sich loszureißen versucht; je mehr er sich aber bemüht, um so tiefer bohrt sich der Haken hinein und stachelt ihn. In dieser Nacht schlief Metzendorfer nicht; er träumte verwegene Träume, die alle einen Kiesweg entlanggingen, der mit den Zähnen knirschte, und sich über einen Menschen beugten, der erschossen worden war.
2. Als Groll am nächsten Morgen sein Amtszimmer betrat, den Lodenmantel abgelegt, den Sombrero liebevoll aufgehängt hatte, fand er auf seinem Schreibtisch das frisch aufgeklebte Band eines Fernschreibers vor. Er las es, rieb seine Glatze, nahm das Papier, öffnete die Tür, die in Griessbühls Zimmer führte, und blieb dort stehen. Der Assistent sah überrascht auf, erhob sich und wurde verlegen, weil der Kommissar nur lächelte und nicht einmal einen Gruß für ihn hatte. Er fragte sich, welchen Fehler er begangen haben könnte, und er beruhigte sich: Schlimm konnte es nicht sein, wenn Groll auf diese Art lächelte. 132
Endlich reichte Groll ihm das Fernschreiben hinüber. Griessbühl überflog es und sah auf. Da erst sagte der Kommissar: „Jetzt können Sie Ihren Bericht machen, Griessbühl. Wir wissen, wer der Tote ist, und die Dame lassen wir zusätzlich einvernehmen.“
3. Wenig später hielt ein schwarzer Mercedes vor dem Bungalow. Das Fenster war nun geschlossen, man konnte es durch die Pforte hindurch deutlich erkennen. Aus dem heruntergekurbelten Seitenfenster des Wagens ringelte sich nachdenklich der dünne graue Rauchfaden einer Zigarette und zerstob unmittelbar überm Dach; denn es ging ein deutlicher Wind, der Wolken und Nebel vertrieben hatte. Aber alles war noch naß, Stämme und Äste waren dunkel von Feuchtigkeit, und der Rasen sah aus wie ein faulender Schwamm. Metzendorfer versuchte sich zu vergegenwärtigen, wo der Mörder gestanden haben mußte; er zog seine beiden Skizzen zu Rate; in den Grundriß des Zimmers hatte er die Lage der Leiche eingezeichnet. Sehr weit, schlußfolgerte er, brauchte das Fenster nicht geöffnet worden zu sein, die Flügel schlugen nach innen, wie er sich erinnerte, der Schuß war also ziemlich schräg durch den Raum gejagt. Er konnte sich nur vorstellen, daß alles sich schnell vollzogen haben mußte. Als Marahn geschossen hatte – und er hatte ja selbst gesagt, er hätte sich wie ein Mörder benommen –, mußte er befürchtet haben, vorzeitig im halboffenen Fenster gegen das Hell des Gartens gesehen zu werden. In der Nähe gab es keine Deckung. 133
Metzendorfer seufzte, wischte die dünnen roten Haare aus der Stirn, schob die Skizzen in die Brusttasche und fuhr langsam stadteinwärts. Er fuhr langsam, weil er über den nächsten Schritt nachdachte, den er tun wollte. Zwei Möglichkeiten gab es. Er zögerte seine Entscheidung hinaus. Endlich seufzte er nochmals, trieb den Wagen an und entschloß sich, auch das Aussichtslose zu versuchen. Inspektor Bifferli empfing ihn straff und selbstbewußt. Er hatte seine Schlappen längst vergessen und war bemüht, den Eindruck des erfolgreichen Kriminalisten zu erwecken. Metzendorfer streckte im unbequemen Holzstuhl vorm Schreibtisch seine langen Beine aus, rieb mit den rotbehaarten Händen die Oberschenkel und sagte: „Ich komme ungelegen, ich weiß, Herr Inspektor! Sie sind überlastet! Das ist mir bekannt. Wenn ich es trotzdem wage, Sie zu belästigen“, und jetzt schickte er einen listigen Blick über den Schreibtisch hinweg, „dann nur, weil Ihre Kollegen möglicherweise bei jenem tragischen Fall etwas übersehen haben! Und schließlich“, fügte er betont hinzu, „leitet Kommissar Groll ja die Ermittlungen und ist also verantwortlich.“ Bifferli war schlauer, als Metzendorfer gedacht hatte, und vorsichtiger; er runzelte die Stirn und sah ihn mit seinen ausdruckslosen Augen an. Er dachte offenbar angestrengt nach, ehe er antwortete: „Wenn Sie uns einen wichtigen Hinweis geben können, sind wir Ihnen sehr dankbar, Herr Metzendorfer. Warten Sie, ich lasse das gleich zu Protokoll nehmen, so sparen wir Zeit!“ Schon war er im Begriff, sich zu erheben, um nach der Tür zu strampeln. Metzendorfer beeilte sich, zu beschwichtigen: „Nein, nein! So war es nicht gemeint. Ich müßte zuerst wissen …“ 134
Er entschloß sich zur Deutlichkeit: „Ich möchte Sie bitten, mit mir noch einmal den Bungalow anzusehen.“ Bifferli erwiderte sofort: „Nein!“ Er begründete seine Weigerung nicht. Metzendorfer mußte sich gestehen, daß es ein geschickter Schachzug war: Bifferli wollte ihn zwingen, seine Gründe mitzuteilen. Gerade das aber wollte er nicht tun, ohne Gewißheit zu haben, und Gewißheit konnte er wiederum nur erlangen, wenn … Er lächelte schräg. „Bedauerlich, sehr bedauerlich, Herr Inspektor!“ murmelte er und schien in sich zu versinken, wurde völlig schweigsam und schob so dem Bifferli die Karte zurück. Der starrte ihn wartend mit seinen blauen Glotzaugen an und wurde allmählich unruhig. Endlich entschloß er sich zu einer halben Entschuldigung. Er sagte: „Sie müssen verstehen, daß ich ohne sehr triftige Gründe, ohne geradezu durchschlagende Gründe Ihrem Ansuchen nicht willfahren kann.“ Der Satz war ebenso geschwollen wie Bifferli selbst. Der spürte, daß er ihm gelungen war, und blähte sich um so mehr. „Sie werden, Herr Anwalt“, sagte er bedeutsam, „die Verteidigung des Doktor Marahn übernehmen. Im gegenwärtigen Zustand der noch nicht abgeschlossenen Ermittlungen kann ich also nichts zulassen, was möglicherweise sachundienlich wäre.“ Natürlich wußte der Anwalt: Bifferli verschwieg wohlweislich, daß das Verfahren längst nicht mehr in Berneck lag. Er war also nicht mehr zuständig. Gerade darauf aber hatte er gesetzt: daß Bifferli, wichtigtuerisch wie er war, seine Kompetenz überschreiten würde. Nun, das tat er nicht. 135
Es entstand wieder eine Pause. Wollte Bifferli sein Ansehen nicht schädigen, mußte er wieder sprechen. Er sagte also: „Aber, Herr Anwalt, wenn Sie mir einen Hinweis geben könnten, ich meine, es ist beispielsweise absolut unklar, was der Tote im Bungalow eigentlich wollte!“ „Musik hören!“ antwortete Metzendorfer sofort. Bifferli blickte ihn wie einen Irren an. Die Blauaugen traten weit aus den Höhlen. „Ja“, sagte Metzendorfer scheinbar träge und zog an dem langen Ohrläppchen, „es gibt solche Fans. Die sind auf bestimmte Schallplatten aus. Ich habe mir so etwas erzählen lassen. Ganz interessant, dieses Phänomen! Wissen Sie übrigens noch, Herr Inspektor, welche Marke das Radio war, das dort stand?“ Nun war Bifferli völlig durcheinander. „Radio?“ fragte er. „Musik hören? Schallplattenfan? Ja, glauben Sie wirklich, daß … Ein Grundig! Oder war es ein Mende?“ Er schüttelte über sich selber den Kopf. „Ach“, sagte Metzendorfer schnell und griff sich an die Stirn, als hätte er etwas vergessen. „Und wo stand es eigentlich?“ Bifferli starrte ihn entgeistert an. Er sagte, ohne das zu wollen: „Ich weiß es nicht!“ „Vielen Dank, Herr Inspektor!“ antwortete Metzendorfer freundlich, schob seine langen Gliedmaßen zurecht und erhob sich. „Sie haben mir sehr geholfen!“ Er ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um. Bifferli hing geschlagen in seinem runden Sessel. „Grüß’ Gott!“ sagte Metzendorfer freundlich und zog die Tür hinter sich zu. 136
4. Vor der Tür des Kommissariats blieb Metzendorfer stehen. Er war nicht so siegesgewiß, wie er sich den Anschein gegeben hatte. Er war unschlüssig, ja, er gestand sich, daß er den nächsten Besuch scheute. Er besaß genug Phantasie, um sich vorstellen zu können, was Margit Marahn empfand. Es war nicht angenehm, jetzt mit ihr reden zu müssen. Während er zu seinem Wagen ging, sah er flüchtig zu den Fenstern hinauf; aber Bifferli ließ sich nicht sehen; er mußte ihn schwer getroffen haben. Er schlenderte mit seinem Wagen stadtauswärts, zog ihn langsam in die Schleife des Wegs, der am Grundstück Marahns vorüberführte, sah nach rechts, nach links; aber die gestürzten Felder unter dem farblosen Himmel waren trostlos. Metzendorfer parkte dicht am Zaun. Er schob die Pforte auf, die nicht verschlossen war, und stieg langsam zu der Villa hinauf, die den Eindruck erweckte, als wären die Bewohner auf einer langen Reise. Unwillkürlich wollte Metzendorfer Zeit gewinnen; er strich ungebührlich lange die Schuhsohlen an den Rippen des eisernen Abtreters ab, hielt den Kopf gesenkt, sah zu Boden und stand plötzlich überrascht und auch erschreckt still, weil die Tür sich lautlos geöffnet hatte. „Worauf warten Sie denn?“ fragte Margit Marahn mit einer Stimme, die ihm verändert vorkam, so, als könnte sie keine anteilnehmende Frage mehr stellen, und ebenso verändert waren ihre Augen, die ihn ansahen, als wäre er irgendein Ding, kein Mensch jedenfalls. Er schüttelte den Kopf, ging an ihr vorbei und entledigte sich schweigend seines Mantels. Dann saßen sie in den gleichen Sesseln, in denen in jener Nacht er und sein Freund gehockt hatten, und er 137
wartete; aber die Frage, wie es Marahn gehe, ob er etwas unternommen habe, die kam nicht. Margit Marahn schwieg einfach, als könnte sie mit Fragen nichts ändern, als könnte sie überhaupt nichts ändern. Metzendorfer seufzte lautlos; der Versuch eines Lächelns mißriet ihm; es blieb schief in seinem Gesicht hängen, als er einfallslos sagte: „Ich habe Walter seither nicht mehr gesprochen. Aber es wird ihm nicht schlecht gehen, nehme ich an.“ Und weil er dafür nicht einmal einen Blick erntete, sondern die Frau weiter starr vor sich hinsah, fügte er hinzu: „Mit Brumerus habe ich eine Art Waffenbündnis schließen können, ich …“ und hörte auf, weil er endlich spürte, daß die Erwähnung dieses Namens in einem solchen Zusammenhang eine Taktlosigkeit war. Er entschloß sich, ohne Umschweife zu sprechen. Wenn das, was er wollte, hart war, so mußte es eben hart sein. Margit Marahn hatte seinerzeit auch nicht erwogen, wie tief sie ihren Mann treffen mußte! Er sagte: „Ich werde der Verteidiger sein. In dieser Eigenschaft sollte ich viel wissen, auf jeden Fall mehr als der Richter und mehr als der Staatsanwalt. Ich muß für jedes Argument ein Gegenargument haben, und wenn ich zwei habe, um so besser.“ Die Frau nickte. „Vielleicht bin ich jetzt plump“, sagte er, „vielleicht verletze ich Sie. Indessen, es ist so viel verletzt worden, daß wir jetzt keine Rücksicht auf solche Dinge mehr nehmen können. Sie müssen sich darüber klar sein, Frau Marahn, daß es für Walter darum geht, ob er durch das Urteil seelisch erledigt wird oder ob er noch einen Hoffnungsschimmer für sein späteres Leben sehen kann. Deutlich 138
gesagt: Wie viele Jahre er im Gefängnis – denn daß es Zuchthaus wird, das glaube ich nicht – zubringen muß.“ Endlich wandte sie ihm ihr Gesicht zu. Es war weiß, und die Lippen waren scharf aufeinandergepreßt. „Sie haben“, fragte er deutlich, „ziemlich vom Beginn des Kennenlernens an Brumerus als, sagen wir, Ihre große Liebe empfunden?“ Sie nickte stumm. „Sie haben das Walter nicht verschwiegen?“ Sie zögerte. Dann sagte sie: „Ich glaube doch, kurze Zeit, ich hatte schreckliche Angst davor.“ „Vor Ihrem Mann oder vor dem Geständnis?“ fragte er und blickte weg. „Vor dem Geständnis“, sagte sie und setzte noch hinzu: „Er war gut zu mir, immer.“ Sie hob hilflos die Schultern. „Ich hatte oft das Gefühl, als wollte er mich beschützen. Er war älter als ich.“ „Ja“, sagte Metzendorfer, „also vor dem Geständnis. Das ist schon wichtig. Und als Sie darüber gesprochen hatten, haben Sie eine Scheidung erwogen?“ „Als ich darüber sprach, nicht“, sagte sie. „Aber vorher?“ fragte er. „Oder nachher?“ „Nein, vorher“, erwiderte sie. „Und warum später nicht mehr?“ wollte er wissen. „Brumerus hatte mir gesagt, daß er mich nicht heiraten könnte.“ Metzendorfer kniff wieder die Lippen. Er strich die roten Haare aus der Stirn. „Und warum nicht?“ „Ich habe nicht danach gefragt“, erwiderte sie, „ich wollte nicht danach fragen. Es kam mir vor, als würde ich mir damit etwas vergeben. Ich habe ihn akzeptiert, wie er war.“ „Möglicherweise ist er verheiratet?“ 139
„Ich weiß es nicht“, antwortete sie, und Metzendorfer spürte, daß sie die Wahrheit sagte. „Auch danach habe ich ihn nie gefragt.“ „Und Walter“, fragte er, „hat er nie von Scheidung gesprochen?“ Jetzt zögerte sie wieder, ehe sie antwortete: „Ja. Einige Male. Anfangs. Ich erinnere mich nicht genau. Jedenfalls hat er es mir anheimgestellt, mir die Entscheidung überlassen.“ Metzendorfer wußte, daß noch eine Erläuterung kommen würde, er wartete und schwieg. „Das war so“, setzte sie hinzu und starrte wieder vor sich hin, „daß er und ich nach wie vor uns gut verstanden. Wir konnten über alles miteinander sprechen. Diese Sache da, die war wie ausgeklammert. Das gehörte nicht zu unserem Leben, gewissermaßen.“ „Aber sie führten eine Ehe“, sagte der Anwalt. „Ja“, erwiderte sie, „wir waren Freunde.“ Sie hob die Schultern. „Mehr kann ich nicht sagen. Ich begreife es jetzt auch nicht.“ Metzendorfer überlegte. Er fuhr mit der Hand über das Gesicht, er sagte: „Was, glauben Sie, hat den Ausschlag dafür gegeben, daß Walter geschossen hat?“ Es war, als könnte sie sich diesen Gedanken nur sehr langsam nähern oder als wichen die vor ihr zurück. Sie stand auf und ging zum Fenster hinüber. Dort sagte sie, ohne sich umzuwenden: „Es war nicht Eifersucht. Nicht mehr. Es waren ja fast drei Jahre verstrichen. In der Zeit hat er alles hingenommen. Ja. Wenn ich es jetzt bedenke …“ Sie stockte. Plötzlich drehte sie sich um, und sie sagte sehr rasch: „Er hat erfahren, daß Brumerus mich nicht liebte. Ich 140
weiß nicht, wie er es erfahren hat, aber so war es, und das hat er nicht ertragen. Er meinte, Brumerus hatte mich …“ Sie stockte wieder sekundenlang, ihr Gesicht zuckte, sie sagte: „… hatte mich benutzt wie ein Ding, wie einen Gegenstand. Da muß er sich entschlossen haben!“ Metzendorf er sah sie nicht an; er wollte es ihr leicht machen. Er hörte, wie sie in den Raum zurückkam, sich setzte, er hörte sie, jetzt ruhiger, sagen: „Wann das genau war, das weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, ob er sich lange mit diesem Entschluß getragen hat, ob es plötzlich über ihn kam … Ich weiß es nicht. In andern Zusammenhängen hat er stets alles lange und sorgsam bedacht. Wie es hier war, ich weiß es nicht.“ „Lassen wir es“, besänftigte der Anwalt. „Das soll er uns selbst sagen, und was er sagen wird, werden wir ihm glauben können. Er ist ein aufrichtiger Mensch. Aber“, fuhr er fort, „was ich wissen sollte, das ist, wie Ihr Verhältnis zu Brumerus wirklich war.“ Er fügte eilig hinzu: „Ich meine, es gibt die verschiedensten Arten der Liebe – einen geistigen Einklang bis zu einem völligen und beinahe sinnlosen Verfallensein.“ Margit Marahn schwieg. Er sagte und betrachtete dabei die feinen rötlichen Härchen auf seinem Handrücken: „Ich würde beispielsweise gern wissen, worüber Sie sich unterhielten.“ Jetzt kam die Antwort rasch: „Über Belanglosigkeiten. Manchmal über Zeitungsmeldungen. Manchmal habe ich vom Beruf meines Mannes erzählt. Wir haben …“, sie betonte tapfer, „ja, wir haben auch über das Wetter gesprochen. Und über uns. Natürlich.“ „Hat Ihnen Brumerus auch von seinen beruflichen Dingen berichtet?“ fragte Metzendorf er. 141
„Nein“, antwortete die Frau, „er meinte, er wolle seinen Alltag draußen lassen.“ Der Anwalt knurrte Unverständliches. Er fragte: „Und über Kunst? Über Literatur vielleicht? Ich sah da ein Buch liegen …“ Sie sagte dazwischen: „Mein Gott, nein! Brumerus liest kaum etwas, glaube ich. Und das Buch da – ich habe darin geschmökert, es hat mich gelangweilt. Manchmal las ich auch Kriminalromane. Dort. Leichte Lektüre. Zum Zeitvertreib eben.“ Sie zuckte die Schultern und versuchte zu erklären: „Brumerus hatte recht: Er wollte keinen Alltag dort haben. Und es war“ – sie suchte nach dem treffenden Ausdruck –, „es war wie Urlaub, wie Camping, so …, so hat man sich benommen, war fröhlich, unbeschwert …“ Sie wußte nicht weiter. „Ich verstehe“, sagte Metzendorfer. „Ich verstehe Sie ziemlich genau, gnädige Frau, glaube ich! In der kleinen Küche haben Sie so ein bißchen Essen nett zubereitet und hübsch serviert, und man hat auch mal ein Glas Wein getrunken, getanzt vielleicht …“ Sie sah ihn erstaunt an. „So ist es gewesen!“ „Ja“, sagte er, „ich kann es mir vorstellen.“ Er schien sich selbst in das Bild dieses Bungalows zu verlieben. Er sagte: „Und Schallplatten! Zu Schallplatten getanzt! Es war eine ziemliche Auswahl da …“ Sie nickte und schwieg. Sicher erinnerte sie sich an solche Stunden. Dieses Gefühl hatte der Anwalt. Aber er wollte andere Erinnerungen, Erinnerungen, nach denen nicht schroff gefragt werden durfte, die heraufgleiten mußten … „Sie kannten die Platten gut?“ fragte er. „Ja“, antwortete sie, „jede einzelne! Und wie oft haben 142
wir sie gespielt, wenn er eine neue mitbrachte!“ „Erinnern Sie sich eigentlich, ob auch Schallplatten mit Text dabei waren?“ fragte er. „Ich glaube, ich hab’ so etwas gesehen?“ Sie sah erstaunt auf. „Nein! Sprechplatten hatten wir nicht.“ Sie sagt immer noch „wir“, registrierte der Anwalt. Er winkte ab und bemerkte beiläufig: „Ach, dann war es wohl eine Armstrong-Platte oder dergleichen, da wird ja auch gesprochen.“ „Aber nein!“ erwiderte sie beinahe heftig. „Wie kommen Sie darauf?“ Da war er plötzlich aus dem Sessel aufgesprungen, stand so dicht vor ihr, beugte sich zu ihr nieder, sagte ganz rasch in ihr Gesicht hinein: „Oder das Radio! Haben Sie oft Radio gehört? Vielleicht auch Tanzmusik? Oder Nachrichten?“ Sie lehnte sich zurück, sie dachte: Bloß weg von dem, er ist ja verrückt, um Gottes willen! „Es war doch gar kein Apparat da!“ rief sie. „Was soll denn das alles?“ Sie sah, wie er die Augen schloß, sich langsam wieder aufrichtete, sie hörte ihn sagen: „So, das hätten wir!“, sie sah ihn sich umwenden, zum Fenster gehen und dort hinausstarren. Sie gestand sich ein, daß sie Angst hatte; sie fror plötzlich so, als säße sie nackt in dem Sessel, und der kalte Herbst füllte den ganzen Raum. Sie versuchte, die Fassung wiederzugewinnen, ruhiger zu atmen, ruhiger, ruhig … Da hörte sie Metzendorfer zum Fenster hinaus sagen: „Das mußte ich genau wissen!“ Sie sah, wie er sich langsam umwandte, gelassen auf sie zukam, ein Blatt Papier aus der Brusttasche zog, sie 143
hörte ihn sagen: „Ich fürchte, dieser Fall wird den Kommissar Groll noch sehr beschäftigen!“ Er reichte ihr das Papier. Sie nahm es. Er sagte: „Lesen Sie!“ Er sagte: „Nein, diese Stelle, die müssen Sie beachten!“ Sie las den Satz, den er bezeichnet hatte, sie las ihn noch einmal, sie schüttelte den Kopf, blickte verständnislos auf … In Metzendorfers Gesicht war etwas wie Triumph. Er fragte: „Und wie will Kommissar Groll das erklären, wenn kein Radioapparat im Zimmer war? Und wie wollen Sie das erklären, gnädige Frau?“
5. Um diese Zeit saß Griessbühl über dem Entwurf seines Berichts. Dergleichen tat er ungern. Es war ja nur das Aneinanderreihen von Fakten, die längst ermittelt worden waren, die im Grunde genommen aus den Anlagen, den Beweisstücken, den Protokollen hervorgingen; es war nicht die Entdeckung von Neuland, es war ausschließlich so etwas wie das mühsame Zeichnen der Karte eines Landes, die in allen Einzelheiten bekannt war. Auch daß der Sektionsbefund nichts Neues ergeben hatte, war nach Marahns Geständnis zu erwarten gewesen. Der Einschußkanal bestätigte seine Angaben. Griessbühl gähnte, als er die säuberlich beigefügte Kugel betrachtete. Sie würde als Beweisstück mit seinem Bericht zum Untersuchungsrichter wandern, und der würde, genau wie er selbst, vermerken: Sie stammte aus der automatischen Walther, Kaliber 6,35, der Waffe Marahns. 144
Der Assistent schob Bericht und Kugel beiseite und bemühte sich um jenen strohtrockenen Ton, der dem Gericht einzig angemessen erschien. Der Assistent langweilte sich dabei. Neben ihm lag das Fernschreiben. Griessbühl war an jener Stelle angelangt, wo die Personalien des Erschossenen einzufügen waren. Er zögerte. Dann ging er in Grolls Zimmer. Der sah ihn unwirsch an. „Herr Kommissar“, Griessbühl bemühte sich um besondere Höflichkeit, um den andern nicht zu reizen, der vielleicht Ärger gehabt haben mochte, „sollten wir nicht die Einvernahme des Zimmermädchens abwarten? Die ist doch auf unsere Fahndung aufmerksam geworden und hat in dem Ermordeten den Altbauer wiedererkannt.“ Er sah auf das Fernschreiben. „Wenn wir uns nämlich hierauf beschränken, können wir nur dürftige Angaben machen: Joseph Altbauer, von Frankreich gekommen, des öfteren schon im Hotel Mainau in Frankfurt abgestiegen, jedenfalls ein Deutscher auf Geschäftsreisen, ohne ständigen Wohnsitz, vermutlich ein Bayer. Mehr geht daraus nicht hervor.“ Er schwenkte das Blatt. „Genügt! Genügt doch vollkommen, Griessbühl!“ knurrte der Kommissar. „Das ist alles, was die Frankfurter Kollegen ermitteln konnten. Weitere Papiere waren nicht vorhanden. Meldezettel wieder mal nicht ausgefüllt, dieses Leiden nimmt überhand und macht uns das Leben schwer! Aber was glauben Sie denn, was uns so ein Zimmermädel noch für eine Auskunft geben könnte! Die hat dort aufgeräumt, bestenfalls einen Kaffee oder ein Bier aufs Zimmer gebracht, ein Trinkgeld bekommen …“ Er zuckte die Schultern. Er winkte mit der Hand ab. „Ach, das ist nicht unsere Sorge! Für unseren Bericht 145
genügt, was wir wissen! Wenn der Herr Untersuchungsrichter nur einen Namen liest, ist er schon zufrieden.“ Griessbühl sah unmutig wieder auf das Blatt. Irgend etwas schien ihm nicht zu stimmen, aber er wußte nicht, was. Vielleicht war es auch nur die völlige Gleichgültigkeit des Alten, die ihn ärgerte. Dem genügte es, wenn der Mörder gefunden war, anderes interessierte ihn nicht. Und den Mörder hatten sie ja oder den Totschläger, wie das Gericht es wollte. Er nickte, sagte: „Na, also dann …“ und verschwand wieder, um sich seiner unbefriedigenden Tätigkeit hinzugeben.
6. Margit Marahn stand in der Tür und sah Metzendorfer nach, der, wie es ihr schien, elastischer, als es sonst seine Art war, um den Rasen herum der Pforte zustrebte. Sie fühlte sich von der Überraschung benommen, und obwohl Metzendorfer ihr die Bedeutung seiner Feststellung erklärt hatte, konnte sie das noch nicht ganz fassen. Sie wußte nur: Da ist eine Stimme gewesen. Es war der Durchschlag des Protokolls gewesen, den ihr der Anwalt gegeben hatte, und es war diese Stelle, die sie zu lesen hatte: ,Es wird so gewesen sein, denn ich wunderte mich noch darüber, daß er arbeitete, obwohl das Radio spielte. Es war keine Musik, sondern es wurde gesprochen, von einem Mann. Ich erinnere mich nicht, was gesprochen wurde …‘ Da war also eine Stimme gewesen, bevor ihr Mann schoß. Aber wem gehörte diese Stimme? War es die des 146
Toten? Dann mußte ein zweiter dagewesen sein, zu dem gesprochen worden war. Oder war es die Stimme eines anderen gewesen? Dann hatte der zu dem Toten gesprochen. Auf jeden Fall mußten zwei Menschen im Bungalow gewesen sein, als ihr Mann geschossen hatte. Er hatte sich getäuscht, als er glaubte, ein Radio spielte, und Metzendorfer hatte sich in einer katzengleichen Art vergewissert. Sie verstand jetzt wenigstens, warum er sich so seltsam benommen, warum er sich gleichsam an sie herangeschlichen hatte, ehe er den Sprung der Frage tat: Er wollte sicher sein, daß sie nicht irrte, daß sie nicht sich selbst unbewußt irreführte, daß sie nicht ihn auf einem möglicherweise falschen Weg des Verdachts vorwärts stieß. Das Ergebnis war einwandfrei. Er hatte den Beweis, den er gesucht hatte, den er brauchte, und jetzt stieg er in seinen schwarzen Mercedes. Bevor er den Schlag zuzog, winkte er noch einmal, halb herausgebeugt, zu ihr hinüber, aber die Kraft, zurückzuwinken, hatte sie nicht. Eine seltsame Beklemmung hielt sie gepackt, so, als beginne eigentlich erst jetzt die entscheidende Auseinandersetzung. Metzendorfer hatte ihr keine Andeutungen, keine Hoffnungen gemacht; er hatte ihr erklärt, das Schicksal ihres Mannes hinge nicht davon ab, ob ein oder zwei Menschen im Bungalow gewesen waren. Er hatte geschossen, ein Toter war auf dem Schlachtfeld geblieben. Aber das hatte er ihr doch bedeutet: Wenn es gelänge, diesen zweiten Menschen zu finden, der sich in Luft aufgelöst zu haben schien und zu dem es bisher keinerlei Spuren gab, dann würde man etwas über die Gründe er147
fahren, die den Toten in den Bungalow gelockt hatten. Möglicherweise würde das Gericht milder gestimmt, wenn so viele unglückliche Umstände zusammengewirkt hatten. Metzendorfer selbst, der bei der Krümmung des Wegs bergauf noch einmal im Rückspiegel verkleinert die Villa und winzig in der Tür die Frau stehen sah, zog keine weitreichenden Schlußfolgerungen. Er war ein Mann, der auf Klarheit bestand, und insofern fühlte er sich nun befriedigter als zuvor: Da war in jenem Protokoll eine Stimme gewesen, deren Ursprung ihm unklar erschienen war; jetzt wußte er, daß zwei Menschen am Tatort gewesen sein mußten außer Marahn und daß einem der beiden diese Stimme gehört hatte. Wer der zweite war, das herauszufinden würde eine weitere Unklarheit beseitigen. Dies war sein nächstes Ziel. Er hatte vorgehabt, von Berneck nach Bayreuth zurückzufahren. Jetzt, da er über die Autobahn glitt, überlegte er es sich anders. Er sah auf die Uhr am Armaturenbrett und gab stärker Gas.
7. Kommissar Groll las aufmerksam Griessbühls Bericht, um ihn abzeichnen zu können. Obwohl das selbstverständlich war, fühlte sich Griessbühl, der steif neben Grolls Schreibtisch zu sitzen pflegte, darüber jedesmal leicht verärgert. Legte er sich Rechenschaft ab, so fand er es töricht: Groll war verantwortlich für diesen Fall, also hatte er 148
das mit seiner Unterschrift zu bezeugen. Wahrscheinlich, meinte er, spielte ihm sein eigener Ehrgeiz einen Streich: Es würde lange dauern, bis da oben jemand auf ihn aufmerksam werden würde. Der Kommissar schnaufte und setzte ein Komma. Auch das ärgerte Griessbühl wieder: Als ob er nicht verstünde, die Kommata an die richtige Stelle zu bringen. Aber irgend etwas fand Groll eben immer! Er ahnte nicht, daß Groll wußte, was in ihm vorging, und daß es sein Vorsatz war, eine Geringfügigkeit auszubessern, um Griessbühl nicht übermütig oder verwegen zu machen. So etwas war in dem Jungen angelegt, fand er. Fand aber auch, daß es ein Vergnügen war, dessen Berichte zu lesen. Sie waren klar und eingängig, stellten den Sachverhalt unzweifelhaft dar, als wäre er dabeigewesen. Groll setzte zur Unterschrift an, zu jenem unverwechselbar verschnörkelten G, und dachte dabei, er würde in seinem nächsten Rechenschaftsbericht gebührend auf Griessbühl hinweisen; da klingelte das Telefon. Er sah ärgerlich auf und winkte Griessbühl, den Hörer abzunehmen. Der deckte gleich darauf die Muschel mit der Hand und flüsterte dem Kommissar zu: „Metzendorfer!“ Groll erinnerte sich im ersten Augenblick nicht, so daß Griessbühl zufügte: „Marahns Anwalt!“ Der Kommissar blies die Backen auf, entließ die Luft, entschloß sich: „Ja, er soll kommen!“ Bald darauf klopfte es, und Metzendorfer trat ein, das rote Haar windverwirrt. „Ich will Sie nur …“, sagte er, unterbrach sich, holte nach: „Guten Tag!“, wartete nicht die Antwort ab, sondern fuhr fort, jetzt schon dicht vor Grolls Schreibtisch 149
stehend: „Ich will Sie nur darauf hinweisen, daß mindestens zwei Menschen zur Tatzeit im Bungalow gewesen sind!“ „Was!“ sagte der Kommissar und setzte sich zurück. „War Marahn im Bungalow, als er schoß? Wie kommt es dann, daß der Rasen …“ „Unsinn!“ fuhr ihm Metzendorfer dazwischen und korrigierte sich: „Bitte vielmals um Entschuldigung! Nein, Marahn schoß von draußen. Aber im Bungalow waren zwei Menschen, ein Mann und eine Frau oder zwei Männer, das ist ungewiß. Entweder hat der Erschossene geredet oder der andere, falls das ein Mann war. Jedenfalls gibt es dort keinen Rundfunkapparat, und unter den Schallplatten ist keine Sprechplatte!“ Griessbühl sah den Anwalt von der Seite her kritisch an, erinnerte sich der nächtlichen Szene auf der Autobahn, als der Anwalt verzweifelt in seinem Wagen gründelte, und hielt es tatsächlich für möglich, daß der scheinbar so verwirrte Mensch geistig nicht ganz klar wäre, zumindest gelegentlich solche Zustände hätte. Griessbühl versuchte zu entziffern, was Groll dachte, aber dessen Miene war unbewegt. Dann, nach einer Pause, die dem Assistenten unendlich schien, sagte der Kommissar gelassen: „Das habe ich nicht verstanden, Herr Metzendorfer, entschuldigen Sie schon. Sie müssen mir das genauer erklären.“ Er wandte sich an seinen Assistenten: „Griessbühl, seien Sie so freundlich, und holen Sie dort den Stuhl herüber.“ Dann saß Metzendorfer, hielt das Protokoll in der Hand, deutete auf die Stelle, ließ sie von Groll lesen, ließ sie von Griessbühl lesen und erstattete dann einen peinlich genauen Bericht. 150
„Was sagen Sie nun, meine Herren?“ fragte er schließlich. Griessbühl enthielt sich wohlweislich jeder Äußerung. Aber Groll sagte langsam: „Ich fürchte, Sie messen der Sache zu große Bedeutung bei, Herr Rechtsanwalt. Ich will Ihnen sagen, warum – und das hätte ich auch in einem Telefonat tun können.“ Er sah zu dem staubigen Fenster hinüber, ärgerte sich einen Moment über die Unsauberkeit, trommelte mit den Fingern der Rechten auf der Schreibtischplatte, sammelte seinen Blick wieder auf Metzendorfer und sagte: „Schaun Sie, Marahn ist doch nun einmal schuldig! Für uns hier ist es gleichgültig, wen er erschossen hat! Und ob da einer zugeguckt hat oder nicht – du lieber Himmel, was ändert das an der Sache?“ Groll bemerkte, daß Metzendorfer unwillig protestieren wollte. Dem kam er zuvor und sagte: „Wir werden die Spur verfolgen, das versteht sich von selbst. Aber ich fürchte, wir würden Ihrem Mandanten nur schaden, wenn wir den Fall nicht abschlössen, soweit das ihn betrifft. Die Untersuchungshaft könnte sich über Monate erstrecken. Was wissen wir von dem zweiten Mann? Nichts! Fahnden wir offiziell, was sollen wir angeben, aus welchem Grund fahnden wir überhaupt, was soll dabei herauskommen?“ „Man muß doch etwas tun!“ empörte sich der Anwalt. „Ich meine“, sagte Groll langsam, „wir bitten in der Presse, daß sich der Unbekannte als Zeuge meldet.“ Er zuckte die Schultern. „Ich gebe zu, die Chance ist gering …“ „Gleich Null!“ fuhr Metzendorfer dazwischen. „Wie Sie wollen“, sagte Groll. „Aber wissen Sie etwas Besseres?“ 151
Der Anwalt schwieg. „Also veranlassen Sie das“, wandte sich Groll an den Assistenten. „Und für den Bericht müssen wir annehmen …“ Er schob die Unterlippe vor und schlußfolgerte: „… daß der zweite halt der gewesen sein könnte, der den Bifferli angerufen hat, wissen Sie, der ihn von dem Mord verständigte. Begreiflich, daß er seinen Namen nicht nennen wollte! Ich finde, das macht den Fall noch klarer als bisher! Jetzt wissen wir sogar, warum der Anrufer anonym blieb und daß es ein Komplize des Erschossenen war.“ Groll schien befriedigt. Er dachte noch den Bruchteil einer Sekunde nach und fügte hinzu: „Außerdem ist das Rätsel gelöst, wie der Erschossene in den Bungalow kam! Mit dem Wagen des Anonymus selbstverständlich.“ Er lächelte und verzog das Gesicht zu künstlicher Trauer. „Schade“, sagte er, „tut mir leid, Griessbühl. Aber den Teil Ihres Berichts müssen Sie eben noch einmal machen!“
8. Während Sepp Metzendorfer hastig auf der Autobahn heimwärts fuhr, mußte er sich gestehen, daß seine Bemühungen nicht den Erfolg gehabt hatten, den er sich erhoffte. Was war gewonnen? Nicht sehr viel. Zur Tatzeit war eine zweite Person im Bungalow gewesen. Diese Person kannte man nicht. Der Name des Erschossenen war ermittelt. Was aber die beiden im Bungalow gewollt hatten, das blieb unbekannt. Kommissar Groll hatte sich geweigert, diesen Fragen nachzugehen. Metzendorfer, der immer nur auf diesen 152
Punkt gestarrt hatte, war darüber zunächst erbost gewesen. Entgegen seinen Gepflogenheiten hatte er dem Kommissar wenig schmeichelhafte Dinge gesagt, bevor er ging. Während er über die Autobahn fuhr, durchdachte er jedoch diese Szene noch einmal, und gegen seinen Willen kam er zu dem Schluß, daß die Argumente des Kommissars stichhaltiger waren, als er sich selbst hatte zugeben wollen. Denn in der Tat: Was war gewonnen, wenn man mußte, was dieser Joseph Altbauer in dem Bungalow eigentlich gewollt hatte? Was war gewonnen, wenn man die zweite Person kannte? Vermutlich nichts. Denn Tatsache blieb ja doch wohl, daß Marahn geschossen hatte und daß ein Mensch gestorben war. Daran würde sich nichts ändern, und wenn selbst eine ganze Party in dem Bungalow gewesen wäre! Im Gegenteil, überlegte Metzendorfer, er konnte so, wie die Dinge lagen, in seinem Plädoyer freier taktieren! Konnte er nicht aus Altbauer einen Einbrecher, ein Diebsgesindel, einen Verbrecher machen, der mit seinem feigen, flüchtigen Kumpan darauf ausgewesen war, diesen Bungalow zu plündern und möglicherweise noch weitere Einbrüche zu verüben? War es nicht sogar denkbar, daß der Bungalow Ausgangspunkt für Raubzüge werden sollte? Was konnte ihn daran hindern – sofern der zweite unbekannt blieb –, zu behaupten, einer der beiden hätte Marahn bedroht? Zumindest hätte sich Marahn bedroht gefühlt? Das würde nicht unglaubhaft klingen. Zwar zweifelte er im gleichen Augenblick daran, daß Marahn derartige Behauptungen unterstützen würde; ihn hatte da eine Art „Geständniswut“ befallen, wie Metzen153
dorfer das nannte. Aber in diesem Punkt vertraute er seinem Geschick, einen Vorfall darzustellen und Gründe dafür zu finden, warum Marahn verstockt darauf verharrte, nicht in Not gehandelt zu haben. Marahn, so würde er darlegen, wollte sich nichts schenken, er wollte sich zu seiner Tat bekennen, uneingeschränkt, er wollte keine Ausflüchte, er wollte sich stellen; derartige Dinge waren durch die Psychologie hinreichend aufgehellt, ein abnormes Verhalten sicherlich. Aber das zeugte wiederum davon, daß sein Mandant bei der Begehung der Tat seiner Sinne, seines Verstandes nicht voll mächtig gewesen war, daß man ihm mildernde Umstände zusprechen müßte. Er fuhr und fuhr, er sah sich selbst vor dem Gericht stehen, seine Lippen formten lautlose Sätze. Er verlor sich in diesen Minuten an eine Rolle, die er noch gar nicht zu spielen hatte. Und er bekräftigte damit die Meinung Grolls – alles das außer acht zu lassen, was den Vorfall nur komplizieren, was vom eigentlichen und genügend geklärten Geschehen ablenken könnte. Griessbühl hingegen war zu dieser Zeit – und das ahnte der Anwalt freilich nicht – zu offenem Aufstand übergegangen. Er stand bockig vor Groll und sagte: „Herr Kommissar! Ich habe mein ganzes Elaborat noch einmal gründlich durchgesehen. Ich könnte es natürlich mit den paar Fakten, die hinzugekommen sind, ergänzen, ich könnte dann den Bericht abschließen. Aber ich hätte ein schlechtes Gewissen. Das muß ich Ihnen erklären!“ Groll lehnte sich zurück und betrachtete seinen Assistenten. Zunächst begriff er nicht, was der überhaupt sagen wollte; als es ihm klar wurde, entschloß er sich, das auf das Konto der Widerspenstigkeit der ‚heutigen Jugend‘ zu schreiben. 154
Er versuchte, milde zu lächeln. Er antwortete: „Es wird nicht nach Ihrem guten oder schlechten Gewissen gefragt, Griessbühl, sondern nach den kriminalistischen Fakten.“ Er beugte sich über seine Papiere, weil er den Fall für erledigt hielt, da hörte er wieder Griessbühls Stimme: „Gerade hinsichtlich der Fakten aber habe ich ein schlechtes Gewissen!“ Groll wurde es zuviel. Er wollte den Fall los sein; er hatte keine Lust, sich unnütze Arbeit zu machen; er hatte in seinem Dienst gelernt, daß er nur schlecht fuhr, wenn er mehr als das unbedingt Notwendige ermittelte; er vergaß die Rüge nie, als er im Falle des Notzuchtverbrechens Isolde Reisinger in dem Zimmer des Mädchens Fingerabdrücke gefunden hatte, die nicht zu finden sein Chef vertraulich angewiesen worden war. Es hatte außerordentliche Mühe gemacht, den Namen zu vertuschen, nachdem die Presse darauf aufmerksam geworden war. Damals war seine fällige Beförderung unterblieben. Er hatte sich geschworen, künftig seinen Berufseifer zu zähmen. Es konnte freilich sein, daß der Erschossene ein ganz gewöhnlicher kleiner Einbrecher war, einer von der Sorte, die Wäsche von der Leine stehlen; dann würde kein Hahn nach ihm krähen, dann war es jedoch auch wenig nütze, weiter zu ermitteln. Der Kumpan – oder die Kumpanin, wie immer man wollte –, der außerdem noch im Bungalow gewesen sein mußte, war es in diesem Falle auch nicht wert, daß Zeit an ihn verschwendet würde. Groll hielt das für die zutreffende Version. Er gab sich selbst aber zu, daß eine geringe Möglichkeit bestand, die Motive für das Eindringen in den Bungalow wären andere, welche, konnte er nicht wissen. Wenn es aber über155
haupt andere waren, war um so mehr Vorsicht geboten. Schon einmal war ihm der Finger auf den Mund gelegt worden! Im übrigen blieb Marahn ein Mörder. Mochte er sympathisch sein oder nicht, das durfte ihn, Groll, nicht beeinflussen. Seine Aufgabe war es, den Täter zu stellen. Das war erfolgt. Was gab es da noch zu erwägen? Er sah auf den Stoß Aktenstücke, der links von ihm lag, Aktenstücke mit Fällen, die noch nicht geklärt werden konnten, die aber Klärung verlangten – von ihm verlangten, um der Gerechtigkeit willen! Härter, als er es beabsichtigt hatte, sagte er: „Sie fertigen den Bericht an, Griessbühl, und damit basta!“ Und als der junge Mensch starrsinnig und stumm und mit herausforderndem Blick vor seinem Schreibtisch stehenblieb, setzte er hinzu: „Dienstlicher Befehl!“ Griessbühl sah unschlüssig auf seine Papiere; dann drehte er sich um und schlenderte zur Tür. Er öffnete sie. Der Kommissar, der ostentativ in seine Akten geschaut hatte, hob unwillkürlich die Augen. Griessbühl sah an ihm vorbei, als er sagte: „Erzwungene Arbeit mache ich leider schlecht.“ Und er fügte hinzu: „Ich wette, daß Sie mit der Sache noch viel Ärger haben werden!“
9. Als Metzendorfer sich vom lautlosen Fahrstuhl zu seiner kleinen Wohnung im achten Stock emportragen ließ, war er immer noch in den Traum seines Plädoyers verstrickt. Seine Argumente hielt er für passabel, und nachdem er sich ursprünglich über Grolls Abweisung geärgert hatte, kam sie ihm nun gelegen. 156
Doch in dem gleichen Augenblick, da der Fahrstuhl mit einem leichten Knicks hielt, brach auch irgendein Glied in der Kette seiner Schlußfolgerungen. Der Anwalt wußte schaudernd: Marahn würde ein Mörder bleiben, so oder so und gleichviel, wie lange er eingesperrt werden würde. Sein Freund würde diesen Makel sein ganzes Leben lang zu tragen haben. Ohne etwas zu sehen, hängte er Hut und Mantel in den winzigen Vorraum des kleinen Appartements, das er bewohnte. Ohne etwas wahrzunehmen, ging er in die Stube und sah zum Fenster hinaus. Ohne etwas wahrzunehmen, blickte er vom achten Stock hinunter auf die kleinen Käfermenschen, die Spielzeugautos, die hastig hin- und herglitten. Er hörte eine Stimme, eine ziemlich laute Stimme, wie in dem Protokoll stand, eine Radiostimme, die vermutlich einen Wirtschaftsbericht sprach. Doch die Radiostimme kam aus dem Nichts oder aus dem Munde eines lebendigen Menschen, und dieser lebendige Mensch mußte ein Zeuge gewesen sein, als der Schuß knallte, gedämpft durch den grau bewegten Vorhang des strömenden Regens. Doch was nützte ihm der Zeuge, wenn er ihn fand. Ein Toter hatte dort gelegen, ein Erschossener, und sein, Metzendorfers, Freund hatte den Schuß abgegeben. Die bunten und triumphierenden Girlanden des Plädoyers, das er in Gedanken gehalten hatte, sahen verstaubt aus und grau; er konnte sich an seinen Worten nicht mehr freuen, geschweige denn berauschen, es war kein Wein in dem Glas, das er an den Mund gesetzt hatte. Seine Eigenart war, auf einen bestimmten Punkt zu starren und darüber alles andere zu vergessen; er hatte auf eine Radiostimme gehorcht, und es war die Stimme eines Menschen gewesen. Niemand hatte das vermutet. 157
Jetzt starrte er auf diesen Menschen, aber er sah ihn nicht, er wußte nicht, war der alt oder jung, war es ein Mann oder eine Frau. Dieser Mensch würde zumindest darüber Auskunft geben können, wie und warum der Ermordete in den Bungalow gekommen war und was er dort gesucht und ob er es gefunden hatte. Metzendorfer schüttelte den Kopf zu den Spielzeugautos in der Straßenschlucht. – Vermutlich hatte er es nicht gefunden; denn Brumerus, der seinen Bungalow inspiziert hatte, vermißte nichts. Jedenfalls hatte er nicht gesagt, daß er etwas vermißte, und warum hätte er das verschweigen sollen? Ich müßte wissen, dachte er, wer der Tote war, was er wollte; ich könnte es dem Gericht immer noch vorenthalten, wenn es für Marahn ungünstig wäre; Groll kümmert sich keinesfalls darum! Er spürte einen leicht ziehenden Schmerz in den Schläfen, der peinigendes Kopfweh anzukündigen pflegte; aus Erfahrung wußte er, daß Tabletten nichts halfen, außerdem verabscheute er sie. Er trat vom Fenster zurück in die Mitte der Stube, entledigte sich seiner Kleider, ging hinüber in die Duschecke und ließ sich von einem so heißen Tropfenschleier überrieseln, als er gerade noch ertragen konnte. Seine Haut färbte sich rot. So stand er lange Zeit still unter dem dampfenden, rinnenden Naß, die Arme hoch erhoben, und er dachte überhaupt nichts. Dann schob er plötzlich mit einem Ruck den kleinen Hebel herum: Eiskälte brach über ihn herein und versetzte ihm den Schock, den er erwartet hatte. Im gleichen Augenblick verschwand der ziehende Schläfenschmerz. 158
Metzendorfer frottierte sich ab, zog sich an, und da wußte er, was er zu tun hatte, gleichgültig, ob das Erfolg haben würde. Er würde es allein schon deshalb tun müssen, um seine Gelassenheit wiederzufinden. Er kniff die schmalen Lippen zusammen und überlegte, ob er mit seinem Wagen fahren sollte oder mit der Bahn. Das Auto würde ihm größere Bewegungsfreiheit sichern; wenn er jedoch in eine Stockung hineingeriete, könnte er stundenlang warten, der Zug bot eigentlich mehr Bequemlichkeit. Er würde, in den Sitz zurückgelehnt, das Vorbeifliegen der Telegrafenstangen, das unendliche Aufundniederwallen der Drähte beobachten, und er würde nachdenken können. Er entschied sich trotzdem für den Wagen. Er hätte die Möglichkeit, sich dahin und dorthin zu begeben, wie es gerade notwendig war. Und er würde spätabends losfahren, wenn der Massenverkehr von den Straßen gestaubt war. Die schweren Lastzüge, deren Donnern er jetzt schon hörte, würden ihn freilich genug verstören; aber sie würden ihm keine Zeit rauben. Er rief sein Büro an, und als er die gelassene, eintönige Stimme seiner Sekretärin vernahm, fand er sich trotz der Exkursion, die er vorhatte, genugsam im Alltag eingesiedelt. Sie klang so geduldig, die Stimme, klang so, als würde sie noch die nächsten fünfzig und hundert Jahre so klingen, als könnte sich da nichts verändern. Er bat sie, seinen Vertreter zu informieren, er wäre erkrankt. Es bereitete ihm Genugtuung, als er die Besorgnis aus ihrem Tonfall heraushörte. Er korrigierte sich nicht. Es wäre ihm Ruhe verordnet worden, erläuterte er, nichts Beängstigendes wäre daran, nur eben Ruhe müßte er haben, abschalten, und wenn es nur eine Woche wäre. Sie möge entsprechend disponieren. Sein Vertrauen strei159
chelte sie wie einen Hund die Hand seines Herrn, das wußte er. Und er wußte, daß er sich auf sie verlassen konnte. Seinen Koffer packte er mit großem Geschick und sehr ordentlich. Um zwanzig Uhr setzte er seinen Wagen in Bewegung und fuhr Ereignissen entgegen, von denen er nichts wußte und die ihn überraschen würden.
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SECHSTES KAPITEL
1. Als Metzendorfer durch die graue Dünung des Morgens hindurch auf Frankfurt zufuhr, waren seine Ohren taub vom unablässigen Donner der Lastzüge, die sich unbeirrbar links an ihm vorübergeschoben hatten. Seine Augen waren ermüdet von der schwankenden Doppelkette der abgeblendeten Scheinwerfer, die pausenlos zwischen seine Lider geglitten war, und vom Stakkato der Warnschilder am rechten Autobahnrand. Er war gleichmäßig 70 gefahren, obwohl das gefährlich genug war; denn die Fahrzeuge hinter ihm nutzten die Höchstgeschwindigkeit aus, sie mußten sich in die donnernde Kette links einschieben, die roten Blinklichter hinter und vor ihm interpunktierten die Nacht mit fiebrigen Pulsschlägen. Metzendorfer ließ sich von der zuckenden Hast nicht anstecken. Er hatte einmal einen Wagen gesehen, der 100 gefahren worden war und den ein Mast zusammengeknittert hatte wie Stanniolpapier; seither hatte er schnöde und törichte Angst, wenn er auch wußte, daß ihm trotz des geminderten Tempos das gleiche Schicksal beschieden sein konnte. Jedenfalls atmete er auf, als er im grauen Dampfe der Frühe den flachen, weit hingestreckten Um161
riß der Stadt erblickte. Da er nicht wußte, wo sich das Hotel Mainau befand, fuhr er irgendeine Abfahrt nach Frankfurt hinunter und glitt an die nächste Tankstelle. Sie lag noch verödet, nur ein Lastzug wartete auf den Sprit. Er stieg aus; die Glieder schmerzten ihn. Er lief ein paar Schritte hin und zurück, dehnte sich und atmete tief die feuchte Luft, die ihm dann als kleine graue Wolke aus dem Munde stob. Auf dem Stadtplan waren die Hotels markiert; er drückte auf den entsprechenden Knopf, und MAINAU leuchtete auf und zugleich das Zeichen, daß dieses Hotel besetzt wäre. Es störte ihn nicht. Er prägte sich den Weg ein und fuhr weiter. Das Hotel Mainau erwies sich als eine jener Unterkünfte, die ihren Ursprung der Messe, den internationalen Tagungen, der Paulskirche verdankten. Ein früheres Mietshaus war durch den gewandten Zugriff eines Architekten verwandelt worden. Metzendorfer brauchte nicht ängstlich nach einer Parklücke auszuspähen. Der Hinterhof war als Parkplatz hergerichtet. Das kannte Sepp Metzendorfer längst: Die Frage nach einem freien Zimmer verneinte der Nachtportier höflich und musterte ihn dabei aufmerksam. Er taxierte ihn. Ein Zehnmarkschein löste ihm die Zunge zu der Klage, wie überlaufen das Haus wäre, und wie peinlich, selbst Stammgäste abweisen zu müssen, kämen sie überraschend. Ein zweiter Zehnmarkschein ließ ihn die Zimmerliste vorziehen; er studierte sie gedankenvoll. Metzendorfer wartete geduldig. Er wußte, daß ihm nicht das Recht zustand, hier irgend jemanden zu befragen; er mußte Gast sein und seinem Glück vertrauen. Der Portier sah mit gekrauster Stirn zu ihm auf. Wenn er mit einem Einzelzimmer im vierten Stock vorliebnehmen wolle, es wäre allerdings nur mit Duschecke ausges162
tattet, und ein Fahrstuhl stünde nicht zur Verfügung, den habe man nicht einbauen können. Metzendorfer nickte zufrieden. Die Erregung, die ihn bis hierher gepeitscht hatte, brach plötzlich zusammen; er war so müde, daß er fürchtete, sich nicht länger aufrecht halten zu können. Das Zimmer oben war verwinkelt; aus dem Fenster sah er auf die Dächer der parkenden Autos. Er entkleidete sich rasch, wusch sich kaum, legte sich hin, rollte sich zusammen, wie er es gewohnt war, und dachte noch im Einschlafen : Trizius heißt sie, Gina Trizius …
2. Er träumte, er läge irgendwo auf freiem Feld ohne Deckung, und ein Maschinengewehr hämmerte seine trockenen Garben über ihn hinweg. Nirgendwo gab es einen Schutz, und er hatte die schreckliche Gewißheit, in den nächsten Sekunden getroffen zu werden und elend sterben zu müssen. Er erwachte, spürte, daß die Jacke des Schlafanzugs schweißnaß an seinem Rücken klebte, wollte, wie er es daheim gewohnt war, rechts aus dem Bette fahren, fand dort einen Widerstand, und er besann sich darauf, daß er im Hotel Mainau war und das Bett mit der rechten Seite an einer Wand stand. Benommen drehte er sich um, sah auf seine Uhr, stellte fest, daß es bereits zehn vor elf war, und da hörte er ein respektvolles leises Pochen an der Tür. Dann entstand eine Pause, als ob jemand lauschte, und gleich darauf entfernten sich vorsichtige Schritte. Metzendorfer schlüpfte in seinen Mantel und öffnete die Tür spaltbreit. 163
Er sah das Zimmermädchen sich entfernen, ein junges, schlankes Ding, das ihm jetzt lächelnd den Kopf zuwandte, ein nettes Allerweltsgesicht, in dem ihm nur die ausrasierten und schräg zu den Schläfen hin hochgemalten Augenbrauen auffielen. Sie trug einen Staubsauger, war offensichtlich mit dem Aufräumen dieser Etage beschäftigt und hatte wohl nicht damit gerechnet, noch einen Schläfer vorzufinden. Metzendorfer murmelte etwas in das freundlichschweigende Lächeln hinein, zog sich wieder zurück und kleidete sich an. Als er sein Zimmer verließ, war das Mädchen schon mit dem nebenanliegenden fertig und klopfte nur noch mit der flachen Hand die Kopfkissen glatt. Er blieb in der offenen Tür stehen, sah ihr zu, hatte einen Namen im Gedächtnis und sagte entschuldigend: „Ich bin erst in der Frühe hier angelangt.“ „Oh“, machte sie, „das tut nichts.“ Geschäftsmäßig setzte sie hinzu: „Der Frühstücksraum ist in der ersten Etage.“ „Vielen Dank“, erwiderte er. „Ja, ich habe wirklich Hunger.“ Er zögerte und entschloß sich dann, gerade auf sein Ziel loszugehen. Er sagte: „Ich suche hier einen Bekannten.“ Das schien sie nicht sonderlich zu interessieren. Sie nickte dem Bett zu. Er sagte: „Einen Herrn Altbauer nämlich.“ Sie fuhr hoch und starrte ihn an. „Ja“, sagte sie verstört, „Herr Altbauer! Ja, das wissen Sie nicht? Der ist doch erschossen worden, ermordet.“ Sie zuckte die rechte Schulter. „Da unten irgendwo, in Bayern, in Berneck.“ Metzendorfer hatte den Eindruck, als wäre sie nie in Bayern gewesen; sie sprach davon, wie man von Australien spricht. 164
Er tat einen halben Schritt in das Zimmer hinein; er lächelte schwach und sagte: „Sie haben recht. Ich wußte es schon. Sind Sie vielleicht Fräulein Trizius?“ Im gleichen Augenblick, da er diese Sätze aussprach, ging sie in Abwehrstellung und verschloß sich. „So“, sagte sie gedehnt. „So ist das also! Sie wußten es schon! Wozu fragen Sie dann? Was soll das?“ Metzendorfer antwortete nicht gleich; er ließ sich Zeit, das Mädchen zu mustern. Nichts Besonderes war an ihr, so schien ihm, sie hatte eine gute Figur, das wußte sie, und das wußte sie auch zur Geltung zu bringen, und sie hatte ein nettes Gesicht, und das wußte sie ebenfalls; aber Tausende und Zehntausende von jungen Mädchen hatten die gleichen Vorzüge, das war nicht bemerkenswert. Zweifellos war ihr Leitbild irgendeine Filmschauspielerin, das hatte nichts zu bedeuten. Auch die merkwürdig gezogenen Brauen galten ihm nichts, das sollte nur das Auffällige, das Einmalige, das Unverwechselbare sein, mehr hatte sie nicht zu bieten. Nur das kalte beherrschte Grau der Augen deutete ihm an, daß sie sich längst des Spiels bewußt war, das gespielt zu werden pflegte, daß sie gekonnt ihre Einsätze machte, daß sie bereit war, alles zu verkaufen, bis auf eines, und dafür würde ihr viel geboten werden müssen, den Preis hatte sie selber festgesetzt. Nun, daran lag Metzendorfer nichts. Er lächelte verbindlich, zog aus der Tasche einen Fünfzigmarkschein, reichte ihn zu ihr hinüber (aber sie ergriff ihn nicht) und sagte: „Mir liegt viel daran, etwas über Herrn Altbauer zu erfahren.“ Sie erwiderte kühl: „Das können Sie sich sparen. Ich weiß nicht mehr von ihm als den Namen. Das habe ich alles schon zu Protokoll gegeben.“ 165
„Sie wissen außerdem“, sagte er, „daß er hier gewohnt hat.“ „Übernachtet hat“, korrigierte sie ihn. „Und daß er mehrere Male in diesem Hotel abgestiegen ist“, fügte Metzendorfer hinzu. „Das hat er gesagt“, erwiderte sie. „Und daß er aus Frankreich kam“, ergänzte er. „Auch das hat er gesagt“, parierte sie. Metzendorfer sah überlegend an ihr vorbei, lächelte schief und meinte: „Und das alles hat er Ihnen erzählt, während Sie sein Zimmer aufräumten.“ Er setzte kein Fragezeichen dahinter. Sie war nicht leicht zu schlagen. Sie sagte einfach: „Er war sehr redselig.“ Dieses Wort nahm sich in ihrem Mund sonderbar fremd aus. Jetzt schwieg Metzendorfer. Es entstand eine Pause. Plötzlich bückte sich das Mädchen nach dem Staubsauger, ergriff ihn und wollte zur Tür hinaus; aber da stand Metzendorfer und rührte sich nicht. „Ich habe noch viel Arbeit“, sagte sie deutlich und fügte mit frecher Höflichkeit hinzu: „Würden Sie so freundlich sein, mich vorbeizulassen!“ Er sah sie wieder an; sie stand dicht vor ihm und blickte ihm gerade in die Augen; er sagte: „Ich möchte nicht Katz und Maus spielen, Fräulein Trizius. Ich möchte es auch nicht auf einen Kleinkrieg ankommen lassen. Ich bin kein Kriminalbeamter, ich bin Rechtsanwalt. Ich kann von Ihnen keine Auskünfte verlangen, ich kann Sie nur darum bitten.“ Es entging ihm nicht, daß sich in ihren Augen fast unmerklich eine Veränderung vollzog: War der Ausdruck bisher kalt, abwägend, kampfbereit gewesen, so war nun eine Spur von Anteilnahme darin. Wie weit diese Anteil166
nahme gehen würde, wußte er nicht; sie konnte auch wieder verlöschen. Das Mädchen sah unentschlossen auf den Staubsauger, den sie immer noch in der Hand hielt. Metzendorfer sagte: „Ich weiß, ich kann Sie jetzt nicht aufhalten. Ich möchte Ihnen vorschlagen, mit mir zu Abend zu essen, und wenn Sie mögen, können wir uns dort oder anderswo unterhalten.“ Das Grau ihrer Augen war wieder kalt und beherrscht, als sie ihn ansah. „Nein“, sagte sie kurz. „Ich habe nichts zu erzählen.“ „Mag sein“, gab er nach, „trotzdem, Fräulein Trizius! Es würde mir möglicherweise schon helfen, wenn Sie mir den Eindruck schilderten, den Sie von ihm hatten.“ Er zauderte nicht, geradezu fortzufahren. „Ich bin der Verteidiger des Mörders.“ Sie starrte ihn an, zuerst fassungslos, dann mit erwachendem Interesse; Metzendorfer spürte, daß er in diesen Augenblicken für sie zu einer Sensation wurde, das war seine Chance. Auf einmal ertappte sie sich bei dieser Unbeherrschtheit. Es war, als packte sie sich selbst an den Schultern und rüttelte sich. Sie machte die Lider eng; sie erweckte den Eindruck, als rechnete sie irgend etwas zusammen. Sie sagte: „Und wenn Sie der liebe Gott oder der Teufel wären – nein! Ich will nicht!“ Metzendorfer wußte, daß er jetzt mehr nicht erreichen konnte; es war ihm klar, daß jeder weitere Versuch, sie umzustimmen, nur ihre Abwehr verstärken würde. Er trat beiseite, und als sie an ihm vorbei durch die Tür ging, sagte er höflich: „Wie Sie wollen, Fräulein Trizius. Daß Altbauer ein redseliger Mann war, schon diese Auskunft ist mir nützlich.“ 167
Da war sie an ihm vorüber. Er sah ihr nach, wie sie zum nächsten Zimmer ging, den Schlüssel aus der Schürzentasche holte und aufschloß. Er drehte sich um und ging auf die Treppe zu. Am Ende des Treppenaufgangs war ein Spiegel angebracht. Und in diesem Spiegel sah er, wie das Mädchen, die Hand auf der Klinke, stehengeblieben war und ihm mit einem merkwürdigen Ausdruck in den Augen nachsah. Sie selbst bemerkte nicht, daß er sie beobachtete.
3. Zeit zu erwürgen, fiel Metzendorfer schwer. Er war nicht der Mann, der ins Kino ging, nur um ein paar Stunden umzubringen. Er hatte keine Begabung, durch die Passagen an Geschäften vorbeizubummeln und sich an den Auslagen zu freuen. An diesem Tage bereute er, daß ihm diese Fähigkeit fehlte. Er schlenderte durch die Straßen, fand sich zu seinem Entsetzen bald wieder an der gleichen Stelle, schlenderte weiter, war dankbar dafür, daß es nicht regnete, ging in ein Kaffee, staunte darüber, wie schnell die Tasse geleert war, versuchte es mit der Zeitung, gab auch das wieder auf, als er sich dabei ertappte, daß er sich, unsinnigerweise und ohne es zu bemerken, in die Spalten „Heiratsanzeigen“ verirrt hatte. Beim Mittagessen spürte er verhaltenen Zorn, weil ihn der Kellner rasch und makellos bediente und auch dadurch wieder zuwenig Zeit verstrich. Er dachte über sich selbst, über sein Leben nach, und er fand, daß es grau war wie dieser trübe Herbsttag, aufgehellt nur durch die zu seltenen Besuche bei seinem Freund Marahn, von dem er nicht einmal wußte, ob er die 168
gleiche Freundschaft empfand oder nur eine Art von Schulkameraderie, die sich durch die Jahrzehnte schlich. Er war so alt wie Marahn, er hatte keine bemerkenswerten Abenteuer erlebt, er wäre nie auf den Gedanken verfallen, eine so junge Frau zu heiraten. Seine eigentliche Freude waren seine Plädoyers, in denen er unvermutet Richtern und Staatsanwälten kühne und scheinbar spitzfindige, aber stets genau begründete juristische Tricks versetzen konnte, und zu diesem Zwecke verbrachte er seine Stunden bei Gesetzbüchern, Kommentaren, Reichsund Bundesgerichtsentscheidungen. Er blieb vor einem Schaufenster stehen und starrte unverwandt auf eine Dekoration von MAY-Kragen, die ihn nicht interessierten; nun mußte er sich die Frage beantworten, womit ein Mann in mittleren Jahren, mit dünnem rötlichem Haar, ohne jede Kühnheit und Exzentrizität, ohne auffallendes Auto und mit vergleichsweise bescheidenem Einkommen, womit also ein solcher Mann ohne irgendwie bemerkenswertes Image ein junges Mädchen wie diese Gina Trizius dazu verführen könnte, ihm mehr zu verraten, als sie beabsichtigte. Er wandte sich ab. Er verließ die MAY-Kragen, ohne das Geheimnis gelöst zu haben. Er wanderte weiter durch die grauen Straßen und wußte, daß er sich auf den Einfall des Augenblicks verlassen müssen würde. Er hatte ein scheußliches Gefühl im Magen bei diesem Gedanken, er, der sich sonst mit allen nur denkbaren Kommentaren und Auslegungen auf seinen großen Trick vorzubereiten pflegte. Das einzige, was er erreicht hatte, war, daß ihm der Kellner beim Frühstück die Einteilung der Arbeitszeit verraten hatte; aber das als Erfolg zu verbuchen, fand Metzendorfer geradezu läppisch. Weit schwerwiegender 169
war seine Niederlage; denn sein vergebliches Winken mit dem Fünfzigmarkschein erschien ihm als Niederlage. Das war zu billig gewesen, wußte er jetzt, und er wußte auch, daß er mit Geld diesen geschickt mit Rouge betupften Mund nicht würde öffnen können. Womit also? Denn daß dieser Mund mehr zu sagen hatte, davon war Metzendorf er überzeugt. Er hatte das Gesicht des Toten gesehen, es hatte sich ihm eingeprägt; junge Männer dieses Typs waren nicht „redselig“, wie die Kleine behauptet hatte. Er seufzte unhörbar, sah auf die Uhr und entschloß sich, zum Hotel zurückzuschlendern. Er begab sich nicht auf sein Zimmer, sondern ging in den Hof und setzte sich in seinen Wagen. Er ließ ihn an, gab an- und abschwellend bald mehr, bald weniger Gas und wartete, bis die richtige Fahrtemperatur entstanden war; aber das alles geschah wieder nur, um Minuten auszuradieren. Endlich schob er den Gang hinein und zog den Wagen gemächlich durch das Tor, stieß die schwarze Schnauze behutsam durch das Menschengewühl auf dem Trottoir, wartete den Gegenverkehr ab, bemerkte im gleichen Augenblick eine günstige Parklücke auf der jenseitigen Straßenseite und glitt dort hinein. Der Motor lief weiter, während sich Metzendorfer bequem auf seinem Sitz zurechtrückte und die Arme übereinanderschlug. Er beobachtete aufmerksam durch den Rückspiegel. Er erblickte Menschen und Dinge wie durch ein umgekehrtes Fernrohr; Metzendorfer fiel das zum ersten Male auf, und es kam ihm vor, als hätte er seine Lebensjahrzehnte sämtlich so zugebracht mit dem Blick in den Rückspiegel; denn das Schicksal der einzelnen Menschen hatte ihn niemals tief innen berührt und die Schicksale der Völker 170
ebenfalls nicht: Er hatte es sich leicht gemacht, allenfalls hatte er sie durch die Lupe seiner Gesetzbücher beschaut. Nur seinen Freund Marahn hatte er anders angesehen, und deshalb saß er jetzt hier und fand sich ein wenig albern in dieser Rolle eines spähenden Detektivs, die ihm so wenig anstand und an deren Realität er eigentlich nie geglaubt hatte. In diesem Augenblick trat die Kleine aus der Toreinfahrt, graziös, keck und hübsch anzusehen, etwas frech auch mit den in die Schläfen gezirkelten Augenbrauen und zweifellos unnahbar, wenn sie es sein wollte. Sie sah nach rechts und nach links, als erwartete sie jemanden; aber vermutlich war das nur eine Angewohnheit, denn gleich darauf tauchte sie in das Menschengewühl ein mit jenem stöckelnden Schritt, der allen Mädchen den kurzen Rock über den Schenkeln spannt. Metzendorfer zog behutsam den Wagen rückwärts aus der Parklücke, konnte gerade noch rechtzeitig wenden, ohne die Trizius aus den Augen zu verlieren, und fuhr ihr nach. Als er auf ihrer Flöhe angekommen war, hupte er. Sie sah herüber, und obwohl sie den Kopf sofort wieder geradeaus wandte, glaubte Metzendorfer zu bemerken, daß sie das Tempo änderte. Jetzt ließ es Metzendorfer darauf ankommen. Er ordnete sich endlich in den Autostrom ein, den er bisher wie ein Stück Treibholz gehemmt hatte, er gab der Kleinen kein weiteres Zeichen, sondern fuhr einfach geradeaus, bis ihm der Zufall wiederum eine Parklücke zuschanzte. Metzendorfer stieg aus und wartete nahe am Kühler. Er strich die dünnen roten Haare aus der Stirn und blickte leicht ermüdet in das Auf- und Abtauchen der Menschen, die an ihm vorbeizogen, als rollten sie über Katzenkopfpflaster. 171
Als er das Mädchen sah, erkannte er an der Art, wie sie schräg durch den Menschenstrom auf ihn zuging, daß er es war, den sie schon an der Toreinfahrt erwartet hatte. Sie täuschte nichts vor, machte kein Manöver, tat nicht, als hätte sie ihn nicht bemerkt und müßte sich von seinem Anruf überraschen lassen. Er reagierte in gleicher Weise, trat vom Kühler zurück, gab ihr den Weg frei, öffnete den Schlag, ließ sie einsteigen, setzte sich an das Steuer und brachte den Wagen in Gang. Das alles geschah wortlos, als wäre es so verabredet gewesen, und Metzendorfer wunderte sich, daß so etwas überhaupt möglich war. Er vermied es, irgendwelche Neugierde zu zeigen, er verbot sich sogar einen schnell prüfenden Blick zu ihr hinüber. Er fuhr einfach geradeaus, wartete an Kreuzungen, fuhr weiter, ziellos, und doch mit dem einen Ziel – sich so zu verhalten, daß diese Gina Trizius zu reden begänne. Plötzlich hörte er ihre kühle Stimme, distanziert und doch leicht nervös: „Wenn Sie denken, ich hätte mit dem geschlafen, das ist es nicht.“ Er nickte stumm einem Volkswagen zu, der vor ihm fuhr. Er hörte sie: „So was überlege ich mir genau. Mein Typ war er nicht. Und er fuhr am nächsten Tage nach Passau – wozu also!“ Das klang nach Verteidigung. Metzendorfer wollte sie von diesem Gedankengang ablenken; er stellte die Weiche: „Wenn ich Sie nicht für klug hielte, Fräulein Trizius, dann hätte ich Ihnen heute morgen statt der fünfzig eben hundert Mark geboten. Aber ich wußte sofort, daß so etwas bei Ihnen nichts nützt.“ „Genau!“ setzte sie ihren Stempel darunter, und dann schwieg sie. 172
Metzendorfer wendete um einen Häuserblock; er wollte die Innenstadt vermeiden. „Und eigentlich ist es mir auch egal“, hörte er sie dann endlich wieder, „ob der ermordet wurde. Ich hab’ ihn kaum gekannt – was geht’s mich an!“ Bruchteil einer Sekunde war Metzendorfer versucht, darauf heftig zu reagieren. Er bezwang sich. Vielleicht, so mußte er plötzlich denken, wäre es immer noch besser, keine Gefühle zu besitzen und sich zu dieser Leere zu bekennen, als eine Fülle vorzutäuschen, nur weil so etwas üblich war. Indessen wußte er immer noch nicht, ob er den Schlüssel in der Hand hatte oder nicht. Er hielt es durchaus für möglich, daß ihm die Kleine plötzlich zu halten befahl, damit sie aussteigen könnte, und er würde es tun müssen. Da glaubte er zu hören, daß sie sich bewegte, wahrscheinlich vorbeugte; er hatte zudem das Gefühl, betrachtet zu werden. Er bemühte sich, den Anschein der Gleichgültigkeit zu wahren. Ihre Stimme war verändert; es war etwas vom Erstaunen eines Kindes darin, als sie ihn fragte: „Verteidigen Sie wirklich den Mörder?“, und nach einer kurzen Pause: „Ich habe mir immer vorgestellt, solche Verteidiger müßten ganz anders aussehen.“ Jetzt endlich sah er flüchtig zu ihr hinüber; tatsächlich hatte er richtig vermutet: Sie blickte ihn prüfend an. Er lächelte leicht und sagte: „Tja, ich verteidige ihn tatsächlich.“ Und als müßte er das erklären: „Wissen Sie, ich bin ein Schulfreund von ihm!“ „Ach so!“ sagte sie und schien befriedigt, und in diesem Augenblick wußte Metzendorfer, daß sie ihn nur aus Neugierde gesucht hatte, nur deshalb, weil ihm so völlig das Image eines Strafverteidigers fehlte, wie es 173
ihr mit unzähligen Filmen und Romanen eingestanzt worden war. „Wo wollen wir essen?“ fragte er, als wäre es das Selbstverständlichste. „Ich denke, im Rocco“, erwiderte sie sofort.
4. Das Essen verlief schweigend. Metzendorfer war erstaunt gewesen, daß ihn das Mädchen in dieses Lokal geführt hatte. Er hatte erwartet, das Rocco werde eines jener Unternehmen sein, die mit vielen Spiegeln, Kerzen und Sekt eine falsche Mondänität vortäuschten. Er mußte sich gestehen, daß er die Kleine wieder einmal falsch eingeschätzt hatte. Das Rocco war solid. Hier aß man gut, die Auswahl der Speisen war groß, die Zubereitung entbehrte nicht des Gaumenkitzels; der Ober pries keinen Sekt an und schien nicht zu erwarten, daß er bestellt würde, sondern er empfahl sachkundig Weine, die dem Menü entsprachen. Freilich, es war auch kein billiges Lokal, keine Massenware, die geboten wurde, hier würde die kleine Trizius nicht ihr tägliches Mittagessen einnehmen. Auch das sprach dafür, daß sie ihre Chancen zu nutzen wußte. Manchmal sah Metzendorfer über den Tisch hinweg die Trizius an; er freute sich an der freundlichen Selbstverständlichkeit, mit der sie aß, an dem gesammelten Ernst, mit dem sie sich dieser Tätigkeit hingab, an der Art, mit der sie den Wein genoß. Das junge Gesicht, die Frische der Haut, die zierlichen und doch festen Finger – das alles gefiel ihm; er mußte das wohl, so sagte er sich nachdenklich, im Gewirr seiner Paragraphen und Artikel völlig vergessen haben, und er ertappte sich dabei, daß er über dem 174
Anblick eines kleinen Zimmermädchens beinahe den Grund vergaß, warum er jetzt mit ihr hier im Rocco war. Nach dem Essen sah sie ihn plötzlich an, und diese grauen, kühlen, abwägenden Augen zerstörten sofort jeden Traum von Lieblichkeit und Hingabe. „Wir sind fertig“, sagte sie knapp, „und ich werde nach Hause gehen, und Sie werden überhaupt nichts gefragt haben.“ Eine Spur von Mißtrauen war darin: Ist das denn wirklich der Verteidiger eines Mörders, ist es nicht doch nur ein besonders schlauer Galan, der mich fangen will? Warum fragt er denn nicht? Metzendorfer sah den Händen des Kellners zu, die mit dressierter Geschicklichkeit, so als würden sie von keinem Hirn dirigiert, den Tisch vom Geschirr befreiten und dann mit der üblichen, scheinbar liebevollen Besorgnis ein paar Krümelchen mit der Serviette aufnahmen. Er sagte zu diesen Händen: „Natürlich war Altbauer nicht redselig, er war kein Schwätzer, das haben Sie nur so hingelogen.“ „Stimmt!“ hörte er sie kurz antworten. „Aber ich habe nicht mit ihm geschlafen“, beteuerte sie nochmals, „und eigentlich war alles nur ein Spaß. Ich weiß selbst nicht, warum ich darauf eingegangen bin.“ Metzendorfer pflichtete ihr dieses Mal nicht bei. Er sagte kurz: „Immerhin haben Sie sich sein Gesicht gut gemerkt, Sie erinnerten sich an den Namen, obwohl er in der Gästeliste nicht geführt wurde. Sie haben vorhin gesagt, daß er nach Passau wollte. Ich bin überzeugt, daß Ihnen solche Einzelheiten nicht von jedem Hotelgast bekannt sind.“ „Sind sie auch nicht“, erwiderte sie störrisch, „da hätte ich viel zu tun. Und das interessiert mich nicht. Nur eben – da war dieser Spaß.“ 175
Sie schwieg. „Welcher Spaß?“ fragte Metzendorfer und sah sie an. Sie antwortete sofort: „Er hatte ebensolange geschlafen wie Sie, er war aus Frankreich gekommen und müde. Sein Zimmer war nicht verschlossen. Ich machte die Tür auf, und als ich ihn im Bett liegen sah, wollte ich leise wieder hinausgehen. Aber er winkte mir, und ich dachte, er wollte sein Frühstück auf dem Zimmer nehmen, das tun viele aus Bequemlichkeit.“ Sie sah abwesend an Metzendorfer vorbei und fügte hinzu: „Möchte ich nie! Da ist man doch nicht frisch! Ich muß beim Frühstück immer ganz frisch sein, sonst schmeckt es mir nicht!“ „Aber er wollte kein Frühstück?“ fragte der Anwalt behutsam. „Nein“, sagte sie, „als ich im Zimmer war, stieg er aus dem Bett. Er hatte einen weinroten, längsgestreiften Pullover über dem Schlafanzug an. Ich dachte im Augenblick: Nun will er doch was von dir! Aber er stellte sich neben dem Bett an die Wand und sagte: ‚Man hat mir was gestohlen!‘“ Sie überlegte kurz, ehe sie fortfuhr: „Ich dachte, er wollte es mit mir auf die billige Art versuchen, so: Du hast mir mein Herz gestohlen, und dann ins Bett. Viele versuchen es so, aber das zieht nicht bei mir.“ Metzendorfer sah sie unverwandt an, er bemerkte den verächtlichen Zug, den ihr Mund bekam, so, als erinnerte sie sich an etwas. Er schwieg. Sie sagte: „Ich habe gleich laut gelacht …“ Sie sah Metzendorfer triumphierend an und sagte: „Ich kann nämlich dann so ganz laut lachen, das wirkt wie eine kalte Dusche! Na ja, aber bei ihm wirkte das nicht. Ich sagte noch: ‚Aber nein, da müssen Sie bitte noch mal in allen 176
Ihren Koffern nachsehen, denn in unserm Hotel ist noch nie was gestohlen worden, das wäre das erstemal!‘ – Er blieb an der Wand stehen und sagte: ‚Ich behaupte doch nicht, daß mir in diesem Hotel etwas gestohlen worden ist! Ich sage nur: Mir ist etwas gestohlen worden! Und das Schreckliche ist: Ich weiß nicht einmal genau, was und wieviel, ich weiß nur, daß es so ist, und ich kann mir vorstellen, wer dahintersteckt.‘“ Das Mädchen feuchtete mit der Zungenspitze die Oberlippe und sagte mit jenem geraden, kühlen Blick, den Metzendorfer schon kannte: „Ich dachte: Entweder ist er verrückt, oder er hat einen neuen Trick. Ich wußte einfach nicht, woran ich war, und mich interessierte das alles ja auch gar nicht. Deshalb zuckte ich nur die Schultern, meinte, er solle seinen Diebstahl bei der Polizei melden und ich müsse gehen, ich hätte viel Arbeit.“ Sie runzelte die Stirn, und die senkrechten winzigen Falten zusammen mit den dünnen schwarzen Schwüngen der Augenbrauen in die Schläfen hinein nahmen sich wie ein kleines dunkles Teufelsfeuerwerk aus. „In dem Augenblick war er mit einem Satz bei mir, wirklich mit einem einzigen Satz. In dem Moment dachte ich: Das ist ein Wahnsinniger, jetzt schmeißt er dich übers Bett und drückt dir die Kehle zu, oder er tut sonstwas, und ich wußte, ich könnte mich dagegen gar nicht wehren. Ich hatte furchtbare Angst.“ Sie sah Metzendorf er an und sagte sachlich: „Ich habe eigentlich nie Angst!“ Er nickte; er glaubte es ihr. Da atmete sie tief aus und ein; die Erinnerung an jene Szene mußte sie doch getroffen haben. Ehe sie zu sprechen fortfahren konnte, nagte sie an der Unterlippe. 177
Sie sah Metzendorfer aufrichtig an und sagte: „Er tat mir überhaupt nichts. Er versuchte es nicht. Er wollte nur, daß ich noch einen Augenblick in seinem Zimmer bliebe. Ich bin heute noch davon überzeugt, daß ihm wirklich etwas gestohlen worden war, und er wollte mir einen Vorschlag machen. Den sollte ich mir anhören, das war alles!“
5. Als Metzendorfer um Mitternacht ruhelos in seinem Hotelbett lag und die Reflexe der Autoscheinwerfer verfolgte, die unablässig hinter dem Vorhang hervor an der Zimmerdecke entlanghuschten, rekonstruierte er das spätere Geschehen, von dem ihm Gina Trizius berichtet hatte, so: Joseph Altbauer war irgendwoher aus Frankreich gekommen, vermutlich nicht aus Paris. Er hatte dort einen großen geschäftlichen Plan verfolgt und Ergebnisse mitgebracht. Welcher Art der Plan war, blieb unbekannt – und auch, wie die Ergebnisse aussahen. Jedenfalls hatte die Trizius den Eindruck gehabt, er hätte mit irgendwelchen amtlichen Stellen verhandelt, die Verhandlungen wären langwierig gewesen. Metzendorfer fragte sie, ob er davon berichtet hätte? Sie zuckte die Schultern, und als sie ihn ansah, war zum ersten Male etwas wie Ratlosigkeit in ihren Augen. „Ich weiß es nicht“, antwortete sie, „vielleicht habe ich mir das auch nur eingebildet. Ich habe eigentlich gar nicht hingehört, ich habe das irgendwie mitbekommen.“ Der Anwalt wollte den Eindruck vermeiden, als nähme er ein Verhör vor. Absichtlich verbreitete er sich darüber, wie seltsam es wäre, daß man kaum je genau hinhöre auf 178
das, was ein anderer sage, daß man bei seinen Beobachtungen erheblichen Irrtümern unterworfen wäre, wie die Zeugenaussagen immer wieder bewiesen, so daß man sagen könnte: Der Mensch schaute auf das, was um ihn wäre, überhaupt nicht hin. Das reizte die Kleine zum Widerspruch. Obwohl sie bisher übermäßig sorgsam auf gutes Benehmen geachtet hatte, stützte sie plötzlich die Ellenbogen auf den Tisch, bettete den Kopf zwischen beide Fäuste, starrte Metzendorfer an und murrte: „Was ich wirklich sehen will, das sehe ich auch. Da kann ich tausend Eide drauf schwören!“ Metzendorfer hütete sich zu lächeln. Er lobte sie: Dann wäre sie eine der seltenen Ausnahmen, um so besser wäre es für dieses Gespräch. Sofort wurde sie wieder aufmerksam, zog sich sozusagen vom Tischrand zurück und saß steif, abwartend, abwehrbereit da, Mißtrauen in den Augen. Nun gab Metzendorfer es auf. Er begriff, daß zu viele Umwege zwecklos wären. Er fürchtete, daß sie ihn vom Ziel wegführten. Gina Trizius mußte erkannt haben, daß seine scheinbare Nachgiebigkeit nur eine Art von Elastizität war, die seine nächste Frage mit um so größerer Energie ins Ziel schoß. Wußte sie das aber, mußte er sich zu dieser Taktik bekennen. Er fragte: „Was war das für ein Vorschlag?“ Sie zog die dünnen Brauen mit gespieltem Erstaunen in die Stirn, die haardünn in die Schläfen ausgezogenen Bögen nahmen sich nun wie winzige Hörnchen aus. „Ich habe keinen Vorschlag gemacht!“ antwortete sie harmlos. „Nein, Altbauer natürlich!“ „Wieso? Sie kannten ihn doch nicht?“ 179
„Freilich kannte ich ihn nicht. Wie kommen Sie auf diese Idee, Fräulein Trizius? Ich säße doch sonst gar nicht hier!“ „Ich denke“, meinte sie gelassen, senkte die Brauen wieder und zog die kleinen schwarzen Hörnchen ein, „er hat Ihnen einen Vorschlag gemacht?“ Metzendorfer sah sie verblüfft an. Sie begegnete ihm mit einem ernsthaften Blick, und plötzlich lächelte sie so, daß er sich vorstellen konnte, wie sie als Schulmädchen gelächelt haben mußte, wenn es ihr gelungen war, einem Lehrer einen Streich zu spielen. Er schob die dünne Strähne roten Haares aus der Stirn, hob sein Weinglas, lächelte schwach und sagte in dem Jargon, der ihr geläufig war: „Ich passe!“ Im gleichen Augenblick wußte er: Dies ist die richtige Tonart, wußte: Die Kleine ist launenhaft und reagiert entsprechend ihrer Stimmung, und wußte: Jetzt werde ich wirklich alles erfahren, was sie weiß. Und um das zu unterstreichen, setzte er noch hinzu: „Sie haben mich ausgetrickst!“ Als er später – es war Nacht, und die Scheinwerfer der entgegenkommenden, unsichtbaren Autos hüpften wie glänzende Bälle auf ihn zu – die Gina Trizius nach Hause fuhr, war ihm tatsächlich folgendes bekannt: Joseph Altbauer war nicht nur im Hotel Mainau abgestiegen, um dort zu übernachten. Er hatte sich vielmehr mit einem Bekannten oder einem Geschäftsfreund – das Mädchen wußte es nicht genau – getroffen, der vermutlich in Süddeutschland beheimatet war. Mit ihm verhandelte Altbauer noch bis gegen Mitternacht im Foyer des Hotels. Erst als Altbauer schon schlafen gegangen war, fiel ihm ein, warum die Verhandlung 180
kein Ergebnis gehabt hatte: Der andere mußte in seiner Aktenmappe Dokumente haben, durch die er selbst aus dem Geschäft ausgeschaltet werden sollte. Deshalb glitt ihm in dem Augenblick, als sie, die Gina Trizius, das Zimmer betreten hatte, das Wort vom Diebstahl über die Zunge. Er sagte ihr, er müßte Gelegenheit haben, in das Einsicht zu nehmen, was der andere in seiner Aktentasche hatte. Nur dann könnte es ihm möglicherweise gelingen, den Schlag abzuwehren, der ihm zugedacht worden war. Also möge sie ihm dabei helfen, und wenn sein Plan gelänge, sollte es ihm auf einen Tausender nicht ankommen. Gina Trizius schreckte vor dieser Summe zurück; sie hatte – wie stets in solchen seltenen Augenblicken des großen Angebots – das sichere Gefühl gehabt, sie sollte für eine gefährliche Sache billig abgefunden werden. Natürlich war ihr noch nie ein Tausender geboten worden; aber immerhin und um so mehr! Während pausenlos die Reflexe der Scheinwerfer hinter dem Vorhang hervorfuhren, konnte sich Metzendorf er gut vorstellen, welchen Anblick diese Gina Trizius dem Altbauer in jenen Sekunden geboten hatte: Er sah, wie sich in ihr noch erschrecktes Gesicht bereits wieder kühle Überlegung schob, wie sich die dünngeschwungenen Augenbrauen arrogant in den Schläfen bewegten wie winzige Schlangen, weil sie die Stirn runzelte. Sie forderte, Altbauer müsse sie sofort freigeben, er glaube wohl, sich gegenüber einem wehrlosen Zimmermädchen alles herausnehmen zu dürfen? Dabei war ihr schon klar, daß sie ein solches Angebot nicht annehmen würde; aber es reizte sie, diesem Mann mit dem so alltäglichen Aussehen, der sich aber höchst sonderbar benahm, 181
aus freien Stücken beizustehen. Er sah tatsächlich alltäglich aus, wenn Metzendorfer auch nie danach fragte (er tat es nicht, er kannte das Antlitz des Ermordeten ja gut) – ein jüngerer Mann noch, höchstens Mitte Dreißig, energisch das Gesicht, so ein Sportlertyp mit Jägerhütchen, wie sie auf allen Straßen herumliefen, in allen Bars hockten. Er ließ sie sofort los, starrte sie an, trat dann resigniert an das Fenster und zog den Vorhang weg, der von der Nacht her noch das Licht dämpfte. Altbauer sah sie nicht an, sondern zum Fenster hinaus und sagte vor sich hin: „Dann muß ich es anders versuchen. Mein Gott, und das wäre so reibungslos gegangen! Pech!“ Gerade diese Bemerkung zog sie an. Das „imponierte“ ihr, wie sie sich ausdrückte. Er war völlig überrascht, als sie meinte, wenn er sie nicht anfalle wie ein Tiger, könne er ihr ruhig sagen, was er habe. Nur langsam drehte er sich um und sah sie lange an, um endlich zu bemerken: „Richtig, gut. Aber ich gebe mich völlig in Ihre Hand!“ Sie zuckte nur die Schultern. Darauf fragte er eindringlich: „Das wissen Sie doch?“ Sie zuckte wieder die Schultern und schwieg. Metzendorfer wußte, während er sich das unter den ziehenden und schießenden Reflexen der Scheinwerfer an der Zimmerdecke vorstellte, daß die kleine Trizius nicht nur den Mann gesehen hatte, sondern auch sich selbst: ein bißchen frech, provokant die zinngrauen Augen, eine ungewöhnliche Situation mit Verve bestehend. Und daß sie sich in dieser Rolle gefallen hatte. Altbauer grübelte, so sagte sie, noch weiter, bis sie endlich sagte, sie müsse weiterarbeiten, also entweder – oder! Da teilte er ihr seinen Plan mit. 182
Sie nickte. Sie war einverstanden. Es fielen nur noch ganz kurze Bemerkungen zur Ausführung des Vorhabens. Etwa eine Stunde später hatte sie ihren Auftrag erledigt. Und wieder zwanzig Minuten später eilte Altbauer leise und schnell, offensichtlich nervös, den Gang entlang – ja, mit leeren Händen, daran erinnerte sie sich genau! – und flüsterte ihr zu: „Es hat geklappt! Schönen Dank, Kleine! Ich muß heute noch nach Passau. Aber ich komme bald zurück, und du sollst eine Überraschung haben wie noch nie in deinem Leben!“ Sie sah ihn danach nicht mehr. Er kam, wie Metzendorfer ja wußte, nicht zurück.
6. Wie einen Tag zuvor, als Metzendorfer in Frankfurt ankam, spürte er wieder den ziehenden Schmerz in der Schläfe. Der Zug der Reflexe war ermüdend und irritierend, und die Grübelei über den Bericht der Trizius auch. Während er draußen einen dröhnenden Regenguß niederschmettern hörte, mußte sich der Anwalt gestehen, daß seine Bemühung bisher nur ein Ergebnis gehabt hatte: Alles verwirrte sich noch mehr. Auf keinen Fall hatte er eine irgendwie geartete Hilfe für Marahn gefunden. Bisher hatte er bei seiner Verteidigung des Freundes wenigstens die Möglichkeit gehabt, anzudeuten, der Ermordete hätte vermutlich aus kriminellen Gründen den Bungalow aufgesucht. Jetzt schien das wenig wahrscheinlich. Im Gegenteil war es vollkommen unklar, warum und wieso Altbauer überhaupt Bad Berneck für einen Aufenthalt gewählt hatte. Sosehr Metzendorf er darüber nachdachte: Es fiel ihm kein triftiger Grund ein. Zornig 183
gestand er sich, daß Groll vermutlich recht gehabt hatte, der Sache nicht weiter nachzugehen. Er hatte sich jedenfalls Grübeleien erspart. Und die Aussage der Trizius? Anzuzweifeln wagte sie Metzendorf er nicht; das Mädchen hatte auf ihn während des Berichts einen aufrichtigen Eindruck gemacht. Aber was er von ihr erfahren hatte, war wenig genug. Alles, was sie mit Altbauer vereinbart hatte, war, daß sie von einer Telefonzelle aus den anderen im Hotel Mainau anrufen würde, um ihn in eine bestimmte Firma in Frankfurt zu bitten. Altbauer hatte ihr die Zimmernummer gegeben. Um den Namen hatte sie sich nicht gekümmert. Der Unbekannte hatte sich zwar damit gemeldet; aber das Mädchen hatte ihn völlig vergessen. Und ebenso wie Altbauer hatte er sich polizeilich nicht angemeldet. Auch der Firmenname war ihr entfallen. Er war ihr zwar genannt worden; aber das war nur eine unwichtige Vorsichtsmaßnahme gewesen. Sie sollte ihn kennen, falls danach gefragt werden würde. Das war indessen nicht der Fall. Sie meldete sich als ‚Sekretariat Direktor Sebastian‘ und erklärte, Herr Direktor Sebastian bitte in dringender Angelegenheit um einen sofortigen Besuch, und das genügte dem Unbekannten offenbar. Sie sah ihn kurz danach eilig durch die Hotelhalle gehen. Altbauer, der im Vestibül stand, machte sie durch eine Kopfbewegung auf ihn aufmerksam. Sie erinnerte sich an ihn nur undeutlich als an einen Mann von höchstens dreißig Jahren, der sehr modisch gekleidet war, mit einer unguten, teigigen Gesichtsfarbe, die ihr unappetitlich erschienen war. Ja, sie würde ihn zwar wiedererkennen, meinte sie, aber ihn im einzelnen beschreiben konnte sie nicht. 184
Wohin Metzendorfer griff, er packte ins Leere. Die Gestalten, denen er nachjagte, blieben schemenhaft. Es war, als hätte er es nicht mit Menschen zu tun, sondern mit Grabsteinen, deren Inschriften verwittert und kaum mehr zu entziffern waren. Dann sah er plötzlich Marahn vor sich. Bisher hatte er an ihn so gedacht, wie er ihn kannte: umgeben von allen den Dingen in der kleinen Villa in Bad Berneck, durch den Garten gehend, am Fenster das Wetter prüfend, im Gespräch bei Tisch, wenn seine Frau die einladend dekorierten Häppchen vorlegte, oder später am Rauchtisch, beim Genuß eines Glases Wein. Jetzt mußte ihn sich Metzendorfer auf einmal in der Untersuchungshaft vorstellen, zwar noch seine Zivilkleidung tragend und sicherlich einigermaßen höflich behandelt, aber doch mit abgeriegelter Stahlblechtür, mit vergittertem Fenster und einem drahtdurchzogenen dickwandigen gläsernen Sichtschutz davor, der jeden Blick nach draußen verwehrte, auch den in den Himmel. Unwillkürlich hatte Metzendorfer die Augen geschlossen. Aber der Schmerz in den Schläfen verstärkte sich so, daß er ihm die Lider sprengte. Erstaunt gewahrte der Anwalt, daß die gleitenden Lichtbällchen der Scheinwerfer an der Zimmerdecke verlöscht waren. An ihrer Stelle lag knapp über der Gardinenleiste eine schmale Schiene aus hellgrauem Staub, der von da in das Zimmer sickerte und es mit einem diffusen Licht erfüllte. Das war der neue Tag. Metzendorfer erhob sich schwerfällig. Er taumelte, so sehr peinigte ihn der Schmerz, der ihm Tränen in die Augen trieb. Der Anwalt knipste das Nachttischlämpchen 185
nicht an, er fürchtete jedes grelle Licht. Er tastete sich unter die Dusche, trieb vorsichtig die Hitze des ihn überströmenden Wassers bis ins beinahe Unerträgliche und schockierte sich mit einem eiskalten Schwall. In diesem Augenblick fiel ihm etwas ein. Er trocknete sich mit fahrigen Bewegungen ab, ging in das Zimmer zurück, kleidete sich rasch an. Er schleuderte den Vorhang zurück und prüfte sich im Spiegel: ein übernächtigtes Gesicht mit einer feuchten roten Haarsträhne darüber, die er schnell zurückkämmte. Dann sah er sich draußen auf dem Gang in jenen Spiegel am Treppenabsatz hineingehen, vorbei an schlafenden Zimmern. Der Nachtportier hob ihm den Kopf entgegen und schaute ihn dienstbereit an, als er die letzten Stufen hinabschritt. Metzendorfer erbat das Telefonbuch. Der Portier schob es ihm diensteifrig hin. Metzendorfer zog sich in einen Sessel zurück. Er hatte den flexiblen umfänglichen Band auf den Knien liegen, blätterte aufmerksam und suchte. Auch das, was er jetzt tat, erschien ihm unwirklich; es hatte so gar nichts mit seinem bisherigen Leben zu tun. Die langen Kolonnen der Namen, die ihm nichts sagten; die schwarzen Käfer der Buchstaben, die in unendlichen Reihen aufmarschiert waren, die sich unter seinem ermüdeten Blick zu bewegen schienen, die durcheinanderkrochen, als wollten sie ihm einen Zugang, der doch vorhanden sein mußte, versperren; die Zahlen, unter deren Tausenden von Verschlüsselungen er die eine herausfinden wollte, die den Tresor öffnen konnte, in dem möglicherweise ein Geheimnis – oder auch nichts! – lag; dies alles verwirrte den Anwalt so sehr, daß er den Plan aufgeben wollte. 186
Den Zeigefinger noch an der einen Kolonne, in der er zu suchen hatte, hob er den Blick, um aufzugeben, und genau in dieser Sekunde entdeckte er es. Sebastian, Ernst, dieser Name, halbfett gedruckt, konnte es sein. Metzendorfer wiederholte den Vermerk ‚Direktor der HOTIBA AG, Hoch- und Tiefbau Aktiengesellschaft, vorm. Anastasius Blau‘. Er prägte sich die Zahl ein, stand auf, gab das Buch dem Portier zurück, der es unter den Empfangstisch schob, überlegte, ob er von seinem Zimmer aus anrufen sollte, entschied sich für die Telefonzelle in der Empfangshalle, durch deren Scheiben er kontrollieren konnte, ob der Portier mithörte, ging hinein, nahm den Hörer ab und ließ die Scheibe siebenmal zirpen. Er stand leicht vorgeneigt und lauschte auf das Zeichen. Endlich wurde ein unklares Geräusch vernehmbar, das Räuspern eines Mannes, der seine Stimme vom Belag des Schlafes befreite; dann die Worte: „Ja, bitte, hier Sebastian!“ Metzendorfer zögerte. Die Stimme drüben, unwillig schon: „Hier Sebastian!“ Metzendorfer antwortete leise: „Ja, Herr Direktor Sebastian, und hier Joseph Altbauer!“ Es entstand eine lange Pause; Metzendorfer wußte nicht, ob jener Sebastian erschrocken war oder nachgrübelte. Auf jeden Fall mußte er den Namen Altbauer kennen, sonst hätte er anders reagiert. Da war sie schon, jene Stimme, keineswegs erschrocken, nicht einmal erstaunt, sondern wiederum unwillig, eine tiefe und nicht unangenehme Stimme: „Altbauer! Das ist doch ein dummer Scherz! Wer ist denn dort? Ich habe gelesen, daß er ermordet wurde!“ 187
Metzendorfer schwieg. Sebastian sagte unwirsch: „Mitten in der Nacht, nein, das ist kein Spaß mehr, das ist mehr als grober Unfug! Wollen Sie sich endlich melden!“ Metzendorfer schwieg. Er hörte, wie auf der anderen Seite aufgelegt wurde; das geschah rasch und abschließend. Der Anwalt legte seinerseits den Hörer so vorsichtig auf, als bestünde die Gefahr, sich zu verraten. Er stand noch eine Weile und sah durch die Scheibe zu dem Nachtportier hinüber, der den Kopf ostentativ gesenkt hatte und in irgendwelchen Listen blätterte, als wollte er sagen: Was geht es mich an, mit wem du so frühmorgens schon telefonierst? Dann blätterte Metzendorfer nochmals in dem Telefonbuch, das in der Zelle lag, suchte die Anschrift der HOTIBA AG und prägte sie sich ein. Metzendorfer stieß die Tür auf und ging langsam zu dem Portier hinüber, der jetzt aufsah. „Na, hat es geklappt?“ fragte der in einer Art von Vertraulichkeit, als wäre ihm bekannt, daß Metzendorfer ein Rendezvous habe verabreden wollen. „Ja“, antwortete der Anwalt stumpf, „es hat geklappt!“ Er legte ein Markstück hin, übersah die rasche Handbewegung des Portiers, wandte sich um und ging nachdenklich und ohne sich umzublicken treppaufwärts. Der Nachtportier blickte ihm verblüfft nach und schüttelte den Kopf.
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SIEBENTES KAPITEL
1. Obwohl die Reaktion Sebastians für Metzendorfer genug Grund zum Nachgrübeln war, schlief er sofort ein, nachdem er sich wieder niedergelegt hatte. Er sah nicht, wie der graue Staubstreifen über dem Vorhang heller und heller wurde. Die Anstrengungen der letzten vierundzwanzig Stunden und das eigentlich Ergebnislose seiner Nachforschungen warfen ihn in den tiefsten Schlafbrunnen – aus dem er erst erwachte, als mitten im Vorhang zwei helle Rechtecke standen und die Gardinenstange von einem glimmenden Streifen gesäumt wurde. Er fuhr auf und strich das Haar zurück. Plötzlich brach das Bewußtsein wieder in ihn ein, er eilte auf bloßen Füßen zum Fenster, schleuderte den Vorhang zurück und sah in einen wolkenlosen, blaßblauen Herbstvormittag. Nachdem er sich angekleidet und gefrühstückt hatte, ließ er sich das Telefonbuch geben – es war nun ein anderer Pförtner da –, vergewisserte sich noch einmal, stieg in den Wagen und fuhr so rasch wie möglich auf sein Ziel los. Er fand es nicht weit entfernt von der Paulskirche. Als er es entdeckte, minderte er plötzlich die Geschwindigkeit, 189
behinderte die dichte Wagenreihe hinter sich, bemerkte nicht einmal das Anblinken und Anhupen – diesen Anblick hatte er nicht erwartet! Denn wie immer der Fall lag – angefangen von dem absonderlichen und eigentlich verrückten Attentat Marahns bis hin zu seinen Gesprächen mit einem Stubenmädchen –, alles, was ihm bisher in dieser Sache begegnet war, hatte einen privaten und manchmal degoutanten Beigeschmack; die große Liebe hatte zu einer Duldung des Nebenbuhlers geführt, die Metzendorfer – sosehr er Marahn mochte – eigentlich nicht begriff, und das alles hatte geendet nicht in einem Duell, sondern in Mord oder Totschlag. Und der Stellvertreter von Brumerus, der offensichtlich aus Versehen erschossene Altbauer – auch dies wieder eine geschmacklose Nuance des Schicksals, fand der Anwalt – hatte sich als ein Geschäftsmann erwiesen, der notfalls mit Tricks arbeitete, wenn er nicht gar ein Abenteurer war. Metzendorfer konnte also gar nicht erwarten, daß der nächtlicherweise aufgestörte Sebastian sich in einer solchen Umgebung repräsentierte; einem achtstöckigen Hochhaus mit breit durchlaufenden Fensterfronten, gläserne Gürtel um das hellblaue Gebäude. Seitlich davon fand sich ein Parkplatz mit dem dezenten Hinweis: Nur für unsere Geschäftsfreunde! Keine Leuchtreklame, kein auffällig modern verstelltes Schild deutete auf die Eigentümer dieses Gebäudes hin, sondern nur, dicht an der lautlos auf und nieder gehenden Schwingtür, eine kleine schwarze Tafel mit den schlichten weißen Buchstaben HOTIBA AG, vorm. Anastasius Blau. Von drei Seiten strömten flache Treppenaufgänge dieser Schwingtür und der dezenten schwarzen Tafel zu. Wie Metzendorfer zu ihr hinschritt, überkam ihn plötzlich, wie vertrauenerweckend 190
jener Vermerk ‚vorm. Anastasius Blau‘ war, der die seriöse Vergangenheit dieses Unternehmens hervorhob, und sein Plan kam ihm doppelt abenteuerlich vor. Als er in der Anmeldung seinen Wunsch vortrug, Herrn Direktor Sebastian zu sprechen, erwiderte die Empfangsdame: „Sie sind zweifellos angemeldet, Herr Metzendorfer?“, als wäre dies die selbstverständlichste Voraussetzung. „Haben Sie die Freundlichkeit, meinen Namen im Vorzimmer zu nennen und zu sagen, daß ich im Auftrag von Herrn Altbauer komme. Ich warte.“ Damit wandte er sich zur Seite, bemerkte aber gerade noch den zögernden, kritischen Blick, den ihm die Empfangsdame zuwarf, ehe sie sich entschloß, zum Hörer zu greifen. Als sie wenige Zeit später zu ihm sagte: „Herr Direktor Sebastian erwartet Sie. Bitte siebente Etage, Zimmer siebenhundertunddrei!“, atmete er erleichtert auf. Er schien doch an der richtigen Adresse zu sein!
2. Als Metzendorfer das Zimmer des Direktors betrat – Sebastian hatte sich höflich hinter seinem Schreibtisch erhoben und erwartete ihn stehend –, zweifelte der Anwalt sogleich wieder daran, die rechte Anschrift gefunden zu haben. Gewiß: Da er an der Flucht der Türen vorbeischritt – das Zimmer 707 war mit dem Vermerk ‚Direktor Sebastian‘ gekennzeichnet, die Räume 706, 705 und 704 trugen keine Schildchen, und erst Zimmer 703 wies sich als ‚Vorzimmer Direktor Sebastian – Fräulein Güthemeier‘ aus –, war er sich seiner Sache noch gewiß. Daß der Raum, in dem Sebastian dirigierte, vier Ausgänge besaß, schien ihm zu dem selbstverständlichen Pomp solcher 191
Gebäude zu gehören – einem Pomp, den niemand mehr beachtete. Und wenn Direktor Sebastian den Ermordeten kannte, warum sollte er nicht über dessen Transaktionen Bescheid wissen, vielleicht auf irgendeine Art und Weise sogar darin verwickelt sein? Hinzu kam ja, daß er den Anwalt nicht abgewiesen hatte, trotz des nächtlichen Anrufs, über dessen Quelle er sich keinerlei Irrtum hingeben konnte. Während Metzendorfer langsam näher trat und die Tür sich lautlos hinter ihm schloß, erfaßte er das Bild Sebastians, eines eher kleinen Mannes von sicher fast sechzig Jahren, mit gelichtetem Haar und einer überraschenderweise dünngefaßten Brille, hinter der sich graue, geradezu abwegig schielende Augen verbargen. Das war es aber nicht, was ihn irritierte, sondern die Einrichtung dieses Raumes. Er war in Farbgebung und Möblierung alles andere als das, was man „sachlich“ zu nennen pflegt, von Stahlmöbeln, wie sie in solchem Bürokomplex füglich erwartet werden, keine Spur. Auch der mächtige Schreibtisch, das Dirigentenpult des Wirtschaftsmanagers, fehlte, von mehreren Telefonen und vielen Bedienungsknöpfen für Rufzeichen, Diktier- und Sprechautomaten zu schweigen. Vielmehr war der ganze riesige Raum mit Rokokomöbeln verstellt. Der Schreibtisch war zierlich, beinahe damenhaft. Es fehlte nicht die als Petroleumlampe getarnte Lichtquelle. Die Wände und die Decke waren sogar stuckiert, mit aus Füllhörnern quellenden Blumen bemalt, Amoretten tanzten aus hellblauen oder blattgoldenen Himmelsgründen. Der einzige Stilbruch waren zwei jugendstilgeschwungene Lianen, die an der Wand hinter dem Schreibtisch irgendwo hervorkamen und ein Ölgemälde umzingelten, das offenbar einen bedeutenden 192
Mann dieses Unternehmens in glatter Manier mit biedermännisch nachgedunkelten Farbtönen darstellte. Während Metzendorfer sich vorstellte und eine kleine, höfliche Hand ihm auf einem unbequemen Stühlchen Platz anwies, zwischen dessen Lehnen sich ein mürb aussehender, mit Blumen durchwebter Stoff spannte, erschien das Aussehen Sebastians dem Anwalt plötzlich dieser Umgebung adäquat: die dünngerandete Brille, das kleine Persönchen, die winzigen Hände, ja selbst der kräftige Silberblick paßten zu dieser Umgebung, über der man sogar das kühle, imposante Gebäude mit den zweifellos automatisierten Geschäftsvorgängen vergessen konnte. Erst als der Anwalt saß, hörte er Sebastians Stimme, die trotz der äußersten Höflichkeit etwas Durchdringendes besaß. „Ich bin“, sagte der Direktor und sah auf die kleinen Hände, die er vor sich gefaltet hatte, „leider nicht orientiert, weder über den Grund Ihres Anrufs noch über den Ihres Besuchs. Da Sie indessen den Namen des Ermordeten nannten“, jetzt hob er den Blick, und Metzendorfer fühlte sich irritiert, weil er nicht feststellen konnte, ob der andere ihn ansah oder an ihm vorbei, „nehme ich an, daß er triftig ist.“ Er setzte hinzu: „Nur deshalb habe ich Sie empfangen!“ Jetzt wußte der Anwalt, daß er tatsächlich angesehen wurde, und zwar scharf. Er machte keine Umschweife. Nach dem letzten Satz Sebastians wußte Metzendorfer, daß dies keinen Sinn haben würde. War er aber einmal, wenn auch vielleicht höflich, hinausgewiesen, würde er hier nicht mehr eindringen können. Er erklärte: „Es würde mir möglicherweise bei der Verteidigung meines Freundes helfen, wenn Sie mir etwas über den Erschossenen sagen könnten.“ 193
„Ich glaube nicht“, erwiderte Sebastian sofort und blickte wieder auf seine Hände. „Ich weiß von ihm nicht viel. Ich lernte ihn vor etwa drei Jahren flüchtig kennen. Er war bei unserem Unternehmen mit einem Vorschlag vorstellig geworden, ein größeres Projekt, bei dem er unsere Beteiligung wünschte. Ich hatte das zu prüfen. Bei einem informativen Gespräch ergab sich jedoch, daß dies Projekt noch keineswegs spruchreif war. Herr Altbauer benötigte eine Unterstützung, die auch wir ihm in dieser Form nicht geben konnten, ganz abgesehen davon, daß wir dann vermutlich auf seine Mitwirkung verzichtet haben würden.“ Sebastian schien an dem Anwalt vorbeizusehen, hin zu einer der Amoretten. Metzendorfer wartete. Sebastian schüttelte wie besorgt seinen Kopf und sagte: „Außerdem genügten uns die Konditionen nicht, zu denen er bereit war. Es sollte eine Aktiengesellschaft gegründet werden, an der wir mit neunzehn Prozent beteiligt sein sollten. Wir bestehen in solchen Fällen auf der Sperrminorität von fünfundzwanzig Prozent.“ Das leuchtete Metzendorfer ein. In den Aktien war das Kapital einer Gesellschaft verkörpert. Besaß jemand mehr als fünfzig Prozent, so konnte er in den Hauptversammlungen, wenn über einen Vorschlag abgestimmt wurde, jeden Beschluß durchdrücken oder verhindern, sofern nicht ein anderer Aktienbesitzer mehr als fünfundzwanzig Prozent besaß: Diese fünfundzwanzig Prozent in einer Hand genügten wiederum, jeden Beschluß zu sperren. Aber daß Sebastian überhaupt verhandelt hatte? „Im Auftrage selbstverständlich“, erwiderte der freundlich und erstaunt, „nicht für mich selbst.“ 194
Er zögerte unmerklich. „Ich bin hier Direktor“, fügte er hinzu, „ich nehme die Interessen dieses Unternehmens wahr. Ich habe keinen persönlichen Ehrgeiz. Außerdem war mir Altbauer nicht seriös genug.“ Metzendorfer wartete. Sebastian erklärte: „Er hatte zwar auf einer Technischen Hochschule studiert, aber das war alles. Er war kein Unternehmer, wenn er auch“, und jetzt zeigte sich in dem Gesicht Sebastians die Spur eines Lächelns, „sicher viel unternommen hat. Ich kann mich dunkel erinnern, daß er zeitweilig ein Architekturbüro in München hatte, Grundstücke kaufte, Bauaufträge dafür zu bekommen versuchte, ein bißchen Bodenspekulation machte – tja, das ist leider alles!“ Er schwieg. Hinter Metzendorfer öffnete sich die Tür, er hörte ein leises Geräusch. Sebastian versuchte, dorthin zu blicken. Sein Gesicht war ernst, er schüttelte den Kopf und sagte an Metzendorfer vorbei: „Noch drei Minuten Geduld, bitte!“ Der Anwalt wußte, daß dies zur Sekretärin gesagt wurde und daß ihm somit die Zeit zugeschnitten, abgeschnitten hingereicht worden war, die er hier noch sitzen durfte. Er beeilte sich. „Darf ich Sie sehr bitten, Herr Direktor, mir etwas über Altbauers Projekt zu verraten?“ fragte Metzendorfer überaus höflich. „Alles, was ich Ihnen sagen kann“, bemerkte Sebastian erheblich kühler, „ist, daß Altbauer in Saudi-Arabien einen Amerikaner kennengelernt hatte, der über einigen Einfluß verfügte. Altbauer hatte es verstanden, ihn für ein Bauprojekt zu interessieren, das in Frankreich durchgeführt werden sollte.“ 195
Während sich Sebastian bereits erhob, fragte Metzendorfer noch rasch: „Und welcher Art war dieses Projekt? Dürfte ich das erfahren?“ Der Direktor stand vollends auf. Er mußte zu Metzendorfer aufschauen; es behinderte ihn nicht. Er sagte freundlich: „Ich habe Ihnen über Herrn Altbauer Auskunft gegeben, so gut ich vermochte. Es liegt mir wie jedem Bürger daran, in unserm Staate das Recht durchsetzen zu helfen. Schließlich ist Altbauer erschossen worden. Auch wenn Ihr Freund nicht ihn hatte treffen wollen, so gilt es, das bei allem Wohlwollen Ihnen gegenüber und gegenüber dem Täter in Rechnung zu setzen. Im übrigen liegt Altbauers Besuch Jahre zurück, und an sein Projekt kann ich mich genauer nicht mehr erinnern. Das ist wohl begreiflich.“ Wie der Anwalt dann, seine Schritte bezähmend, hinter Sebastian herging, wagte er, noch rasch zu fragen: „Und nach Passau … Ich habe gehört, daß Altbauer von hier nach Passau …“ Sebastian drehte sich nicht um; Metzendorf er kam es vor, als beschleunigte er seine Schritte. Der Anwalt hastete: „Sie sind nicht in der Lage, mir zu sagen, zu wem …“ Er beendete den Satz nicht. Sebastian sprach zu der Tür, die er nun bald erreicht hatte: „Nein, ich bedaure. Der Besuch von Herrn Altbauer liegt, wie gesagt, Jahre zurück. Kürzlich versuchte er, durch einen andern“ (Metzendorfer wußte das besser!) „Zutritt zu mir zu erzwingen. Ich verweigerte den Empfang. Ich kann also nicht wissen, wohin Herr Altbauer gefahren ist.“ Jetzt lag die kleine Hand auf der Klinke und drückte sie nieder, während Sebastian sich endlich umsah und 196
seine freundlichen Augen hinter der dünngerandeten Brille irgendwohin blicken ließ, vielleicht auch auf Metzendorf er. Dabei bemerkte er: „Ich glaube mich erinnern zu können, daß Herr Altbauer in seinem Telefonat davon sprach, Fotos verkaufen zu wollen, die er in SaudiArabien gemacht hatte. Beschwören könnte ich es nicht. Vielleicht hilft Ihnen dieser Hinweis. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch.“ Er zog die Tür auf, verbeugte sich leicht, und Metzendorfer sah durch den Spalt, wie draußen die Sekretärin dienstbereit aufsprang. Er verneigte sich gleichfalls und erwiderte: „Ich bin Ihnen für das Opfer an Zeit außerordentlich verbunden, Herr Direktor! Guten Tag!“ Dann ging er an den drei namenlosen Türen vorüber und an der, die den Titel ‚Direktor‘ und den Namen ‚Sebastian‘ trug. Aus einem verwirrend gestalteten Raume war er wieder in die Kühle des automatisierten Fließbands zurückversetzt, und erst jetzt, durch den Kontrast vermutlich, kam ihm das ganze Gespräch wie geträumt vor. Er glaubte auf Wolken zu gehen, leicht, aber in der Gefahr zu straucheln. Vor dem Gebäude blieb er stehen. Er zwinkerte, der Himmel war hell, wenn auch blaß. Er blendete ihn. Er sah nach dem Parkplatz hinüber, Wagen reihte sich an Wagen, ein Meer von Autodächern: … unsere Geschäftsfreunde! Langsam ließ sich Metzendorfer, einen Fuß nach dem andern, die Stufen hinunterfallen. Während er so die Treppe hinabstieg, die von drei Seiten her dem Portal zuflutete, war er ratlos. Die Umrisse der Gestalt Altbauers, wie er sie noch im Gespräch mit Kriminalkommissar Groll ziemlich klar vor 197
sich gesehen hatte, waren seither verschwommen: Ein Mann, der studiert hatte, der im Orient handelte, der Grundstücke makelte und daran pleite ging, der ein großes Objekt in Frankreich auftrieb, drei Jahre sich darum bemühte, offenbar während dieser langen Zeit Geldgeber fand, die ihn über Wasser hielten; ein Mann, der dieses Objekt für würdig hielt, es einem der größten Bauunternehmen der Bundesrepublik zur Beteiligung anzubieten, der aber gleichzeitig ein kesses Zimmermädchen zu ungesetzlichem Tun beschwatzte und sich in das Zimmer eines Unterhändlers einschlich – ein solcher Mann schien nicht auf einen Nenner zu bringen zu sein. Der Fremde, den Metzendorfer vor sich gesehen hatte, war ein Dieb, ein kleiner Gauner, ein Ganove der niederen Sorte gewesen, der durchaus den Bungalow von Brumerus heimsuchen konnte. Altbauer indessen, war das ein kleiner Dieb, der mit Komplize oder Komplizin einbrach, um sozusagen Wäsche von der Leine zu stehlen? Es sah nicht danach aus! In dem Augenblick, da Metzendorfer den Schlag seines Wagens öffnete, stutzte er; es fiel ihm etwas ein. Wenige Minuten später studierte er den Wegweiser in einem Postamt.
3. Das trockene Fräulein, das ihn bediente, sah ihm zu, während er die Postzeitungsliste überflog. Sie schob die Zunge unter die Brücke am rechten Oberkiefer und suchte eine störende Brotflocke zu lösen. Metzendorfer ließ sich trotzdem Zeit. Er strich die Strähne roten Haars aus der Stirn und sah nochmals die 198
Liste durch, ehe er das Notizbuch zog und sich den Zeitungstitel ‚Bayerische Wacht‘, Herausgeber Hebsacker, aufschrieb. Mit Dank und Gruß reichte er dem trockenen Fräulein die Liste zurück, die sie, stumm und immer noch mit der Brücke beschäftigt, unter die Barriere schob. Als Metzendorfer auf der Mannheimer Autobahnbrücke den Neckar überquerte und nach Heidelberg abbog, erwog er die Möglichkeiten, die ihm blieben: Er konnte heimfahren und die Ergebnisse seiner Suche ignorieren, tun, als wäre er nie in Frankfurt gewesen, um den Spuren eines Mannes namens Altbauer nachzugehen. Er konnte die Karten, die er entdeckt hatte, vor Kriminalkommissar Groll in der Hand fächern und ihn zu einem Spiel auffordern; er war sich allerdings darüber klar, daß dabei kaum mehr herauskommen würde, als wenn er heimführe; denn Groll würde ihn, so wie die Dinge lagen, kaum einen Stich machen lassen; dieses Spiel wäre verloren. Er konnte schließlich – er sah auf die Uhr am Armaturenbrett – ein abermaliges Risiko wagen und weiter nach Spuren suchen; aber der Weg dorthin, wo er sie vielleicht wiederaufnehmen könnte, war weit, und außerdem war er sicher, Kontrahenten zu finden, die einen hohen Einsatz wagen würden. Er aber würde müde sein, und vielleicht würde er sogar Tag und Tag dort vertun müssen und schließlich vor dem gleichen Nichts stehen wie jetzt. War es ein Nichts? Noch vor Sekunden hätte er erwidert: Ja. Nun war er sich seiner Sache nicht ganz sicher. Er sah sich selbst die Autobahn entlangfahren, eingekeilt in Hunderte von anderen Wagen, und auch jetzt am Tage machten ihn die Warnschilder, die Drohschilder 199
nervös: 100 Kilometer! 100 Kilometer! Seine Gedanken irrten ab: Wozu baute man überhaupt schnellere Wagen? Wozu sollte er sich einen neuen kaufen? Sein Mercedes stieg immer noch mit Leichtigkeit über die Hürde der Höchstgeschwindigkeit! Warum also hatte er überhaupt erwogen, einen Borgward Isabella zu erwerben? War er, als er neben Brumerus saß, auch schon dem Prestigedenken verfallen? Ach ja, Brumerus! Er lüftete in Gedanken vor ihm den Hut. Anständiger Kerl! Trotz allem! Die Affäre, in die er hineingeraten war, blieb unangenehm, und an seiner Schuld an den Verwicklungen gab es keinen Zweifel. Aber nachdem er auf die Mitteilungen des Skandalblättchens dem Kriminalkommissar gegenüber äußerst heftig reagiert hatte – und mit Recht, sagte sich der Anwalt, denn die Geschichte war nun einmal peinlich und geschäftsschädigend –, war der Angriff abgeblasen worden. Brumerus hatte keine Beschwerde gegen Groll eingereicht. Damit hatte er dem Beamten unangenehme Auseinandersetzungen mit seinen Vorgesetzten erspart. Übrigens würde auch ihn es vermutlich interessieren, wie der Kerl beschaffen war, der sich in seinem Bungalow aufgehalten hatte. Metzendorfer überlegte, wann er Gelegenheit haben würde, Brumerus darüber zu informieren. Der Turm des Heidelberger Schlosses wurde sichtbar. Metzendorfer wußte immer noch nicht, wie er sich an diesem Tage entscheiden würde.
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ACHTES KAPITEL
1. Fotoredakteur Wenzel Maria Dallinger, 48, katholisch, verheiratet, fünf Töchter, hatte sich angewöhnt, die Fotos, die er publizierte, nach SPIEGELManier zu texten. Er hielt das für modern, und modern wollte und mußte er sein, empfand er seit geraumer Zeit, wollte er seine Stellung gegen die jungen fixen Boys halten, die in der Redaktion herumliefen und auf den größeren Job lauerten. Er, Wenzel Maria Dallinger, mit der untertassengroßen Tonsur im dunklen Braunhaar, war in Passau geborenen und gefirmt worden, hatte hier auch standesamtlich und kirchlich geheiratet und seine Kinder gezeugt, hatte als Tourist die Welt nur auf einer Nachkriegsreise nach Paris kennengelernt, war als Soldat allerdings weit im Osten herumgekommen (aber daran erinnerte er sich nicht gern); seine Erfahrungen und Einsichten in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft in Ost und West, Nord oder Süd verdankte er also fast ausschließlich seiner Redakteurstätigkeit in der ‚Bayerischen Wacht‘, einer ursprünglich lokalgebundenen Heimatzeitung, die erst in den letzten Jahren dank dem Ehrgeiz ihres Inhabers und Herausgebers Einfluß bis nach München und Regensburg 201
und darüber hinaus nehmen wollte, allerdings bisher im Fränkischen gestrandet und versandet war. In diesem Ehrgeiz sah Wenzel Maria Dallinger die Gefahr für sich selbst: Er war nicht der Mann dafür, nach den Sternen zu greifen, er hatte auch nicht den langen Arm, das für andere zu tun, er, der sich in dem biederen Heimatblättchen vom Lokalreporter über den Volontär bis zum Lokalredakteur und schließlich bis zum Bildredakteur hochgestrampelt hatte. Er seufzte leise, während er die Tüten im Archiv, die prall mit Fotos gefüllt waren, zusammenschob. Er dachte nach, welche Möglichkeit bestünde, den Zusammenstoß zwischen einem Pkw und einem Eisenbahnzug an unbeschranktem Bahnübergang zu illustrieren, zu dem er kein aktuelles Foto besaß. Er gab es auf, obwohl er eine herrische Stimme hörte: „Die Leute wollen nicht lesen, die wollen sehen! Wir leben in einem optischen Zeitalter!“ Es war die Stimme Hebsackers, des Inhabers und Herausgebers. Dallinger seufzte abermals, griff nach dem Telefon, teilte dem Bayern-Redakteur die Fehlanzeige mit, duldete grimassierend dessen gezügeltes Fluchen – die ‚Bayerische Wacht‘ war eine christkatholische Zeitung – und legte duldsam wieder auf. In diesem Augenblick klopfte es. Mißmutig drehte sich Dallinger um: Zeit, nach Hause zu gehen, Frau und Kinder erwarteten ihn zum Abendbrot. Es pochte dringlicher. Dallinger antwortete nicht; er ging im Gegenteil zu dem Schrank und entnahm ihn seinen Mantel. Er sah, wie sich die Tür höflich öffnete und ein Mann eintrat, den er nicht kannte, hager und mit rötlichem Haar. 202
„Sie wünschen?“ fragte er abweisend. „Spreche ich mit Herrn Dallinger?“ fragte der Fremde. „Das tun Sie!“ erwiderte Dallinger in dem üblichen Jargon gleichgültiger Zeitungshasen und setzte ebenso hinzu: „Nur hat Herr Dallinger jetzt keine Zeit, er hat eine dringende redaktionelle Angelegenheit zu erledigen.“ Der Fremde schloß die Tür. „Metzendorfer“, stellte er sich vor, „aus Bayreuth.“ Der Redakteur starrte ihn schweigend an und zog langsam seinen Mantel über. „Ich habe“, fuhr dieser Metzendorfer fort, „eine interessante Fotoserie für Sie.“ Er wartete. Dallinger schwieg weiter. Fotoreporter und Grafiker pflegten stets und ausschließlich interessante Serien für ihn zu haben; meistens stellten sie sich als Eintagsfliegen heraus. Er begann den Mantel zuzuknöpfen. „Aus Saudi-Arabien“, setzte Metzendorfer überlegend hinzu und zog die rechte Augenbraue in die Höhe. Dallinger hielt nach dem ersten Knopf inne. „Ach“, sagte er; es sollte verächtlich klingen. Der Anwalt tat ein paar Schritte in den Raum hinein. Er lächelte schwach. „Ja“, sagte er, „ich war da unten.“ „Hm“, gab Dallinger zurück und knöpfte weiter. „Empfang beim König, wie? Vertragsabschluß bei Hofe, was?“ „Ich war mit einem Freund dort“, ergänzte Metzendorfer und verbarg seine Freude über Dallingers Antwort, er verbesserte sich: „Mit einem Geschäftsfreund.“ Der Redakteur zauderte nicht mehr. Er wandte sich wieder nach dem Schrank und griff sein Bayernhütchen, das er energisch von hinten über die Tonsur nach vorn 203
schob. Dabei sagte er, ohne Metzendorfer anzusehen: „Das interessiert kein Schwein. Solche Fotos gibt es en masse, gute und schlechte. Die ‚Bayerische Wacht‘ ist ein gediegenes Blatt; aber was wir von dort unten brauchen, das sind halt auch Geschichten um die Königin oder den Harem, ja, etwas in dieser Richtung.“ Er sah über den Schreibtisch hin, prüfte rüttelnd eine Schublade, ob sie verschlossen wäre, bemerkte dabei: „Da war erst vor ein paar Tagen einer da, der bot das gleiche an. Ich hab’ die Fotos noch hier, muß sie zurückschicken. Ich konnt’ sie ihm nicht gleich wieder mitgeben, er kam mit hoher Protektion.“ Er seufzte. „Aber die haben Sie gottlob nicht. Da kann ich es kurz machen.“ „Wohin zurückschicken?“ fragte Metzendorfer gespannt. „Was meinen Sie?“ fragte Dallinger verständnislos zurück. „Die Fotos“, erwiderte der Anwalt, jetzt doch aufgeregt, „wohin Sie die Fotos aus Saudi-Arabien zurückschicken müssen!“ „Weiß ich nicht“, sagte Dallinger plötzlich wieder völlig gleichgültig. „Wird wohl irgendwo draufstehen, die Anschrift.“ Auf einmal sah er Metzendorfer an und fragte mißtrauisch: „Wieso interessiert Sie denn das?“ „Weil es um einen Mord geht“, antwortete Metzendorfer sofort. „Ach“, sagte Dallinger verblüfft. In einer langen Pause legte er, beinahe automatisch, das Hütchen auf den Tisch und begann den Mantel wieder aufzuknöpfen. Vor dem obersten Knopf hielt er inne. Er mußte scharf nachgedacht haben. Er fragte: „Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?“ 204
„Weil ich wissen wollte“, erwiderte der Anwalt, „ob Altbauer hier war!“ „Altbauer“, sagte der Redakteur, „ja, mein Gott, das ist doch der mit den Fotos!“ „War!“ berichtete Metzendorfer. „War, Herr Dallinger. Altbauer ist tot!“ „Himmel!“ stieß Dallinger hervor und vergaß, den obersten Knopf völlig durchzuschieben, er ließ ihn halb im Knopfloch ersticken. „Wenn das der Chef erfährt. Der hat mir den doch geschickt!“ „Das war das zweite“, stellte der Anwalt fest und zwang sich zur Gelassenheit, „was ich wissen wollte!“ Plötzlich regte sich Dallinger auf; er tat ein paar hastige Schritte zu Metzendorfer hin, packte ihn nervös am Arm und stieß hervor: „Hören Sie, Herr, hören Sie! Um Gottes willen, das darf der Chef nie erfahren, daß Sie das von mir haben!“ Er rüttelte ihn. „Ich kann doch keine Informationen aus dem Haus geben! Das kann …“ Er schwieg plötzlich. Der Anwalt spürte einen Anflug von Mitleid mit dem anderen; da stand er unbeholfen und geschlagen, und wahrscheinlich wirkte er deshalb so vernichtet, weil er zunächst den Arroganten markiert hatte. In diesen Sekunden erkannte Metzendorfer, was tief innen mit Dallinger los war: daß der unsicher durch sein Leben ging wie über Eis, dessen Stärke er nicht kannte; er wußte nur, daß darunter eine Tiefe war, vor der ihm graute, weil das Eis brechen und er nicht schwimmen konnte. Das war ein Mensch, der sich schwer umstellen konnte. Alles außerhalb seiner Heimatstadt war für ihn die Fremde, und wo hätte er hier einen zweiten solchen Posten finden können? Vielleicht, wahrscheinlich sogar, dachte Metzendorfer, war die Furcht des Mannes in diesem Au205
genblick unbegründet; aber es war eine alte Furcht, eine, die seit Jahren unter der Haut gewuchert war und die nun aus ihm herausbrach. Der Anwalt begriff jedoch auch, daß ihm dieser Zustand des anderen einen unerwarteten Trumpf in die Hand spielte. Er sagte ruhig und dabei bemüht, Dallingers Vertrauen zu gewinnen: „Ich will Ihnen nicht schaden, Herr Dallinger. Ich muß mich sogar entschuldigen, daß ich auf diese Art etwas zu erfahren suchte.“ Dallinger murmelte Unverständliches. Metzendorfer hob etwas die Stimme und zuckte die Schultern dabei: „Aber nachdem das einmal so ist, werden wir wohl darüber sprechen müssen, nicht wahr?“ Mechanisch sah Dallinger auf die Armbanduhr. „Meine Frau wartet“, sagte er automatisch. Metzendorfer schwieg. Der Redakteur sah ihn irritiert an. „In Passau kennt mich jeder Mensch … Wollen Sie mich nach Hause begleiten?“ Er setzte schnell hinzu: „Nur – wenn Sie in einigem Abstand hinter mir hergehen wollten?“ Immer tiefer sah sich Metzendorfer in eine Rolle verstrickt, die er als befremdend empfand: Er, einige Meter hinter einem ihm fast unbekannten Mann durch die Stadt Passau wandernd, so sah er sich. Trotzdem sagte er: „Wie Sie wollen, Herr Dallinger.“ Der griff nach seinem Bayernhütchen. Er war erleichtert, das spürte der Anwalt. Dann ging Metzendorfer hinter Dallinger her, und er sah, wie der alle drei, vier Schritte sein Hütchen lüpfte: Hier kannte ihn tatsächlich fast jeder. Und es würde schwer sein, spürte Metzendorfer bedrückend, unterderhand und unauffällig etwas festzustellen. 206
2. Dallingers Frau war von dem ungebetenen Gast nicht entzückt gewesen. Sie war klein, sanft, unscheinbar, kein Schmetterling, eher eine graue Motte. Dafür lärmten die Kinder um so mehr. Niemand schien das zu bemerken. Zwischen dem Lärm versuchte der Redakteur seinen Gast zu unterhalten; aber es blieben vereinzelte Satztropfen ohne Bedeutung und Wirkung. Das einzige, was Metzendorfer sachlich erfuhr, war, daß Dallinger monatlich einen runden Tausender verdiente; nicht eben viel, dachte er, und auf jeden Fall zuwenig, um vor irgend jemandem in diesem Betrieb, auch nicht vor dem „Inhaber und Herausgeber“, Furcht empfinden zu müssen. Nach dem Essen scheuchte Dallingers Frau die Kinder hinaus, trug das Geschirr ab und verschwand selbst: Metzendorfer sah sie an diesem Abend nicht mehr. Dallinger blieb mit ihm in diesem Raum, an dem zu großen und zu schweren Tisch, auf den zu steiflehnigen Stühlen. An der Wand hing ein Ölgemälde – Schuhplattler vor schneeigen Bergspitzen –, und auf dem dunklen Büfett standen auf einem gehäkelten Deckchen eine blumenbemalte leere Vase und daneben ein kunstgewerblicher messinggoldener Pelikan. Das ganze Zimmer war dunkel, glänzend poliert, absolut staubfrei, der braunlackierte Fußboden glänzte sanft. Der Redakteur sah auf seine knochigen Finger, und er sagte schwerfällig, als hätte er ein Geständnis abzulegen: „Ich glaub’, ich erzähl’ Ihnen gleich alles. Das ist am einfachsten. Der Herr Altbauer, schauen Sie, der kam vor ein paar Tagen in meine Redaktion; und er hat mir gleich nicht gefallen. Der hatte so ein Auftreten. Und ich hätte ihn am liebsten sofort wieder herausgetan; aber er kam mit einer Empfehlung vom Chef. Das hab’ ich schon 207
nicht gern; denn dann muß ich gewöhnlich Fotos nehmen oder Grafiken, und entweder verwenden wir’s nicht, weil sie zu schlecht sind, und dann gibt’s Ärger wegen dem Honorar, oder ich bringe sie, und hernach gefallen sie dem Chef nicht, und es ist dasselbe.“ Er bemerkte, daß er Gefahr lief, auf ein Nebengleis zu fahren, seufzte leicht und sagte: „Ja, also der Herr Altbauer! Er hat mir Fotos vorgelegt von Saudi-Arabien, auch von Frankreich – aber eben immer das gleiche, Landschaften und Fabriken, ein Dorf, Eingeborene, was man alles schon kennt, und dazu noch schlecht aufgenommen, flau manchmal. Richtige Amateurfotos. Vor zwanzig Jahren, da hätten wir so etwas sicher gebracht und hätten uns noch was eingebildet darauf, aber heutzutage! Natürlich sind wir ein politisches Blatt, aber wir sind auch ein Massenblatt, weil man nur mit den Massen Politik machen kann. Und da stehen wir in der Konkurrenz mit den Illustrierten, die sind uns eine Nasenlänge voraus und bilden den Geschmack, und wir müssen hinterher.“ Das ging ihm glatt von der Zunge; Metzendorfer hatte den Eindruck, als rekapituliere er die journalistischen Grundsätze seines Chefs. Aber er wußte, daß er Geduld haben mußte, wollte er von dem mißtrauischen Redakteur etwas Greifbares erfahren. Also schwieg er und nickte nur zustimmend. „Ich hab’ also dem Altbauer die Fotos wieder über den Tisch zurückgeschoben und gesagt, daß wir die nicht gebrauchen können. Da ist er fuchsteufelswild geworden und hat mich so angestarrt und gar nicht laut gesprochen, und so schmale Lippen hat er bekommen und gezischt: ‚Da wird nichts draus! Ausschmieren will er mich, euer Chef! Da hab’ ich ein Projekt gemacht, ein Millionenpro208
jekt. Ich hab’ das in die Wege geleitet, und die Verträge sind unterschrieben. Aber wie ich das Projekt zugeschlagen bekommen sollte, da hat es bei der NATO in Paris plötzlich geheißen, sie brauchten eine Erklärung der westdeutschen Regierung, daß die damit einverstanden ist. So habe ich mich mit meinem Münchner Partner in Verbindung gesetzt, damit der so ein Schriftstück vom Minister herbeischafft, und er hat mir auch geantwortet, er wird das tun, und später, er hat es erreicht, und ich soll herüberkommen. Aber wie ich in Frankfurt bin, erfahre ich, daß man mich ’rauswerfen will aus meinem Projekt und daß andere an meine Stelle in den Vertrag eintreten sollen, und einer davon ist euer Chef, weil der das Schreiben von dem Minister besorgt hat. So. Aber ich habe alles Geld hineingesteckt in das Projekt, ich bin blank, und ich habe das eurem Chef gesagt, ich kann nicht mal von Passau nach München hinüber, wenn er mir nichts leiht. Er könnte es wiederhaben, jedenfalls sollte ich für meinen Vertragsanteil sowieso entschädigt werden, da könnte er das dann abziehen. Aber er hat nur gelächelt, der ist ja ganz kalt, der Mann, und meinte, er wüßte doch gar nicht, wie hoch die Entschädigung sein würde, und ich sollte seiner Zeitung doch einfach die Fotos aus Saudi-Arabien verkaufen. Und deshalb bin ich hier, und Sie werden kaufen!“ Metzendorfer spürte, daß diese Szene auf Dallinger einen tiefen Eindruck gemacht haben mußte; wie er jetzt das wiederholt hatte, was ihm Altbauer zu verstehen gab, hatte sich sein Gesicht gerötet. In der Vorstellung hatte er wieder dem Altbauer gegenübergestanden und dessen Worte gehört! Der Redakteur schluckte Speichel hinunter, er sah von unten herauf den Anwalt an und bemerkte widerstrebend: 209
„Ich hab’ gleich gewußt, daß Altbauer nicht lügt. Denn unser Chef ist so, das war ganz unser Chef! Ausschmieren, ja …“ Er verlor sich in Gedanken. Metzendorfer verhielt sich still. Er sah zu dem messingnen Pelikan hinüber, dem einzigen hellen Gegenstand in dieser dunklen, kleinbürgerlichen Behausung, und er überlegte, ob Dallinger das in sich hineingefressen oder seiner Frau davon berichtet hatte: Nein, der hatte das in sich hineingefressen, zu dem Schluß kam Metzendorfer, und deshalb schoß es nun so aus ihm heraus wie das Wasser aus einem artesischen Brunnen, den man ansticht. Dallinger sagte und blickte dabei auf: „So habe ich ihm denn seine Fotos abgekauft, gegen ein Archivhonorar, damit ich ihn los bin, und dann wollte ich sie ihm zurückschicken.“ Er schwieg, kniff die Lippen und sagte: „Jetzt bin ich ihn losgeworden – endgültig!“ Metzendorfer spürte, daß der andere nichts mehr zu sagen hatte. Er flüchtete sich in Unverbindliches. Er sagte: „Ja, das ist eine schöne Geschichte.“ „Kann man wohl sagen“, murmelte Dallinger. Metzendorfer überlegte. Er fragte: „Meinen Sie, Herr Dallinger, daß ich mit Ihrem Chef sprechen sollte? Ich würde natürlich von unserer Begegnung nichts erwähnen.“ „Nein“, gab Dallinger sofort zurück. „Es hat keinen Sinn. Von dem werden Sie nichts erfahren.“ Metzendorfer wartete. Der Redakteur fügte hinzu: „Einer, der das journalistische Handwerk betreibt, ist sowieso vorsichtig. Der weiß, daß ihn Informationen alles kosten können. Und nun noch dazu einer, der sich in die Politik mengt! Und dann, was sollte er Ihnen schon noch sagen können?“ 210
„Wer die Geschäftspartner von Altbauer waren, zum Beispiel“, sagte Metzendorfer. „Mein Gott“, erwiderte Dallinger, „gerade darüber schweigt er. Und außerdem, was hätten Sie damit gewonnen? Der Altbauer ist ermordet. Richtig. Sie haben mir vorhin gesagt, das war ein gewisser Marahn. Was wollen Sie also noch mehr! Ist doch alles klar!“ Stimmt, dachte Metzendorfer verblüfft, was will ich eigentlich noch? Er fühlte plötzlich fast unbesiegbare Müdigkeit. Er rieb mit den Zeigefingern beide Augenwinkel und dachte, er würde am kommenden Tag in sein Büro zurückfahren und die nutzlose Suche aufgeben, die zu nichts führen könnte, was Marahn helfen würde. Um das Gespräch nicht unvermittelt abzubrechen und den Redakteur nicht zu kränken, fragte er: „Ist Ihnen eigentlich bekannt, was das für ein Projekt war, das der Altbauer in der Tasche hatte?“ „Nein“, sagte Dallinger, „er sagte nur was von ‚housing‘. Über die Art von Projekten wissen wir Journalisten ziemlich genau Bescheid. Es geht einmal um die Aufträge für Kasernenbauten und Flugplatzanlagen für die Amerikaner und zum anderen um ‚housing‘, nämlich um die Wohnungen dazu. Denn die dürfen ja ihre ganzen Familien mitbringen. Da muß man dann einen solchen Auftrag in die Hand bekommen, und zwar als Generalauftragnehmer, das ist der Witz!“ Diese Methode kannte Metzendorfer. Als Anwalt hatte er selbst schon solche Verträge entworfen. Da ging es um Millionen. Die Generalauftragnehmer gründeten eine Firma. Diese Firma erhielt von der zuständigen amerikanischen Stelle den Auftrag, alle diese Bauten auszuführen, und zwar insgesamt. 211
Das konnte sie gar nicht und wollte sie auch nicht. Vielmehr veranlaßte sie einige Hochbauunternehmen, sich zu einer neuen Firma zusammenzuschließen, in der auch die Generalauftragnehmer vertreten waren. Das gleiche geschah mit dem Tiefbau, den elektrischen Anlagen, der Kanalisation, der Glaserei, dem Gerüstbau, der Tischlerei, der Dachdeckerei – bei allen für das Projekt notwendigen Gewerken entstanden neue Firmen, die nur so lange lebten, bis das Projekt erstellt war, und die dann wieder aufgelöst wurden. Aber an allen diesen kurzlebigen Unternehmen waren stets die Generalauftragnehmer beteiligt, von dem Gewinn dieser Firmen strichen sie ihren Anteil ein, ohne mehr zu tun, als ihnen die Teilaufträge – Dachdecken, Verglasen, Zimmern – zu erteilen. Das war leichtverdientes und großes Geld I Darum lohnte es sich, zu kämpfen! „Ja, und?“ fragte Metzendorfer. „Verdient wird daran!“ sagte Dallinger, und zum ersten Male zeigte sich etwas wie ein Lächeln auf seinem Gesicht. „Das geht dann nicht in die Hunderttausende, sondern in die Millionen. Es kommt darauf an, Generalauftragnehmer zu werden.“ „Und Ihr Chef wollte in dieses Generalunternehmen mit hinein?“ fragte Metzendorfer. „Ich denke schon“, erwiderte Dallinger vorsichtig. „Ich weiß es freilich nicht.“ „Aber kennt er sich denn im Baufach aus?“ fragte Metzendorfer erstaunt. „Nein“, antwortete Dallinger prompt, „aber er kennt den Minister!“
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3. Sepp Metzendorfer regelte alle Dinge so gelassen, als wäre ihm in der Zwischenzeit nichts zugestoßen. Er übernahm die Akten von seinem Vertreter, er ließ sich unterrichten – allzuviel war nicht geschehen –, er gab seiner Sekretärin Anweisungen und begann ein Plädoyer für einen Betrugsfall zu skizzieren, das ihm wenig Freude machte. Und doch war ihm etwas zugestoßen: Noch bis zu dem Gespräch mit Wenzel Maria Dallinger hatte er sich der Illusion hingegeben, auf irgendeine überraschende Art seinem Klienten Marahn beistehen zu können. Woher er diese Hoffnung genommen hatte, danach fragte er sich vergeblich; möglicherweise, so sagte er sich jetzt, war es einfach die Tatsache gewesen, daß er die zwei Gestalten im Bungalow entdeckt hatte statt der einen, wie es Groll begreiflicherweise angenommen hatte. Nach dem Gespräch mit Dallinger hatte er diese Illusion mit einer raschen Operation entfernt. Der Redakteur hatte ihm angeboten, er könne bei ihm übernachten, wenn er mit gewissen primitiven Umständen vorliebnehmen wolle, und er hatte akzeptiert, hatte seinen Wagen geholt, den er in der Nähe der Redaktion geparkt hatte, und war mit seinem Reiseköfferchen in der Hand in die Wohnung zurückgekehrt. Dallingers Frau sah er nicht mehr; aber sie hatte ihm im Bad die paar Notwendigkeiten bereitgestellt. Der Redakteur selbst lief schon ohne Jacke und in Pantoffeln herum, und nach der frischen Röte seiner Gesichtshaut zu urteilen, hatte er sich bereits gewaschen und war zur Nachtruhe vorbereitet. Mit halblauter Stimme wies er Metzendorfer auf alles hin. Dann verschwand er. 213
Die Couch in dem Wohnzimmer, in dem sie das Gespräch geführt hatten, war vorbereitet, die Fensterflügel waren geöffnet; es kam die herbe Luft des wolkenlosen, kühlen Herbsttages herein. Es dauerte dieses Mal nicht lange, bis Metzendorfer einschlief. Aber bevor das geschah, wurde er sich darüber klar, daß die Mission gescheitert war, die er sich selbst aufgetragen hatte. Der Hinweis des Redakteurs, es werde sinnlos sein, mit Hebsacker, dem Herausgeber des Blattes, ein Gespräch zu führen, erschien überzeugend. Dallinger hatte ihn gut charakterisiert, und ohne sein Äußeres zu kennen, sah Metzendorfer diesen Mann vor sich: einen, der Fakten ebenso sammelte wie Gerüchte, der aber das, was ihm bekannt war, aus Grundsatz wie in einem Tresor verschloß: Man konnte nie wissen, was ein Gegner daraus zu machen wüßte. So mußte er sein. Dazu von jener bayrischen Grobheit, deren Angriffe nur scheinbar plump und laut sind, die aber gerade dadurch das Augenmerk von der Sache selbst ablenken. Der Anwalt hatte dann daran gedacht, noch einen Tag in Passau zuzusetzen, um in das Firmenregister Einblick zu nehmen; möglicherweise, so erwog er, könnte er dort eine Eintragung finden, aus der hervorging, wer alles die Hände in jenem märchenhaften Projekt Altbauers hatte. Aber auch diese Erwägung strich er durch: Hebsacker konnte noch nicht lange mit der Sache beschäftigt sein, hier war eine Firmengründung zweifellos nicht eingetragen, und wenn sie es doch wäre – oder vielleicht auch in einer anderen Stadt –, was würde es nützen, sie auszugraben? Nichts, schloß der Anwalt seine Überlegungen, denn es bliebe doch immer die einfache Tatsache, daß Marahn geschossen hatte und Altbauer tödlich getroffen wurde. 214
Er hatte schon die Lider geschlossen, als er sich selbst bekannte, daß er jetzt, nach wenigen Tagen, in der Sache wirklich mit Groll übereinstimmte: Was zu dem Mord gehörte, war ermittelt. Es war weiß Gott gleichgültig, aus welchem Grunde Altbauer den Bungalow aufgesucht hatte und wer der andere war, der sich dort gleichzeitig aufhielt Viel wichtiger war es, fiel Metzendorfer brennend ein, sich um Marahn zu kümmern, um Marahn, der in Untersuchungshaft saß. Mit diesem Gedanken schlief er ein, schlief ruhig und tief und fühlte sich am zeitigen Morgen wirklich erholt. Er hörte es in der Wohnung rumoren, stand auf, kleidete sich an, traf nur Frau Dallinger im kleinen Korridor. Ihr Mann schlafe noch, sagte sie, aber sie habe auf jeden Fall ein kleines Frühstück bereitgestellt, weil ihr unbekannt gewesen sei, wann er abfahren wolle. Metzendorfer bedankte sich. Er hatte den Eindruck, daß Dallinger nichts sehnlicher wünschte, als daß er bald aus Passau verschwände. Den Gefallen konnte er ihm tun; er nahm nur ein Brötchen und eine Tasse – leider sehr dünnen – Kaffee zu sich und verabschiedete sich mit der Bitte, Dallinger Dank und Gruß zu bestellen. Als er draußen im Wagen saß und ihn anließ, hatte er den Eindruck, als bewegte sich eine Gardine. Seine Rückreise verlief ohne Zwischenfälle, sein Eintritt in das Büro undramatisch: Bei dieser Art von Sekretärin gab es keine Dramen, sie war durch nichts zu überraschen, sie spann ihren Arbeitsfaden vor sich hin, gleichgültig ob Metzendorfer anwesend war oder nicht. Bereits am Spätnachmittag dieses Tages fuhr er nach Nürnberg in das Untersuchungsgefängnis, meldete sich an und ging durch die Stahltür, die ihm ein gleichgültiger 215
Beamter schlüsselrasselnd öffnete, in eines der drei kleinen Sprechzimmer. Dem Hauptwachtmeister, der auf der Brücke stand, von wo aus er die drei Gefängnisflügel mit den Zellen übersehen konnte, wurde der Sprechzettel Metzendorfers überbracht. Er blätterte mit gefeuchtetem Zeigefinger in einem Buch, schlug die unangenehm laute Glocke und schrie in einen der Flügel hinein: „B zwo einhundertzwoundsechzig, Untersuchungsgefangener Marahn zu seinem Anwalt!“ Und der Wachtmeister der Station antwortete: „B zwo verstanden, Untersuchungsgefangener Marahn kommt zum Anwalt!“ Das klang beinahe wie ein frommer Wechselgesang. Dann wurde Marahn in den kleinen Sprechraum geführt. Der Beamte verschwand. Marahn blieb an der Tür stehen. Metzendorfer fand, daß er nicht gut aussah. Wie üblich hatte man ihm den Gürtel abgenommen; er hatte zwar seine Zivilkleidung an, aber seine Hosen rutschten, und er mußte sie festhalten; vielleicht war das der Grund für seine Unsicherheit, aber Metzendorfer glaubte es nicht. Er stand auf, trat neben Marahn, nahm ihn sanft am Arm, führte ihn zu dem billigen Holzstuhl am billigen Holztisch und sagte: „Komm, setz dich, Walter. Wir haben einiges miteinander zu besprechen.“ Marahn schwieg. Aber er sah Metzendorfer an, und es war ein Ausdruck des Grauens in seinen Augen. Metzendorfer blätterte in einem Aktenstück, das er mitgenommen hatte, obwohl es unwichtig war: Er wußte, daß man dergleichen als Anwalt gelegentlich zur Tarnung benötigte, wenn man die Augen von dem Klienten wenden wollte, aus welchem Grunde auch immer. Und er wollte in diesen Sekunden Marahn nicht ansehen. 216
Er seufzte und sagte in seine Papiere hinein: „Ich habe dich zu lange warten lassen, Walter, ich weiß; aber ich wollte noch einige Ermittlungen anstellen, die zu deiner Entlastung dienen könnten.“ Erst jetzt blickte er Marahn an. Er sagte: „Es sieht nicht besonders gut für dich aus.“ Marahn blieb gleichgültig. Er zeigte keine Anteilnahme. Metzendorfer glaubte, er begriffe nicht die Schwere der Belastung. Er sagte: „Ich will schonungslos sein, Walter. Es sieht nicht nur nicht besonders gut aus, es sieht dreckig aus.“ Er versetzte sich in die Lage des Staatsanwalts und meinte: „Wenn du noch Brumerus getroffen hättest … Da waren immerhin Motive, die man zwar nicht gelten lassen, die man aber begreifen konnte. Hingegen ist durch dein Verhalten ein völlig Unschuldiger ums Leben gekommen.“ Im Gesicht Marahns zuckte es. Er sagte leise: „Hör auf, Sepp! Ich weiß das! Ich hab’ seit damals kaum geschlafen – es ist furchtbar, was ich angerichtet habe.“ Er schwieg. „Ich bin den Spuren Altbauers nachgegangen“, ergänzte Metzendorfer, „wie er in den Bungalow gekommen ist, bleibt unerfindlich …“ Marahn erhob sich. Er sah den Freund an. Er sagte: „Spar es dir, Sepp! Es ist doch so gleichgültig, wie er dorthin kam …“ Der Anwalt unterbrach ihn: „… aber für deine Verteidigung könnte das Argumente liefern!“ Marahn wurde heftig. Er stützte sich mit den Händen auf die Tischplatte. „Ich will nicht verteidigt werden! Ich wünschte, es gäbe die Todesstrafe! Wirklich, für mich wäre es besser, als mein ganzes Leben lang dieses Be217
wußtsein …“ Er sagte schwer: „Es war ein noch junger Mann, Sepp, wie viele Tage habe ich da ausgelöscht!“ „Aber das ist nicht zu ändern“, redete ihm Metzendorfer zu, „du solltest daran denken, daß auch vor anderen Menschen noch Tage liegen, vor Margit!“ Marahn antwortete darauf nicht. Er blickte die Tischplatte an, als könnte er von dem rohen, ausgeschieferten Holz etwas ablesen, das ihm helfen würde. Auch der Anwalt sprach nicht weiter. Von draußen hörte er die rauhe, kehlige Stimme des Hauptwachtmeisters in die hallenden Flügel hineinschreien, hörte das kurze, harte Anschlagen der Signalglocke, hörte die zurückhallenden Rufe der Wachtmeister und mußte denken, daß dies alles Marahn jahrelang hören würde. Und wenn er es recht bedachte, so konnte er begreifen, daß es Marahn gleichgültig geworden sein mußte, ob er nun zu fünf oder acht Jahren Gefängnis oder Zuchthaus verurteilt werden würde, denn um einen größeren Spielraum würde es sich vermutlich nicht handeln. Und es mußte Marahn auch klar sein, daß dies für seine Frau nicht wesentlich sein konnte, fünf Jahre oder acht. Denn auch in fünf Jahren würde es sich zweifellos entscheiden, ob sie bei ihm bleiben oder sich von ihm trennen würde, und es sprach alles dafür, daß er verlassen werden würde. „Warst du bei ihr?“ hörte er Marahn fragen, der immer noch auf die Tischplatte hinabsah. „Nein“, log er. „Wenn du mir einen Gefallen tun willst, einen wirklichen Freundschaftsdienst“, bat Marahn und sah ihn jetzt an wie ein verwundetes Tier, „dann fahre zu ihr hinüber und sieh nach ihr, aber dränge sie nicht in irgendeiner Weise. Das mußt du mir versprechen.“ 218
Der Anwalt nickte und schluckte Speichel hinunter. Er stand auf, trat neben Marahn und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Und wenn du irgend etwas brauchst, hier …“ Dann ging Metzendorfer zur Tür, öffnete sie und sagte zu dem Wachtmeister, der daneben stehengeblieben war: „Die Unterredung ist beendet!“
4. Metzendorfer erschrak. Seinen Wagen hatte er an die rechte Seite der Landstraße gestellt und war durch die weit geöffnete Gartenpforte zur Villa Marahns hinangestiegen. Aber auf der Hälfte des Wegs, mitten auf dem schmalen Kiesstreifen, blieb er stehen. Es dunkelte bereits; die Umrisse des Hauses begannen zu verschwimmen. Doch im herbstlichen Himmel hing noch das letzte Licht, ein sanfter Schimmer, gerade genug, um ihn erschrecken zu lassen. Das untere Zimmer, in dem er in jener Nacht mit Marahn gesprochen und gewartet hatte, war erleuchtet, die Vierecke der Fenster klebten gelb an der Hauswand. Der Anwalt fragte sich, was dahinter vor sich gehen mochte. Er setzte sich schnell in Bewegung, und unwillkürlich bemühte er sich, leise zu sein. Hastig strebte er den rechten Kiesweg wieder zur Pforte hinunter und ging den linken hoch, der ihn unmittelbar vor die Front der Villa führte. Dabei beobachtete er die Tür und ließ hin und wieder seinen Blick zu dem Borgward Isabella hinübergleiten. Wie lange mochte der dort stehen, dachte er. Er hörte das scharfe Anschlagen der Gefängnisglocke, er hörte die hallenden Rufe des Hauptwachtmeisters, und er wartete vor dem einen der erleuchteten Fenster und 219
lauschte – er, der Heimlichkeiten verabscheute –, ja, er trat sogar einen Schritt näher an die Wand, stützte sich mit den Fingerspitzen der Rechten an den rauhen, kühlen Verputz und neigte sein Ohr, um besser lauschen zu können. Zunächst hörte er lange Zeit überhaupt nichts. Dann vernahm er plötzlich die Stimme von Brumerus. Er sprach leise und gleichmäßig, genau so, als ob er sich in einer Gesellschaft unterhielte, mit jenem freundlichen und liebenswürdigen Tonfall. Zwischen den Sätzen lagen gemächliche Pausen, nicht zu lang, sondern gerade so, wie jemand Zeit benötigt, um sich auf den Effekt des nächsten Satzes einer harmlosen Anekdote vorzubereiten, die er zur Unterhaltung erzählt. Danach hörte er Margit etwas sagen, es klang wie eine Antwort. Es waren nur wenige Worte. Aber sie mußten Brumerus genügen; er redete wieder, seine Stimme kam durch die geschlossenen Fenster wie ein einschläfernder Singsang. Metzendorfer aber fühlte sich nicht eingeschläfert, im Gegenteil – sein Herz hämmerte. Vergebens überlegte er, was in jenem Haus vor sich gehen mochte. Er kannte Margit Marahn, es erschien ihm völlig abwegig, daß sie hier mit Brumerus plauderte, nachdem so Grauenvolles geschehen war; indessen besann er sich: Sie war jahrelang die Geliebte dieses Mannes gewesen, warum sollte sie ihm nicht wieder verfallen sein? Eigentlich, fand er, lag das sogar nahe. Aber was sollte er seinem Freunde berichten, wenn er ihn dort wiedersähe? Andererseits: Wie immer sich die Frau verhalten mochte – was konnte Brumerus, diesen gebildeten Mann, zu dieser Taktlosigkeit bewegt haben, ihn, der 220
doch offensichtlich so viel Wert darauf legte, seine privaten Affären nicht der Öffentlichkeit preiszugeben und Skandale zu vermeiden? Daß er Margit Marahn gewonnen, daß er über Jahre die Liaison aufrechterhalten hatte, wer wollte es ihm ernsthaft verübeln? Er, der Anwalt, kannte den Lauf dieser Welt. Plötzlich verstummte Brumerus’ Stimme. Margit Marahn antwortete nicht. Metzendorfer lauschte. Alles war möglich, auch, daß der andere in wenigen Sekunden aus der Haustür treten würde. Er stieß sich mit den Fingerspitzen von der feuchten Wand ab, wartete unschlüssig, sah sich um. Im dunkelnden Himmel stand ein bleicher, kraftloser Mond. Der Anwalt ging auf Zehenspitzen bis an die Hausecke zurück. Hier zögerte er. Er sah in der Nähe einen Strauch, an dem noch die welken Herbstblätter hingen. Er trat dahinter, er kauerte sich nieder. Käme Brumerus heraus, würde er nach der linken Seite zu seinem Wagen gehen, und er würde verborgen bleiben. Im gleichen Augenblick fiel ihm ein, daß sein eigener Wagen draußen stand, dieser verräterische, eigentlich unverwechselbare, alternde Mercedes. Es hatte keinen Sinn, hinter diesem Strauche zu hocken. Es hatte aber auch keinen Zweck, zu dem Wagen zu eilen, denn so schwach das Mondlicht auch war – die flüchtende Gestalt würde über den Rasen hinweg deutlich erkennbar sein. Er entschloß sich anders, richtete sich auf, ging wieder auf den Weg zurück, tat absichtlich rücksichtslos laute Schritte zur Haustür hin und bemühte sich, keinen Blick zu den erleuchteten Fenstern zu werfen, auch dann nicht, als er auf den Klingelknopf drückte. Fast im gleichen Augenblick öffnete sich die Haustür. 221
Der Flur war erhellt. Metzendorfer sah Brumerus vor dem Spiegel stehen, den Mantel übergezogen. Ihn aber blickte Margit Marahn erschrocken an, er hatte das Gefühl, sie erbleichte. Er hörte sie sagen: „Welche Überraschung! Nein, Sie habe ich jetzt nicht erwartet!“ Sie war verwirrt. Sie sagte: „Aber treten Sie doch näher, Herr Metzendorfer!“ Brumerus lächelte dem Anwalt, als der eintrat, zu und sagte: „Die Welt ist klein! Wo man sich trifft!“ Er streckte ihm die Hand hin, Metzendorfer ergriff sie und spürte den festen Druck. Auch er versuchte ein Lächeln. „Sie bringen Neuigkeiten?“ fragte Brumerus und setzte hinzu, während er sich des Mantels wieder entledigte: „Ich glaube, die möchte auch ich hören!“ Er wandte sich an den Anwalt: „Wenn es keine Geheimnisse sind?“ Der schüttelte immer noch verstört den Kopf und wehrte ab: „Nein, keine Geheimnisse!“ und überlegte und fügte hinzu: „Ich glaube, es wird auch für Sie interessant sein, was ich zu berichten habe!“ Brumerus – obwohl feststand, daß er dableiben würde – wahrte die Form; er fragte die Frau: „Du erlaubst es, Margit?“ Sie nickte. Metzendorfer wußte nicht, woran er war, als er endlich das Zimmer betrat und in jenem Sessel Platz nahm, in dem er damals gesessen hatte.
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NEUNTES KAPITEL
1. Grolls Hut schaukelte ein wenig an dem Ständer, sobald unten auf der Straße ein Lastzug vorbeidonnerte, und er schwankte auch sacht, wenn jemand das leere Zimmer betrat. Leer war es seit zwei Tagen. Groll war für drei Wochen in den Urlaub gefahren. Griessbühl wußte nicht, wo er sich aufhielt, es konnten die Alpen ebensogut sein wie die Nordsee. Weiter weg fuhr Groll zweifellos nicht; er machte die Reisewelle nicht mit. Manchmal hatte Griessbühl allerdings den Verdacht, der Kommissar wäre hier im Ort geblieben, wer weiß aus welchem Grunde – aber es könnte der Hauptgrund sein, daß er seinen Hut vermißte, seinen geliebten Sombrero mit der gewellten und fettfleckigen Krempe. Für einen Chapeaumanen, wie Groll es war, reichte das aus; Griessbühl sah ihn geradezu unruhig in der Wohnung suchen, immer und immer wieder, durch die Straßen streifen, in Lokale einkehren und nach dem guten Stück Ausschau halten. Es gab aber Minuten, wo sich Griessbühl überlegte, ob es sich nicht einfach nur um einen simplen Trick des Kommissars handelte, der seinen Assistenten kannte, seinen Wunsch, eigene Wege zu gehen, und der ihn daran zu hindern suchte einfach mit dem hängengelassenen Hut 223
als einer Art Drohung: Der Alte kann jeden Augenblick eintreten, und dann könnte er unangenehme Fragen stellen und in Akten herumschnüffeln. Der verdammte Sombrero! Schon zweimal hatte Griessbühl nach dem fettigen Hut gelangt, um diesen Gegenstand dem Müll anzuvertrauen, wohin er seiner Meinung nach gehörte. Beide Male war er zurückgezuckt, weil – wie er sich einreden wollte – ihn Abscheu ergriffen hatte („Nicht mal mit den Fingerspitzen möcht’ ich das Ding berühren!“), in Wirklichkeit, weil er es nicht über sich brachte, dem Kommissar ein solches Weh zuzufügen. Auch jetzt schaukelte der Filz wieder im sanften Luftzug, der durch die sachte geöffnete Tür hereinströmte. Metzendorfer hatte mehrere Male gepocht. Niemand hatte ihm geantwortet. Da hatte er sich entschlossen, die Klinke niederzudrücken. Als er den Hut sah, war er beruhigt: Groll konnte nicht lange abwesend sein. Auch ihm, der den Kommissar nur so flüchtig kannte, erschien es unmöglich, daß der sich lange Zeit von seiner Behütung trennen könnte. Er sah sich unschlüssig um. Der Schreibtisch war abgeräumt, Metzendorfer wunderte sich darüber. Durch die geschlossene Tür hörte er aus dem Zimmer nebenan das unablässige Hämmern einer Schreibmaschine, und es schien ihm, als vernähme er dazwischen Griessbühls Stimme. Er klopfte. Das Hämmern verstummte nicht, die Stimme ebenfalls nicht. Da öffnete der Anwalt die Tür. Griessbühl hielt im Diktieren inne, das metallene Geräusch brach ab. „Sieh da“, sagte Griessbühl wenig beglückt, „der Herr Anwalt!“ 224
„Ich suche den Kommissar“, erwiderte Metzendorfer unwirsch. „Tja“, machte der Assistent, „die Suche ist schwierig! Auch ich weiß nicht, wo er steckt. Er ist in Urlaub.“ Er setzte gedankenverloren hinzu: „Nur der Hut … seinen Hut hat er uns als Andenken hinterlassen!“ Metzendorfer wußte nicht, was er tun sollte. „Ärgerlich“, sagte er, „zu ärgerlich! Wissen Sie, Herr Griessbühl, ich habe da so verschiedenes festgestellt, das ich gern dem Kommissar mitgeteilt …“ Griessbühl winkte ab. „Zu spät“, sagte er, „der Kommissar will davon nichts wissen. Der Bericht an den Untersuchungsrichter ist weg … Für uns ist die Sache erledigt.“ Der Anwalt zuckte die Schultern. „Ich weiß“, bestätigte er, „und, offen gestanden, es hat sich auch nichts Neues ergeben, nichts jedenfalls, was viel an dem Tatbestand ändern könnte.“ „Na also“, bemerkte der Assistent gleichgültig, wandte sich zu der Sekretärin, drückte den Bogen, den sie in der Maschine hatte, etwas zurück, um die letzte Zeile zu lesen und den Anschluß für das weitere Diktat zu finden. Metzendorf er setzte noch hinzu: „Ich habe diese Gina Trizius gesprochen!“ und wollte gehen. „Was?“ sagte Griessbühl und fügte in seinem Jargon hinzu: „Die kleine Motte? Oder was ist sie?“ Der Anwalt sagte: „Aber ich fand das nicht sensationell, und Herr Brumerus auch nicht“, denn er wollte einer Enttäuschung des Assistenten vorbeugen. „Brumerus?“ fragte Griessbühl. „Ja“, antwortete Metzendorfer, „ich traf ihn bei Frau Marahn.“ 225
„Ach“, sagte der Assistent erstaunt, „das sollten Sie mir aber wirklich erzählen.“ Er fing den neugierigen Blick der Sekretärin auf und sagte: „Das von der Trizius, meine ich!“ und setzte hinzu: „Nicht hier, Herr Metzendorfer! Gehen wir in das andere Zimmer!“
2. Dort saßen sie dann, Griessbühl am Schreibtisch des Kommissars, Metzendorfer davor, wie seinerzeit, und Grolls Hut bebte an dem Ständer leicht unter den schweren Schlägen, die von den Lastzügen dem Straßenpflaster erteilt wurden. „Ich bin mir darüber klar“, sagte Griessbühl, „daß ich eigentlich Ihre Zeit raube, Herr Metzendorfer. Denn es handelt sich um ein privates Gespräch. Ich weiß genausogut wie Sie, daß sich an der Sache Marahn kaum etwas ändern wird. Nur müssen Sie mich verstehen: Es ist ein eigenartiges Gefühl, das einen befällt, wenn einem mitgeteilt wird: Da geht nach einem Mordanschlag der potentiell Ermordete zu der Gattin seines potentiellen Mörders!“ Er überlegte und meinte: „Man schätzt so leicht Menschen falsch ein. Manchmal habe ich Brumerus für eine kalte Hundeschnauze gehalten, und er mag es auch sein, zugegeben, aber irgendwie hat es ihn eben doch berührt, daß die Frau nun so alleine dasitzt.“ Der Anwalt bestätigte das. Er schilderte seine unbehagliche Situation, als er vor der Villa aufgetaucht war, und Griessbühl, mit einem Bleistift spielend, konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Sie waren also dann in das Zimmer gegangen. Unwillkürlich hatte sich Metzendorf er argwöhnisch umgeschaut, aber es war kein Zeichen feststellbar gewesen, 226
daß in diesem Raume mehr als ein Gespräch stattgefunden hatte. Das hatte ihn befriedigt. Margit Marahn hatte, kaum daß sie saßen, gefragt: „Wie geht es meinem Mann?“ „Ich habe ihn heute besucht“, antwortete Metzendorfer, und er sah unwillkürlich Brumerus an. „Auf mich brauchen Sie keine Rücksicht zu nehmen“, bemerkte der, „wirklich nicht!“ „Ja, also“, entschloß sich der Anwalt, „ich fürchte, er steckt in einer schlimmen Phase. Er ist apathisch. Er wünscht nichts. Er übersieht das Alltägliche. Ich nehme nicht an“, er hob beschwörend beide Hände, „daß er sich etwa trügerischen Hoffnungen hingibt, was am Ende seines Prozesses stehen wird, das nicht! Aber er verzichtet auf jede Verteidigung. Er wird mir noch das Leben schwer machen mit dieser Haltung. Eigentlich …“, nun zögerte Metzendorfer doch, ehe er schnell weitersprach, „habe ich den Eindruck, ihn bedrückt am meisten, daß er einen Unschuldigen erschossen hat!“ Es entstand eine Pause. Margit Marahn sah stumm vor sich hin. Brumerus tippte seine Zigarette gegen den Aschenbecher, der kleine graue Wurm kippte hinein und zerfiel zu Staub. Eine kraftlose Motte flatterte um die elektrische Birne. Das verursachte ein verzweifeltes Geräusch, und ebenso verzweifelt zuckte ihr verwischter Schatten über den Lampenschirm, hielt inne, zuckte wieder. „Den Unschuldigen!“ sagte Brumerus in die Stille hinein gedankenvoll. „Das setzt voraus, daß Herr Doktor Marahn einen Schuldigen erschießen wollte und daß er auch heute noch mit dem Schuldigen mich meint. Was mich erstaunt“, und er tippte wieder mit dem Stäbchen an 227
die Schale, obwohl keine Asche daran war, „ist eigentlich nur, daß sich ein so intelligenter Mensch nicht fragt und offensichtlich drei Jahre lang nicht gefragt hat, wo denn eigentlich eine Schuld zu suchen ist, wenn überhaupt! Es ist wohl nicht von ungefähr, wenn eine Frau sich von ihrem Ehemann abwendet!“ „Richard!“ sagte Margit Marahn bittend, und es berührte Metzendorfer eigenartig, befremdend, ungut, den Vornamen dieses Mannes aus dem Munde der Frau seines Freundes zu hören. Brumerus sah die Frau nicht an. Er murmelte: „Schon gut, schon gut, Margit! Ich habe wirklich nicht die Absicht, mehr darüber zu sagen. Nur wundert es mich, und nicht erst seit heute und gestern!“ „Jedenfalls“, stellte der Anwalt die Weiche des Gesprächs, „ist das eine Tatsache, und ich werde damit rechnen müssen. Was ihn am stärksten bedrückt, ist eben, einen Unschuldigen getötet zu haben, einen jungen Mann noch dazu, der ein gutes Teil seines Daseins zu leben hatte. Mir schien es heute, als sähe er immer nur die schönen Tage eines solchen Lebens vor sich und als wäre es ihm eine grauenvolle Vorstellung, daß Altbauer diese schönen Tage nicht mehr empfinden kann. Ja“, sagte er, „das ist es wohl.“ Wieder herrschte Stille in dem Raum. Mit belegter Stimme fragte Margit Marahn endlich: „Wünscht er irgend etwas? Was kann ich tun, um ihm das …“, sie stockte, „dort zu erleichtern?“ „Nichts“, antwortete Metzendorfer sofort, hob den Kopf und sah die Frau an, „überhaupt nichts! Er würde alles nur als eine Belästigung, nein, als eine zusätzliche Belastung empfinden. Zumindest in diesem Augenblick.“ Er machte eine unbestimmte Handbewegung: „Später vielleicht! Wir müssen das abwarten.“ 228
Die Frau seufzte, aber sie schwieg. „Er bat mich“, sagte der Anwalt, „nach Ihnen zu sehen. Daß Sie jetzt so völlig verlassen sind, das bereitet ihm Kummer.“ „Nun“, schaltete sich Brumerus ein und sah den Anwalt an, „Sie können ihm das natürlich nicht sagen, Herr Metzendorfer. Aber verlassen ist Frau Marahn nicht. Sie sehen ja, daß ich hier bin, ich kümmere mich schon um alles. Wissen Sie“, er blickte an dem Anwalt vorbei in das unsichere Dunkel des Raumes, „ich bin hier als ein alter Freund, wenn ich es so ausdrücken darf. Was vergangen ist, ist vergangen. Aber vielleicht ist das, was übrigblieb, um so wertvoller. Für beide Beteiligten, Herr Metzendorfer.“ Er hatte in tiefem Ernst gesprochen. Margit Marahn hatte ihn aufmerksam angesehen, dem Anwalt wollte es sogar scheinen: hungrig. Als Brumerus schwieg, seufzte sie unhörbar, aber sie nickte, und Metzendorfer wußte, daß sie den Besuch von Brumerus wirklich so empfand. Er fühlte sich erleichtert. Täuschungen, so schien es ihm, waren nicht beabsichtigt, waren nicht möglich. Und er sah es als tröstlich an, daß ein Rest von Menschlichkeit erhalten geblieben war. Das Thema schien abgeschlossen, auch Brumerus mochte der Meinung sein. Er setzte sich bequemer hin, schlug die Beine übereinander und fragte Margit Marahn: „Vielleicht ist dein Gast hungrig oder durstig?“ Metzendorfer schüttelte den Kopf und wehrte deutlich ab. „Wie Sie wünschen“, sagte Brumerus, als wäre er der Hausherr. Er wechselte das Thema abermals: „Sie haben angedeutet, daß Sie Spuren verfolgt haben, Herr Metzen229
dorfer? Wissen wir nun endlich, wer dieser Altbauer ist und was er eigentlich in meinem Bungalow gewollt hat?“ Und während er sich eine neue Zigarette ansteckte, fügte er hinzu: „Denn das interessiert mich ja nun wirklich, wie Sie verstehen werden!“ Metzendorfer verstand es sehr gut, und deshalb berichtete er von seinen Irrfahrten. Margit Marahn lauschte ihm schweigend, ihre Augen waren groß und glänzend. Brumerus hörte ihm aufmerksam zu, fragte dann und wann dazwischen. Die Motte hatte sich zu Tode verbrannt. Sie war in den überhellen Kreis gefallen, den die Lampe auf den Fußboden warf, und zuckte dort hilflos und verendend. Gegen Mitternacht erhob sich Metzendorfer endlich. Er war müde. „Ja, gehen wir!“ sagte Brumerus und stand gleichfalls auf. Er wandte sich an Margit Marahn: „Und du machst dir nicht mehr Sorgen als unbedingt nötig. Weißt du, auch wenn die Reisen von Herrn Metzendorfer nichts Greifbares ans Licht befördert haben, so können wir doch die Gewißheit haben, daß er es mit der Verteidigung überaus ernst nimmt und die Sache in guten Händen ist. Und was mich anbetrifft“, fügte er hinzu, „so ist dir bekannt, wie ich denke, ich habe es dir schon vorher gesagt. Dabei bleibt es. Was ich tun kann, dir zu helfen, das tue ich.“ Margit Marahn sagte leise: „Das weiß ich. Und dafür bin ich dir dankbar.“ Dann standen Brumerus und er vor der Haustür, die Margit Marahn sogleich hinter ihnen geschlossen hatte. Der Mond war jetzt ein rundes, weißes Loch in dem dunklen Himmel. Sein ungewisses Licht lag auf dem trüben, herbstlichen Rasen wie zarter Schaum. 230
Die beiden Männer gingen schweigend die paar Schritte nach rechts hinüber. Brumerus holte die Schlüssel aus seiner Tasche, doch als er den Schlag aufgeschlossen hatte, zog er ihn nicht gleich auf, sondern drehte sich zu dem schweigenden Metzendorfer um: „Und Sie haben immer noch Ihre alte Kiste?“ fragte er. Der Anwalt begriff nicht. „Ach“, sagte Brumerus, „nur so nebenbei, es fällt mir gerade so ein. Ich meine den Wagen. Sie wollten sich doch auch einen Borgward kaufen?“ „Ja“, bestätigte Metzendorfer verwirrt, „das wollte ich. Nein, ich habe noch den Mercedes.“ Jetzt schob sich Brumerus auf seinen Sitz und sagte dabei: „Ich will Ihnen gerne behilflich sein. Wenn Sie ernstlich daran denken, ich würde das bei Bogumil machen. Dort habe ich meinen gekauft. Es ist ein BorgwardDienst. Gleichzeitig besitzen sie ein Garagenhochhaus. Das ist für mich sehr angenehm, ein paar Minuten von meiner Wohnung, und der Wagen ist untergebracht. Dort lasse ich auch die Durchsichten machen. Die Leute kenne ich deshalb gut, und Sie würden dort sicher Ihre zehn Prozent Rabatt bekommen, wenn ich Sie einführe.“ „Vielen Dank“, sagte der Anwalt, „ich werde vielleicht darauf zurückkommen.“ „Schön!“ sagte Brumerus, „also, gute Fahrt!“, und schlug die Tür zu. Metzendorfer trat beiseite, der Borgward Isabella fuhr an, fuhr zurück, wendete elegant und fast lautlos und glitt an dem mondlichtbestäubten Rasen vorbei, dem Tore zu. Jetzt erst schaltete Brumerus das Licht ein. Der Kegel der Scheinwerfer stach bergab, stach über die vorbeiführende Straße, stach sekundenlang in die 231
schwarz aufblitzende Flanke des Mercedes, bebte dann über den hügeligen Weg hinweg. Brumerus war verschwunden. Metzendorfer ging langsam hinunter. Er atmete tief. Die Luft war frisch und klar, eine Spur Benzingeruch war noch darin, kaum bemerkbar. Dann folgte der Mercedes dem anderen Wagen durch die stille Nacht zu der Autobahn hinüber. Griessbühl hatte den Anwalt während der ganzen Erzählung nicht unterbrochen, er hatte ihn starr angesehen, und als Metzendorfer endete, kniff er die Lippen ein, stützte sich mit den Ellenbogen auf die Schreibtischplatte und quirlte den Bleistift zwischen beiden Händen. Endlich sagte er: „Nun gut, aber um dem Kommissar das zu erzählen, sind Sie sicher nicht hergekommen?“ Unwillkürlich sah Metzendorfer nach der abgegriffenen Krempe hin. „Nein“, sagte er, „natürlich nicht! Ich habe Ihnen das nur berichtet, weil Sie mich darum gebeten haben! So ist es doch wohl. Für den Fall hat das gar nichts zu bedeuten, und für mich war die einzige Frage: Berichte ich Marahn davon oder nicht? Und es ist sicher, daß ich es nicht tun werde.“ Der Assistent nickte. „Tja“, meinte Metzendorfer und sah beiseite, „warum ich hergekommen bin? Ich sagte ja, ich war in Frankfurt bei der Trizius und in diesem Zusammenhang bei einem gewissen Sebastian gewesen.“ Er schüttelte den Kopf. „Was ich erfahren habe, bestätigt nur, daß Herr Groll recht hatte. Es lohnt nicht, sich länger damit zu beschäftigen, es kommt nichts dabei heraus.“ 232
Griessbühl hörte auf, den Bleistift zu quirlen. Ihm schien es nicht zu passen, daß der Anwalt sich zu der Meinung Grolls bekannte. Er hörte nicht zu, als Metzendorfer seine Ansichten und die des Kommissars hervorholte, miteinander verglich, erwog, Abstriche da und dort machte … Er sah nach dem Hut Grolls hinüber, der bebte und schwankte und sich manchmal sogar auf die andere Seite wenden zu wollen schien, genau so, als wäre ein Kopf darunter, der mithörte und seine Meinung kundtun wollte. Für Metzendorfer völlig unerwartet, stand Griessbühl mitten in einem Satz des Anwalts auf, steckte die Hände in die Hosentaschen, trat an das Fenster und sagte: „Da sind Wolken, und in denen stecken Blitze. Sie haben sich noch nicht entladen. Ich weiß nicht, warum. Aber ich weiß, daß es so ist, ich habe das im Gefühl. Gut, Sie können sagen: Ein junger Schnösel, vergleichsweise unerfahren, was bedeutet das schon! Sie haben sich zu dem Credo des Kommissars bekehrt. Ich nicht, Herr Metzendorfer, ich nicht!“ Er drehte sich um und lehnte sich mit dem leicht gekrümmten Rücken so fest gegen die Fensterscheiben, daß der Anwalt einen Augenblick fürchtete, Griessbühl würde sie eindrücken. Die Hände hatte der noch immer in den Hosentaschen. Mit Heftigkeit sagte er: „Und wenn der Bericht zehnmal beim Untersuchungsrichter liegt, weil er abgeschlossen ist, ich fange diese Sache von vorne an!“ Er stieß sich vom Fensterbrett ab, ging rasch und energisch quer durch den Raum und setzte sich an den Schreibtisch. Der Hut des Kommissars schaukelte unwillig. 233
3. Metzendorfer befand sich dem jungen Mann gegenüber wie unter einem Zwang. Er begriff es selbst nicht. Griessbühl hatte an der verschlossenen Schublade gerüttelt, war wütend in das andere Zimmer geeilt, durch die geöffnete Tür hämmerte blechern das Lärmen der Schreibmaschine, war zurückgekommen mit einem Stoß Papier und einigen Bleistiften, hatte sich zurechtgesetzt, den Anwalt unter hochgezogenen Brauen hervor angeschaut und gesagt: „Schießen Sie los!“ Der war hilflos. „Na“, sagte Griessbühl ungeduldig, „erzählen Sie, was Sie festgestellt haben!“ „Festgestellt?“ fragte Metzendorfer gedehnt. Er besann sich: „Eigentlich nichts!“ „Verdammt!“ rief Griessbühl empört aus. „Seien Sie kein Wortklauber. Jedenfalls jetzt nicht. Wenn nicht festgestellt, dann erlebt! Sie sind doch der Sache Marahn auf der Fährte geblieben!“ „Also“, begann Metzendorfer und wollte schildern, wie er dem Stubenmädchen, der kleinen Trizius, im Hotel Mainau in Frankfurt begegnet war. Aber der Assistent wehrte ungeduldig ab. „Nein, so machen wir das nicht. Ihre Erlebnisse, Herr Metzendorfer“, und plötzlich wurde seine Stimme so geduldig, als spreche er zu einem kleinen Kinde, „Ihre Erlebnisse beginnen viel früher, beginnen schon da, als Sie den Anruf Marahns oder seiner Frau wegen des Mords erhielten, in jener Nacht.“ „Das ist bekannt“, sagte Metzendorfer verstockt. „Ja, bekannt“, wiederholte Griessbühl geduldig, „ist Ihnen genau bekannt, mir weniger genau, anderen überhaupt nicht. Aber selbst, wenn das bis ins Detail bekannt wäre, und zwar allen, wäre es trotzdem wichtig, daß Sie 234
davon berichten: Dann werden Ihnen die Einzelheiten wieder gegenwärtig, dann merken Sie auch, wie diese oder jene Erfahrung möglicherweise auf Ihre Einstellung zu einem Erlebnis abgefärbt hat, dann werden wir allmählich ein einigermaßen objektives Bild bekommen. Das ist entscheidend.“ Er sagte kurz: „Ich muß Sie schon bitten, genau zu berichten!“ Metzendorfer ergab sich in sein Schicksal. Und Griessbühl wollte sogar erfahren, ob Metzendorfer schon geschlafen oder noch gelesen hätte, als der Anruf kam, ob er sofort in die Garage gegangen wäre oder ob er nicht doch gezögert hätte, sich in diesen unangenehmen Fall zu mengen. Allmählich gewöhnte sich Metzendorfer an das, was er zuerst bei sich eine ‚törichte Fragerei‘ genannt hatte, und er erkannte, daß ihm Einzelheiten längst entfallen waren, die erst durch die gezielten und treffsicheren Fragen ausgegraben wurden. So berichtete er von der Heimfahrt im Wagen mit Brumerus, von seiner Rückkehr nach Berneck, von dem Entstehen seines Verdachts, daß noch ein anderer in dem Bungalow gewesen wäre, von seiner Fahrt nach Frankfurt und den Versuchen, die kleine Trizius und den großen Sebastian auszuhorchen, und endlich von seiner Reise nach Passau und dem Gespräch mit Wenzel Maria Dallinger. Jede Kleinigkeit hatte er erwähnt, und vor seinen Blicken füllten sich die Bogen mit der schnell flüchtenden Schrift Griessbühls, der manchmal mit schräg geneigtem Kopf fast wie gehetzt schrieb, manchmal wieder pausierte und geduldig zuhörte. „Und nun sind Sie hier!“ sagte der Assistent abschließend. 235
„Ja, nun bin ich hier“, quittierte der Anwalt und fühlte sich müde und ausgehöhlt. Griessbühl legte den Bleistift hart auf die Tischplatte, so daß ein deutlicher Ton entstand, erhob sich, trat an das Fenster, das allmählich eindunkelte, wie Metzendorfer zu seinem Erstaunen bemerkte, streckte die Arme, dehnte die Brust, atmete tief aus und sagte: „Na also, das wäre geschafft!“ Dann ging er durch das Zimmer, verharrte vor dem Ständer mit Grolls Hut wie vor einem Denkmal, versetzte unversehens dem schmierigen Sombrero einen kräftigen Schlag mit der flachen Hand, so daß der beinahe von seinem Haken hüpfte, und sagte gelassen: „Na, du wirst dich wundern!“ Danach wandte er sich dem erstaunten Anwalt zu und sagte: „Ich fürchte, Sie müssen sich in dieser Sache noch bemühen, Herr Metzendorfer. Der Film ist nicht abgelaufen, der war nur gerissen, nehme ich an.“ Er ging zu dem Schreibtisch zurück. Dort sagte er: „Wir werden versuchen, ihn zu kleben. Ich habe da eine bestimmte Vorstellung. Darüber muß ich noch nachdenken!“
4. Während Metzendorfer in seinem Wagen heimwärts trödelte, spürte er die Ereignisse der letzten Tage: Tatsächlich zog das wie ein Film durch sein Hirn, ja, wie Griessbühl gesagt hatte: ein abgerissener Film. In seinem Schädel surrte ohne sein Zutun der Apparat, der Streifen lief, er sah die bunten und grauen Bilder flimmern, und dann war da plötzlich ein weißes, grelles Rechteck – ein Nichts. Schluß. Aus. 236
Und immer platzte das Zelluloid an der gleichen Stelle – dort im Bungalow, wo zwei Menschen standen oder saßen und einer von ihnen laut sprach und dann ein Schuß knallte, und danach dieses verdammte blendende Rechteck! Das lenkte den Anwalt ab. Das irritierte ihn so, daß er kaum auf seine Fahrt achtete und manchmal erschreckt hochfuhr, weil er völlig automatisch gelenkt, gebremst, Gas gegeben hatte. Auf ihn zu tanzten die Lichtbälle der Scheinwerfer, an ihm vorbei schoben sie sich, und vor seinem Wagen flackerte ein unsicheres Stück grauen Zements. Sein Leben hing davon ab, daß dieses scheinbar bewegliche Zementstück weiter auf ihn zukam, unter die Räder zu seinen Füßen glitt. Er aber träumte, erschrak, träumte wieder, sah jenes grellweiße Rechteck. Am Himmel über ihm schlenderte der Mond mit – ein harter, kleiner weißer Fleck, scharf in die Schwärze gestochen wie von einem Scheinwerfer. Metzendorfer wußte nicht, in welcher Richtung Griessbühl suchte. Nach Metzendorfers Bericht, den er jetzt ein „Verhör“ zu nennen geneigt war, waren sie in eine angenehm warme Bierstube gegangen, um zu Abend zu essen. Ein Gespräch war nicht in Gang gekommen. Der Anwalt sah erstaunt, welche unglaublichen Mengen von Fleisch, Knödeln und Sauerkraut der Assistent verzehrte, ja in sich hineinstopfte. Dabei schien er über das Gehörte nachzudenken. Nach dem Essen schlürfte er sein Bier und wischte den Schaum von der Oberlippe. Wenn aber der Anwalt gemeint hatte, nun werde ein freundlicher und vertraulicher Gedankenaustausch zustande kommen, dann hatte er geirrt. 237
Griessbühl sah an ihm vorüber zu einem elektrischen Fußballapparat hin, an dem sich zwei junge Männer ununterbrochen zu schaffen machten. Grüne, rote, gelbe Lämpchen leuchteten auf, Zahlen blitzten, metallene Kügelchen schepperten durch Hindernisse. Metzendorfer wurde unruhig: Wollte der Assistent hier bis tief in die Nacht sitzen, sinnlos eigentlich? Er erwog, aufzustehen und heimzufahren. In dem Augenblick wandte Griessbühl sich ihm zu und fragte: „Das habe ich vergessen: Warum haben Sie in Passau im Firmenregister nicht nachgesehen?“ Metzendorfer wiederholte seine Gründe. Griessbühl nickte. Er sagte: „Aha, ach ja, richtig!“ und sonst nichts. Er starrte wieder zu dem klimpernden Fußballspiel hinüber. Metzendorfer wurde unlustig. Gerade wollte er das Zusammensein abbrechen, da sagte der Assistent: „Ich meine, daß Ihre Argumente stimmen. Dort hätten Sie vermutlich nichts gefunden. Der Altbauer hatte ja nämlich zu Passau gar keine Beziehungen, dieser Hebsacker scheint ihm fremd gewesen zu sein. Auf den ist er erst in Frankfurt gestoßen, als er ausgebootet werden sollte. Und dann: Nichts als hin.“ Er machte wieder eine Pause, runzelte die Stirn, weil einer der jungen Männer in ein trunkenes Hallo ausbrach, und sagte: „Indessen ist ja da schon mal etwas wie eine Firma gewesen. Zumindest hat ein Vertrag existiert. Wenn wir Glück hätten, könnten wir herausfinden, wer da seine Hände im Spiel hatte.“ Jetzt sah er Metzendorfer an. „Altbauer reiste des öfteren in Frankfurt an, stieg im Hotel Mainau ab. Möglicherweise hatte er dort engere Geschäftsbeziehungen. Also müßte man im Firmenregister des Frankfurter 238
Amtsgerichtes nachsehen. Möglicherweise ist dort etwas eingetragen. Außerdem könnte Sebastian, vielleicht auch ein Strohmann von ihm, trotz der Beteuerungen seine Finger im Spiel haben.“ Er richtete sich ein wenig auf und sagte: „Das sind harte Geschäftsleute, denen ist alles zuzutrauen.“ Er schwieg wieder. Beinahe schüchtern ergänzte Metzendorfer nach einer Pause: „Schließlich käme auch München in Frage? Hier wohnte Altbauer doch! Jedenfalls früher. Wäre es nicht naheliegend, daß er hier Geschäfte getätigt hat?“ Griessbühl sah ihn an. Um seine schmalen Lippen zuckte es. „Sehr scharfsinnig!“ sagte er ironisch. „Genau der gleiche Schluß, zu dem ich auch gekommen bin.“ Metzendorfer sah die Strecken vor sich, die Zeit, die er vertan hatte, und er erinnerte sich daran, wie nutzlos seine bisherigen Bemühungen gewesen waren. Er sagte: „Es wird meinem Mandanten wenig nützen, Herr Griessbühl.“ Und als der schwieg, setzte er hinzu: „Offen gestanden : Ich kann es mir nicht leisten, weitere Ermittlungen anzustellen.“ Griessbühl erwiderte gleichmütig: „Wer hat gefordert, daß Sie das tun sollen? Nein, Herr Metzendorfer, Ermittlungen sind Sache der Polizei, in diesem Falle meine Sache.“ Der Anwalt empfand es wie eine Rüge: Wozu und mit welchem Recht hast du dich überhaupt eingemischt? Aber der Assistent nahm das sofort weg. Er sagte: „Ich bin Ihnen aufrichtig dankbar, daß Sie die Sache weitergetrieben haben. Unter uns: Ich war entmutigt. Groll hat mich zurechtgewiesen, er ist mein Vorgesetzter, ich hatte aufgegeben.“ Er reckte sich ein wenig. „Aber infolge Ihrer Bemühungen kann ich mit gutem Grund den Fall 239
neu aufgreifen.“ Er lächelte schmal. „Zumal der Kommissar in Urlaub ist und hoffentlich bleiben wird.“ Er seufzte. Er sagte: „Sie selbst fahren brav in Ihre Praxis, Sie haben im Augenblick gar nichts zu tun. Wir können ja auch tatsächlich nicht voraussagen, was sich ergeben wird. Und ob sich etwas ergeben wird. Nur“, er sah Metzendorfer an, „falls ich Sie später brauche, wären Sie dann bereit einzuspringen?“ Metzendorfer strich die rote Haarsträhne aus der Stirn. Er überlegte. Eine leichtfertige Zusage konnte ihn viel Zeit kosten, mehr noch: Prestige. Es würde darauf ankommen, wie dieser Fall ausginge. Doch in diesem Augenblick sah er Marahn vor sich: Marahn im Sprechzimmer, ein geschlagener Mann, ein Schicksalergebener. Er sagte: „Ich glaube: ja!“ „Schön“, quittierte Griessbühl, als hätte sich der Anwalt zu etwas Selbstverständlichem bereit gefunden, „dann fahren Sie heim. Ich melde mich bei Ihnen, so oder so.“ Darum trödelte Metzendorfer jetzt auf der Autobahn entlang, ein kleines fahrendes Gehäuse schob sich voran, und der kleine weiße Mond am Himmel oben begleitete es. Obwohl der Anwalt keinen Auftrag hatte, rauschte jener Film durch sein Hirn, immer wieder bis zu jener verteufelten Stelle, wo er gerissen war. Ob Griessbühl, dachte der Anwalt ermüdet, mehr weiß, mehr ahnt? Ich fürchte: nein! In sanftem Bogen glitt er auf den Zubringer hinüber.
5. Der Assistent Griessbühl wußte tatsächlich weder etwas, noch ahnte er es. Es lag ihm auch gar nichts 240
daran; es hätte seiner Methode widersprochen, sich unfruchtbaren Erwägungen hinzugeben. Um die Zeit, als Metzendorfer auf den Zubringer hinausfuhr, saß er in dem winzigen Zimmer, das ihm gehörte. Er wohnte immer noch bei seiner Mutter, einer kleinen, rührigen, liebevollen Frau, die nicht nur die große Wohnung versorgte – sie verdiente einen Teil ihres Lebensunterhalts durch Untervermietung –, sondern auch ihren Sohn. Hier in diesem kleinen Zimmer fühlte er sich wohl. Hier pflegte er sich bei modern jazz zu entspannen. Er besaß eine umfangreiche, klug ausgewählte Plattensammlung. An diesem Abend jedoch hatte er darauf verzichtet. Er lümmelte auf der Couch. Um ihn waren die Papierbogen gebreitet, die er während des Gesprächs mit Metzendorfer beschrieben hatte. Er bemühte sich, in die Darlegungen des Anwalts eine gewisse Ordnung zu bringen. Metzendorfer hatte chronologisch erzählt. Das nützte Griessbühl wenig. Er wollte Zusammenhänge erkennen. Deshalb hatte er sich mehrere Blocks zurechtgelegt. Darauf notierte er Punkte, die seiner Ansicht nach zusammengehörten. Da gab es als ersten beispielsweise den ‚Komplex Altbauer-Firma‘. Es war Altbauers erster Versuch, einen großen Baukomplex mit einigen anderen zusammen als Generalunternehmer in die Hand zu bekommen. Davon hatte Sebastian gesprochen. Das lag etwa drei Jahre zurück. Wenn dieser Versuch damals auch gescheitert war, so ließ er doch Rückschlüsse auf diejenigen Personen zu, mit denen Altbauer möglicherweise den zweiten Versuch hatte unternehmen wollen. Dorthin gehörte vermutlich alles, was diesen Amerikaner betraf, 241
den er in Saudi-Arabien getroffen hatte. Dahin gehörte bis zu einem gewissen Grade auch Direktor Sebastian; denn zumindest war Altbauer ihn wegen einer Beteiligung angegangen. War Passau dazuzurechnen? Griessbühl hielt es für wenig wahrscheinlich. Es besagte nichts, daß Altbauer jener Tageszeitung Fotos verkauft hatte, die noch dazu unbrauchbar waren; das war eine Maßnahme gewesen, die von der Not diktiert worden war: Altbauer brauchte Geld. Nein, im Gegenteil! Der Assistent fand hier den ersten Stein für den zweiten Komplex: die „Altbauer-Konkurrenz“. Diesmal glaubte Altbauer, seiner Sache sicher zu sein. Er mußte in Frankreich klare Bedingungen erhalten haben, auch eindeutige Zusagen. Der einzige Vorbehalt schien gewesen zu sein, daß ein Minister der Bundesrepublik das Objekt empfahl. Wegen dieser Empfehlung mußte sich Altbauer an seinen früheren Münchener Partner gewandt haben. Aber der hatte anscheinend eine solche Empfehlung nur über den Passauer Verleger Hebsacker erhalten können, der, wie alle Welt wußte, mit dem Minister befreundet war. Für diese Empfehlung schien Hebsacker einen Geschäftsanteil an der neuen Firma verlangt zu haben; alle Anteile waren jedoch vermutlich bereits vergeben gewesen, und so waren wohl Hebsacker und die anderen Beteiligten übereingekommen, Altbauer „abzufinden“, ihm den Anteil, der ihm zugesichert worden war, abzujagen. Ja, so mußte es gewesen sein. Hebsacker aus Passau war offensichtlich von einem noch Unbekannten eingeschaltet worden, als die zusätzliche Empfehlung des Ministers benötigt wurde. Hebsacker und möglicherweise der Minister sollten an die Stelle des Anrechts von Altbauer treten. Es war nicht anzunehmen, daß Hebsacker schon in den ursprünglichen Plänen Altbauers eine Rolle gespielt hatte. 242
Hingefahren nach Passau war Altbauer nur deshalb, weil er mit Hebsacker verhandeln wollte. Aber der schien gesagt zu haben: Keine Unterschrift des Ministers ohne die Gegengabe eines Geschäftsanteils. Und ohne diese ministerielle Empfehlung wiederum taugte Altbauers Projekt nichts. Das war seine verteufelte Lage. Deshalb hatte er in Frankfurt von einem „Diebstahl“ gesprochen, deshalb Wenzel Maria Dallinger gegenüber wütend bemerkt, Hebsacker wollte ihn „ausschmieren“. Und die Pläne dafür hatte er sicher in der Aktentasche des Besuchers in Frankfurt vermutet und später auch gefunden. Wahrscheinlich hatte er vorher überhaupt nicht gewußt, daß Hebsacker eingeschaltet worden war. Um so schwerer mußte es ihn getroffen haben, als er in Frankfurt davon erfuhr. Nun gut: Das war der zweite Komplex. Zwischen den beiden aber mußte es ein Verbindungsstück geben: denjenigen oder diejenigen, von denen Altbauer aus dem Geschäft gestoßen werden sollte. Sie oder er mußten in beiden Firmenplänen vertreten sein. Das stimmte alles überein. Er blätterte in seinen Notizen, fand sich aber in einem Punkt nicht zurecht: Hatte Altbauer schon vor der Einsichtnahme in die ominöse Aktentasche dem Direktor Sebastian gegenüber geäußert, er wollte nach Passau fahren? Hatte er übrigens nicht schon vorher der Trizius gegenüber das flüchtig bemerkt? Aber mußte das wirklich bedeuten, daß er zu diesem Zeitpunkt schon wußte, welches Spiel gespielt wurde? Konnte er nicht auch nur einfach deshalb den Plan gehabt haben, nach Passau zu fahren, um dort die Fotos zu verkaufen? Oder hatte er seinerseits mit dem Gedanken gespielt, nicht selbst aus dem Firmenplan auszuscheiden, 243
sondern mit Hilfe Hebsackers irgendeinen der anderen Beteiligten auszuschließen? Dann wäre er selbst in dem Unternehmen geblieben, das den Generalauftrag bekommen sollte, und er hätte über Hebsacker trotzdem die notwendige Unterschrift des Ministers erhalten. Nur von einem, fand Griessbühl schließlich zu seiner Überraschung, konnte die Verschwörung gegen Altbauer nicht ausgehen: Das war Hebsacker. Denn war Hebsacker bereits an dem alten Firmenplan beteiligt, so besaß er ja seinen Anteil und hatte keinen Grund, Altbauer zu schädigen; besaß er ihn noch nicht, war also mit dem Projekt noch nicht vertraut, so mußte es eben jener unbekannte Dritte gewesen sein, der ihm das Angebot gemacht hatte, an Altbauers Stelle zu treten, für gewisse Gegenleistungen, für das Wohlwollen des Ministers. Griessbühl rekelte sich auf die andere Seite. Er betrachtete seine Notizblöcke: Sie gefielen ihm wenig. Zwar fand er, das, was darauf stand, entbehrte nicht der Wahrscheinlichkeit; aber brachte er es zusammen mit den umfangreichen Ausführungen des Anwalts, so erschien es ihm mehr als dürftig. Er gähnte. Verflucht! Möglicherweise blies er eine Mücke zum Elefanten auf, und der würde bei nächster Gelegenheit mit einem gewaltigen Knall platzen – vielleicht, wenn Groll ihn unmutig anstach! Denn ein Mann wie Altbauer, der Riesengeschäfte zu tätigen beabsichtigte, dann aber aus Geldverlegenheit unbrauchbare Fotos zu verkaufen versuchte, der war natürlich auch imstande, Wäsche von der Leine zu klauen! In diesem Augenblick erschien es Griessbühl sogar höchst wahrscheinlich, daß Altbauer tatsächlich nur in 244
den Bungalow eingebrochen war, weil er dort Wertgegenstände oder Geld oder überhaupt Verkaufbares vermutet hatte: Verlockend war es ja, das Häuschen stand abseits, eine Überraschung war kaum zu erwarten. Und wie er hingekommen war? Auf der Fahrt nach irgendeinem anderen Ziel den Bungalow gesichtet, angehalten, eingestiegen: Auch diese Lösung bot sich an. Sie schien verblüffend überzeugend. Griessbühl richtete sich auf. Die Blätter mit den Notizen rutschten von der Couch und flatterten auf den Fußboden. Er sah gleichgültig zu. Er war, fand er, an dem gleichen Punkte angelangt wie vor Tagen Groll, wie nun Metzendorfer: Er war bereit aufzugeben; alle Unternehmungen erschienen ihm sinnlos. Er seufzte. Er dachte an einen alten Hut: Wozu sollte er sich einem Verweis aussetzen? Er erhob sich, schob die Blätter zusammen – und in diesem Augenblick merkte er auf. Da standen ein paar Worte, die er nicht beachtet hatte, über eine, wie es ihm erschienen war, Nebensächlichkeit. Jetzt sammelte er sorglich die Bogen wieder zusammen, stößelte sie, legte sie auf ein Tischchen und beschwerte sie mit den Notizblöcken. Er sah sie noch eine Weile an. Dann entschloß er sich, den plötzlichen Einfall zu vergessen: Plötzliche Einfälle konnten einen leicht in die Irre führen, diese Erfahrung hatte er gemacht. Er entschloß sich jedoch auch, nicht aufzugeben. Er sah auf die Armbanduhr, es war Mitternacht. Morgen früh würde er in den Dienst gehen und ihn wieder verlassen. Er würde nach München fahren, nach Frankfurt, nach Passau, in seinem buntscheckigen, auf245
fälligen kleinen Wagen. Der war noch tapfer genug für gewagte Unternehmungen, und daß seine Unternehmung gewagt war, daran zweifelte er nicht.
6. Und die ganze Nacht über schaukelte und bebte ein alter, fleckiger Sombrero an dem Haken im Zimmer Grolls; Lastzüge donnerten an dem Haus vorbei, leise klirrten die Fensterscheiben. Der faustgroße weiße Mond stand schräg über den Dächern; auf den abgetretenen Holzfußboden des Raumes fächerte er schmale helle Brettchen. Ein schwacher silberner Staub schien das Zimmer zu füllen. Sogar der alte Hut lieh sich davon die Spur eines edlen Glanzes. Er bewegte sich, unruhig bewegte er sich all die Nachtstunden hindurch, und es sah aus, als rückte der Kommissar ihn mit altgewohnter Gebärde auf seinem Kopfe zurecht.
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ZEHNTES KAPITEL
1. Direktor Sebastian betrachtete die Visitenkarte genau. Auf der Vorderseite fanden sich nur Name, Beruf und Anschrift, keine handschriftliche Notiz, die speziell für ihn bestimmt gewesen wäre. Langsam drehte er sie in seinen kleinen Händen herum; zwei Meter von ihm entfernt wartete die Sekretärin auf Bescheid. Aber er ließ sich Zeit. Auch die Rückseite der Karte war leer, ein kleiner, glatter, weißer Karton. Diese Karte war in einem verschlossenen Briefumschlag von der Anmeldung heraufgeschickt worden, und in diesem verschlossenen Umschlag hatte die Sekretärin sie ihm ausgehändigt. Sebastian war versucht zu entscheiden: Ich bin in einer wichtigen Sitzung, oder: In zwei Stunden geht mein Flugzeug nach Paris. Obwohl er wußte, daß diese Karte Unannehmlichkeiten bedeuten konnte, unterdrückte er schließlich diesen Wunsch. Er nahm noch einmal den Umschlag zur Hand, besah ihn flüchtig und warf ihn dann gelassen in den Papierkorb. Der Sekretärin nickte er zu und sagte: „Zehn Minuten!“ 247
Sie verschwand. Sebastian stellte den kleinen Karton auf seinem Schreibtisch an einen Schnellhefter, so, daß er die Schrift jederzeit lesen konnte; er hatte ein schlechtes Namensgedächtnis, er wußte, wie wichtig es war, Besucher ohne Umschweife bei ihrem Namen nennen zu können. Griessbühl wunderte sich nicht, als er den Raum betrat: Er war auf die merkwürdige Umgebung durch Metzendorfers Bericht vorbereitet. Freundlich lächelnd nahte er sich dem Schreibtisch, wo ihn Sebastian stehend erwartete, und er ließ das übliche Zeremoniell über sich ergehen, einschließlich des aufgeklappten Zigarettenkästchens, einschließlich der stereotypen Frage: „Womit kann ich Ihnen behilflich sein?“ „Sie wissen, warum ich komme?“ fragte er zurück. „Nein“, lächelte Sebastian und schaute wahrscheinlich auf eine Putte seitlich von Griessbühl. Er machte eine vage Handbewegung und setzte hinzu: „Ich vermute es nur …“ Der Assistent ging ohne Umschweife auf sein Ziel los: „Sie kannten Herrn Altbauer?“ fragte er. Sebastian antwortete nicht direkt. Er legte mehrere Male die flachen Hände gegeneinander und fragte zurück: „Ach, Sie kommen also tatsächlich in der gleichen Sache wie kürzlich der Anwalt?“ „Ein Anwalt?“ fragte Griessbühl scheinbar verwundert. „Sie kennen ihn nicht?“ fragte Sebastian, und nun war er wirklich erstaunt. „Das ist ja merkwürdig! Ja, es war ein Herr, der diesen Mörder verteidigen wollte.“ Dann schwieg er. Der Assistent lächelte. „Möglich!“ räumte er ein. „Das Morddezernat hat ja lediglich die Untersuchungen zu führen, alles andere ist Sache des Gerichts.“ Er runzelte die Stirn. „Übrigens erinnere ich mich, gleich im Anfang, 248
als wir nach Berneck gerufen wurden, tauchte ein Anwalt auf.“ Dann sagte er forsch: „Aber das ist ja für meine Fragen unerheblich!“ „Zweifellos“, erwiderte Sebastian entgegenkommend. „Wenn Sie mir“, sagte Griessbühl, „nur eine kurze Darstellung Ihrer Geschäftsverbindungen mit Herrn Altbauer geben wollten, das würde schon genügen.“ Der Direktor behielt sein entgegenkommendes Lächeln. „Geschäftsverbindungen?“ fragte er, und das klang beinahe so, als wäre er versucht, in ein lautes Gelächter auszubrechen. „Das ist freilich eine etwas hochtrabende Bezeichnung.“ Er sah auf seine kleinen Hände, die er gewohnheitsmäßig vor sich auf der Schreibtischplatte gefaltet hatte. „Altbauer ist vor Jahren mit einem Projekt an uns herangetreten. Ich hatte es zu prüfen und kam zu einem negativen Ergebnis. Das ist alles.“ Er sah auf. „Vor Jahren also!“ vermerkte Griessbühl und fragte neugierig: „Und seither sind Sie ihm nicht mehr begegnet, wenn ich Sie recht verstehe?“ Zu seiner Überraschung wurde Direktor Sebastian plötzlich kühl. Er fragte und zog die Brauen dabei hoch, so daß sie seltsam über dem schmalen Brillenrand standen: „Soll das ein Verhör sein?“ „Nein!“ erwiderte Griessbühl fest. „Das soll es gewiß nicht sein.“ Er lächelte den kleinen Mann freundlich an. Da lächelte auch Sebastian und sagte: „Fragen Sie schon!“ Und sah auf die Uhr: „Noch knapp sieben Minuten!“ „Die benötige ich nicht“, sagte Griessbühl rasch. „Also seither sind Sie Altbauer nicht mehr begegnet?“ „Nein“, erwiderte Sebastian. „Er hat mich nur kurz vor seinem Tod angerufen.“ 249
„Und er wollte?“ „Wir sollten uns an seinem Geschäft beteiligen.“ „Was für ein Geschäft?“ „Eine Art – Hausbau.“ „Ah, ich versteh’! Und wie standen Sie dazu?“ „Herr Altbauer wollte, daß meine Firma sich beteiligt. Vor Jahren schon hatte ich das nach Prüfung seiner Unterlagen abgelehnt. Deshalb habe ich ihn auch nicht mehr empfangen.“ Jetzt blickte Griessbühl auf seine Uhr: „Sehr gut, finde ich! Noch fünf Minuten. Hat Ihnen Altbauer gesagt, wohin er von Frankfurt aus wollte?“ „Ja, nach Passau.“ „Und warum?“ „Ich weiß es nicht, es hat mich nicht interessiert.“ „Er war aber dann in Bad Berneck?“ Sebastian fuhr mit den kleinen Händen mitleidig durch die Luft. „Das habe ich gehört.“ „Auch daß er erschossen wurde?“ „Auch.“ „Zur Zeit des Mordes, Herr Direktor, war noch ein zweiter Mann in dem Bungalow. Sie könnten mir nicht sagen, wer das gewesen sein könnte?“ „Mein lieber Herr …“, Sebastian warf einen schnellen Blick auf den weißen Karton, „Griessbühl, woher sollte ich das wissen? Ich kann Ihnen leider überhaupt nicht helfen!“ „Schön“, sagte Griessbühl strahlend, „das wäre alles!“ Er sah auf seine Uhr: „Über vier Minuten gespart! Vielen Dank!“ Er verbeugte sich knapp und deutlich und dachte: Wie vor einem General, kleine Männer mögen das oft, und schritt zur Tür. 250
Auch ihn begleitete Sebastian lautlos mit seinen kurzen schnellen Schritten, um ihm die Tür zu öffnen. Schon wollte er die Tür hinter dem Assistenten schließen, da wandte der sich noch einmal um und sagte freundlich: „Nein, natürlich Ihre Firma nicht! Es stimmt, Sie haben es abgelehnt! Nur Sie selbst haben sich an Altbauers Projekt beteiligt!“ Der kleine Mann stand steif und bewegungslos vor ihm; es war, als wäre er plötzlich eingefroren. Griessbühl lächelte ihn unbefangen an. Dann sah er, wie Sebastian einen raschen, unauffälligen Blick zu der Sekretärin hinüberschickte, die tat, als hätte sie nichts bemerkt. Die glatte Stirn Sebastians kräuselte sich. Er hob die winzigen Finger der Linken an den Haaransatz, rieb dort mit dem Zeigefinger, als müßte er sich auf etwas besinnen, und sagte scheinbar gedankenverloren: „Ah, Herr …“ Er sah auf und erklärte deutlich: „Wenn Sie das zu wissen glauben, wozu fragen Sie mich dann noch? Ich bin eine solche Art der Befragung nicht gewohnt. Ich wünsche die Unterhaltung zu beenden!“ Das war deutlich. Griessbühl sah ihm genau in die Augen, so freundlich wie zuvor, und sagte: „Wie Sie wollen, Herr Direktor. Aber seien Sie versichert, daß es sich nur um routinemäßige Fragen handelte. Wir mußten sie stellen, nicht nur Ihnen, weil der Anwalt des mutmaßlichen Mörders glaubt, irgendwelche Anhaltspunkte zu besitzen. Wir selbst glauben daran nicht. Dieser Anwalt will am neunzehnten Oktober den Bungalow nochmals untersuchen. Wir haben nichts dagegen, wir werden das Siegel einen Tag vorher lösen. Nur mußten wir zuvor alle Formalitäten erledigen.“ 251
Er verneigte sich leicht. „Entschuldigen Sie die Störung.“ Das Gesicht Sebastians zeigte keinerlei Regung. Griessbühl ging. Die Tür schloß sich lautlos hinter ihm.
2. Das bunte Flickenauto Griessbühls nahm sich inmitten der Versammlung bedeutender und vorwiegend schwarzer Wagen seitlich des Hochhauses sehr munter aus. Der Assistent bemerkte es mit Genugtuung, als er das Portal verließ und sich von Stufe zu Stufe hinunterfederte. Die neugierigen, die belustigten, die erstaunten Blicke, die ihn trafen, als er die Tür sorgsam aufschloß, heimste er wie eine reiche Ernte ein. Während er den Zündschlüssel drehte und Gas gab, war es ihm, als rückten die ernsten Wagen ein wenig beiseite, als fürchteten sie sein unbedenkliches, beutelustiges Vehikel. Er lächelte vor sich hin. Sebastian war erschrocken gewesen, weiß Gott. Er hatte versucht, es zu verbergen. Griessbühl schloß daraus, daß seine Behauptung berechtigt gewesen war. Indessen, so überlegte er, warum hatte der Direktor dann mit so großer Sicherheit jede Beteiligung bestritten, indem er das Gespräch abbrach? Dem Assistenten war klar, daß Sebastians Position als Direktor der HOTIBA bedroht war, fiel auch nur der Schatten eines Verdachts auf ihn. Denn, so würde der Auf Sichtsrat fragen, Sebastian hatte das Projekt Altbauers für die HOTIBA zu prüfen gehabt, und er hatte es abgelehnt. Beteiligte er sich selbst daran, hatte er dann 252
der HOTIBA nicht die Beteiligung an einem gewinnversprechenden Unternehmen versagt, nur um selbst in den Vorteil einer solchen Beteiligung zu gelangen? Das allein konnte genügt haben, Sebastian zu einer Lüge zu veranlassen. Dann setzte er eben alles auf eine Karte, auf die Karte nämlich, daß Griessbühl nur auf den Strauch geschlagen hatte, wie es ja tatsächlich der Fall gewesen war. Doch an welchem Unternehmen Altbauers konnte sich Sebastian überhaupt beteiligt haben? Bestenfalls doch an jenem Projekt, das ihm Altbauer vor etwa drei Jahren für die HOTIBA vorgeschlagen hatte. Dieses Projekt jedoch war, wie Griessbühl von Metzendorfer wußte, nicht zustande gekommen. Folglich war vermutlich auch keine Eintragung ins Handelsregister erfolgt. An dem Plan, der Altbauer diesmal nach Frankfurt geführt hatte, konnte Sebastian auf Grund früherer Übereinkünfte teilgehabt haben. Dagegen sprach nicht, daß er Altbauer nicht empfangen hatte; denn Altbauer sollte ja ausgebootet werden, und daß sich in der Aktentasche des Besuchers irgendwelche Papiere befanden, ein Vorvertrag vielleicht, wies darauf hin, daß ein gültiger Vertrag noch nicht existierte. In diesem Falle konnte Sebastian ziemlich sicher sein, nicht entdeckt zu werden, wenn er die geschäftliche Beziehung zu Altbauer leugnete. Es war aber auch durchaus möglich, daß es an anderem Ort zu einer Besprechung zwischen Sebastian und Altbauer gekommen war, weil dem Direktor die HOTIBA nicht günstig, vielleicht sogar gefährlich erschien. Möglicherweise hatte das Telefonat nur der Verabredung an einem dritten Ort gedient. Seltsam war es allerdings, daß Altbauer unter solchen Umständen für seinen fremden Besucher über die Trizius einen Anruf aus dem Vorzimmer Sebastians fingiert hatte. Indessen konnte er das gewagt 253
haben, in der Annahme, daß Sebastian an der Verschwörung gegen ihn beteiligt sein mußte. Griessbühl schob den ersten Gang ein und gab sachte Gas. Das Flickenauto schob sich fröhlich in den freien Weg zwischen den bedeutenden anderen Wagen und hoppelte bunt und guter Laune aus der ernsten Trauergemeinde heraus. Während der Assistent in dem Strom der vorbeifließenden Wagen weitertrieb wie eine bunte Fregatte, pfiff er vor sich hin. Er war zufrieden. Ob nun Sebastian an der Sache beteiligt war oder nicht – er hatte auf jeden Fall den neunzehnten Oktober als einen Tag genannt, an dem der Bungalow von der Kriminalpolizei freigegeben und Marahns Anwalt anwesend sein würde. Fand es jemand notwendig, Spuren zu verwischen, so würde er diesen Tag benutzen oder die Nacht vorher, die kurze Spanne zwischen der Freigabe und dem Besuch Metzendorfers. Während Griessbühl jetzt im Autostrom mitschwamm, hatte er Sorgen: Seine Mission hier in Frankfurt betrachtete er als erledigt. Aber die Zeit war zu knapp geworden, als daß er nach Nürnberg zurück oder gar vorher noch nach Passau hätte fahren können. In Passau wäre er spätabends angelangt. Da war für ihn kein Hebsacker mehr zu sprechen, das war ihm klar. Tauchte er wieder in Nürnberg auf, würden ihn dort möglicherweise neue Aufgaben erwarten, die ihn wider Willen festhielten. Er runzelte die Stirn. Er sah einen Hut an einem Kleiderständer wanken. Während er sich aus Frankfurt hinausgleiten ließ und die Geschwindigkeit allmählich steigerte, entschloß er sich, in Stuttgart zu übernachten und erst am nächsten Tag den Verleger Hebsacker aufzusuchen. 254
3. Mit Hebsacker konnte man nur befreundet oder verfeindet sein, ein Drittes war nicht möglich. Alle, die ihn kannten, wußten das und richteten sich danach. Befreundet mit ihm zu sein bedeutete nicht mehr, als von ihm nicht bei jeder Gelegenheit angefallen zu werden. Verfeindet mit ihm zu sein hieß, sich im Laufe der Jahre eine Fülle kleiner Notizen in der ‚Bayerischen Wacht‘ zuzuziehen, eine Art Pockenkrankheit, bei der jede Pocke für sich harmlos war, sie alle zusammen aber den Befallenen hoffnungslos verunstalteten. Sich gerichtlich dagegen wehren zu wollen war unsinnig. Hebsackers Pressenotizen waren ungreifbar, sie enthielten meistens die vieldeutige Wendung „einem Ondit zufolge …“. Außerdem war Hebsacker selbst ein leidenschaftlicher Prozesseur: Nächst seiner Zeitung liebte er gerichtliche Auseinandersetzungen am meisten. Von ihm lebten drei Anwälte – er konnte sich das leisten, seine Ehefrau war eine Brauereibesitzerstochter –, deren umfangreiche Schriftstücke zu einem Großteil von Hebsacker selbst diktiert waren. So klangen sie auch: Hebsacker war Bayer, wollte es sein, betonte die Tatsache und war entsprechend grob. Mit dieser deutlichen Grobheit sprang er in Wahlkämpfen dem Minister seiner christkatholischen Partei bei, mit dem ihn gleiche Interessen verbanden. Denn umgekehrt schanzte ihm der Minister indirekte Subventionen und direkte Informationen zu, die der ‚Bayerischen Wacht‘ zugute kamen. Diese Tatsachen waren bekannt, und auch Griessbühl wußte darum. Es irritierte ihn nicht: Er war ein Mann, der gern andere Menschen kennenlernte, und so simpel die geistige Gestalt Hebsackers auch sein mochte – Erfolge 255
konnte er verbuchen, die Auflagenziffer seines Blattes stieg im Quadrat zur wachsenden Grobheit. Griessbühl war der Ansicht, daß Hebsacker derjenige war, der mit seinem Anteil den Altbauers ersetzen sollte, und es paßte auch zu der grobschlächtigen Gestalt Hebsackers, daß er dazu auserwählt worden war, Altbauer ‚aus der Jacke zu stoßen‘. Wieweit Hebsacker die Gefälligkeit seines Ministers zu honorieren hätte, ob vielleicht mit einem Stück seines Anteils, das interessierte den Assistenten nicht. Für ihn gab es nur ein Ziel – zu wissen, wer der zweite Mann in dem Bungalow zum Zeitpunkt der Ermordung Altbauers war. Hebsacker? Ihm war es zuzutrauen, unangenehme Verhandlungen direkt zu führen; er war der, der solchen Verhandlungen den nötigen Nachdruck verleihen konnte, und sei es mit der Drohung, er werde dafür sorgen, daß der Minister diesem Projekt sein Wohlwollen entziehe, was, wie auch Altbauer gewußt haben mußte, das totale Scheitern bedeutete. Soweit Griessbühl den Altbauer nach allen Schilderungen kannte, würde der sich, wenn auch nach hartem Widerstand, schließlich mit einer Abfindung bescheiden. Hebsacker wiederum war hart genug, Altbauer mit Pfennigen abzufinden und noch um die Pfennige zu feilschen. Wenn der Assistent daran dachte, spürte er innere Spannung: Wie mochte dieser Mann aussehen? Er konnte sich von ihm keine Vorstellung machen. Gegen Mittag langte er in Passau an. Obwohl es ihn dazu drängte, vermied er es, Hebsacker sofort aufzusuchen. Er kehrte in ein Wirtshaus ein, um gründlich zu essen. Ohne eine stattliche Portion Semmelknödel im Magen würde er gegen Hebsacker stets den kürzeren ziehen. 256
4. Dann freilich schien es, als wäre Hebsacker ganz anders als sein Ruf. Entgegen seiner Vermutung bedurfte es keiner Anstrengungen von Seiten Griessbühls, empfangen zu werden; er hatte nur fünf Minuten in einem Vorzimmer zu warten, und dort erhielt er zur Lektüre die „Passauer Post“, Hebsackers kleine Illustrierte, mit der er freilich vorerst gegen die übermächtige Konkurrenz noch nicht aufkam. Und dann war das keineswegs eine Audienz, wie Griessbühl gemeint hatte. Hebsackers Büro entbehrte allen Glanzes. Hier wurde nicht repräsentiert; hier wurde verhandelt und gearbeitet. Der Raum war lang, schmal, hoch, er besaß nur ein einziges Fenster, und schräg davor, dem Raume zugewandt, stand der Schreibtisch. Das Licht fiel ungünstig, Hebsacker saß sozusagen sich selbst im Schatten. Die Möbel waren zusammengekramt, der Rollschrank, die Regale, die Stühle, sie paßten nicht zueinander. Hebsacker erhob sich hinter dem Schreibtisch, als Griessbühl eintrat. Der Assistent bemerkte, daß auch der Sessel, in dem Hebsacker zu sitzen pflegte, aus Holz und ohne Polsterung war – spartanisch. Unerwartet fragte ihn Hebsacker als erstes; „Sie sind mit dem Wagen gekommen?“ „Ja“, erwiderte Griessbühl freundlich, „immer am Inn entlang, und dann hier nach Passau herunter; die Straße ist nicht erfreulich!“ „Das ist es eben!“ bestätigte Hebsacker und verzog leidend das Gesicht. „Wie sollen wir hier herunten auf einen grünen Zweig kommen, bei solchen Verkehrsverhältnissen? Und von München nach Passau geht nicht einmal ein Schnellzug, es scheint unglaublich, aber es ist 257
so. Dabei ist Passau eine schöne Stadt, eine alte Stadt, Baudenkmäler nicht ohne Bedeutung, dazu Bischofssitz. Aber man vernachlässigt uns bewußt, das ganze bayerische Hinterland. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als wollte man einen toten Streifen anlegen. Aber, nicht wahr, ich glaube nicht, daß uns München auskonkurrieren will. Da sind andere am Werk. Wir haben jedoch bei uns Kräfte, die trotz dieser Ungunst viel leisten.“ Er hielt einen Vortrag. Das Thema, das er in den ersten Sätzen angeschlagen hatte, wußte er über zehn Minuten hin auszuschmücken, und Griessbühl überlegte in dieser Zeit, was Hebsacker wohl damit bezweckte und ob er überhaupt etwas bezweckte, ob es nicht einfach sein Lieblingsthema war, das er zunächst einmal an jeden Besucher loswerden mußte. Es schien ihm so, denn was Hebsacker auskramte, hörte sich wie auswendig gelernt an. Dabei hatte er Zeit, sein Gegenüber zu betrachten. Auch das Äußere entsprach nicht seinen Erwartungen. Er hatte sich auf Bulliges, Brutales, Gehörntes gefaßt gemacht. Der da vor ihm saß, war ein Mann von sechzig Jahren, nicht sehr groß, freilich mit einem Bäuchlein behaftet, das weniger auf Fett als auf erschlaffte Muskeln schließen ließ. Dieses Bäuchlein verschwand allerdings hinter dem Schreibtisch. Das Gesicht wirkte eher hager: die gebuckelte Stirn, das dünne graue Haar – ordentlich gescheitelt wie bei einem peniblen Oberlehrer –, die eingefallenen Wangen, die spröde Haut von undefinierbarer, auf jeden Fall ungesunder Farbe, die kleinen unzufriedenen Augen. Griessbühl hatte das Empfinden : ein Beamter, der keine Karriere gemacht hat. 258
Und dieses salbadernde Gewäsch, es paßte genau zu diesem Gesicht! Nur eins erstaunte Griessbühl: Wie es kommen mochte, daß sich Wenzel Maria Dallinger derart über seinen Chef geäußert hatte, laut Metzendorfers Bericht. Dieser Hebsacker schien keinesfalls ein Mann zu sein, vor dem man Furcht haben mußte, und auch das Gespräch mit Altbauer konnte eigentlich kaum so verlaufen sein, wie es zunächst den Anschein hatte. Der Assistent war versucht zu glauben, daß Metzendorfer, aus welchen Gründen auch immer, ein falsches Bild gegeben hatte, vielleicht einfach deshalb, weil Hebsacker an die Stelle von Altbauer treten sollte. Er hörte nicht mehr zu; das Gerede wurde ihm langweilig; er wollte es abbrechen wie einen dürren Zweig; er sagte unvermittelt: „Sie kennen den Altbauer, Herr Hebsacker?“ Der schwieg. Es entstand eine Pause. Sie war so kurz, wie man beim Auto vom Schalten des einen Ganges in den andern benötigt, und offenbar hatte Hebsacker geschaltet! Er sagte knapp: „Selbstredend. Vor wenigen Tagen hat er auf Ihrem Stuhl gesessen.“ Es war keine Drohung; aber es klang wie eine, so, als hätte er sagen wollen: der gleiche Stuhl, das gleiche Geschick. „Er ist tot“, sagte der Assistent. Hebsacker schwieg. Das war doch kein Mann, der salbaderte. Seine kleinen Augen waren plötzlich wachsam und mißtrauisch. Er drückte auf einen Knopf an der Unterseite der Schreibtischplatte. Griessbühl hörte einen leisen Summton; gleich darauf trat ein junger Mann ein, dessen Kleidung in krassem Gegensatz zu der Hebsackers stand. 259
Während dessen Anzug fast abgetragen wirkte, war der andere peinlich modisch angezogen; dessen Anzug machte den Eindruck, als hätte eine reinigungswütige Hausfrau ihn gerade erst aus dem Schrank genommen oder als hätte ihn der Schneider vor einer Stunde geliefert. Alles stimmte miteinander überein: Schuhe, Socken, Anzug, Krawatte, auch die Spur Seidentuch in der Brusttasche, nur das Gesicht nicht, dieses fahle, ein wenig gedunsene und deshalb schmutzig wirkende Antlitz. Hebsacker bewegte die Hand zur Andeutung einer Vorstellung. „Herr Wildenfall, mein Justitiar. Ich führe keine Verhandlungen ohne Zeugen.“ Das war deutlich. „Ich verstehe“, sagte der Assistent und lächelte freundlich. Aber während Herr Wildenfall sich bescheiden einen Stuhl aus einer Ecke hervorzog und sich in gebührender Entfernung darauf setzte, einen Schreibblock auf den Knien, war Griessbühl überzeugt, daß Hebsacker oder Wildenfall oder ein von ihnen Beauftragter mit Altbauer ein zweites Mal verhandelt haben mußte – nein, Hebsacker nicht, Wildenfall wahrscheinlich! Dabei war es wohl um die Höhe der Abfindung gegangen, denn Hebsacker – so vermutete der Assistent – würde sich bei der ersten Unterredung nicht festgelegt haben; die diente sicher dazu, Altbauer auf seine Nachgiebigkeit hin zu testen. So erklärte sich dessen wütendes Gehabe Dallinger gegenüber. Und, so schloß Griessbühl weiter, diese zweite Unterredung konnte nicht hier stattgefunden haben; Altbauer war abgereist. Wer weiß, wo die beiden sich getroffen hatten; denkbar war es dann aber, daß sie auf der Fahrt irgendwohin zum Bungalow von Brumerus geraten waren. 260
Diese Überlegungen dauerten nur den Bruchteil einer Sekunde. Griessbühl sagte: „Ja, Altbauer wurde erschossen.“ „Sind Sie gekommen, mir das zu sagen?“ fragte Hebsacker. Eine Spur von Hohn lag in seiner Stimme. „Nein“, erwiderte Griessbühl. „Warum dann?“ fragte Hebsacker. Der geht auf sein Ziel los, dachte der Assistent. Also doch ein Stier! Und sagte: „Ich habe etwas davon läuten hören, daß Sie, Herr Hebsacker, an Altbauers Stelle Gesellschafter in einer Firma werden wollten.“ „Das stimmt“, sagte Hebsacker, „deshalb war Altbauer ja bei mir.“ Griessbühl staunte, und sein Gedankengebäude geriet wieder ins Wanken, weil sich Hebsacker so offenherzig zu den Tatsachen bekannte. „Sie haben ihm ungünstige Konditionen gemacht?“ fragte Griessbühl. „Nein“, erwiderte Hebsacker, „angemessene.“ „Altbauer“, meinte Griessbühl, „soll gesagt haben, Sie hätten ihn ‚aus dem Anzug stoßen‘ wollen. Darunter kann man doch bestenfalls ungünstige Konditionen verstehen – oder wie denken Sie darüber?“ „Auch angemessene Konditionen“, sagte Hebsacker, „sind manchmal hart und mögen dem andern ungünstig erscheinen.“ „Ihnen erschienen sie nicht ungünstig?“ fragte Griessbühl. „Nein“, sagte Hebsacker und gab keinen Grund an. Aber der Assistent wollte ihn weiter drängen; er meinte behutsam : „Könnte es sein, daß dieses Unternehmen ohne Ihre Hilfe nicht hätte zustande kommen können?“ Statt einer Antwort Hebsackers kam zunächst die völlig ausdruckslose Stimme Wildenfalls: „Ich würde raten, Herr Hebsacker, diese Frage nicht zu beantworten. Wir sehen keinen Grund dafür.“ 261
Hebsacker beachtete die Warnung nicht. Er erwiderte Griessbühl, ohne sich zu regen: „Das kann man nicht nur sagen, man muß es sagen!“ Und erst dann wandte er sich an Wildenfall: „Schaun Sie, da ist ein Mord passiert, und ich will nicht ins Gerede kommen durch die Polizei bei einem Geschäft, das seriös ist, und da kann ich Rede und Antwort stehen, warum denn nicht!“ Er hat recht, durchzuckte es Griessbühl. Das ist die klügste Taktik, die es für ihn gibt. Wildenfall erwiderte tatsächlich nichts: Das Argument Hebsackers mußte auch ihn überzeugt haben. Und gleich nach dem ersten Gedanken durchzuckte es Griessbühl ein zweites Mal: Hebsacker hatte ihn lahmgelegt! Wie sollte er weiterfragen, wenn die Antworten ohne alle Umschweife kamen? Es ließ sich der Augenblick absehen, da Hebsacker die Brauen heben und ihn fragen würde: Was geht Sie das eigentlich an? Bei Licht besehen, ging ihn ja diese ganze Geschäftsgeschichte tatsächlich nichts an, sie hatte nichts mit dem Mord zu tun, und plötzlich sah er sich in der gleichen Situation wie zuvor Groll und danach Metzendorfer: daß er einem Phantom nachjagte! Es schien ihm, als käme ein alter Hut in bedrohlichere Schwankungen … Er beugte sich vor und sagte: „Bei jenem Mord, Herr Hebsacker, ist ein zweiter Mann in dem Bungalow anwesend gewesen. Was meinen Sie, wer das wohl gewesen sein könnte?“
5. Mutlos tuckerte das bunte Wägelchen Griessbühls bergauf und am Inn entlang. Der Assistent 262
hatte keinerlei Sinn für die landschaftlichen Schönheiten. Er mußte sich gestehen, daß Hebsacker ihm die Karten sanft aus der Hand genommen hatte, eine nach der anderen. Er war überhaupt nicht dazu gekommen, sie auszuspielen. „Ei der Daus, junger Mann“, hatte er höhnisch geantwortet, „wofür halten Sie mich eigentlich?“ Dieses ‚Ei der Daus‘ wollte Griessbühl nicht mehr aus dem Kopf; mehr als über seine Niederlage ärgerte er sich über diesen Ausdruck. Immerhin war er so schlagfertig gewesen, zu antworten: „Ich? Für einen guten Zeitungsherausgeber und einen guten Journalisten!“ Das hatte Hebsacker sichtlich geschmeckt; er hatte mit schiefem Lächeln vor sich hingeblickt, dann den Assistenten von unten herauf angesehen und hinzugefügt: „Und einen guten Politiker! Das hatten Sie vergessen!“ „Gewiß!“ hatte Griessbühl, sanft im Ton, aber ingrimmig, zugegeben. „Das hatte ich vergessen!“ Hebsacker hatte sich bequem zurückgesetzt und in geduldiger Belehrung gemeint: „So etwas sollte man nicht vergessen, Herr Assistent! Meine Mitarbeiter, Herr Griessbühl, vergessen das nie, ist es nicht so, Herr Wildenfall?“ Und der junge Jurist hatte, zum ersten Male ins Spiel gebracht, lammfromm beigepflichtet: „Nein, Herr Hebsacker, wir vergessen das wirklich nie! Denn diese drei Dinge gehören zusammen, und nur von da aus kann man Ihre Persönlichkeit verstehen!“ Griessbühl hatte in jenem Augenblick gemeint, Hebsacker würde scharf erwidern, weil so viel Speichelleckerei wohl kaum ein Mensch ertragen könnte; er hatte geirrt. 263
Hebsacker hatte ihn mit seinen kleinen, flinken Augen angesehen und bemerkt: „Um auf Ihre Frage zurückzukommen, Herr Griessbühl! Nachdem Altbauer bei mir war, hatte ich kein Interesse mehr an ihm. Sie haben recht: Die Unterredung verlief für Altbauer“, er machte eine Handbewegung, „sozusagen vernichtend. Er war voller Wut, als er aus diesem Zimmer ging, und er wußte überhaupt nichts. Er wußte nicht einmal, in welcher Höhe er abgefunden werden sollte. Natürlich hatte ich mir einen Überschlag gemacht; aber ich hatte mich gehütet, davon zu sprechen. Sie, Herr Assistent, nehmen nun an, ich hätte seine weiteren Wege beobachtet, um es milde auszudrücken. Lassen Sie sich gesagt sein: Nein! Denn sie waren für mich ohne Bedeutung. Der alte Vertrag, auf dem er herumritt, war gegenstandslos geworden. Wenn Altbauer überhaupt etwas bekommen sollte, dann nur, weil er in Frankreich gewisse Dienste geleistet hatte. Aber …“ Hebsacker schaute zu der hohen Decke hinauf und machte eine lange Pause. Es war ganz still in dem Raume. Dann sah er Griessbühl wieder an und sagte: „Aber ich wußte, daß Altbauer wieder zu mir kommen würde, weil er es war, der Geld brauchte, nicht ich! Wozu sollte ich ihm nachspionieren lassen? Sehen Sie, Herr Griessbühl, und wenn Sie Ihr Gehirn in Anspruch genommen hätten, dann hätte Ihnen das von vornherein eingeleuchtet. Denken Sie nun darüber nach oder unterlassen Sie es, mir ist es gleichgültig.“ Er stand auf und zwang Griessbühl so, sich gleichfalls zu erheben. Er gab ihm die Hand, die weich und drucklos war. Es war Griessbühl gerade noch möglich zu vermerken: „Am neunzehnten Oktober will der Anwalt des Doktor Marahn noch einmal den Tatort besichtigen. Von unserer 264
Seite liegt kein Interesse daran vor, deshalb lassen wir am achtzehnten die Siegel lösen.“ „Das können Sie halten, wie Sie wollen, nicht wahr, Herr Wildenfall?“ sagte Hebsacker, zu seinem Juristen gewandt. „Ja“, erwiderte der blaß, „das soll man halten, wie man will!“ Damit war Griessbühl verabschiedet, es war ein deutlicher Wink, und er verließ das Redaktionsgebäude mit dem Gefühl, völlig geschlagen worden zu sein. Die Wälder standen friedlich, die dunklen Tannenwälder, und der winzige Bettvorleger von Flickenteppich schob sich, unermüdlich und ein wenig Gestank hinterlassend, auf dem grauen Rinnsal der Straße dahin, und darüber war freundlich der blaßblaue Herbsthimmel mit Puffreiswölkchen darin. Griessbühl freilich war nicht so freundlich zumute. Eigentlich ertrug er vielen Ärger mit Gleichmut; aber jetzt war er zornig, zornig auf sich selbst. Die Fahrt war als Dienstreise genehmigt, droben würde man sich um das Ergebnis nicht viel kümmern, und seine einzige Hoffnung war, daß Groll irgendwo an der Nordsee, in Sizilien oder – das wäre ihm am liebsten gewesen – in Afrika weilte; der Kommissar pflegte spurlos zu verschwinden. In seinem Urlaub, so sagte er stets, wäre er „unabkömmlich“. Der Assistent hoffte, daß bis zu seiner Rückkehr alles vergessen wäre. Es war auch nicht die Befürchtung, daß der Kommissar über diese Herumreiserei Rechenschaft verlangen würde; es war einmal die Tatsache, daß ihn sein Spürsinn völlig verlassen zu haben schien und daß er nun gezwungen sein würde, durch doppelte Arbeit die Lücke der fehlenden Tage zu schließen, was ihm die Laune verdarb. 265
6. In Nürnberg hatte bereits das allabendliche Lichterkarussell begonnen; in Wogen schossen die Wagen durch die engen Einbahnstraßen, bogen ab, standen, die Signalstäbe der Polizisten fuhren durch die Luft. Griessbühl schleuste sich ein und fühlte sich von der Woge sorglos getragen, spürte wie eine Fledermaus drohende Gefahren von da oder dort, bog ab und wich aus, bremste und glitt weiter und überlegte, ob er den Tag abschließen sollte oder ob es notwendig wäre, noch einmal ins Kommissariat zu fahren, um nachzusehen, welche Mitteilungen für ihn hinterlegt wären. Obwohl er nicht viel Lust dazu hatte, entschloß er sich trotzdem dazu. Natürlich waren die Büros längst geleert, die Korridore dunkel ; aber der Assistent kannte sich hier aus, als wäre er eine Schnecke in ihrem Hause. Er schloß die Tür zu seinem Büro auf, knipste das Licht an und fand an diesem Abend alles besonders öde. Auf seinem Schreibtisch lag nichts, also konnte kaum Bemerkenswertes vorgefallen sein. Er seufzte erleichtert. Ohne sich etwas dabei zu denken, öffnete er die mittelste Schublade, zog sie heraus und erstarrte. Diese Schublade war leer. Er griff mit der Hand in die hintersten Ecken: nichts. Die Akten über den Fall Marahn, die er angelegt hatte, waren verschwunden, und mit diesen Akten auch die vielen Notizen, die er sich vom Bericht Metzendorfers gemacht hatte. Griessbühl schloß die Augen. Er dachte nach. Er wußte, daß er die Schublade abgeschlossen hatte; der zweite Schlüssel war beim Pförtner aufbewahrt. Er fand, daß dies unerheblich wäre. Denn wenn jemand die Akte an sich genommen, entwendet hatte, so mußte der ein Interesse daran haben, gleichgültig, ob nun die Schublade 266
verschlossen gewesen war oder nicht! Und es konnte, so schlußfolgerte er, doch nur einer sein, der diese Notizen beseitigen wollte und möglicherweise noch mehr beseitigen würde. Der Assistent spürte sein Herz schneller schlagen. Er versuchte weiter, sich mit geschlossenen Augen zu konzentrieren. Er biß die Unterlippe vor Erregung. Er atmete tief. Und mit geschlossenen Augen fuhr er nochmals mit der Rechten langsam durch die gesamte Schublade. Das leicht schabende Geräusch, das die Handballen auf dem dünnen Holz der Unterfläche verursachten, machte ihn frösteln. Hatte er die Akte an anderer Stelle untergebracht? Er mußte sie finden! Hastig öffnete er die weiteren Schubladen, die Schränke und mußte sich überzeugen, daß sie verschwunden blieb. Aufgelöst schien sie sich zu haben in Luft. Keine Spur war zurückgeblieben. In diesem Augenblick glaubte er im Zimmer nebenan ein leises Geräusch zu vernehmen. Er wandte sich hastig um. Nichts! Nichts! Trotzdem: Er mußte sich überzeugen. Leise ging er zur Tür, er öffnete sie vorsichtig und erschrak wiederum: Das Zimmer war erhellt. Am Kleiderhaken schwankte der Hut des Kommissars. Mit einem raschen Schritt trat Griessbühl ein. „Was wollen denn Sie hier?“ fragte Groll erstaunt und hob ihm das Gesicht entgegen.
7. Es wäre zuviel behauptet, wollte man sagen, daß Griessbühl angenehm überrascht war. 267
Indessen war er bemüht, sich nichts anmerken zu lassen, tat ein paar Schritte in den Raum hinein und meinte fragend: „Sie, Herr Kommissar?“ „Sie sind der größte Esel“, sagte Groll gelassen, „der je mit mir zusammengearbeitet hat. Es tut mir leid, Griessbühl, das sagen zu müssen, aber es ist leider so, und ich muß Ihnen anheimstellen, sich über mich zu beschweren.“ Der sommersprossige Assistent spürte, daß er fahl wurde; aber er schwieg entschlossen. „Na, gut“, meinte Groll, „lassen wir das vorerst!“ Er sah auf die Blätter, hob sie mit einer Hand und sagte: „Wenn Metzendorfer es schon nicht unterlassen konnte, sich auf den Kriegspfad zu begeben, so ist das allenfalls verständlich; ihm mangelt es an jeder kriminalistischen Erfahrung. Daß aber Sie sich diese Beichte notieren mußten, ist schlimm; denn damit haben Sie das aktenkundig gemacht und waren gehalten, etwas zu unternehmen. Und ich fürchte, Sie haben etwas unternommen!“ „Ich war in Frankfurt und Passau“, erwiderte der Assistent störrisch. „Waren Sie!“ freute sich Groll mit offenem Hohn. „Und die Beute, sofern das kein Geheimnis ist, Herr Assistent?“ Griessbühl wollte zu einem Bericht ansetzen. Der Kommissar unterbrach ihn mit einer unwirschen Handbewegung: „Na, nehmen Sie schon Platz. Wie ich Sie kenne, ist das in zehn Minuten nicht erledigt.“ Aber es war in zehn Minuten erledigt, und Groll wunderte sich darüber so wenig, daß Griessbühl ihn sogleich verdächtigte, er hätte ihn mit jener Bemerkung nur antreiben wollen. Groll hob die Blätter wieder etwas an. „Wenn man beides miteinander vergleicht, kommt man 268
zu dem Schluß, daß sich Ihre Ermittlungen – sofern ich das wirklich so nennen soll – mit denen Metzendorfers im wesentlichen decken. Es gibt da keine Differenz. Nur bleibt mir völlig unklar, welches Ziel Sie verfolgt haben.“ Nun schoß dem Assistenten jähe Röte ins Gesicht, und seine Sommersprossen ertranken in der plötzlichen Flut. Er schwieg. Der Kommissar hatte den Finger auf den empfindlichen Nerv gelegt. Das schmerzte! Und Griessbühl befürchtete, Groll werde sich mit diesem Nerv noch längere Zeit beschäftigen. „Sie hätten Privatdetektiv werden sollen“, sagte Groll nachdenklich und sah den Assistenten verloren an, „niemand hätte Ihnen gewehrt, sich mit Rechtsanwälten, die verrückt geworden sind, zu unterhalten oder in der Welt herumzukutschieren und sich auffällig zu benehmen. Und die Klienten würden Ihnen gedankt haben: Das ist ein Mann, der tut wenigstens etwas für unser Geld. Na ja! Leider sind Sie aber kein Privatdetektiv, und ich selbst bin gezwungen, den Fall wiederaufzunehmen.“ Er seufzte schwer. Er sagte: „Ich muß meinen Urlaub abbrechen.“ Das hatte Griessbühl befürchtet. „Es ist nur gut“, sagte Groll, „daß ich Nürnberg noch nicht verlassen hatte, weil ich meinen Hut suchte.“ Er blickte liebevoll zu dem Kleiderhaken hin, an dem der Vermißte mit einer winzigen Bewegung zu ihm hinübergrüßte. „Von Amts wegen muß ich feststellen“, sagte Groll, „daß sich Herr Metzendorfer beinahe eine Amtsanmaßung zuschulden kommen ließ, und Sie, Herr Griessbühl“, dem Assistenten wurde unheimlich zumute, als der Kommissar ihn sozusagen mit dem Samthandschuh 269
‚Herr‘ anfaßte, „haben sich benommen wie ein unerfahrener Schachspieler, der keine Ahnung von der Bedeutung seiner Züge hat.“ Er seufzte, raschelte mit den Blättern, sah Griessbühl nicht an, sprach zu dem Papier: „Und dabei haben Ihre Schachzüge tatsächlich eine Bedeutung, wie mir scheint!“ In diesem Augenblick wußte Griessbühl, daß Groll es gut mit ihm meinte; was er gesagt hatte, war eine Anerkennung, wie sie ein Vater seinem Sohn zuteil werden läßt, kein lautes Lob natürlich, es könnte den jungen Dachs übermütig machen. „Gräßlich bleibt es trotzdem“, meinte Groll, „denn nun haben Sie uns genau in den Kontakt mit jenen Gewalten gebracht, den ich vermeiden wollte, und gebe Gott, daß sie kein Fangeisen aufgestellt haben oder daß es, wenn es aufgestellt wurde, nicht zuschnappt. Dabei kann man mehr verlieren als einen Arm oder ein Bein. Doch nun kann ich nicht mehr zurück, Sie haben mich dorthin gestoßen, und von diesem Platz aus, scheint mir, habe ich plötzlich Einsicht hinter die Bühne!“ Das letzte hatte er alles gemurmelt, als dächte er laut vor sich hin, als wollte er sich seine eigene Position klarmachen, und als er aufsah, lächelte er Griessbühl an und sagte freundlich: „Und falls mir der Kopf abgebissen werden sollte, dann wenigstens nicht Ihnen, Griessbühl, und ich bin ein alter Mann, und die Pension streicht man mir nicht.“ Er seufzte und sagte sachlich: „Wiederholen Sie noch einmal Ihren Plan.“ „Nach Metzendorfers Bericht“, erklärte der Assistent, „hatte ich den Eindruck, daß Sebastian oder Hebsacker oder auch beide mit dem Unternehmen Altbauers etwas zu tun hatten. Ich nahm ferner an, daß die zweite Person 270
im Bungalow nicht zufällig dort war, als der Schuß fiel. Sie mußte in geschäftlicher Verbindung mit Altbauer stehen. Also täuschte ich Sebastian und Hebsacker vor, daß Metzendorfer irgendeinen Verdacht gefaßt hätte, den er im Bungalow nachprüfen wollte.“ Er rieb die Stirn und fuhr fort: „Solange die zweite Person annehmen mußte, der Bungalow würde polizeilich überwacht, würde sie sich trotzdem nicht hingetraut haben, das ist klar. Ich schuf also eine Lücke: Am achtzehnten Oktober, so sagte ich, würden wir die Versiegelung aufheben, am neunzehnten würde der Anwalt im Bungalow seine Nachforschungen anstellen. In der Zwischenzeit, so kalkulierte ich, würde die zweite Person kommen, um Spuren zu beseitigen.“ Groll lauschte aufmerksam. „Sehr hübsch“, bestätigte er dann, „sehr hübsch ausgedacht. Wann haben Sie eigentlich Ihren letzten Krimi gelesen, Griessbühl?“ Der fühlte sich abermals rot werden. Groll wartete die Antwort nicht ab. „Die Zeit“, rekapituliert er, „sozusagen als der Speck in der Falle. Und dann braucht man bloß Geduld zu haben, bis sie zuschnappt. Sehr fein eingefädelt, alle Achtung. Nur schnappt diese Falle nie zu!“ Er schwieg, und dann bekräftigte er sich selbst noch einmal: „Niemals!“ „Wenn“, fragte Groll, „weder Sebastian noch Hebsacker mit Altbauer im Bungalow waren, was dann?“ „Dann“, erwiderte Griessbühl lebhaft, „nahm ich wohl mit Recht an, würde zumindest einer von ihnen die uns unbekannte zweite Person benachrichtigen. Und dann würde eben sie kommen!“ „Warum denn nur?“ fragte der Kommissar zurück. „Auf einen vagen Verdacht hin? Nein, lassen Sie sich gesagt 271
sein: Der Betreffende würde so weit wie möglich vom Bungalow wegbleiben! Er würde einfach abwarten, ob wir ihn entdecken, und dann könnte er immer noch sagen, er habe aus Angst vor der Polizei, aus Furcht vor Skandal sich nicht gemeldet! Griessbühl“, sagte Groll eindringlich und legte die flache Rechte auf das Protokoll des Assistenten, „hier ist viel mehr darin, als Sie bemerkt haben!“ Jetzt sah er den Assistenten wieder an. „Ich könnte Ihnen auch sagen, warum das so ist; doch das hebe ich mir für später auf. Wir müssen vorerst einiges in die Wege leiten. Sie werden morgen vormittag mit dem Wagen wegfahren. Der Auftrag“, er rieb überlegend seine Glatze, „wird morgen früh gegeben. Da habe ich die Nacht über Zeit, das zu bedenken. Sie, Griessbühl, sind früh um sieben im Amt. Dann erhalten Sie weitere Anweisungen. Ich bin jetzt mißtrauisch, Griessbühl! Sie haben in eigener Verantwortung einen für das Morddezernat abgeschlossenen Fall wiederaufgegriffen, die Akten liegen beim Untersuchungsrichter. Sie dürften erst dann neu ermitteln, wenn Sie von ihm den Auftrag erhielten. Jetzt dürfen Sie sich nicht wundern, wenn ich vorsichtig bin und meine Karten Ihnen gegenüber nicht aufdecke. Wer weiß, wem Sie sie zeigen würden!“ Das schmeckte dem Assistenten nicht. Trotzdem war er froh, daß der Besuch des Kommissars so gnädig verlaufen war. „Ach ja“, sagte Groll, schob sich vom Sessel hoch und reckte sich stöhnend, „das verdammte Ischias, man wird alt!“ Er hinkte zur Tür hinüber. Griessbühl war aufgestanden. Groll blieb, die Hand auf der Klinke, stehen. Er wandte Griessbühl sein großflächiges, jetzt doch ermüdetes 272
Gesicht zu. Er sagte: „Und vergessen Sie nicht, drüben“, er wies mit dem Daumen zu Griessbühls Tür hin, „das Licht auszulöschen.“ Er zupfte mit Daumen und Zeigefinger an der Nasenspitze und setzte hinzu: „Übrigens, ist Ihnen nicht aufgefallen, daß Hebsackers Kronjurist, dieser Wildenfall, eine verdammte Ähnlichkeit mit dem Mann hat, der zusammen mit Altbauer im Hotel Mainau in Frankfurt wohnte? Denken Sie doch mal darüber nach. Natürlich nur, wenn Sie wollen.“ Hinter ihm schloß sich die Tür. Griessbühl starrte sie an. Plötzlich öffnete sie sich wieder, Grolls Kopf schob sich herein; dann streckte sich seine Rechte nach dem alten Hut, er ergriff ihn, versuchte ihn auf den Schädel zu drücken und murmelte: „Hätte ich beinahe wieder vergessen! Gute Nacht!“ Und abermals schloß sich die Tür. Alter Chapeaumane, dachte Griessbühl, beinahe verlegen und ein bißchen liebevoll.
273
ELFTES KAPITEL
1. Im Grunde genommen erfuhr der Assistent Griessbühl auch an dem darauffolgenden Morgen nicht, was er erwartet hatte. Zwar schien es ihm erstaunlich, welchen Umfang an Arbeit Groll in der Nacht geleistet haben mußte; denn er sprach über die Materie, als hätte er selbst die Reisen Metzendorfers und Griessbühls unternommen. Aber was er eigentlich bezweckte, blieb dunkel. Denn der Kommissar, verschlossener als am Abend zuvor, hielt es für richtig, dem jungen Mann seine Schlußfolgerungen nicht zu verraten, und das sagte er ihm unverhohlen. Griessbühl habe, so führte er aus, in dieser Sache bereits zuviel auf eigene Kappe unternommen, als daß er sicher sein könnte, es würde nicht abermals ein verwegenes Husarenstück durchgeführt. Der Assistent schwieg dazu, er hatte tatsächlich ein schlechtes Gewissen. „Also, fahren wir los!“ befahl Groll und drückte entschlossen den Sombrero auf den Schädel. Der Assistent knurrte etwas von ‚Chauffeur spielen‘; aber der Alte hörte es anscheinend nicht; denn von dem Zeitpunkt an, als sie in den bunten Wagen stiegen, war er von gleichmäßiger Freundlichkeit. 274
Absichtlich kurbelte Griessbühl die Seitenscheibe herunter. Soll ihm der Wind ins Gesicht blasen, dachte er. Groll indessen bemerkte das nicht, oder aber er war es gewohnt. „Autobahn“, sagte er, „Richtung Bayreuth!“ In der Nacht war es kühl geworden. Der Himmel hatte sich ein graues Gespinst umgelegt und es mit einem kleinen, blassen Sonnenknopf befestigt. An solchen Tagen pflegte Griessbühl niemals Tatendrang zu spüren; da hockte er nun wirklich lieber über Akten, selbst wenn sie Staub aufwirbelten. Groll blickte mit seinen großen und alten Augen geradeaus; doch die Autobahn schien er nicht zu sehen, sondern irgend etwas anderes; der Assistent schielte dann und wann zu ihm hinüber; Groll kümmerte sich nicht darum. Er wandte nicht einmal den Kopf, als sie sich dem Abzweig Bayreuth näherten; er sagte nur: „Weiter geradeaus, Richtung Berneck.“ Und Griessbühl stampfte wütend den Fuß auf den Gashebel. Er konnte sich nicht vorstellen, was der Kommissar bei Margit Marahn wollte; möglicherweise hoffte er, dort Brumerus anzutreffen; aber wozu die Fahrerei, wenn doch die Rufnummer von Brumerus in jedem Telefonbuch stand und es nur eines Anrufs bedurfte, um festzustellen, ob er unterwegs wäre. „Schiet am Bein!“ murrte der Assistent; Groll war taub. Er bohrte mit der Zunge in der Wange herum und fand wohl nicht, was er suchte. Als sie an die Tankstelle vor Berneck kamen, befahl der Kommissar plötzlich: „Tanken!“ „Verfluchte Geige!“ erwiderte Griessbühl zornig. „Ich hab’ doch genug Sprit!“ 275
Wollte ihn der Alte auch noch über seinen eigenen Wagen belehren? „Interessiert nicht“, konstatierte Groll ungerührt, „tanken!“ Was blieb Griessbühl anderes übrig, als das Tempo zu mindern und sich in die Einfahrt der Tankstelle gleiten zu lassen, was ihn gleich wieder aufregte, weil vor ihm eine Reihe von neun Wagen stand, und bei allem Service würde es, so wußte er, seine Zeit dauern, bis er abgefertigt wäre. Er sagte es Groll. Der zuckte die Schultern und blickte nach der andern Seite aus dem Wagen hinaus und antwortete: „Wir haben Zeit!“ Griessbühl sagte nichts mehr, aber er dachte: ‚Schiet am Bein!‘ und spielte das Spiel aller Autofahrer – zu erproben, wie weit man sich ohne Karambolage der hinteren Stoßstange des Vorderwagens nähern könnte. Er zeigte dabei den Wagemut und die Geschicklichkeit eines Akrobaten. Bevor sich der Flickenteppich endgültig an die Säule schob, stieg der Kommissar aus und stellte sich, die Hände in die Manteltaschen gestemmt, neben den Tankwart in dem blauen Monteuranzug. Der achtete stets nur auf den Wagen, der gerade abzufertigen war, bemerkte jetzt den bunten Hund, lächelte unwillkürlich und sagte zu Groll, wobei er ihn ansah: „Den kenn’ ich doch!“ Aber Groll tat verständnislos, lächelte nicht zurück und hielt die Hände verstockt weiter im Mantel verborgen. Der Assistent war erstaunt; Groll hatte sonst stets ein freundliches Wort bereit. Dem Tankwart war es schließ276
lich gleichgültig; er schlug die Kurbel herum, öffnete den Verschluß, ließ geübt behutsam das Benzin einlaufen. „Wieviel?“ fragte er zur Windschutzscheibe hin. Ehe Griessbühl antworten konnte, sagte Groll: „Voll!“ Der Tankwart nickte, versuchte in den Tank zu blicken, füllte weiter. Groll trat näher und – Griessbühl bemerkte es höchst verwundert – drückte ein paarmal den Wagen ins Schaukeln, damit verfangene Luft aus dem Tank entweichen könnte. Der Wart nickte verständnisvoll, hob schließlich gewandt den Stutzen ab und sagte: „Randvoll!“ Und wieder zum Erstaunen Griessbühls zahlte der Kommissar. Während er einstieg und sich mächtig in den Sitz fallen ließ, säuberte der Wart die Scheiben von nicht vorhandenen Fliegen, beugte sich ins Fenster und fragte respektvoll: „Luft?“ Abermals kam Groll dem Assistenten zuvor, erwiderte: „Danke! Habe alle Verschlußkappen!“ und reichte dem Manne, der ihn mit hochgezogenen Augenbrauen anstarrte, eine runde Mark. Griessbühl tuckerte los; doch bevor er sich in die Autobahn einschleusen konnte, befahl Groll: „Halten Sie! Ich steige hier aus!“ So geschah es. Dann, neben dem exzentrischen Wägelchen stehend, ordnete der Kommissar an: „Sie fahren nach Berneck hinein, an der Villa Marahn vorüber, hin zum Bungalow. Dort steigen Sie nicht aus, sondern fahren ungefähr einen Kilometer weiter, wenden dann und kommen unverzüglich zurück. Hierher! Ich erwarte Sie!“ „Und nirgendwo aussteigen?“ vergewisserte sich Griessbühl ausdrücklich nochmals. 277
„Nein“, sagte Groll, „aber außerordentlich scharf beobachten!“ Und dem Assistenten schien es, als wäre eine Spur von Spott in diese Antwort gemischt.
2. Der Assistent hatte den Eindruck, als wäre Groll unverwandt stehengeblieben und hätte ihm nachgeblickt und wiederum nach ihm Ausschau gehalten, die Hände in die Manteltaschen gestopft, die Krempe des Huts verwegen geschwungen. So jedenfalls sah er ihn, als er zurückkehrte, erkannte ihn bereits von der Höhe aus. Da konnte er weithin über die scheinbar sich verschmälernden Spuren der Autobahn die Tankstelle, fast spielzeugklein, erkennen, für die aus dem Wald eine Lichtung herausgeschlagen worden war. Und dort, am Ende dieser Lichtung, wo sie in spitzem Winkel in die Autobahn einfloß, stand diese unverwechselbare Figur, unverwechselbar auch jetzt aus sicher zwei Kilometer Entfernung. Zeitweise war Groll von Autos und Lastwagen verdeckt. Zweifellos aber hatte er das bunte Gefährt längst gesehen. Griessbühl hoffte, der Kommissar würde ein Zeichen geben, wenigstens flüchtig eine Hand zum Zuwinken heben. Er hatte geirrt. Als er näher kam, war es ihm beinahe, als hätte der Kommissar ihn nur kontrollieren wollen. Er konnte diesen törichten und lästigen Gedanken nicht loswerden, obwohl er sich darüber klar war, wie unsinnig die Vorstellung war, der Blick Grolls hätte ihn hin bis zum Bungalow und wieder zurück verfolgt. Zudem hatte er ein 278
gutes Gewissen; er hatte nirgendwo gehalten. Es war dazu auch keinerlei Anlaß gewesen: Die Villa Marahns schien zu schlafen, das Tor war fest geschlossen; Brumerus’ Bungalow war zwar durch das Zweiggewirr der Ziersträucher und kleinen Bäume nur undeutlich zu sehen gewesen, doch auch hier prägte sich ihm sofort der Eindruck auf, seit langer Zeit könnte niemand das Haus, ja auch nur den Vorgarten betreten haben, einen so vernachlässigten Anblick bot alles. Er scherte nach rechts aus, um über die Zufahrt auf die andere Seite zur Tankstelle zu gelangen. Von hier aus sah er nochmals den Kommissar, der weiter starr in Richtung Berneck blickte, als erwartete er von dort noch irgend etwas. Um so überraschter war Griessbühl, als er beim Einfahren in die Tankstelle vor dem Unterholz Groll gewahrte, der ihn hier erwartete und ihm nun endlich ein Zeichen gab: Er sollte halten. Griessbühl riß den Wagen auf den Zementstreifen und bremste scharf. Der Schlag stand genau vor dem Kommissar. Der stieg ein. „Wir tanken!“ ordnete er an. Der Assistent vergaß vor Erstaunen anzufahren. Er sah den Kommissar ratlos an. „Wozu?“ fragte er. „So viel Sprit frißt der kleine Kerl doch nicht!“ „Wir tanken“, wiederholte Groll und blickte eigensinnig geradeaus. Schiet am Bein, dachte Griessbühl, zuckte die Schultern und fuhr vor die Tanksäule, die in diesen Minuten frei war. Wieder stieg der Kommissar aus und sagte kurz: „Voll!“ 279
Und es wiederholte sich auch das Spiel, daß Groll den Wagen zum Schaukeln brachte, indem er mehrmals auf das Heck drückte. Nachdem der Tankwart gefüllt und den Stutzen wieder angedreht hatte, beglich Groll die Rechnung offenbar recht großzügig; denn das Gesicht des Mannes drückte Überraschung aus, und Griessbühl hörte ihn sagen: „Vielen Dank! Und recht gute Fahrt!“ Und er hörte den Kommissar antworten: „Erinnern Sie sich jetzt an das, was ich Sie vorhin fragte?“, wobei er, wie Griessbühl im verzerrenden Seitenspiegel doch erkannte, die Augen prüfend zusammenkniff und eine Kopfbewegung zur Tanksäule hin machte. Die Antwort verstand er nicht; doch gleich darauf war Groll neben dem Seitenfenster, beugte sich herunter und sagte: „Fahren Sie bitte auf den Parkplatz. Ich komme gleich nach.“ Griessbühl tat das, lehnte sich dort bequem zurück, ließ das Radio spielen, zündete eine Zigarette an und sah gelangweilt in den Rückspiegel. Für den Tankwart war ein Vertreter eingesprungen. Der Mann selbst verhandelte mit dem Kommissar an der Rückseite der Gaststätte. Groll schien Fragen zu stellen, worauf jeweils längere Pausen eintraten, ehe der Tankwart grübelnd antwortete. Doch plötzlich bemerkte Griessbühl an der Art der Kopfbewegung, an diesem lebhaften Aufblicken, dem heftigen Nicken, daß ihm offensichtlich etwa Wichtiges eingefallen war. Der Kommissar fragte wohl nochmals, so wollte es dem Assistenten scheinen, worauf der Tankwart beteuernde Handbewegungen machte. Da war Groll offensichtlich zufrieden; jedenfalls reichte er dem Manne die Hand. Es war ein fester Druck, 280
das ließ sich erkennen. Der Tankwart wandte sich wieder seiner Arbeit zu, und Groll näherte sich mit langen Schritten dem bunten Gefährt.
3. Griessbühl hatte erwartet, der Kommissar würde ihm jetzt endlich irgendeine Erklärung geben. Aber der schwieg und starrte vor sich hin, immer noch, als sie schon längst die Autobahn entlangglitten. Dem Assistenten schien es eine trostlose Fahrt: Die Felder waren abgeerntet, das Gras moderte braun, die Zweige der Sträucher schwankten kahl im herbstlichen Wind, die Nadelwälder standen dunkel. Der Himmel hatte Flanell übergezogen, der kleine Sonnenkopf war darunter verschwunden. Der Assistent war erleichtert, als Groll knurrte: „Wir fahren zu Metzendorfer!“ Das war etwas mehr als bisher, das war nicht nur ein scheinbar sinnloses Hinein- und Herausfahren und ebenso zweckloses Tanken; Griessbühl nahm es für einen Beweis, daß Groll Schritt um Schritt nach einem festgelegten Plan handelte. Möglicherweise kam dem Besuch Bernecks also doch eine Bedeutung zu. Welche, das konnte Griessbühl nicht erraten. Nun, dachte er, das würde er noch rechtzeitig zu hören bekommen. Bei Metzendorfer würde Groll die Karten wohl auf den Tisch legen, zumindest sich einmal hineinblicken lassen müssen. „Lange macht der’s wohl auch nicht mehr?“ fragte plötzlich Groll. Zuerst verstand ihn Griessbühl nicht; dann begriff er, daß der Kommissar seinen kleinen Wagen meinte, und er erwiderte böse: „Der ist besser als mancher alte Hut!“ 281
Wieder eine Pause. Und danach abermals der Kommissar mit der ebenso überraschenden Frage: „Metzendorfer hat doch auch einen Wagen, diesen ollen Mercedes, der damals an uns vorbeigerauscht ist, Sie erinnern sich? In jener Nacht! An der Tankstelle fanden wir ihn wieder!“ Griessbühl erinnerte sich. „Hm“, meinte Groll, „der hält wohl länger als ein alter Hut?“ „Sicher“, erwiderte der Assistent verkniffen. „Tja“, sagte Groll, „Metzendorfer wollte sich doch einen neuen Wagen kaufen? Wenn ich mich nach Ihren Notizen recht erinnere, einen Borgward Isabella?“ „Mag sein“, sagte Griessbühl. „Er sollte es tun“, sagte der Kommissar nachdenklich. „Für einen Anwalt ist das eine Prestigefrage. Meinen Sie nicht auch, Griessbühl?“ Der tat, als hätte er die Frage überhört und seine Aufmerksamkeit wäre völlig dadurch in Anspruch genommen, an der Baustelle, die sich neu aufgetan hatte, vorbei glatt in die Abfahrt Bayreuth zu gelangen. Bis zum Büro des Anwalts ereignete sich nichts mehr, es sei denn, man wollte als Ereignis betrachten, daß Groll mühselig seine Beine zu strecken und in eine bequemere Lage zu bringen versuchte, ein Vorgang, der Griessbühl bei jedem Mitfahrer zutiefst verärgerte, weil er darauf hindeutete, sein Flickenteppich wäre nicht eben geräumig. Diese Tatsache pflegte er heftig zu bestreiten. Er liebte seinen Wagen sehr. So hielt er ihn stumm vor Metzendorfers Büro an. Er stieg aus und ging hinüber zum Bürgersteig, wo Groll bereits stand. „Gehen wir!“ sagte er zum Kommissar. Der sah ihn an und erwiderte: „Ich glaube, Sie werden 282
zunächst einmal warten, Griessbühl. Ich möchte mit Metzendorfer alleine sprechen.“ Er wandte sich um und verschwand in der Haustür. Der Assistent starrte ihm nach. Er zog eine Grimasse. Ein schlechter Tag für ihn, ein verdammt schlechter Tag! Er setzte sich wieder hinter das Steuer. Aber er stellte das Radio ab, und er verzichtete auf eine Zigarette.
4. Groll hatte nicht angerufen. Er hatte gar keine Zeit dazu gehabt, und Metzendorfer erwartete ihn nicht. Er war unwillig, als die Sekretärin den Kommissar anmeldete. Wenige Minuten später hatte er sich mit einem Klienten zu einer Rücksprache verabredet; das Aktenstück dieses Falles lag vor ihm, er hatte es noch einmal durcharbeiten wollen. Es wäre ihm peinlich gewesen, das Gespräch ohne gründliche Kenntnisse der Materie führen zu müssen. Er fürchtete, Groll würde ihn lange in Anspruch nehmen, und er zögerte deshalb, ihn zu empfangen. Andererseits: Er sah Marahn in dessen Zelle vor sich, das verstörte Gesicht, die Ergebenheit in sein Schicksal. Er wollte dem Freund helfen, er wußte nicht, wie. Seine Fahrten waren nutzlos gewesen. Wenn nun Groll so überraschend erschien, mußte das einen gewichtigen Grund haben, und wenn sich der Anwalt in diesen Sekunden auch keine wesentliche Hilfe versprach, so wollte er doch auch keine Chance vergeben. Er runzelte die Stirn, strich die dünnen roten Haare zurück und sagte: „Ich lasse bitten. Und wenn Herr Trösterling kommt, möge er sich ein paar Minuten gedulden. Ich werde diese Sache so rasch wie möglich erledigen.“ 283
Er begrüßte Groll nur kurz und fragte: „Ich denke, Sie sind in Urlaub …?“ „Gewiß, gewiß“, erwiderte der Kommissar zerstreut, „aber mein Hut, wissen Sie, ich hatte meinen Hut vergessen!“ Metzendorfer blickte ihn merkwürdig an. Dann beschloß er, auf dieses seltsame Argument nicht einzugehen, und sagte: „Ich habe wenig Zeit für Sie, Herr Groll, ich habe bereits über jede Minute disponiert. Sie werden das verstehen.“ Groll nickte und drehte den Sombrero auf seinen Knien. Er betrachtete aufmerksam die fleckige, gewellte Krempe, ehe er den Anwalt ansah und fragte: „Sie wollten einen neuen Wagen kaufen, Herr Metzendorfer, einen Borgward Isabella, sofern ich richtig informiert bin?“ „Ja, gewiß“, sagte der Anwalt und runzelte die Stirn, „aber Ort und Zeit sind wohl nicht dafür geeignet …“ Groll dämpfte den aufsteigenden Zorn des anderen mit zart erhobener Hand. „Einen Moment Geduld!“ bat er. „Meine Frage ist nicht ganz so abwegig, wie Sie annehmen. Und es stimmt doch auch“, fragte er weiter, „daß Herr Brumerus so freundlich war, Ihnen seine Vermittlung anzubieten?“ „Ja“, sagte der Anwalt. „Schön“, fuhr Groll fort, „und wie steht es damit? Haben Sie immer noch die Absicht?“ Metzendorfer zögerte. „Eigentlich“, sagte er, „hatte ich das aufgegeben. Der Mercedes hat keine ernsten Mucken, und die kleinen Fahrten, die ich in der Regel unternehme …“ „Na“, meinte Groll, „in Berneck hat er Ihnen aber doch einen bösen Streich gespielt?“ 284
„Stimmt!“ bestätigte Metzendorfer. „In Berneck, ja. Und es kommt tatsächlich hinzu … Wissen Sie, wenn der Wagen so neben den Wagen meiner Klienten steht …“ Er zuckte die Schultern. „Ich habe zum größten Teil eine wohlhabende Klientel, Unternehmer und dergleichen …“ Er seufzte. „Dann macht sich das nicht so besonders gut.“ Groll nickte. „Eben, eben“, sagte er, „das waren auch meine Überlegungen.“ Metzendorfer setzte sich zurück. Er sagte ironisch: „Ich will doch nicht hoffen, daß Sie mir nun auch noch einen Borgward verkaufen wollen, sozusagen in freier Konkurrenz mit Herrn Brumerus?“ „Um Gottes willen!“ Groll hob abwehrend die Hand, lächelte nun aber auch. „Nein, Herr Metzendorfer. Indessen …“, er beugte sich vor, „wenn Sie wirklich die Absicht haben, dann wäre es mir außerordentlich willkommen, wenn Sie das möglichst umgehend in Angriff nehmen würden.“ Er sah an dem Anwalt vorbei, irgendwohin, und er fügte hinzu: „Es muß ja keineswegs so sein, daß Sie sofort zu einem Abschluß kommen. Aber die Sache sich mal ansehen, eine Probefahrt machen …“ Metzendorfer dachte angestrengt nach. Irgend etwas mußte den Kommissar zu diesem unerwarteten Ansinnen bewegen. „Soll das heute noch sein“, fragte er, „und wollen Sie etwa mitfahren?“ Groll lächelte. „Zur ersten Frage: Ja, heute! Ich komme mit Griessbühl aus Berneck, besser gesagt, von der Tankstelle. Als ich Ihren Bericht las, Herr Metzendorfer, schöpfte ich einen Verdacht. Der Ausflug nach Berneck hat ihn gefestigt. Aber das genügt nicht. Ich muß Gewißheit haben, und das möglichst noch heute. Griessbühl hat mich nämlich, ohne es zu wollen, auf einen Termin fest285
gelegt, den achtzehnten und neunzehnten Oktober. Wir schreiben heute den fünfzehnten.“ Er rieb mit der flachen Hand seine Glatze. „Ich muß bei Brumerus sofort etwas überprüfen, aber ich selbst darf nicht auftauchen, und er darf nicht wissen, was überprüft wird.“ Der Kommissar lächelte nochmals. „Das ist die Antwort auf Ihre zweite Frage! Griessbühl wartet mit seinem Vehikel unten auf mich. Wir würden Sie nach München begleiten.“ Metzendorfer zögerte. Da sagte Groll: „Ich kann nichts versprechen, aber es könnte sein, daß Marahn unerwartete Hilfe bekommt.“ Der Anwalt sah Groll immer noch unsicher an. Der Kommissar setzte hinzu: „Hilfe, die er sich überhaupt nicht vorstellen kann. Sie, Herr Metzendorfer, sollten mir eigentlich vertrauen.“ Sofort erinnerte der Anwalt sich an Grolls Großzügigkeit bei der Verhaftung Marahns. Er erwiderte: „Im Prinzip einverstanden. Nur habe ich meinen Klienten …“ „Ich kann warten!“ sagte der Kommissar rasch und erhob sich. „Ich habe Geduld gelernt. Eine Bitte habe ich noch: Würden Sie Herrn Brumerus anrufen und ihn von Ihrem Besuch verständigen? Dann wissen wir genau, wo und wann wir ihn antreffen. Schützen Sie aber vor, Sie hätten sowieso etwas in München zu erledigen.“ Metzendorfer atmete tief auf, als Groll den Raum verlassen hatte.
5. Griessbühl untersagte es sich, irgend etwas zu fragen, als der Kommissar zurückkam, den Schlag öffnete und sich neben ihn setzte. So saßen sie nebenein286
ander, und obwohl es den Assistenten juckte, ließ er die Hände vom Steuer. Endlich seufzte Groll und sagte vor sich hin: „Mir scheint, Griessbühl, Sie haben schon gelernt, die Ungeduld der Jugend zu zähmen, eine der wichtigsten Voraussetzungen für einen angehenden Kriminalisten.“ Belehrungen hatte der Assistent nicht besonders gern, und solche liebte er schon gar nicht Also schwieg er weiter, so daß Groll wiederum einen Grund zum Seufzen hatte. „Wir fahren nicht mit Ihrem Wagen!“ erläuterte Groll. Griessbühl war versucht zu antworten: Das merke ich!, aber er verkniff es sich. Er wußte ja, daß der Kommissar ihn nur bröckchenweise von seinem Vorhaben unterrichten würde. Tatsächlich sagte der: „Wir fahren mit dem Mercedes Metzendorfers.“ „Also bleibt mein Wagen hier stehen?“ fragte der Assistent. „Ja, gewiß“, antwortete Groll. „Das mag ich nicht“, meinte Griessbühl, obwohl es ihm völlig egal war. Groll erwiderte darauf nichts. Wenige Minuten später erschien der Anwalt. Das Gespräch mit seinem Klienten mußte zufriedenstellend verlaufen sein; denn er war heiter, ja geradezu beschwingt. „Meine Herren“, forderte er die beiden auf, „darf ich Sie bitten?“ Und zu Groll gewandt; setzte er hinzu: „Es klappt! Er ist in seiner Wohnung!“ Im Mercedes bestand Groll auf dem hinteren Sitz – er überließ seinem Assistenten die „Todesfalle“, wie er abwertend den Platz neben dem Fahrer nannte. Metzendorfer entging es nicht, daß es dabei um seine Mundwinkel zuckte. 287
Plötzlich entstand auf der Autobahn unmittelbar vor ihnen eine Karambolage; Blech krachte entsetzlich; ein VW hoppelte entsetzt von dem Betonstreifen herunter, schien stillzustehen und überschlug sich dann gemächlich. Ein Opel 1200 preßte seinen Kühler an die Hinterräder eines Lastwagens. Das war alles, was Metzendorfer erblicken konnte. Der Laster versperrte ihm die Sicht nach vorn. Aber der hoppelnd geflüchtete Volkswagen hatte ihm so viel Raum gegeben, daß seine pfeifenden Bremsen den Mercedes handspannenbreit hinter dem Opel zum Stehen brachten. Metzendorfer ließ die Hände vom Steuer sinken und atmete tief aus. Griessbühl sprang aus dem Auto und rannte hinüber zum Volkswagen. Dort hatte sich die Tür verklemmt. Groll nickte befriedigt, als er feststellte, daß es Griessbühl gelang, sie aufzustemmen und eine Dame in auffällig brandroten Hosen zu befreien. Sie hatte den linken Schuh verloren und betrachtete verzweifelt abwechselnd ihren Fuß und den feuchten Lehm des Feldes; Groll sah schmunzelnd, wie sein Assistent sie auf die Arme nahm und herübertrug, um sie auf den Abhang der Autobahn zu setzen. Als der Mercedes anfuhr, winkte die Rotbehoste herüber, und Griessbühl hörte Groll sagen: „Tüchtig, tüchtig!“ Er ärgerte sich darüber, aber er wußte eigentlich nicht, warum. Als der Stau vorbei war, lehnte sich Groll mit beiden Armen auf die Lehnen der Vordersitze und beugte sich vor. In dieser Haltung sagte er gleichsam vertraulich: „Finden Sie nicht auch, Griessbühl, daß ihr Wägelchen schon ein bißchen, sagen wir, verbraucht ist?“ Der Assistent antwortete kurz: „Finde ich eigentlich nicht!“ 288
„Soso“, knurrte der Kommissar, paßte jedoch nicht, sondern gab sich das Air des Fachmanns. „Das Anzugsvermögen“, behauptete er, „ist zu gering. An der Kreuzung, Griessbühl, da lassen die andern Sie einfach stehen.“ Er fragte zu freundlich: „Das ist doch auch Ihr Eindruck, oder irre ich da?“ „Wenn der Kleine“, antwortete Griessbühl knapp, „richtig in Fahrt ist, nimmt er es mit jedem der nächstgrößeren Klasse auf.“ „Ja, ja“, sagte Groll gedankenvoll, „da mögen Sie recht haben. Wenn er in Fahrt ist. Nur eben: Ehe er in Fahrt kommt!“ Metzendorfer äußerte sich zu diesem Zwiegespräch nicht. Er wunderte sich, warum der Kommissar seinen Mitarbeiter reizen wollte. Er lächelte vor sich hin: Jeder Autofahrer würde bei einer derartigen Beurteilung seines Wagens gereizt werden. „Schauen Sie sich mal diesen Mercedes an!“ forderte der Kommissar Griessbühl auf. „Finde ich noch enorm! Ich mußte zweimal auf das Tacho gucken: Aber er hat tatsächlich schon seine siebzigtausend heruntergerissen, fährt aber wie ne Eins!“ Der Jargon stand dem Kommissar schlecht. Griessbühl konterte sofort mit einem Tiefschlag: „Die Bremsen sind ausgezeichnet“, sagte er. Metzendorfer spürte einen Stich in der Brust. „Na, na“, beruhigte Groll, „bei Ihrem doch wohl auch, Griessbühl?“ Wenige Minuten später sagte der Kommissar, so ins Leere hinein, zwischen den beiden vor ihm Sitzenden hindurch: „Falls Herr Metzendorfer den Borgward erwirbt, ich könnte mir denken, daß er dann den Mercedes abstößt.“ 289
Die beiden schwiegen dazu. Der Kommissar räusperte sich. Er kratzte sich am Schädel. Dann wandte er sich an Metzendorfer: „Als Gebrauchtwagen – was, glauben Sie, müßte er Ihnen bringen?“ „Achthundert“, erwiderte der Anwalt sofort, „mehr ist bei dem starken Angebot nicht drin!“ Groll wurde plötzlich lebhaft. Er richtete sich etwas auf, stieß Griessbühl mit der Hand an die Schulter: „Griessbühl, hören Sie! Aber da würde ich an Ihrer Stelle zupacken, und zwar schnell! Achthundert, das ist ein Butterbrot für diesen Wagen.“ Der Assistent drehte sich langsam um und sah Groll genau in die Augen. Und so erklärte er: „Nur fehlt mir leider die Butter aufs Brot, um es genau zu sagen!“ und wandte sich ebenso wieder zurück. Die Materie war dem Kommissar doch sehr fremd. Er mußte wieder überlegen, ehe er Griessbühl fragte: „Und was würde Ihr Kleiner bringen?“ „Keinesfalls die Butter“, sagte der, „höchstens die Kosten für den Lack.“ Groll sagte nichts mehr. Er sah zwischen den beiden anderen vorbei, sah die Betonbahn auf sich zuschießen, hörte das leise Rumoren des Motors und dachte nach. Er bat den Anwalt: „Würden Sie bitte Vollgas geben?“ Metzendorfer antwortete nichts darauf, aber er erfüllte den Wunsch. Mit leisem Neid sah Griessbühl, wie die Tachonadel auf 100, auf 110, auf fast 120 schwankte. Metzendorfer lächelte und warf ihm einen schnellen Blick zu. Der Assistent nickte wehmütig. Er dachte an sein exzentrisches Gefährt: Hoffnungslos würde er auch von diesem Wagen abgehängt werden. Indessen: Er hatte die Butter tatsächlich nicht! 290
In Grolls Gesicht trat ein Ausdruck, wie ihn die Zuschauer von Autorennen zu haben pflegen: etwas Gieriges, zugleich Begeistertes und Entsetztes, ja, er leckte sich sogar die Lippen. Doch als ihm das bewußt wurde, lehnte er sich sofort zurück, pochte leicht auf Metzendorfers Schulter und sagte: „Schon gut! Schon gut! Vielen Dank!“ Und zu Griessbühl gewandt, fragte er: „Na, wie wär’s?“ „Meiner tut’s auch!“ antwortete der knapp. „Zweifellos“, knurrte Groll, „aber tut er’s so wie dieser?“ „Nein“, gestand der Assistent widerwillig. „Ich denke mir das so“, sagte Groll beiläufig und sah durch das Seitenfenster hindurch auf die brachen Äcker, die sich mißmutig vorbeischoben, „daß Herr Metzendorfer den Borgward Isabella erwirbt und daß ich dann Ihnen, Griessbühl, die Butter vorschieße. Die Raten für die Rückzahlung sollen Sie nicht belasten. Einverstanden?“ Griessbühl drehte sich mit einem Ruck um und starrte den Kommissar an. „Ist das Ihr Ernst?“ fragte er. „Haben Sie schon mal erlebt, daß ich spaße?“ fragte Groll zum Fenster hinaus. „Das allerdings nicht“, gestand der Assistent. Nach einer Weile meinte Metzendorfer: „Ich finde, Herr Groll, Sie sollten mir nun nähere Auskünfte geben. In einer Viertelstunde sind wir in München. Ich werde Brumerus gegenüberstehen …“ Groll überlegte nicht. Er hatte diese Frage längst erwartet. „Ich kann nur soviel sagen“, erwiderte er, „daß ich einen Verdacht habe. Falls er sich bestätigt, könnte Marahn entlastet werden. Um diese Bestätigung geht es auch heute. Ich will wissen, ob an dem Mordtag nicht möglicherweise Brumerus in dem Bungalow war!“ 291
„Brumerus?“ fuhr Griessbühl hoch. „Aber sein Telegramm damals …“ „Er hat es am Vormittag des nächsten Tages abgeschickt, da konnte er von Berneck aus längst wieder in Stuttgart gewesen sein“, erklärte Groll fast mitleidig. „Das ist doch barer Unsinn!“ entfuhr es Metzendorfer. Er zuckte zusammen und sagte: „Entschuldigung!“ Griessbühl sah starr geradeaus. Er grübelte, aber er fand den Zugang zu Grolls Gedankengängen nicht. So fragte er knapp: „Was wollen wir also in München ermitteln?“ „Ach, ermitteln!“ antwortete Groll gemächlich. „Das klingt immer so hochtrabend, Griessbühl. Herr Metzendorfer soll wirklich nur seinen Borgward Isabella kaufen, wenn er ihn mag und durch Brumerus billiger dazu kommt. Und ich, ich möchte lediglich wissen, wann Brumerus’ Wagen die letzte Durchsicht hatte und bei wieviel Kilometern das war. Das Durchsichtheft steckt neben dem Beifahrersitz, Sie wissen schon, es. ist griffbereit in einer Tülle untergebracht. Dort finden Sie die Abschnitte, die der Service mit Kilometern und Datum bestätigen muß.“ Der Assistent zog eine Grimasse. „Ja, ja, das wissen Sie natürlich“, sagte der Kommissar schnell. „Seien Sie nur nicht gekränkt!“ „Aber wie kommt Herr Griessbühl an den Wagen?“ fragte der Anwalt beunruhigt. Groll zuckte die Schultern. „Der Wagen“, sagte er gedehnt, „dürfte in der Hochhausgarage stehen. Dazu wird Herrn Griessbühl schon etwas einfallen, an Phantasie mangelt es ihm ja nicht.“ Griessbühl schwieg verdrossen. „Und falls er vor dem Hause steht“, fuhr der Kommissar fort, „wird mein Mitarbeiter ebenfalls einen guten 292
Gedanken haben. Daß Sie, Herr Metzendorfer, ihn mitgenommen haben, ist unverfänglich. Sie erklären Brumerus, daß Sie von Wagen wenig verstehen und Griessbühl Ihnen in dieser Hinsicht behilflich sein soll.“ Metzendorfer schüttelte abwehrend den Kopf und sagte vorwurfsvoll : „Viel Umstände für solche Bagatellen, Herr Kommissar! Und herauskommen wird nichts. Am Zwanzigsten will der Untersuchungsrichter den Fall abschließen und den ersten Verhandlungstermin festsetzen! Mein Antrag auf Haftentlassung Marahns wurde abgelehnt, und wir vertrödeln hier unsere Zeit, statt ihm zu helfen!“ „Aber Herr Metzendorfer“, sagte der Kommissar mit leisem Vorwurf, „Marahn hat geschossen! Insoweit ist alles klar. Sie meinen doch selbst, daß Sie für die Sache Marahn nichts gewinnen, wenn wir herausfinden, wer der zweite Mann im Bungalow war!“ Der Anwalt seufzte. „Stimmt“, sagte er. „Also bitte!“ sagte Groll versöhnlich. „Wir können demnach gründlich vorgehen. Es wird sowieso nicht leichtfallen, Brumerus zu überführen. Er hat ein Alibi, er war in Stuttgart, Zeugen stehen zur Verfügung!“ Er erhielt keine Antwort. Da setzte er hinzu: „Ich habe übrigens die Absicht, die Zeit in München zu benutzen, um mir einen neuen Hut zu kaufen.“ Er sagte wehmütig: „Weiß Gott, der alte täte es noch lange! Doch ich fürchte, der ist zu auffällig, und ich hab’ ihn schon dreimal reinigen und umpressen lassen. Ein viertes Mal macht er nicht mit.“ Er sah liebevoll zu dem Sombrero hinauf, der neben ihm an dem Huthaken schaukelte. „Vorkriegsfilz ist das noch“, sagte er gedankenverloren. 293
6. Metzendorfer rief sicherheitshalber von einer Telefonzelle aus Brumerus nochmals an. Der zeigte sich liebenswürdig und antwortete: „Aber selbstverständlich! Das habe ich Ihnen versprochen! Mir wäre es am liebsten sofort.“ Er trat ans Fenster und sah in die Straßenschlucht hinunter und betrachtete dieses ziellose Gewimmel von Menschen und Wagen. Alles erschien ihm an diesem Herbsttage grau. Der schwarze Mercedes Metzendorfers fuhr vor. Der Schlag öffnete sich. Er sah den Anwalt aussteigen, von hier oben nahm er sich klein, ja putzig aus, püppchenhaft. Brumerus mußte lächeln. Ein anderer Wagen fuhr vorbei, Metzendorfer preßte sich an den Mercedes. Dann strich er mit jener Bewegung, die auch Brumerus bereits kannte, die roten spärlichen Haare aus der Stirn, wandte sich um und ging auf das Haus zu. Einen Augenblick zögerte Brumerus. Dann entschloß er sich, den Anwalt nicht erst in seiner Wohnung zu empfangen. Wozu sollte er Zeit verlieren? Der Wagenkauf konnte schnell erledigt sein. Er zog den Mantel über und trat vor die Tür; da hörte er schon den Aufzug surren. Langsam stieg das Kästchen von unten herauf. Gedankenverloren beobachtete er die Bewegung der Drahtseile, ein altgewohntes Tun. Es überkam ihn die gleiche törichte Vorstellung, die er schon als Kind gehabt hatte: Wie schrecklich es sein müßte, wenn ein solches Seil risse, und dann der Sturz in die Tiefe … Da hielt der Aufzug. Die Gitter schoben sich mit leisem Geräusch zurück, die Tür öffnete sich. 294
Metzendorfer war sichtlich überrascht, Brumerus hier wartend zu finden. Doch er faßte sich schnell; der andere begrüßte ihn freundlich: Zwischen Besprechung und Besprechung bliebe so wenig Raum … Das verstand der Anwalt. Ihm ging es genauso. Einträchtig glitten sie also wieder hinunter. Metzendorfer sagte einladend: „Wenn es Ihnen recht ist, fahren wir mit meinem Wagen zu Ihrem Service.“ Sie überquerten die Straße, und erst, als Brumerus einstieg, bemerkte er den Assistenten. „Ah, Sie auch, Herr Griessbühl?“ fragte er erstaunt und fügte spöttisch hinzu: „Wollen Sie etwa ebenfalls einen Borgward Isabella erwerben?“ Der reichte ihm über den Sitz die Hand. „Lieber Himmel“, sagte er dabei, „ein Kriminalassistent! Wo denken Sie hin! Nein, aber mir hat es der olle Mercedes angetan, und Herr Metzendorfer war so freundlich, mich auf diese Probefahrt mitzunehmen. Ich bin sehr zufrieden, wirklich.“ Brumerus lachte lautlos. „Ich kenne ja Ihre Karrete“, sagte er, „ein Auto kann man das Ding nicht mehr nennen. Ein vernünftiger Entschluß.“ Damit schien für ihn die Anwesenheit Griessbühls uninteressant geworden zu sein. Er wandte sich an Metzendorfer: „Fahren wir! Ich zeige Ihnen den Weg!“
7. In dieser Zeit wanderte Groll frierend am Stachus entlang. Er besah die Auslagen der Geschäfte, die ihm gleichgültig waren. Nur vor einem Hutsalon verharrte er lange; doch er zog die Mundwinkel herunter: Diese Formen, das waren keine Hüte, das waren Hütlein! Er wünschte nicht, Hütlein zu tragen! 295
Trotzdem betrat er den Laden. Eine Verkäuferin umsirrte ihn sofort. Er sah den abschätzenden Blick, mit dem sie seinen Sombrero streifte, und er war zornig. Er nahm den Hut und legte ihn deutlich auf die Glasplatte des Verkaufstisches. Es war nicht zu leugnen: Dort behauptete er sich gegen alle diese Hütlein rundumher, er war unübersehbar! Behaupten! Das war das richtige Wort! Mit einem Hute mußte man sich behaupten, fand Groll, und er war entschlossen, nichts zu kaufen, was nicht dieser seiner Vorstellung entspräche. Die Verkäuferin duftete nach einer Komposition, in der Maiglöckchen vorherrschten – jetzt im Herbst. Das störte den Kommissar. Ihn störte auch der lila Pullover, von Lila bekam er Kopfschmerzen, hatte er festgestellt. Nun, er wollte es hinnehmen, wenn er nur die richtige Behauptung bekam. Die Verkäuferin fragte ihn nach der Hutgröße. Er wußte sie nicht. Er mußte den Kopf beugen und sich ein Bandmaß um den Schädel legen lassen. Auch das ärgerte ihn. Danach brachte die Verkäuferin Stöße von Hüten, voneinander geschieden durch feines Seidenpapier. Sie stapelte sie in klarer Entfernung von dem fettigen Sombrero, gerade so, als könnten sie sich anstecken. „Er hat keine Masern!“ sagte Groll. Die Verkäuferin sah ihn verständnislos an, und als sie begriffen hatte, lachte sie schrill, und Groll war überzeugt, daß sie immer noch an die Masern seines Sombreros glaubte. Und wieder mußte er den Schädel neigen: Die zarten Hände drückten eines der Hütchen darauf. Er fand sich im Spiegel fürchterlich und schüttelte entsetzt den Kopf. 296
Die Verkäuferin meinte, dies sei der ungewohnte Anblick, das gebe sich; aber möglicherweise hätte er recht. Der Hut säße zu tief in der Stirn, vielleicht besser so? Und sie stupste ihn auf den Hinterkopf, trat zurück, blickte abwägend, nickte wohlgefällig, trat wieder heran, zog ihn erst ein wenig nach links, dann nach rechts, dann wieder nach links. „So ist es gut!“ freute sie sich, und Groll, dem ihr Werk ebenso wie das Hütlein gründlich mißfiel, erklärte sie: „Die meisten Menschen sind nicht fotogen. Da muß man herausfinden, welche Seite besser ist. Bei Ihnen ist es die rechte, da ist das Auge größer. Also müssen Sie den Hut nach links tragen.“ Sie trat einen Schritt zurück und beäugte ihn. „Fesch sehen Sie aus!“ behauptete sie. Der Kommissar betrachtete sich im Spiegel. Er konnte nicht finden, daß er besonders fesch aussähe. Er erschien sich eher wie eine große, alte runzlige Kartoffel, die gerade zu keimen beginnt: Das Hütlein war grün, und hinten stieß ein Federchen hervor. Er schüttelte den Kopf. Das Hütlein rutschte auf sein linkes Ohr. Er nahm es rasch ab, gab es zurück und sagte: „Danke, Fräulein! Ich bleibe lieber bei meinem alten!“ „Wie Sie wünschen, mein Herr, das ist sehr schade!“ erwiderte sie und trug ihre lila Büste einem anderen Kunden entgegen, der den Laden betrat. Groll packte seinen Hut. Er wagte ihn jedoch nicht aufzusetzen, solange er sich in dem Hütlein-Geschäft befand. Draußen zerrte er die Krempe behaglich in die Stirn: Man ist doch ein anderer Mensch, empfand er, mit einer solchen Behauptung. In diesem Augenblick begann es zu regnen; nach Sekunden rauschte es. Über den Hütlein, die Groll entge297
genkamen, entfalteten sich erschrocken die Pilze der Knirpse. Der Kommissar indessen behauptete sich unbeschirmt gegen die Fluten und schritt mit Behagen unter der Krempe einher, von der das Wasser rundum heruntertroff.
8. Tatsächlich befand sich der BorgwardService nur um zwei Ecken; Metzendorfer benötigte drei Minuten, um ihn zu erreichen. Gegenüber dem Ausstellungspavillon war ein Parkplatz. Dort stellte der Anwalt seinen Wagen ab. Sie gingen zu dritt über die Straße und flanierten zunächst vor den großen Scheiben entlang. Metzendorfer fühlte ein steigendes Verlangen, als er die blanke Reihe der Wagen sah, die sich in großen Spiegeln ins unendliche zu vervielfältigen schienen. Jetzt endlich bekam er Appetit, ja, er wurde sogar ungeduldig. Sie betraten den Raum. Brumerus kannte einen der Verkäufer, er winkte ihn mit großer Geste herbei. Inzwischen hatte Metzendorfer nochmals die Wagen überblickt; aber so wie schon draußen fühlte er sich von einer Isabella angezogen, die in einem satten, trotzdem unauffälligen Rot lackiert war und die ein Schiebedach besaß. Das Schiebedach hatte er bei seinem Mercedes stets vermißt, im Sommer konnte der Wagen zum Brutkasten werden. Der Anwalt ging zu diesem Wagen hinüber; er stand daneben und betrachtete ihn mit einer seltsamen Art von Freude oder Vorfreude. Er sah über den Kühler hinweg, 298
und plötzlich begegnete er sich selbst, an eben diesem roten Isabella stehend, im Spiegel, und er fand, daß er gut aussah. Bis dahin hatte der Verkäufer kaum etwas gesagt; aber in diesem Augenblick Öffnete er die Türen, wies Metzendorfer die verstellbaren Sitze, den angenehmen Lederbezug, die Finessen des Armaturenbretts; er ging um den Wagen herum, hob die Haube auf, zeigte da und dort in den Motor, tat einige Handgriffe, um zu beweisen, wie übersichtlich und bequem alles angeordnet war, und als er Metzendorfer zu der Probefahrt einlud, spürte der sich schon hungrig darauf. Brumerus setzte sich in den Fond. Der Verkäufer nahm hinter dem Lenker Platz. Metzendorfer ließ sich neben ihn gleiten, empfand mit Wohlgefallen die elastische Polsterung und das vornehm gedämpfte Geräusch des zufallenden Schlags. Griessbühl fragte an dem Verkäufer vorbei Brumerus, wo er sich nach den technischen Einzelheiten erkundigen könnte, und der antwortete mit einer Kopfbewegung: „In der Werkstatt. Fragen Sie dort nur nach Hans, der kümmert sich um meinen Wagen!“ Der Assistent trat einen Schritt zurück. Er sah den Wagen lautlos rückwärts setzen, in eine halbe Kurve gleiten und zum seitlichen Tor sich hinausfedern, dort zur Straße wenden und einige Sekunden zögern, ehe er sich schnell und elegant in den Wagenzug einreihte. Er drehte sich um und strebte mit schnellen Schritten der Werkstatt zu. Metzendorfer, an das Knistern und Rascheln seines alternden Motors, an das Knacken, Rumpeln und Schaben der schwarzen Karosserie gewöhnt, horchte mit Begeisterung auf den leisen, geheimnisvollen Singsang dieses neuen Wagens und spürte mit Genugtuung das sanfte Gleiten, das auch bei der stärksten Beschleunigung so 299
glatt und gleichsam fugenlos lief, wie ein blitzender Kolben in seinem geölten Gehäuse sich bewegt: kraftvoll und lautlos. Die Lust, diesen Wagen zu besitzen, wuchs. Als sie auf die Autobahn gelangt waren und gleichmäßig voranschossen, erst da begann der Verkäufer behutsam einzelne technische Daten bekanntzugeben, und er tat es mit Diskretion, um die gehobene Stimmung nicht zu zerstören. Wenig später glitten sie auf einen Parkplatz. Der Verkäufer stieg aus. Metzendorfer setzte sich hinter das Steuer. Obwohl er wußte, wie töricht seine Gefühle waren, empfand er in den folgenden Minuten tief die Lust, Beherrscher eines solchen Wagens zu sein.
9. In der Zwischenzeit war Griessbühl in die Reparaturwerkstatt gegangen, die sich hinter dem Ausstellungspavillon befand. Seitlich davon erhob sich das Parkhaus; durch die blitzenden Scheiben konnte der Assistent die Wagen auf und ab steigen sehen. Hier war der Raum genutzt. Er fragte nach „Hans“. Der erwies sich als ein blonder junger Mann mit aufmerksamen Augen. Er rieb sich mit einem Lappen das Öl von den Händen, bevor er Griessbühl begrüßte. Der Assistent berief sich auf Brumerus. Hans schien ihn seit langem zu kennen. Er sagte zufrieden: „Das ist ein Mann, der seinen Wagen wirklich pflegen läßt. Wir hier haben nicht viel übrig für Sonntagsfahrer, die herkommen, wenn etwas zu Bruch gegangen ist. Aber Herr Brumerus, der hält die Termine ein, und das macht sich bezahlt.“ 300
Griessbühl nickte und trug seine Bitte vor. „Aber das ist Sache von denen da vorn“, antwortete Hans. Er wies mit dem Kopf zu den Wagen im Hofe der Werkstatt. „Sollen wir uns jetzt auch noch mit Erklärungen abgeben, wenn die da drin ihre Wagen verkaufen? Wir wissen so schon nicht, wo uns der Kopf steht.“ „Das begreife ich“, gab Griessbühl nach, „aber es ist Ihnen ja bekannt, wie das geht: Da wird dem Käufer dies und jenes erläutert, doch wenn es eine Panne gibt, findet sich der Mann nicht zurecht.“ Hans nickte spöttisch. „Das sind selbst alles Sonntagsfahrer“, sagte er. „Die bringen nicht einmal einen Radwechsel zustande. Wenn irgend etwas an ihren Wagen nicht stimmt, dann wissen sie, wo wir zu finden sind.“ „Und ich“, sagte Griessbühl, „bin mit dem Herrn Metzendorf er befreundet. Ich möchte nicht, daß er ’reinfällt.“ Der Monteur rieb unschlüssig wieder mit dem Tuch an seinen Händen herum. „Den Verdienstausfall“, setzte der Assistent vertraulich hinzu, „den vergüten wir Ihnen schon, das macht sich für uns bezahlt.“ Er zog einen Zehnmarkschein aus der Tasche, den er für diesen Zweck vorgesehen hatte. Er war mehrfach gefaltet. Den steckte er unauffällig in die Brusttasche des Monteuranzugs, jedoch so, daß ein Stück hervorsah und Hans den Betrag erkennen konnte. Der schob den Schein mit dem Daumen tiefer hinein, so daß er verschwand. Er seufzte und sagte: „Na, da wollen wir mal.“ Er sah sich um, als suchte er einen Wagen. „Vielleicht“, meinte Griessbühl rasch, „können Sie mir das alles am Wagen von Herrn Brumerus erklären?“ 301
„Ist vielleicht am besten“, meinte Hans, „wer weiß, wer sonst dazukommt.“ Er stopfte das Tuch in die Hosentasche und ging mit langen Schritten zum Parkhaus voran. Der Pförtner mochte glauben, es handelte sich um eine Reparatur, er hielt die beiden nicht auf. „Erster Stock, Koje achtundfünfzig“, sagte der Monteur mechanisch. Er hielt sich dicht an der Wand auf dem erhöhten Betonstreifen, der für Fußgänger vorgesehen war. Neben ihnen stiegen surrend die Wagen die Schräge hinauf. Es roch nach Abgasen. Durch die großen Fenster konnte Griessbühl über den Verkaufspavillon und in den Werkstatthof sehen. Die Tür der Koje 58 lief automatisch hoch, das Licht schaltete sich ein. Die beiden Männer traten zu dem Wagen. Der Monteur begann zu erklären, er fing am Armaturenbrett an. Der Assistent schauspielerte Aufmerksamkeit. Der Motor schien die Spezialität von Hans zu sein. Mit Genuß zupfte er einzelne Teile heraus, drehte Schrauben locker und fest, befaßte sich lange mit den Zündkerzen. Griessbühl, der seinen kleinen Flickenteppich selber pflegte, langweilte sich sehr. Aber er mühte sich um dumme Fragen, die er dazwischenwarf und die den Monteur anregten, immer erneut seine Fachkenntnisse zur Schau zu stellen. „Muß ein gutes Gefühl sein“, sagte Griessbühl schließlich, „in einem solchen Wagen zu sitzen.“ Er öffnete den Schlag und ließ sich auf das Polster vor dem Lenkrad gleiten, spielte mit den Hebeln und Knöpfen des Armaturenbretts, ließ die Scheinwerfer aufblinken, schaltete sie wieder aus. Der Monteur sah ihm lächelnd zu. Was er dachte, war seiner Miene abzulesen. Immerhin war er selbst stolz auf 302
diesen Wagen, dessen Service er besorgte. Er sagte: „Wird viel gefaselt über den Isabella, empfindlich und so; aber wer ihn pünktlich pflegt, der hat seine Freude daran.“ „Und Herr Brumerus läßt ihn pünktlich pflegen!“ meinte Griessbühl und griff wie unabsichtlich über den Platz des Mitfahrers hinweg, um das Durchsichtheft herauszuziehen und darin zu blättern. „Will ich meinen“, sagte Hans und sah dabei zur Tür hinaus, wo sich Wagen auf Wagen vorbeischob. „Er bringt ihn vormittags her und holt ihn um sechzehn Uhr ab, wenn wir Schluß machen. Da ist er eisern. Und er ist großzügig, der Herr Brumerus!“ Er schien ihn zu schätzen. Doch der Assistent schwieg jetzt. Er hatte jenen kleinen Abriß gefunden, der nach jeder Durchsicht in dem Heftchen verblieb. Das war der Kontrollzettel. Jeder Wagenbesitzer konnte damit nachweisen, ob er pünktlich der Durchsicht nachgekommen war, und das konnte bei einem Materialschaden eine wesentliche Rolle spielen. Dieser Abriß, den Griessbühl aufgeblättert hatte, enthielt die genau eingetragene Kilometerzahl und das Datum, den Stempel des Services und die Unterschrift: Er prägte sich alles ein. Dann steckte er das Heftchen an die alte Stelle und stieg aus. Er meinte: „Ich glaube, ich sehe klar.“ „In Ordnung“, erwiderte Hans. Sie verließen die Koje. Das Licht erlosch. Die Tür schloß sich hinter ihnen. Und jetzt gingen sie abwärts, den Wagen entgegen, die in ihre Unterkunft hinauffuhren.
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10. Der Regen war nur ein lauter Klatsch gewesen, ein Überfall, ein Schauer. Ebenso unvermutet, wie er niedergeprasselt war, hatte er aufgehört. Groll hatte den durchweichten Sombrero vom Schädel genommen. Er schwenkte ihn in der Linken leicht hin und her, damit er rascher trocknete. Der Kommissar stand an der verabredeten Stelle am Rand des Bürgersteigs. Er langweilte sich und zweifelte daran, ob es richtig gewesen war, Metzendorfer und Griessbühl allein zu Brumerus fahren zu lassen. Die hochgebauschten dunkelgrauen Regenwolken waren zurückgesunken. Eine blasse Sonne schien schräg über den Platz. Manchmal blitzten eine Scheibe, ein Stückchen Chrom, ein Spiegel. Der Kommissar tippte unablässig mit der Schuhspitze in einen Pfützenrand; es dauerte lange, ehe er sich bewußt wurde, daß er ein törichtes Spiel seiner Kindheit spielte, und damit aufhörte. Plötzlich trat er erschrocken zurück. Ein tiefroter Borgward Isabella war scharf und dicht an die Bordkante gefahren und hatte hart gebremst. Parken und Halten waren hier verboten, und der Kommissar wollte gerade eine ernsthafte Rüge erteilen, als der Schlag aufgestoßen wurde und Metzendorf er ihn hereinwinkte. Er war so guter Stimmung, als hätte er einen Sieg errungen, und als sie in das Gewühl tauchten, fragte er strahlend: „Wie finden Sie ihn?“ „Gut, sehr gut!“ lobte der Kommissar, der von Wagen keine Ahnung hatte, und fragte sich, was er anderes hätte antworten können, ohne Metzendorfer zu kränken. 304
Er spürte, daß der Anwalt aus irgendeinem Grunde unvorsichtig fuhr. Es gab gefährliche Situationen. Groll runzelte die Stirn. „Wollen Sie ihn zu Blech verarbeiten?“ fragte er. Metzendorfer verstand ihn nicht. Der Kommissar seufzte unhörbar. Wenn sie Auto fuhren, waren sie wie die Kinder, fand er. „Wo ist Griessbühl abgeblieben?“ fragte er. Der Anwalt deutete mit dem Kopf rückwärts. Groll versuchte, durch den rechten Seitenspiegel zu finden, was Metzendorfer meinte, und da sah er Griessbühl hinter dem Steuer des schwarzen Mercedes. Er mußte lächeln; denn auf einmal hatte er begriffen, was gespielt wurde: Die beiden Männer lieferten sich eine hübsche kleine Verfolgungsfahrt. „Schon gekauft?“ fragte er. „Ja“, sagte der Anwalt, „nur noch nicht bezahlt.“ Er hob die Rechte vom Steuer, Groll sah ängstlich hin. „Er ist mir doch als Kriminalinspektor sicher?“ „Assistent“, berichtigte Groll. Doch das hörte der Anwalt schon nicht mehr; es war Groll deutlich, daß Metzendorfer in seinen Wagen verliebt war: Von ihm würde er heute keine gescheite Auskunft erhalten. Und doch benötigte er sie: Es war ihm wichtig zu wissen, wie Brumerus sich benommen hatte. Skeptisch sah er den Anwalt an und fragte schließlich doch. „Nobel!“ antwortete der sofort mit Hochachtung und gab jetzt zu Grolls Sorge mit der Linken das Steuerrad frei. „Äußerst nobel! Bei den finanziellen Verhandlungen machte er von seiner Eigenschaft als Stammkunde Gebrauch. Die wollten mir nur ein Skonto von sieben Prozent zusprechen, durch Brumerus habe ich zehn erhalten!“ Groll verzog den Mund; er wollte nicht verraten, daß ihm der Anwalt nun wie ein Narr erschien – närrisch 305
geworden durch ein paar rot lackierte Bleche! Er versuchte es nochmals. „Hat Brumerus nichts wegen Marahn gesagt?“ „Darüber haben wir nicht gesprochen“, gab der Anwalt zurück. Groll fühlte sich verstimmt. Er knurrte: „Wollen wir es doch heute so halten, daß Sie mich an der Ausfahrt Nürnberg absetzen ; Griessbühl wird ja wohl nicht in einem solchen Freudentaumel befangen sein, daß er mich übersieht.“ Den Rest dieser Strecke schwiegen sie.
11. Tatsächlich dauerte es nur wenige Sekunden, bis der Mercedes erschien. Nachdem Groll eingestiegen war, fuhr Griessbühl rasch an, und es machte ihm sichtlich Freude, kühn in die Kurven zu gehen. Der Kommissar stellte das ärgerlich fest. Auch der Assistent schien völlig den Zweck dieser Fahrt vergessen zu haben, auch er war vom Rausch der Maschine besessen. „Ich hatte die Absicht“, sagte Groll und klammerte sich am Haltegurt über seinem Sitz fest, „Sie zur vorzeitigen Beförderung vorzuschlagen.“ Er bereute diese Bemerkung; sie war ein Fehler; Griessbühl trat in seiner freudigen Überraschung so heftig auf die Bremse, daß der Kommissar zweimal dienern mußte, und das tat er ungern. Er korrigierte sich sofort: „Aber ich fürchte, ich werde es bleiben lassen, Griessbühl“, sagte er, „Sie sind ja besoffen in diesem Fahrzeug!“ Der junge Mann schluckte; doch er wußte, daß der Alte recht hatte. Deshalb erwiderte er nichts, sondern nahm 306
den Tadel schweigend an und begann endlich wieder nachzudenken. Groll wartete geduldig; er kannte Griessbühl; er wußte: Es würde kommen! Der Assistent atmete tief auf; er warf einen Blick zu dem Alten. Er sagte: „Ich habe mir die Daten notiert!“ Er zog ein Notizbuch aus der Brusttasche und schob es Groll hinüber. „Letzte Seite“, sagte er. Groll blätterte. Er massierte mit der Hand seine Schädeldecke, während er die Vermerke las. Er schloß die Augen. Er durchdachte die Konstruktion, an der er während der Nacht gesessen hatte: Dies hier war einer der Steine, die noch gefehlt hatten. Er sah auf und bemerkte die unnatürliche Röte auf Griessbühls Stirn. Er hatte den Assistenten gekränkt, mehr als er beabsichtigt hatte. Deshalb sagte er: „Als ich Metzendorfers Bericht las, fesselten mich nicht seine Besuche in Frankfurt und Passau. Mir fiel auf, daß Brumerus auf der Rückfahrt mit dem Anwalt von Berneck achtzehn Liter tankte. Auf Grund einer Bemerkung des Tankwarts behauptete Brumerus, am Morgen des gleichen Tages, als er sich mit dem Telegramm anmeldete, getankt zu haben. Das schien mir unmöglich. Brumerus hatte die Angewohnheit, den Tank bis zum Rande mit Benzin füllen zu lassen. Er konnte aber die paar Kilometer nach Berneck und zurück nicht achtzehn Liter verbraucht haben.“ Der Kommissar machte eine kurze Pause. „Immerhin“, fuhr er fort, „wäre es denkbar, wenn auch nicht wahrscheinlich gewesen, daß Benzin auf irgendeine Weise abhanden gekommen war. Er hätte beispielsweise einem festsitzenden Wagen aushelfen und ein paar Liter abzapfen können.“ 307
Er lächelte. „Brumerus ist gerissen. Ich mußte mit jeder Ausflucht rechnen. Nun hatte er aber nach eigener Angabe auch die Angewohnheit, die Durchsichten pünktlich durchführen zu lassen. An der Tankstelle hatte der Wagen laut Metzendorfers Angabe dreizehntausendundsiebzehn Kilometer hinter sich. Die Durchsicht ist, wie sich heute bestätigt, pünktlich bei zwölftausend gemacht worden, und zwar in München. Die rund tausend Fahrkilometer entsprechen keineswegs der Strecke MünchenStuttgart-Berneck und zurück bis zur Tankstelle, jedoch fast genau der Strecke München-Berneck-StuttgartBerneck bis zur Tankstelle zurück.“ Groll hörte den Assistenten erregt atmen. Er lächelte und sagte gelassen: „Das alles spricht dafür, daß Brumerus der zweite Mann im Bungalow war. Indessen kann er sich leicht herausreden, der Tankwart habe sich geirrt, die paar hundert Kilometer seien durch Stadtfahrten in München und Stuttgart zusammengekommen. Zudem hat er ein Alibi.“ „Alibi?“ fragte Griessbühl. „Man müßte prüfen, ob es hält.“ „Sie werden es prüfen“, bestimmte Groll. „Morgen fahren Sie zu Bröseltau nach Stuttgart, wo Brumerus damals übernachtet haben will.“ „Falls Bröseltau ihm jedoch die Stange hält“, überlegte der Assistent, „sieht es schlecht für uns aus. Und Bröseltau ist von Brumerus abhängig.“ „Für diesen Fall“, erwiderte der Kommissar, „werden wir in den Bungalow Speck stecken, der ihn anlocken wird, und dieser Speck ist nicht nur die Zeitspanne vom achtzehnten zum neunzehnten Oktober. Dieser Köder ist ein Kalender, der im Bungalow liegt.“ Griessbühl erinnerte sich. Er sagte rasch: „Aber der Vermerk MM fehlt auf dem Datum des Mordtags.“ 308
Groll kniff die Augen zusammen, und erst nach einer geraumen Pause sagte er bedächtig: „Natürlich! Brumerus erklärte ausdrücklich, er hätte diese Vermerke stets nach dem Besuch Margit Marahns gemacht. Doch wir werden ihn mit unserem Hinweis zum Grübeln bringen, und er wird dann nicht mehr sicher sein, ob nicht möglicherweise von ihm andere, verräterische Notizen hinterlassen wurden, falls er wirklich der zweite Mann im Bungalow war. Aber“, fügte er rasch hinzu, „erst die Zukunft wird beweisen, ob ich irre oder nicht.“ Doch der Fuchs war schlau und entschlossen; würde er in die Falle gehen? Der Kommissar hatte von Füchsen gehört, die sich ein Bein abnagten, wenn sie in ein Tellereisen geraten waren, und die lieber auf drei Läufen durch die Welt humpelten, als gefangen zu bleiben. Der hier gehörte zu dieser Sorte, davon war Groll überzeugt. Griessbühl schwieg. Er war in den Stadtverkehr geraten, die Straßen waren eng, hier wurde es gefährlich, seine Aufmerksamkeit war angespannt. „Was machen Sie mit Ihrem Flickenteppich?“ hörte er den Kommissar gleichmütig fragen. „Der Wagen“, sagte der Assistent, „den lasse ich in Bayreuth stehen. Falls sich einer findet, der mir den Lack bezahlt …“ Er machte eine leere Handbewegung; das Wägelchen war für ihn erledigt, und Groll sah es auf einem Schrottplatz oder, falls sie es dort nicht haben wollten, mit abmontiertem Nummernschild in irgendeiner Bergschlucht. Er seufzte und strich sacht über den gewellten Rand seines Sombreros, den er auf den Knien hielt. So waren die jungen Leute heutzutage, empfand er, denen fehlte es völlig an Pietät! 309
12. Am sechzehnten Oktober fuhr der Assistent im Mercedes von Nürnberg nach Stuttgart. Alles war ganz anders, als er es sich vorgestellt hatte : Die Hühnerstieg 16, wo Peter-Paul Bröseltau wohnte, war keineswegs ein Poetenunterschlupf, wie ihn Spitzweg gepinselt hatte; vielmehr war es eine schmale Villenstraße in bester Wohngegend, in der Stuttgarter Höhenlage, nahe dem Walde. Peter-Paul Bröseltau bewohnte das halbe Parterre: einen sehr großen Raum mit einem offenen Durchgang in ein kleineres Zimmer sowie ein Stückchen Korridor, von dem es in Bad und Küche abging, wie Griessbühl annahm. Die beiden Zimmer, die er sah, fielen durch dunkelgebeizte Holzregale auf, in denen Unmengen von Büchern wahllos durcheinanderstanden, ferner durch eine größere Zahl von Couches, die offenbar auch als Betten für das Ehepaar – denn Bröseltau war kinderlos verheiratet – dienten sowie als Schlaflager für Gäste und Ruhestätte für die beiden Dackel Mathilde und Mechthilde. Schließlich beunruhigten Griessbühl noch die vielen Plakate, die mit Reißzwecken an jede freie Fläche der Wand geheftet waren. Bröseltau sprach zunächst auch keineswegs über Schaffens-Probleme; dem leicht angetrunkenen Dichter war vielmehr seine permanente Darmträgheit eine viel tiefer gehende Herzenssache. Darüber redete er ausführlich mit Griessbühl. Möglicherweise rührte dieses spontane Vertrauen daher, daß Griessbühl ihm aus einer, wie er es nannte, ‚momentanen Verlegenheit‘ half. Als der Assistent an der Wohnung geklingelt hatte, hörte er nur ein ungenaues Rumoren, das er sich nicht 310
recht deuten konnte. Dann tönten drinnen Stolperschritte und eine Männerstimme, die mit den beiden Dackeln stritt. Sie drängten sich Schnauze bei Schnauze durch den Türspalt, den Bröseltau endlich geöffnet hatte. Griessbühl konnte sich zwischen den Fragen Bröseltaus und seinen vergeblichen Versuchen, den Dackeln die Schnauzen abzuklemmen, schwer verständlich machen. Schließlich ließ Bröseltau den Assistenten erschöpft in das große Zimmer ein, wo der als erstes einen umgestürzten wackligen Sessel gewahrte; ein sachter Alkoholdunst aus Bröseltaus Mund machte ihm die Situation klar. Plötzlich griff Bröseltau verzweifelt in alle Taschen. Er entschuldigte sich: Nicht einmal Zigaretten könnte er anbieten. Zwar wäre der Kiosk geöffnet, aber es mangele ihm im Augenblick an Geld. Dabei stand er endlich still, weil er Griessbühl anstarrte. Das war erstaunlich; denn Bröseltau war ein sozusagen geschwinder Mann, der umherlief, wenn er redete, der in das Regal nach einem Buche griff, um es an anderer Stelle wieder hineinzuschieben, der einen der Dackel vom Sessel jagte, um den anderen hinaufzuheben, der nach der kalten Pfeife griff, um sie in das Zimmer nebenan zu tragen und mit baren, aber beweglichen Lippen zurückzukehren und zu reden. Der Assistent förderte zwei Mark zutage und reichte sie Bröseltau, der sie unachtsam nahm und gleichzeitig von Kognak zu sprechen begann, den er ebenfalls nicht im Hause hätte, wobei Griessbühl allerdings dachte, der hätte genug davon im Magen. Trotzdem griff er nach der Brieftasche. Sofort war Bröseltau in den Flur verschwunden. Griessbühl atmete auf, erhob sich, wanderte neugierig in den Räumen umher. Auf einem der Regale entdeckte er Kriminalromane, von Bröseltau übersetzt. 311
Später, als Bröseltau über Literatur redete, war es Griessbühl nicht ganz klar, ob er übersetzte, weil ihm das Werk zusagte oder ein Verleger. Die hielt Peter-Paul Bröseltau sämtlich für Idioten, und Griessbühl konnte ihm nicht widersprechen, weil er keinen Verleger kannte. Griessbühl lümmelte auf einer Couch; er fühlte sich müde werden, er schloß die Augen, er hörte Bröseltau reden, aber er vernahm die Worte nicht mehr. Er wunderte sich nur, wieso Brumerus ausgerechnet diesen schnellzüngigen Mann zu seinem Freunde erkoren haben konnte. Er erinnerte sich auch nicht, daß Bröseltau auf diesen Namen besonders reagiert hatte, als er – angeblich gleichfalls ein Freund von Brumerus – ihn bat, hier übernachten zu dürfen, weil alle Stuttgarter Hotels belegt wären. Groll hatte ihm empfohlen, zunächst kein Verhör durchzuführen, das Bröseltau stutzig machen konnte, sondern auf unverfängliche Art sein Vertrauen zu gewinnen. Er hatte ihn, ohne zu zögern, aufgenommen; aber es kam Griessbühl so vor, als wäre das im Hause Bröseltau eine selbstverständliche Sache, möglicherweise, weil solche Übernachtungen für den Dichter eine Geldquelle für Zigaretten und Kognak waren. Zwischendurch klingelte im kleineren Nebenzimmer das Telefon; Bröseltau verschwand dann dorthin mit wehender Hand, griff den Hörer, meldete sich giftig und geriet dann in ein langes Gespräch, in dessen Verlauf er den Apparat in die Rechte nahm und so durch die Räume wandelte; denn das Telefon war mit einer überlangen Zuleitung versehen, die dem Dichter gestattete, sich in permanenter Bewegung zu halten. Nach wenigen Sätzen pflegte Bröseltau in die neuesten Anekdoten des neuesten Stuttgarter Skandals abzugleiten, und er kannte alle Skandale! 312
Allmählich schien es dem Assistenten so, als bestünde die ganze Stadt ausschließlich aus Hotel- und Schlafzimmern. So fühlte sich Griessbühl erlöst, als die Flurtür ging und Frau Bröseltau erschien. Die Szene änderte sich sofort: Bröseltau sank auf den nächsten Stuhl und berichtete maulend, daß der Geldbriefträger den erwarteten Vorschuß immer noch nicht gebracht hätte. Die Dame Bröseltau – dieser Bezeichnung bediente sich der Dichter selbst – hörte kaum hin; sie griff die Flasche und brachte sie in die Küche. Dann erst begrüßte sie Griessbühl. Illusionen über ihre Zukunft gab sie sich nicht hin. Mit geschickten Händen dividierte sie die Abendbrotzutaten durch drei statt durch zwei und schob Bröseltau die kleinste Portion hin. Zu Griessbühl gewandt, bemerkte sie, sie hätten oft Gäste, denn die private Übernachtung sei eben doch bequemer als die in einem Hotel, und sie käme wesentlich billiger. Griessbühl verstand den Wink und wußte diese Seite der Angelegenheit diskret zu erledigen. Mathilde und Mechthilde saßen rechts und links von Peter-Paul Bröseltau, und es sprach für ihn, daß er für sie mehr übrig hatte als seine Gattin. Sie dankten es ihm mit emporgewandten Köpfen und glotzenden Augen. Nach dieser Prozedur verschwand der Übersetzer mit den beiden Tieren, die ihn wehenden Ohres in Schlepp nahmen; jetzt konnte Madame in wenigen klagenden Worten auf die schwierige Situation hinweisen, der sie sich in dieser Ehe gegenübergestellt sah, denn Bröseltau möge ein guter Übersetzer sein, ein erfolgreicher sei er jedenfalls nicht; außerdem söffe er. Da wäre sie recht dankbar für intelligente Menschen, die ihre Gastfreundschaft und Diskretion zu schätzen 313
wüßten, und insbesondere Brumerus hätte ihnen schon manchen Besucher geschickt: stets interessante Leute! Klarer glaubte Griessbühl zu sehen: In dieser bohemienhaften Umgebung mochten sich Männer wie Brumerus zuzeiten wohl fühlen, mochten auch wissen, daß man ihnen keine unnötigen Fragen nach ihren Begleiterinnen stellte und mochten den Übersetzer als skurrile Attraktion mit in Kauf nehmen, zumal er sich mit einer Handvoll Zigaretten und einer Flasche Kognak leicht zähmen ließ. Er sagte: „Ja, so etwas spricht sich herum. Ich wurde ja von Herrn Brumerus auf Ihr Haus hingewiesen. Leider ist er jetzt in einer unangenehmen Lage: In seinem Bungalow ist ein Mann ermordet worden!“ Griessbühl bemerkte, daß die Dame Bröseltau ihn aufmerksam ansah. Sie sagte: „Großer Gott! Was nicht alles geschieht!“ Er lächelte. „Die Polizei“, sagte er, „wird das Haus übermorgen freigeben. Aber der Mörder hat einen verrückten Verteidiger, so kann man wohl sagen. Der glaubt, in dem Bungalow befände sich ein Hinweis darauf, daß zur Zeit des Mordes ein zweiter Mann dort war. Am Neunzehnten will er sich das Gebäude daraufhin noch einmal ansehen. Er redet immer von einem Kalender, auf dem er einen Vermerk gefunden hätte, der von Brumerus am Mordtag gemacht worden sei. Nun, wir glauben nicht daran, wir entsiegeln den Bungalow am Achtzehnten.“ Er lächelte vertraulich. „Sie wissen ja, daß Herr Brumerus im Hinblick auf Damen eine gewisse, na, sagen wir, Großzügigkeit besitzt. Er ist ein leidenschaftlicher Mann, nicht wahr?“ „Ach Gott“, erwiderte sie scheinbar gleichgültig, „die Treue ist nicht von den Männern erfunden worden.“ 314
„Stimmt“, bestätigte der Assistent. Er ließ scheinbar seine Gedanken schweifen und sagte, wie zu sich selbst, empört: „Notiz am Mordtag! Wo er bei Ihnen war und ein einwandfreies Alibi besitzt! Absurd!“ Er schüttelte den Kopf und sah die Dame Bröseltau nicht an. Sie, die Zungengewandte, äußerte sich nicht. Damit war das Thema erledigt. Griessbühl schlief in dieser Nacht ausgesprochen wohlig; vielleicht hatte ihn die völlig ungewohnte Umgebung angeregt. Aber kurz vor dem Einschlummern hörte er doch, wie die Dame Bröseltau ein langes Telefonat führte. Und es kam ihm vor, als dämpfte sie ihre Stimme auffällig. Als Griessbühl morgens aufstand, war die Dame Bröseltau schon zu ihrer Arbeit gestöckelt. Der Übersetzer selbst hockte mißmutig vor der Schreibmaschine, umlagert von Diktionärs. „Guten Morgen!“ grüßte Griessbühl und hoffte, daß jetzt der Augenblick gekommen war, von dem verschlafenen Künstler das zu erfahren, was er wollte. „Morgen!“ antwortete der Dichter. „Und als der Kommissar seinen Kopf hinter dem Schornstein hervorhob, ertönten zwei Schüsse. Nein, das ist ja blödsinnig: Kopf hervorschob, ertönten zwei Schüsse!“ Er fragte: „Wissen Sie nicht was Besseres: … ertönten zwei Schüsse, knallten zwei Schüsse – was können denn Schüsse noch tun?“ Da erst merkte der Assistent, daß Peter-Paul Bröseltau am Übersetzen war. Er sagte gleichgültig: „Peitschen vielleicht?“ „Du lieber Himmel“, entsetzte sich Bröseltau, „werden Sie nie Übersetzer!“, und er fuhr sich verzweifelt durch die spärlichen Haare. 315
Griessbühl entdeckte ein Frühstück, das für ihn bereitgestellt war, er verzehrte es; Bröseltau kümmerte sich um ihn nicht mehr. Der Assistent wollte sich von ihm verabschieden. Der Übersetzer sah mit fremden Augen zu ihm auf und sagte: „Das ist aus dem Zeitalter der Postkutsche: peitschten! Ich muß etwas für das Zeitalter des Weltraumfluges finden, das ist das Problem auch unserer Kriminalliteratur!“ „Soll ich Herrn Brumerus grüßen?“ fragte Griessbühl. „Ich werde ihn wohl in den nächsten Tagen treffen.“ „Ach was“, erwiderte Bröseltau abschätzig, „den Koofmich! Meine Frau kennt ihn von früher. Ich mag ihn nicht. Ich hab’ ihn schon seit Wochen nicht gesehen, Gott sei Dank. Vielleicht: … zerrissen die Schallmauer?“ Er sah den Assistenten zweifelnd an. „Schüsse“, sagte Griessbühl sachkundig, „zerreißen die Schallmauer nicht!“ „Schade!“ sagte Bröseltau bedauernd zu den Tasten seiner Maschine. „Guten Tag!“ sagte Griessbühl, ging und sah die Dackelschnauzen neugierig die Fensterscheibe bedrängen, da er in seinen Mercedes stieg. Er pfiff fröhlich vor sich hin, als er neben der Straßenbahnlinie 18 die Serpentinen hinunterfuhr. Sie quietschte in den Kurven gräßlich. Er überlegte, ob er noch zum Killesberg hinüberfahren sollte, um dort mit der Drahtseilbahn über den Rosengarten zu gondeln. Er entschloß sich anders; die Rosen waren ja alle verblüht. Über den blauen Himmel fuhren. schnell kleine Wolkenfedern; es war ein harter Wind aufgekommen. Griessbühl pfiff trotzdem; es war kein alter Hut in der Nähe. 316
ZWÖLFTES KAPITEL
1. Kriminalinspektor Bifferli glaubte seinen großen Tag zu erleben. Groll hatte ihn am Achtzehnten angerufen und ihn über gewisse Maßnahmen orientiert. Dieser Anruf wirkte auf Bifferli wie eine berauschende Droge. Für seine Mitarbeiter war er von diesem Augenblick an nicht mehr zu sprechen. Er gab strenge Anweisung, telefonische Anrufe nur dann durchzustellen, wenn es sich um Totschlag, Mord oder ähnliches handelte. Er reckte sich, er sagte: „Den Kleinkram werden Sie wohl auch selbst einmal erledigen können, wie?“ Dann knarzte der Schlüssel in der Tür seines Arbeitsraumes: Er hatte sich eingeschlossen. Sein Schreibtisch war bald von einer Fülle Papier bedeckt: Bogen, die Zeichnungen enthielten und Markierungen. Er durchdachte sie, er änderte. Er entwarf einen Schlachtplan. Bifferli bedauerte, daß ihm nicht noch mehr Kriminalpolizei zur Verfügung stand. Er überlegte, ob es nicht tunlich wäre, aus den Nachbarkreisen Verstärkung anzufordern. Er würde es mit diesem Groll besprechen. Sein Mittagessen daheim verlief schweigsam. Seine Frau wußte die Zeichen „Gewitterstimmung“ zu deuten; 317
sein Sohn Constantin wurde angewiesen, zu schweigen und nicht mit den Füßen gegen die Tischbeine zu schlagen.
2. Die heftigen Böen fuhren unvermittelt gegen das Auto, als wenn einer mit beiden Händen dagegendrückte. Griessbühl mußte das Steuer fest fassen; trotzdem spürte er jedesmal, wie der Wagen ein wenig aus der Spur wich. Feiner Staubregen beschlug die Fahrbahn; die Reifen hinterließen glänzende Spuren. Die Windschutzscheibe war überprickelt, und wo der Wischer nicht seinen klaren Kreissektor schlug, sah Groll wie durch Nebel. Die beiden Männer schwiegen. Dieses Mal fuhren sie zu Grolls Befriedigung auf der Bundesstraße 2. Der Kommissar wollte vermeiden, durch Zufall Brumerus zu begegnen, falls er käme. Er wollte nicht an Marahns Haus vorbeikommen, weil denkbar war, daß Brumerus sich dort ein paar Stunden wartend aufhielt. Dann glitten sie vor das Kommissariat, parkten den Wagen aber in einer Seitenstraße. Der Assistent hatte es sich angewöhnt, den Mercedes vor jeder Abfahrt und nach jeder Ankunft zu umrunden und den Stern am Kühler sanft anzutippen, so als könnte er dadurch einen Dank abstatten. Groll hatte die Geduld, ihm dabei zuzusehen; es war dies eine der wenigen Eigenheiten Griessbühls, die ihn sympathisch berührten. Als sie zum Kommissariat hinübergingen, grau überperlt von dem Nebelregen, blickte er nach den Fenstern 318
hoch, hinter denen, wie er wußte, Bifferli residierte; er seufzte, er hatte den runden Kopf hinter einer der Scheiben entdeckt. Zu seinem Assistenten bemerkte er davon nichts. Bifferli saß hinter dem Schreibtisch, als sie eintraten, und markierte Überraschung. Groll nahm davon keine Notiz, er hängte Hut und Mantel an die Haken. Danach setzte er sich Bifferli gegenüber an dessen Schreibtisch und winkte Griessbühl neben sich. Er sagte: „Ich habe Ihnen telefonisch mitgeteilt, worum es mir geht. Ich wollte Sie orientieren.“ „Sehr gut, sehr gut!“ bestätigte Bifferli und zappelte vor Aufregung, als er seine Aufmarschpläne hervorzog. „Ich habe mir diese verschiedenen Varianten überlegt. Vielleicht schauen Sie sich das einmal an.“ Die Bogen lagen auf der Tischplatte. Bifferli machte große Bewegungen. Er erläuterte. Er hob die Vorteile hervor, vermerkte die Nachteile, explizierte, daß in einem Kreise wie Berneck im Falle eines Kapitalverbrechens zuwenig geschultes Personal zur Verfügung stünde, stellte anheim, zusätzlich aus Bayreuth oder Nürnberg Mitarbeiter zuzuziehen. Seine kurzen Arme ruderten. Aus dem zu kleinen Mund schwappten die Sätze wie Wasser aus einer Gießkanne. Groll hörte sich alles schweigend an. Er verfolgte mit den Augen die Pläne. Dann endete Bifferli, setzte sich erschöpft in seinen Sessel zurück, war voll Erwartung. Groll schob die Brauen hoch und fragte Griessbühl: „Was halten Sie davon?“ Der Assistent hob nur die Schultern und ließ sie wieder fallen. 319
Der Kommissar sah Bifferli an und sagte ruhig: „Das ist auch meine Ansicht!“ Bifferli glotzte verständnislos. „Welche Variante nun bevorzugen Sie? Das habe ich nicht verstanden.“ „Keine!“ antwortete Groll und klaubte die Blätter zusammen, stieß sie zurecht und reichte sie Bifferli, wobei er erklärte: „Wenn Sie acht Katzen in einen Raum mit einem Mauseloch sperren, weil Sie die Maus fangen wollen, dann steckt die garantiert nicht den Kopf heraus!“ „Wieso acht Katzen?“ fragte Bifferli, und ein erster Ton der Empörung schwang in seiner Stimme mit. „Es können auch neun sein oder sieben“, gestand Groll zu. Bifferli saß mit geöffnetem Mund. Er tat Griessbühl zum ersten Male leid, und er sagte zu ihm: „Wir müssen unauffällig bleiben. Drei Mann, das ist alles. Sie, der Kommissar und ich!“ Bifferli lehnte sich zurück. Es fiel ihm schwer zu begreifen. Endlich stieß er hervor: „Sie akzeptieren keinen der Pläne?“ „Nein“, erwiderte Groll leise. „Keine der Varianten?“ fragte Bifferli, jetzt bereits empört. „Nein“, antwortete Groll. Bifferli stand auf. Er reckte sich, er wußte, daß er klein war. „Dann“, sagte er, „lehne ich jede Verantwortung ab! Dann“, betonte er, „weigere ich mich auch, an dem Unternehmen teilzuhaben!“ „Schade“, sagte der Kommissar, obwohl es ihm nicht leid war, „aber ich will Sie nicht dazu zwingen!“ Bifferli starrte ihn an; er hatte erwartet – wenigstens dies! –, gebeten zu werden. Griessbühl lächelte. Er wußte, wie hart es den Inspektor ankommen mußte, so leichthin beiseite geschoben zu 320
werden und auf diese Art seine brennende Neugier nicht befriedigen zu können. „Nun“, sagte Groll, „wenn es so steht, wollen wir gehen!“ Er erhob sich, zog seinen Mantel an, setzte den Hut auf und ging, gefolgt von seinem Assistenten. An der Tür wandte er sich um. „Guten Tag!“ sagte er höflich. Als sie die Straße überquerten, blickte Griessbühl zu Bifferlis Fenster hoch. Hinter den Scheiben war niemand zu sehen.
3. An diesem Tage dunkelte es sich rasch ein. Der Regen war stärker geworden; er fiel mit eintönigem Geräusch. Er war durchdringend. Groll und Griessbühl hatten in dem Speiseraum des Hotels zu Abend gegessen; jetzt saßen sie untätig und schweigsam. Groll blickte flüchtig auf die Uhr. Er sagte: „Wir wollen gehen.“ Er zahlte. Griessbühl zögerte bei seinem Mercedes; aber der Kommissar sagte: „Natürlich fahren wir!“ Sie stiegen ein und fuhren los. Die Strähnen des Regens schossen schräg und silbern durch die Scheinwerfer auf sie zu. Griessbühl fröstelte. Er stellte die Heizung an. „Wir parken hinten im Wald. Wir dürfen vom Bungalow aus nicht zu sehen sein!“ ordnete der Kommissar an. Griessbühl befolgte den Befehl. Er löschte alle Lichter und ließ nur das kleine, nachträglich angebrachte Ohr an, das, rot und weiß, im Wasserfall des Regens fast verging. Groll hob aus dem Kofferraum das ungeschickt verschnürte Paket, das er zum Erstaunen Griessbühls mitgeschleppt hatte. Der Assistent nahm es ihm ab. 321
Der Kommissar stieß die Gartenpforte auf. Sie schritten über den Kies, der laut mit den Zähnen knirschte. Von der Tür riß Groll das amtliche Siegel.
4. In jenem Raum, in dem der erschossene Altbauer gelegen hatte, knipste Groll jene kleine Tischlampe an, die offensichtlich von Brumerus für besondere Stimmungen benutzt worden war; sie spendete nur geringes Licht, und die Schatten waren unwirsch und groß. Der Kommissar ließ in dem Bungalow große Vorsicht walten. Die Stablampe hatte er so dicht an das Schlüsselloch gehalten, daß von ihrem Schein kaum etwas zu sehen gewesen war, die Vorhänge hatte er genau geprüft, ehe er das Lämpchen anknipste. Währenddessen stand Griessbühl mit dem ungeschlachten Paket an der Tür und sah dem Kommissar verwundert zu. Der rückte einen Sessel an den Schreibtisch, trat die paar Schritte zurück bis zu jenem Fenster, durch das seinerzeit geschossen worden war, und prüfte die Stellung. Dann baute er auf diesen Sessel Kissen und Decken, und endlich winkte er den Assistenten herbei. Er nahm ihm das Paket ab, legte es auf den Fußboden, kniete nieder und löste die Verschnürung. Er schlug das knisternde, braune Packpapier zurück. Griessbühl sah Kleidungsstücke und den Oberkörper und Kopf einer Puppe, wie sie zu Schaufensterdekorationen benutzt werden. Er kniff die Augen zusammen; er öffnete sie wieder, und da erhob sich der Kommissar schon und begann dies alles auf dem Sessel anzuordnen; es verrutschte, es fiel 322
wieder auseinander, aber Groll hatte Geduld, und schließlich entledigte er sich seines Mantel, seines Hutes und fügte das der Gestalt bei, die unter seinen Händen entstanden war. Nun erst sah er Griessbühl an, und als er das tat, zuckte es kaum merklich in seinen Mundwinkeln. Er bedeutete dem Assistenten, der mit völliger Verständnislosigkeit zugesehen hatte, seinerseits an jenes Fenster zu treten, und er stellte die Tischlampe ein wenig anders. Das Gesicht der Puppe war jetzt verschattet. Griessbühl hob die Hand an die Schläfe: Ja, es war Groll, der dort saß! Ein Groll aus Kissen und Decken, ein Schaufensterpuppen-Groll, doch bekleidet mit Mantel und Hut wirkte er echt, sah aus wie vertieft in eine Arbeit, und das erst recht, als der Kommissar seinem Ebenbilde ein Buch auf die Schreibtischplatte vor die blinden Augen schob.
5. Ein unsichtbarer Schnitter mähte Schwaden auf Schwaden, den Regen, der rauschend in den Garten fiel. Groll und Griessbühl standen nicht weit voneinander entfernt, gegen den Weg durch Sträucher gut gedeckt. Wäre im Bungalow noch Licht gewesen, hätte der Assistent gerade noch durch das Mordfenster blicken können, von dem der Kommissar den Vorhang zurückgezogen und das er einen Spalt geöffnet hatte, genauso wie damals. Plötzlich sah Griessbühl Scheinwerfer. Ein Wagen fuhr langsam auf der Straße heran und entfernte sich noch zögernder wieder. 323
Griessbühl spürte unvermutet Groll neben sich. Der hauchte ihm zu: „Passen Sie auf! Der könnte es sein!“ Und schon war er wieder verschwunden. Jetzt galt es, mit doppelt feinem Gehör zu lauschen: die Schritte, die Schritte im Kies. Doch da war es Griessbühl, als taste fern im Regen, undeutlicher noch durch das Schwanken der leeren Gerten und Zweige der Sträucher, das Licht des Autos zur Wende, und wenig später stellte er fest, daß der Wagen tatsächlich umgedreht hatte und wieder die Straße zum Bungalow zurückfuhr. Das verstärkte seinen Verdacht. Offensichtlich hatte der Unbekannte sich nur vergewissern wollen, ob hier etwas vorging oder ob tatsächlich jene freie Spanne zwischen der Entfernung des Siegels und dem Besuch Metzendorfers entstanden wäre. Griessbühl blickte um sich; er vermochte Groll nicht zu sehen. Der Wagen fuhr langsam, der Motor war kaum zu hören. Es schien, als würde er nach links gelenkt; denn für Sekunden war die Eingangspforte zum Bungalow in vollem Scheinwerferlicht. Doch plötzlich wurde Gas gegeben, das Auto verschwand sehr schnell, und Griessbühl hatte den Eindruck, als wäre auf Standlicht umgeschaltet worden; er konnte jedoch auch irren. Jedenfalls war danach nichts mehr zu sehen oder zu hören. Eigentlich wartete der Assistent darauf, daß Grolls Stimme wieder vernehmbar wurde; aber es blieb alles stumm, nur die Regenschwaden sanken, rauschend und rauschend, über Bungalow und Garten, und der Kies knirschte nicht mit den Zähnen. Der Assistent fröstelte wieder. Groll mußte sich getäuscht haben; es erschien niemand. 324
6. Dem Assistenten kam es vor, als wären Stunden vergangen. Er spürte sich auf Groll zornig werden, der ihn hier auf verlassenem Posten ausharren ließ, einer Grille wegen. Plötzlich reckte sich Griessbühl; ihm war es, als hätte er in dem Zimmer des Bungalows ein leises Geräusch gehört. Aber der Regen schnürte durch sein Gehör, und doch … Er bog die Zweige des Strauchs behutsam auseinander, hinter dem er Deckung gefunden hatte. Griessbühl überkam ein eigenartiges Gefühl Was um ihn war, schwamm weg. Seine Nerven schienen zu vibrieren. Laut klatschte eine Regenbö. Da war wieder das Geräusch, deutlicher. Es klang, als würde eine Tür geöffnet. Der Assistent wußte nicht, was zu tun wäre. Sollte er Groll anrufen? Sollte er zum Bungalow hinüberspringen? Er biß sich auf die Unterlippe, er spürte Schmerz und den faden Geschmack des Blutes. In dieser Sekunde sah er die Deckenbeleuchtung aufleuchten und hörte gleich darauf Schüsse von der Tür her, die aus dem Zimmer des Bungalows nach dem rückwärtigen Garten ins Freie führte. Das Phantom sank über den Schreibtisch, und völlig unerwartet richtete sich genau unter dem Fenster Grolls Gestalt auf. Griessbühl sah den Kopf, die Schultern des Kommissars gegen das helle Rechteck, er hörte ihn heiser schreien: „Halt! Halt! Ich schieße!“ Die Tür knallte zu. Groll schoß wirklich, Holz splitterte. Dann verschwand der Kommissar vom Fenster. Griessbühl hörte ihn durch den Garten, durch das Gebüsch stürmen, er hörte ihn rufen, er stürzte ihm nach. 325
Er rannte jetzt dicht hinter dem Kommissar, dessen schweren Atem er bestürzt vernahm, er feuerte ein paarmal in die Luft. Sie liefen über das Nachbargelände, und ihm war klar, daß der Fremde, wer immer er sein mochte, eben nicht den Weg über den knirschenden Kies gewählt hatte, sondern daß er sich von der Rückseite her dem Bungalow genähert hatte und von dort in das Zimmer eingedrungen war. Er spürte Angst, daß ihnen dieser Unbekannte entkommen könnte; denn er hatte genügend Vorsprung gewonnen, er war nicht mehr zu sehen, aber im stürzenden Rennen vernahm er plötzlich einen anschwellenden, aufheulenden Motor. Zu sehen war nichts. Fast im gleichen Moment blieb Groll so unvermittelt stehen, daß Griessbühl auf ihn rannte. Der Kommissar achtete darauf nicht, er schrie ihm zu: „Zurück, zurück! Zum Mercedes! Los, Griessbühl, los!“ Und wieder rannten sie, und der Regen stürzte über sie hin, die Gerten der Sträucher peitschten ihre Gesichter, und endlich erreichten sie den Wagen, Griessbühl ließ ihn an, die Scheinwerfer flammten auf, der Assistent wendete und fuhr die Straße nach Berneck zurück und hörte neben sich den keuchenden Atem des völlig erschöpften Kommissars. „Wohin?“ schrie Griessbühl. Er schrie, obwohl Groll neben ihm saß. „Durch Berneck!“ kam die Antwort. Und dann stürzten Häuser, Verkehrsschilder, Menschen grell in die Scheinwerfer und verhexten sich gleich darauf in das Nichts – es war Griessbühls wahnwitzigste Fahrt. Während die Reifen schrien, Steine gegen die Karosserie knallten und er das Steuer mit beiden Händen 326
hielt und die Kurven nahm, hörte er den Kommissar: „Er ist – links an Berneck -. vorbei. Er will – zur Autobahn. Er – kommt von links. Kurz vorher, da mündet seine Straße in unsre. Fahren Sie schneller, Griessbühl, fahren Sie wie der Teufel! Wir können ihn noch erwischen!“ Und Griessbühl fuhr, er hatte den Ort hinter sich gelassen, der Wagen glitt die Straße empor, vorbei an der Villa Marahn, hinein in die Wälder. Kurz vor der Autobahn, dort, wo die andere Straße, die Berneck umgeht, einmündet, befahl der Kommissar dem Assistenten zu halten. Griessbühl lenkte den Wagen scharf rechts vor ein Gebüsch. Die beiden Männer stiegen aus, die Pistolen in der Hand. Jetzt erst bemerkten sie, daß der Regen aufgehört hatte. Es war still um sie, nur in den Baumwipfeln rauschte der Sturm. Sie gingen mit schnellem Schritt bis zur Einmündung, und dort postierten sie sich rechts und links der Straße.
7. Der Mann, der jenen Wagen fuhr, hatte vorsichtig nur das Standlicht angeschaltet. Er hatte das Tempo vermindert, er war sicher, nicht mehr verfolgt zu werden. Hügelan hatte er die Straße, auf der er gekommen war, weit überblicken können; es war auf dieser Seitenstraße kein Wagen zu erkennen gewesen. Vermutlich hatten sie ihr Auto in Berneck geparkt. Er hatte keins gesehen, als er am Bungalow vorbeifuhr. Aber selbst, wenn sie es irgendwo versteckt gehabt hätten: Es würde zu lange dauern, bis sie es erreichten, sie würden ihn nie einholen können. 327
Immerhin stellte er in Rechnung, daß sie ihn an jener Einmündung erwarteten; er hielt es nicht für wahrscheinlich; denn falls sie ihn durch Berneck verfolgten, war das mit großem Zeitverlust verbunden, in dem kleinen Städtchen gab es gefährliche Kurven. Außerdem würden sie sich um den Kommissar kümmern müssen; er hatte gesehen, wie der zusammengesackt war; er hatte das Ziel nicht verfehlt. Das freilich gab keine Genugtuung! Er hätte nicht schießen sollen. Es war das einzige Indiz, das sie hatten, so meinte er, und es war auf keinen Fall widerlegbar. Er tastete nach der Pistole, die er auf den Sitz des Beifahrers geworfen hatte. Notfalls würde er sie gebrauchen! Er beugte sich vor und versuchte, zwischen den Tannenwipfeln den Himmel zu erkennen; er war bedeckt. Das erleichterte ihn. Er fürchtete, die Wolken würden aufreißen, es war Neumond, das wußte er. Dann wäre er preisgegeben gewesen – eine schöne saubere Zielscheibe. Und dieser Bursche, dieser Griessbühl, sah ganz so aus, als ob er sein Ziel zu treffen gewohnt war. Er kniff die Augen. Gleich mußte die Stelle kommen, die einzige, die er für gefährlich hielt! Hier ging der Weg leicht bergab. Er zögerte; dann entschloß er sich, den Gang herauszunehmen und den Motor abzustellen. So lief der Wagen fast lautlos die Straße hinunter. Er wünschte so sehr, daß es jetzt noch so gösse wie kurz zuvor. In diesem Augenblick erkannte er auf dem kaum erhellten Band der Straße eine Gestalt mit breit erhobenen Armen. Da wußte er, daß sie schneller als er gewesen waren. Er stellte den Motor an, schob den Gang hinein, gab Gas, schaltete und schaltete wieder, riß in derselben Se328
kunde die Scheinwerfer auf und warf den Wagen mit aller Gewalt gegen das menschliche Ziel, duckte und krümmte sich sogar, als könnte er dadurch die Bewegung beschleunigen, hielt mit der Linken den Lenker, griff mit der Rechten nach der Pistole … Da sah er den Toten! Groll stand da, den er getroffen hatte, das Gesicht ihm zugewandt, die Augen weit aufgerissen. Er zuckte zusammen, der Wagen schleuderte, die Gestalt vor ihm sprang beiseite; er rutschte hinein in die Kurve und spürte, wie die Hinterräder nach rechts wegglitten und der Lenker ihm nicht mehr gehorchte. Im selben Moment hörte er den Schuß und fast gleichzeitig den Knall des zerplatzenden Reifens. Vor sich sah er Gestrüpp; er riß die Hände vom. Lenkrad; der Wagen sprang in den Wald. Das Blech knirschte gräßlich, als der Baumstamm in den rechten Scheinwerfer fuhr. Als Groll und Griessbühl in halbem Lauf sich dem Wrack näherten, dessen linke Räder handspannenhoch über dem Erdboden in die Luft ragten, erlangte Brumerus das Bewußtsein wieder. Da er die Pistolenläufe auf sich gerichtet sah, hob er benommen die Hände.
8. So hatte Bifferli an diesem Abend doch noch zu tun bekommen. Er durfte das Wrack abschleppen lassen und den Verhafteten in seine Obhut nehmen. Er tat es mit Würde. Zu dieser Zeit saßen Groll und Griessbühl erschöpft in der Villa Marahns. Der Assistent rauchte hungrig eine Zigarette, und Margit Marahn hatte sich, nachdem sie 329
den beiden Männern Kognak hingestellt hatte, in das Halbdunkel des Zimmers zurückgezogen. Es wurde ihr schwer, ihre Bewegung zu bändigen, nachdem sie das knappe Telefonat des Kommissars mit Metzendorfer angehört hatte. Er hatte dem Anwalt mitgeteilt, er werde morgen die vorläufige Freilassung Marahns durchsetzen, gegen den nach den neuesten Ermittlungsergebnissen kein Mordverdacht mehr bestehe. Und hinsichtlich des Mordversuchs sei auf jeden Fall zu erklären, daß weder Verdunkelungs- noch Fluchtverdacht vorlägen. Groll hatte die Augen fast geschlossen; er war entsetzlich müde und fühlte sein Alter. Er sagte: „Heute kann ich mir genau vorstellen, Griessbühl, wie das verlaufen ist. Als sich herausstellte, daß für dieses Bauunternehmen, bei dem Millionen verdient werden konnten, eine Befürwortung des Ministers notwendig war, überlegte Brumerus, der bei allen Plänen Altbauers dabei war, wen er einschalten könnte, und verfiel auf Hebsacker. Dessen Beziehungen zum Minister waren ihm bekannt. Dafür mußte aber Hebsacker einen entsprechenden Geschäftsanteil erhalten; denn auch der Minister wollte zweifellos an dem Unternehmen verdienen. Wen konnte man hinauswerfen? Sebastian nicht, das war ein alter Hase, und hinter ihm standen Beziehungen. Wohl aber Altbauer, den Mann, der die Gründung eigentlich angeregt hatte. Das war ein Abenteurer, zudem war er in Frankreich. So wurde der neue Gesellschaftsvertrag entworfen, in dem der Name Altbauer nicht mehr zu finden war. Das war das Dokument, das Altbauer in Frankfurt unter die Nase gehalten oder vielmehr vorerst verheimlicht wurde. Darüber sollte mit ihm Hebsackers Kronjurist Wildenfall verhandeln. 330
Voller Wut – und das läßt sich verstehen – suchte Altbauer den Hebsacker heim; aber der ließ ihn ablaufen, der stieß ihn aus der Jacke, und wie zum Hohne war Altbauer, der die Millionen schon in seiner leeren Tasche gesehen hatte, gezwungen, unbrauchbare Fotos an Hebsackers Zeitung zu verkaufen. Selbstredend gab er nicht auf. Er wollte Brumerus beim Wickel kriegen, der ihm diese üble Überraschung bereitet hatte. Und der schleifte ihn hier nach Berneck in seinen Bungalow. Er wollte ganz einfach unter vier Augen mit ihm sprechen, wollte ihn kleinkriegen.“ Groll hörte im Halbdunkel eine unbestimmte Bewegung; er wußte, das war die Frau. Der Kommissar kümmerte sich darum nicht, sondern fuhr fort: „Brumerus war geschäftlich am Ende. Er hatte sich in riskante Unternehmungen eingelassen, und diese Baugeschichte sollte seine Rettung werden. Für ihn war es eine zwingende Notwendigkeit, daß Altbauer ausstieg, denn nur dann konnte er Hebsacker hineinnehmen und die ministerielle Befürwortung bekommen.“ Er unterbrach sich und wandte sich an Griessbühl: „Geben Sie mir eine Zigarette, ja?“ Er zündete sie an, zog den Rauch tief ein und sagte dann: „Das ist ohne Zweifel hart auf hart gegangen. Altbauer konnte an Brumerus die gleiche Forderung stellen und hat sie sicherlich gestellt: Steige du aus! Lasse du dich entschädigen! Und beide wußten, die Entschädigung würde nur eine Bagatelle sein. Das, Griessbühl, war jene angebliche Radiostimme, die in einer Wirtschaftssendung ertönte: Einer der beiden rechnete dem anderen irgendwelche Gewinne vor!“ Er schwieg und sprach erst weiter, als im Dämmer keine Bewegung mehr hörbar war. 331
„Da setzte die private Tragödie ein. Marahn kam an das Fenster und schoß. Er verfehlte sein Ziel. Diese erste Kugel haben wir nicht gefunden, weil sie unglücklicherweise durch die geöffnete hintere Tür des Zimmers ins Freie ging. Ich hatte bei den Wagenspuren in der Garage tatsächlich gestutzt, aber das Alter solcher Lehmspuren läßt sich kaum bestimmen, und da wir nur eine Kugel hatten, ließ ich den flüchtigen Verdacht sofort wieder fallen. Marahn rannte in Panik weg, in der Annahme, er habe Brumerus erschossen. Der aber lief aus dem Bungalow bis an die Gartenpforte und kam zurück. Ihm war gleich klar, wer das Attentat ausgeführt haben müßte, er hatte in Berneck nur einen einzigen Mann, der Grund dafür hatte und auch entschlossen genug war, zu einem bestimmten Zeitpunkt so zu handeln. Bis dahin hatte Brumerus keineswegs die Absicht, gegen Altbauer ernstlich etwas zu unternehmen; im Grunde war er auf dessen guten Willen oder dessen Schwäche angewiesen, er hatte ja gar keine Waffe gegen ihn in den Händen.“ Der Kommissar atmete tief auf. Er sah die Szene vor sich. Er sagte: „Die Waffe fand er an der Gartenpforte. Es war die Pistole, mit der Marahn geschossen hatte. Und dann sah er selbst durch das Fenster. Er sah Altbauer, und er wußte, wenn der getroffen worden wäre, wäre er selbst alle Sorgen los. Es muß die Sache eines Augenblicks gewesen sein, in dem ihm gleichzeitig klar war, daß ein Mord an Altbauer mit größter Wahrscheinlichkeit auf Marahns Konto kommen würde. Er schoß und traf.“ Groll drückte die Zigarette heftig im Ascher aus. „Ja“, sagte er, „ich werde alt. Ich habe diese Möglichkeit auch dann noch nicht gesehen, als Metzendorfer uns nachwies, daß noch eine zweite Person im Bungalow gewesen sein mußte. 332
Brumerus ließ sich Zeit. Er nahm nicht an, daß Marahn Anzeige gegen sich selbst erstatten würde, das konnte sich dieser Mann wieder nicht vorstellen! Er beseitigte alle Spuren, die zur Erkennung Altbauers führen konnten, einfach, um Zeit zu gewinnen. Dann informierte er die örtliche Polizei, setzte sich in den Wagen und fuhr nach Stuttgart zu dem versoffenen und verkommenen Bröseltau, von dem er mit einigem Recht annahm, daß der jedes Alibi gegen eine Flasche Kognak beschwören würde. Von dort meldete er sich empört, als die Presse seinen Namen erwähnte. Man muß zugeben: eine raffinierte Kombination. Und eigentlich hat er nur einen Fehler gemacht: In dem Bestreben, möglichst harmlos und freundlich zu wirken, nahm er auf der Rückfahrt Metzendorfer mit, dessen Wagen hier brachlag. Und aus Metzendorfers Bericht, den der auf Ihren Wunsch, Griessbühl, so detailliert gab und den Sie niederschrieben, erkannte ich die ersten Unstimmigkeiten, die mich stutzig machten.“ Er sah den Assistenten an und versuchte ein Lächeln; denn er wollte ihm sagen, daß die Aufklärung dieses Falles eigentlich auf ihn zurückzuführen war. Er sah, daß Griessbühl nicht mehr rauchte, sondern sich gespannt vorgebeugt hatte. „Also“, sagte er da, „der Tankwart hatte nach seinen Äußerungen Brumerus offenbar vor kurzem gesehen, als der mit Metzendorfer zurückfuhr und tankte. Es ging da um diese Verschlußkappen. Brumerus versuchte das zu verschleiern, indem er bemerkte, er hätte auf der Herfahrt von Stuttgart bereits getankt. Aber von der Tankstelle zum Bungalow und zurück sind es weniger als vierzig Kilometer, Brumerus tankte jedoch achtzehn Liter, und er hatte die Angewohnheit, voll zu tanken, drückte sogar das Heck des Wagens noch herun333
ter! Diese Angabe konnte also nicht stimmen. Um sicherzugehen, haben wir sie sogar nachgeprüft. Der zweite Fehler unterlief ihm, als er von der Durchsicht des Wagens sprach. Er betonte, daß er in dieser Hinsicht peinlich genau wäre. Aber nach der fälligen Durchsicht waren bereits über tausend Kilometer verfahren, während die Strecke München-Stuttgart-Berneck, die er zurückgelegt haben wollte, tatsächlich nur knapp fünfhundert betrug. Das wurde durch Ihre Einsichtnahme in den Prüfungsabschnitt beim Borgward-Dienst in München bestätigt, Griessbühl!“ Groll lehnte sich wieder zurück. Langsam fühlte er sich entspannt. Er hob die Hand. „Das Rätsel löst sich sofort, wenn Brumerus von München mit Altbauer in seinen Bungalow fuhr, nach dem Mord Stuttgart aufsuchte und von dort wieder zurückkam. Dann stimmten die Kilometer genau, dann stimmte auch, daß der Tankwart ihn kurz vorher gesehen hatte, nämlich auf der Fahrt von Berneck nach Stuttgart, dann hat er tatsächlich achtzehn Liter Benzin benötigt! Man konnte also schon aus diesem Bericht gewisse Rückschlüsse ziehen. Allerdings waren sie nicht zwingend. Brumerus konnte Ausflüchte gebrauchen, wir hatten die Pistole nicht gefunden, und Bröseltau oder seine Frau konnten die Anwesenheit von Brumerus in Stuttgart beeiden. Selbst wenn das nicht der Fall gewesen wäre, hätten unsere Indizien nicht genügt. Wir hatten weder die Pistole, noch hatten wir die zweite Kugel, und auf dem Kalender war an diesem Tage MM, also Margit Marahn, nicht vermerkt. Ich mußte es also wagen, eine Falle zu stellen. Das war einmal der Zeitraum vom Achtzehnten zum Neunzehnten, den Sie selbst angegeben hatten. Und der Köder 334
war die Äußerung über den Kalender, die Herr oder Frau Bröseltau umgehend an Brumerus weitergaben. Das hatte ich einkalkuliert. Und ich hatte damit gerechnet, daß Brumerus unsicher werden würde, ob er an diesem Tage das MM notiert hätte oder nicht. Es ging auch für ihn alles durcheinander. Sicherheitshalber, so nahm ich an, würde er kommen, um den Kalender an sich zu nehmen. So ist es geschehen. Daß er, überrumpelt, auf mein Phantom schoß, war unser Glück. Daß es die Pistole war, die uns als Beweisstück fehlte, läßt ihm überhaupt keinen Ausweg mehr. Sonst hätte er immer noch behaupten können, unter einem Schock gehandelt zu haben und aus dem Bungalow geflüchtet zu sein. Die zweite Kugel hatten wir nicht gefunden.“ Griessbühl sah den Kommissar fragend an. „In der Beziehung“, sagte Groll, „hatte Brumerus Glück. Sie haben ja am Fenster gestanden und in das Zimmer geschaut, Griessbühl. Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß die hintere Tür sich fast genau in der Schußlinie in Richtung Schreibtisch befindet? Die Tür muß offengestanden haben, Marahns Kugel, die ihr Ziel verfehlte, ist ins Freie gegangen.“ Groll griff nach einer zweiten Zigarette. Er sagte: „Der Mummenschanz diente lediglich dazu, niemanden zu gefährden. Außerdem sollte der Täter verblüfft werden, ausgerechnet den alten Groll vorzufinden. Beinahe wären wir doch noch überlistet worden. Entgegen meinen Erwartungen nahm Brumerus nicht den Weg wie beim Mord, sondern schlich sich klugerweise von der Rückseite in den Bungalow. Na ja“, schloß er und tötete die Zigarette vorzeitig im Ascher, „wir haben trotzdem Glück gehabt.“ 335
Er stand unvermittelt auf und sagte in das Halbdunkel hinein : „Und Sie auch, gnädige Frau, ich möchte sagen: ein unverdientes Glück. Gute Nacht!“ Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er zur Tür und verließ den Raum, Griessbühl sah sich gezwungen, ihm zu folgen. Margit Marahn geleitete sie nicht aus dem Haus.
9. „So ist das“, sagte Groll müde, als er neben Griessbühl im Mercedes saß und sie der Gartenpforte zuglitten. Dort wollte Griessbühl nach der Autobahn abbiegen, aber Groll bat: „Nein, fahren Sie zum Bungalow. Ich muß mir das Schlachtfeld noch einmal ansehen. Zur Erinnerung sozusagen.“ Sie durchfuhren das schlafende, schweigende Berneck. Nur im Kommissariat brannte im Zimmer Bifferlis noch Licht, und Griessbühl mußte lächeln, als er es bemerkte. Später parkte er vor dem Bungalow. Sie stiegen aus. Wieder knirschte der Kies laut mit den Zähnen. Groll öffnete die Tür. Sie traten ein. Er ließ jetzt die Deckenbeleuchtung aufflammen. Der Anblick, der sich bot, machte Griessbühl frösteln. Die Puppe war noch mehr in sich zusammengesunken. Sie lag jetzt mit dem Gesicht auf dem Tisch. Der Hut war nach vorn gerutscht, die Schultern waren zusammengesackt. Es sah tatsächlich aus, als läge der Kommissar erschossen an diesem Schreibtisch. Auch Groll mußte das empfinden; denn er blieb lange reglos stehen, ehe er leicht aufseufzte, zu der Puppe ging, ihr den Hut abnahm und ihn Griessbühl hinhielt. 336
Der Schuß hatte gesessen; der Hut wies zwei runde, brandige Löcher auf. „Unbrauchbar“, sagte der Kommissar, „alt und unbrauchbar.“ Er warf den Hut mit einer schlenkernden Bewegung in eine Zimmerecke, aber Griessbühl schien es, als wäre dabei in seinen Augen Trauer. „Tja“, setzte er hinzu, „weiß der Himmel, Griessbühl, was noch daraus wird. Der Skandal wird den Minister erzürnen, fürchte ich, und ein alter Kommissar ist leicht abzuschießen! Kommen Sie, jetzt fahren wir heim!“
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Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten 1. Auflage • 1971 Verlag Das Neue Berlin, Berlin Lizenz-Nr.: 409-160/27/71 • ES 8C Lektor: Wolfgang Schütze Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Ebook by *MM*