HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/6606 Titel der Originalausgabe MAGIC THE GATHERING™ TAPESTRIES Übersetzung aus ...
30 downloads
600 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/6606 Titel der Originalausgabe MAGIC THE GATHERING™ TAPESTRIES Übersetzung aus dem Amerikanischen von Birgit Oberg Das Umschlagbild malte Steve Crisp Redaktion: F. Stanya Copyright © 1995 by Wizard of the Coast, Inc. Erstausgabe bei HarperPaperbacks A Division of HarperCollinsPublishers, New York Copyright © 1996 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1996 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Technische Betreuung: M. Spinola Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Presse-Druck, Augsburg ISBN 3-453-10959-7 INHALT
KATY ICE
ZUM GELEIT............................................. 8 VORWORT............................................... 9 CARLA MONTGOMERY
DER FLUG DER DIEBIN.............................. 12 (THIEF'S FLIGHT) MICHAEL A. STACKPOLE
NAMEN SIND SCHALL UND RAUCH........ 35 (WHAT'S IN A NAME?) HANOVI BRADDOCK
VOM MESSINGMANN, DER VERSINKEN WOLLTE................................................... 67 (THE BRASS MAN WHO WOULD SINK) S. D. PERRY
DIE ERBSCHAFT........................................ 82 (INHERITANCE) MARK SHEPERD
AUF DER SUCHE NACH TARADOMNU.......... 101 (GATHERING THE TARADOMNU) BEN OHLANDER
RAUCH UND SPIEGEL............................... 141 (SMOKE AND MIRRORS) MICHAEL SCOTT
DAS LICHT IM WALD................................ 163 (THE LIGHT IN THE FOREST) DAVID M. HONIGSBERG
DOCHYELS SCHLITTENFAHRT............... 180 (DOCHYEL'S RIDE) BRUCE HOLLAND ROGERS
DAS HERZ VON SHANODIN..................... 205 (HEART OF SHANODIN) M. C. SUMNER
IN DER FALLE........................................... 248 (ANIMAL TRAP) BILLIE SUE MOSIMAN
DER RAUB DER BAYENDE....................... 263 (THE THEFT OF BAYENDE, HEART AND SOUL) CYNTHIA WARD
DIE QUELLEN DES MANA........................ 286 (WELLSPRING) MORGAN LLYWELYN
DRYADENKUSS.......................................... 306
(DRYAD'S KISS) S. M. STIRUNG
DAS KLAGELIED....................................... 316 (THE LAMENT) DAVID DRAKE
DER LUFTANGRIFF.................................... 334 (AIRBONE ALL THE WAY!) PETER FRIEND
MEHR ALS NUR EINE KLEINE GRÜNE WELT?.......................................... 350 (NOT JUST ANOTHER GREEN WORLD?) SONIA ORIN LYRIS
ALLES HAT SEINEN PREIS....................... 363 (THE GOING PRICE) DANKSAGUNG Ich möchte an dieser Stelle verschiedenen Teams der ›Wizards of the Coast‹ für ihre Hilfe und Unterstützung danken. Meinen ›Schmierzettellesern‹: Julie Campbell, Shaw Michaels, Sue Mohn, Gene Romaine und JoAnn Wonderly.
Meinem ›Anthologie-Kommando‹: Casey Brebbermann, Maria Cabardo, Ellie Haguel, Beverly Marshall Saling und Vic Wertz. Und natürlich Janna Silverstein - Kollegin, Mentorin und Verlagsgöttin. Danke, Freunde, ohne euch hätte ich es nicht geschafft! KATHY lCE: ZUM GELEIT Im Sommer 1993 lernte ich ein seltsames kleines Kartenspiel namens Magic: Die Zusammenkunft kennen. Es ging mir wie vielen anderen auch, ich war sofort fasziniert - nicht nur von dem Spiel, sondern auch von den fesselnden Einblicken in eine fremde Welt, die Dominia genannt wird. Durch die Sammlung dieser Geschichten hoffe ich, diese Einblicke ein wenig vertiefen zu können, um Magic-Fans und auch Fantasy-Lesern ein deutlicheres Bild der Dominia-Welten vermitteln zu können. Die Begeisterung der Autoren für dieses Projekt war überwältigend, und die daraus entstandene Anthologie übertrifft unsere sämtlichen Erwartungen. Jede Geschichte bietet eine einzigartige Ansicht der Bewohner, Kreaturen und der Magie von Dominia.
Wir beabsichtigen hiermit nicht, ein MagicSpiel nach dem anderen nachzuvollziehen. In keiner Geschichte kommt ein Magierduell vor obwohl die Folgen dieser Duelle oftmals erwähnt werden -, vielmehr handelt es sich um FantasyGeschichten, die auch jenen Lesern gefallen werden, die Magic noch nicht kennen. Ich bin stolz darauf, bei der Entstehung eines so fantastischen Buches mitgewirkt zu haben. Ich hoffe, daß Sie die Geschichten mit ebenso großem Vergnügen lesen werden wie ich. VORWORT Nimm eine Welt, gib ihre Grundelemente auf Karten wieder; misch die Karten und verteile sie an die Spieler«, lautete eine der ersten Beschreibungen, die ich Peter Atkinson zum Konzept der ›Sammelkartenspiele‹ gab. Dies ist eine Sammlung von Geschichten, die in der ersten dieser Welten ihren Platz haben. Dieser Weg verläuft entgegensetzt zur üblichen Methode, bei der eine Welt durch Geschichten erforscht und vielleicht später einmal in ein Spiel verwandelt wird. Eigentlich ist Dominia gar keine einzelne Welt, sondern besteht aus ein paar locker miteinander verbundenen Welten. Das ergibt einen guten Hintergrund für Geschichten, denn
sobald man die Grundregeln verstanden hat, die für alle Welten von Dominia gelten, kann man eine Welt für eine Geschichte kreieren. Dadurch wird die Welt des Kartenspiels in den Erzählungen auf angenehme Art nachempfunden; es gibt eine Unmenge von Orten und Charakteren, und die Autoren können nach Belieben davon Gebrauch machen. Auf lange Sicht bleiben die beliebten Motive erhalten, und die unbeliebten wandern auf den Friedhof. Die Anwendung von Magie in Dominia ist detailliert genug, um einige darauf bezogene interessante Geschichten zu schreiben. Damit meine ich nicht, daß man einen Untotenzauber anwendet, dann Scheherazade spielt und später Marufs Ring benutzt, um den Untoten zurückzuholen, oder irgendwelche anderen Spielkombinationen nachvollzieht. Ich spreche von den Beziehungen der verschiedenen Magiearten untereinander. Hier steht nicht nur Gut gegen Böse, sondern auch Leben gegen Tod, Ordnung gegen Chaos, Künstliches gegen die Natur und Gedanken gegen Materie. Es handelt sich um klassische Dichotomien; und die charakteristischen Merkmale der Magie eröffnen uns neue Methoden, um sie zu erforschen. Ich persönlich bevorzuge Science Fiction im Gegensatz zu Fantasy, insbesondere wenn es um
Kurzgeschichten geht. In erster Linie liegt es wohl daran, daß die gemeinsame Welt der Science-Fiction-Autoren - normalerweise unsere eigene Welt - so klar definiert ist, daß ich mich schnell damit identifizieren kann. Oftmals empfinde ich die Fantasy-Welten als zu unfaßbar, als daß sie ansprechend wirken könnten. Ich habe das Gefühl, daß der Autor oder die Autorin einfach alles aus seinem oder ihrem Hut zaubern kann, und alles daher etwas schwammig wirkt. Meine liebsten FantasyKurzgeschichten sind die Erzählungen aus der Reihe ›The Magic Goes Away‹ von Larry Niven (für die ich ›Nevinyrrals Wunderscheibe‹ gemacht habe). Ich glaube, das liegt daran, daß er relativ einfache Regeln für seine Welt festgelegt und damit auf verschiedenen Wegen gearbeitet hat, ähnlich wie in seinen ScienceFiction-Erzählungen. Auf jeden Fall ist die Wirkung der Magie von Dominia einfach zu verstehen. Damit ist ein guter Anfang gemacht, um eine Fantasy-Welt wirklich zu begreifen. Die Alternative zu wahrhaft einfachen Regeln ist eine Welt, die von vielen verschiedenen Leuten gemeinsam geschaffen wurde. Diese Art von Arbeit kann schnell dazu führen, daß daraus eine ganze Bewegung entsteht, wie zum Beispiel Cyberpunk. Ich halte sehr viel von dem Konzept,
daß Autoren gemeinsam eine Welt erschaffen, auf gegenseitige Details zurückgreifen und dadurch ein überzeugendes Ganzes aufbauen. Der Gedanke an Erzählungen aus einer Welt, die auf einem Kartenspiel basiert, erscheint mir nicht besonders seltsam, jedenfalls nicht so seltsam wie er eigentlich sein sollte. Vielleicht liegt das daran, daß das Spiel doch irgendwie auf einer Art Welt basiert. Vielleicht liegt es auch daran, daß die breite Palette von Emotionen und Dramatik, die ich während eines von guten Spielern gespielten Spiels erlebe, jene in vielen Geschichten übertrifft. Mit guten Spielern meine ich Leute, die lebhaft und mit Begeisterung spielen, und nicht unbedingt solche, die dauernd gewinnen. Ich vermute, daß ein Leser dieses Buches, nach oben genannten Kriterien beurteilt, zu den besseren Spielern zählt. Die Talente eines Lesers und die Talente eines guten Spielers ähneln sich meiner Meinung nach. Beide sind in der Lage, sich eine Welt und ihre Regeln zu verinnerlichen. Beide können sich gut mit anderen Charakteren oder Spielern identifizieren. Beide sind in der Lage, in dieser künstlichen Umgebung logisch zu denken. Vielleicht ist ein weiterer Grund dafür, daß mir Erzählungen, die auf einem Spiel basieren, nicht seltsam vorkommen, eben jener, daß ich
Spiele für einen Mikrokosmos des Lebens halte. Was im Spiel geschieht, reflektiert Ursprüngliches aus dem wahren Leben, angefangen beim Überlebens-Spiel der Stärkeren (eingetragenes Warenzeichen des Herrn Darwin), das seit Anbeginn der Zeit gespielt wird (zumindest seit unserer Zeit), bis hin zum Kooperations-Spiel, das wahrscheinlich schon genauso lange existiert. Laßt uns wissen, wenn euch eine Geschichte wirklich gut gefällt - oder vielleicht überhaupt nicht. Im Idealfall entstehen dann weitere Erzählungen, die von den Lesern geliebt und von den Autoren gern geschrieben werden. Ich hoffe, daß es euch genausoviel Spaß macht wie mir dem wohl voreingenommensten Leser -, die Entstehung der Dominia-Welten mitzuerleben. RICHARD GARFIELD CARLA MONTGOMERY
Der Flug der Diebin Bitterkalter Wind durchschnitt den Gebirgspaß wie eine scharfe Klinge, als Kyree um eine weitere Biegung des schmalen Pfades bog. Larut, das trittsichere Steppenpferd, schnaubte unwillig und blieb stehen.
»Ich weiß, daß es kälter ist als Jyrs Mond und daß wir seit dem Morgengrauen hier herumklettern«, erklärte Kyree dem Pferd, während sie in den zu ihrer Rechten gähnenden schwarzen Abgrund spähte, »aber selbst wenn dieser armselige Trampelpfad, der den Namen Straße nicht verdient, breit genug wäre, um zu wenden, gäbe es für uns kein Zurück, und das weißt du.« Die junge Frau fröstelte, zog den abgetragenen Umhang fester um die Schultern und starrte mit grün-gelben Augen in die vor ihr liegende Dunkelheit. Die befestigten Mauern von Indorins Grabmal kreuzten sich auf dem Gipfel des Passes; Zwillingstürme, die wie polierte Zähne im letzten Abendlicht glänzten. »Wenn wir unsere Mission nicht erfüllen, gibt es keine Rückkehr - niemals«, ermahnte Kyree das scheuende Pferd und sich selbst. Der Wind pfiff über den Berghang, riß ihr die Kapuze vom Kopf und wirbelte durch das ungebändigte braune Haar. Sie machte sich nicht die Mühe, die Kapuze wieder aufzusetzen. »Komm schon, Larut«, sagte sie und drückte die Absätze in die Flanken des struppigen Pferdes, »bringen wir es hinter uns, bevor wir uns noch beide zu Tode frieren.« Larut stampfte mit dem Huf auf, dann folgte er wieder dem sich windenden Pfad, während die
Dunkelheit das hinter ihnen liegende Tal einhüllte. Kyree ritt schweigend, in Gedanken versunken. Seitdem Kryrees Meister ihr im letzten Spätsommer die Aufgabe offenbart hatten, reiste sie zusammen mit Larut. Geboren als Mitglied der Haari, jenes wilden Stammes kriegerischer Diebe, welche die Hochebene von Mirab als Heimat bezeichneten, hatte Kyree ihr gesamtes junges Leben damit verbracht, sich für diese Reise vorzubereiten und sich der Jagd würdig zu erweisen. Ihre ersten Kindheitserinnerungen drehten sich um die Vorbereitungen des Stammes - den Geruch des von ihrer Mutter frisch geölten Leders und der dickflüssigen orangeroten Farbe, mit der sie lachend die Strahlen der aufgehenden Sonne über das Gesicht des Vaters zog, das Klimpern der auffälligen Schmuckstücke, wenn diese die Rüstung berührten, die aufgeregten Stimmen der einzelnen Gruppenmitglieder, die ihre bestimmten Plätze innerhalb der Formation eingenommen hatten. Der sich auf ihren bemalten Zügen ausbreitende abwesende Gesichtsausdruck, wenn sie das tiefe Summen anstimmten, ihre halbnackten Körper, die sich geschmeidig in den Figuren der Formation bewegten und immer tiefer in einen Trancezustand versanken. Das anschwellende
Heulen. Der Ring aus gewundenem Stahl. Das Herumwirbeln und Drehen. Die hellen, purpurroten Streifen, wenn das Blutopfer erbracht wurde, und der triumphierende Schrei der Jagd, wenn sie sich in die Luft erhoben und eins mit dem Wind wurden. Sogar an diesem verlassenen Ort verspürte Kyree bei der Erinnerung eine fast schmerzhafte Freude in den Gliedern. Sie sehnte sich nach dem Tag, an dem sie zu ihnen gehören würde. Man erzählte sich, daß die Haari menschliche Verwandte der großen Raubvögel seien, die in vergangenen Zeiten umhergeflogen waren. Kein Fremder wußte es mit Sicherheit zu sagen. Die Geheimnisse von Aerie, dem Ahnsitz der Haart lagen tief im Herzen von Mirab. Von den unangreifbaren Felshöhlen aus, in denen die Kinder unter der Aufsicht der Meister zurückblieben, durchstreiften die Jäger des Stammes gruppenweise die umliegende Landschaft, hielten Ausschau nach Vorräten, Schätzen und Ruhm. Viele Fremde begehrten ihre Hilfe als Verbündete oder heuerten sie als Diebe an, und weitaus mehr Leute fürchteten sich vor ihrem Kriegsschrei, bei dem ihnen das Blut in den Adern stockte. Für die Mitglieder der Haari jedoch war weder ein edles Motiv noch das Versprechen einer großen Belohnung der Grund
dafür, daß sie sich mit leuchtenden Augen und gezückten Schwertern ins Schlachtgetümmel stürzten oder tief in Magiergewölbe und Drachenhorte eindrangen. Ausschlaggebend war der Reiz der Jagd. Alles einzusetzen - Verstand, Körper, Schwert, Wind - und alles zu riskieren zum Ruhm und Wohlergehen des Stammes. All das bedeutete, ein Haari zu sein. All das bedeutete zu leben. Daher hatten die Ältesten den Haari vor unendlich langer Zeit gestattet, sich durch die Aufgabe zu bewähren. Wenn ein junger Jäger die Widrigkeiten eines Einzelfluges nicht überwinden und mit einem bestimmten Objekt unversehrt zurückkehren konnte, wie sollte man ihm da das Leben von Blutsverwandten in der Hitze der Jagd anvertrauen? Wer erfolgreich war, verdiente sich damit einen Platz in der Jagdmeute und einen Sitz im Hohen Rat. Wer versagte, wurde für alle Zeiten vom Stamm verstoßen. Kyrees Aufgabe hatte sie bei Anbruch des Winters auf diesen einsamen Paß verschlagen. Ihre Meister hatten beschlossen, daß sie den Mauern des Grabmals trotzen mußte und etwas aus seinem Inneren zum Ruhm des Stammes entwenden sollte. Sie hatte nicht die Absicht zu versagen. Plötzlich blieb das Pferd ruckartig stehen, und
Kyree schrak aus ihren Gedanken auf. Vor ihr in der Dunkelheit erhob sich das Monument des Gefallenen Ritters wie die stillen, bleichen Knochen eines lange Dahingeschiedenen. »Es ist für keinen von uns beiden besonders gut, wenn wir hier und jetzt an daheim denken«, flüsterte sie dem schnuppernden Pferd zu. »Jetzt übernehme ich die Führung.« Kyree glitt behende vom Pferderücken und führte Larut auf eine schützende Gruppe struppiger Kiefern und Eichen zu. Sie betrachtete das einer Festung ähnelnde Grabmal mit wachsender Aufregung. Die Meister hatten erzählt, daß es vor langer Zeit vom SilbersternOrden erbaut worden war, um den Ort zu kennzeichnen, an dem einer ihrer Kameraden, Inderin, im Kampf gegen einen Dämon oder ein ähnliches Ungeheuer ums Leben gekommen war. Die geschwungenen äußeren Mauern harten weder Eingänge noch Fenster, und Gerüchten zufolge wurden von Zeit zu Zeit noch immer geheime Zusammenkünfte von Mitgliedern des Ordens an diesem Ort abgehalten. Das war alles, was man ihr gesagt hatte; nicht einmal die Meister wußten genau, was sie dort erwartete. Sie hatte sich vorgenommen, die Außenwand in der Nähe eines der beiden Türme zu erklettern, sich - hoffentlich unbemerkt - auf der
anderen Seite in einer dunklen Ecke des Innenhofes zu verstecken, um dann herauszufinden, was sie mitnehmen konnte. Natürlich wäre es viel einfacher gewesen, das Grabmal zu überfliegen und die Angelegenheit rasch hinter sich zu bringen. Aber Flüge von Nichteingeweihten waren, außer als letzte Zuflucht, bei den Meistern allgemein verpönt. Außerdem war es geradezu dumm, zu oft zu fliegen, denn jeder Flug kostete ein Blutopfer. Viel besser, wenn man sich auf einen scharfen Verstand und einen Körper mit der geschmeidigen Kraft eines Raubvogels verlassen konnte. Sie hatten die Baumgruppe fast erreicht, als Kyree fühlte, wie sich der Boden unter ihren Füßen leicht bewegte. »Zurück, Larut! Es ist eine Falle!« zischte sie durch zusammengebissene Zähne. Aber bevor das Pferd eine Bewegung machen konnte, öffnete sich der Boden unter ihren Füßen mit einem metallischen Geräusch, das tief im Berg widerhallte. Kyree sprang zur Seite, aber nicht weit genug. Sie stürzte hinab. Im nächsten Augenblick flog ihr der Umhang über den Kopf, flatterte in die gähnende Tiefe, und sie hatte das Gefühl, daß ihr rechter Arm beinahe ausgerissen wurde. Nach und nach wurde ihr bewußt, daß sie über einem schwarzen
Abgrund ohne sichtbaren Boden hing, Laruts Zügel hatten sich fest um ihren rechten Unterarm gewickelt. Ein halbes Dutzend quiekender Fledermäuse stieg aus der Tiefe empor, flatterte an ihr vorbei in die nächtliche Freiheit. Der modrige Geruch uralten Zerfalls wehte von weit unten zu ihr herauf. »Na wundervoll - und ich habe noch nicht mal richtig angefangen«, fluchte Kyree atemlos, während sie über dem gähnenden Abgrund hin und her pendelte. »Na los, Larut, jetzt kannst du beweisen, daß ich einen guten Kauf mit dir gemacht habe und du den Jahresertrag von Nimzerpelzen wert bist. Zieh!« Das untersetzte Pferd saß fast auf den Hinterbeinen, während es rückwärts zog und zerrte, die Augen waren angstvoll aufgerissen, das Weiße darin sichtbar. Erdklumpen lösten sich unter den Vorderhufen und regneten auf Kyree nieder, während sie die Beine gegen die Seitenwand des Abgrundes stemmte, und sich emporkämpfte. Das Ledergeschirr knarrte, als das Pferd zuerst einen, dann den nächsten unsicheren Schritt nach hinten tat. »Korrun schon, komm schon... du schaffst es«, keuchte Kyree, während sie einen Stiefel auf den Rand setzte, abrutschte und es erneut versuchte. Dann hatte sie es geschafft, lag heftig atmend auf dem nackten Boden. Larut schnaubte ihr ins
Ohr. »Schon gut, schon gut, ich danke dir«, sagte sie leise, setzte sich auf und kraulte die langen Winterbarthaare auf der Unterseite des Pferdemauls. »Was würdest du davon halten, wenn wir zu den Felsen dort drüben gingen, nur für den Fall, daß jemand nachsehen will, was er in dieser Falle gefangen hat?« Als Antwort blies ihr Larut eine frostige Atemwolke ins Gesicht. Hastig umgingen die beiden Gefährten den Rand des Abgrundes und eilten bergan, wobei sie geduckt hinter großen Felsbrocken Deckung suchten. Lange Zeit hielt Kyree Ausschau nach verdächtigen Bewegungen unterhalb ihres Verstecks. Es gab keine Anzeichen unmittelbarer Gefahr; nichts rührte sich außer den Ästen der Bäume, die vom Wind geschüttelt wurden. Und doch hatte sich etwas nicht Greifbares verändert, als würde sie von einem unsichtbaren Wesen innerhalb jener weißen Mauern beobachtet. Trotz des verlassenen Eindrucks war es möglich, daß ein Magier oder ein noch übleres Geschöpf ohne das Wissen der Meister das Grabmal zur Residenz auserkoren hatte. Auf jeden Fall war ihre Ankunft durch den Zwischenfall mit der Falle von jedem, der innerhalb der Festung lauerte, bemerkt worden. Vielleicht lag es an ihrem übereifrigen
Diebesinstinkt jedenfalls mißfiel Kyree die zunehmende Spannung dieses Ortes. »Da sie nun schon wissen, daß ich hier bin, kann ich auch loslegen und nachsehen, was sie mir zur Begrüßung schicken«, sagte sie entschlossen. »Und sollte ich sie entgegen allen Erwartungen noch tief schlafend in den Betten finden, wird es eine nette kleine Überraschung für uns alle.« Der eisige Wind pfiff über die Felsen, als sich Kyree auf den Höhepunkt ihrer Aufgabe vorbereitete. Mit Mühe gelang es ihr, ihren aufgeregt kribbelnden Magen ein wenig zu beruhigen, indem sie Worte der Meister wiederholte, während sie sich bis auf den metallenen Brustpanzer, die von einem Gürtel gehaltene lederne Hose, die bestickte Diebesbörse und die Doppelscheide, welche die beiden Windschwerter auf ihrem Rücken hielt, auszog. Sie lächelte versonnen, als sie die Habichtfedern, die ihr die Mutter als Glücksbringer gegeben hatte, ins wirre Haar flocht Dann stippte sie einen zitternden Finger in die Phiole mit roter Farbe, die sie Hunderte von Meilen bei sich getragen hatte, und malte sich das purpurne Zeichen der Eingeweihten - den Blitz - aufs Gesicht. Schließlich zog sie mit einem geübten Handgriff ihre Waffen: das schwere Entermesser der menschlichen Krieger
und das fein geschwungene Krummschwert der Habichtdiebe. So kniete sie nieder, um die Großen anzurufen. Das Gebet war die heilige Bitte um Gleichgewicht: jenes Gleichgewicht, das Himmel und Erde, Mensch und Habicht, Körper und Seele zusammenhielt. Dieses Gleichgewicht schenkte den Haari die Fähigkeit zu fliegen, und nur durch vollkommenes Gleichgewicht würde Kyree in der Lage sein, ihre Aufgabe zu erfüllen. Als das Ritual beendet war, erhob sich Kyree mit dem funkelnden Blick eines wilden Tieres in frostkalter Nacht und streckte den schlanken Körper. Unter sich sah sie die steilen Mauern des Grabmals, die sich kraß vom nächtlichen Hintergrund abhoben. Es würde kein leichter Aufstieg sein, aber niemand hatte je behauptet, daß ein Alleinflug einfach sei. Larut bewegte sich unruhig, warf den Kopf hoch. »Keine Angst, es dauert nicht lange«, sagte sie und steckte die Waffen zurück in die Scheide. Dann rannte Kyree in gebückter Haltung davon, mit den nackten Füßen kaum den Boden berührend. Nachdem sie zwei Drittel des Weges in dem Spalt zwischen Turm und Mauer emporgeklettert war, legte Kyree eine Pause ein und sehnte sich nach dem verlorenen Umhang. Finger und Zehen
waren taub vom Anklammern in die winzigen Ritzen der eiskalten weißen Steine. Der unablässige Wind ließ den Schweiß auf ihrer Haut . gefrieren. Sie stieß sich mit den Beinen nach oben ab, die Fingerspitzen fanden am oberen Rand der Mauer Halt. Jeder Muskel in den Armen bebte vor Anspannung, als sie sich hochzog. Sie wagte nicht, eine Pause einzulegen, um wieder zu Atem zu kommen, sondern schwang die Beine über die Brüstung und ließ sich zusammengekrümmt fallen, um den Aufprall der Landung zu mildern. Endlich war sie am Ziel. Der größere der beiden Monde stand sichelförmig über den Bergspitzen und erleuchtete mit seinem fahlen Licht den Ininenhof. Am Boden war nichts außer ein paar unheimlichen, großen schwarzen Brandmalen zu sehen, von denen sich einige wie öliger Rauch über den Schmutz dahinschlängelten, andere willkürlich in die Erde gebrannt zu sein schienen. Kyree fragte sich, ob die riesigen Außenmauern errichtet worden waren, um diese Brandmale als Zeichen von Indorins großem Kampf in einer längst vergangenen Zeit zu erhalten. Bestand die Möglichkeit, daß der Dämon zurückgekehrt war? Kyree verspürte ein Prickeln im Nacken und fröstelte, als sie erneut das Gefühl beschlich, beobachtet zu werden. Ihre
Sinne suchten angestrengt nach einem Hinweis auf die Gegenwart eines anderen Wesens. Aber nur Stille und Mondlicht lagen über diesem Ort. Nicht einmal der Wind wagte es, hier zu stören. In der Mitte des Hofes erhob sich ein kuppelförmiges Gebilde, unscheinbar, und doch beeindruckend in seiner Einfachheit: Indorins Grab. Etwas rührte sich hinter ihr. Kyree drehte sich blitzschnell um. Der Turm hatte auf dieser Seite eine Öffnung zum Hof, von dort war das Geräusch gekommen. Sie preßte sich mit dem Rücken gegen die Mauer, zog das Entermesser und sah hinein. Erleichtert atmete Kyree aus, als sie eine kleine pelzige Kreatur erblickte, die auf winzigen Füßen über den staubigen Boden hastete und in einer spinnwebenverhangenen Ecke verschwand. Verrostete Speere und angelaufene Rüstungsteile lagen am Boden des ansonsten leeren Raumes verstreut. Das war alles, nichts von Bedeutung oder Gefahr. Nur im eigentlichen Grab wäre etwas zu finden. Mit diesem Gedanken wandte sich Kyree ab, flitzte durch den offenen Innenhof, ohne die Brandmale zu berühren, und steuerte direkt auf das glänzende Grab zu. Mit einer geschmeidigen Bewegung sprang sie die Stufen empor, holte tief Luft um das wild schlagende Herz zu beruhigen, und trat durch den gewölbten Torbogen.
Obwohl sie auf allerlei vorbereitet war, rang sie verwundert nach Atem, als ein bernsteinfarbenes Licht die dunkle innere Grabkammer in dem Augenblick erhellte, als ihr Fuß den Boden berührte. Der Raum war kreisrund und viel kleiner, als sie von seinen Außenmaßen erwartet hatte, beinahe wie eine private Kapelle. Und doch war er atemberaubend schön; ganz und gar aus reinem weißem Marmor gemeißelt. Der goldene Glanz, der die Kammer erhellte, wurde von großen Kugeln ausgestrahlt, die wie riesige Perlen über einem Dutzend Alkoven hingen, die ringsumher in die Wände eingelassen waren. Schlanke Säulen, deren Umrisse Birkenstämmen nachempfunden waren, stützten die gewölbte Decke mit ihren anmutig geformten Zweigen. Alabasterstatuen von Einhörnern und Heiligen, Pilgern und Propheten standen in den Alkoven, und alle wirkten wie in ein stummes Gebet vertieft. Getrennt wurden sie durch Vorhänge aus feinster weißer Seide. In der Mitte des makellosen Raumes, unter dem von der Decke hängenden, mit Flügeln versehenen Bildnis eines modellierten Engels, ruhte der Sarkophag des Indorin auf einem erhöhten Podest. Die Figur des Ritters war aufs feinste aus dem schweren Stein des Sarkophags geformt worden. Die schmalfingeringen Hände
aus schneeweißem Marmor hielten in Brusthöhe einen Kelch umfaßt. Kyree entfuhr ein leiser Pfiff. Dies war ein Preis, der des Stammes würdig war, ein Gegenstand, der ihr mit Sicherheit den Titel einer Jägerin einbringen würde. Endlich war er in greifbarer Nähe eines jeden, der das Risiko einzugehen wagte. Kyree schlich näher, die nackten Füße huschten geräuschlos über den kalten Marmorboden, der wie die zu Eis erstarrte Oberfläche eines Sees glänzte. Sie fühlte ein Kribbeln im Hinterkopf, während sie sich schrittweise zur Mitte des Raumes vorwagte. Die Statuen schienen böse von ihren Sockeln herabzublicken, gerade so, als seien sie bereit, Kyree anzugreifen, weil sie ihre Meditationen gestört hatte. Der Schlag ihres Herzens hallte ihr in den Ohren wider und füllte ihre Brust mit einem schnellen Trommeln, während sie sich dem glänzenden Sarkophag näherte. Sie stieg die Stufen des Podests empor. Rund um den Deckel verlief eine Inschrift aus deutlich hervortretenden Buchstaben: HIER RUHT INDORIN, BESCHÜTZER DOMINIAS. ER STARB, DAMIT DAS BÖSE IN DIESER WELT NICHT FUSS FASSEN KONNTE, MÖGE SEIN KÖRPER RUHEN,
DERWEIL SEINE SEELE DAVONFLIEGT.
Kyree warf einen schnellen Blick über die Schulter, dann auf das strenge Alabastergesicht des Engels, der mit erhobenem Schwert über ihr schwebte. Sie sammelte sich, hielt den Atem an und nahm den Kelch vorsichtig aus Indorins marmornen Händen. Nichts geschah. Langsam erschien ein Grinsen auf Kyrees Gesicht, dann kicherte sie vor sich hin und drehte den prächtigen Kelch in den Händen. Ihr Diebesauge erkannte seinen unbezahlbaren Wert. Aus einem einzigen Stück fehlerlosen Elfenbeins geschnitzt, von Händen, deren Geschicklichkeit nicht ihresgleichen kannte. »Das war doch gar nicht so schwer.« Sie lachte, hob den Kelch grüßend dem gefallenen Ritter entgegen. »Ich werde einen Trinkspruch auf Euch sprechen, großer Indorin, in der ersten Stadt durch die ich auf der Heimreise komme.« Sie war gerade dabei, den Kelch in der Gürteltasche zu verstauen, als das Leuchten der Kugeln schwächer wurde und völlig verlosch. Kyree drehte sich blitzschnell um, damit ihr Gesicht in der plötzlichen Dunkelheit dem Eingang des Grabes zugewandt war, und zog beide Waffen. Kein Laut war zu hören. »›Keine höfliche Begrüßung einer
Besucherin.« Ihre Stimme hallte durch das Gewölbe, während sie verzweifelt versuchte, die Augen der unnatürlichen Dunkelheit anzupassen. Kyrees Körper spannte sich. Dies war ganz sicher das Werk eines Magiers. »Ich möchte Euch um diese Zeit nicht länger stören, deshalb gehe ich jetzt. Die Begrüßung sollte man nicht übertreiben«, fügte sie hinzu, hielt inne, hoffte auf einen Hinweis auf die Richtung, aus welcher der Angriff erfolgen würde. Als Antwort ertönte das Rascheln und Flattern der Seidenvorhänge an den Kammerwänden, ähnlich einem Schwarm großer weißer Schwäne. Dann krachte es hinter ihr. Mit den schlimmsten Befürchtungen wandte Kyree sich um, schaute auf Indorins Sarkophag. Er schien unverändert. Allerdings wurde der Bereich um das Podest herum immer heller, die Dunkelheit nahm eine Blauton an, wurde dann grau. Ein weiteres Knacken lenkte ihren Blick nach oben. Mit wachsender Furcht und einer Art gebannter Faszination beobachtete sie, wie ein rankenähnlicher Riß über das geschnitzte Gesicht des Engels lief. Ein Steinsplitter fiel vom Wangenknochen der Statue, und ein durchdringender Lichtstrahl schoß daraus über das dunkle Grab. Der Engel erwachte.
Kyree rannte los. Sie hatte beinahe den Eingang des Grabes erreicht, als ein arktischer Wind von draußen in den Raum fuhr, die Statuen auf ihren Sockeln ins Wanken brachte und sie krachend zu Boden schleuderte. Die Gewalt des Windstoßes zwang Kyree seitlich gegen eine Wand. Krampfhaft bemühte sie sich, auf dem glatten Marmorboden Halt zu finden, als Bahnen des weißen Stoffes suchend nach ihr griffen, wie fahle Fangarme. Sie biß sich auf die Lippen, schlug mit ihren Waffen auf die wogende Seide, zerschnitt sie in ausgefranste Bänder, bevor sie sich um ihre Glieder winden konnte. Dann rannte sie durch den Torbogen. Hinter ihr glühte die gesamte Statue des Engels. Draußen schien es, als sei der Nordwind über das Grabmal des toten Ritters gekommen. Stürmischer Wind riß Kyree den Atem vom Mund; der feine Staub des Innenhofes wirbelte umher, stach auf ihre bloßen Arme und Beine ein. Sonderbarerweise blieben die dunklen Male am Boden unberührt von dem aufkommenden Sturm. Sie schienen sie anzugrinsen, lachten leise vor sich hin, machten sich über die Respektlosigkeit lustig. Schwach hörte sie durch den Lärm Laruts panikartiges Wiehern jenseits der Mauern. Es galt, keine Zeit zu verlieren. »Wenn dies kein Notfall ist, dann weiß ich
nicht, was es ist«, knurrte Kyree vor sich hin. Sie schloß die Augen und begann leise zu summen. Zuerst fürchtete sie, daß die Trance nicht schnell genug kommen würde, daß ihre Bewegungen, ihr Lied, zu hastig waren. Das Erwachen der Statue in ihrem Rücken drohte jegliche Erinnerung an das in der Ausbildung Erlernte zu ersticken und sie - einem hirnlosen Kaninchen gleich - in die Flucht zu schlagen. Aber allmählich, während sie sich bewegte und dabei bemüht war, die Brandmale am Boden zu umgehen, folgte ihr Körper den vertrauten Umrissen der Form mit Gliedmaßen und Schwert, und alle anderen Gedanken - sogar der Lärm des Sturmwindes - erstarben. Die Zeit streckte sich wie ein leuchtendes Band vor ihren Augen, als sie durch die Form nach innen tauchte, um den schmalen Grat des Gleichgewichts zu finden. Tiefer und tiefer im Inneren tanzte sie, während blitzende Windschwerter den herbeigerufenen Sturm durchteilten, und ihr Körper wand und drehte sich, um zu einem Gedanken zu werden. Sie war sich des Lichtes, das durch den Eingang von Indorins Grab fiel, ebensowenig bewußt wie der eigenen Stimme, die sich mit dem Heulen einer Todesfee über den wilden Sturmwind im Inneren des Hofes erhob. Es gab nur das eine Ziel, das Erreichen des hellen Punktes, des unendlich
kleinen, nadelstichgroßen Fleckchens, an dem sich Erde und Luft, Körper und Verstand, Wanderer und Aufsteiger begegneten und vereinten. Einen Augenblick lang konnte sie es sehen, leuchtend wie ein Stern in der inneren Dunkelheit. Jetzt! Kyrees Augen waren starr vor Konzentration, als sie die beiden Windschwerter hoch über den Kopf hob. Mit einer schnellen Bewegung schlug sie die Klingen quer über ihre Füße, ein sauberer Schnitt, und durchtrennte damit die Verbindung zur Erde. Mit einem gewaltigen Satz und dem Schrei der Jäger auf den Lippen warf sie sich in die Luft und wurde emporgetragen wie ein Blatt in einem Wirbelsturm. Unter ihr lag Indorins Grab, weißglühend, als habe eine Sonne innerhalb der Mauern ihren Ruheplatz gefunden. Während sie aufstieg, hörte Kyree ihre eigene Stimme wie aus weiter Ferne Larut zurufen, er solle davonrennen. Ein verschwommenes, traumähnliches Bild des Pferdes, wie es angsterfüllt den Berghang hinablief, drang kurz in ihre Gedanken ein, verschwand aber sofort wieder. Sie gestartete sich keine weitere Ablenkung, stellte sich vor, ein Pfeil zu sein wie die Meister es gelehrt hatten, und flog durch die Nacht.
Hinter ihr verwandelte ein blitzendes Licht die Nacht einen Augenblick lang zum Tag - ein Licht, heller als hundert Blitzschläge. Dazu ertönte ein ohrenbetäubendes, unbeschreiblich schönes Geräusch, als habe man allen Regentropfen der Welt gestattet, eine einzelne Note zu singen. Licht und Musik explodierten, als der Serra-Engel die Welt betrat. Kyree floh. Schneller, als sie es gewollt hatte, jagte sie den gähnenden Abgrund des Berges hinab und raste durch die Nacht. Sie wurde zu einem silbernen Meteor, die scharfen Windschwerter vibrierten, das Haar flog wie ein Kometenschweif hinter ihr, das Gesicht war zerfurcht vor Konzentration, seine dunkelrote Färbung stimmte mit der Farbe des Blutes, das von ihren Zehen tropfte, überein. Knapp verfehlte sie zerklüftete Bergspitzen und Baumkronen, nur verschwommen waren sie zu erkennen, als sie sich so dicht wie möglich heranwagte, um Deckung zu suchen. Sie erlaubte sich keinen Blick nach hinten. Hinter ihr schritt der Engel mit solch würdevoller Anmut, Schönheit und Geschmeidigkeit durch Indorins Grab, daß es fast schmerzlich anzusehen war. Zerschmetterte Statuen und zerrissene Vorhänge wurden wieder zusammengefügt und im Vorbeigehen wieder an ihre Plätze gebracht. Bei der Berührung ihrer
goldenen Sandalen ließ der Malstrom im Innenhof nach, die uralten schwarzen Male am Boden zeigten sich in glühendem, irisierendem Weiß. Die Engelsgestalt hatte sich zu voller Höhe aufgerichtet, die großen Flügel entfalteten sich und zuckten mit wachsendem Ärger. »Wer hat den heiligen Frieden dieses Ortes gestört?« rief sie den Sternen zu. »Wer hat gestohlen, was ihm nicht gehört?« Augen wie Diamanten durchforschten die vor ihr liegende Szenerie, verhielten auf den rubinroten Abdrücken an der Stelle, von der aus Kyrees Flug seinen Anfang genommen hatte. Mit wutverzerrtem Gesicht blickte die Engelsgestalt zum Himmel und hob das Flammenschwert. »Ich bin Adriel, Wächterin heiligen Bodens. Wer ihn entweiht, verspürt meinen ZORN!« Mit einem Schlag der glänzenden Flügel, der wie Donnerhall über die Berge flog, hob sich der Engel aus dem Hof empor und nahm die Verfolgung auf. Als der Donnerschlag sie überrollte, wußte Kyree, daß sie nicht mehr viel Zeit hatte. Mit einem neuen Schub an Konzentration erreichte sie das Ende des Abhangs. Ihre Gedanken eilten ihr voraus. Der Hang mündete am Fuß der Berge in einem flachen Flußbett. Dort draußen in der Ebene würde sie ein leichtes Ziel abgeben.
Besser wäre es, sie bliebe im unebenen Gelände der Gebirgsausläufer, wo sie vielleicht eine Höhle finden konnte, bevor ihre Kräfte sie verließen. Schnell wandte sie sich nach Norden, um parallel zu den Bergen weiterzufliegen. Sie blickte sich nach hinten um. In der Ferne tanzte ein Wesen auf und ab, das einem strahlenden Leuchtkäfer ähnelte und die unter ihm liegende Bergspalte mit Licht überflutete. Während es den Paß herunter auf sie zugeschossen kam, wurde es rasch größer und größer. Kyree fühlte Panik in sich aufsteigen, und ihr Körper geriet gefährlich nah an die felsigen Bergwände, indes sie Mühe hatte, die Gewalt über sich selbst wiederzuerlangen. Ganz sicher hatten die Meister nicht damit gerechnet, daß sie irgendwann einmal halberfroren, in der Mitte von Nirgendwo, versuchen würde, einem Engel davonzufliegen. Der Alleinflug war eine Prüfung, kein Selbstmordkommando. Sie mußte fest daran glauben, daß man sie gut genug geschult hatte, um sogar auf Fälle wie diesen vorbereitet zu sein. Grimmig besann sie sich wieder auf ihr Gleichgewicht, konzentrierte sich und flog weiter. Als sich der Engel seinem Opfer näherte, trieb der abflauende Wind tiefhängende Wolken,
welche die Bergspitzen einhüllten, wie wollige Schafe vor sich her. Dazwischen war der indigofarbene Himmel mit Sternen bedeckt, die wie die Augen ihrer Schwestern und Brüder glänzten. Es war lange her, seitdem man sie zuletzt gerufen hatte. Sie hatte vergessen, wie beeindruckend diese Welt sein konnte, trotz ihrer rauhen, chaotischen Natur und ihrer oftmals fehlgeleiteten Bewohner. Manifestationen in dieser Welt hatten bestimmte Nachteile - den bittersüßen Geschmack sterblichen Daseins, die Beschränkungen eines Körpers -, aber damit verbunden auch eine besondere Art von Verzückung. Die Freiheit von absolutem, gerechtem Zorn füllte Adriels Flügel, als sie den fliehenden Eindringling erblickte und sich ihm näherte. Kyree flitzte durch schmale Gräben und unter niedrigen Steinbrücken hindurch, versuchte verzweifelt, ihrer Verfolgerin zu entkommen. Tränen strömten über ihr Gesicht, und sie atmete nur noch stoßweise, während der Boden unter ihr wie eine verschwommene graue Fläche vorbeiflog. Es war hoffnungslos. Der Engel holte auf. Sie war gefangen in dem unentrinnbaren weißen Glanz, der sich vor seinen mächtigen Flügeln ausbreitete - wie ein silberner Fisch in einem Netz. Je schneller sie flog, je mehr sie sich wand und vorankämpfte, um so stärker umfing
sie das überirdische Licht. Der Engel war nahe. »Nein!« schrie Kyree dem Wesen hinter ihr zu. »Ich gebe nicht auf!« Plötzlich endete der Gebirgszug, dem sie gefolgt war, und Kyree fand sich über der plätschernden Wasserfläche eines großen Binnensees wieder, über den sie wie ein hüpfender Stein wenige Handbreit über der Oberfläche dahinschoß. Auf der gegenüberliegenden Seite erblickte sie ein Gewirr von spitzen Dächern und beleuchteten Fenstern, die von einem kleinen Dorf kündeten. Sie hielt darauf zu. Hinter ihr leuchtete das Wasser des Sees in Myriaden funkelnder goldener Spiegelungen, als der Engel ihr nachsetzte. Er - nein sie - war jetzt nahe genug, daß Kyree das Rauschen der Schwingen und einen Klang wie das Läuten Hunderter winziger Glöckchen hören konnte. Fast hätte sie um Kraft gebetet, hielt aber noch rechtzeitig inne, als ihr einfiel, wer sie da jagte wie ein Fuchs einen Hasen. Nicht einmal die Großen konnten ihr jetzt helfen. Schweigend zwang Kyree ihren schwächer werdenden Körper vorwärts. Die Diebin und der Engel bewegten sich durch das Gewirr der Masten von Segelbooten, die an den Stegen vertäut waren, ließen sie hinter sich und flogen durch die gepflasterten Gassen und Straßen des Dorfes, die in diesen frühen Stunden
vor Sonnenaufgang verlassen unter ihnen lagen. Sie rasten durch den Ort, das Heulen von Kyrees Windschwertern begleitete ihre Flucht. Die feurige Adriel war ihr dicht auf den Fersen, erfüllte das nächtliche Dorf mit einem durchdringenden Lied des Triumphes, während ihr Flammenschwert drohte, die Dächer der Häuser, an denen sie vorbeiflog, in Flammen zu setzen. Fensterläden wurden aufgerissen. Tavernenschilder drehten sich in den Angeln. Pferde wieherten in ihren Boxen, als Kyree durch den Stall eines Gasthofes rauschte, und die Tempeltauben purzelten in heilloser Verwirrung von ihren mitternächtlichen Schlafplätzen, während sie einen Augenblick lang hinter der höchsten Turmspitze in einem vergeblichen Versuch, dem flammenden Blick des Engels zu entkommen, verweilte. Es gab Dorfbewohner, die im Nachhinein schworen, daß sie - gerade von einem Donnern und Blitzen aus dem Schlaf gerissen - vorsichtig ans Fenster gegangen waren, um zu sehen, wie zwei Kometen, ein silberner und ein goldener, in jener Nacht gelandet waren und sich um den Brunnen auf dem Dorfplatz herumgejagt hatten. Dazu sangen sie ein so wundervolles Lied, daß es der Brunnen noch heute in besonders kalten, klaren Nächten vor sich hin summt. Kyrees Lungen brannten, ihre Windschwerter
schienen schwer wie Blei zu sein und zitterten unter ihrem Griff, als die ausgestreckten Arme den schneidenden Schmerz nicht mehr ertrugen. Es gab kein Entkommen vor ihrer leuchtenden, erbarmungslosen Verfolgerin. Mit einem hoffnungslosen, gequälten Schrei verließ sie den Dorfplatz und stieg wie ein silberner Speer kerzengerade in den Himmel über dem See empor. Ohne es wahrzunehmen, brach sie durch die Reihe eines schnatternden Gänseschwarms; einem der Tiere durchtrennte das Entermesser die Flügelspitze, und es fiel in die Tiefe. Sie flog höher und höher, höher als die nahegelegenen Berge, über die vereinzelten Wolken, bis die Luft so dünn und kalt wurde, daß sie ihr im Mund gefror, und sie das Gefühl hatte, beinahe die Sichel des Mondes berühren zu können. In diesem Augenblick ihres nächtlichen Fluges kehrte Kyrees Erinnerung zurück. Sie war nicht dazu bestimmt, als wehrlose, feige Kreatur zu enden, die ängstlich vor Gefahren davonlief. Sie war nicht dazu gemacht, ihr Leben für wertvoller zu halten als ihre Ehre. Sie war eine Haari. Wenn sie sterben mußte, dann nur als Jägerin, und nicht als Gejagte. Kyree wandte sich um, warf den Kopf zurück und stieß den schrillen Kampfschrei des Stammes aus. Mit dem Ausdruck grimmiger Entschlossenheit auf dem bemalten Gesicht fuhr
sie schnurgerade auf den Engel los. Mit klirrenden Schwertern trafen sie aufeinander, das Geräusch erschütterte das unter ihnen liegende Flußbett. Kyrees Schlag mit dem Krummschwert wurde mit Leichtigkeit vom Flammenschwert des Engels abgewehrt; der gegnerische Hieb, der ihr Entermesser streifte, traf sie wie ein Blitzschlag; sie taumelte zurück. »Ergib dich, Sterbliche!« forderte Adriel. »Gib den gestohlenen Kelch zurück!« Die Stimme dröhnte wie ohrenbetäubender Fanfarenhall durch Kyrees Kopf. Sie fühlte, wie sie in die Tiefe glitt. Schnell verlor sie an Höhe. Ihr erschöpfter Verstand kämpfte darum, den Flug fortzusetzen, aber die Konzentration, die sie benötigte, um ihrer Widersacherin die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken, drohte ihre Kräfte zu übersteigen. »Ich habe schon einmal gesagt, daß ich ihn nicht wieder hergebe«, fauchte Kyree dem goldenen Wesen, das vor ihr schwebte, ins makellose Antlitz. »Vielleicht solltest du lernen, ein Nein als Antwort hinzunehmen.« Kyree lachte laut auf, als sich die feurigen Augen des Engels einen Augenblick lang vor Entsetzen über ihre Überheblichkeit weiteten, dann jedoch erneut zu wütend verengten Schlitzen wurden.
»Vielleicht solltest du lernen, jene zu achten, die weit über dir stehen«, erwiderte der Engel drohend, jedoch mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen. Wieder trafen sie in einem silbernen und goldenen Gewirr aus mächtigen Schwingen und wirbelndem Stahl aufeinander. Wann immer ihre Schwerter klirrend aneinanderschlugen, stoben zuckend weiße Blitze über die Berge, die Felsen erbebten und warfen das Krachen als gewaltiges Echo zurück, und der See brodelte und schäumte tief unter ihnen. Kyree kämpfte wie ein in der Falle sitzendes Tier, wild und rasend. Mit beinahe freudigem Gesichtsausdruck konterte der Engel jeden Schlag mit einer Sicherheit und Kraft, die nicht nachließen. Während die beiden Kämpferinnen in der Luft tiefer und tiefer sanken, fühlte Kyree, wie ihre Kraft versiegte. Schon bald berührten die blutigen Füße eine kühle, feuchte Wolkenbank, dann war sie auch schon bis zur Hüfte in einem Meer von aufsteigendem Nebel versunken. Die hin und her schwingenden Arme waren schwer, wie aus Stein gemacht. Sie war dabei, den Halt zu verlieren, sie drohte das Gleichgewicht zu verlieren. Sie mußte es wieder erlangen; sie mußte ausruhen. Plötzlich brach Kyree aus und tauchte in die dichte Nebeldecke ein wie ein Seehund ins Meer.
Sie versank in der dampfenden Masse, fühlte ihren Körper auf den dichten Mittelpunkt der Wolke zugleiten, kämpfte verzweifelt um die Gewalt über sich. Über ihr erscholl der wütende Schrei des Engels. Kyree verschloß die Augen vor dem klammen Grau, aber das Gleichgewicht stellte sich nicht ein, und je mehr sie sich bemühte, um so schneller glitt sie durch die feuchte, trübe Luft hinab. Unvermittelt schoß eine anmutige, leuchtende Hand aus dem Nebel heraus und umschloß ihr Handgelenk wie ein weißglühender Schraubstock. Kyree schrie. Der Geruch verschmorten Fleisches drang ihr in die Nase, und unwillkürlich öffnete sie die Faust. Entsetzt beobachtete sie, wie ihr Krummschwert hinabfiel, im wabernden Nebel verschwand und jede Möglichkeit des Fliegens mit sich nahm. Dann verwandelte sich der Wasserdampf, der sie umgab, in unzählige Tropfen aus geschmolzenem Gold, die ins Nichts davongewirbelt wurden. Die Wolkenbank war verschwunden. Die Nacht war erfüllt von weißgoldenem Licht und ohrenbetäubender Musik. Mit brennendem Handgelenk und von der Helligkeit geblendeten Augen fand sie sich plötzlich von Angesicht zu Angesicht mit dem
Engel wieder. »Du bist recht dumm, weil du den Kelch nicht freiwillig zurückgibst«, sagte Adriel tadelnd, beinahe sanft, mit einer Stimme wie flüssiges Sonnenlicht. Ihre geschwungenen goldenen Brauen zogen sich mitleidig zusammen, als Kyree sich unter ihrem Griff wand. »Ich will dir nicht noch mehr Schaden zufügen, und nur das, was nicht dein Eigentum ist, an seinen rechtmäßigen Platz zurückbringen«, sagte sie in drängenderem Tonfall und verstärkte den schmerzenden Griff um Kyrees Handgelenk. »Widersetze dich nicht.« Kyree fühlte ihre Haut Blasen werfen, ihr Brustpanzer wurde durch die unmittelbare Nähe des Engels heißer und heißer. Sie konnte nichts mehr sehen. Es schien, als sei sie direkt in die Sonne hineingeflogen. Taumelnd vor Schmerz und Blutverlust am Rande äußerster Erschöpfung und Verzweiflung angelangt, spürte Kyree ihren Körper erschlaffen. Einen Moment lang hing sie am Himmel, nur durch den kräftigen Griff des Engels gehalten. Dann hieb Kyree mit letzter Kraft blindlings das Entermesser in die Höhe und trat gleichzeitig um sich. Sie verfehlte ihr Ziel. Aber der überraschte Engel löste seine brennende Umklammerung. Mit einem halberstickten
Triumphschrei stürzte Kyree mitsamt dem Elfenbeinkelch in die dunkle Tiefe. Kopfüber fiel sie der Erde entgegen, das Rauschen der Luft dröhnte ihr in den Ohren. Seltsamerweise kam jetzt, da die Hoffnung des Fliegens zerstört war und der Tod sie erwartete, wieder Klarheit in Kyrees Gedanken. Obwohl ihr erster Flug auch ihr letzter sein würde, starb sie immerhin als Jägerin, die ihren Preis fest in Händen hielt. Da Kyrees Augen noch immer vom Licht des Engels geblendet waren, tastete sie nach der Gürteltasche, fand den Kelch und fühlte seinen zierlichen Henkel durch das Tuch. Mit einem gewaltigen Platschen tauchte sie in das eisige Wasser des Bergsees ein, eine weiße Fontäne schoß in die Nachtluft. Flüssige Dunkelheit schlug ihr über dem Kopf zusammen und füllte ihre Lungen. Von Schmerz und Panik erfüllt, wußte sie nicht, wohin sie sich in dieser völligen Dunkelheit wenden sollte, während sie immer tiefer sank. Indem sie sich wand und krampfhaft versuchte, an eine nicht auffindbare Oberfläche zu kommen, drückte sich der Brustpanzer nach innen, gegen ihren Oberkörper. Ihre Glieder bewegten sich ungelenk, mit alptraumartiger Langsamkeit, bedingt durch das kalte, ungewohnt hemmende Wasser. Arme und Beine waren steif und verkrampft, die überanstrengten Muskeln wurden von
Entkräftung übermannt, und gierig schloß sich das Wasser des Sees um die gefallene Jägerin. »Habichte waren nie zum Schwimmen bestimmt«, flüsterte eine verträumte Stimme in ihrem Kopf, als die letzte Luftblase über ihre Lippen drang und sie mit der schwarzen Tiefe verschmolz. Dir letzter Gedanke galt der Sichel des Mondes. Zwei verzerrte, aber bekannte Gesichter standen wie seltsame Spiegelungen in einem unterirdischen See über ihr. Jemand rief ihren Namen. Kyree blinzelte und richtete sich auf. Es dauerte eine Weile, bis ihr Blick klar wurde und das Gefühl des Fallens nachließ. Sie bemerkte, daß sie tropfnaß war und fröstelnd in einer Pfütze auf dem Hohen Riff von Aerie saß. Zu beiden Seiten hockten zwei ihrer Meister, ehrliche Besorgnis harte sich in ihre kantigen, vom Leben gezeichneten Züge gegraben. Im Osten färbte sich der Himmel rosig und lavendelfarben. Der Klang einer verhallenden Fanfare kam aus den Tiefen ihrer Erinnerung. »Es schien, als sei ein Stern vom Himmel auf das Riff gestürzt«, fauchte Oria, verärgert darüber, daß etwas ihre sorgfältig ausgewählte
Nachtwache gestört hatte. »Und eine Musik ertönte - so rein, daß sie mich wie ein Pfeil durchbohrte«, wisperte Pyrin mit der sanften Stimme des Sängers. »Dann war es vorbei... und du warst hier.« Kyree schüttelte ungläubig den Kopf. Sie war tot, oder etwa nicht? »Die anderen Meister und auch deine Eltern werden bald hier sein, kleine Haari«, sagte Pyrin. »Jawohl, und ich bin gespannt, was du nach einer so großartigen Rückkehr von deinem Einzelflug mitgebracht hast«, fügte Oria hinzu und richtete ihren nadelspitzen Blick auf Kyree. Noch halb benommen, klopfte Kyree auf die durchweichte Gürteltasche an ihrer Seite. Sie war leer. Aber noch während sie diesen Gedanken zu erfassen suchte und Panik in sich aufsteigen fühlte, schnappten Oria und Pyrin überrascht nach Luft und traten unwillkürlich einen Schritt zurück. Der Elfenbeinkelch war verschwunden. Aber in der Hand, deren Handgelenk für alle Zeiten das Brandmal des Engels trug, hielt sie eine einzelne Feder, von der ein Leuchten ausging, als bestünde sie aus purem Sonnenlicht. Beim Anblick der Feder durchfuhr sie eine verschwommene Erinnerung. Mit einer letzten Bewegung hatte sie nach dem Licht gegriffen.
Und genau in jenem Augenblick hatte sie den Flügel des Engels berührt. Dies war ihr Geschenk an den Stamm. Ihre Aufgabe war gelöst. Sie hatte alles gegeben und dabei gelernt, daß es Dinge gab, die man besser unangetastet lassen sollte. Und: Sie hatte eine zweite Chance erhalten. Mit zitternden Fingern hob sie die Feder den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne grüßend entgegen. Kaum hörbar, fast wie ein Echo, ertönte die Antwort durch einen schimmernden Chor von Kristallglöckchen, die wie die Sterne am Himmel allmählich verblaßten und verschwanden. MICHAEL A. STACKPOLE
Namen sind Schall und Rauch Aus Gründen, die ich noch erforschen muß oder an die ich mich vielleicht nicht mehr erinnern kann, reden die benalischen Helden immer dann mit mir, wenn sie im Begriff sind, jemandem den Hof zu machen. Dieses Phänomen gibt mir schon ebenso lange Rätsel auf, wie ich mich im Grover's herumtreibe. Benalische Helden, jedenfalls die Männer, sind allesamt groß und muskulös, gutaussehend, mit
fein gemeißelten Gesichtszügen - allerdings haben die meisten Nasen, bei denen der Meißel ein paarmal abgerutscht sein muß. Und ›groß‹ ist eigentlich subjektiv geurteilt. Da ich nicht unter diesem Zustand leide, neige ich dazu, Größe zu überschätzen. Und die Benalier überschätzen ihr gutes Aussehen und ihren Charme. Dieser besondere - wir wollen ihn ›Namenlos‹ nennen, da die geringe Möglichkeit besteht, daß er lesen lernt und irgendwann über diesen Bericht stolpert - stellte sich im Grover's neben mich und beugte sich über den hölzernen Tresen. Der Aufprall seiner Unterarme auf die Thekenoberfläche klang, als dröhnten Kriegshämmer auf einen Schädel, brachte mein Bier zum Tanzen und verursachte mir Kopfschmerzen. Der Held schien es nicht zu bemerken, aber ich kann mir vorstellen, daß die Nervenimpulse lange brauchen, um eine Kontaktstelle in so einem kleinen Hirn ausfindig zu machen. »Ich habe mich gefragt, ob ich...«, begann er mit tiefem wohlklingenden Bariton. »Laß es! Es würde dir nicht gefallen, und die Narben würden mindestens einen Monat lang zu sehen sein.« Namenlos lachte leise vor sich hin und gab mir damit zu verstehen, daß wir uns auf jeden Fall
einig werden könnten. »Bei mir heilt es schnell.« »Es geht nicht um die Geschwindigkeit deines Metabolismus, es geht um die Größe deiner Wunden.« Ich klappte die zusammengefaßte Version der Sarpadischen Chroniken zu, bemühte mich mir einzuprägen, daß ich auf der Seite ›Wolf jagt Katze einen Berg hinauf‹ angelangt war, und - nein, man möchte gar nicht erst über einen mathematischen sarpadischen Text nachdenken. Ich seufzte. »Vertrau mir, mein Freund. Sie ist ein attraktives Ärgernis. Du solltest dir die Mühe sparen.« Er schaute von mir zu Kyyrao, dann wieder zu min »Attraktiv: ja; Ärgernis: nein - nicht einmal wenn ihre Krallen scharf wie Rasiermesser wären.« Gerade wollte ich ihm mitteilen, daß ihre Krallen das letztere seien, was ihn beunruhigen sollte, als er einen Schritt zur Seite trat und ich sie ebenfalls genau ansehen konnte. Kyyrao Grrenmw ist eine ganz besondere Angehörige jener Art, die unter der Bezeichnung ›Katzenkrieger‹ bekannt ist. So geschmeidig und groß wie die meisten ihrer Rasse, trug sie dennoch nicht die üblichen Zeichnungen eines Tigers oder Leoparden. Die Farbe des Fells ging von einem beinahe blau-grauen Ton allmählich in einen gelb-braunen Ton über, ihre Hinterbacken, Flanken und Unterarme waren mit
dunklen Rosetten geschmückt, während der größte Teil des restlichen Fells von eckigen schwarzen Abzeichen unterbrochen wurde. Die Haare an Brust und Hals waren weiß; die meisten wurden jedoch von einem schwarzen Lederoberteil verdeckt. Sie trug das traditionelle grüne Lendentuch der Katzenkrieger und auch die juwelenbesetzten goldenen Beinschienen, aber weder der Schnitt des Kleidungsstückes noch die Rüstung vermochten von der Schönheit ihrer langen Beine abzulenken. Die zuckende Bewegung ihres Schwanzes verriet mir, daß ihr nicht entgangen war, daß wir sie beobachteten. Mit erhobenem Kinn und angelegten schwarzen Ohren lachte sie über einen Scherz des aus Argivien stammenden Archäologen, dessen Buch ich mir geborgt hatte. Anschließend beugte sie sich vor, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und streckte die langen Beine aus. Ihre Eckzähne blitzten zu uns herüber, und die bernsteinfarbenen Augen öffneten sich einladend. Zumindest hielt es der benalische Held für eine Einladung, aber die wenigsten von ihnen haben Erfahrung damit, was es heißt, Beute zu sein, also erschien mir der Fehler verständlich. Der Held blickte mich an und bemerkte, daß ich ebenfalls zu ihr hingestarrt hatte. »Tut mir leid, kleiner Mann, aber ich habe sie zuerst gesehen.
Wünsch mir Glück.« »Hör zu, laß mich dir einen ausgeben. Oder noch besser, gleich mehrere. Auf diese Art wirst du betrunken, fällst um und wachst mit furchtbaren Kopfschmerzen auf. Das ist jedenfalls bedeutend besser als das, was du bekommst, wenn du glaubst, daß sie ein Schmusekätzchen ist und du ihr Kratzbaum.« Ich wandte mich an unseren Wirt, einen Angehörigen des Ehernwurzelbaumvolkes. »Grover, für unseren Freund hier etwas Kaltes, das ihn umhaut.« »An Kaltem habe ich kein Interesse, mein Freund.« Ich seufzte. Grover senkte einen Ast und nahm das Buch auf. »Wolf jagt Katze einen Berg hinauf.« »Jawohl, und ich jage einen Narren aus der Reichweite einer Katze.« Ich glitt von meinem Hocker und packte den Helden beim Ellenbogen. »Ich habe versucht, dich freundlich zu warnen.« Namenlos entzog mir den Ellenbogen und knurrte mich an. »Verschwinde, kleiner Mann, oder ich verwandle dich in Hackfleisch und serviere dich ihr als Zwischenmahlzeit.« »Kämpft ihr um mich?« Kyyrao leckte sich die Lippen, als sie auf uns zuschlich. Fast alle Augen in diesem Teil der Taverne folgten ihr, besonders die des großen Benaliers. Ein
schneller rechter Haken hätte der Sache jetzt und hier ein Ende bereiten können, aber dadurch wäre eine Blutfehde entstanden, und ich habe gelernt, daß man möglichst vermeiden sollte, den Zorn einer ganzen Nation zu erregen, nur wegen einer leicht mißverständlichen guten Tat. Der Benalier nickte ernsthaft. »Das werden wir, wenn er nicht begreift daß er bereits geschlagen ist. Ich bringe ihm Narben bei, die gut zu dem Krähenfuß auf seiner Stirn passen, und dabei komme ich nicht mal ins Schwitzen.« »Und mir gehört der Sieger?« Kyyraos Ohren zuckten voller Interesse nach vorn. »Es wäre mir ein Vergnügen.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das wäre es nicht.« Ich deutete mit einem Finger auf Kyyrao und sandte ihr einen drohenden Blick. »Halt dich für einen Augenblick hier raus. Meine Freunde, die Khyyiani, sind ein wilder Stamm von Kriegern, die sich kraftvolle Nachkommen wünschen. Man kämpft um das Recht der Vereinigung...« »So wie wir es tun werden...« »Nein, nicht so wie wir es tun werden.« Ich tippte mir auf die Brust. »Ich habe kein Interesse daran, mich an dich zu kuscheln.« »Ich im umgekehrten Fall auch nicht.« »Tja, aber du mußt dir das Recht der Vereinigung mit dem Objekt deiner Begierde
erkämpfen. Bei den Khyyiani - mit ihrem dicken Pelz - richten Herumbalgen, Liebeskniffe und Rippenkitzeln keinen dauerhaften Schaden an. Im Gegensatz dazu wirst du aussehen, als habe man dich durch die Nesseln geschleift, aber du wirst dich nicht mal halb so gut fühlen. Und das geschieht auch nur, wenn es dir gelingt, zuerst an mir vorbeizukommen.« Die Augen des Helden verengten sich, und einen Moment lang glaubte ich in ihren braunen Tiefen einen Funken von Intelligenz zu sehen. »Und warum kämpfe ich mit dir?« Kyyrao schnurrte hinreißend. »Um das Recht des Kampfes gegen mich zu erlangen, mußt du zuerst meinen derzeitigen Gefährten besiegen.« Das brachte Namenlos aus der Fassung, und diesmal arbeitete sein Hirn extrem schnell. Körperlich äußerte sich seine Überraschung darin, daß er sich zu voller Höhe aufrichtete und mit dem Kopf an einen der Deckenbalken stieß. Er sah von ihr zu mir, wieder zu ihr, dann wieder zu mir. Er öffnete den Mund zur Frage, aber dann wurde ihm klar, daß es mir unmöglich wäre, sie im Kampf zu besiegen. Dann schien er sich zu fragen, ob er mich im Kampf besiegen würde. Wenigstens einmal möchte ich erleben, daß einer dieser Benalier zu dem Schluß kommt, daß er keinen Kampf gegen mich gewinnen kann.
Natürlich wird das nie geschehen, obwohl es wundervoll für mein Ego wäre. Vor mir klein beizugeben, würde Namenlos' Ego schrumpfen und verschwinden lassen. Selbstverständlich wäre es noch viel schlimmer, im Kampf gegen mich zu unterliegen, aber die ruhmreichen Träume, die diese benalischen Helden in ihre Köpfe stopfen, lassen wenig Raum für Selbstzweifel. Oder für einen ernsthaften Selbsterhaltungstrieb. Andererseits gibt es nicht viele Leute, die es für notwendig halten, gegenüber jemandem, den sie wie einen Zeltpfahl in den Boden rammen wollen, Vorsicht walten zu lassen. Der sich langsam ausbreitende erstaunte Gesichtsausdruck ließ erkennen, daß er nicht damit gerechnet hatte, daß ich so schnell unter der melonengroßen Faust wegtauchen würde. In Wirklichkeit hatte ich natürlich schon in dem Augenblick reagiert, als er sich von Kyyrao abund mir zuwandte, während seine Faust sich wie der Kopf einer Kobra erhob. Ich folgte seiner Bewegung und trat direkt in das Kraftfeld seines Hiebes. Mit einer Drehung wandte ich ihm den Rücken zu, und der Schlag zielte über meiner rechten Schulter ins Leere. Ich packte sein dickes Handgelenk und zog ein klein wenig daran. Zur selben Zeit duckte ich mich tief nach unten und
warf ihn mir geradewegs über den Rücken. Er kam so hart auf, daß ein paar Dielen knarrten, andere wiederum zerbarsten. Ich ließ sein Handgelenk los, und er rollte wie ein Ball gegen die Theke. Der Hocker, der zwischen dem Helden und der Theke gestanden hatte, explodierte förmlich, zerbrochene Beine und Querstangen flogen überall herum. Vom Fußboden her sah er zu mir auf; sein Hinterteil hing in der Luft, und der Körper wurde von den Schultern gestützt. Namenlos erwartete allem Anschein nach, daß ich ihn gegen den Kopf treten würde, und uns beiden war klar, daß ein solcher Tritt auch jemanden mit einem so dicken Schädel wie dem seinen töten würde. Statt dessen kniete ich mich neben ihn und drückte den Mittelfinger gegen die Stelle im Mittelpunkt seiner Stirn, an der eigentlich keine Augenbrauen sein sollten. Es tat ihm etwas weh, was eigentlich nicht hätte sein müssen, aber der Schmerz überdeckte ein wenig die Wirkung des von mir erwirkten Zaubers. Sein Blick verschwamm und klärte sich schnell wieder, die Pupillen weiteten und verengten sich unabhängig voneinander. Das eine Mal, als ich diesen Spruch zu spüren bekommen hatte, wogte die Welt um mich herum, als würde ich sie durch eine Wand aus Wasser beobachten, und das Ergebnis war nicht besonders angenehm.
Er rollte herum und übergab sich. »So, meine Arbeit hier ist damit beendet.« Ich warf Kyyrao einen finsteren Blick zu. »Nicht wahr?« Sie setzte mit einem zierlichen Sprung über die letzte Mahlzeit des Benaliers und schnurrte mich an. »Jawohl. Du magst mich noch immer.« Ich seufzte. »Wenn es dir um Zeichen meiner Zuneigung geht, dann mußt du diese Kerle nicht dazu bringen, mit mir zu kämpfen. Ich kann rausgehen und dir ein paar Blumen pflücken.« Kyyrao runzelte die Stirn und entblößte kurz ihre blitzenden Zähne. »Während ich den Gedanken daran, daß du mir die Köpfe deiner Gegner als Zeichen deiner Zuneigung überreichst, aufregend finde, läßt mich die Sache mit den Blumen kalt.« Ich warf ihr einen Seitenblick zu, weil sie mich mißverstanden hatte, aber ihr Gegenblick drückte aus, daß ich meinerseits sie nicht verstanden hatte. Da sie die Gebräuche ihres Volkes kannte, ich aber nicht die Gebräuche meines Volkes, hielten wir uns im allgemeinen an die ihr bekannten Sitten. Damit meine ich, daß mir bekannt war, daß Menschen ihren Geliebten Blumen, Edelsteine und andere wertvolle Dinge als Zeichen der Zuneigung schenken, aber ich konnte nicht bestätigen, daß dies auch in meiner Heimat üblich ist, da nicht einmal hier im
Grover's irgend jemand von dort anwesend war oder auch nur wußte, wo meine Heimat war. Ein Zwerg kam zu uns herüber. Mit einer Hand glättete er seinen langen grauen Bart, während er auf uns zutrat. Er sah von mir zu Kyyrao und dann auf den benalischen Helden hinab, der - auf allen vieren - immerhin noch ebenso groß war wie der Zwerg. Der Zwerg blickte wieder zu mir. »Du mußt Bote sein.« Der Benalier ließ beschämt den Kopf hängen. »Ein Bote hat mich verprügelt.« »Das ist Beute - B-E-U-T-E.« Beide sahen mich fragend an. »Na ja, besser als Schatz, denn das war ihre Idee.« Kyyrao streichelte meine Wange mit dem Handrücken, schlug dann den Schwanz von hinten gegen meine Beine. »Schatz zergeht so wundervoll auf der Zunge, und du bist schließlich ein Schatz.« Ich knurrte sie an, und sie revanchierte sich mit einem melodischen Freudenjodler. Von da an übersah ich sie, und stand ihr darin um nichts nach, denn manchmal übersah sie mich, wenn sie gerade in der Stimmung war. Ich streckte dem Zwerg die Hand entgegen: »Beute Niptil, zu Diensten.« Er schüttelte mir die Hand. »Corsen Mon Duur. Ich bin noch recht neu in dieser Gegend. Die Meinen und ich wurden vor ungefähr drei
Monden herbeigerufen. Die Unseren verloren den Kampf, und wir blieben zurück.« Ich rückte. Jeder hier im Grover's konnte eine ähnliche Version dieser Geschichte erzählen. Weltenwanderer - so nenne ich sie, da ich Atheist bin und nicht an Götter und dergleichen glaube - rufen Leute herbei, wie zum Beispiel Zwerge, Benalier, Katzenkrieger, Wassermenschen und andere verwandte Scheußlichkeiten, die ihre Schlachten für sie schlagen. Irgendwann entscheidet dann einer der Weltenwanderer, daß er genug hat, gibt auf und verschwindet. Der Gewinner ist normalerweise fair und bringt seine siegreichen Kämpfer wieder dahin zurück, wo er sie aufgesammelt hat. Der Verlierer macht das nur selten, und so wandern viele Leute in völlig fremden Welten herum. Viele dieser Wanderer enden im Grover's. Der Zwerg fuhr fort: »Vor ungefähr einer Woche wurden wir von einer ganzen Sippe Kobolde gefangengehalten - sahen aus wie Galgenstricke -, die sich in den Ruinen eines alten Klosters verschanzt hatte.« Ich nickte. »Seid ihr von Westen her gekommen?« »Ganz recht. Sie hielten uns für etwas mehr als einen Tag lang gefangen, bis wir ausbrechen konnten. Es gab einen Kampf. Ich bin als einziger entkommen. Bei meinem Abschied hatte
ich es sehr eilig, aber als ich mich verstecken mußte, weil ein Suchtrupp vorbeikam, traf ich eine weibliche Gefangene, die sich Anaytha nannte. Sie sah dir recht ähnlich - schwarzes Haar, grüne Augen, hohe Wangenknochen, einfach alles. Ich sprach mit Sular, dem Wasserfürsten, darüber, und er meinte, ich solle dir von ihr berichten. Ist sie eine Verwandte?« »Anaytha?« Ich ließ mir das Wort probeweise über die Zunge gleiten, spielte dann im Kopf damit herum. Anaytha, Anaytha. Es hörte sich gut an und ließ das Bild einer zierlichen Frau mit dunklem Haar - genau wie das meine, nur viermal so lang - vor mir erscheinen. Ihre smaragdgrünen Augen strahlten, und ihre Glieder schienen fein wie geformtes Elfenbein. Ich sah sie deutlich vor mir. Aber kannte ich sie? »Ich weiß nicht.« Der Benalier wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Ich bin von einem Boten besiegt worden, dessen Verstand so schwach ist, daß er nicht einmal weiß, mit wem er verwandt ist.« Kyyrao fauchte ihn an und hätte ihm fast einen Schlag versetzt der den Großteil seines Gesichts über den halben Raum verteilt hätte, aber ich erwischte ihr Handgelenk. »Er macht sich nicht
über mich lustig - er weiß nichts davon.« »Dummheit sollte weh tun.« Ich rieb mir die Schläfen. »Das tut sie auch, meine Liebe.« Der Zwerg runzelte die Stirn. »Weißt du nicht, ob sie deine Verwandte ist, oder weißt du nicht, ob du weißt, daß sie eine Verwandte ist?« Ich deutete auf den Tisch, an dem der Archäologe saß. »Warum setzen wir uns nicht, damit ich versuchen kann, alles zu erklären?« Ich schlug dem Benalier auf den Rücken. »Du kannst dich zu uns gesellen, wenn du magst.« Wir setzten uns, und ich stellte dem Zwerg und dem Benalier den Archäologen Malkean Feorr vor. Ich lächelte dem Zwerg zu. »Soweit ich mich erinnere, wurde auch ich von irgendwoher gerufen und habe wahrscheinlich für einen Weltenwanderer gekämpft, der besiegt wurde, denn ich bin noch immer hier und nicht an dem Ort, wo ich herkam.« Ich berührte die dreizackige Narbe auf der rechten Seite meiner Stirn. »Nach einem Schlag auf den Kopf konnte ich mich weder daran erinnern, wer ich bin, noch woher ich komme.« Der Zwerg nickte ernsthaft. »Dieser Zustand ist meinem Volk nicht unbekannt. Manchmal bringt ein zweiter Schlag auf den Kopf die Erinnerung zurück.« Ich warf Kyyrao einen bitteren Blick zu. »So
heilen ihre Leute es auch, aber es hat mir nicht geholfen.« »Du solltest es mich noch einmal versuchen lassen, mein Lieber. Diesmal könnte ich es schaffen.« Corsen hob eine Augenbraue. »Also habt ihr nicht gegeneinander gekämpft, als es geschah?« Kyyrao ließ lässig eine Kralle hervorschnellen und kratzte damit über ein arkanes Symbol in der Tischplatte. »Nach einem Streit der Götter war ich mit ein paar Rudelmitgliedern auf der Flucht. Wir hatten die Richtung zum Grover's eingeschlagen, als wir ihn fanden. Einer von uns versuchte ihn zu töten - Shinra war ein kühnes Katerchen und hielt meinen Schatz für wenig mehr als eine Maus. Doch selbst in seinem benommenen Zustand ist mein Schatz mit ihm fertiggeworden. Als nächste habe ich ihn herausgefordert, und er besiegte mich. Die Anstrengung war jedoch zuviel für ihn, und er brach zusammen. Ich habe die anderen aus seiner Nähe vertrieben.« So wie sie es schilderte, hörte es sich an wie eine Bagatelle. Obwohl ich mich nur noch an Bruchstücke des Kampfes entsinnen kann, ist es erschreckend genug. Kyyrao besteht nur noch aus Krallen und Fängen, schreit markerschütternd, und wegen ihrer Schnelligkeit ist sie nur als verschwommene Silhouette zu
sehen. Sie sagt, daß ich sie besiegt habe, aber daran kann ich mich nicht erinnern. Aber bis zum heutigen Tag benimmt sich Shinra, als würde er auf Rasierklingen tanzen, wenn er mich sieht. An die Nachwirkungen kann ich mich jedoch erinnern. Kyyrao und die vier anderen Katzenkrieger waren alles, was von der Truppe sie nannte es Rudel - übriggeblieben war. Sie blieben bei mir, versorgten mich mit Nahrung und brachten mich wieder zu Sinnen. Sie adoptierten mich ganz selbstverständlich und wahrhaftig, was auf lange Sicht gar keine schlechte Sache ist, und gaben mir einen Namen. Vielmehr versuchten sie, mir einen Namen zu geben. Kyyrao gefiel der Klang von ›Schatz‹, sowohl in ihrer Sprache als auch in dem hier üblichen Dialekt. Zur Wahl standen noch ›Kostbarkeit‹ und ›Gewinn‹, aber für beide hatte ich keine Verwendung. Ich entschied mich für ›Beute‹ und verkürzte den Nachnamen Nippedtail zu Niptil. Normalerweise respektiert Kyyrao meine Wahl und nennt mich Beute. Die Ausnahme ist, wenn sie wütend auf mich ist - das geschieht aus Gründen, die zu erforschen ich als hoffnungslos aufgegeben habe, oder auch, wenn sie sich langweilt. So wie jetzt. Ich zuckte die Schultern. »Wegen dieser Kopfverletzung weiß ich also nicht, ob diese
Anaytha mit mir verwandt ist oder nicht.« Namenlos setzte sich, während ich noch sprach. »In Benalien wissen wir, daß ein weiterer Schlag auf den Kopf die Erinnerung zurückbringen kann.« »Klar, das hast du ja versucht, und es hat nicht geklappt, stimmt's?« »Aber mein Hieb hat doch gar nicht getroffen.« »Genau, und wenn du mal vergißt, weshalb das so war, kann ich dir meinerseits auf den Kopf klopfen und dich daran erinnern.« Der benalische Held errötete schweigend. Kyyrao legte eine Hand auf den Arm des Zwergs. »Liegt das Kloster fünf Tagesreisen von hier entfernt, westlich über Nord-West?« »Ja, das stimmt.« Ihre bernsteinfarbenen Augen richteten sich auf den Archäologen. »Kennst du den Ort?« Nachdenklich runzelte Malkean die Stirn. »Es handelt sich wahrscheinlich um den Wanderfalken-Komplex. Die Legende erzählt daß er vor ungefähr zweihundert Jahren zur Ruine zerfiel. Es soll weitläufige Katakomben und Grabkammern unter dem Gebäude geben, also könnte sich jede Menge Abschaum dort versammelt haben.« Der Archäologe zuckte mit den Achseln. »Ich
war niemals dort aber Grover hat mir eines Abends die Geschichte erzählt. Vor zweihundertfünfzig Jahren, vielleicht auch etwas früher oder später, kamen ein paar Wandersleute, welche die Weltenwanderer als Götter ansehen ich möchte damit deiner Anbetung zum göttlichen Windgrace nicht zu nahe treten, Kyyrao -, auf den Gedanken, daß sie nicht in ihre Heimat zurückgeschickt worden waren, weil ihre Herren sie dessen für unwürdig hielten. Sie gründeten das Kloster und die Gemeinschaft, um ununterbrochen zu ihrem Gott zu beten und ihm zu opfern, damit er herbeikommen würde, um sie zu holen. Die Wandersleute warteten, und in der dritten Generation glaubten sie, ihre Gebete seien erhört worden. Ein Gott zeigte sich ihnen, und es kann tatsächlich der Weltenwanderer gewesen sein, der einige oder auch alle ihrer Vorfahren gerufen hatte, aber die Wanderfalken hatten inzwischen eine umfassende Theorie entwickelt, die eingehend bestimmte, durch welche Fragen und Antworten man falsche Götter von dem wahren Gott unterscheiden konnte. Diese Fragen waren von den neuen Generationen entwickelt worden und basierten auf den Erinnerungen an die Traditionen der Klostergründer. Daher standen sie nicht mehr im Zusammenhang mit dem Weltenwanderer. Sie befanden seine Antworten
für falsch und griffen ihn an. Er rief Hilfe herbei und zerstörte die Wanderfalken.« Ich rieb mir das Kinn. »Hast du mir nicht einmal erzählt, daß den Gerüchten nach große Schätze an jenem Ort verborgen sind?« Er nickte. »Stimmt, und außerdem lastet noch ein Fluch darauf. Gemessen an der Kurzlebigkeit jener Kultur möchte ich diese Geschichten bezweifeln. Auf der anderen Seite sind jedoch alle, die sich bisher auf die Suche nach den Schätzen gemacht haben, nicht wieder hierher gekommen, also könnte ich mich irren.« »Du irrst dich bestimmt nicht.« Ich streichelte Kyyraos Rücken. »Du möchtest losziehen, nicht wahr?« Sie nickte. »Dieser Platz hier wird mir zu eng, und wir können nicht zulassen, daß ein Mitglied deines Rudels in den Händen der Kobolde bleibt, stimmt's?« »Corsen, wirst du uns dorthin führen?« Der Zwerg sah uns an und lachte. »Es gibt mindestens vierzig Kobolde dort, vielleicht auch mehr. Wir drei würden abgeschlachtet werden.« »Wenn doch nur ein großer, starker Krieger mit uns gehen würde.« Namenlos nahm den Köder nicht an. »Shinra wird uns begleiten.« Kyyrao sprang auf, warf den Kopf zurück und stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus. Sekunden später
kam ein Echo aus irgendeiner Ecke des Raumes zurück, ihm folgte wie ein orangeschwarzgestreifter Blitz der von Sparren zu Sparren springende männliche Katzenkrieger. »Shinra ist gut, aber vierzig Kobolde sind nicht einfach eine schlichte Bedrohung, sondern etwas für einen richtigen Helden.« Namenlos knabberte an einem Daumennagel. Ich seufzte. »Ob der hochwohlgeborene Herr Benalier uns wohl begleiten möchte?« Er lächelte. »Du brauchst mich nur zu fragen.« »Du bist klüger, als du aussiehst, nicht wahr?« »Wenn ich darauf mit ja antworten würde, Beute, dann würde ich nicht mit euch gehen, oder?« Ich lächelte, um ihm zu verstehen zu geben, daß ich begriffen hatte. »Malkean?« Der Archäologe schüttelte den Kopf. »Eine kleine Expedition ist ausgezogen, um die vermeintlichen Ruinen eines sarpadischen Vorpostens, ungefähr vierzehn Tagesritte von hier, zu durchsuchen. Ich erwarte sie in den nächsten Tagen zurück und will auf keinen Fall die Möglichkeit versäumen, eventuell mitgebrachte Artefakte zu untersuchen. Das gilt natürlich auch für alles, was ihr findet.« »Natürlich.« Ich nickte ihm und dann Shinra zu, als der getigerte Katzenkrieger in Namenlos' Schatten auftauchte. »Laßt uns aufbrechen. Je
früher wir dort ankommen, um so eher können wir wieder hier sein und Lügen über unsere Tapferkeit erzählen.« Grover hatte keine weisen Ratschläge für uns er bietet derartige Hinweise oder Erfahrungen nur an, wenn er in der richtigen Stimmung ist -, aber er versorgte uns mit ausreichend gedörrtem Mammutfleisch und Dreistundenkeksen, um den Hin- und Rückweg zu überstehen. Die Krieger holten ihre Warfen aus der dafür bestimmten Kammer. Zwar kontrolliert Grover die Waffen seiner Gäste nicht, aber er hält einen Platz für ihre Aufbewahrung bereit. Das Gasthaus ist meistens recht gut besucht, daher kann es ganz schön lästig sein, wenn man dauernd eine Hellebarde oder ein Langschwert aus dem Weg räumen muß. Ich besitze kein Schwert. Als Kyyrao mich fand, hatte ich keines, und obwohl ich ein wenig Geschick bei der Handhabung eines Rapiers zeige, mißfällt mir das Gewicht einer Waffe an meiner Hüfte. Außerdem bin ich so klein, daß ich von meinen normal großen Gegnern um einen halben Schritt überragt werde. Da dieser halbe Schritt mehr ist als die Distanz zwischen meiner äußeren Hülle und meinen lebenswichtigen inneren Organen, hielte ich es für geradezu närrisch, wenn ich eine Einladung zu einem
Schwertduell an der Hüfte tragen würde. Ich bin in der Lage, mich auch unbewaffnet zu verteidigen, und meine geringe Fähigkeit, Zauber zu erwirken, läßt Kyyrao glauben, daß ich Mitglied eines geheimen magischen Mörderbundes bin, obwohl bisher niemand, mit dem wir gesprochen haben, von so einer Gruppe gehört hat. Natürlich wäre es denkbar, daß so eine Gruppe existiert, ohne daß - wenn die Geheimhaltung sehr streng ist - bisher jemand davon gehört hat. Also können wir die Möglichkeit nicht völlig ausschließen. Trotzdem halte ich das für sehr unwahrscheinlich. Daß ich Zauber bewirken kann, merkte ich durch Zufall. Im Grover's traf ich einen Straßenmagier, der Kerzen durch einen Spruch entzünden konnte. Nachdem er eines Nachts zuviel getrunken hatte, benutzte er den Spruch, um eine Portion des Gebräus, das die Zwerge so lieben, in Flammen zu setzen. Unglücklicherweise war ein Zwerg gerade dabei, diese Portion zu trinken. Der Zwerg übergab sich, spuckte Feuer auf den Magier, und beide hasteten über Tische und Bänke, um den Abtritt im Grover's zu erreichen und sich ins Wasser zu stürzen. Der Zwerg überlebte, der Magier nicht wahrscheinlich harte er in seiner Trunkenheit vergessen, daß er kein Wasser atmen konnte. Beim Erzählen der Begebenheit ahmte ich die
Handbewegungen des Magiers nach und sprach dazu die gleichen Worte. Nachdem wir das Feuer gelöscht hatten, entschied Kyyrao, daß wir etwas entdeckt hatten, was mich noch ›wertvoller‹ machte. Seitdem waren mir ein paar Sprüche wieder eingefallen, und andere lernte ich von Magiern im Grover's. Obwohl ich keine Formeln beherrsche, die irgendwelche kriegerischen Vorteile mit sich bringen - wenige Feinde ziehen in die Schlacht und kippen dabei reinen Äthylalkohol in sich hinein -, so sind meine magischen Fähigkeiten doch nützlich, wenn es darum geht, Wunden zu heilen und in einer kalten Nacht für Wärme zu sorgen. Wir waren eine recht gemischte Gesellschaft, als wir aufbrachen. Für Corsen hatten wir ein Pony und für Namenlos ein schweres Zugpferd ausgeliehen. Die beiden Katzenkrieger entsprechend ihren Vorlieben und zum Wohle der Pferde in Grovers Stall - reisten auf ihren Pfoten. Die meiste Zeit über ging ich ebenfalls zu Fuß und führte ein Packpferd am Zügel. Manchmal ritt ich, aber nur wenn ich Kyyrao oder Shinra einholen wollte, die als Späher vorauseilten und mir Zeichen gaben, wenn sie etwas Interessantes gesichtet hatten. Die Entfernung bis zum Kloster war auf fünf Tagesreisen geschätzt worden, aber es hatte sich um zwergische Wandertage gehandelt, daher
näherten wir uns unserem Ziel bereits nach drei Tagen. Wir einigten uns darauf, in einem Tal unweit des Klosters unser Lager aufzuschlagen, um am nächsten Morgen zu Fuß weiterzugehen. Während wir uns zum Schlafengehen bereit machten, hob Corsen seine Axt und sein Schild auf. »Ich möchte gern die Gegend ein wenig auskundschaften um sicher zu sein, daß nicht irgendwelche Überraschungen auf meinem damaligen Fluchtweg auf uns warten.« Ich runzelte die Stirn. »Ist das klug?« Er sah mich erstaunt an. »Wie meinst du das? Weißt du nicht, daß ich im Dunkeln sehen kann?« »Darum geht es nicht.« »Sondern?« »Die Kobolde können auch im Dunkeln sehen. Sie sind nachts ziemlich rege, insbesondere am frühen Abend, also gerade jetzt.« Das Bildnis eines krummbeinigen, kleinen roten Wesens drängte sich unvermittelt in meinen Kopf. »Die Unholde haben nicht genug Verstand, um sich einen Hinterhalt auszudenken, außer vielleicht einer der Sippenhäuptlinge. Hast du zufällig einen Sippenhäuptling gesehen?« Corsen schüttelte den Kopf und setzte sich nieder. »Es muß natürlich einer da sein, aber gesehen habe ich ihn nicht.« Der Zwerg kratzte sich den Bart. »Du hast nie erwähnt daß du schon
einmal mit Kobolden zu tun hattest.« Ich zuckte die Achseln. »Warum sollte ich schlecht von Toten sprechen?« Corsen lächelte und ließ die Klinge seiner Axt im Licht des Feuers aufblitzen. »Zu meiner Zeit habe ich auch ein paar niedergemäht.« Ich warf einen Blick zu Kyyrao und Shinra hinüber. »Dann hast du mehr Erfahrung als wir. Vor ungefähr einem Jahr stattete eine Gruppe von Kobolden dem Grover's regelmäßige Besuche ab und fraß sämtliche Vorräte auf. Daraufhin sagte Grover zum Anführer, einem Sippenhäuptling mit Hakenzähnen, der sich Schreckenszahn nannte, daß die Gruppe keinen Kredit mehr habe und dem Gasthaus einen Dienst erweisen müsse. Er wies sie an, Pirquelbeeren aufzutreiben. Die Kobolde verschwanden und überfielen eine herannahende Karawane. Grover teilte uns mit, daß er vorläufig nichts mehr ausschenken werde, bis die Kobolde niedergemacht seien.« Namenlos stocherte mit einem Stock im Feuer herum und sandte eine Funkensäule wirbelnd gen Himmel. »Was geschah mit Schreckenszahn?« Ich tippte Kyyrao sanft auf die Schnauze, und sie machte einen halbherzigen Versuch, mir den Finger abzubeißen. »Die Dame Grrenmw verpaßte ihm einen Schreckensbiß.« Das Feuer knackte, und ich nickte dazu. »So ähnlich hörte
es sich an, als sie sein Genick zwischen den Zähnen hatte. Beim Tode des Sippenhäuptlings gaben die anderen auf und rannten davon. Corsens Bericht über das Kloster ist der erste Hinweis auf erneuten Arger.« Namenlos nickte ernsthaft. »Hiermit gelobe ich, Anonymus Namenlos, vom Clan der Namenlosen, daß diese Kobolde ab morgen niemanden mehr belästigen werden.« In Wirklichkeit war seine Ankündigung viel ergreifender und herzerwärmender, als es sich nun lesen mag. Das Licht des Feuers warf rote und goldene Schimmer über seine Züge, und die Unregelmäßigkeit der Nase wurde ausreichend durch Schatten verdeckt, so daß sein Profil aussah, als sei es wie geschaffen, um auf eine Goldmünze geprägt zu werden. Im Anschluß an seine Worte nahm er einen Wetzstein zur Hand und bearbeitete die Schneide seines Langschwertes mit beeindruckender Energie. Der Zwerg und die Katzen taten es ihm gleich, und ich legte mich schlafen, begleitet von einer Symphonie aus Stahl und Stein. Am nächsten Morgen brachen wir auf. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, wärmte uns mit ihren Strahlen und erstickte das Gefühl aufsteigender Angst, das uns eigentlich hätte erfaßt haben sollen. Kyyrao und Shinra störte die
Tatsache, daß der Wind von hinten kam, aber ich machte mir deswegen keine Sorgen. Kobolde haben bekanntlich nicht den besten Geruchssinn, und der einzig mögliche Platz für einen Hinterhalt lag dort - wenn Corsens Beschreibung des Klosters richtig war -, wo die Seiten des Tals sich zu einem schmalen Paß verengten. Und genau an jener Stelle fanden wir die Kobolde. Sie standen in Viererreihen, mindestens fünf Kobolde hintereinander. Sie trugen spitze kleine Speere und eckige Schilde. Um die Hüften hingen schmutzige Fetzen, und die Helme bestanden zum Teil aus verbeulten Töpfen oder angeschlagenem Geschirr. In den kleinen Schweinsaugen brannte ein wildes Licht, und die geöffneten Mäuler gaben den Blick auf gelbliche Zahne frei. Bevor ich Zeit hatte, über unser Vorgehen nachzudenken, schubste mich Namenlos zur Seite und raste auf die Kobolde zu. Sein Langschwert wirbelte wie eine silberne Scheibe durch die Luft, schnell verringerte sich der Abstand zwischen ihm und der roten Horde. Als er seinen Kampfruf brüllte, antworteten die Kobolde und griffen ihrerseits an. Ich zuckte zusammen und fühlte Kyyraos erwartungsvollen, heißen, feuchten Atem im Nacken. Ich sorgte mich nicht so sehr darum, daß Namenlos getötet werden könnte, sondern
fürchtete vielmehr, mit Koboldblut und Körperteilen bespritzt und übersät zu werden. Ich glaube, Kyyrao freute sich beinahe auf das, was ich fürchtete. Namenlos rannte weiter, seine Stimme übertönte das Zischen seines Schwertes. Die Stimmen der Kobolde vereinten sich zu einem einzigen Schlachtruf. Sonnenstrahlen funkelten auf den rostigen Schneiden ihrer Speerspitzen. Gold blinkte am Griff von Namenlos' Schwert. Nur wenige Zoll trennten die todbringende, geschwungene Klinge von den Kobolden, und ich machte mich auf das Geräusch von zersplitternden Schilden, brechenden Knochen und sanft tröpfelndem Blut gefaßt. Dann verschwand Namenlos. Er verschwand nicht in der Horde geifernder, beißender, gnomenhafter Quälgeister. Er verschwand nicht in einem Purpurschleier, aufgespießt von unzähligen Speeren. Er verschwand einfach. Abgerufen. Weg. Während Namenlos anscheinend keinerlei Beklommenheit oder böse Ahnung bei dem Gedanken an einen Koboldangriff gehegt hatte, muß ich hinzufügen, daß ich recht viel von ersterem und nichts vom zweiten zu bieten hatte. Inzwischen kochten die kleinen Ungeheuer vor
Wut. Ohne sich durch unser benalisches Heldenschild aufhalten zu lassen, stürmten sie auf uns los. Kyyrao und Shinra fauchten sowohl vor Freude als auch vor Ärger, denn ihnen war genau wie mir bewußt, daß sie zwar ihren Anteil am Töten bekommen, aber ebenso viele Koboldspeere spüren würden. Die erste Möglichkeit erfreute sie über alle Maßen, die zweite dagegen keineswegs. Corsen Mon Duur drängte sich zwischen Kyyrao und mir hindurch und breitete die Arme weit aus. Ich fühlte keine Magie, aber die Wirkung seiner Geste war ungeheuer beeindruckend. Die Reihen der Kobolde öffneten sich genau in der Mitte, beinahe als hätte Corsen einen unsichtbaren Keil zwischen sie getrieben. Ich rechnete mit einem triumphierenden Blick, als er sich zu uns umwandte, aber in seinen Augen lag nur Trauer und Sorge. »Bewegt euch! Umzingelt sie! Den Kleinen will er lebend, denkt daran - lebend.« Beide Katzenkrieger sahen mich an, als die Kobolde Corsens Befehl befolgten und uns umringten. Keiner von ihnen wollte sterben, aber die Anweisung des Zwerges ließ diese Möglichkeit zu. Sie warteten auf ein Wort von mir, denn als sie mich gerettet und adoptiert hatten, hatten sie gleichzeitig Verantwortung für mein Leben übernommen. Sie hätten mit
Leichtigkeit fliehen und die Reihen der Kobolde überspringen können, aber indem sie mich zurückließen, hätten sie ihre Verantwortung abgeschüttelt, und das würden sie ohne meinen Befehl nicht tun. Ich schaute zu Corsen hinüber. »Haben sie deine Gefährten als Geiseln genommen?« Der Zwerg ließ den Kopf hängen. »Meinen Bruder und meinen Neffen.« »Und eine Frau, die mir ähnlich sieht, gibt es nicht?« Er schüttelte den Kopf. Aus dem dunklen Abgrund des Passes hinter ihm hallte eine Stimme: »Ich habe ihm die Geschichte befohlen.« Die Stimme holperte und krächzte recht merkwürdig, kam mir aber irgendwie bekannt vor. Kyyrao bleckte die Zähne und fauchte. Der Sippenhäuptling der Kobolde trat aus den Schatten hervor. Er war größer als seine Gefährten, überragte selbst den Zwerg, und trug beinerne Arm- und Beinschützer. Der Helmschmuck bestand aus dem blanken Schädel einer Großkatze. Als er die Arme ausbreitete, erkannte ich die weitläufige Gestik und konnte ihn, obwohl er sich verändert hatte, beim Namen nennen. »Schreckenszahn.« »In der Tat!«
Seine Haut wirkte eher violett als purpurn mehr wie die Farbe alten Blutes. Sein Hals sah irgendwie merkwürdig aus, obwohl man auf den ersten Blick keine Gründe dafür erkennen konnte. Ein Netzwerk aus Knochen, mit Sehnen verbunden, saß auf seinen Schulter und stützte sowohl den Katzenschädelhelm als auch den daruntersitzenden Kopf. Das beinerne Gebilde hatte auf der Vorderseite eine Öffnung, durch die ich mehr von Schreckenszahns Gesicht sehen konnte, als mir lieb war. Die Ohren schauten durch kleinere Löcher an den Seiten hervor. Er wandte sich nach rechts und links, bewegte dabei auch die Schultern, um alle seine Leute sehen zu können. »Treibt sie hinein!« Langsam drehte er sich um und ging auf das Kloster zu, während sich der Kreis der Kobolde enger um uns zog. Ich warf Kyyrao einen fragenden Blick zu. »Ich dachte, du hättest ihn getötet.« »Habe ich. Du kannst sogar noch sehen, an welcher Stelle ich ihm den Hals gebrochen habe, mein Schatz.« Ihre blitzenden Zähne ließen mich einen Schritt zurückweichen. »Du warst es, der seinen Kopf nicht als Zeichen meiner Zuneigung haben wollte.« »Ganz eindeutig mein Fehler.« Ich hatte schon Geschichten über Leute gehört, die von den Toten auferweckt worden sind, aber es handelte
sich dabei immer um den Freund eines Freundes, daher zweifelte ich daran. Unausweichlich spielten auch jedes Mal Weltenwanderer und die ungeheure Macht ihrer Magie eine Rolle. Natürlich war es denkbar, daß ein nur halbwegs geglückter Versuch der Wiederbelebung an Schreckenszahn vorgenommen worden war - ein Versuch, der ihn zwar ins Leben zurückgebracht, den Schaden aber nicht behoben hatte. Auch wenn es sich so zugetragen hatte, erklärte das noch lange nicht, weshalb Schreckenszahn Corsen ins Grover's geschickt hatte, um mich zum Kloster zu bringen. Wenn er sich rächen wollte, hätte er Kyyrao herausgelockt und sie an dieser Stelle abgeschlachtet. Während seiner Zeit im Grover's hatte Schreckenszahn genug über mich erfahren, um zu wissen, daß mich Corsens Geschichte auf jeden Fall zum Kloster locken würde, aber er konnte nicht mit Sicherheit voraussetzen, daß Kyyrao mich begleiten würde. Er wollte mich haben, aber ich hatte keine Ahnung weshalb. Schreckenszahn selbst löste dieses Rätsel, nachdem seine Kobolde uns schließlich in eine Kammer tief unter dem Kloster geführt hatten. Alle Gänge waren mannshoch, daher war mir klar, daß die Kobolde sie nicht gegraben hatten. Gedenksteine aus Granit waren in die Wände
eingelassen und verrieten uns, daß hier anscheinend die berühmtesten Gründer der Wanderfalken ihre ewige Ruhe gefunden hatten. Obwohl ich keine Gelegenheit bekam, die Inschriften der Grabsteine richtig zu lesen, wurden die Worte, die ich im Vorübergehen erhaschen konnte, immer drohender, je tiefer wir hinabstiegen, und gaben mir mehr und mehr über den Fluch, den Malkean erwähnt hatte, zu denken. Fackeln säumten die Wände der großen Kammer unterhalb des Klosters. Im Geiste zog ich zwei Jahrhunderte des Verfalls und ein Jahr Koboldwirtschaft ab und erkannte, daß es sich um ein kunstvoll gestaltetes Mausoleum handelte. Ein paar freistehende Schreine trugen die Abbilder derer, die darin begraben lagen. Sogar im schwachen Licht der Fackeln konnte ich andeutungsweise ein paar Farben erkennen, die darauf schließen ließen, daß die Figuren einmal bemalt worden waren, um die steinernen Bildnisse lebensecht erscheinen zu lassen. Schreckenszahn deutete auf einen in die Wand eingelassenen Steinaltar. Auf der grauen Steinoberfläche konnte ich vielerlei Schriftzeichen ausmachen, deren Sinn mir jedoch verborgen blieb. Ich fand das höchst merkwürdig, denn die Buchstaben waren mir bekannt, aber es kam mir vor, als versuchte ich
in einem Traum zu lesen. Ich wußte, daß die Worte existierten, konnte aber ihren Sinn nicht einmal dann verstehen, wenn ich mir Buchstaben für Buchstaben einzeln vornahm. »Komm näher, noch näher, Beu-eueu-teee.« Ich bedachte Schreckenszahn mit einem Khyyiani-Knurren und brachte Khyyrao damit zum Lachen. Daß die Kobolde immer zusätzliche Silben an meinen Namen hängten, war mir zutiefst verhaßt. Da meine Freunde von Speerspitzen eingekreist waren, konnte ich nur unwillig knurren, deshalb sandte ich noch einen bösen Blick hinterher, drehte mich um und ging auf den Stein zu, als hätte ich das sowieso im Sinn gehabt. Als ich nur noch etwa einen Schritt davon entfernt war, überlief mich das prickelnde Gefühl unmittelbarer Magie. Zwei Auswirkungen machten sich bemerkbar; beide hätten mir angenehme Wahrnehmungen bescheren sollen, aber dem war nicht so. Zuerst verblaßte die Farbe des Steins und wurde kristallklar, so daß ich geradewegs durch ihn hindurchsehen konnte. Reichtümer aller Art konnte ich erkennen Edelsteine, Münzen, Schmuckstücke und andere Kostbarkeiten. Außerdem erblickte ich magische Waffen und - im Vordergrund - eine stabile Rüstung, deren arkane Energie regelrecht Funken sprühte. Mir war klar, daß Schreckenszahns
Wunden heilen würden und er unbesiegbar wäre, wenn er diese Rüstung trüge. Diese Erkenntnis löste die Hälfte des Geheimnisses, weshalb er ausgerechnet mich zum Kloster gelockt hatte. Der zweite Punkt schloß den Kreis und lieferte mir die andere Hälfte. Die völlig unverständlichen Buchstaben verwandelten sich in feurige goldene Worte, die in Flammen standen, ohne jedoch zu verbrennen, und den Rand des Steines einrahmten. Auf den ersten Blick schien die Formulierung sehr veraltet, wandelte sich aber zu einem zeitgemäßen Wortlaut um, bis ich endlich den wahren Inhalt der Botschaft ausmachen konnte. Willst du noch näher an diesen mit Kostbarkeiten gefüllten Hort herantreten, so lasse Vorsicht walten1. Verflucht seien alle deines Namens, so du auch nur eines dieser Dinge stiehlst! Da ich kein Kenner von prophetischer Poesie bin, hatte ich keine Ahnung, wie man dies im Vergleich zu anderen Verwünschungen bewerten sollte. Eigentlich fand ich den Wortlaut nicht besonders drohend und beeindruckend, aber während ich die Worte erneut las, färbten sich die flammenden Buchstaben rot und tropften wie
Blut. Obschon also die Worte an sich keine ausreichende Drohung darstellten, ließ die Art und Weise der Darstellung meiner Phantasie nicht viel Spielraum übrig. Ich entschied, daß in diesem Fall die Darstellung die Botschaft beinhaltete. Ich trat einen großen Schritt zurück. Der Sippenhäuptling grunzte. »Du hast gesehen, was zu sehen war.« »Habe ich, und ich denke nicht daran, diesen Fluch auszulösen.« »Das wirst du auch nicht.« Eigentlich hatte ich erwartet, daß Schreckenszahn diese Worte äußern würde, allerdings in Form einer Frage und nicht als Feststellung. Ich verschob meine scharf und gewitzt formulierte Weigerung auf einen späteren Zeitpunkt und blinzelte. »Wie meinst du das?« Der Sippenhäuptling warf mir einen Blick jener Art zu, wie ich sie während unserer Reise Namenlos mehrfach zugedacht hatte. »Verflucht werden alle deines Namens sein.« »Das habe ich gelesen.« Schreckenszahn lächelte, und das erschien mir beinahe fürchterlicher als die Verwünschung. »Du hast keinen Namen.« Einen Augenblick lang hielt ich inne und dachte nach. Ich hatte keinen Namen, da ich
nicht wußte, wer ich war. Während vieler Diskussionen hatten Malkean und andere gemeint, daß ich von einem Weltenwanderer nicht wieder abgerufen werden konnte, weil durch meinen Gedächtnisverlust jene Person, die ich einmal gewesen war, nicht mehr existierte. Zwar besaß ich ausreichend theoretisches und magisches Wissen, um anzunehmen, daß es sehr hilfreich ist, den Namen eines Wesens zu kennen, wenn man es verzaubern oder abrufen möchte, aber ich hatte keinerlei Gewißheit, daß mein Erinnerungsverlust mich auch vor den Folgen eines Fluches bewahren würde. »Nette Theorie, Schreckenszahn, aber ich möchte sie nicht auf die Probe stellen.« »Nach meiner Theorie sind unsere Speerspitzen äußerst scharf. Soll ich sie mal auf die Probe stellen?« Ich hätte ihm sagen können, daß die Speerspitzen kein bißchen scharf waren, aber die kleinen Ungeheuer am anderen Ende der Waffen konnten diese auch in stumpfem Zustand durch meine Freunde stoßen. »Das Ganze gefällt mir überhaupt nicht.« Corsen erhob sich von der Stelle, an der er zusammengekauert neben zwei verdreckten, in Ketten liegenden Zwergen gehockt hatte. »Was hast du gesehen, als du dich dem Stein genähert hast?« »Gold, Juwelen, Schätze.«
»Was noch?« Ich schüttelte den Kopf. »Sonst nichts.« »Ich sah meinen Sohn sterben, meine Familie in einem Bürgerkrieg auseinandergerissen. Mein Heim war zerstört und von Nesseln und giftigem Kraut überwuchert.« Die Vision war völlig anders wie meine. Ich schob die Ärmel meines Gewandes über die Ellenbogen hinauf. Dann blinzelte ich noch einmal zu Kyyrao hinüber und wandte mich wieder dem Schatz zu. Mit fühlbar trockener Kehle ging ich zu der Stelle, an der sich der Fels in Glas verwandelt hatte, und tauchte hinein. Ich glitt durch den Stein, als existierte ich nicht. Ein Blick zurück offenbarte mir, daß sich das Blut der Worte wie ein roter Vorhang über die Öffnung legte, durch den ich allerdings hinausschauen konnte. Schreckenszahn brüllte: »Eisenhaut!«, und ich warf die Rüstung stückweise nach draußen. Die Kobolde, die nicht als Wachen eingeteilt waren, reagierten auf die erneuten Rufe des Häuptlings. Sie sammelten die Rüstungsteile ein und näherten sich ihm mit derselben Ehrfurcht, mit der Ministranten einem Hierophanten den Ornat bringen. Nachdem ich den Helm mit einem Tritt durch die blutrote Öffnung getreten hatte, wandte ich mich um und bückte mich. Wie ein Hund, der einen verborgen Schatz ausgraben will,
schaufelte ich die Gold- und Silbermünzen zwischen den Beinen hindurch. Ich bemühte mich, den Schatzregen so chaotisch wie möglich zu gestalten. Einige der großen Edelsteine waren ausreichend, um den Schädel eines Kobolds zu spalten, aber ich zielte nicht, und sie bewegten sich, also erstarb der Gedanke ohne ernsthafte Durchführung. Meine andere Hoffnung blieb ebenfalls ergebnislos. Wenn sich die Dinge so entwickelt hätten, wie ich gehofft hatte, hätten sich die Kobolde wie wild auf das Gold, die Edelsteine und die Schmuckstücke gestürzt und die Bewachung von Kyyrao und Shinra vernachlässigt. Das Problem bei Kobolden ist jedoch, daß ihre Köpfe nur jeweils einen Gedanken fassen können. Daher behielt der Gedanke an die Bewachung meiner Freunde die Oberhand; die ganze Angelegenheit sah recht bedenklich aus. Dann entdeckte ich den Griff eines Schwertes. Indem ich es aus dem Berg von Münzen herauszog, fühlte ich, daß ich damit in der Lage sein würde, Schreckenszahn wieder ins Grab zu befördern. Ich wandte mich um, sprang aus der Schatzkammer hinaus und riß das Schwert in die Höhe, um mit einem Schnitt die Ohren des Sippenhäuptlings in Augenhöhe abzutrennen. Ein Rubin geriet unter meinen linken Fuß und
brachte mich aus dem Gleichgewicht. Die Klinge drehte sich und schlug mit der flachen Seite auf den erhobenen Arm des Kobolds. Schreckenszahn stolperte von dem Schrein, der ihm als Thron gedient hatte, und hieb mit der behandschuhten Faust um sich. Seine Rückhand erwischte mich an der Schläfe und riß mich von den Füßen. Ich flog durch die Luft und landete unsanft auf dem Boden der Kammer. Mit dem Kopf knallte ich gegen einen anderen Schrein und verlor für den Bruchteil einer Sekunde das Bewußtsein. Mit dem Gefühl von Schmerz, Furcht und Erstaunen kam ich wieder zu mir. Wo bin ich? Wer bin ich? Warum bin ich hier? Ich schüttelte den Kopf, um Klarheit in meine Gedanken zu bringen. Dann dröhnte Schreckenszahns rauhe Stimme in meinen Ohren und brachte die Erinnerung zurück. Der Sippenhäuptling schwang das Schwert, mit dem ich ihn hatte töten wollen, und riß sich die letzten Reste des Knochengeflechts vom Kopf. »Ich brauche dich nicht mehr, kleiner Mann!« Ich knurrte ein wenig lauter als zuvor und richtete mich wieder auf. »Du Narr«, fauchte ich ihn an, »weißt du überhaupt, was du getan hast?« Reine Bosheit lag in meiner Stimme, während ich mir einen Blutstropfen von der Stirn
abwischte. Ich zerrieb das Blut zwischen Daumen und Fingern zu einem Nichts, dann lächelte ich. »Der Hieb auf meinen Kopf. Mein Gedächtnis.« Ein leises, drohendes, dumpfes Lachen kam aus meiner Kehle. »Ich bin ein Weltenwanderer. Zittere in meiner Gegenwart, Erbärmlicher!« »Du lügst!« Ich öffnete die Hände und breitete die Arme aus. »Komm her, und ich werde dir deine grenzenlose Dummheit beweisen!« Der Sippenhäuptling umklammerte den Schwertgriff mit beiden Händen, riß die Waffe hoch und nach hinten, bereit für einen Hieb, der mich vom Kopf bis zu den Zehen spalten würde. In seinen Augen lag ein wilder Blick, der sich jedoch drastisch veränderte, als die gerade Klinge des Schwertes den Wendepunkt erreicht hatte. Zuerst erschien die Angst, dann der Schmerz. Ich war mir nicht sicher weshalb, aber dann fuhr die Schwertspitze durch den Brustpanzer, rollte sich regelrecht zusammen und stieß geradewegs ins Herz des Sippenhäuptlings. Schreckenszahn fiel auf den Rücken, wippte ein paarmal vor und zurück, bis er mit einem Zucken auf die Seite rollte. Die anderen Kobolde sahen von ihm zu mir und wieder zurück. Als sie sich wieder mir zuwandten, deutete ich auf den mir am nächsten stehenden. Sein Schild und
Speer gingen augenblicklich in Flammen auf. Sein Geschrei und der zusätzliche Gestank seiner brutzelnden Haut brachten den Rest der führerlosen Horde um die Fassung. Sie stoben durch sämtliche Gänge und Ritzen hinaus, und ich blieb mit den Zwergen und Katzen allein zurück. Alle sanken vor mir auf die Knie. Kyyrao blickte mich bewundernd an, Shinra und Corsen wirkten verwirrt. Corsens Gefährten sahen mich ängstlich an. »Steht auf.« »Wie Ihr befehlt, Erhabener«, flüsterte Corsen ehrfürchtig. Shinra sank zu Boden, drückte das Kinn auf die Steine und rollte sich dann mit ungeschütztem Bauch auf den Rücken. »Göttlicher Windgrace, verzeiht mir, daß ich Euch bei unserer ersten Begegnung angegriffen habe.« Ich streckte die Hände aus, bevor noch jemand sich äußern konnte. »Wartet, hört auf damit! Ich bin kein Weltenwanderer.« Kyyrao schnupperte und setzte sich auf die Hinterbeine. »Wir haben gehört, was Ihr gesagt habt.« »Das war nur für die Kobolde bestimmt.« Corsen nickte. »Jawohl, aber wir alle hörten und verstanden es. Es ist eine Gabe der
Weltenwanderer, in der Sphärensprache zu reden.« »Ach was, du hast mich verstanden, weil ich argotisch und nicht koboldisch gesprochen habe. Ich kann überhaupt nicht Koboldisch.« Ich setzte mich mit gekreuzten Beinen nieder. »Ich bin kein Weltenwanderer.« »Aber Ihr müßt einer sein.« Corsen deutete auf Schreckenszahns Körper. »Was Ihr mit dem Schwert getan habt. Nur ein Weltenwanderer kann so etwas!« »Stimmt«, sagte ich. »Ein Weltenwanderer hat es auch getan.« »Und das seid Ihr, mein Scha... mein Gebieter.« »Nicht ich.« Ich riß einen Tuchstreifen von meinem Ärmel und tupfte mir das Blut von der Stirn. »Ein Weltenwanderer sammelte all jene Schätze und belegte sie mit dem Fluch.« Sie starrten mich an, als sei ich entweder ein Gott oder aber völlig verrückt. »Seht doch, mir wurden die Zusammenhänge klar, als ich den Schlag auf den Kopf erhielt, besser gesagt, als ich wieder zu mir kam. Der Fluch lautet doch an einer Stelle: ›Verflucht seien alle deines Namens.‹ Wir sind davon ausgegangen, daß der Fluch mich nicht treffen würde, weil ich keinen Namen habe.« Corsen rückte. »Stimmt.«
Ich lächelte. »Aber ich habe einen Namen: Beute.« Ich wies auf die Rüstung und das Schwert. »Das Zeug dort ist Beute. Du sahst, wie deine Familie zerstört wurde, ich sah die Rüstung und wußte, daß sie Schreckenszahn unbesiegbar machen würde. Was mich betrifft, wäre das ein Verhängnis, ein Fluch gewesen. Das Schwert tötete ihn nicht, und ich stolperte über einen Rubin - die Beute war also verflucht.« Kyyrao schnurrte. »Und als Schreckenszahn versuchte, dich zu töten, wandten sich die verfluchten Gegenstände gegen ihn.« »Genau wie die Wanderfalken, die sich gegen den Weltenwanderer wandten, für den sie dieses Kloster errichtet hatten und ihn angriffen.« Ich zuckte die Schultern. »Begreift ihr jetzt, daß ich kein Weltenwanderer bin? Ich stehe genauso unter dem Einfluß ihrer Magie und ihrer Flüche wie jeder andere.« Shinra rollte sich wieder auf den Bauch. »Also bist du jetzt verflucht?« »Ich glaube nicht. Corsen, zeigte dir deine Vision, daß auch du verletzt wurdest?« »Nur durch das, was ich sah, sonst nicht.« »Wenn ich verflucht wäre, hätten die Worte lauten müssen: ›Verfluchst bist du und alle deines Namens.‹ Dieser Weltenwanderer war sehr feinfühlig und wollte den Übeltäter den durch den Fluch heraufbeschworenen Kummer
durchleben lassen.« Kyyrao schlich zu Schreckenszahns Körper hinüber. Mit einem Krallenhieb und einer energischen Drehung trennte sie den Kopf vom Rumpf. »Gehen wir auf Nummer Sicher.« »Einverstanden.« Ich stand auf. »Sollen wir aufbrechen?« Shinra sprang auf den Gang zu, durch den wir in das Mausoleum gebracht worden waren. »Die Luft wird allmählich rein vom Koboldgestank.« Kyyrao rannte zum Tunneleingang und brüllte eine Herausforderung auf kkyyiani in die Dunkelheit. Als das Echo verhallte, schnupperte sie. »Die Luft ist tatsächlich rein vom Koboldgestank.« Ich lächelte und blickte hinüber zu der Stelle, wo die Zwerge sich langsam und vorsichtig ihren Weg über einen Teppich aus verstreuten Münzen bahnten. »Corsen, brauchen deine Verwandten Hilfe?« Der Zwerg errötete. »Nein, das ist einfach unsere Art. Wir verlassen einen solchen Schatz nur sehr ungern, ohne etwas davon mitzunehmen.« Er streckte seine kleinen Hände in die Höhe. »Aber ich weiß, daß es ein Fehler wäre, etwas davon mitgehen zu lassen, wenn die Magie eines Weltenwanderers darüber wacht.« »Vielleicht wird eines Tages ein anderer Weltenwanderer diese Magie besiegen, und
dieser Schatz wird an jene gehen, die seinen wahren Wert zu schätzen wissen«, setzte ein anderer Zwerg hinzu. »Vielleicht.« Ich holte tief Luft und seufzte. »Allerdings gehörten nur das Schwert, die Rüstung und der Rubin, über den ich gestolpert bin, zur Beute. Der Rest ist einfach nur Ramsch.« Corsens Augen leuchteten auf. »Keine Beute?« »Nein. Das sieht doch jeder.« Ich blickte mich um. »Eigentlich könnte jemand diesen Raum mal aufräumen.« Kyyrao stieß ein halb gejodeltes Lachen aus. »Und den Ramsch hinausbringen?« »Weit weg von hier«, antwortete ich lächelnd. »Weit, weit weg von hier?« fragte der jüngste Zwerg. »Aber klar doch.« Corsen rieb sich die Hände und griff nach einem großen Smaragd, hielt dann aber inne und sah mich an. »Glaubst du wirklich, daß es jetzt ungefährlich ist?« »Ganz sicher, Corsen.« Ich hockte mich auf den Boden und ergriff ein Tigerauge von der Größe einer Pflaume, das oben auf einem Stapel Münzen gelegen hatte. »Darauf würde ich meinen Namen verwetten.« HANOVI BRADDOCK
Vom Messingmann, der versinken wollte In den alten Zeiten, als die Sonne und die Sterne noch heller leuchteten und nur ein einziger Mond am Himmel stand, lebte eine Müllerin mit ihrem Sohn. Dieser Sohn war so gutaussehend, wie seine Mutter arm war. Die Müllerin war wirklich sehr arm, denn der Bach, der die Mühle angetrieben hatte, war im Laufe der Jahre ausgetrocknet. Nun bestand er nur noch aus einem Rinnsal und vermochte das Mühlrad nicht mehr in Gang zu halten. Die Nachbarn der Müllerin fuhren mit ihrer Ernte weit fort, um sie mahlen zu lassen. Bald war die Müllerin so arm, daß sie nichts mehr besaß außer der Mühle und dem dahinterstehenden Kirschbaum. Trotz ihrer Armut wollte die Müllerin nur das Beste für ihren Sohn. Nur eine reiche Gemahlin kam in Frage. Als ein Bauernmädchen, einen Strauß Wiesenblumen in den Händen, mit ihrer Familie zur Mühle kam und um ihn werben wollte, jagten die Müllerin und ihr Mann sie fort. »Aber Mutter, ich habe schon von ihr gehört«, sagte der Sohn und hob die Blumen auf, welche die junge Frau fallengelassen hatte. »Man sagt, sie habe ein gutes Herz, einen schnellen Verstand und eine sanfte Hand. Mit ihr würde ich
bestimmt das Glück zweier Herzen finden.« Er war ein frommer Junge, und die Verheißungen der Propheten bedeuteten ihm mehr als alle Reichtümer. Aber die Müllerin ließ sich nicht erweichen. Ihr Sohn sollte in einem wohlhabenden Haus leben, nicht in irgendeinem Bauernhaus. Ihr Gemahl war jedoch etwas verunsichert. Eine ganze Menge sprach auch für das Glück zweier Herzen. Hatten nicht auch die Müllerin und er dieses Glück gefunden? Obwohl er in dieser Angelegenheit auch etwas mitzureden hatte, behielt seine Frau das letzte Wort. Eines Tages, als der Mann der Müllerin mit einer Ladung Holz aus dem Wald kam und den Heimweg einschlug, begegnete ihm eine Jagdgesellschaft. Dazu gehörten die Herrin der nahegelegenen Ländereien und eine weitere, noch prächtiger gekleidete Dame, die der Mann nie zuvor gesehen hatte. »Holz hacken! Zum Glück bin ich von solchen Arbeiten stets verschont geblieben«, sagte die Herrin und verzog das Gesicht. »Ich wünschte, ich müßte sie nimmermehr tun«, antwortete der Mann der Müllerin. »Ich muß Holz hacken, um unser täglich Brot zu verdienen. Alles würde ich geben, um von dieser Bürde befreit zu sein.« »Du bist der Gemahl der Müllerin, nicht wahr?
Sprichst du im Namen deines ganzen Haushalts? Wenn du wirklich meinst, was du sagst, dann werde ich dafür sorgen, daß du nie wieder so hart arbeiten mußt. Ich tausche diese Ringe und einen schweren Beutel mit Gold gegen das, was hinter deiner Mühle steht.« Was, außer dem Kirschbaum, konnte die Herrin meinen? Der Mann stimmte eifrig zu, der Handel wurde niedergeschrieben und unterzeichnet, und die Dame ließ die schweren goldenen, mit Juwelen besetzten Ringe, in seine Hände fallen - plop, plop, plop. Dann sprach sie zu ihm; »In einem Monat bringe ich dir das Gold und hole mir, was mein ist.« Mit einem Blick zu der reich gekleideten Fremden fügte sie hinzu: »Frau Justitiarin, Ihr seid meine Zeugin.« »Das bin ich«, antwortete diese und nestelte an ihren Gewändern, »und dieser Handel ist vor dem Gesetz besiegelt worden.« Überglücklich ging der Mann nach Hause, und die Müllerin jubelte laut vor Freude, als sie die Ringe mit den großen Edelsteinen sah. »Was hast du ihr denn dafür geben müssen?« fragte sie. »Die Herrin hat nur das gewollt, was hinter unserer Mühle steht. Und wir können gut ohne den Kirschbaum auskommen!« Die Müllerin lachte. »Was sollte sie wohl mit einem Kirschbaum wollen, Mann? Das kann sie
nicht gemeint haben! Unser Sohn stand hinter der Mühle und lüftete die Bettlaken.« Der Mann erbleichte, als er das vernahm. »Na, na«, sagte die Müllerin, »der Handel ist schon recht. Unser Sohn wird als Gefährte der Herrin ein gutes Leben führen. Wir haben ihn aufs beste versorgt.« »Seinen Körper vielleicht, aber nicht sein Herz«, erwiderte ihr Mann, der seinen Sohn kannte. Er hatte recht. Als der Sohn hörte, daß er von einer Dame ausgehalten werden sollte, wurde er sehr böse. Er stürmte aus der Mühle in den Wald, und keine Befehle und Versprechungen seines Vaters brachten ihn zurück. Der Sohn wanderte tiefer und tiefer in den Wald hinein, weiter, als er je zuvor gegangen war. Endlich gelangte er auf eine Lichtung, auf der ein paar Büsche wuchsen. Unweit davon lag ein Steinhaufen. Zwar war der junge Mann müde von seiner langen Wanderung, aber auch noch immer ärgerlich. Er hob einen Stein nach dem anderen auf und warf ihn in die Büsche. Wusch! machte der erste und wirbelte ein paar grüne Blätter auf. Wusch! machte der zweite. Kling! machte der dritte. Da steckt doch was dahinter, dachte der junge Mann, dessen Neugierde die Oberhand über seinen Arger gewann. Er bog die Äste des
Buschwerks auseinander und erblickte die Messingfigur eines Mannes. Die Metallstatue stand wie ein Soldat in Hab-acht-Stellung und hatte anscheinend schon so lange hier gestanden, daß sie bereits bis zu den Knien in den Boden gesunken war. »Ein kleiner Zauber würde sicher einen großen Krieger aus dir machen«, sagte der junge Mann, »aber ich wüßte nicht, was ich mit einem Krieger anfangen sollte.« Dann ging er langsam heimwärts; seine Wut war verraucht sein Kummer hielt jedoch an. Er verließ den Wald nicht an der Stelle, an der er hineingegangen war, und fand sich auf Grund und Boden wieder, den er nie zuvor betreten hatte. Bei Einbruch der Nacht hatte er sich verirrt, doch endlich erblickte er ein kleines viereckiges Licht und ging darauf zu. Es war das Fenster einer Waldarbeiterhütte. Ich werde hier nach dem Weg fragen, dachte er und öffnete die Tür. Darinnen saß eine uralte Frau, deren Kopf unaufhörlich auf und nieder wackelte und deren Hände wie Blätter im Wind zitterten. Sie schürte ein Feuer, von dem kein Rauch aufstieg. »Ich bitte vielmals um Verzeihung«, sagte der junge Mann. »Könnt Ihr mir den Weg zur Mühle weisen?« »Zur Mühle?« fragte die Alte. »Zu jener
Familie, welche die Werbung meiner Enkelin mißachtet hat und ihr die Tür wies?« »Gerade jene«, erwiderte der junge Mann. »Aber es war nicht mein Wunsch, Eure Enkeltochter zurückzuweisen.« Daraufhin erzählte er ihr, wie man ihn gegen seinen Willen versprochen hatte. »Du armer Junge«, meinte die alte Frau. »Die Landesherrin kleidet und schmückt ihre Gefährten aufs prächtigste, aber nach kurzer Zeit werden ihre Herzen zu Eis, und sie sterben.« »Was kann ich tun?« fragte er. »Wenn ich davonlaufe, bin ich wortbrüchig und ein Ausgestoßener.« »Bedenke dieses Rätsel«, sagte die Alte. »Was gehört dir, das du nicht ganz hergeben willst? Wenn du die Antwort weißt, sprich mit meiner Enkeltochter, aber nur mit ihr allein. Von jetzt an darfst du kein Wort mehr zu jemandem sprechen, bevor dies nicht geschehen ist.« Dann nahm sie ein Messer, griff in das rauchlose Feuer und schnitt eine Flamme ab, als sei es ein Stückchen Wolle vom Bein eines Schafes. Die alte Frau steckte die Flamme in eine Zunderbüchse, die Zunderbüchse in einen Brotkorb und den Brotkorb unter ihre Bettstatt. Danach wies sie ihm den Weg zur Mühle. Der Müllerssohn nickte dankend und ging von dannen. In den darauffolgenden Tagen sprach er
kein Wort, und sein Vater deutete dies als Zeichen des Kummers, seine Mutter als Zeichen von Widerspenstigkeit. Aber die ganze Zeit über dachte der Junge nur an das Rätsel. Als nun die Zeit gekommen war, erschien die Herrin mit dem Beutel voller Gold, den Jägern und der Justitiarin bei der Mühle. Beinahe zur gleichen Zeit betrat auch das Bauernmädchen mit ihren Brüdern und Eltern den Hof. »Wir haben bei dieser Sache mitzureden«, sprach die Mutter des Mädchens, »denn wir freiten zuerst, doch blieb unsere Werbung ohne Antwort.« »Ohne Antwort!« rief die Müllerin. »Was soll das? Ich trieb euch doch vom Hof!« »Aber noch bevor Ihr unsere Werbung vernahmt«, gab die Bäuerin zurück. Und ihre Tochter setzte hinzu: »Wenn wir eine Werbung aussprachen, so laßt Euren Sohn die Bedingungen wiederholen.« Aber der Sohn der Müllerin schwieg. Er grübelte noch immer über das Rätsel nach. »Eine nicht gehörte Werbung ist eine nicht zurückgewiesene Werbung«, sagte die Justitiarin. »Es besteht zwar kein Vorrecht, aber sie haben das Recht, angehört zu werden. So will es das Gesetz.« »Nun, laßt sie sagen, was sie wollen«, sagte die Herrin herablassend. »Es ist nebensächlich. Ich habe einen Vertrag.«
»Einen Vertrag über das, was hinter der Mühle steht, und da steht jetzt nur ein Kirschbaum«, warf das Bauernmädchen ein. »Der Vertrag ist völlig eindeutig«, meinte die Herrin, »oder worüber reden wir hier?« »Nicht ganz eindeutig, nicht ganz«, sagte die Justitiarin und schnalzte mit der Zunge. »Ein unklarer Vertrag kann angefochten werden. So will es das Gesetz.« »Aber Du wart meine Zeugin, Justitiarin!« rief die Herrin aus. Dann warf sie der Müllerin den Beutel mit Gold vor die Füße, in der Hoffnung, daß die Angelegenheit dadurch besiegelt wäre. »Müllerin, ist dies nicht das versprochene Gold?« Die Müllerin wog den Beutel in der Hand und lächelte. Aber ihr Mann nahm ihn ihr fort und schüttelte den schweren Beutel, als handele es sich nur um einen Beutel voller Eierschalen. »Der ist nicht so schwer, wie ich gemäß Eurem Versprechen erwarten konnte«, meinte er unwirsch. Die Müllerin warf ihm einen bösen Blick zu. »Schwer genug«, sagte sie, den Beutel wieder an sich reißend. »Er ist mein Sohn, daher hat meine Stimme Gewicht.« »Aber sein Vater war es, der den Vertrag geschlossen hat«, mischte sich das Bauernmädchen ein.
»Stimmt, stimmt«, nickte die Justitiarin. Die Müllerin und die Herrin sahen sie wütend an. »Versucht Ihr damit zu sagen, daß der Vertrag ungültig ist?« »Nun«, meinte die Justitiarin, neigte sich nach links und erläuterte zuerst die eine Seite der Angelegenheit. Dann lehnte sie sich nach rechts und erläuterte die andere Seite, gerade wie die Rechtsgelehrten es immer zu tun pflegen. Zum Schluß waren sie nicht klüger als zuvor. »Das Gesetz arbeitet langsam und ungewiß«, sagte die Bauerstochter. »Laßt uns übereinkommen, den Vertrag auf andere Weise zu prüfen.« Die Herrin lächelte. »Schön, schön«, meinte sie fröhlich. »Euer Weizenfeld muß abgeerntet werden. Wenn der ganze Weizen morgen bis zur Dämmerung geschnitten und zu Garben aufgereiht ist, gilt der Vertrag nicht mehr. Sollte aber auch nur der kleinste Kratzer oder die kleinste Blase an den Händen des jungen Mannes zu sehen sein, dann gehört er mir.« Damit forderte sie den Beutel mit Gold zurück und ritt davon, die Jäger und die Justitiarin folgten ihr. Die Müllerin war so wütend, daß sie wortlos in die Mühle ging, ihr Gemahl folgte ihr auf dem Fuße. Die Bauersleute wandten sich ebenfalls zum Gehen, nur das Mädchen blieb für einen Augenblick zurück.
»Hast du mir etwas zu sagen?« fragte sie den Müllerssohn. »Die Erinnerung gehört mir, aber ich mag sie nicht ganz hergeben«, erwiderte er, denn er hatte das Rätsel gelöst. »Hier ist etwas, an das ich mich erinnere: Tief im Wald befindet sich eine Lichtung. In der Mitte, von Büschen überwuchert, steht eine Messingfigur - so uralt, daß sie im Boden versinkt.« »Gut geantwortet«, sagte das Bauernmädchen. »Dort müssen wir uns heute bei Mondschein treffen, aber bis dahin darfst du kein Werkzeug berühren und nicht arbeiten.« Der Junge befolgte ihre Worte. Als der Mond hoch am Himmel stand, traf er sie auf der Lichtung bei der Messingstatue. Das Mädchen hackte die Büsche nieder und grub die Beine und Füße der Figur aus. Dann öffnete sie eine Zunderbüchse - und heraus sprang die Flamme des rauchlosen Feuers. Sie sprach ein Wort zu der Flamme, diese erlosch, und der Messingmann öffnete die Augen. »Befiehl ihm«, sagte das Mädchen. Also befahl der Müllerssohn dem Messingmann, den Weizen zu ernten. Der Messingmann arbeitete so schnell wie der Blitz, und als die beiden jungen Leute aus dem Wald heraustraten, erhellte sich der Himmel im Osten, und jeder Halm war geschnitten und jede Garbe gebunden.
Der Messingmann hatte mit seinen Metallhänden gute Arbeit geleistet und verbeugte sich nun vor ihnen. Ein Spatz ließ sich auf seiner Schulter nieder und zwitscherte: »Handel, Handel, Handel! Mein Dienst war für Königinnen und Zauberer wunderbar, doch Ruhe find ich nur, wenn ich zur Hölle fahr - also laßt mich versinken.« Dann sank sein Kopf auf die Brust, die Augen schlossen sich, und der Spatz flog davon. »Wir sollten ihn erlösen«, sagte der Müllerssohn. »Er hat uns einen großen Dienst erwiesen.« »Noch nicht«, antwortete die Bauerstochter und bedeckte den Messingmann mit Ästen, um ihn vor neugierigen Blicken zu verstecken. Als die Herrin, ihre Jäger und die Justitiarin zurückkehrten, sahen sie zu ihrer großen Überraschung, daß der gesamte Weizen geschnitten und zu Garben gebunden war. Noch überraschter waren sie über den Zustand der Hände des jungen Mannes. Kein Kratzer, keine Blase oder irgendein anderer Makel war zu erkennen. Auch die Müllerin war nicht weniger erstaunt. »Laß mich noch einmal sehen«, forderte die Herrin, und während sie sich über die Hände des Jungen beugte, ritzte sie ihn mit einer Nadel an der Handfläche. »Ich sehe einen Kratzer«, sprach
sie alsdann. »Wo es vorher keinen gab!« erwiderte der Müllerssohn. »Ein Kratzer ist ein Kratzer«, meinte die Müllerin und beäugte den Beutel mit Gold. »Justitiarin?« fragte die Herrin. Wieder neigte sich die Justitiarin zuerst nach links und erläuterte die eine Seite der Angelegenheit, dann neigte sie sich nach rechts und erläuterte die andere. »Genug davon!« bestimmte die Herrin. »Wir einigen uns wie folgt: Der Weizen muß gedroschen werden. Wenn er sämtliche Garben einbringt und das Korn bis zum nächsten Morgen gedroschen hat, wird der Vertrag ungültig. Aber finde ich auch nur das kleinste bißchen Spreu oder Stroh an ihm, dann gehört er mir.« Damit ergriff sie den Beutel mit dem Gold und ritt samt den Jägern und der Justitiarin davon. Abermals war die Müllerin so aufgebracht, daß sie wortlos ins Haus ging, dicht gefolgt von ihrem Gemahl. »Berühre keinen einzigen Strohhalm, sondern triff mich im Mondschein an der Stelle, wo wir den Messingmann gelassen haben«, sagte das Bauernmädchen. Der Müllerssohn tat, wie ihm geheißen. Als der Mond hoch am Himmel stand, traf er sie bereits beim Wegräumen der Äste an, unter denen der Messingmann versteckt war. Der
junge Mann bemerkte mit Erstaunen, daß der Messingmann ein wenig in die weiche Erde gesunken war und die Bauerstochter seine Knöchel ausgraben mußte. Dann öffnete sie ihr Zunderkästchen, und heraus sprang die Flamme des rauchlosen Feuers. Sie sprach das Wort, die Flamme erlosch, und der Messingmann öffnete die Augen. »Befiehl ihm«, sagte das Mädchen. Also wies der Müllerssohn den Messingmann an, die Garben einzubringen und zu dreschen. »Und trenn auch die Spreu vom Weizen«, fügte das Bauernmädchen hinzu. Der Messingmann leuchtete im Mondlicht auf und eilte von dannen. Er trug die Garben mit solcher Geschwindigkeit zur Mühle, daß man ihm kaum mit den Augen folgen konnte; drosch mit seinen Messinghänden die Körner vom Halm und warf sie anschließend in die Luft, um die Spreu abzusondern. Dann legte er auch noch das Stroh zusammen. Als sich der Himmel im Osten rosig färbte, lag auf dem Hof der Mühle ein großer Berg fertigen Korns, ein dahingewehter Teppich von Spreu und ein Strohhaufen. Der Messingmann verneigte sich. Ein Rotkehlchen ließ sich auf seiner Schulter nieder und trillerte: »Nur Mut, nur Mut, nur Mut! Mein Dienst war für Königinnen und Zauberer wunderbar, doch Ruhe find ich nur, wenn ich zur
Hölle fahr - darum laßt mich versinken.« Dann sank sein Kopf auf die Brust, die Augen schlossen sich, und das Rotkehlchen flog davon. »Wir sollten wahrhaftig seinem Wunsche entsprechen«, meinte der Müllerssohn. »Er hat uns gute Dienste erwiesen.« »Noch nicht«, antwortete die Bauerstochter, und wieder verbarg sie den Messingmann unter einigen Ästen. Stellt euch nur vor, wie überrascht die Herrin, ihre Jäger und die Justitiarin bei ihrer Rückkehr waren! Das Korn war nicht nur gedroschen, auch die Spreu war bereits abgesondert! Die Herrin sprang vom Pferd und siebte die Körner mit den Händen - keine Spreu war zu finden. Dann siebte sie die Spreu - keine Körner befanden sich dazwischen. Noch erstaunlicher war die Tatsache, daß sich weder das kleinste bißchen Spreu auf der Kleidung des Müllerssohnes noch ein winziges Hälmchen Stroh in seinem Haar befand. Auch die Müllerin war verblüfft. »Laß mich noch einmal sehen«, forderte die Herrin, und als der Müllerssohn dieses Mal den Kopf vor ihr neigte, schnippte sie ein Stückchen Spreu von den Fingern in sein Haar. »Ich sehe Spreu«, erklärte sie. »Wo vorher keine war!« erwiderte der Müllerssohn. »Spreu ist Spreu«, meinte die Müllerin und
schaute auf die Satteltasche der Herrin, in der sie das Gold vermutete. »Justitiarin?« fragte die Herrin. Wieder einmal neigte sich die Rechtsgelehrte zur Linken, um die Angelegenheit zuerst von der einen Seite zu erläutern. Dann neigte sie sich zur Rechten, um die Angelegenheit von der anderen Seite zu erläutern. »Genug!« sprach die Herrin. Sie stemmte die Hände in die Hüften und blickte sich um. Endlich erspähte sie den kleinen Bach, dessen spärliches Rinnsal nicht ausreichte, um das Mühlrad anzutreiben. »Wir einigen uns anders: Das Korn muß gemahlen werden. Wenn es ihm gelingt, aus dem gesamten Korn bis Tagesanbruch Mehl gemahlen zu haben, ist der Vertrag ungültig. Finde ich jedoch eine Spur von Mehl an ihm, dann gehört er mir.« Mit diesen Worten stieg sie wieder in den Sattel und ritt mit den Jägern und der Justitiarin davon. Während des Rittes neigte sie sich einem der Jäger zu und raunte: »Die Sache geht nicht mit rechten Dingen zu.« Daraufhin ritt der Jäger in den Wald und versteckte sich, um zu sehen, was zu sehen war. Wieder war die Müllerin verärgert, verweilte aber im Hof der Mühle. »Bist du verrückt geworden?« fragte sie ihren Sohn. »Hier ist eine feine Dame, die dich haben will, und du weigerst dich, der Ihre zu werden?«
Nun erzählte der Sohn seiner Mutter, was er über die Herrin wußte: daß sie ihre Gefährten prachtvoll schmückte und kleidete. »Aber nach kurzer Zeit werden ihre Herzen zu Eis, und sie sterben.« Jetzt endlich begriff die Müllerin alles, aber sie fürchtete, daß es bereits zu spät war. »Der Bach wird niemals das Mühlrad antreiben können«, jammerte sie. »Mein Sohn, mein Sohn, du bist verloren!« »O nein«, entgegnete die Bauerstochter. Sie wies den Jungen an, ein Bad zu nehmen und seine Kleider zu waschen, damit nicht ein Stäubchen an ihm hafte. »Dann triff mich wieder bei Mondschein«, setzte sie hinzu. Der Müllerssohn tat, wie ihm geheißen. Als der Mond am Himmel stand, half er dem Mädchen, die Äste, unter denen der Messingmann verborgen war, beiseite zu räumen. Dieses Mal war der Messingmann bereits bis zur Wade in den weichen Boden gesunken, und die Bauerstochter mußte ihn erneut ausgraben. Dann öffnete sie das Zunderkästchen, und die Flamme des rauchlosen Feuers sprang heraus. Sie sprach das Wort, die Flamme erlosch, und der Messingmann öffnete die Augen. »Befiehl ihm«, sagte das Mädchen. Also befahl der Müllerssohn dem Messingmann, das
Korn zu Mehl zu mahlen. »Und füll es in Säcke«, fügte das Mädchen hinzu. Der Messingmann ging nicht einmal ins Innere der Mühle, sondern mahlte das Korn zwischen den Händen und ließ es in Säcke fallen. Die Bauerstochter band die vollen Säcke zu, aber der Junge hielt sich abseits, um nicht mit Mehl bestäubt zu werden. Beim ersten Hahnenschrei standen zahlreiche Mehlsäcke auf dem Hof der Mühle. Der Messingmann verneigte sich. Ein Turmfalke landete auf seiner Schulter und sprach: »Tod, Tod, Tod! Mein Dienst war für Königinnen und Zauberer wunderbar, doch Ruhe find ich nur, wenn ich zur Hölle fahr - darum laßt mich versinken.« Dann sank sein Kopf auf die Brust, die Augen schlossen sich, und der heilgefiederte Turmfalke flog davon. »Laß uns seiner Bitte Folge leisten«, meinte der Müllerssohn. »Hat er uns nicht treu gedient?« »Jetzt noch nicht«, erwiderte die Bauerstochter und versteckte den Messingmann unter den Zweigen. Nun hatte aber der Jäger alles beobachtet, und er ritt der Herrin entgegen, die bereits mit den anderen Jägern und der Justitiarin herannahte. Als die Herrin hörte, was der Jäger zu berichten hatte, lächelte sie. Dann befahl sie ihm, zum Schloß zu reiten und die Kutsche zu bringen.
Im Hof der Mühle machte die Herrin viel Wesens um die genaue Prüfung des Mehls. Sie siebte es mit den Fingern. Als der Junge vor die Justitiarin trat, damit sie sehen konnte, daß nicht ein Stäubchen Mehl an ihm haftete, hütete er sich, in die Reichweite der mehligen Finger der Herrin zu geraten. Aber diese machte nicht einmal den Versuch, ihn zu berühren. Statt dessen erklärte sie: »Unser Handel besagte, daß der junge Mann den Weizen ernten, das Korn dreschen und das Mehl mahlen sollte. Aber nichts von allem hat er getan. Ein Messingmann tat die ganze Arbeit!« »Aber auf meinen Befehl hin«, sagte der Müllerssohn. »Wenn Ihr Euren Pächtern befehlt daß sie eine Straße bauen müssen, sagt Ihr dann nicht auch, daß Ihr die Straße angelegt habt?« Die Justitiarin räusperte sich und neigte sich im Sattel zur rechten Seite hinüber, aber die Herrin winkte mit ungeduldiger Geste ab. »Die Feinheiten sind mir egal!« meinte sie. »Ich habe eine Vereinbarung getroffen, und man hat mich betrogen!« Sie warf den Beutel mit dem Gold der Müllerin vor die Füße. »Nein«, sprach die Frau, »ich bin nicht damit einverstanden. Nehmt Euer Gold wieder mit!« »Zu spät«, erwiderte die Herrin. »Ihr habt euer Wort gegeben, und der junge Mann wurde mir versprochen. Außerdem beanspruche ich das
Ding, mit dem ihr mich hereingelegt habt. Der Messingmann ist ebenfalls mein!« In dem Augenblick fuhr der Jäger mit der Kutsche auf den Hof und zeigte der Herrin die Stelle, an welcher der Messingmann versteckt war. Bis zu den Knöcheln war die Figur wieder in den weichen Boden eingesunken, und die Jäger mußten sie ausgraben, bevor sie in der Kutsche verstaut werden konnte. »Ich sage es noch einmal«, sprach die Müllerin, »es gibt keinen Handel mit meinem Sohn.« »Und ich sage dir, daß ich eine Dame bin, Herrin eines großen Hauses. Du bist nur eine Müllerin!« »Nun, vor dem Gesetz...« »Haltet den Mund, Frau Justitiarin!« rief die Herrin. Sie befahl den Jägern, ihre langen Jagdmesser zu zücken, damit niemand es wagen würde, sich dem nächsten Befehl zu widersetzen. Der Müllerssohn wurde an Händen und Füßen gefesselt und gleich einem Sack Mehl über den Sattel ihres Pferdes geworfen. Dann band man das Pferd hinten an die Kutsche und fuhr los. Im Innern der Kutsche befanden sich die Herrin und der Messingmann. Nachdem die Jäger ihre Messer wieder in die Gürtel gesteckt hatten und davongeritten waren, rannte das Mädchen der Kutsche nach. Sie lief,
bis ihr heftiger Atem die Brust zu sprengen drohte, konnte aber nicht Schritt halten. Und doch rannte sie weiter. Sie lief, bis ihr das Herz im Leibe zu zerspringen drohte, doch die Kutsche rollte weiter und weiter. Der Müllerssohn lag über dem Pferderücken und war halbtot vor Verzweiflung. Er hob nicht einmal den Kopf, als er die Schwingen eines Vogels über sich rauschen hörte. Erst als der Vogel zum drittenmal heranflog, beachtete er das Tier. Eine Krähe kreiste über ihm. Endlich ließ sie sich auf dem Dach der Kutsche nieder und schrie: »Krächz, Krächz, Krächz! Mein Dienst war für Königinnen und Zauberer wunderbar, doch Ruhe find ich nur, wenn ich zur Hölle fahr darum laßt mich versinken.« Dann flog die Krähe davon. Da der junge Mann gerade genügend eigene Sorgen hatte, schwieg er still. Als die Kutsche jedoch an einem Friedhof vorbeifuhr, sprach er mit lauter Stimme: »Messingmann, deine Dienste für mich waren wunderbar, wohlan denn: Zur Hölle fahr! Jetzt magst du versinken!« Da begannen die Räder der Kutsche zu rattern und sich langsamer und langsamer zu drehen. Das Gefährt wurde so schwer, daß die Pferde es nicht länger zu ziehen vermochten, obwohl der Jäger auf dem Kutschbock sie kräftig mit der
Peitsche antrieb. Die Erde bebte, und das Pferd, auf dem der Müllerssohn lag, bäumte sich und warf ihn zu Boden. Die Achsen der Kutsche bogen sich und brachen entzwei. Die Straßendecke riß auf, und die Kutsche mitsamt dem Messingmann, der Herrin, dem Jäger auf dem Bock, den Zugpferden und dem Pferd der Herrin versank in der Tiefe. Die übrigen Jäger flohen angsterfüllt. Die Erde schloß sich wieder, und nur die Justitiarin und der Müllerssohn blieben zurück. Die Justitiarin räusperte sich: »Wenn ein Handelspartner von der Erde verschluckt wird«, erklärte sie, »ist der Vertrag erloschen. So will es das Gesetz.« Dann wendete sie ihr Pferd und ritt langsam von dannen. Man sagt, daß die Bauerstochter den Müllerssohn mitten auf der Straße sitzend fand, wo er gerade dabei war, sich von den Fesseln zu befreien. Auch sagt man, daß sie schon bald vermählt waren und das Glück zweier Herzen fanden. Aber das - wie euch eine Frau des Gesetzes belehren würde - sind nur Gerüchte. Ihr könntet euch im Sattel zur einen Seite neigen und es eine Lüge nennen. Ehr könntet euch zur anderen Seite neigen und sagen, daß es die Wahrheit ist.
S. D. PERRY
Die Erbschaft In meinem Traum geschah folgendes: Ich bin ein Säugling, kann mich nur mit Geräuschen und einfachen Bewegungen verständlich machen, und meine Lider sind schwer vor Müdigkeit. Ich sehe hohe, schmutzige Wände und ein paar vertraute Gegenstände, deren Verwendung mir unbekannt ist. Meine Mutter schaut auf mich herab; noch ist ihr Gesicht faltenlos und ihr Haar nicht vom Alter gebleicht, aber sie sieht ängstlich oder besorgt aus, während sie mit sanfter Stimme zu mir spricht. Die Besorgnis verwandelt sie in die Frau, die sie einmal sein wird, daher erkenne ich sie. In der Luft liegt ein Geruch, der angenehm sein könnte, aber ich empfinde es nicht so - ein Geruch wie nach Asche und Sternblumen. Doch es schwingt noch etwas anderes mit, vielleicht ein Hauch von Verwesung, den ich inzwischen mit hohem Alter und Schimmel in Verbindung bringe. Ein Geräusch außerhalb meines Sichtfeldes läßt meine Mutter zusammenfahren - eine plötzliche, krachende Bewegung, gefolgt von Stille. Sie schaut dorthin, dann wieder zu mir,
lächelnd, aber noch immer ängstlich. Jetzt spricht sie Worte der Verheißung, von Dingen, die einmal geschehen werden. Ich möchte sie trösten, weiß aber nicht wie. Sie nimmt mich auf und... Sie nimmt mich auf, und plötzlich bin ich kein Kind mehr. Ich stehe vor ihr und blicke auf sie hinab, während sie zu schrumpfen scheint, jammernd auf den Lehmboden sinkt. Sie ist noch immer meine Mutter. Ich bin mir dessen bewußt, obwohl ein Schatten des Entsetzens über ihren jungen Zügen liegt, und ich weiß, daß sich alles geändert hat. Ein Teil meines Ichs weint mit ihr, denn sie ist meine Mutter. Aber der für sie sichtbare Teil von mir beginnt zu lachen, und ich fühle meine Macht, Dann wird mir schwarz vor Augen, alles beginnt sich zu drehen - angetrieben von ihren Tränen und dem Echo meines brüllenden Lachens. Ich wuchs in den Wäldern nahe des Baadegebirges auf, jenes Gebirge, das am weitesten von der See entfernt ist - so hat man mir jedenfalls erzählt. Soweit meine Erinnerung zurückreicht, lebten meine Mutter und ich mit den anderen in Frieden und ohne Kummer. Da keine Blutsverwandtschaft zwischen uns herrschte, vermute ich, daß wir in Wirklichkeit ein Stamm waren, obwohl ich uns damals als
Familie bezeichnete. Aber die anderen redeten genauso, denn man hatte uns beigebracht, daß die Bezeichnung ›Familie‹ bedeutete, in Harmonie zusammenzuleben. Mit ›uns‹ meine ich auch die anderen Kinder; an elf davon erinnere ich mich genau, alle ungefähr gleichaltrig, und dann gab es noch siebzehn erwachsene Frauen. Viele Jahre lang glaubte ich, daß alle Kinder zu Frauen heranwüchsen; erst in meinem siebten Winter erkannte ich, daß ich anders als die anderen Kinder war - ich war das einzige Mädchen der Familie. Leen, Scio und ich spielten Fangen im Schnee, vor dem großen Hain, als sie mich plötzlich heranwinkten, um bei einem neuen Spiel mitzumachen. Soviel ich weiß, war Scio ungefähr einen Jahreslauf älter als ich, und er behauptete, daß wir Bilder in das Eis machen könnten, indem wir uns erleichterten. Meine anfängliche Neugier wandelte sich schnell in Entsetzen, als sie fleischige Kiele unter ihren Mänteln hervorzogen und mit ihrem Wasser dampfende Bilder von Berggeistern entstehen ließen. Ich weiß noch, wie ich angstvoll weinend zu unserer kleinen Hütte rannte, weil ich kein derartiges Utensil besaß. Meine Mutter beruhigte mich, gab mir süße Milch und brachte meine Tränen mit einem Lied
zum Versiegen, das sie immer zu singen pflegte, wenn sie mich trösten wollte. Dieses Lied war in ihrer Muttersprache Brip'dei, und sie hatte mich nach diesem Lied genannt: ›Mita‹. Das bedeutet Hoffnung. Dann erklärte sie mir, daß ich als einziges Mädchen der Familie etwas ganz Besonderes sei. Damit wollte sie mir die Erkenntnis versüßen, aber dennoch fühlte ich mich von jenem Augenblick an anders, fühlte den Unterschied zwischen mir und den anderen Kindern. Damals keimte ein Gefühl in mir auf, etwas, das unglücklicherweise wuchs und sich ausbreitete - erst viele Jahre später begriff ich, daß es Einsamkeit war. Damit möchte ich nicht behaupten, daß mein Leben völlig unglücklich war. Innerhalb unserer Familie herrschte eine Innigkeit, die uns gleich Blutsverwandten miteinander verband. Jeder verfügte über Stärken und Fähigkeiten, die zum Wohle der Gemeinschaft eingesetzt wurden, und wir teilten uns die Erträge der Jagd und der Ernte. Ich erinnere mich daran, wie Seran, die Jagdleiterin, mir beibrachte, lautlos durch dichtes Gebüsch zu schleichen und eine verletzte Kreatur aufzuspüren. Auch kannte sie die Gestirne, und manchmal versammelten wir uns nach Einbruch der Dunkelheit in der warmen Jahreszeit, und sie erklärte uns die Monde oder sprach von den großen Jägern, die aus Sternen bestanden.
Einmal erzählte mir meine Mutter, daß Seran von einer Sippe tapferer Kämpfer abstamme, die auf Bäumen lebten, weit entfernt vom Baadegebirge. Ich fragte, warum Seran kein Kind habe, und Mutter erklärte mir, daß Serans Sohn getötet worden sei; die Trauer in ihren Augen reichte aus, meine Frage nach dem Wie zu ersticken. Alle Frauen kamen von verschiedenen Stämmen und Sippen. Leen berichtete, daß seine Mutter aus dem Volk der Samiten stamme und deshalb eine Heilerin sei. Er sagte, daß viele Samiten Heiler sind, die Fähigkeit sich aber hin und wieder nicht vererbt, denn er selbst konnte weder Knochen noch Wunden heilen. Katlya war eine Geschichtenerzählerin, die weiseste von uns allen; sie wohnte mit ihrem Sohn Shaim hinter dem großen Hain, in dem wir anderen lebten. Unsere Hütten standen im Kreis, einander gegenüber, bis auf Katlyas. Meine Mutter sagte, dies wäre wegen Shaims Krankheit so, einer Krankheit, die nicht von den Heilem kuriert werden konnte. Ich kann mich nicht besonders gut an Shaim erinnern, ich weiß nur noch, daß er zwei oder drei Jahresläufe älter war als wir, das älteste von uns Kindern. In meiner frühesten Kindheit war er mein liebster Spielkamerad, und er hatte die Fähigkeit seiner Mutter geerbt, auch wenn seine Geschichten anders waren als ihre sanften Legenden und
Erzählungen. Shaim erfand blutige und schreckliche Geschichten (immer außer Reichweite mütterlicher Ohren), von Ungeheuern und dunklen Orten, mit denen er mich und die anderen in nächtliche Alpträume stürzte und von denen er behauptete, daß sie so wahr seien wie er selbst. Am besten kann ich mich an die furchtbaren Sumpf-Kobolde erinnern, die aus Schlamm entstehen und sich unerklärlich und seltsam verhalten. Dann gab es auch noch den gefürchteten Lumpensammler mit den knochigen Fingern und den leeren Augen, dessen bloße Berührung dir die Seele nehmen konnte. Kurz nachdem mir mein Geschlecht bewußt geworden war, fragte ich meine Mutter, warum es Jungen und Mädchen oder vielleicht noch andere geben würde. Sie entwarf gerade hinter unserer Hütte einen Tisch, denn dies war ihre spezielle Fähigkeit: Mutter konnte Holz in jede Form bringen, von Fässern über Möbel bis hin zu beinahe sämtlichen Hütten unserer Familie. Und immer war alles haltbar und gerade. Der Tisch war für einen Versammlungsraum gedacht, ein Raum mit neuen Sichtsteinfenstern und einer Feuerstelle aus Stein, ein Raum, der groß genug war, damit die ganze Familie bei schlechtem Wetter zusammenkommen konnte. Im Sommer würde er fertig sein und so den Kreis der
Hainhütten schließen. Sie schaute von den mit Sägespänen übersäten Planken auf, lächelte, legte den Hobel beiseite und kam auf mich zu. Auf einem selbstgefertigten Schemel ließ sie sich nieder und bedeutete mir, mich neben sie zu setzen. Obwohl sie noch immer lächelte, bemerkte ich einen prüfenden, wachsamen Blick in ihren Augen, den ich nie zuvor bei ihr gesehen hatte. »Es gibt viele verschiedene Dinge und Geschöpfe auf der Welt, Mita«, sagte sie. »Es sind so viele, daß ich sie nicht alle kenne, obwohl Katlya sie dir nennen könnte...« »Aber weshalb?« Mutter öffnete den Mund, schloß ihn aber dann nachdenklich wieder. Die Stirn gerunzelt vom angestrengten Nachdenken, starrte sie in den tiefen Wald, als läge dort die Antwort auf meine Frage. Das Eis war verschwunden, und die meisten Bäume trugen Keime, hellgrün, weich und frisch. Der tröstliche Geruch frischgeschnittenen Holzes lag in der Luft, und ich wartete voller Ungeduld auf die Worte, die zu finden ihr große Mühe bereitete. Sie nahm mich bei der Hand und erklärte, daß jede Schaffung von Lebewesen auf unterschiedlichen Methoden beruhte - aber mich und die anderen Kinder hatten Gegenstücke der Mütter gezeugt. Erwachsene männliche
Gegenstücke - Männer. »Aber wo sind sie? Wo sind die Männer, die den Samen pflanzten?« Bei diesen Worten blickte Mutter wieder zur Seite, und ihre Finger schlossen sich enger um meine. »Die Frage beantworte ich dir ein andermal, Mita. Ich kann dir nur sagen, daß es Dinge gibt, die du in deinem Alter noch nicht wissen solltest, und ich muß dich bitten, Geduld mit mir zu haben.« Als sie ihren Blick wieder auf mich richtete, standen Tränen in ihren Augen, und sie schloß mich in die Arme, hielt mich lange Zeit fest. Ich weinte, weil ich sie so traurig gemacht hatte, und gelobte mir, daß ich nie wieder nach diesen Dingen fragen würde. An den Tag, an dem Katlya in den Hain kam, um uns mitzuteilen, daß Shaim die Familie verlassen hatte, kann ich mich deutlich erinnern. Gerade ließ ich meinen dreizehnten Jahreslauf hinter mir, und die Bäume wandten sich dem Winter zu, wechselten ihre Farbe zu tiefem Rot und Gold. Meine Mutter, Seran und ein paar andere Frauen waren in aller Frühe davongegangen um Zündholz für die kalten Tage zu sammeln, und eine der Frauen, die zurückgeblieben waren, um auf uns achtzugeben, hatte uns beigebracht,
hölzerne Pfeifen zu schnitzen; die kühle Luft war erfüllt von hellen Pfeiftönen. Ich weiß genau, daß ich Katlya genau beobachtete, als sie über die herabgefallenen Blätter auf uns zuschritt, auch wenn wohl keines der anderen Kinder sie beachtete. Shaim hatten wir seit vielen Jahresläufen nicht mehr gesehen. Die Geschichtenerzählerin schien nicht sie selbst zu sein; ihre großen, runden Augen waren nicht wie sonst erfüllt von geheimnisvollen Weisheiten, sondern rot und geschwollen, und ihr Haar wirkte schmutzig und struppig. Katlya holte tief Luft und wandte sich uns zu: »Ihr wißt alle, daß es meinem Sohn Shaim seit einiger Zeit schlecht geht. Nun bin ich gekommen, um euch mitzuteilen, daß er in der letzten Nacht von uns gegangen ist.« Katlya brach in Tränen aus, die über ihr zerfurchtes Gesicht liefen. Ein paar Kinder stießen schwere Seufzer aus, andere weinten ebenfalls. Man hatte uns beigebracht, daß kein Grund zur Trauer bestand, wenn jemand von einer Welt in die andere wechselte, aber Shaim hatte uns unsere Lieblingsgeschichten erzählt, die wir eigentlich nicht hätten hören dürfen, und nun hatte er uns verlassen. Katlya warf sich in die geöffneten Arme der anderen Frauen, ich saß ganz in ihrer Nähe, die neue Pfeife lag vergessen auf meinem Schoß.
Eine Frau trat vor, lächelte trotz der Trauer in ihrem Blick und forderte uns auf, über Shaim und all die schönen Dinge, an die wir uns erinnerten, zu sprechen. Lange Zeit beobachtete ich die schluchzenden Jungen, die über Shaim redeten, aber meine Gedanken waren ganz woanders, während sie ihren Kummer miteinander teilten. Während Katlya an mir vorbeiging, vernahm ich die gemurmelten, kummervollen Worte, die sie zu den anderen Müttern sagte, nur den Sinn konnte ich nicht begreifen. Damals jedenfalls nicht. Sie sagte: »Es gibt keine Hoffnung. Ich kann es nicht ertragen, sie alle.« Als meine Mutter am Abend heimkam, erkundigte sie sich, ob es mir gutgehe; ich sagte, ich fühle mich völlig in Ordnung und wolle nicht mehr darüber reden. Das war, glaube ich, das erste Mal, daß ich etwas mit Absicht vor ihr geheimhielt. Ich wollte unbedingt die Bedeutung von Katlyas Worten erfahren, und obwohl ich sicher war, daß meine Mutter darüber Bescheid wußte, war mir doch klar, daß dies eine Frage war, die man besser nicht stellen sollte. Wir gingen früh zu Bett. Shaim sollte am nächsten Morgen verbrannt werden, und die Zeremonie würde am See stattfinden, der etwa eine Stunde vom Hain unserer Familie entfernt
lag. Mehr als zehn Jahresläufe waren seit der letzten Zeremonie - an die ich mich nicht erinnern konnte - vergangen, und ich war schon gespannt auf das Ritual. Mutter brachte mich zu Bett, deckte mich gut zu und saß noch eine Weile neben mir. Ihr Gesicht wirkte starr und verhärmt im flackernden Kerzenlicht. Von Zeit zu Zeit sah sie mir beim Einschlafen zu, und ihr tröstlich liebevoller Blick begleitete mich ins Reich der Träume. Dann träumte ich den schrecklichen Traum, der mir so wahr erschien, daß ich mich, als ich schreiend erwachte und mich mit einem Ruck aufsetzte, entsetzlich schuldbeladen fühlte und völlig sicher war, meine Mutter auf dem Boden zu meinen Füßen liegend zu finden, und zwar mit gebrochenem Herzen vor Kummer über das, was aus mir geworden war. Aber statt dessen sah ich, daß mein Bett voller Blut war, als Mutter die Lampe angezündet hatte und ängstlich und verschlafen zu mir kam. Mutter und ich nahmen nicht an Shaims Abschiedsfeier teil, denn ich schlief bis tief in den nächsten Tag hinein. Sie hatte mir bereits vor längerer Zeit vom Zyklus einer Frau und von seiner Rolle im Hinblick auf das Austragen eines Kindes erzählt; ich wußte, daß sie - wie die meisten Erwachsenen unserer Familie - die
Blutung als Recht der Lebensschenkerinnen empfanden und stolz auf die Verantwortung waren, die es mit sich brachte. Ich erzählte ihr nichts von meinem Traum, nur daß ich einen Alptraum wegen Shaims Fortgehen gehabt hatte. Es gab eigentlich keinen rechten Grund, die Unwahrheit zu sagen, aber sie wirkte derart beunruhigt, daß ich sie einfach nur beschwichtigen wollte. An jenem Morgen sprach Mutter lange Zeit über die freudige Bedeutung der Blutung, aber ihre Worte klangen hohl. Die angebliche Freude über den ersten Zyklus eines Mädchens paßte nicht zu ihrem besorgten Gesichtsausdruck und ihrem leeren Lächeln, aber ich stellte keine Fragen mehr; sogar damals ahnte ich bereits, daß irgend etwas mit unserer Familie nicht stimmte und daß ich die Antworten auf meine Fragen selbst finden mußte. Aus dem Pflänzchen meiner inneren Einsamkeit war ein junger Baum geworden, der seine unseligen Zweige durch meine Gedanken wand; mein blutiger Schoß schien ihm die Nahrung zu geben, die er benötigte, um seine Umklammerung noch zu verstärken. In jenem Winter brachte Seran die fremde Frau in den Hain. Die Jägerin hatte ihren Rucksack und ihre Pfeile genommen und war
allein ausgezogen, um frisches Fleisch zu besorgen, da sie der ewigen trockenen Fruchteintöpfe überdrüssig war. Seran unternahm häufig mehrtägige einsame Ausflüge; Mutter meinte, daß dies ihre Art sei. Meine Mutter war damit beschäftigt, neue Behälter für die Kräuter der Heilerin anzufertigen, da ein paar der alten brüchig und rissig geworden waren. Anscheinend wurden auch für Scio zusätzliche Behälter benötigt. Ich hatte meinen Spielkameraden mehrere Tage lang nicht gesehen, und am gestrigen Abend war seine Mutter zu uns gekommen, um uns mitzuteilen, daß Scio krank war und sie mit ihm in Katlyas Hütte hinter dem Hain ziehen würde. Jetzt, wo Shaim nicht mehr da war, würde Katlya die Hütte mit ihnen tauschen. Ich war also allein zu Hause, mühte mich mit einer Näharbeit ab und sorgte mich wegen Scio, als ich draußen Serans Rufe vernahm; ihre tiefe Stimme klang fest und befehlend. »Schwestern! Heilerin! Schnell, kommt her!« Ich nahm mir kaum Zeit, meinen Umhang zu ergreifen, bevor ich in den sterbenden Schnee hinauslief um zu sehen, warum Seran so schrie. Sie stand in der Mitte des Hains und stützte eine dünne, in Lumpen gekleidete Frau. Die Fremde schien halbtot zu sein und stützte sich so stark auf Seran, daß ich sicher war, daß sie beide
zu Boden fallen würden. Ihr Atem war weiß in der bitterkalten Luft. Sie ließ den unbedeckten Kopf herabhängen, die schmutzigen dunklen Locken umrahmten ein viel zu blasses Gesicht. Die Heilerin lief herbei und rief meiner Mutter dabei Anweisungen zu, heißes Wasser zu kochen und Decken zu holen. Dann schleppte sie die fremde Frau mit Serans Hilfe in ihre Hütte, gefolgt vom Rest der Familie - an der Tür angelangt, wurde Leen mitsamt seinem Mantel zu uns herausgeschoben. Die anderen Erwachsenen führten uns dann zum Versammlungsplatz, wo sie schnell ein Feuer entfachten und unsere mannigfachen Fragen unbeantwortet ließen. Die Frauen wirkten angespannt, wechselten Blicke, in denen versteckte Andeutungen lagen, und die Kinder beschäftigten sich notgedrungen mit sich selbst. Viele dieser endlosen Stunden verbrachte ich damit, über meinen Traum nachzudenken, der sich nach jenem ersten Mal willkürlich wiederholt hatte - allerdings hatte ich aufgehört, meine Mutter mit meinen Schreien zu wecken. Obwohl der Traum alles andere als angenehm war, hatten sich seltsamerweise die damit verbundenen Angst- und Schuldgefühle langsam verringert, und ich ertappte mich mehr als einmal dabei, wie ich darüber nachdachte. Die Nacht war bereits angebrochen, als meine
Mutter kam und uns die Nachricht brachte, daß die Frau überleben würde. »Sie spricht unsere Sprache nicht, aber anscheinend heißt sie ›Keil‹«, berichtete Mutter, »und wir wissen, daß sie längere Zeit nichts Rechtes gegessen hat, und außerdem... hat die Heilerin sie vorn Frostbiß geheilt.« Mutter schwieg und blickte zu Boden. Ich war erstaunt über ihre gestammelte Aussage, denn normalerweise fiel es ihr nicht schwer, die richtigen Worte zu finden. Als sie den Blick hob, sah sie nur in die schwermütigen Augen der erwachsenen Frauen, und ihre nächsten Worten wirkten trotz ihrer Einfachheit so, als seien sie von großer Bedeutung. »Keil bekommt ein Kind; nun ist die Zeit der Wachsamkeit gekommen.« Der Blick in ihre Augen zeigte es mir: Mutter hatte Angst, große Angst. Man hatte uns gelehrt, immer nahe beim Hain zu bleiben und niemals außer Rufweite der Hütten zu gehen - diese Anweisung war seit meiner frühesten Kindheit tief in mir verankert; so tief, daß ich mir den Zeitpunkt, an dem ich sie zum ersten Mal vernommen hatte, nicht mehr ins Gedächtnis rufen konnte. Auch hörten wir hin und wieder Geschichten über riesige, gefährliche Tiere aus den dunklen Wäldern, die einen mit
einem Biß verschlucken konnten - Geschichten, die diese Lehren unterstützten und allen Kindern angst vor dem Herumstreunen machten. Aber an den folgenden Tagen erzählte man uns diese Dinge wieder und wieder, als hätte man Angst, wir könnten sie vergessen haben: Niemals, und insbesondere für den Rest des Winters, ließ man uns aus den Augen. Die Lehren jener Nacht wurden fortgesetzt, die Warnungen waren deutlich, aber die Gründe dafür undurchsichtig. Wir wußten, daß es wegen Keil so war. Meine Freunde und ich flüsterten insgeheim miteinander, erfanden seltsame und wilde Geschichten: Sie wurde von Scarwood-Gnomen gejagt. Sie hatte Gold und Juwelen einer Königin gestohlen, und deren gedungene Mörder verfolgten sie nun. Sie war eine Hexe und wurde von Dämonen gesucht, die ihrer speziellen Kräfte bedurften, um einen Trank für ihren sterbenden Meister herzustellen. Alle Kinder waren mit Feuereifer dabei, aber die Frauen befanden sich in einem Zustand solcher Besorgnis, daß die Farben unserer Phantasien verblaßten. Unsere Mütter halfen uns nicht, sie meinten nur, daß Keil eine Fremde sei und man daher nicht wisse, was noch geschehen könnte vielleicht würden Mitglieder ihrer Sippe
erscheinen, welche weder unsere Familie noch unsere Art verstehen würden. Ich nehme an, wir hätten das vielleicht geglaubt, wenn nicht der Hauch der Furcht und die Vorsichtsmaßnahmen so offensichtlich über dem Hain gelegen hätten. Alle waren auf der Hut, auch wenn sie lachten und ihren normalen Beschäftigungen nachgingen; sie lauschten und schauten sich nach Dingen um, die sie nicht beim Namen nennen wollten. Die Knaben fuhren mit ihren Spielen und Kämpfen fort, als würden sie die unterschwelligen Befürchtungen der Familie nicht fühlen, sie gingen den Dingen aus dem Wege oder fühlten sie vielleicht wirklich nicht unsere Mütter und erwachsenen Schwestern verbargen etwas vor uns. Ich glaube, daß ich Gefallen an dem Geheimnis fand und mich wunderte, weshalb sie die Wahrheit nicht erkannten. Ich fand die Wahrheit in jedem älteren Gesicht und in der Art, in der meine Mutter meinem Blick auswich - man belog uns. Nachdem ungefähr eine Woche nach der Ankunft der Fremden verstrichen war, beschloß ich, nach der Wahrheit zu fragen. Obwohl mich in jenen Tagen die Familie in jedem wachen Augenblick umgab, hatte ich mich zurückgezogen, verloren in der Furcht vor Verrat und meinen halbgeformten Gedanken über
Betrug. Und ich fühlte mich einsamer, als ich es je für möglich gehalten hatte. Nach dem Abendessen hockte ich auf meinem Bett und versuchte, Mut zu sammeln. Es war warm und gemütlich in der Hütte, der würzige Geruch des Wurzeleintopfs lag noch in der Luft. Mutter saß am Feuer und schnitzte an einem Holzstück, ihre geschickten Hände bewegten sich langsam und planvoll, das dunkle Haar war im Nacken zusammengebunden und gab das helle Gesicht frei. Ich betrachtete die tiefen Linien in ihrer Haut, die sich durch Jahre der Sorge hinweg dort eingegraben hatten, und ich dachte wieder an meinen Traum. Mir wurde klar, daß wir uns verlieren würden, wenn ich nicht fragte oder wenn sie nicht antwortete. »Wer ist sie, Mutter?« Sie sah nicht von ihrer Arbeit auf, aber für den Bruchteil einer Sekunde hielten ihre Hände inne. »Wer ist wer?« fragte sie gleichmütig, aber voller Vorsicht. »Keil. Wer ist sie wirklich? Und warum habt ihr alle solche Angst?« Sie legte das Holzstück beiseite und wandte sich mir zu, während sie eine Maske der Verzweiflung anlegte. Ich konnte es genau sehen an der Art wie sie den Mund zusammenkniff und wie sich die Augen verdunkelten, und es schmerzte mich über alle Maßen, daß sie mir,
ihrem Kind, etwas vortäuschen wollte. »Mita, ich habe dir doch schon mehrfach gesagt, daß wir nichts über sie wissen, bis jetzt noch nicht. Wenn Katlya sie unsere Sprache gelehrt hat, können wir herausfinden, wer sie wirklich ist. Und was meinst du mit Angst? Niemand hat Angst, wir sind einfach nur vorsichtig, das ist alles. Also, warum...« »Nein, ihr habt Angst, ihr alle! Das sehe ich doch, und ich verstehe nicht, weshalb du mich anlügst!« Ich konnte meine eigene Stimme anschwellen hören, und ich war verletzt, aber auch ungleich wütender. »Es hat etwas mit Keil zu tun, und mit dem, der hinter ihr her ist, und ihr wißt es, das spüre ich! Ihr benehmt euch, als würde ein Haufen Ghule oder die Geißel des Todes oder gar der Lumpensammler herannahen!« Bei meinen letzten Worten sprang sie so erregt auf, daß der Stuhl umfiel. Ich öffnete den Mund, um fortzufahren, hielt aber inne, als ich sah, was geschehen war. Die Maske war vom Gesicht meiner Mutter geglitten, und zum ersten Mal war ihre Furcht ganz offensichtlich. Unter ihrer sonnengebräunten Haut war sie leichenblaß geworden, und in ihrem Blick lag ein so großer und tiefer Schrecken, daß ich sicher war, sie würde ihn in diesem Augenblick nicht überleben. Mein Zorn und meine Anschuldigungen
verflogen, als ich in diese furchtbaren Augen blickte. Sie starrten mich an, durch Schmerz und Furcht bis zur Unkenntlichkeit verändert. Die Sekunden dehnten sich unendlich, und noch immer stand sie mir hilflos gegenüber, nackt und schutzlos durch ihre Angst. »Mutter...?« Sie wandte sich um und unterbrach diese grauenhafte Spannung durch das simple Wiederaufstellen des Stuhls, obwohl sie sich wie in Trance bewegte. Sie ging auf mich zu, an mir vorbei zur Tür, und nahm ihren Mantel vom Haken. Ohne mich anzusehen, sprach sie mit tonloser Stimme: »Geh jetzt schlafen. Ich komme gleich wieder.« Ein Schwall kalter Luft strömte herein, und sie war fort. Die Zeit verrann, aber ich bemerkte es nicht. Das Feuer wurde allmählich zu Asche, aber ich zündete keine Lampe an, saß nur einfach inmitten der länger werdenden Schatten und bemühte mich an nichts mehr zu denken. Nach einer Weile mußte ich weinen, aber irgendwann versiegten meine Tränen. Ich schlief sogar ein; traumloser und tiefer Schlaf überfiel mich so plötzlich, als habe mein Bewußtsein ganz einfach den Körper verlassen. Als ich wieder zu mir
kam, war noch Glut in der Feuerstelle. Sie war nicht zurückgekehrt. Ich weiß nicht genau, ob ich noch irgend etwas anderes wollte, außer sie zu finden, als ich in meinen Mantel und die Stiefel schlüpfte. Ich fühlte nichts mehr, wollte mich nur warm anziehen und gehen, fort von der seltsamen Taubheit meines Herzens. Ich schritt in die Dunkelheit, in den Kreis der Hütten unserer Familie, und hatte keine Ahnung, wo ich anfangen sollte. Die Nacht war klar und frisch, nur das dumpfe Geräusch des knirschenden Schnees unter meinen Stiefeln war zu hören. Ich schaute nach oben und sah eine Million Sterne auf mich herabscheinen, sie umgaben den großen Mond wie unzählige winzige Kerzen. Alle Hütten waren dunkel und still, bis auf eine: Katlyas. Licht flackerte hinter den beschlagenen Scheiben, und ich sah die Umrisse der Frauen. Ich ging auf die Hütte zu, und als ich mich der Türschwelle näherte, hörte ich ihre gedämpften Stimmen. Meine Mutter und Katlya sprachen leise, aber ihre Worte waren in der Stille gut zu hören. Meine Mutter hatte geweint. »... was wir tun sollen. Es wird noch andere geben.« »Ja. Und jede ist ein Risiko.« Katlya hörte sich
an wie an jenem Tage, als Shaim uns verlassen hatte - voller Trauer und ihres Lebens müde. »Er könnte schon auf dem Weg sein.« »Ich weiß, meinst du, ich weiß das nicht?« Sie hielten inne, und ich versuchte, durch die schmutzigen geschliffenen Sichtsteinfenster einen Blick auf ihre verschwommenen Umrisse zu werfen. Dabei stand ich völlig still, nur mein Atem sandte Dampfwölkchen in die Dunkelheit. Als meine Mutter wieder das Wort ergriff, lag ein seltsam verlorener, und doch hoffnungsvoller Ton in ihrer Stimme. »Keins von den anderen ist weiblich... wäre es nicht möglich, daß...« Katlya legte den Arm um die Schultern meiner Mutter. »Sie weiß doch schon seinen Namen.« Sie sprachen über mich. Meine Wangen brannten, und ich wollte davonlaufen, fort von ihren Worten, die mir ins Herz schnitten. Aber ich vermochte mich nicht zu rühren; mein Körper, mein ganzes Ich war am Platz festgewachsen, und die Geschichtenerzählerin fuhr fort, mein Schicksal zu besiegeln. »Sie wird sich verändern. Er...« Sie holte tief Luft. »Mein Sohn hat sich verändert. Und jetzt ist es Scio, und sie könnte die nächste sein. Vielleicht träumt sie schon.« Mutter ließ den Kopf in die Hände sinken. »Nein, noch nicht! Ich kann nicht, ich bin noch nicht bereit, sie ist noch nicht bereit!«
Lange Zeit blieb es still, dann fuhr Katlya fort: »Es gibt nichts, was wir für die Unseren tun können, außer sie freizugeben, so wie ich Shaim freigab. Nachdem wir begonnen haben sie zu lieben, und beten, daß es nicht geschieht, müssen wir mitansehen, wie sie sich in ihre Väter verwandeln...« Langsam hob meine Mutter den Kopf, und die letzten Worte die ich sie sprechen hörte, lauteten: »Meine Mita, meine wunderschöne Hoffnung. Die Tochter des Lumpensammlers.« Ich drehte mich um und floh. Ich rannte, solange mich die Beine trugen. Schließlich war meine Haut schweißnaß, und ich konnte nicht mehr atmen. Ich rannte in die Dunkelheit der tiefsten Wälder, ich rannte und rannte, fort von dem einzigen Heim, das ich jemals gekannt hatte. Endlich stolperte ich und fiel hin, landete hart am Fuße eines knorrigen Baumes. Ich lag zusammengerollt, mit fest zugekniffenen Augen, und betete, daß keine Gedanken zu mir kommen würden, und war doch nicht in Lage, sie abzuwehren. Die Tochter des Lumpensammlers. Die Familie des Lumpensammlers. Keils ungeborenes Kind, gezeugt von dem, der seit meiner Kindheit das absolut Böse für mich
verkörperte. Ich. Ich. Ich. Mein Atem beruhigte sich nach und nach, und die Kälte der Winternacht drang mir in die Knochen, während sich die Wahrheit in mich hineinfraß. Es war unwichtig, wohin ich auch rennen würde, die Veränderung würde über mich kommen, wie sie über Shaim gekommen war und ich würde durch die Hände derer sterben, die ich liebte. Entweder ich starb oder brachte anderen den Tod. Abscheulichkeit. Ich würde mich in den Schuft verwandeln, der das Leben stahl, und bei diesem Gedanken legte ich die Arme fest um den Körper und verfluchte die Familie, die mich hervorgebracht hatte, verfluchte meine Mutter, die mich zur Verdammnis bestimmt hatte. Schlaf. Der Gedanke strahlte wie ein Leuchtfeuer der Hoffnung in meinem Verstand. Die Nacht war zu kalt, als daß ich wieder erwachen könnte, und ich wollte nicht weiterleben; ich würde schlafen. Ich verabschiedete mich nicht von dem Himmel über mir. Ich dachte nicht mehr nach; ich wartete auf den Schlummer, der mein letzter sein würde, und betete darum, niemals mehr erwachen zu müssen. Die Dunkelheit ist warm, und die Bäume
kommen auf mich zu, ihre gütigen Arme spenden mir Schatten. Ich wache auf, setze mich hin und merke, daß ich mich noch immer an der Stelle befinde, an der ich vor langer Zeit zu Boden gefallen bin - und ich bin nicht mehr allein; jemand hockt neben mir und schaut mich an. Als ein einsamer Mondstrahl das dunkle Gesicht erhellt, fürchte ich mich nicht. Ich sehe die Züge eines Knaben, jedoch von Falten durchzogen und gereift; also muß dies ein Mann sein, aber noch immer verspüre ich keine Angst. Denn dieser Mann lächelt mich an, und seine Augen blicken freundlich drein. Und sie sind nicht leer. Nur schwarz, genau wie meine. »Bist du mein Vater?« Ein so leises Flüstern, daß es kaum zu vernehmen ist. »Ja«, antwortet er mit einer Stimme wie aus weichstem Leder. »Bist du der Lumpensammler?« »Ja«, sagt er wieder, und ich bemerke, daß kein Atem in der frostigen Nachtluft zu sehen ist, kein Hauch des Lebens steht zwischen uns - und trotzdem fürchte ich mich nicht. »Sind wir tot?« Mein Vater, der Lumpensammler, lacht und schüttelt den schönen Kopf. »Mein Kind, wir träumen. Ich bin gekommen, um dir zu helfen, deinen Weg zu finden.«
Mein Kind. »Ich dachte immer, du seiest ein schlechter Mann«, flüstere ich, und ein Funkeln in seinen Augen verrät mir, daß er innerlich lacht. »Es gibt viele, die so denken«, sagt er, »aber sie fürchten sich nur vor dem, was sie nicht begreifen können. Ich bin ein notwendiger Teil der Welt, genau wie der Himmel und das Meer.« Er streckt mir die Hand entgegen, und schüchtern lasse ich meine bleichen Finger zwischen seine schlanken, knochigen Finger gleiten. Als wir uns berühren, flattert meine Seele wie ein Herbstblatt in meiner Brust, und ein sanfter, kalter Hauch - keineswegs unangenehm - durchfährt mich. Ich spüre, wie sie ihm zufliegt, während die Einsamkeit meines jungen Lebens dahinschmilzt und verschwindet. Die Zweige des unglückseligen Baumes lösen sich, und mein Herz füllt sich mit Liebe. »Ich bin gekommen, um dich zu holen, mein Kind«, sagt er. »Du bist die Blume meines Herzens und meine einzige Tochter; dein Schicksal liegt in meiner Hand.« Also dies ist die Bestimmung, vor der ich mich so gefürchtet habe, die mir die Familie verwehren wollte? Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich innerlich im Gleichgewicht; ist meine Seele ein zu großer Preis? Nein, nicht wenn seine Hand so warm in
meiner ruht, und nicht wenn ich weiß, daß große Dinge vor mir liegen. Wie wir dort stehen, mein Vater und ich, geschieht etwas Seltsames, etwas Wundervolles. Wir erheben uns - hoch über die Wälder. Ich habe keinen Körper mehr. Wir steigen hoch über die Berge, die beinahe die Sterne berühren, und ich kann den Hain sehen, in dem ich einmal gelebt habe, den Ort, an dem die Angst noch immer das Leben überschattet. Bald werden wir zusammen dorthin gehen und meinen Brüdern die Wahrheit offenbaren. Jetzt träume ich: Meine Mutter beugt sich furchtsam und angsterfüllt über mich; voller Verzweiflung will sie mich aus dem Haus meines Vater und fort von meiner rechtmäßigen Erbschaft bringen. Sie hebt mich hoch, und ich stehe auf, werde zu dem Geschöpf, vor dem sie zusammenschrumpft. Ich bin ein Teil des Lumpensammlers und ein Teil von ihr, aber auch ein eigenes Wesen, stark und stolz auf all meine Fähigkeiten. Ich lache, aber nur weil sie nichts begreift. Innerlich weine ich, denn sie ist meine Mutter - aber ich fühle mich nicht schuldig, niemals mehr. Ich schlafe nicht mehr, träume aber, wann immer es mir gefällt. An vielen Orten halte ich
mich auf, suche die Wahrheit in den Seelen von Männern und Frauen, lerne immer wieder neue Wege kennen und schöpfe Kraft aus jenen, die mich scheuen. Ich bin die Tochter des Lumpensammlers. Endlich habe ich meine Erfüllung gefunden. MARK SHEFHERD
Auf der Suche nach Taradomnu 1 Jetzt könnt Ihr Euren Vater sehen«, sagte der Gehilfe des Heilers mit eisiger Stimme, als er die Tür des königlichen Schlafgemaches öffnete. Obwohl er sich demütig vor Terena verneigte, war ihr bewußt daß sie keineswegs willkommen war. Die Tür öffnete sich weiter, aber als sie eintrat, umgab sie Dunkelheit. Der dumpfe, süßliche Geruch von Krankheit schlug ihr bereits nach den ersten Schritten entgegen. In der äußersten Ecke befand sich das große, von einem Baldachin überspannte Bett, in dem die einstmals kraftvolle Gestalt Königs Aedhan, Herrscher der Elfen von Ruadach aus dem Geschlecht der Llanowar, auf Laken aus Seide und Satin
gebettet lag. »Leise, er schläft«, zischte der Gehilfe des Heilers irgendwo aus dem Hintergrund, aber sie beachtete ihn gar nicht. Ihr Vater war seit ihrem letzten Besuch noch grauer geworden und noch mehr eingefallen. Er lag ruhig da, die Hände an den Seiten, den geöffneten Mund zur Decke gerichtet. Wenn sich seine Brust nicht gehoben und gesenkt hätte, hätte man ihn für tot und aufgebahrt halten können. »Er schläft«, zischte Terena. »Seit vier Tagen schläft er nun schon«, bekräftigte sie und warf dem Gehilfen einen drohenden Blick zu. Er duckte sich zwar ein wenig, erwiderte dann aber den Blick länger, als schicklich war. »Und noch immer könnt Ihr nichts sagen?« Der Gehilfe zuckte unverbindlich mit den Schultern. »Macha hat etwas entdeckt. Er ist gerade dabei, eine Lösung zu finden. Aber«, schniefte er und sah bedeutungsvoll zur Seite, »er spricht nicht mit mir darüber.« Bei diesen Worten leuchteten ihre Augen auf. Aha, Macha ist also fort, um ein Heilmittel zu finden. Das bedeutet, daß der Heiler eine Idee hat, irgendeine Idee, welche die Ursache der Krankheit betrifft. Terena wandte sich wieder ihrem Vater zu und spürte, wie sich ihre Besorgnis in Wut verwandelte. »Vater, kannst du mich denn nicht
hören?« rief sie der reglosen Gestalt zu. Der Gehilfe zuckte sichtbar zusammen, eilte zum Bett, rang die dünnen Hände und führte sich auf, als bestünde der König aus zerbrechlichem Kristall, das bei der kleinsten Erschütterung bersten würde. Terena ergriff die Hand ihres Vaters und schüttelte sie. Die einzige Antwort bestand in dem gleichmäßigen Atmen. Während sie sein Gesicht betrachtete, kämpfte sie mit den Tränen, denn einen Augenblick lang sah sie den Geist des Elfenkönigs, wie sie ihn einstmals gekannt hatte: den großen und starken Anführer von Ruadach. Sogar für einen Llanowar war er groß und breitschultrig. Während seiner noch gar nicht so lange zurückliegenden Jugend hatte er zehn Elfen beim Schwertkampf besiegt, ohne eine Verletzung davonzutragen. Aber jetzt ähnelte er einer verdorrten Blume, die sich in Kürze aussäen und sterben würde. Nein, dachte Terena, während sie sich über ihn beugte. Die Götter haben dir nicht gestattet zu sterben! Noch... nicht. Sie berührte sein Handgelenk, schloß erneut die Augen und suchte nach seiner Seele, nach der Wurzel seines Lebens. Irgend etwas schirmte seinen Verstand wie ein dichter schmutziger Schleier ab und hinderte alles und jeden daran, zu ihm durchzudringen; sie entdeckte nicht einen Funken von Bewußtsein, nicht einmal den Hauch
eines Traums. Ihr behutsames Tasten offenbarte nur die geheimnisvolle Barriere, die Gedanken und Seele des Königs völlig abschirmte. Den Schleier hatte sie schon zu einem früheren Zeitpunkt entdeckt und mit Macha darüber gesprochen. Er hatte ihr beigepflichtet, daß ein Widersacher am Werk gewesen sein mußte, entweder mit einer Medizin, mit Schwarzer Magie oder gar mit beidem. Das Mana dieser Magie war tatsächlich dunkel und schwer zu bestimmen, aber sie kannten niemanden in Ruadach, der diese Art von Magie benutzte. Sicher war, daß es sich um mächtige Magie handelte, deren Kraft man mit Leichtigkeit zum Guten wie zum Bösen einsetzen konnte. Wer hat sich das Mana angeeignet? Und wer von uns wäre in der Lage dazu? Terena war ratlos und bezweifelte, daß irgendein Mitglied des Hofes oder der königlichen Familie solche Fähigkeiten besitzen konnte. Die Krankheit des Königs hatte ihn ganz plötzlich befallen, direkt nach einem Abendmahl; das Essen war sofort in Verdacht geraten, aber man hatte kein Gift entdecken können. Der Tee hatte ein zusätzliches Kraut enthalten, das Macha nicht bestimmen konnte, aber das war nicht verdächtig. Der König selbst war ein vollendeter Heilkundiger und stellte normalerweise seine
Teemischung eigenhändig zusammen, wobei er oftmals aufs Geratewohl neue Mischungen herstellte. Daher war es nicht nur möglich, sondern sehr wahrscheinlich, daß sein Tee ein zwar unbekanntes, aber dennoch gutartiges Kraut enthielt. Sie zog sich vom Verstand des Königs zurück und wandte sich vom Bett ab. Ich muß wissen, was Macha herausgefunden hat, dachte sie voller Erregung und stürmte aus dem Schlafgemach. 2 Macha Mac Aonghus, Heilkundiger und Oberster Magus der Tuatha von Ruadach, ritt mit ernster Miene auf seinem schwarzen Roß in den Hof des Palastes. Eine dichte weiße Nebeldecke lag über dem Land und verdeckte die Sonne, so daß nur blasses gelbes Licht hindurchschien. Terena wußte, daß die Hügel, auf denen die Stadt Scoria erbaut worden war, irgendwo hinter den Palastmauern, hinter der Nebelwand lagen. Und noch weiter zurück, in nordwestlicher Richtung, lag das Athgebirge. Aber dies alles wurde vom dichten Nebel verschleiert, aus dem jetzt der Heiler geritten kam, eingehüllt in seinen schwarzen Umhang und in einer Haltung, die seine ebenso dunkle Stimmung widerspiegelte. Macha zügelte sein Pferd neben Terena und
musterte sie mit traurigen alten Augen. »Wie geht es dem König?« fragte Macha mit wenig Hoffnung in der Stimme. »Er lebt, schläft aber noch immer«, antwortete sie, während sie ihn aufmerksam beobachtete und dabei spürte, wie sich der Hoffnungsschimmer zuerst in Enttäuschung und dann in Trauer verwandelte. »Heilkundiger Macha, Ihr wißt, was ihm fehlt, nicht wahr?« fragte sie und wußte, wie die Antwort lauten würde. Er nickte nur kurz und kniff die Augen zusammen, als er plötzlich gähnen mußte. »Begleitet mich in meinen Arbeitsraum«, sagte Macha und trieb sein Pferd an. »Wir haben viel zu besprechen.« In dem Turm, der ihm als Laboratorium diente, entfachte Macha ein großes Feuer, um die Kälte zu vertreiben. Als die Flammen zur Ruhe gekommen waren und die Kohlen zu glühen begannen, ließ er sich in dem aus einem riesigen Eichenstamm geschnitzten Stuhl inmitten einer Unmenge von Gefäßen und Fläschchen - von denen einige älter waren als der Palast selbst nieder. »Euer Vater ist mit einer Wurzel vergiftet worden, die ›Ewiger Schlaf‹ genannt wird«, sagte er endlich und erweckte nicht den Eindruck, als erfreue ihn diese Entdeckung.
Ewiger Schlaf. Das Kraut war ihr gut bekannt obwohl sie gerade erst mit ihrem Studium der Heilkunde begonnen hatte. Dieses Kraut war das einzige, das in Ruadach verboten war, und die meisten Elfen glaubten, daß es gar nicht mehr existierte. Die Pflanze wurde von Meuchlern benutzt und war von fremden Söldnern, die sie in einem geheimen Versteck aufbewahrten, in das Land der Elfen gebracht worden. Obwohl bereits mehr als hundert Jahre vergangen waren, seitdem man die letzten bekannten Bestände des ›Ewigen Schlafes‹ verbrannt hatte, gab es anscheinend noch immer einzelne Überbleibsel aus jenem Geheimversteck. »Mir ist bekannt«, fuhr Macha fort, während er seinen Umhang so drapierte, daß die Falten über die Seiten des riesigen Eichenstuhls fielen, »daß dieses Kraut eigentlich nicht mehr im Lande sein sollte, aber jeder Krieger würde Euch bestätigen, daß etwas so Mächtiges wie der ›Schlaf‹ immer einen Weg zurück in unsere Welt finden wird.« »Andere werden ihn zu nutzen wissen«, sagte Terena. »Vielleicht hat sogar Beothach selbst Nutzen daraus gezogen.« Macha zuckte zusammen, als sie Beothach erwähnte, und auch Terena verspürte einen bitteren Geschmack auf der Zunge, nachdem sie den Namen ausgesprochen hatte. Beothach, ihr
älterer Bruder, war der nächste Anwärter auf die Krone von Ruadach. Obwohl er in letzter Zeit überall im Königreich herumreiste, hatte er treue Anhänger daheim, die nur zu gern die Drecksarbeit für ihn erledigen würden. Vor kurzem hatte der König die Nachricht erhalten, daß Beothach eine menschliche Siedlung am Moenfluß angegriffen hatte, einen Ort namens Summertown. Beothach hatte alle Erwachsenen getötet und sämtliche Kinder als Sklaven verkauft. Es war ein völlig sinnloses Gemetzel gewesen, denn die Menschen waren äußerst friedliebend, aßen kein Fleisch, lebten von ihren Ernten und besaßen so gut wie keine Waffen. Sie hatten sogar ein Abkommen mit König Aedhan geschlossen, welches ausdrücklich bestätigte, daß die Menschen ein Recht hatten, sich dort niederzulassen. Aber im Königreich gab es etliche, die die Menschen als Gift für das Land betrachteten. Historisch gesehen waren bisher die Menschen als Angreifer aufgetreten, hatten in der Vergangenheit Elfenland besetzt, aber diese neuen Leute in Summertown waren völlig anders. Dann gab es auch noch die puritanischen Elfen, zu denen auch Beothach zählte, die Menschen als mögliches Verderben für die elfische Rasse ansahen. Terena konnte diese Furcht nicht nachempfinden, aber sie wußte, daß
die älteren Leute des Hofes, Macha inbegriffen, Kontakte - egal ob diese friedlich verliefen oder nicht - mit Menschen nicht guthießen. König Aedham aber wußte, daß diese Kontakte unvermeidlich waren, und hielt es für besser, wenn seine Untertanen auf diese friedliebenden Leute trafen und die Möglichkeit gewalttätiger Konflikte sehr gering blieb. Bisher hatte Terena Menschen nur aus der Entfernung gesehen und fand ihr Äußeres unangenehm, sogar abstoßend, obwohl ihr bewußt war, daß es dafür eigentlich keinen rechten Grund gab, außer daß die Alten denen die Menschen Leid zugefügt hatten - ihr und allen anderen Elfen viele Vorurteile vermittelt hatten. Unter der Anleitung ihres Vaters wuchs ihre Aufgeschlossenheit gegenüber diesen Leuten, von denen sie eigentlich nur wenig wußte, und sie bemühte sich, Gemeinsamkeiten anstatt der Unterschiede zu entdecken. Daher kam die Kunde vom Gemetzel an den Bewohnern von Summertown durch Beothach nicht völlig überraschend. Als der König die Neuigkeiten vor einigen Nächten erfahren hatte, teilte er seinen Vertrauten mit, daß er seinen Sohn wegen dieser Tat enterben und verbannen würde. Um dies offiziell durchzuführen, mußte eine öffentliche Proklamation gemäß den uralten Gesetzen von Ruadach erfolgen, die in
Gegenwart von Zeugen schriftlich festgehalten werden mußte. Dies hätte der König am folgenden Tag bei Hofe getan. Wenn er nicht plötzlich erkrankt wäre. »O ja«, gab Macha zu, »ganz sicher hat sich Beothach des ›Ewigen Schlafes‹ bedient.« Er beugte sich vor und flüsterte leise: »Aber seid vorsichtig, meine Kleine, wem Ihr Euer Vertrauen schenkt. Ich weiß nicht mehr, wem ich außer Baron Erko noch trauen kann. Und immerhin bin ich einer der Ältesten unseres Volkes.« Aber wie kann man so offensichtlich den König vergiften? Nur ein Narr würde Beothachs Motive nicht durchschauen. Er muß sich seines Einflusses sehr sicher sein, wenn er auf solch feige Art versucht, seinen eigenen Vater zu töten. Terena schüttelte den Kopf beim Gedanken an die Unverfrorenheit des Anschlags; schon immer hatte der König Beothach ihr vorgezogen, aber erst jetzt als erwachsene junge Elfe begriff sie, nach Jahren des Grolls, weshalb ihr Vater dem älteren Bruder viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Sie liebte ihren Vater unvermindert und blieb all die Jahre an seiner Seite, während Beothach sich gefühlsmäßig, und in letzter Zeit auch räumlich, von ihm entfernte. Beothach verbrachte nur wenig Zeit im Palast, und der König hatte das mit den Worten abgetan,
daß sein Sohn dabei sei, sich ›die königlichen Hörner abzustoßen‹. Zurückblickend dachte Terena nun, daß er sich nicht so sehr jene Hörner abgestoßen, sondern vielmehr seine Stellung unter den Baronen gefestigt hatte. Es war kein Geheimnis, daß zwei der drei Elfenbarone von Ruadach treue Anhänger Beothachs waren, und daher schien es recht wahrscheinlich, daß sie gemeinsam mit ihm gegen den König intrigieren würden. Nach den Gesetzen Ruadachs mußte der Erbe seinerseits über einen Erben verfügen, um das Fortbestehen des Geschlechtes zu sichern. Beothach hatte nicht nur einen, sondern bereits zwei kleine Söhne, die in der Burg Baron Roechs lebten, und erfüllte damit die gesetzlichen Bestimmungen. Ihr Bruder mochte sich verschworen haben, ihren Vater zu töten, dachte Terena bitter, aber die Krone würde er unter Einhaltung aller anderen Sippengesetze an sich reißen. Baron Roech und Baron Fergus, deren Ländereien nördlich und südlich der Hauptstadt lagen, machten kein Geheimnis aus ihrem Bündnis mit Beothach; die Siedlung der ermordeten Menschen grenzte an den Besitz des letzteren. Baron Erko, dessen Ländereien im Osten lagen, war schon in seiner Jugend der Priesterschaft beigetreten und hatte erst vor
kurzem, beim Tode seines Vaters, den Titel angenommen. Obwohl er dem Priesterstand - der auch das Auge Emers, den kleineren der beiden Monde, verehrte - nicht mehr angehörte, hielt Erko jedoch, genau wie die Menschen aus Summertown, an seinen friedlichen Grundsätzen fest. Erkos Leute hatten den König von dem Gemetzel in Kenntnis gesetzt, denn sie hatten die Greueltat von einem Hügel aus beobachtet. Baron Erko hielt dem König die Treue und hatte diese Treue mit dem Verrat des Prinzen unter Beweis gestellt. Erko ist auf unserer Seite, dachte Terena. Wäre er uns im Falle eines Krieges eine große Hilfe? Wahrscheinlich nicht. »... Terena?« Erschreckt blickte sie auf. Sie war mit ihren Gedanken so weit fort gewesen, daß sie dem Heiler gar nicht mehr zugehört hatte. »Ja, Macha. Verzeiht mir.« »Hat sich Euer Bruder Beothach dem Studium der Magie zugewandt?« fragte er mit einem derart unschuldigen Gesichtsausdruck, daß es ihr eiskalt über den Rücken lief. »Nein«, antwortete sie. »Nein, gewiß nicht. Das wüßte ich. Ich hätte es gefühlt...« »Hättet Ihr das?« fragte Macha. »Erzählt er Euch alles?« Das Gespräch führte jetzt in eine Richtung, die ihr nicht gefiel, und sie gab ihm
das durch den Klang ihrer Stimme zu verstehen. »Er erzählt mir gar nichts«, erwiderte sie kühl, »aber die Stimme des Blutes hätte es mir verraten. Er könnte es nicht verleugnen.« »Und wenn er es dennoch könnte?« fragte Macha mit gesenktem Blick: der Schein eines aufflackernden Astes erhellte sein uraltes Gesicht. »Der Gebrauch des ›Ewigen Schlafes‹ ist auch nicht ungefährlich für denjenigen, der ihn anwendet. Er kann nur durch den geschickten Umgang mit Mana verhindern, daß er selbst getötet wird. Bestimmt ist Euch das durch Eure Studien bekannt.« Das traf zu, aber sie wollte es noch nicht zugeben. Dies einzugestehen hätte bedeutet daß ein naher Verwandter Mana anwandte, um Schaden anzurichten, und darauf standen in Ruadach schwerste Strafen. Sollte Beothach schuldig sein, würde das ein schlechtes Bild auf sie werfen, auf ihre ganze Familie, den König inbegriffen. Ein derartiger Gebrauch von Mana war Inbegriff all dessen, wogegen sich ihre Sippe seit Anbeginn der Zeit gewandt hatte; eine plötzliche Umkehr würde alles Gute, das während der letzten tausend Jahre von Ruadach ausgegangen war, zunichte machen. Würde Beothach verraten, was sein Vater, das ganze Geschlecht seiner Vorfahren, in einem Jahrtausend aufgebaut hatte?
Als sie merkte, daß sie sich diese Frage nicht gleich beantworten konnte, befiel sie die Sorge um Ruadachs Zukunft. Macha zuckte die Achseln und hielt die Hände dem wärmenden Feuer entgegen. »Es gibt Heilung für den König. Eine Pflanze namens Taradomnu, ein Rebengewächs, das sich bevorzugt um die Stämme alter Eichen rankt. Taradomnu ist kein heimisches Gewächs. Es stammt aus dem hohen Norden und gedeiht in wärmeren Gebieten nicht sehr gut, außer in geschützten Tälern.« Er wirkte nicht besonders erleichtert über das Gegengift. Wächst es in unserem Land? überlegte sie angestrengt. »Die Rebe taugt nicht für etwas anderes, daher haben wir nichts davon vorrätig. Nicht weit von hier, in einem Tal, das ein Nebenarm des Fors gebildet hat, gab es etwas Taradomnu. Ich bin gerade von dort zurückgekehrt.« Macha hielt inne, ergriff einen eisernen Schürhaken und schob ein paar Holzscheite zurecht. Funken sprangen auf, tanzten den Kamin hinauf. Eine Hitzewelle durchflutete den Raum, als das Feuer zu neuem Leben erwachte. »Und?« fragte Terena ungeduldig. »Es war nichts mehr da. Nicht eine einzige Rebe. Alle sind ausgerissen und verbrannt worden. Ich habe keine brauchbaren Reste finden können.«
Terena starrte ihn an. »Jemand wußte davon und kannte auch den Ort, wo es zu finden war!« »Offensichtlich«, antwortete Macha. »Der Platz war kein Geheimnis. Ich pflege zum Beispiel meine Gehilfen dorthin zu führen, um ihnen zu zeigen, wie Taradomnu aussieht und wo es wächst, damit sie es kennen, sollten sie einmal in fremde Länder reisen.« Terena stöhnte auf und schlug die Hände vors Gesicht. »Dann ist alles aus«, murmelte sie. »Nicht ganz«, erwiderte Macha. Er stand auf, schlurfte zu einem hohen Bücherregal hinüber und nahm eine Schriftrolle aus einem Stapel Pergamente heraus. »Ich weiß noch einen anderen Ort, an dem Taradomnu zu finden ist.« Sie hob den Kopf, blickte ihn voller Hoffnung an. »Wo? Ich werde hingehen!« Macha reichte ihr die kleine Schriftrolle, an der ein Lederbeutel befestigt war. Sie rollte sie aus und entdeckte eine Landkarte, auf der die Gegend oberhalb des Fors, nördlich von Scoria, zu sehen war. Die Karte endete nahe des Athgebirges. »Sucht eine Felsenklippe«, sagte Macha. »Dort teilt sich der Fluß und führt in ein anderes Tal, das durch drei große Felsbrocken gekennzeichnet ist.« Sie starrte auf die Karte, ihre Hände zitterten vor Aufregung.
»Ja, ja, ich kenne den Weg«, sagte sie, »aber er führt durch Fergus' Land.« »Das stimmt«, antwortete Macha und setzte sich wieder auf den Stuhl. »Aber Baron Fergus weiß nicht, an welchem Fleck Taradomnu wächst. Eigentlich weiß es niemand. Ich habe es geheimgehalten für den Fall, daß einmal etwas wie dies geschient.« Terena sprang von ihrem Sitz, umarmte Macha stürmisch und küßte ihn mitten auf die Stirn. »Ihr Götter! Mein Kind, womit habe ich solche Dankbarkeit verdient?« rief Macha aus, aber Terena sah, wie er errötete. »Seht Euch die Zeichnung der Taradomnurebe genau an.« Sie betrachtete ein anderes Pergament, das an der Schriftrolle hing. Es zeigte die sorgfältige Zeichnung einer Rebe; jeweils vier einzelne Blätter bildeten ein Büschel. »Sammelt genügend, um einen der üblichen Beutel zu füllen. Wurzel, Stengel und Blatt. Aber nehmt nicht alle, denn wir befolgen die Regel, daß genügend zurückbleiben muß, damit die Natur wieder neue Pflanzen hervorbringen kann. Das schulden wir der Natur.« Während sie noch in die Zeichnung vertieft war, bedachte sie bereits ihre Mission und alles, was davon abhing. Das Volk der Elfen. Der Hof. Der König... mein Vater, Sie befand sich nicht für würdig genug, aber man konnte niemandem
sonst vertrauen. »Wenn aber schädliches Mana im Spiel ist«, sagte sie, »brauche ich dann nicht Magie, um dagegen kämpfen zu können?« Der Einwand war altbekannt, sie hatten oftmals darüber gesprochen. Um schützendes Mana für sich arbeiten zu lassen, benötigte sie die Siegel, aber nach Machas Meinung bedeutete solche Macht zuviel Verantwortung für jemanden, der noch so jung war. Eine Zeitlang hatte sie sich damit abgefunden, die Lehre der Magie noch kennenzulernen, aber nun war sie durch die Veränderungen ihres Körpers ruhelos geworden und drängte darauf, endlich ein wahrer Zauberlehrling zu werden. Macha schüttelte selbstgefällig den Kopf, wie immer, wenn er ein Geheimnis kannte, das sie unbedingt ergründen wollte. Am liebsten hätte sie ihn geohrfeigt, um dieses zufriedene Grinsen aus dem alten Gesicht zu wischen, aber das hätte sie nur gewagt, wenn damit zu rechnen gewesen wäre, daß sie es auch überleben würde. »Was für ein plumper Überlistungsversuch«, sagte der Heiler, und Terena öffnete protestierend den Mund. »Nein, nein, keine Widerrede, ich will nichts hören«, meinte er freundlich, und sie bemerkte daran, daß er an diesem Nachmittag in halbwegs scherzhafter Stimmung war - trotz der Ernsthaftigkeit ihres
Gespräches. »Wir haben bereits mehrmals darüber gesprochen, junge Dame. Ihr werdet das Zeichen des schützenden Manas erkennen, wenn Dir wirklich dafür bereit seid.« Macha verschränkte entschlossen die Arme. »Und nicht früher. So habe ich es gelernt, und es gibt keinen Grund, diese Regel zu brechen, nicht einmal im Hinblick auf Eure Herkunft.« Hinter seinen strengen Worten bemerkte sie jedoch ein listiges Zwinkern in den alten Augen; es verriet ihr, daß er sie ködern wollte. Aber sie würde ihm nicht die Freude eines kindischen Ausbruchs ihrerseits gönnen. »Und was ist, wenn ich es mit einem magischen Angriff zu tun bekomme?« fragte sie und bemühte sich, ihre Stimme nicht ironisch klingen zu lassen. »Macht Euch keine Sorgen«, antwortete Macha, »Ihr werdet geschützt sein. Aber gegen Schwerter und Pfeile müßt Ihr Euch selbst zur Wehr setzen.« »So sei es«, stimmte sie zu und wechselte zu einem freundlicheren Tonfall über, um anschließend die Zeichnung der Taradomnurebe mit einem Anflug von Ehrfurcht zu betrachten. »Vielleicht habt Ihr hiermit das Leben meines Vaters gerettet«, fügte sie hinzu und verstaute die Schriftrolle in dem Lederbeutel. »Ich reite noch heute los.«
3 Terena bestand darauf, daß niemand sie begleiten sollte, denn eine größere Reisegruppe würde nur unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich lenken. Macha beharrte darauf, daß sie eine Truppe Bewaffneter mitnehmen müsse, da sie über feindliches Gebiet ziehen und der Baron die Durchreise sicher nicht gestatten würde. Aber Terena plante, in aller Heimlichkeit und ohne entdeckt zu werden durch Fergus' Ländereien zu reisen - mit fünfzig Kriegern an ihren Fersen würde das recht schwierig werden. Außerdem würde der Baron, wenn er davon erführe, sie entweder herausfordern oder aber beobachten lassen. Und sollte die letzte Taradomnustätte entdeckt werden, wäre alles verloren. Schließlich kamen sie zu einem Kompromiß. Zwei Krieger, erstklassige Bogenschützen aus der Elitekampftruppe der Elfen, würden sie zum Schutz begleiten. Terena vermutete, daß man zu dritt ohne viel Aufsehen zu erregen die Straße entlang des Fors nehmen könne. Noch war ihr Bruder Beothach auf Reisen und nicht in die Hauptstadt zurückgekehrt. Befand er sich zwischen Scoria und den Überresten Summertowns, würde sie sich in
entgegengesetzter Richtung bewegen; bei seiner Rückkehr fände Beothach ihren Vater wie geplant sterbend vor und würde sich höchstwahrscheinlich auf seinen Lorbeeren ausruhen und darauf warten, daß der Schlaf sein Werk vollendete. Ware er jedoch auf dem Weg zu Roechs Palast, um seine Söhne zu besuchen, würden sich ihre Wege kreuzen. Sie bemühte sich, diesen Gedanken während ihrer Reisevorbereitungen beiseite zu schieben. Die beiden Bogenschützen waren ausgesprochen still, als sie das Palastgelände verließen. Entweder lag es an der Gegenwart eines Mitgliedes der königlichen Familie, oder sie waren müde; sie waren noch jung, die Ohren noch klein und fast rund, das Zeichen der Jugend. Macha hatte recht lange und spitze Ohren, von denen eines leicht gebogen war, das übliche Zeichen für hohes Alter bei den Elfen. Das Athgebirge war von Nebelschwaden verhüllt, als sie ihre Reise auf der Straße, die den Fors entlangführte, begannen. Ihr Ziel lag am Fuß der Berge, und nach Machas Schätzungen würden sie einen Tag benötigen, um den Taradomnuplatz zu erreichen, und einen weiteren Tag für die Rückkehr. Die Zeit spielte eine wichtige Rolle, daher brachen sie sofort auf, ohne auf den Schutz der Dunkelheit zu warten. Nach Ansicht des Heilers hatte der König nur
noch drei Tage zu leben. Bis zum Mittag waren ihnen nur ein paar Händler mit Maultiergespannen begegnet: niemand, der amtlich wirkte und Fergus benachrichtigen würde. Die Sonne stieg höher, wurde aber gleich von Regenwolken bedeckt, die feinen Nebel über das Land sprühten. Terena hatte die Karte mitsamt der Zeichnung in einer Tasche aus Ölzeug verstaut, die völlig wasserdicht war; außerdem kannte sie die Karte inzwischen gut genug auswendig, um sie nicht zu Rate ziehen zu müssen. Der Nebel erwies sich als eine zweischneidige Sache. Einerseits half er, sie zu verbergen, andererseits verwandelte er die Straße in ein Meer aus Schlamm. Terenas Pferd hatte Schwierigkeiten, die Untiefen des überfluteten Weges abzuschätzen, und zögerte an den Stellen, wo das Wasser besonders hoch stand. Beim Überqueren eines dieser Hindernisse hörte Terena einen der Krieger laut aufschreien. Sie wirbelte noch rechtzeitig herum, um mitanzusehen, wie er mit Entsetzen auf einen Pfeil starrte, der in der Mitte seiner Brust steckte. Er griff danach, sackte nach vorn und stürzte vom Pferd. Der andere Krieger spannte seinen Bogen, legte den Pfeil ein, schien aber keine Ahnung zu haben, aus welcher Richtung der Angriff gekommen war.
Stille umgab sie. Terena wußte, daß sie die nächsten sein würden. Dann hörte sie zu ihrer Rechten ein Knacken und das tödliche Zischen eines Pfeils, der an ihrem Kopf vorbeisauste. »Reite!« schrie sie und trieb ihr Pferd voran. Terena wußte, daß sie an dieser Stelle die beste Zielscheibe boten, und zwang das Pferd zum Galopp. Hinter sich hörte sie den anderen Krieger, aber er lag weit zurück. Vielleicht hatte er Gewissensbisse, seinen Kameraden zurückzulassen. Es war Terena bewußt, daß auch ihr Vater sterben mußte, wenn sie jetzt getötet würde, daher richtete sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf die unebene Straße. Beinahe wäre sie in einer scharfen Kurve gestürzt, aber ihr Pferd meisterte die Biegung mit Leichtigkeit. Wenige Augenblicke später wandte sie sich um und bemerkte, daß sie allein war. Sie fühlte sich wie ein Feigling, weil sie vor dem Angriff geflohen war, und versuchte sich einzureden, daß sie keine Wahl gehabt hatte, sicher waren die Angreifer in der Überzahl. Dann hörte sie Rufe und einen Schrei, der möglicherweise von dem zweiten Krieger stammen konnte, gefolgt von dem donnernden Klang vieler Hufe. Sie sind hinter mir her, sagte sie sich und konzentrierte sich völlig auf ihr Pferd, während
sie verschiedene Taktiken erwog, die ihr helfen könnten. Sie könnte absteigen, sich verstecken und das Pferd davonjagen. Der Lärm der Angreifer würde das Tier wahrscheinlich vorantreiben und dieses wiederum die Meute von ihr weglocken. Dann hätte sie aber kein Fortbewegungsmittel mehr, nur noch die eigenen Füße, und damit würde sie ihre Aufgabe nicht rechtzeitig bewältigen, um den Vater retten zu können. Also ritt sie weiter, flinker als sie je zuvor geritten war, und flehte die Götter an, daß ihr Pferd schneller sein möge als die der Verfolger. Anscheinend waren die Angreifer Fergus' Soldaten, aber sie war sich nicht sicher. Es war bekannt, daß auch Banditen diese Straße unsicher machten - vorzugsweise bei schlechtem Wetter. Aber irgendwie sah diese Attacke nicht nach Banditen aus; der Pfeil war von einem Könner verschossen worden, und die Wegelagerer dieser Gegend waren nicht gerade als gute Bogenschützen bekannt. Nur bei den Truppen gibt es so geschickte Männer... Nachdem sie eine weitere Biegung hinter sich gebracht hatte, stellten sich ihr plötzlich zwei berittene Soldaten entgegen; Terenas Pferd bäumte sich auf und warf sie rückwärts ab. Nach dem Aufprall rollte sie sich weg und griff nach ihrem Schwert.
Aber zu spät. Als sie aufsprang, spürte sie die Spitze eines Schwertes an ihrer Kehle und erblickte vor sich das Gesicht eines Soldaten, der die rot-schwarze Uniform von Fergus' Männern trug. »Es ist tatsächlich die Prinzessin«, sagte er leise. »Wenn Euch Euer Leben lieb ist, dann bleibt, wo Ihr seid. Aus welchem Grund bewegt Ihr Euch über unser Land?« Das Schwert deutete noch immer auf die Stelle direkt unter ihrem Kinn; sie starrte ihn schweigend an. Sie sind alle Verräter, alle sind auf Beothachs Seite, schoß es ihr durch den Kopf; allerdings war diese Erkenntnis nicht besonders neu. Die Unverfrorenheit, mit der dieser Soldat das Leben der Prinzessin bedrohte, ließ nur eine Schlußfolgerung zu: Eine Verschwörung war im Gange, und er befand sich auf der Seite des Feindes - Beothach. Die Hufschläge ihres Pferdes verhallten im Nebel. Der andere Soldat saß ab und trat hinter sie, packte ihre Arme und riß sie nach hinten. Terena bemerkte eine Bewegung in dem Baum über dem auf dem Pferderücken sitzenden Soldaten, aber im Nebel konnte sie nichts Genaues ausmachen. Alle drei verharrten schweigend, während sie überlegte, welche Lüge sie ihnen erzählen sollte. Ich bin gekommen, um ein Bündnis mit Fergus zu schließen. Oder: Eine
Ork-Armee steht an unserer Grenze, wir brauchen Fergus... Die Lügen wirbelten ihr durch den Kopf, erschienen aber nicht einmal ihr selbst sehr überzeugend. Dann sprang etwas mit einem markerschütternden Schrei vom Baum herunter, auf den Rücken des Soldaten, und dieser Schrei stammte nicht von einem Elfen. Die Kreatur bestand nur aus Armen, Beinen und Haaren. Der Soldat wich zurück, während er sich gegen was auch immer zur Wehr setzte. Terena nutzte die Gelegenheit und stampfte mit dem Stiefelabsatz auf den rechten Fuß des hinter ihr stehenden Mannes. Der Soldat brüllte; sie brachte ihn zum Verstummen, indem sie ihm mit der flachen Hand mitten ins Gesicht schlug. Er fiel hintenüber, und sein Nasenrücken saß jetzt irgendwo im Hirn. Ihren anderen Gegner nahm sie nur als Schatten wahr. Der Reiter kämpfte noch immer gegen die von oben gekommene Kreatur, das Pferd warf sich voller Panik herum. Ihr Pferd war fort, sie mußte zu Fuß fliehen. Gern hätte sie dem Wesen beigestanden, war sich aber nicht sicher, ob es ihr freundlich gesonnen war. Die Entscheidung wurde ihr abgenommen, als sie ihre Verfolger durch das hohe Wasser platschen hörte, nur noch wenige Schritte entfernt.
Behende wie ein Kaninchen stahl sich Terena durch den Nebel davon und legte soviel Entfernung zwischen sich und Fergus' Leute wie nur möglich. Während sie auf ein paar Bäume zurannte, die sich schon bald als dichter Wald entpuppten, fragte sie sich, was, zum Teufel, die Götter wohl gesandt haben mochten, um den Soldaten anzugreifen. 4 Der Boden war vom Regen durchweicht und ermöglichte es ihr, sich leise vom Kampfplatz zurückzuziehen. Terenas erstes Ziel war es, sich von ihren Gegnern zu entfernen, aber gleichzeitig wollte sie in der Nähe der Straße bleiben. Sie wollte ihre Mission erfüllen, mit oder ohne Pferd. Wütende, verwirrte Rufe folgten ihr, während sie durch den Wald schlich, einen Pfad entlang, der ihrer Meinung nach parallel zur Straße verlief. In dieser unbekannten Gegend mußte sie sich auf ihren Orientierungssinn verlassen. Soweit sie feststellen konnte, folgte ihr niemand. Die Tasche mitsamt der Karte und der Zeichnung hing an ihrer Seite, neben dem Schwert, das sie auf dieser seltsamen Reise bisher kein einziges Mal gezogen hatte. Aufgrund seiner Länge war es beim Nahkampf
schlecht zur Verteidigung geeignet. Tatsächlich hatte sich ihre Handfläche als hervorragendes Mordinstrument erwiesen. Der Dolch blieb in seiner Scheide; im Zweifelsfalle hätte sie ihn anstelle der Hand benutzt Der Kampf hatte sie ermüdet, und nun, als die Furcht etwas nachließ, fühlte sie sich zittrig. Aber sie mußte weiter, mußte sich bewegen. Fergus' Leute würden nicht aufgeben, schon gar nicht jetzt, wo sie wußten, daß sie im Vorteil war. Sie war zu Fuß. Ein Rascheln aus einem Busch erregte ihre Aufmerksamkeit, sie stand still und zog das Schwert. Ein junger Mensch, auf einem von Fergus' Pferden sitzend, kam in Sicht. Er war groß und sehnig, mit einem Schopf wilden lockigen Haares, seine Knie standen wie Ellenbogen von den Seiten des Pferdes ab. Zuerst hielt sie ihn für nackt, bemerkte dann den Lendenschurz und die Stiefel, aber das war alles. An der Seite baumelte ein Dolch, aber er machte keine Anstalten, ihn zu ziehen. Sie starrten einander eine geraume Zeitlang an, bis Terena ihre Klinge fortsteckte, denn sie war sicher, daß er keine echte Gefahr darstellte. Dann erkannte sie plötzlich, daß dies die wilde Kreatur war, die vom Baum herab auf ihren Angreifer gesprungen war und anscheinend dabei ein Pferd erbeutet hatte.
Hinter ihr ertönten wieder die Rufe der Verfolger, diesmal lauter. Der junge Mensch blickte beunruhigt auf. Dann schaute er wieder zu ihr hinab und bedeutete ihr wortlos, sich hinter ihn auf das Pferd zu schwingen. Mit einem Satz saß sie hinter ihm auf, und Sekunden später stoben sie davon, flogen auf dem erbeuteten Pferd durch den Wald. 5 »Norden«, sagte sie ihm ins Ohr, als sie die Straße wieder erreicht hatten. »Reite bitte nach Norden. Ich habe dort etwas Wichtiges zu erledigen.« Zwar wußte sie nicht, ob er sie verstehen konnte, aber sie schlugen die nördliche Richtung entlang des Fors ein. Von den Verfolgern war nichts zu hören, und sie hoffte, daß sie ihre Spur verloren hatten. Während der Flucht beschäftigten sich ihre Gedanken mit dem jungen Menschen, der merkwürdigerweise ihr Retter geworden war. Zuerst hatte sie ihn für einen jungen Mann gehalten, aber er war kaum mehr als ein Knabe, wenngleich ein großer, ungelenker Knabe mit den zarten Anfängen eines Bartes und schön geformten Schultermuskeln. Er konnte reiten, recht gut sogar, und sie bewunderte ihn, obwohl
er wie eine Ziege roch. Sie wechselten keine weiteren Worte, bis sie anhielten, um zu rasten, denn das Pferd zeigte Ermüdungserscheinungen. Auf dem steinigen Flußufer fühlte sich Terena verletzlich, aber es gab keinen anderen Weg zum Wasser. Während das Tier mit großen Zügen trank, warf Terena wiederholte Blicke flußabwärts und lauschte nach Baron Fergus' Soldaten. Der Nebel hatte sich gelichtet, und es war inzwischen ein warmer Spätnachmittag geworden; die Sonne berührte die Gipfel des Athgebirges. »Also, wer bist du?« fragte sie mit Nachdruck, und ging davon aus, daß er ihre Sprache verstand. »Hier leben keine Menschen, jedenfalls nicht, soweit ich weiß. Dies ist Elfenland.« Sobald sie die letzten Worte ausgesprochen hatte, kam sie sich dumm vor. Als ob irgendwer die Welt besitzen könnte. Der Junge starrte sie an, kniete dann nieder und trank aus dem Fluß, schwieg aber noch immer. »Ich glaube, ich sollte dir danken«, fügte sie leise hinzu. »Ich denke, daß sie mich umgebracht hätten, wenn du nicht auf den Soldaten gesprungen wärst.« Trotz des Schmutzes, des etwas derben Äußeren und der dringenden Notwendigkeit eines Bades war der menschliche Knabe nicht
unansehnlich. Seine abgerundeten Ohren ließen ihn weniger intelligent, eher tierisch erscheinen, und die fehlende Kleidung gab ihm auch kein kultivierteres Aussehen. Ihr wurde bewußt, daß sie ihn nach elfischen Maßstäben beurteilte - und auch nach elfischen Vorurteilen, wovor ihr Vater immer gewarnt hatte. Menschen sind nicht weniger weise und klug als wir, dachte sie, als sie sich an die sanften Ermahnungen ihres Vaters erinnerte. Der Junge strahlte Freundlichkeit aus, zeigte ein sanftmütiges Benehmen, das er verzweifelt durch vorgetäuschten Arger zu verbergen suchte. »Sprechen wir die gleiche Sprache?« fragte sie, da er ihr offenbar keine Beachtung schenkte. »Woher stammst du?« »Summertown«, antwortete er plötzlich mit sanfter, matter Stimme und blickte ihr ins Gesicht. Sie öffnete den Mund, um zu sprechen, aber sie fand keine Worte. Ihr Götter, dachte sie plötzlich voller Angst, und ihre Hand zuckte nach dem Dolch. Die menschliche Siedlung, die Beothach angegriffen hat. »Summertown«, erwiderte sie gedankenverloren, mit versiegender Stimme. Sie fühlte Trauer ob der ermordeten Menschen und machte keinen Versuch, ihre Gefühle zu verbergen.
»Also weißt du davon«, sagte der Junge und trat näher, wirkte aber nicht drohend. »Warum versuchen sie, dich zu töten?« »Derjenige, der deine Leute getötet hat«, sagte Terena und hoffte, daß ihre Erklärung sinnvoll klang, »der Anführer. Er ist der Prinz und versucht, die Krone von Ruadach an sich zu reißen, bevor seine Zeit gekommen ist. Dieses Elfenreich...« Sie wagte ihm wieder in die Augen zu sehen. Auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte, fühlte sie sich schuldig. Mein Bruder ermordete seine Leute. Vielleicht sogar seine Familie. »Der König liegt im Sterben. Wenn er tot ist, wird dieses Ungeheuer, das deine Leute umgebracht hat, der neue König.« Anfangs bleib seine Miene undeutbar, dann bemerkte sie, daß er über ihre Worte nachdachte. Nach einer Weile meinte er: »Also war er nicht der König des Landes. Man wollte uns das glauben machen.« Energisch schüttelte sie den Kopf. »Nein, nein, auf gar keinen Fall!« sagte sie nachdrücklich. »Er hat eine Verschwörung angezettelt, um König Aedhan zu stürzen, und sollte ich meine Aufgabe nicht erfüllen, dann wird ihm das Vorhaben gelingen.« »Deine Aufgabe?« fragte er, rieb sich das Gesicht und sah plötzlich sehr müde aus. »Was gibt es im Norden so Wichtiges, daß du sogar
dein Leben aufs Spiel zu setzt, um dorthin zu gelangen?« Terena erzählte ihm von der Vergiftung mit dem ›Ewigen Schlaf‹ und ihrer Aufgabe, Taradomnu zu finden, um den König zu heilen. »Jene Soldaten, die uns folgen, gehören zu den Leuten eines Barons, der mit Beothach im Bunde steht. Wenn mein Vater stirbt, ist alles verloren«, brach es aus ihr heraus. Zu spät bemerkte sie ihren Fehler. »Der König ist dein Vater?« fragte der Junge. »Dann war es also dein Bruder, der Summertown angegriffen hat« Jetzt konnte sie es nicht mehr leugnen. »Ja, Beothach ist mein Bruder, verdammt sei seine Seele. Nach allem, was er getan hat, würde ich ihn am liebsten enterbt oder tot sehen. Und das würde auch der König, wenn er am Leben bliebe.« Sie blickte wieder die Straße hinunter und fühlte eine Unruhe in sich aufsteigen, obwohl nichts zu entdecken war. »Wir müssen weiter.« Zuerst wirkte er unsicher, als würde er ihren Charakter abwägen oder nach Fehlern in ihrer Geschichte suchen. Dann streckte er die Hand aus. »Du kannst mich Grenfher nennen«, sagte er und drückte ihr fest die Hand. »Wo müssen wir nach diesem Gegengift suchen?« 6
Auf Terenas Vorschlag hin entfernten sie alle schmückenden Teile des Zaumzeugs, die Hinweise auf den Besitzer - Fergus - geben konnten. Dennoch würden die meisten der Ortsansässigen nach einer eingehenden Musterung das Pferd einzuschätzen wissen. Aber wenigstens wehte ihnen jetzt keine Flagge mehr voran. Nachdem sie die Richtung auf das Athgebirge eingeschlagen hatten, gab Gren ein paar Erklärungen ab, da er Terena gegenüber inzwischen genügend entspannt war, um einige seiner Geheimnisse zu offenbaren. Beim Überfall auf Summertown waren nur die Erwachsenen umgekommen, mehrere hundert Kinder waren nach dem Fall der Siedlung als Prostituierte verkauft worden. Eine Gruppe Orks hatte schon lange vor Beginn der Kämpfe darauf gewartet, die Kinder kaufen zu können, und nun befanden sie sich längst auf dem Weg zu einem unbekannten Ziel. Grenfher war gesondert für einen unbekannten Käufer erworben worden, dessen Mittelsmann ihn am anderen Ende Ruadachs mit einem Haufen Gold erwarten würde. Eine Gruppe von Fergus' Leuten sollte ihn dorthin bringen, als sie Terena und ihren Leibwächtern begegneten. Gren konnte entfliehen, als die Soldaten
angriffen, und hatte sich mangels eines anderen Platzes auf einem Baum versteckt. Als er beobachte, wie seine früheren Bewacher Terena angriffen, handelte er sofort. Möge Beothach zur Hölle fahren, dachte sie wütend. Ist ihm denn nichts mehr heilig? In Llanowar ist es Sitte, Kinder zu beschützen, egal welche Kinder, unabhängig von der Rasse. Und er verkauft sie als Huren! Sie erkundigte sich nach dem geheimnisvollen Käufer, und anfangs schien er nicht darüber sprechen zu wollen. Dann sagte er mit einem Anflug von Ärger: »Alles was ich weiß ist, daß er einen Harem von jungen Männern hat Ich bin erst sechzehn. Ich wäre der jüngste gewesen.« Danach ritten sie in tiefstem Schweigen weiter, und Terena grübelte darüber nach, ob sie vielleicht zuviel gefragt hatte. Aber seine Stimmung schien sich zu heben, als sie einen Nebenarm des Flusses erreichten, der reines Quellwasser führte. »So war Summertown«, bemerkte Gren abwesend. »Wir errichteten unsere Häuser an einem Bach, der aus den Bergen kam.« Terena hörte nicht richtig hin, denn etwas anderes hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Oberhalb des Baches ragte eine Felsnase vor, die mit kleinen Bäumchen bewachsen war. »Warte einen Augenblick«, sagte sie und zog
die Landkarte, die Macha ihr gegeben hatte, hervor. »Hier ist es. Dies muß es...« Sie blickte flußaufwärts, an drei weißen Felsbrocken vorbei. »Hier lang!« rief sie aus. »Wir haben es gefunden!« Gren führte das Pferd den flachen Strom hinauf, auf die Felsbrocken zu, dann über das steinige Ufer. Terena sprang ab und rannte auf einen Eichenhain zu. An den Stämmen der riesigen Bäume rankten sich üppige grüne Reben empor, deren ausgewachsene Zweige Büschel mit jeweils vier Blätter hatten. »Taradomnu«, flüsterte sie dankbar und machte sich daran, die Reben aus der Erde zu ziehen. 7 Gren löste das Problem, die Pflanzen zu verstauen, indem er mehrere mit jeweils einer Rebe zu Bündeln verschnürte. Zwar hatten sie nichts, das ihnen als Tasche hatte dienen können, aber sie banden die Rebenbündel mit ledernen Riemen am Sattel fest. Während sie mit den Pflanzen beschäftigt waren, benahm sich der Junge recht sonderbar. Terena erkundigte sich, ob etwas nicht in Ordnung sei, und er erwiderte: »Diese Gegend hier... ich fühle mich beobachtet. Irgend etwas
ist...« Wie auf ein Stichwort hin erscholl hinter ihnen ein abscheuliches Lachen; sie drehte sich blitzschnell um, sah aber nichts, was dieses Geräusch verursacht haben könnte. Aber den Klang hatte sie erkannt, denn das widerwärtige Lachen hatte sie mehr als einmal während ihrer Kindheit vernommen. Beothach. Aber wo steckte er? Es hatte sich angehört, als stünde er direkt hinter ihr, aber dort war nichts und niemand. Gren schien eine unsichtbare Gefahr zu spüren, zog seinen Dolch und trat neben sie, wobei er sich mißtrauisch umsah. Plötzlich - nur wenige Schritte von ihnen entfernt - erzitterte die Luft wie unter einem Trugbild. Ein Hauch heißer Luft traf sie, und das Bildnis nahm Gestalt an: Sie erblickte ihren Bruder, Prinz Beothach von Ruadach, auf einem Rapphengst sitzend. Der Prinz hatte das glatte, schwarze Haar wachsen lassen, es fiel über die schwarze Lederrüstung. Er trug einen prächtigen schwarzen Augenschutz: ein schwarzer Reichsapfel, der von einer silbernen Kette gehalten wurde. Eine dichte Aura aus Schmerz und Leid umgab ihn, gewaltsam aufgestauter Terror, den er anscheinend auf sie loslassen
wollte. Dunkles Mana hatte das bewirkt, gesammelt und aufbewahrt in den verschiedenen Talismanen und Amuletten, die er um den Hals trug. Ein in Silber gefaßter Kristall enthielt anscheinend besonders viel des verbotenen Mana. Mit einer schwarz behandschuhten Hand griff er danach und streichelte den Kristall liebevoll mit einem Finger. Manaschwaden waberten heraus, fast wie Nebel von der Oberfläche eines kalten Sees, und betätigten ihre Vermutungen. Macha hatte recht, dachte sie trübselig, er hat sich der schwarzen Magie zugewandt. Die Erkenntnis machte sie wütend. Wenn er das wußte, warum hat er mich dann nicht in das Geheimnis der Schutzkräfte eingeweiht? Terena zog ihr Schwert, aber kaum hielt sie es in der Hand, erschienen vier weitere berittene Krieger in einem Halbkreis um sie herum. Gren wirkte völlig verblüfft, und jeglicher Kampfgeist schien ihn verlassen zu haben. Die Hand, mit der er den Dolch umklammerte, fiel herab. »Diese muntere Hatz, auf die du uns geführt hast, war recht interessant«, sagte Beothach von oben herab und faltete die Hände lässig über den Zügeln. »Und welch ein Glück für mich, daß ich mich darauf eingelassen habe. Was für eine seltsame Rebe erntest du da, Schwester? Vielleicht Taradomnu?«
Terena antwortete nicht und bedachte fieberhaft die Möglichkeit einer Flucht, um mitsamt ihren wertvollen Pflanzen dieser Situation zu entkommen. Nicht einmal Gren mit seinem nutzlosen kleinen Dolch könnte etwas gegen die Schwerter ausrichten. Sie spähte nach links und erblickte direkt hinter dem Ufer des Flusses eine Felsgruppe, die von Beothachs Pferden kaum zu erklimmen wäre. Aber es sah nicht so aus, als würde es ihnen gelingen, diese Felsen zu erreichen, ohne von den Pferden eingeholt zu werden, und sie hatte nicht die Absicht, mit einem Schwert im Rücken zu sterben. »Das solltest du doch eigentlich wissen«, erwiderte sie schäumend vor Wut und prüfte gleichzeitig die Festigkeit des Bodens, indem sie mit dem Fuß aufstampfte. »Hast du wirklich geglaubt, du könntest unseren Vater töten und dann erwarten, die Krone zu erben?« »Kleine Schwester, genau das tue ich, und genau das werde ich auch«, antwortete er. »Und es sieht nicht so aus, als könntest du mich daran hindern.« Mit zusammengekniffenen Augen musterte er Grenfher. »Wer ist der junge Bettler? Ist das nicht die kleine Hure aus Summertown, die wir an die Ork-Händler verkauft haben?« Gren antwortete nicht. Seine Blicke wanderten ebenfalls zum Flußufer, und anscheinend erwog
er - genau wie Terena - die Möglichkeiten einer Flucht. Und es sieht so aus, dachte Terena verzweifelt, als wäre das unsere einzige Chance. Die anderen Krieger bewegten sich unruhig, schienen aber nicht angriffsbereit zu sein; allem Anschein nach warten sie auf den Befehl des Prinzen. Terena nahm sich vor, einen Angriff mit ihrer derzeit einzig nützlichen Waffe zu verzögern: mit ihrer Zunge. »Also ist es wahr, daß du mit dunkler Magie arbeitest. Dadurch bist du unsichtbar geworden.« »Das ist nur eine Frage der Anschauung«, sagte Beothach, und es sah einen Augenblick lang so aus, als müßte er gähnen. »Es hilft mir, das zu bekommen, was mir von Rechts wegen zusteht. Sag an, wie geht es unserem Vater? Lebt er noch?« »O ja«, antwortete Terena. »Das Taradomnu, das Macha noch vorrätig hatte, hat ihm sofort geholfen«, fuhr sie fort und überlegte, welche Nachrichten er haben mochte, die vielleicht ihrer Aussage widersprachen. »Er hat mich ausgeschickt, um den Vorrat zu erneuern - für den Fall, daß noch ein Verräter ihn vergiften will.« Beothachs Gesicht verdüsterte sich, und die Spannungen zwischen ihr, Beothach und seinen Leuten wurde greifbar.
»Wie kannst du es wagen, so mit deinem zukünftigen König zu sprechen?« fauchte er. »Und wie ein Narr verrätst du dich durch deine eigene Zunge«, erwiderte sie schlagfertig. Während sie sprachen, bemerkte Terena eine Veränderung in ihrer unmittelbaren Umgebung. Es schien mit Mana zusammenzuhängen, aber nicht mit dem Mana, das ihr Bruder einsetzte. Sie ahnte die wachsenden Kräfte mehr, als daß sie sie spürte. Aber ich bin doch keine Magierin, dachte sie und ließ ihren Bruder nicht aus den Augen. Ich bin nicht mal eine Schülerin der Magie. Es sei denn... Zu ihren Füßen lag ein Taradomnu-Bündel, durch eine Rebe zusammengehalten, das einen starken würzigen Geruch ausströmte, der sie an die großen Festgelage erinnerte, die vierteljährlich im Palast veranstaltet wurden. Fünf dieser Bündel lagen auf dem Boden verstreut, mehr oder weniger in gleichen Abständen, und bildeten einen Kreis. Zeit schien bedeutungslos zu werden; Beothach sprach, aber seine Worte drangen nicht zu ihr durch, und wenn er sich bewegte, geschah es mit solcher Langsamkeit, daß sie annahm, er stünde unter dem Einfluß einer Droge. Um sie herum verströmten die TaradomnuBündel außer dem starken Geruch auch noch ein Licht. Anfangs war es nur gedämpft, steigerte sich dann aber, bis es schließlich aussah, als
stünden die Bündel in Flammen. Sie zog Gren zu sich heran, als ihr bewußt wurde, was geschah. »Tritt in den Kreis«, sagte sie, denn ein Schutzkreis bildete sich in der Tat, obwohl sie nicht wußte, welche Macht ihn schuf. Anscheinend ohne etwas zu begreifen, tat Gren dennoch, was sie sagte. Machas Worte kamen ihr wieder in den Sinn mit solcher Eindringlichkeit daß es beinahe war, als stünde er neben ihr: Ihr werdet das Zeichen des schützenden Manas erkennen, wenn Ihr wirklich dafür bereit seid. Vor ihr bildete sich eine Kugel aus weißem Licht, in der sich ein Pentagramm befand, das von einem langen, hakenförmigen Symbol durchstoßen wurde. Dann verblaßte das Pentagramm, und nur der Haken blieb zurück, der einer sprossenden Pflanze ähnelte, die sich dem Sonnenlicht entgegenstreckte. Dann werdet Ihr einen Schild haben, hatte Macha gesagt. Das ist der einzige Schutz, den Ihr benötigt. Sie tat, wie ihr geheißen, handelte ihrem Instinkt folgend. Das Mana war formbar, wie Ton, hatte aber dennoch einen eigenen Willen. Es schien sie zu unterstützen, indem es eine dünne Nebelwand um sie und Gren errichtete und diese herumwirbelte, bis die Form eines Eies
zu sehen war. Als der Schild fertig war, wurden Zeit und Raum innerhalb des Schutzes wieder eins mit der Außenwelt. Beothach sah besorgt drein. »Nun«, meinte der Prinz und legte eine Hand auf sein Schwert, die andere auf den Kristall, »Macha hat dir mehr beigebracht, als ich dachte.« Der Nebel wirbelte noch immer um sie herum, behielt seine Form bei und auch - wie sie vermutete - seine Kraft. Gren kam näher und legte den Arm um sie, aber diese Geste schien ihn mehr zu beruhigen als sie selbst, denn seltsamerweise fühlte sie sich nicht länger durch ihren Bruder bedroht. Ihre neue Selbstsicherheit schien ihn zu stören. Vor Wut lief sein Gesicht dunkelrot an. Sie blickte zu den anderen hinüber und bemerkte zu ihrer Freude, daß sie etliche Schritte zurückgewichen waren. »Ihr Feiglinge!« stieß Beothach mit Blick auf seine Untergebenen hervor. »Sie ist keine Magierin, ihr Narren! Ich bin der Zauberer dieses Landes, und bald bin ich auch der König! Wagt ihr es, daran zu zweifeln?« Sie antworteten nicht, und für Terena war das gleichbedeutend mit Zweifel. Während seines Ausbruchs hatte sie wachsende Kräfte innerhalb
seines eigenen Schutzschildes verspürt und erkannte nun, daß sich ein neuer Stoß von Energie bildete. Gren verhielt sich weiterhin ruhig - Terena hielt das für ausgesprochen klug. All ihre Konzentration war notwendig, um mit ihrem Bruder fertigzuwerden. Als Beothachs Macht auf sie niederpeitschte, war sie überrascht, obwohl sie den Angriff erwartet hatte. Bisher hatte sie immer nur von dieser Art, Magie einzusetzen, gehört, es aber nie erlebt; ganz bestimmt war ihr Bruder von einem Magier unterrichtet worden, vielleicht sogar von einem Weltenwanderer. Als der Schlag sie traf, war er wie eine Wand der Dunkelheit, die den Geruch des Todes brachte. Er hält sich nicht zurück, dachte sie und war seltsamerweise nicht beunruhigt. Sie wußte, daß der Schutz, der sie und Gren umgab, stark genug war. Der Angriff prallte auf das Schild, verschluckte für einen Augenblick alle Helligkeit. Gren umklammerte sie noch fester, wimmerte ein wenig, dann war die Finsternis vorbei. Auch der schützende Nebel löste sich auf, aber Terena sorgte sich nicht Instinktiv wußte sie, daß er nicht länger notwendig war. Als das Licht zurückkehrte, zog Terena ihr Schwert und hielt sich für einen Angriff bereit Beim Anblick, der sich ihr bot, hielt sie vor Staunen den Atem an.
Beothach lag auf dem Boden, das Gesicht gen Himmel gerichtet. Sein Pferd stand in einiger Entfernung und knabberte an ein paar Kräutern. Auch die anderen Krieger lagen auf der Erde, die Pferde waren nirgendwo zu sehen. Sie näherte sich ihrem Bruder und stieß ihn mit dem Schwert an. Als nichts geschah, zog sie den Dolch und beugte sich über ihn; mit der anderen Hand berührte sie seinen Nacken. Sie fühlte die kälter werdende Haut und wich zurück. Mein Bruder ist auf jeden Fall tot, dachte sie. Und er starb durch seine eigene Hand. Das einzige Begräbnis, das sie ihrem Bruder und seinen gefallenen Leuten bereiten konnte, bestand aus einem einfachen Steinhügel. Nach Grenfhers Meinung war das mehr, als sie verdienten, und Terena war geneigt, ihm zuzustimmen. Aber Beothach war immerhin ein Mitglied der königlichen Familie, und obwohl er seine Sippe verraten hatte, verdiente er wenigstens ein Armengrab. Der Gedanke, daß sie ihren Bruder begruben, ließ sie kalt. Sie gedachte seiner als der Person, die er geworden war, und nicht als jener, die er einst in seiner Jugend gewesen war. Sie löste einen goldenen Ring mit dem Wappen der Familie von seinem Finger - als Beweis für seinen Tod.
8 Die Nacht brachte einen starken, kalten Regen mit sich. Im nassen Dämmerlicht holten Terena und Grenfher Beothachs Pferd und das von Grenfher erbeutete Tier herbei. Alle anderen waren verschwunden; waren wahrscheinlich voller Angst geflüchtet, als Beothachs Dunkelheit von ihrem Schild abgeprallt war. Terena war froh, daß sie nicht auch den Tod gefunden hatten. Sie führten die Pferde bergan zu einer Felsformation, unter der sie eine Höhle fanden, die durch einen herabgestürzten Felsen entstanden war. Gren durchsuchte die Höhle gründlich, um sicherzugehen, daß sie nicht bereits bewohnt war. Nachdem er zufrieden festgestellt hatte, daß sie leer war, erklärte er sie zu einem sicheren Platz für die Nacht. Sie banden die Pferde auf einer Lichtung unterhalb der Felsen an und förderten aus einer von Beothachs Satteltaschen eine Decke, einen Weinkrug und ein Stück Trockenfleisch zu Tage. Die fünf Taradomnu-Bündel nahmen sie vorsichtshalber mit sich. Die Höhle wurde von dem noch anhaltenden Licht der Dämmerung schwach erhellt, als sie Schutz vor dem Regen suchten. Sobald sie die Decke ausgebreitet hatte, ließ sich Terena darauf
nieder; ihr Körper erlaubte sich endlich die notwendige Entspannung. Grenfher säbelte ein großes Stück Trockenfleisch ab und warf es ihr zu. Dann vertilgte er sein eigenes, kleines Stück. »Ich werde aufbleiben und wachen«, bot Grenfher an. »Diese anderen, die deine Begleiter mit Pfeilen beschossen haben, sind noch immer irgendwo da draußen.« »Wenn du unbedingt willst«, antwortete sie, obwohl sie diese Leute nicht mehr als Bedrohung ansah. Sie vermutete, daß die Nachricht von Beothachs Tod den Kampfgeist seiner Untergebenen schmälern würde. Der Wein schmeckte stark und sauer, und sie erinnerte sich, daß Beothach ihn so gemocht hatte. Dabei erlaubte sie sich, flüchtig an ihren Bruder zu denken. Wann hatte er sich geändert? fragte sie sich und nahm noch einen Schluck aus dem Krug. Was war über ihn gekommen, daß er so haßerfüllt war, obwohl ihm das Königreich eigentlich sicher war? Wahrscheinlich würde sie nie die Antwort darauf erfahren und mußte sich mit der Gewißheit begnügen, daß sie ihn daran gehindert hatte, König zu werden. Nur die Götter wissen, welche Schrecken unter seiner Herrschaft über uns gekommen wären... Wenn sie schnell reiten und keinen weiteren Ärger haben würden, war anzunehmen, daß sie
mit zwei Pferden Scoria in einem Tag oder noch weniger erreichen würden. Sie hatte sogar erwogen, die Reise bei Nacht zu wagen, während des strömenden Regens, aber da kein Mond am Himmel stand, würden sie kaum vorankommen. Wenn sie sich jetzt ausruhten und bei Tagesanbruch aufbrachen, blieb nach ihrer Schätzung genügend Zeit, daß Macha das Gegengift anwenden konnte. Sie reichte Gren den Krug. Seine Hand schloß sich sanft über der ihren, verhielt dort einen Augenblick, bevor er den Wein nahm. Ihre Augen trafen sich, und Terena erkannte diesen Blick. Die Jungen sehen alle gleich aus, wenn ihre Säfte steigen. Wie hungrige Welpen, dachte sie, ärgerte sich jedoch nicht wie sonst darüber. Gren lächelte ein wenig und schien ihre Unsicherheit zu spüren. Er legte sich neben sie auf die Decke, sein schmaler, nasser Körper verströmte trotz der natürlichen Dusche, die sie beide gerade draußen erhalten hatten, den starken menschlichen Geruch. Wortlos packte sie seinen Arm und zog ihn an sich. Als er mit wachsender Leidenschaft ihren Nacken und die Schultern küßte, bohrte sich etwas, das sicherlich nicht sein Knie war, in ihr Bein. Kurz bevor die Hitze ihrer Körper schier die Luft zu entzünden drohte, schrie die Vernunft in
ihr auf. Warum tust du dies mit einem widerwärtigen Menschen? Bist du verrückt? Aber irgendwie, soweit fort von daheim, während eines Wolkenbruchs, in einer Höhle, und nach langer Zeit ohne männliche Gesellschaft, erschien es ihr keineswegs widerwärtig. 9 Ihr Götter, dachte sie und lächelte über das ganze Gesicht. Was habe ich getan? Grenfher ritt ein paar Schritte hinter ihr und sang aus voller Kehle den schmutzigsten Gassenhauer, den sie je gehört hatte. Es machte ihr nichts aus, sie fand das Lied nicht so schlimm wie sie es noch vor einigen Tagen getan hätte, und sie sorgte sich auch nicht wegen eines Angriffs. Nichts berührte sie mehr, nur das Taradomnu mußte ihren Vater rechtzeitig erreichen. Bei Tagesanbruch klärte sich das Wetter auf, und sie befanden sich auf dem Weg nach Scoria, bevor die Sonne aufging. Als die Stadtmauern in Sicht kamen, erfüllten dunkle Gedanken ihren Kopf, und sie erwog verschiedene Wege, wie sie Macha mitteilen könnte, daß sie mit einem menschlichen Jungen zusammengelegen hatte. Als sie jedoch das Tor erreichten, wußte sie,
daß etwas Schreckliches in der Hauptstadt geschehen war. Aus jedem Fenster hingen schwarze Flaggen. Alle Läden waren geschlossen, und die wenigen Elfen, die sie erblickte, trugen den schwarzen Trauerumhang und konnten daher nicht sprechen. Vater, dachte sie voller Panik. Sie trieb ihr Pferd voran und ritt so schnell sie konnte davon. Grenfher blieb weit zurück. Vor dem Palast bestätigten sich ihre Befürchtungen mehr oder weniger. Die schwarzen Trauerfahnen hingen am Tor und zeigten damit den Tod eines Mitgliedes der königlichen Familie an. Da außer dem König niemand sonst in Scoria geblieben war, mußte dies seinen Tod bedeuten. Oder etwa nicht? Was ist, wenn die Nachricht von Beothachs Tod den Palast noch vor mir erreicht hat? Sie hatte zwar keine Ahnung, wie das möglich sein konnte, aber es gab ihr Hoffnung. Terena fühlte sich besser, wenngleich nicht völlig erleichtert. Die Torwachen bedeuteten ihr anzuhalten, traten aber zu Seite, als sie keine Anstalten machte. »Es ist die Prinzessin«, murmelte einer von ihnen, als sie vorbeiritt. »Laßt sie durch.« Sie saß ab, ließ das Pferd grasen und rannte auf den Palast zu. Auch die Flure waren mit
schwarzen Flaggen behängt. Sie eilte zur großen Halle, wo um diese Zeit wahrscheinlich der Hof versammelt sein würde. Terena stürmte unter Mißachtung des Protokolls in den Raum, denn eigentlich hätte zuerst ihr Name ausgerufen werden müssen. So wie sie jetzt aussah, lehmbeschmutzt, naß und erschöpft von der Reise, fühlte sie sich auch nicht gerade königlich. Sie stand auf dem schneeweißen Teppich Schlamm und Schmutz tropften aus ihren Kleidern - und räusperte sich laut. Ein Dutzend Adlige saßen um den runden Tisch herum und schauten auf. »Bei den Göttern - Kind!« rief Macha, erhob sich und eilte zu ihr. »Seid gegrüßt, Heiler«, schniefte sie und bemerkte jetzt die vielen schwarzen Banner, die auch die Wände der Halle bedeckten. »Wessen Verlust beklagen wir heute?« Sie erkannte Baron Erko, der aufstand und sich zu ihnen gesellte. Er trug ebenfalls Reitkleidung, war aber keineswegs so schmutzig wie sie. Sein sanftmütiges Gesicht wurde von einem dünnen Bart eingerahmt, aber seine grünen Augen, in denen normalerweise leichte Belustigung lag, waren voller Trauer. Das Herz wurde ihr schwer. Er würde nur wegen ihres Vaters trauern.
»Terena«, sagte Erko leise und legte eine schmale Hand auf ihre Schulter, »Euer Vater wurde heute morgen umgebracht.« Sie starrte ihn für eine Weile, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, an. »Nein!« rief sie aus und fühlte, wie ihre Knie nachgaben. Macha fing sie auf, bevor sie zu Boden fiel, und einer der Adligen brachte schnell einen Stuhl herbei. »Gehen wir in die Privatgemächer des Königs«, sagte Macha. »Wir müssen dies in kleinem Kreis besprechen.« 10 Als Baron Erko die große zweiflügelige Tür schloß, brach in der großen Halle ein hektisches, rauhes Stimmengewirr aus. Terena stand am Erkerfenster, das den Garten überschaute. Hinter den beschnittenen Bäumen und Rosenbüschen erblickte man das Tor des Palastes. Vater liebte diesen Garten, dachte sie geistesabwesend. Deshalb hat er diese Fenster einsetzen lassen. »Prinzessin, Ihr müßt begreifen, in welchen Schwierigkeiten sich das Königreich derzeit befindet«, begann Baron Erko, der noch immer an der Tür stand und anscheinend möglichst viele Bruchstücke der Unterhaltung aufzufangen versuchte. »Die Nachricht, daß der Prinz getötet
wurde, erreichte den Palast. Niemand wußte, wer ihn tötete oder unter welchen Umständen. Einer von Baron Roechs Leuten entdeckte das Grab und ritt trotz des Wetters die ganze Nacht hindurch, um am Morgen hier zu sein.« Terena griff in ihren Beutel und wandte sich dem Baron zu. Sie bemühte sich, ihr Gesicht nicht zufrieden aussehen zu lassen, glaubte aber kaum, daß es ihr gelingen würde. Sie fand den Ring, den sie Beothach abgenommen hatte, und warf ihn mit lässiger Geste dem Baron zu, der ihn geschickt mit einer Hand auffing. Der Baron starrte den Ring eine Weile an, sah sich dann verwirrt nach einer Sitzgelegenheit um. Nachdem er sich auf einem Marmorstuhl niedergelassen hatte, blickte er die Prinzessin mit einem Ausdruck der Bewunderung an. »Ihr?« sagte Baron Erko grinsend. »Höchstpersönlich«, antwortete sie. »Aber nicht auf die Art, die Ihr vielleicht vermutet.« Ihre Fröhlichkeit hielt aber nicht an. »Wer tötete meinen Vater?« wollte Terena wissen. Macha trat zu ihr. Terena bemerkte erst jetzt, wie müde der Elf war, und nahm an, daß er die ganze Nacht nicht geschlafen hatte. »Nachdem Ihr fortgeritten seid, verdoppelten wir die Wachen vor der Schlafkammer Eures Vaters. Ich war sicher, daß ihm nichts Böses geschehen würde, vorausgesetzt Ihr kämt
rechtzeitig mit dem Taradomnu zurück.« Terena nickte und zog ein Rebenbündel aus dem Beutel. »Alles vergebens«, flüsterte sie. »Und?« »Semion, mein Gehilfe, erfuhr bei der Ankunft von Roechs Krieger von Beothachs Tod. Er... schloß sich in der Schlafkammer ein und schnitt Eurem Vater die Kehle durch.« Terena sah zur Seite, versuchte den Schmerz in ihrer Brust zu unterdrücken. »Er versuchte, durch das Fenster zu entkommen, und wollte dann die Schuld auf einen Wächter abwälzen. Durch das Blut an seinen Händen konnte er überführt werden. Vor nur einer Kerzenlänge wurde er hingerichtet.« Sie wandte sich von Macha ab, war unsicher, ob sie ihn hassen sollte weil er einen Verräter in die Nähe ihres Vaters gelassen hatte. »Es tut mir leid, Terena. Hätte ich geahnt, daß er Mitglied dieser Verschwörung war, hätte ich ihn schon längst in Ketten legen lassen.« Terena hörte nur mit halbem Ohr auf Machas Erklärungen, denn in einer Ecke des Gartens, direkt am Tor, gab es offenbar einen Tumult. Sie hörte Rufe und Schreie, die ihr bekannt vorkamen, konnte aber nicht genau sehen, was vor sich ging. Es sah so aus, als versuche jemand, in den Palast einzudringen, und die Wachen ließen ihn nicht durch. »Der König ist tot. Der Prinz ist tot. Aber ich,
ich lebe noch«, sagte sie, als ihr jetzt die ganze Tragweite der Ereignisse bewußte wurde. »Bin ich die neue Herrscherin?« Baron Erko seufzte. »Wenn es doch so einfach wäre, Terena. Beothach hat Söhne hinterlassen, die jetzt gerade die Nachricht vom Tode ihres Vaters erhalten. Die Edelleute da draußen«, er wies mit dem Daumen in die Richtung der großen Halle, »wollen unsere Gesetze befolgen. Sie würden Euch sehr gern als Königin sehen. Aber sie befürchten, daß die Situation in den anderen Baronien noch schlechter würde, wenn Ihr die geforderten Ansprüche nicht erfüllen könnt. Dann würde das Reich auseinanderbrechen.« »Baron Fergus? Baron Roech?« Sie runzelte die Stirn und versuchte sich zu erinnern, ob sie die beiden beim Eintritt in die große Halle gesehen hatte. »Sind sie nicht hier? Welche Situation meint Ihr?« »Nein, mein Kind, sie sind nicht hier. Sie sind beschäftigt... müssen sich mit Aufruhr in ihren Ländereien herumschlagen. Eine Gegenrevolution findet statt.« Die Rufe aus dem Garten wurden lauter, und ein schneller Blick offenbarte ihr, was sie wissen mußte. Grenfher kämpfte darum, an den Wachen vorbeizukommen, die zum Glück keine Waffen gezogen hatten. Sie schienen den Zwischenfall amüsant zu finden und bekräftigten das durch ihr
Gelächter, das durch das Erkerfenster hereindrang. Ich glaube es einfach nicht, dachte Terena und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Baron Erko zu. »Es ist kein Geheimnis, daß diese beiden Barone Beothach in seinem Plan bestärkten. Sie sicherten sich die Zustimmung ihres Hofstaats mit dem Versprechen von mehr Macht und Land. Sie hatten geplant, meine Besitztümer unter sich aufzuteilen. Wenn der König aus dem Weg war, hätte nichts sie aufhalten können.« »Und jetzt, da Beothach nicht mehr ist...« »Nun, da er nicht mehr ist«, rühr Macha fort, »ist der Plan zunichte gemacht. Ich nehme an, daß die Edelleute, die Roech und Fergus unterstützen, sich ein wenig verraten fühlen. Es würde mich nicht wundern, wenn einer von ihnen oder gar beide schon jetzt am Ende eines langen Seils baumeln würden.« Terena spähte wieder nach draußen, um Grenfhers Fortschritte zu beobachten. Man hatte ihm die Arme auf den Rücken gedreht und schleppte ihn zurück zum Tor. Irgendwann während des Handgemenges hatte er seinen Lendenschurz verloren und war nun bis auf seine Stiefel nackt. Terena kicherte. »Kind, was fesselt Euch da draußen sosehr?« fragte Baron Erko. Macha und er traten zu ihr
ans Fenster. »Was für ein kleiner Barbar!« rief Macha aus. »Und noch dazu ein widerwärtig nackter Mensch!« »Wie, bei den Göttern, ist er bloß in die Stadt gekommen?« fragte Baron Erko und schien gegen seinen Willen gebannt von dem Anblick dort unten im Garten. »Terena, ICH LIEBE DICH!!« brüllte Gren so laut und deutlich, daß man seine Worte nicht mißverstehen konnte. »Er ist mit mir hereingekommen«, sagte Terena schlicht. »Er rettete mir das Leben und half mir, Taradomnu zu sammeln.« Baron Erko war sichtlich entsetzt. »Der Menschenjunge? Was soll das heißen, er ›liebt‹ Euch?« »Das ist doch sehr passend, meint Ihr nicht?« gab Terena zurück. »Er ist ein Überlebender aus Summertown. Und er half mir, Beothach zu besiegen.« »TERENA!« schrie Gren. »BITTE!« Sie wandte sich an Baron Erko und erwiderte seinen Blick mit dem grimmigsten Gesichtsausdruck, den sie bewerkstelligen konnte. »Ich verdanke ihm mein Leben.« »Ich verstehe. Nun«, sagte Baron Erko erbleichend, »nun, ich denke, ich sollte vielleicht nach unten gehen und dafür sorgen, daß... man
ihn einläßt.« »Und gebt ihm ordentliche Kleidung«, meinte Macha. »Es schickt sich nicht, daß er so im Palast herumläuft.« Baron Erko stöhnte auf, verließ den Raum und schloß hinter sich energisch die Tür. »Welch ein Durcheinander uns dieser Tag beschert hat«, sagte Macha ermattet. »Aber ich bin froh, daß nicht ganz Summertown ermordet wurde. Ja, wir verdanken ihm wirklich etwas.« Baron Erkos Worte nagten noch immer an Terena. »Beothachs ältester Sohn wird der neue König sein?« »Dem Gesetz nach schon«, erwiderte Macha. »Seht einmal, obwohl ihr die nächste in der Thronfolge seid, müßt Ihr einen Erben empfangen haben, um die Krone beanspruchen zu können. So lautet das Gesetz. Und zu diesem Zeitpunkt ist eine strikte Befolgung der Gesetze das einzige, was das Königreich zusammenhält.« Als Macha das Wort empfangen aussprach, fühlte Terena ein Zucken im Unterleib. »Macha«, sagte sie mit leuchtenden Augen, »was ist, wenn ich schwanger wäre?« Der Heiler starrte sie an. »Was?« »Nehmt es nur einmal an«, sagte sie. »Wie könntet Ihr das feststellen?« »Junge Dame, Ihr glaubt doch nicht etwa, daß Ihr schwanger seid, nicht wahr?« Der Gedanke
erschien ihm völlig abwegig. In diesem Augenblick hörte sie auf, das kleine Elfenmädchen zu sein, das er gekannt hatte, und wurde zu einer jungen Frau. »Ich könnte es jetzt sofort feststellen«, sagte Macha zögernd. »Soll ich?« »Selbstverständlich«, erwiderte sie. Macha beugte sich vor, legte eine Hand auf ihren Bauch und schloß die Augen. Sie fühlte zuerst ein Prickeln auf der Haut, dann tiefer drinnen, es lief durch den Bauch und endete irgendwo in der Mitte des Beckens. Dies war der Gedankengriff, für den Macha berühmt war und mit dem er Krankheiten unter der Haut feststellen konnte, ohne sie aufschneiden zu müssen. Mit dieser Methode konnte er auch Ungeborene sehen, obwohl dieses Talent bisher wenig Verwendung gefunden hatte. Bis zu jenem Tag. Als er sich wieder aufrichtete, strahlten seine Augen. »Junge Dame«, sagte er und schien nach Atem ringen zu müssen, »Ihr seid schwanger! Wann fand dieses märchenhafte Ereignis statt?« »Letzte Nacht«, antwortete sie. Macha nickte, zufrieden mit der Antwort. »Als der König noch lebte. Das würde in der Tat den Ansprüchen des Gesetzes genügen. Sagt mir, wer ist der Vater?« Terena sah zum Fenster hinaus nach unten, wo
Grenfher jetzt, nachdem Baron Erko auf dem Schauplatz des Geschehens angekommen war, etwas besser behandelt wurde. »Der junge Menschenmann dort unten.« Nach einer langen, geradezu schwangeren Pause stieß Macha Mac Aonghus, Heiler und Oberster Magus der Tuatha von Ruadach, ein lautes Zischen aus und wich entsetzt vom Fenster zurück. »Es gibt kein Gesetz in unserem Reich, das die Rasse des Vaters eines Erben bestimmt, oder?« fragte Terena, obwohl sie die Antwort kannte. »Äh, nein...«, antwortete Macha mit schwacher Stimme und sein Gesicht nahm eine beängstigend blasse Färbung an. »Oder müssen wir vermählt sein?« »Vorzugsweise ja«, antworte er, und seine Stimme wurde zu einem bloßen Flüstern. »Aber es ist dem Gesetz nach nicht unbedingt notwendig. Nein.« »Dann sieht es so aus«, sagte Terena und fühlte sich ein wenig schwindelig, »daß ich nun die neue Herrscherin des Elfenreiches von Ruadach bin.« »Ja. In der Tat...«, sagte Macha und sank ohnmächtig auf den Boden der Schlafkammer. BEN OHLANDER
Rauch und Spiegel Die Majorin Grinstable trat aus ihrem triefenden Kommandozelt in den kalten Nieselregen. Ihre Stiefel quatschten durch den klebrigen, knöcheltiefen Schlamm. Schniefend fuhr sie mit der Nase über den feuchten Ärmel und blickte zum Himmel, wie sie es auch in den vergangenen vier Tagen gemacht hatte. Die graue Eintönigkeit wurde nicht einmal durch einen Hauch von Blau unterbrochen. Sie zog den Kragen hoch und versuchte vergeblich, die winzigen Tröpfchen abzuschütteln, die einen Weg unter den öligen Umhang gefunden hatten und nun in ihre wollene Reithose rannen. Von der Krempe des weichen Hutes liefen ebenfalls Tropfen wie eisige Finger über ihren Nacken. Unter diesen Attacken brach ihre soldatische Moral zusammen, und sie wandte sich wieder zum Zelt, wollte auf schnellstem Wege in das verhältnismäßig komfortable Innere entfliehen. Im gleichen Augenblick hörte sie das krachende Bang eines Katapults, dessen Wurfarm einen Stein gen Himmel schleuderte. Als die Mannschaft des Geschützes die starre, rostige Winde zu drehen begann, kniff sie die Augen fest zusammen, um dem schrillen Kreischen zu entkommen. Unter Grunzen und Stöhnen wurde der Wurfarm für einen neuen
Schuß zu Boden gezogen, während der am anderen Ende befestigte, mit Steinen gefüllte Sack mit dumpfem Glucksen aus dem Schlamm gehoben wurde. Sie zog die Plane am Zelteingang auseinander. Der feuchte, muffige Geruch aus dem Inneren drang ihr in die Nase, die wunderbarerweise noch ziemlich frei war. Einen Augenblick lang blieb sie stehen und fühlte sich schuldig bei dem Gedanken, daß sie Schutz suchte, während ihre Truppen sich bei diesem widerwärtigen Wetter draußen abrackerten. Die althergebrachte Redewendung: ›Rang gewährt Vorrechte‹ stellte sich gegen ihr Gewissen. Ihr Schuldgefühl trug einen knappen Sieg davon. Sie wandte sich vom Zelt ab, gerade als das Katapult erneut abgefeuert wurde. Sie beobachtete, wie das Gerät auf der hölzernen Plattform hin und her schwankte, als die schweren Balken den Rückstoß des Wurfarms auffingen. Die Oberfläche des Sockels bog sich nach außen, und in dem Holzboden klafften Risse auseinander. Ein Faß kippte um, gefolgt von einem kleinen Haufen Munitionssteine. Die Majorin Grinstable schüttelte den Kopf, als die Mannschaft aufsprang, um den Schaden zu beheben. Sie bemerkte, daß sich der durch die Luft schnellende Arm unter dem Gewicht verzogen hatte und dadurch seine mechanischen
Vorteile einbüßte. Einen Augenblick später hörte sie auch schon das flüchtige Klack, als der Stein eine Stelle des mit Schildkrötenpanzern bewehrten Bergfrieds traf, anscheinend irgendwo an den äußeren Zinnen. Grinstable schüttelte enttäuscht den Kopf. Das Katapult erwies sich als einziges der für die Belagerung mitgebrachten Geräte als völlig nutzlos. Die Tiersehnen, die üblicherweise benützt wurden, um die Wurfarme zu bedienen, konnten der Drehbeanspruchung während des Regens nicht standhalten, ganz egal wie oft man sie auch mit Wachs beträufelte. Sie sogen die Feuchtigkeit auf und dehnten sich innerhalb weniger Minuten bis zur völligen Nutzlosigkeit aus. Außerdem rosteten die Sperrklinken allnächtlich ein, sogar wenn sie täglich über und über mit Pferdefett beschmiert wurden. Man mußte sie mit Meißeln freistemmen und beschädigte dabei die gewundenen Federn und Zahnräder. Die trockenen und gut abgelagerten Balken, die man geholt hatte, um eine Plattform für das Katapult zu errichten, hatten sich bereits am ersten Tag voll Wasser gesogen und waren aufgequollen. Dadurch wiederum war der Rahmen an mehreren Stellen geborsten. In den nahegelegenen Wäldern hatten ihre Leute neues Holz als Ersatz geschnitten, das jedoch noch grün und nachgiebig war. Die neuen Balken
verzogen und bogen sich, beeinträchtigten die Treffsicherheit und verminderten das Wurfgewicht. Den Mannschaften war es gelungen, fast die Hälfte der Belagerungswaffen durch das Verlängern der Wurfarme und die Befestigung von mit Steinen gefüllten Säcken am entgegengesetzten Ende gebrauchsfähig zu halten. Reichweite und Ladung waren dadurch zwar auf die Hälfte gekürzt worden, aber wenigstens wurden den Verteidigern Steine entgegengeschleudert. Wieder prallte ein Stein gegen den Bergfried. Klack. Das war nicht das Geräusch eines erfolgreichen Krieges. Der einzige Lichtblick in dieser recht düsteren Lage bestand darin, daß der Kern der Burgverteidigung aus Bogenschützen bestand, deren Sehnen bei diesem Regen nicht besser dran waren als die Katapulte. Über Pfeile brauchte man sich keine Gedanken zu machen, bis der Regen nachlassen würde. Wenn er nachlassen würde. Falls überhaupt. Sie blickte vom Katapult zur Reihe der Belagerer, und ihre wassergetränkte Stimmung sank um weitere Grade. Keine der Belagerungswaffen schien mehr zu funktionieren. Die Schaufel, normalerweise dem Soldaten näher als das Schwert, erwies sich eher als Fluch denn als Segen. Die Truppen hatten
sich darangemacht, Verteidigungsgräben auszuheben, Feuerhügel zu errichten und die kleine Festung einzukreisen. Der Regen weichte die Erde und die darunterliegende Lehmschicht auf, verwandelte den Talboden in eine abwechselnd puddingweiche oder entsetzlich klebrige Fläche. Die Wände der Schützengräben mußten verstärkt werden, um benutzt werden zu können: Also wanderten weitere Soldaten in die Wälder, um Holz zu schneiden und zu hacken. Vier Tage schwerer, kräftezehrender Arbeit waren erforderlich, um einen Tag Belagerung durchzuhalten. Die Weidenkörbe, die bei den Erdarbeiten und dem Palisadenbau hilfreich sein sollten, hatten sich ebenfalls als nutzlos erwiesen. Wasser sammelte sich darin, weichte das Geflecht auf, zermürbte es, bis die Körbe auseinanderfielen. Stellenweise lief der Schlamm einfach durch das lose Geflecht. Hacken waren sinnlos in einem Boden, der seine große Anhänglichkeit dadurch bewies, daß er sich Mühe gab, an den Hufen der Pferde und den Stiefeln der Soldaten kleben zu bleiben. Zeitweise beanspruchte er sogar das Besitzrecht an der umkämpften Fußbekleidung. Hundert winzige Kämpfe konnten entbrennen, wenn man einfach nur vom Zelt zur Latrine hinüberging. Der unverzichtbare Tunnel, der eigentlich die
Mauer unterhöhlen und zum Einsturz bringen sollte, war nur knapp den vierten Teil einer Achtelmeile vorangetrieben worden, bevor er zusammensackte. Der Einsturz hatte glücklicherweise keine Todesopfer gefordert. Die eingeschlossenen Truppen mußten sich nur an die Oberfläche wühlen, um gerettet zu werden. Sie seufzte. Eigentlich hätte sie erahnen können, daß ihre Flanke des ›Großen Vorstoßes‹ zusammenbrechen würde. Normalerweise hätte ihr Regiment längst den Bergfried mit fröhlichen Geschützfeuer angreifen müssen. Laut Belagerungsplan sollten die Mannschaften heute auf den Weidenkörben hocken und zusehen, wie die Mauern der Burg einstürzten. Die Angreifer hätten sich nun mit geschärften Schwertern auf einen halben Tag leichter Arbeit einrichten können, anstatt herumzuhocken und in den triefenden Nasen zu bohren. Sie schaute über die trostlose, klebrige Fläche. Für die Belagerung hatte die Majorin Grinstable drei Tage angesetzt, für das Feuergefecht zwei weitere. Ihre Offiziere hatten zugestimmt, daß sie damit genügend Zeit eingeplant hatte, damit man ausreichend viele Öffnungen schlagen konnte, um die Infanterie ins Innere der Festung strömen zu lassen. Sie hatte auf Nummer Sicher gehen wollen und ein paar Tage zugegeben, falls
irgendwelche Rückschläge eintreten würden. Ihre Hoheit, Baronin Amberley, hatte sich bereits scharf über jene geringe Verzögerung geäußert. Beim Gedanken an die Baronin überlief sie ein Schauer. Sie dachte an Amberley, angetan mit Gold und Pelzen, wie sie lächelnd demjenigen Kommandeur ein Lehen versprach, der als erster die Verteidigungslinien des abscheulichen Isely durchbrechen würde. Grinstable war beim Gedanken an die Größe der Belohnung das Wasser im Mund zusammengelaufen und sie war so sicher gewesen, daß sie ihr wie eine reife Pflaume in den Schoß fallen würde, daß ihr um ein Haar der nächste Punkt entgangen wäre. Baronin Amberleys Lächeln hatte sich verändert, war grausam geworden, als sie schilderte, was diejenigen erwartete, die versagen würden. Die Schädel des letzten Haufens standen noch zum Trocknen auf dem Kaminsims der Baronin. Grinstable hatte zwar etwas Unvorhersehbares einkalkuliert, jedoch nicht die widrige Witterung - eine Tatsache, die Amberley sowohl erkennen als auch als unwichtig abtun würde. Es war Grinstable völlig klar, daß sie auf das Ende des Regens warten mußte, dann auf das Trocknen des Bodens, damit die Truppen nicht im Schlamm untergingen. Erst danach konnte sie die Mauern einreißen lassen und vielleicht die Belohnung erwarten. Bis dahin...
Eine plötzliche Bö unterbrach ihren Gedankengang, ein übler Schwall kalter Luft trieb den Regen hoch, unter ihren Hut. Sie nieste. Ihr blieben noch drei Tage, um eine gestürmte Festung und einen verhältnismäßig großen Vorsprung vorzuweisen, ansonsten würde sie sich als Ehrengast bei einem der OpferFestmahle der Baronin wiederfinden. Nicht gerade ein erstrebenswertes Schicksal. Sie verfluchte die Burg, schüttelte die Faust und stieß wilde Flüche aus. Der Turm wirkte beinahe verhöhnend wehrhaft. Ironischerweise bestand die Festung, die das Tal verschloß wie ein Kork eine Flasche, aus einer schlecht befestigten Mauer, die eine moosbedeckte Hütte mit durchhängendem Dach umgab. Dort hausten nicht einmal ausreichend Leute für ein Hochzeitsbankett geschweige denn für eine ordentliche Verteidigung. Aber bis jetzt war das auch gar nicht notwendig gewesen. Sie schlug sich mit der Faust auf den rostigen Oberschenkel. Es war einfach ungerecht. Ein lautes Krachen zog ihren Blick nach rechts. Vor dem Graben herrschte Aufregung, und entsetzte Rufe drangen zu ihr herüber. »Holt die Majorin Grinstable!« tönte es bis zu ihr. Sie seufzte und wandte sich dem Unruheherd zu. Vorsichtig bemühte sie sich, die schlimmsten
Pfützen zu umgehen, und kam an einer trostlos wirkenden Gruppe Soldaten vorbei, die gerade nasse Pferde mit nassem Heu fütterten. Als sie um eine Anhöhe bog, die aus aufgetürmtem Tunnelschlamm bestand, sah sie lehmbedeckte Pioniere aus einem feuchten Loch kriechen wie Ratten aus einem Kanal. Pionier Krebbel kam als letzter ans Tageslicht, von Kopf bis Fuß mit braunem Matsch bedeckt, in der Hand die Spitzhacke und eine Laterne. Er ließ sich im Graben nieder und pulte sich Lehm aus den Ohren. Grinstable befürchtete das Schlimmste und ging auf ihn zu. »Wie lange noch?« fragte sie fordernd. Krebbel pulte jetzt den Schlamm aus seinem kurzen, zottigen Bart. »Nun, so langsam geht's voran«, erwiderte er. »Wir haben das Wasser mit einer Pumpe rausgeholt und kippen Sand auf den Boden, um einen festeren Untergrund zu haben. Sah aus, als würde es klappen. Wir müssen's nur noch trockener kriegen.« »Wie lange noch?« wiederholte sie mit versiegender Geduld, als ihr ein neues Rinnsal unter dem Schal hindurch über den Rücken lief. Er warf einen Lehmklumpen über den Graben. »Angenommen dies geht so weiter«, antwortete er und deutete unbestimmt zum Himmel, »dann könnt's zwei oder drei Wochen dauern, bis wir unter der Burg durch sind. Und noch 'ne Woche,
um die Mauer zum Einsturz zu bringen.« »Drei Wochen?« fragte sie entgeistert. »Gestern hast du mir gesagt, daß es höchstens eine Woche dauern würde.« »Das war gestern«, meinte Krebbel. »Ich dachte, wir könnten genügend Boden trocken kriegen, um weiterzuarbeiten. Die Erde hat so viel Wasser, daß sie ungefähr die Festigkeit von Weizenmehl erreicht hat.« Grinstable sah grimmig aus. »Ihre Hoheit wünscht, daß der ›Große Vorstoß‹ in zwei Tagen beginnt. Bis dahin sollten wir hiermit fertig sein.« Krebbel zuckte die Achseln. »Bestellt den Regen ab. Dann bringe ich Euch hinein. Bis dahin...?« Wieder zuckte er mit den Schultern. Im gleichen Augenblick ertönte ein Getöse aus dem Tunnelinneren. Sekunden später verspürte sie einen Luftzug ähnlich einem nassen Atemhauch an der Wange vorbeiziehen. Whuff! »Da geht er hin«, seufzte Krebbel verdrießlich. Grinstable wandte sich ab und ging. Es war ungerecht, Krebbel verantwortlich zu machen. Er hatte sein Bestes getan und verfolgte den Belagerungsplan unbeirrt, obwohl das Unterfangen schon lange einen Punkt erreicht hatte, der nur noch auf Mißerfolge hoffen ließ. Die Sache mit Krebbel war auch ihre Schuld. Sie hatte ihn als Obersten Offizier der Pioniere
ausgewählt, da ihm der Ruf anhaftete, eine Idee wenn er sich einmal darin verbissen hatte - kaum jemals fallen zu lassen. Grinstable vermute inzwischen, daß Krebbel nur jeweils einen Gedanken fassen konnte und Änderungen verabscheute. Sie seufzte. Sie hatte einen Dummkopf gewollt, der sie nicht mit Neuerungen aufhalten würde. »Sei vorsichtig mit deinen Wünschen«, knurrte sie vor sich hin, »sie könnten in Erfüllung gehen.« Sie blickte zu den flachen Hügeln hinüber, überlegte, ob man nicht den ganzen verdammten Fels umgehen könnte und alle Energien auf die darunterliegenden Täler konzentrieren sollte. Ihre Hoheit neigte dazu, die notwendigen Reserven zu verweigern. Man könnte eine kleine Truppe zurücklassen, um die Verteidiger eingeschlossen zu halten, und der Nachschub könnte durch die schmalen Gräben auf beiden Seiten der Festung kommen. Sie schüttelte den Kopf. Der schmale Talboden war genau in Reichweite der Bogenschützen in der Festung. Mit zermürbender Sicherheit war ihr bewußt, daß in dem Augenblick, in dem sie an der Burg vorbeimarschieren würden, der Regen aufhören und die Sonne hervorkommen würde. Dann wäre sie erledigt. Die Bogenschützen würden alles, was sich auf freier Fläche rührte, sofort
durchlöchern. Sie hatte keine Wahl: Das verdammte Ding mußte eingenommen werden. Ihre Blicke wanderten von einem Ende des Tals zum anderen, erwogen einen Angriff an der Schmalseite. Grinstable wußte, daß es etwas gab, das die Baronin noch mehr haßte als unfähige Kommandeure, und das waren unfähige Kommandeure, die ihre Fehler unter Bergen von Toten zu verstecken suchten. Sie rieb sich das Kinn. Dagegen hatten erfolgreiche Kommandeure wesentlich mehr Spielraum. Wieder betrachtete sie das aufgewühlte Feld zwischen den Reihen der Belagerer und der Burg. Eigentlich sah der Schlamm gar nicht so schlimm aus. Sie sandte einen Boten aus, um ihre Offiziere herbeizurufen. Sie trafen sich in der Nähe des eingefallenen Tunnels, alle wirkten niedergeschlagen und ahnten offenbar, warum sie gerufen worden waren. Man vereinbarte einen Angriff für den Nachmittag und erreichte damit das erwartete Ziel: Fünfzehnhundert Männer und Frauen steckten im Schlamm, wühlten sich mühsam auf die Festung zu. Die Attacke schien noch nicht verloren, bis plötzlich eine Barriere in Form einer grünen Mauer errichtet wurde. Grinstable fluchte und raste, warf den Helm zu Boden und flehte um einen
Gegenzauber. Aber vergebens. Ihre schlammbedeckten Truppen kratzten und stießen an der schwach glühenden Mauer herum, konnten ihr jedoch nichts anhaben. Der Angriff war abgeschlagen, und die Soldaten trotteten erschöpft in die Reihen zurück. Die Verteidiger der Burg hatten nicht einen einzigen Schuß abgegeben. Sie betrachtete die mit gesenkten Köpfen und düsteren Gesichtern vorbeiziehenden Soldaten. Die Belagerung war ein Mißerfolg. Sie sah keinen Ausweg mehr, als der Baronin zu schreiben und einzugestehen, daß sie nicht in der Lage war, den Auftrag zu erfüllen. Baronin Karin Amberley würde die Neuigkeit höchstwahrscheinlich nicht nur mit einem philosophischen Schulterzucken zur Kenntnis nehmen. Als der Nachmittag sich dem Abend zuneigte, saß sie von zusammengeknüllten Papieren umgeben an ihrem Schreibtisch und lauschte dem Regen, der auf das Zeltdach fiel. Große, schwere Tropfen drangen durch das aufgeweichte Material und platschten herab: auf die Landkarte, auf das Bett und auf die rostgesprenkelte Rüstung. Sie hatte erwogen, Schüsseln darunterzustellen, verwarf jedoch den Gedanken jedoch wieder, denn dies hätte bedeutet, den ganzen Boden damit bedecken zu
müssen. Grinstable sah auf ihre runzligen Fingerspitzen, hauchte sie an, um sie zu erwärmen, und griff wieder nach dem Federhalter, um weiterzuschreiben. »Nicht so jämmerlich«, sagte sie zu sich selbst, »versuch, etwas verständlicher zu betteln.« Sie bemühte sich, die Spitze nicht zu fest auf das feuchte Papier zu drücken. Es würde schnell reißen. Draußen ertönte das Klitsch-Klatsch schwerer Infanteriestiefel, die durch den Schlamm auf das Zelt zukamen. Rasch richtete sie sich auf und strich sich das lange Haar aus dem Gesicht. Keiner ihrer Untergebenen sollte sie in diesem Zustand zu sehen bekommen. Der Bote betrat das Zelt und stand stramm, Wasser tropfte aus seiner Kleidung auf Grinstables aufgeweichte Teppiche. »Da draußen sind zwei Zwerg, die Euch sprechen wollen, Majoi!« rief er. »Das müssen Zwerg-e sein, Soldat«, antwortete sie, »und es heißt Majorin, nicht Majoi. Fahr fort!« »Jawohl, Majorin!« brüllte er. »Fahr fort, Majorin.« Er machte stampfend auf dem Absatz kehrt und marschierte hinaus, hinterließ dabei braune Fußabdrücke, ein paar graubraune Erdklumpen und eine rostbraune Wasserlache. »Und wenn ich hundert Jahre alt werde«,
murmelte Grinstable, »die Mentalität der Soldaten begreife ich niemals.« Sie hob die Stimme und rief dem Soldaten nach: »Führ sie zu mir!« Durch das Klitsch-Klatsch der stampfenden Stiefel vernahm sie seine gedämpfte Antwort: »Jawohl Majorin! Führe sie rein zu Euch, Captain!« Er stampfte davon. Sie erhob sich, ordnete das Haar und legte sich den Umhang um die Schultern, um ihren Besuchern geziemend gegenüber treten zu können. Dabei fragte sie sich, was, zum Henker, die Zwerge wollten. Die zwergischen Truppen der Baronin hielten sich zumeist in der Mitte oder aber zur Linken auf, daher schien es unwahrscheinlich, daß es sich um Boten oder Abgesandte handelte. Beim letzten Treffen der Kommandeure hatte sie sich derart unausstehlich benommen, daß die Chancen, daß einer der anderen Befehlshaber ihr Hilfe oder eine Nachricht schickte, gleich Null standen. Nachdenklich hüpfte sie von einem kalten Fuß auf den anderen, während sich fremde Stimmen dem Kommandeurszelt näherten. Die Zeltbahn wurde zur Seite geschlagen, und die Zwerge traten ein. Mit ihrem mürrischen Gesichtsausdruck, den breiten Schultern und schweren Rüstungen wirkten sie blöde und schwerfällig. Die Anführerin nahm den flachen
Helm ab und sah Grinstable in die Augen. Die Majorin fühlte die prüfenden Blicke der Zwergin. Sie hätte alles darum gegeben zu erfahren, was hinter dieser unbeweglichen Miene vorging. »Darf ich erfahren, was Ihr hier zu tun glaubt?« fragte die Anführerin mit barscher, gereizter Stimme. »Ich führe eine Belagerung durch«, erwiderte Grinstable, obwohl das Fiasko da draußen diesen Namen sicher nicht verdiente. »Was soll die Frage?« »So nennt Ihr das?« blaffte die Zwergin. »Wer hat Euch gestattet, Bäume in unseren Wäldern zu schlagen, über unser Land zu trampeln, unseren wunderschönen Fluß zu verseuchen und Tag und Nacht zu schreien und zu lärmen?« »Ich«, sagte Grinstable und richtete sich zu voller Größe auf, »bin die Majorin Grinstable, im Dienste der Baronin Karin Amberley. Wir belagern die Festung des verbrecherischen Schurken Baron Däne Isely.« »Euer verbrecherischer Schurke fragt uns um Erlaubnis, bevor er Bäume fällt«, erwiderte die Zwergin trocken, »und er läßt seine Pferde nicht einfach unsere Blumen verschlingen.« »Ich befürchte, daß wir eine geraume Zeit hier bleiben werden«, sagte Grinstable und versuchte verzweifelt, ihrer Stimme einen neutralen Klang
zu geben, »und das bedeutet weitere Mißstände für den Fluß und die Blumenbeete. Oder kennt ihr einen Weg, um diese Belagerung zu einem schnellen Ende zu bringen?« Die Zwerge musterten sie prüfend. »Das, Majorin Barnstubble, ist etwas, was wir Ungewaschenen eine ›Suggestivfrage‹ nennen.« Sie rieb sich das Kinn. »Aber wenn wir euch dadurch von unserem Grund und Boden bekommen...« Sie blickte entschieden auf. »Geht ihr, wenn die Belagerung beendet ist?« »Jawohl«, antwortete Grinstable, »wir gehen, bis auf unsere Nachschubkolonne.« Die Zwergin zog ein mißmutiges Gesicht. »Ich ahnte, daß es ein ›Bis auf‹ geben würde. Wir gestatten den Wagen die Durchfahrt, wenn diese ohne Aufenthalt vonstatten geht.« Sie lächelte. »Und ihr zahlt eine Entschädigung.« »Einverstanden«, stimmte Grinstable zu, obwohl ihr klar war, daß eine solche Vereinbarung über ihre Befugnisse hinausging. »Wer seid Ihr eigentlich?« »Ich bin Glemp, Anführerin der BlumenhügelZwerge. Wenigstens hatten wir Blumen, bis ihr gekommen seid.« Sie deutete über die Schulter nach hinten auf den anderen Zwerg, der die großen, gelben Zähne zu einem breiten Grinsen entblößte. »Dieser mit Amuletten behängte Narr ist Eod, unser Meister des Rauchs und der
Spiegel Er wird sich an Eurer Stelle um die Festung kümmern.« Grinstable betrachtete den zweiten Zwerg. Seine gesamte Rüstung schien mit Amuletten und Talismanen behängt zu sein. Eod hob eine Hand zum freundlichen Gruß. Grinstable fiel auf, daß zwei seiner Finger fehlten. Glemp bemerkte ihre gerunzelte Stirn. »Majorin Brimstample, Eod befehligt die dritte Schwadron des zwergischen Abrißkommandos.« »Es muß ›Grinstable‹ heißen«, berichtigte Krebbel aus dem Hintergrund. »Von mir aus«, erwiderte Glemp. »Und wer seid Ihr?« Krebbel tippte sich auf die Brust. »Ich bin der Oberste Pionier der rechten Flanke.« Glemp stieß ein undefinierbares Geräusch aus - es klang wie eine Mischung zwischen Grunzen und Schnauben. »Ähem, seid Ihr hier, um mich zu ersetzen?«, fragte Krebbel bedrückt. »Sie sind von der hiesigen Obrigkeit, sie kommen uns zu Hilfe«, mischte sich Grinstable ein. »Oh, das ist gut«, meinte Krebbel. »Wir haben getan, was wir konnten, um diese Festung zu nehmen. Stollen gegraben, Gräben gezogen, Beschuß durchgeführt. Es wird funktionieren, braucht aber seine Zeit.« Er blickte in den Kreis
von unbeweglichen Mienen. »Das liegt am Schlamm, müßt ihr wissen«, setzte er lahm hinzu. Glemp warf ihm einen langen Blick zu. Krebbel verstummte. »So, nun haben wir das hinter uns«, bekräftigte Glemp. »Können wir jetzt anfangen?« »Braucht ihr denn keine Zelte und ein Lager oder sonst etwas?« erkundigte sich Grinstable. »Nein«, erwiderte Glemp, »so lange wollen wir nicht hierbleiben.« Grinstable bemühte sich, ihren Unglauben zu unterdrücken. »Wie viele seid ihr?« Glemp zuckte die Achseln, die Schultern hoben und senkten sich ruckartig. »Acht. Eine Schwadron.« Krebbel schnaufte. »Acht? Mehr nicht?« Die Zwergin wirkte ungerührt. »Eine Schwadron, eine Festung. Keine große Sache.« »Was meint Ihr, wie lange werdet ihr dafür brauchen?« fragte Grinstable voller Unaufrichtigkeit. Glemp bedachte sie mit einem langen Blick. »Bis morgen um diese Zeit haben wir es geschafft, denke ich.« Grinstable versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, innerlich jubelte und tobte sie jedoch vor
Freude. »Das wäre gut«, sagte sie kühl. »Laßt mich wissen, wenn Ihr irgend etwas benötigt.« Glemp warf Krebbel einen drohenden Blick zu. »Bleibt uns nur vom Leibe.« Krebbel öffnete den Mund, um zu sprechen. Grinstable kam ihm zuvor. »Natürlich werden wir das!« Sie schaute den Pionier warnend an und hoffte, ihn damit zum Schweigen zu bringen. »Nicht wahr, Krebbel?« Krebbel gähnte und bohrte sich mit einem schmutzigen Finger im Ohr herum. »Danke sehr, Majorin Bramstoker«, sagte Glemp. »Barnstubble heißt es«, erwiderte die Majorin. »Ach, was soll's.« »Was?« fragte Eod. »Falls ich es noch nicht erwähnt haben sollte: Eod hört nicht mehr so gut«, erläuterte Glemp. »Toll«, murmelte Grinstable. »Was?« fragte Eod noch einmal. Glemp wandte sich zum Gehen. Eod blieb grinsend stehen. »Eod«, sagte sie. Er reagierte nicht. »E-O-D«, wiederholte sie langsam und laut. Er wandte sich ihr zu. Sie vollführte mit den Händen weit ausladende Gesten. Er grinste und folgte ihr nach draußen. Grinstable ließ sich in ihren Stuhl fallen und kniff sich in den Arm. Träumte sie? Sie konnte
es kaum fassen, wie schnell sich ihr Glück gewandelt hatte. Sie nahm ein leeres Blatt Pergament aus dem Schreibtisch und setzte einen neuen Brief an die Baronin auf, in dem sie berichtete, daß nach zögernden Anfängen mittlerweile alles hervorragend seinen Gang ging. Ihr Anteil des Angriffs würde zur rechten Zeit ohne zu erwartende Schwierigkeiten ablaufen. Die Majorin Grinstable nahm die aus Gemüseeintopf bestehende Abendmahlzeit im Zelt ein und bemühte sich angestrengt das Quietschen und Krachen, das durch das abendliche Lager drang, nicht zu beachten. Der Regen fiel auch weiterhin unermüdlich und wurde durch den Verlust der kargen Sonnenwärme noch unerträglicher. Sie war bereits völlig durchgefroren, dabei hatte die Nacht kaum begonnen. Sie hatte keine Ahnung, was sie von den Zwergen halten sollte. Innerhalb weniger Stunden hatten sie einen langen Flaschenzug mit hängenden Eimern an einem Tretschaufelrad angebracht. Die Eimer kamen aus dem vergrößerten Tunneleingang heraus, gelangten über eine freie Fläche zu dem Schaufelrad und kippten dann in die eckigen, auf Rädern befestigten Tröge, die anstelle von Wagen
benutzt wurden. Danach wurde der Schlamm an irgendeinen unbekannten Ort gebracht. Die Ausgrabung wurde mit einem ›Schraubstangenbohrer‹ genannten Gerät durchgeführt. Es sah aus wie eine riesige metallene Steckrübe, in deren Schale man Furchen und Kanäle geschnitten hatte. Zwei hinter einem mächtigen Schutzschild sitzende Zwerge trieben es durch Pedale an, während zwei andere Zwerge das Ganze in den Schacht schoben. Von den Tunnelwänden geschnittener Schlamm floß durch die Kanäle in die Eimer, die anschließend davonquietschten, um ausgeleert zu werden. Dann erschienen per Flaschenzug leere Eimer, die wiederum gefüllt wurden. Grinstable fand die ganze Sache faszinierend und unbegreiflich. Andere Zwerge arbeiteten hinter dem Schraubstangenbohrer und zimmerten Bögen, welche die weiche Lehmdecke stützen sollten, und legten Planken auf den Tunnelboden. Krebbel machte sich unverhohlen über die Fortschritte lustig und warf Grinstable einen düsteren Blick zu, als sie ihn daran erinnerte, daß die Zwerge bereits innerhalb von zwei Stunden weiter gekommen waren als er im Laufe von zwei Tagen. Wütend stürmte er davon. Das Quietschen des Schaufelrades machte sie verrückt. Sie verließ den lauwarmen
Gemüseeintopf und trat aus dem Zelt. Gerade wollte sie unhöflicherweise vorschlagen, daß die Arbeiter doch ein wenig Fett auf das Getriebe schmieren sollte, als sie Eod erblickte. Er ritt auf einem Esel, der einen zweirädrigen Karren zum Tunneleingang zog. Eine knollenförmige Eisenkugel füllte die Ladefläche des Karrens völlig aus. Grinstable fiel auf, daß sowohl die Hufe des Esels als auch die Räder des Karrens mit Filz umwickelt waren. Eod lenkte das Tier mit übertriebener Vorsicht. »Was hat das alles zu bedeuten?« fragte sie fordernd. Eod kletterte von dem Esel herunter, nachdem er eines von dem Dutzend Amulette, die um seinen Hals hingen, geküßt hatte. »Es enthält den magischen Rauch«, sagte er viel zu laut, wie es für Schwerhörige typisch ist. »Ist das eine Art Luftgift?« fragte sie und sorgte sich, welche Auswirkungen das wegen der unberechenbaren Talwinde auf ihre Truppen haben würde. »Nein«, gab er so verschwörerisch zurück, wie es seine dröhnende Stimme zuließ, »das ist der ›Große Schaden‹.« Er deutete in den Tunnel. »Wenn wir den Schacht gegraben haben, gießen wir den magischen Rauch hinein, und er wird am anderen Ende heraussickern. Dann, wenn wir
fertig sind...« Er machte eine weite Handbewegung. Lange und ausgiebig betrachtete Grinstable die Kugel. »Das soll die Mauer zum Einsturz bringen?« fragte sie leise. »Ha?« gab Eod zurück. »Ja, das ist die Lösung.« Er stapfte zum Karren und klopfte sanft auf die Kugel. Grinstable hatte ein hohl klingendes Geräusch erwartet und war von dem festen Klonk überrascht. Sie ging ebenfalls hinüber und legte die Handfläche auf das Metall. Es fühlte sich warm an - wie Körperwärme. Sie riß die Hand zurück, als ob sie sich verbrannt hätte. Eod lachte. »Wie funktioniert es?« verlangte sie zu wissen. »Ha?« fragte Eod. Lauter wiederholte sie die Frage. »Nun«, erklärte er, »wenn wir es erst mal in das Loch geschüttet haben, richten wir mit Hilfe einiger gebogener Spiegel die Sonnenstrahlen darauf, und so entzündet es sich.« Grinstable drehte sich der Magen um. »Aber es regnet, die Sonne kommt kaum durch!« »Genau«, stimmte Eod zu und sah zum wolkenverhangenen Nachthimmel empor, »das könnte schwierig werden.« Er grinste sie an. »Aber bis jetzt habe ich Glück gehabt.« Er wedelte mit der verstümmelten Hand. Sie
überlegte, was wohl für einen Zwerg, der zwei Finger verloren hatte, Glück bedeutete. Die ganze Nacht hindurch blieb sie auf, sah voller Hoffnung zum Himmel und redete sich ein, daß sie zwischen den milchigen Wolkenfetzen Sterne erblicken konnte. Der siegverheißende Brief lag ihr schwer auf dem Gewissen. Auch die Zwerge arbeiteten die ganze Nacht hindurch; das Quietschen und Klappern begleitete sie auf dem Vorstoß zur Festungsmauer. Als sich das Gerät weiter durch den Lehm wühlte, vermeinte Grinstable einen kaum wahrnehmbaren Buckel zu sehen, ähnlich dem Werk eines gigantischen Maulwurfs. Die Karren erschienen mit schöner Regelmäßigkeit, um den Schlamm wegzubringen, und die trampelnden Zwerge arbeiteten unermüdlich ohne Pause. Kurz vor Tagesanbruch zogen sie die schlammbedeckte Maschine aus dem Tunnel und schoben sie zurück in den Wald, der die Grenze des Zwergenlandes darstellte. Eod kam zurück, als sich die Wolken im Osten lichteten. Er trug einen Kerzenstumpf und einen polierten Bronzeschild. Zielstrebig schritt er auf den Tunneleingang zu. Grinstable schürzte die Lippen, als er an ihr vorbeiging. »Was habt Ihr vor?« erkundigte sie sich. Er blickte nach Osten. »Ich denke, bei
Tagesanbruch«, antwortete er. Sie verdrehte die Augen. »Kann ich zusehen?« fragte sie, diesmal mit erhobener Stimme. Er verzog das Gesicht. »Meine Güte, Ihr müßt doch nicht schreien. Es macht mir nichts aus, wenn Ihr dabeisein wollt. Steht nur nicht im Weg und stoßt keine Stützen um.« Er legte den Finger an die Nase. »Einsturzgefahr!« Sie sah zum Tunneleingang hinüber. »Ich fürchte mich nicht.« »Ganz wie Ihr meint«, erwiderte er und verschwand geschmeidig in dem Loch - wie ein Terrier, der eine Ratte verfolgt. Sie folgte ihm, mußte aber gebückt gehen, wo er noch aufrecht stehen konnte. Der Tunnel war rund; der Boden war - bis auf die Stellen, an denen Wurzeln durchkamen - flach. Sie folgte ihm in die Dunkelheit und stellte grimmig fest, daß die winzige Grubenleuchte nicht einmal genügend Licht für eine Fledermaus, geschweige denn für ein anderes Wesen verströmte. Mehr und mehr wurde sie sich der feuchten, schweren Last über ihrem Kopf und dem Knarren der Stützen bewußt Sie wollte ihn bitten anzuhalten, sie ans Tageslicht zurückzubringen, wo sie nicht Gefahr lief, von Tonnen von Lehm erstickt zu werden. Zweimal hätte sie ihn fast berührt und hielt sich nur deshalb zurück, weil ihr einfiel, daß sie sich ihm aufgedrängt harte.
Beinahe wäre sie in ihn hineingerannt, als sie das Ende des Ganges erreicht hatten. Die Spitze des Tunnels war kaum breiter als der eigentliche Gang, nur gerade breit genug, um das Gerät umzudrehen und wegzuschaffen. Verwirrt blickte sie sich um. »Das ist es?« forschte sie. »Wo sind die Stollen, die unter den Mauern verlaufen? Wo sind die Balken die alles aufrecht halten, bis sie vom Feuer verbrannt werden? Wo ist das Anzündholz, um das Feuer in Gang zu bringen?« Eod zuckte zusammen, als sich ihre Stimme in dem beengten Raum um eine Oktave erhob. »Seh!« sagte er und bewegte beschwichtigend die Hände. »Wenn Ihr noch weiter herumkreischt, bringt Ihr auf jeden Fall die Decke zum Einsturz.« »Was ist mit den Stollen?« fragte sie noch einmal. »Brauchen wir nicht«, gab er zurück. »Der magische Rauch macht das schon.« Er stellte den bronzenen Spiegel so auf, daß die gewölbte Seite zum weit entfernten Ausgang wies. Durch ein winziges Loch in der Mitte des Schildes spähte er zu dem Stecknadelkopfgroßen Tageslichtschimmer am anderen Ende des Tunnels hinüber. Als er es perfekt ausgerichtet hatte, verkeilte er es fest im Boden und nahm einen kleinen Ständer nebst einer Rolle
Bindfaden aus der Tasche. Er spuckte sich auf Daumen und Zeigefinger, zwirbelte das Ende des Fadens zusammen und führte es durch das Loch. Dann zog er den Faden auf die volle Länge und stellte den Ständer sorgfältig in der richtigen Entfernung auf; drückte ihn fest in den Schlamm, um die richtige Höhe zu erhalten. Als nächstes zog er den Kerzenstumpf aus der Tasche und stellte ihn auf den Ständer. Grinstable hatte alles mit verblüfftem Gesichtsausdruck verfolgt. »Was nun?« fragte sie neugierig. »Nun gehen wir«, erhielt sie zur Antwort. Ihr verwirrter Gesichtsausdruck vertiefte sich noch, während sie ihm wieder durch den Schacht hinausfolgte. An der Erdoberfläche angelangt, hatte sie gehofft, Licht und blauen Himmel zu sehen. Statt dessen begrüßten sie schwere Wolken. Eod wirkte aber keineswegs entmutigt. Vorsichtig führte er das ruhige Zugtier rücklings zum Tunneleingang und plazierte den Karren so, daß sich ein kleiner Korken, der im Boden der Kugel steckte, nun direkt über dem Loch befand. Dann legte er ein gewundenes Holzstück unter den Korken und zog ihn heraus. Grauer Rauch kräuselte aus dem Behälter und suchte sich einen Weg in das Holz hinein. Grinstable und ein Teil ihrer Untergebenen, die gaffend herumstanden, traten erschrocken zurück. Der Rauch bewegte
sich schleppend, ähnlich einer zähen, erkalteten Soße und nicht wehend, wie gewöhnlicher Rauch es zu tun pflegte. Sie stand vor lauter Spannung wie festgewachsen da und sah zu, wie er langsam im Tunneleingang und den Tiefen der Erde verschwand. »Warum kriecht er so dahin?« erkundigte sie sich mit erstickter Stimme. »Der Tunnel hat ein Gefalle«, erwiderte Eod. »Der Rauch sucht sich die niedrigste Stelle.« Er wartete, bis der Rauch völlig verschwunden war, setzte dann den Korken wieder in die Kugel und führte das Gespann davon. Dann stellte er einen anderen Spiegel, der genauso aussah wie jener tief unter der Erde, direkt vor den Tunneleingang. Neugierig blickte sie ihn an. »Was jetzt?« fragte sie, als er fertig war. »Wir warten«, kam die Antwort. »Worauf?« fragte sie erneut. Er deutet unbestimmt nach oben. »Wir warten darauf, daß ich Glück habe«, meinte er gelassen. Den Vormittag verbrachte sie damit, die Angriffstruppen in Bereitschaft zu versetzen und mit den Unteroffizieren zu reden. Außerdem schrieb sie etliche Briefe, räumte das Zelt auf und zeichnete Kampfpläne für einen siegreichen Vorstoß. Aber keine dieser Tätigkeit konnte sie davon abhalten, alle paar Minuten nach draußen
zu stürmen und nachzusehen, ob der Himmel vielleicht nicht mehr bedeckt war. Die Sanduhr zeigte an, daß die Mittagsstunde nahte. Gerade als sie wieder nach draußen lugte, um zum Himmel aufzuschauen, kam ein Bote geritten, der ein ausgesprochen offizielles Gebaren an den Tag legte und eine versiegelte Schriftrolle mit sich führte. »Für Euch«, sagte er und reichte ihr die Rolle ohne irgendwelche Höflichkeitsbezeugungen. Sie erbrach das Siegel und entrollte das Schriftstück, ohne auf den Nieselregen zu achten, der die Tinte noch während des Lesens verschmierte. Von Ihrer Hochwohlgeborenen Baronin Karin Amberley An Ihre Tapferen Kommandeure Es ist Uns zu Ohren gekommen, daß ein widerwärtiges und unverschämtes Wetter Uns hinterhältigerweise Unseres Zeitplanes zu berauben gedenkt. Wir haben daher großmütigerweise den geplanten Angriff für eine Woche verschoben, um den niederträchtigen und aufsässigen Wolken Gelegenheit zu geben sich zu verziehen und ferner dem Schlamm das Trocknen zu gestatten. Sollte einem der Kommandeure trotz dieser Widrigkeiten Erfolg beschieden sein,
wird Unsere Belohnung diesem Eurem Erfolg entsprechen. Gezeichnet, X (Ihr Zeichen) Grinstable klopfte sich mit der Schriftrolle gegen die Zähne. Der Bote seufzte laut um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Ja?« meinte sie gedankenverloren. »Nun«, sagte er, »habt Dir eine Antwort?« Sie runzelte die Stirn und schaute gen Himmel. Genau über ihren Köpfen war ein kleiner blauer Fleck, von goldgelbem Licht gerahmt, sichtbar geworden. »Teil Ihrer Hoheit folgendes mit: ›Wir halten durch.‹« Der Kurier warf ihr einen skeptischen Blick zu. »›Wir halten durch‹? Ist das alles?« Sie ging auf den Tunneleingang zu. »Das ist alles«, erwiderte sie. Er riß sein Pferd herum und ritt davon. Krebbel, der noch immer in seinen lehmverkrusteten Kleidern steckte, sah ihr entgegen, als sie sich wieder zu der Gruppe gesellte. Eod hielt einen dritten Spiegel, sprang umher und richtete ihn mal ihn diese, mal in jene Richtung. Ein Sonnenstrahl brach durch die Wolken, und seine Kraft überraschte Grinstable.
Eod sprang in den gelben Schein, drehte den Spiegel und fing das Licht auf. Ein heller Sonnenstrahl verband die beiden Spiegel miteinander und verschwand dann unter der Erde. »Jetzt dauert es nur noch ein paar Sekunden«, rief Eod. »Verdammt«, fluchte Grinstable. »Krebbel, ruft die Angriffstruppen nach vom!« Glemp tauchte zwischen den dichtgedrängten Beinen der Soldaten auf. »Angriffstruppen? Wofür denn?« Grinstable sah sie nachsichtig nach. »Natürlich für die Einnahme der Festung.« Glemp wirkte völlig verwirrt, »Aber es wird überhaupt keine einnehmbare Festung mehr geben, Majorin Renstimple.« »Aber«, sagte Grinstable bestimmt, »wir müssen sie einnehmen. Das ist Teil unseres Plans.« »Und das sagt Ehr jetzt!« rief Glemp mit gereizter Stimme. »Gestern habt Ihr noch behauptet, daß die Belagerung so schnell wie möglich beendet werden müsse. Aber kein Wort darüber, daß die Burg heil bleiben soll!« Grinstables Lippen formten ein winziges ›O‹. Sie drehte sich zu Eod um, der im gleichen Augenblick den Schild fallen ließ und losrannte. Eine Flammenzunge schoß aus dem
Tunneleingang wie der Atem aus dem Maul eines Drachens. Dumpfes Dröhnen ertönte, die Erde erbebte. Entsetzt wandte sie sich der Festung zu. Die ganze Anlage schien in einem grauen Nebel zu verschwinden, der sich - einem riesigen Pilz nicht unähnlich - in die Luft erhob. Eine gewaltige Druckwelle nahte, riß alle von den Beinen. Felsbrocken, Schutt und Trümmer regneten auf sie nieder. Als der Steinhagel nachließ, richtete Grinstable sich auf und starrte entgeistert und mit offenem Mund umher. Ein Krater, so tief, daß drei Männer übereinander darin stehen konnten, zog sich von einer Seite des schmalen Tales bis zur anderen. Das kleine Stückchen blauen Himmels verschwand. Stetiger Regen setzte erneut ein. Sofort füllte sich der tiefe Krater mit Wasser und versperrte das Tal noch wirkungsvoller, als es vorher die Festung getan hatte. MICHAEL SCOTT
Das Licht im Wald Die schöne, auserlesen geformte Steinsäule mit den eingemeißelten Inschriften, die älter waren als das Land selbst, hatte einst mehr als mannshoch gestanden. Die ersten Orks hatten
vor der Säule ihren Göttern gehuldigt, später hatten dann sowohl die Zwerge als auch die Hügelriesen abwechselnd Ansprüche geltend gemacht und deshalb sogar Kämpfe ausgefochten, bis irgendwann der Anlaß dafür in Vergessenheit geriet, die Feindschaft jedoch fortbestand. Zeit und die Elemente verbündeten sich, um die Säule unter einer Decke aus Erde zu begraben, und obwohl Gelehrte vieler Völker versuchten, ihren Standort zu ermitteln, wurde sie niemals mehr gefunden. Irgendwann wurde die Steinsäule zum Bestandteil verschiedener Legenden und schließlich abgetan als etwas, das aus der Verschmelzung von Mythen entstanden war. Aber im Herzen jedes Mythos liegt ein Hauch von Wahrheit. »Ich dachte, ich hätte etwas gesehen.« Dolena zügelte ihr Pferd, stellte sich in den Steigbügeln auf und bedeckte die Augen mit der Hand, um gegen die untergehende Sonne sehen zu können. »Im Tal«, fügte sie hinzu. »Da ist nichts«, knurrte Brons. Er zerrte an den Zügeln des Leitochsen, trieb ihn voran. »Laß uns weiterziehen. Das Licht läßt schon nach, und ich möchte nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr in den Bergen sein.«
»Ich habe etwas gesehen«, beharrte Dolena. Sie hob die Hand, und die sechs Wächter, die sie in Skerry angeheuert hatte, zügelten ebenfalls die Pferde und griffen nach den Waffen. Dolenas Ruf als Karawanenschützerin wurde in allen Ländern des Nordens geachtet. Die Kriegerin trieb ihr Pferd langsam an den Rand des Zuges und spähte hinab in das schattige Tal. Sie fühlte eine hohle Leere im Magen und eine schleichende Kälte im Nacken - Anzeichen, die sie kannte und zu fürchten gelernt hatte. Dadurch war sie während vieler Abenteuer und Gefechte nahe der Grenzen und im Laufe der Inselkriege oftmals dem Tode entkommen. Die Frau starrte in das Tal und ließ den Blick über den dichten Baumbewuchs schweifen; er verweilte an keinem bestimmten Punkt, denn sie wartete einfach ab, ob sich irgend etwas in ihrem Bewußtsein festsetzen würde. Als sie bemerkte, daß sie schielte, zwang sie sich zu einer entspannteren Haltung und öffnete die Augen ganz weit. Sie zählte jetzt zweiunddreißig Sommer, und langsam ließ ihre Sehschärfe nach; über weite Entfernungen konnte sie nicht mehr gut sehen, und bei Nacht hatte sich ihre Sehfähigkeit dramatisch verschlechtert. Die Zeit würde kommen, wenn sie ihren Unterhalt nicht länger als bezahlte Söldnerin, Leibwächterin oder - wie jetzt - als Zugbegleiterin bestreiten
könnte. Sie hatte keine Ahnung, was sie dann machen würde. Die Möglichkeiten waren begrenzt; sie besaß keine brauchbaren Fähigkeiten außer der Waffenhandhabung, war niemals hübsch gewesen, und die leuchtend weiße Narbe - ein Andenken an eine kurze Begegnung mit einem Wüstenräuber - quer über der sonnengebräunten Stirn war auch nicht gerade von Vorteil. Da! Etwas Farbiges blitzte auf, undeutlich, bruchstückhaft hob es sich von der Düsternis ab. Ganz bewußt hielt sie den Kopf still, konzentrierte sich auf das Objekt im Zentrum ihres Sichtfeldes. Dolena überlegte angestrengt, was wohl um diese Jahreszeit hier in den dunklen Wäldern des Nordens herumschleichen könnte. Die Liste war beängstigend lang. Der verkrüppelte Zwerg, bekannt unter dem Namen Crane, trieb sein struppiges Gebirgspony an ihre Seite. Dolenas Pferd schnaubte beunruhigt und tänzelte seitwärts, störte ihre Konzentration. »Was ist los?« erkundigte sich Crane mit schnarrender, angespannter Stimme. Dolena zog die Lederkappe vom Kopf und fuhr sich mit der Hand durch das kurzgeschnittene Haar. »Unten im Tal ist irgend etwas.«
»Laßt uns weiterziehen!« rief Brons, dessen Stimme von den Felsen zurückgeworfen wurde. Der Zwerg beachtete ihn nicht. »Was siehst du?« »Es ist eigentlich mehr ein Gefühl«, murmelte Dolena. Brons kletterte nun vom Wagen herab und schritt auf sie zu; der säuerliche Geruch seines Schweißes, vermischt mit dem starken Geruch der Ochsen, umgab ihn wie eine beinahe greifbare Hülle. Dolena vermutete, daß Orkblut in den Adern des stinkenden Zugführers floß; nie zuvor war sie einem derart häßlichen und übelgelaunten Mann begegnet. »Ich werd mich nicht verspäten, weil diese Hruptchi Vorahnungen hat...« setzte er an. Der Zwerg wandte den Kopf und richtete das blinde weiße Auge auf den kahlen Kopf des Zugführers. Das intakte Auge war kohlschwarz, ohne jegliches Weiß. »Dich habe ich eingestellt, um den Wagen über die Berge zu fahren«, sagte er, wobei jedes Wort angestrengt schnarrend klang, »weil man dich sehr empfohlen hat. Doiena habe ich als Wächterin angeheuert, weil auch sie sehr empfohlen wurde.« »Ich habe mal gehört, daß Dolena von einem Vampir getötet wurde«, knurrte Brons. »Die da ist wahrscheinlich nur eine Fahnenflüchtigen, die den Namen angenommen hat. Wer hat sie denn
schon empfohlen? Irgendein Schurke...« »Ihr wurdet beide vom selben Schurken empfohlen«, bellte Crane. Brons wich zurück, starrte Dolena böse an, aber sie hatte ihm während des Wortwechsels nicht einmal einen Blick geschenkt. Der große Mann ging davon, sah nach den Ochsengespannen und fuhr mit schwieliger Hand über die großen Holzräder der acht Wagen. Erst als er völlig sicher war, daß ihn weder Dolena noch Crane sehen konnte, spuckte er voller Verachtung auf den Boden. »Da unten ist etwas, das mich beunruhigt«, sagte Dolena leise und beugte sich über den Sattelknauf nach vorn. Crane spähte in die Scharten. »Ich kann nichts entdecken«, gab er zu, »aber ich lebe noch immer, weil ich gelernt habe, der Meinung der Leute zu trauen, die ich achte.« »Ich habe nichts getan, um deine Achtung zu verdienen«, antwortete Dolena und warf ihm einen Seitenblick zu. »Aber jene, die ich schätze, haben eine hohe Meinung von dir... und das ist dann auch gut genug für mich«, sagte Crane, und die Bewegung seiner Lippen ließ darauf schließen, daß er lächelte. Er nickte zum Tal hinunter. »Sind wir in Gefahr?« »Ich bin nicht sicher. Ich bin... beunruhigt.« »Was schlägst du vor?«
»Wir sollten ein sicheres Nachtlager errichten, die Wachen verdoppeln und die ganze Nacht die Feuer in Gang halten. Ich werde kundschaften gehen.« »Ob das klug ist?« »Es ist immer besser zu wissen, wovor man sich fürchtet.« »Und dann tritt man ihm entgegen?« »Das wiederum ist nicht unbedingt das Klügste«, erwiderte Dolena grimmig. Sie schlugen das Nachtlager in einem leerstehenden Barbaren-Tempel auf. Irgendwann, vor ewiger Zeit, hatte ein Feuer im Herzen des Gebäudes gewütet, die Wände geschwärzt, eine dicke Rußschicht an der Decke verteilt und die kunstvollen schönen Fresken und eingemeißelten Muster unsichtbar werden lassen. Später dann hatte der Wald den Tempel in Besitz genommen. Armdicke Rebengewächse krochen durch Fenster und offene Türen, brachen durchs Mauerwerk und lockerten die winzigen Mosaikplatten. Aus einem unbekannten Grund war der vordringende Wald plötzlich zurückgewichen, stand beinahe kreisförmig um das Gebäude herum und hatte tote Äste zurückgelassen, die wie Finger eines Skeletts nach den Wänden zu greifen schienen und auf dem Boden ausgebreitet waren. Obwohl Dolena sich nicht für den
eingebildeten Zugführer erwärmen konnte, mußte sie zugeben, daß er seine Arbeit verstand. Er hatte die Wagen im Innenhof um eine winzige Steinhütte herumgruppiert, die nur die eingefallenen Überreste eines Brunnens beherbergte. Die größeren Gebäude hatte er ausgeschlossen, denn wenngleich sie auch allen Menschen und Tieren Schutz geboten hätten, wären sie doch unmöglich zu verteidigen gewesen. Brons hatte Crane auf die Hütte hingewiesen und sich erboten, ein paar der Taschen zu tragen, aber der Zwerg hatte abgelehnt. Dolena fiel auf, daß einige davon mit kostbaren Amuletten versiegelt waren. Selbst wenn die Taschen gestohlen würden, könnte man sie nur mit einem zweiten, dem passenden Amulett öffnen. Jede Art von gewaltsamem Öffnen hätte zur Folge, daß der Inhalt zu Asche verkohlte. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, welche Ware so wertvoll sein könnte, daß außer ihr noch sechs weitere Wachen zur Stelle sein mußten. In der Stadt war sie Crane bei verschiedenen Gelegenheiten begegnet; der verkrüppelte Zwerg kam zwei- oder dreimal in jeder Jahreszeit aus dem Hochland herunter, um Vorräte für die Zwergengemeinschaft, die in den verlassenen Lavaminen arbeitete, zu kaufen. Sein Ruf schützte den Zwerg normalerweise, aber sie hatte auch schon gehört, daß Crane durchaus in
der Lage war, sich gegen jene zu verteidigen, die ihn verspotten oder bestehlen wollten. Sie harte einer Gruppe angehört, die den Erzählungen von Reisenden auf den Grund gegangen war, die vor ungefähr einem halben Jahr von mehreren Toten berichtet hatte, die nahe der Straße auf einem Feld liegen sollten. Die fünf identifizierbaren Leichen erwiesen sich als die Überreste von Fahnenflüchtigen, die schon seit geraumer Zeit die Straße unsicher gemacht hatten. Der Richter des Ortes hatte entschieden, daß sie von Werwölfen getötet worden waren; Dolena hatte herausgefunden, daß Crane an dem Tag die Straße entlanggeritten war, als man die Leichen fand. Sie war an den Ort des Gemetzels zurückgekehrt und hatte im weichen Boden den Abdruck eines der mißgebildeten Füße des Zwerges gefunden. Darüber zeichneten sich die Abdrücke der üblichen spitz zulaufenden Militärstiefel ab. Allem Anschein nach mußte Crane von zwei Fahnenflüchtigen angegriffen und von ihnen zur Lichtung geschleppt worden sein, wo die restlichen drei Männer warteten. Dann hatte Crane etwas getan, das die fünf skrupellosen Banditen in blutige Fleischhaufen verwandelt hatte. Aber wenn er mit Magie umgehen konnte, warum brauchte er dann jemanden wie sie, um die Wagen zu bewachen?
Crane trat aus dem Brunnenhaus heraus und blickte sich mit schnellen, vogelähnlichen Bewegungen um. Dolena ließ sich von den Schatten verschlucken, aber Crane wandte sich ihr zu, sah sie mit dem heilen, glänzenden Auge an, und so etwas wie ein Lächeln glitt über seine Lippen. Mit einer schnellen Handbewegung winkte er sie zu sich. »Bist du mit diesem Platz einverstanden?« »Er wird keinem entschlossenen Angriff einer Gruppe Bewaffneter standhalten, aber gegen Wölfe oder Banditen sind wir geschützt.« »Viel mehr, viel Ärgeres lebt in diesen Wäldern«, sagte Crane leise. Er verschwand im Inneren des Brunnenhauses, und Dolena zögerte an der Türschwelle, denn sie wollte erst hineingehen, wenn sich ihre Augen an die Düsternis gewöhnt hatten. Sie erriet den Standort des Zwerges am Klang seiner Stimme. »Ich habe Dinge gesehen, die dir das Blut in den Adern gefrieren lassen würden.« »Zweifellos«, meinte sie trocken. Crane kicherte leise. »Ahhh, ich vergesse wieder einmal, daß du Dolena bist... die einst, wie ich hörte, die Unbarmherzige genannt wurde. Im tiefen Süden gebrauchen sie deinen Namen wie einen Fluch; an verschiedenen Orten bedeutet dolen oder dolena inzwischen soviel wie ›plötzlicher, gewaltsamer Tod‹.«
»Diese Tage sind vorbei«, blaffte die Frau. Dann senkte sie die Stimme, da ihr Ton laut genug gewesen war, um Aufmerksamkeit zu erregen. Brons stand neben den Wagen und beobachtete sie aufmerksam. »Längst vorbei.« Eine Hand berührte den Gürtel, lag dicht neben dem Dolchgriff. »Es wäre mir lieb, wenn diese Dinge nicht weitergetragen würden.« »Es geht mich sowieso nichts an.« Crane sank zu Boden; sein Rücken berührte die kalte Steinwand; er streckte die Beine aus. Dabei mußte er sein steifes Knie mit beiden Händen richten. »Verzeih mir. Meine Leute halten zusammen, wir tratschen und sind mit einem guten Gedächtnis belastet. Und wenn wir mal keine Handelsware haben, dann tauschen wir eben Neuigkeiten aus. Aber hier weiß niemand etwas über deine Vergangenheit; darauf gebe ich dir mein Wort.« »Dann ist es ja gut.« Dolenas Hand rutschte zur Seite. »Ich ritt an der Seite Thorkings von den Hochebenen in den Kampf. Er war einer der Kommandeure, dem ich bedingungslos vertraute. Sein Wort war Gesetz.« »Er war ein Verwandter der Familie des Gemahls meiner Schwester«, sagte Crane gedankenverloren. »Er fiel an der Brücke zur Furt.« »Ich war bei ihm. Ich gehörte zu den
Glücklicheren.« »Hast du eine Ahnung, was es gewesen sein könnte, vorhin, unten im Tal?« fragte Crane, nachdem sie lange Zeit geschwiegen hatten. Sein Kopf war abgewandt, es schien, als blickte er in die andere Richtung, aber trotzdem war sein Auge auf Dolenas Gesicht gerichtet. »Nein.« »Aber es hat dich beunruhigt.« »Ja.« »Und nun willst du danach suchen?« »Dann könnte ich besser schlafen.« »Könnte Sonnenlicht gewesen sein, das sich in einer Pfütze spiegelte... oder Kieselerde auf einem Felsstück... die Rinde eines Baumes im Sonnenlicht.« »Ich kenne die Unterschiede«, erwiderte Dolena schnell. »Es fühlte sich anders an.« Sie spähte zu Crane hinüber. Er saß zurückgelehnt im Schatten, und es fiel ihr schwer, die Umrisse seiner Gestalt auszumachen. »Eine Ausrede«, sagte er endlich. »Gib zu, du bist einfach neugierig.« »Ich gebe zu, daß ich Angst habe. Aber ich würde meine Pflicht verletzen, wenn ich nicht nachforschen würde.« »Deine Pflicht ist es, diesen Wagenzug zu schützen.« »Warum?« fragte sie geradeheraus. Auf den
Fersen hockend starrte sie den Zwerg unverwandt an. »Warum brauchst du diesmal eine Wächterin? Du hast bisher nie Wachen benötigt. Und ich weiß, daß du gut auf dich aufpassen kannst.« »Du fragst zuviel«, grummelte Crane. »Es hält mich am Leben. Also frage ich dich noch einmal: Warum benötigst du Wachen?« Brons bewegte sich langsam durch die eingestürzten, zerfallenen Gebäude, entfernte sich allmählich von den anderen Kutschern, prägte sich die Positionen von Dolenas Wachen ein und arbeitete sich zum verfallenen Lagerhaus auf der Rückseite der Brunnenhütte vor. Ein schneller Blick über die Schulter zeigte ihm, daß er nicht beobachtet wurde. Dann duckte er sich an der Mauer, die grobknochige Hand umklammerte das Messer, so daß es nicht über die Steine kratzen konnte. Die Stimmen des Zwerges und der Kriegerin hallten vom Mauerwerk wider. Die dünnen Lippen des Kutschers entblößten fleckige Zahnreihen. Seit seiner Jugend führte er Wagenzüge durch diese Berge; sein Vater hatte ihm diesen Ort gezeigt und auf die akustischen Möglichkeiten der Mauern hingewiesen. Brons war durch das Belauschen einiger wohlhabender Reisender reich geworden: der geflüsterte Aufbewahrungsort des Geldes, gemurmelte
Handels- und Militärgeheimnisse, gekicherte, indiskrete Offenbarungen. Auch Brons hatte die Siegel an den Taschen bemerkt, die Crane niemals aus der Hand gab, und natürlich die ungewöhnliche Gegenwart der bewaffneten Wachen. Was immer der Zwerg hütete: es mußte außergewöhnlich kostbar sein. Und Brons wollte es haben. Er lag lang ausgestreckt auf den trockenen, staubigen Steinen, drückte das Gesicht gegen den Fels und lauschte. »Hast du gemerkt, daß die Erde neulich gebebt hat?« Die Stimme des Zwerges war leise, klang noch schnarrender durch die Steine. »Ich habe Geschichten über Erdbeben und Ausbrüche in den hochgelegenen Bergen und Tälern gehört. Soviel ich weiß, soll es an ungewöhnlichen Konstellationen der Monde und Planeten liegen.« »Vielleicht. An einigen Stellen sind Berge geborsten, Schluchten haben sich wie Wunden in die uralten Steine gegraben, Täler verschwanden, sogar ganze Ortschaften - ausgelöscht, als hätte es sie nie gegeben.« »Ich verstehe es nicht...« Dolenas Stimme klang rauh, männlich, überheblich. Wenn die rechte Zeit gekommen war, würde Brons sie töten. »Neue Geschöpfe bevölkern das Hochland.
Einige ähneln den Fabel- und Märchenwesen, aber andere... wer weiß, was aus dem Herz eines gespaltenen Berges kriecht? Wer weiß, was da erwacht ist? Deshalb habe ich Wachen angeheuert. Ich trage lebensnotwendige Salze und Mineralien für das Überleben meiner Sippe bei mir. Die Fracht muß dort ankommen.« Brons kniff die Augen zusammen und biß sich ins Innere seiner Wange, um nicht aufzuschreien. Ausgerechnet er mußte im Hochland landen, das anscheinend nur so von Ungeheuern wimmelte. »Willst du immer noch in das Tal, um das Licht im Wald zu erforschen?« »Nach allem, was du mir erzählt hast, habe ich noch weniger die Wahl als zuvor.« Dolena trug ihre abgewetzte Lederkleidung, hatte sich aber Gesicht und Hände mit nassem Ruß geschwärzt, als sie kurz nach Einbruch der Nacht das Lager verließ. Sie hatte sich für den Fußmarsch entschieden; ein Ritt durch den nächtlichen Wald wäre einem Selbstmord gleichgekommen. Von einem Inselvolk des Westens wußte sie, daß man dort Verbrecher an ein festes Gestell auf den Rücken eines Ochsen band und das Tier anschließend in den Wald jagte. Wenn die Opfer den wilden Ritt überlebten, ließ man sie frei. Aber weniger als einer von zwanzig blieben am Leben; der Rest
wurde von tiefhängenden Ästen aufgespießt und zerrissen. Die Dame Mond stand hoch am Nachthimmel, tauchte den Wald in Licht und Schatten und erleichterte ihr so das Vorankommen. Zweimal hielt sie inne: Einmal brach etwas, das verdächtig nach Wildschwein roch, auf ihrer Linken durchs Unterholz, und beim zweiten Mal glitt eine schwach glänzende Nachtschlange träge über den Pfad. Sie hob den flachen Kopf und starrte Dolena aus milchig-gelben Augen an, bevor sie ihren Weg fortsetzte, und die Kriegerin erhaschte einen Blick auf den sich deutlich abzeichnenden Umriß eines kleinen Baumfuchses, der in der Kehle des Reptils steckte. Dolena steckte den Dolch zurück in die Scheide und schlich weiter. Es war beinahe Mitternacht, als sie den ersten Lichtschimmer erkennen konnte. Dolena hielt inne, trat in den Schatten und blickte bewußt vom Licht weg. Sie versuchte, die Höhe der Dame am Himmel abzuschätzen und zu berechnen, wie und wo diese ihre Schatten werfen würde. Als sie sich umwandte, war das Licht noch immer zu sehen. Sie fühlte nach den Messern, die sie an den Unterarmen befestigt hatte, lockerte das Schwert am Gürtel, verließ den schützenden Schatten und schlich auf das Licht zu. Zuerst nahm sie die ranzige, süßliche
Ausdünstung eines Werwolfs wahr. Ein paar Schritte weiter wehte der unverwechselbare Orkgestank heran, gefolgt vom bittersüßen Geruch eines weiblichen Zentaurs. Seitdem ihre Sehfähigkeit nachgelassen hatte, verließ sie sich mehr und mehr auf die anderen Sinne, insbesondere auf ihren schon immer ausgeprägten Geruchssinn. Hier gab es auch noch andere Gerüche: Einige waren verwickelt und nicht zu erkennen, andere tot und modrig, wie von Zombies oder Dullahanen. Einmal blieb sie stehen und fuhr mit der Hand über den Boden; Hufe, Pfoten und Fußabdrücke hatten sich eingegraben... und alle führten in eine Richtung. Niemand war zurückgekehrt. Mit heftig klopfendem Herzen und zusammengezogenem Magen schritt Dolena weiter. Ihre Nerven vibrierten, und sie wischte sich die schweißnassen Handflächen an den Hosenbeinen ab. Das Licht war stärker geworden, obwohl seine Quelle noch unsichtbar war - verdeckt von einer schwarz umrandeten Erhebung weiter vor ihr. Der weiß-gelbe Lichtschein bahnte sich einen Weg durch die Bäume und den knöchelhohen, alabasterfarbenen Bodennebel, der sich wie ein Reptil über die Baumwurzeln wand und schlängelte. Sie zog das kurze Schwert, ließ sich zu Boden gleiten und kroch gewandt durch den eisigen,
aufgewühlten Schlamm auf die Anhöhe zu. Es war verhältnismäßig einfach, die Spur der Frau zu verfolgen. Und die wenigen Male, als er die Fährte verlor, ging Brons weiter in die Richtung des Lichtscheins, bis er ihre Spuren erneut entdeckte. Wie die meisten Fuhrleute, konnte auch Brons Fährten lesen, Tiere und andere Wesen anhand ihrer Spuren bestimmen, und aus der Festigkeit und Tiefe des Eindrucks abschätzen wie alt dieser war. Als er die anderen Spuren entdeckte, blieb er stehen. Tiere, seltsame Wesen und Werwölfe waren diesem Pfad gefolgt. Die meisten Abdrücke waren mehrere Tage alt, nur die eines Werwolfes schien frischer, anscheinend vom selben Tag. Brons richtete sich auf, zog den mit Dornen gespickten Flegel und wich zurück. Er wollte mit keiner Kreatur, die hier entlanggekommen war, zusammentreffen. Einzeln waren sie gefährlich, zusammen waren sie tödlich. Er hatte überlebt, weil er immer vorsichtig gewesen war - manche würden behaupten: feige, aber die Leute waren lange tot. Sollten die Waldwesen die Frau als Festschmaus haben. Gerade als er sich zum Gehen wandte, traf ihn ein glänzender Lichtstrahl. Bevor er verblaßte, färbte er sich gelb, wie poliertes Gold. Brons' Gier trieb ihn voran.
Es sah aus wie Stein. Lang wie ein Speer, dick wie ein menschlicher Körper, mit abgerundeter Spitze: In den weißen Stein waren Symbole und ineinander verschlungene Linien eingemeißelt die sie an die uralten Inschriften erinnerten, die sie in einigen der Inseltempel gesehen hatte. Zwar hatte der Stein die Farbe von Kalk, war aber mit grünen, goldenen, schwarzen und roten Adern durchzogen. Und dies war in Wirklichkeit kein Stein. Es pulsierte und pochte in sanftem weißem Licht, das hin und wieder von weiß-gelben Strahlen durchbrochen wurde - Strahlen, die wie aus Gold gewirkt und dann wieder grellweiß gefärbt wie Perlen schienen. Das Licht verschmolz mit dem Nebel, und zeitweise sah es aus, als würde es über den Waldboden rollen. Dolena spürte die wärmende Kraft des Steins, der keiner war, wie eine Horde wandernder Insekten über ihre Haut gleiten. Ihr kurzgeschnittenes Haar knisterte förmlich, die metallene Gürtelschnalle sprühte Funken und tanzte anschließend als blauweißes Flämmchen über die Schwertklinge. Dies mußte Mana sein. Sie war nicht sicher, ob es sich um einen riesigen Block festen Manas handelte oder aber um ein Artefakt, das von ungeheuren Mächten durchdrungen war.
Der Boden um das Artefakt herum war rissig und geborsten, die Erde gespalten und aufgerissen; die Spitze des Steins war mit Erde bedeckt, breite Lehmstreifen zogen sich über die ganze Länge. Offensichtlich war er durch die jüngsten Erdbeben aus einer unterirdischen Kammer an die Erdoberfläche gedrückt worden. Dolena trat unbewußt einen Schritt nach vorn. Dies war Mana. Unbeschreiblicher, unglaublicher Reichtum und unvorstellbare Macht. Es pulsierte jetzt grün, der Nebel nahm eine smaragdfarbene Tönung an. Nun wand er sich um ihre Füße herum, und sie fühlte die Schmerzen und Narben alter Wunden vergehen. Jetzt strahlte der Stein in beruhigendem Blau, der Nebel bekam die Farbe eines Saphirs und streichelte ihr die Füße und Beine. Dolenas Schwert fiel aus den gefühllosen Fingern, als sie sich auf den Boden hockte, die Hände in den Nebel tauchte und sich dann mit den feuchten Handflächen über das Gesicht rieb. Die vernarbte Haut auf der Stirn kribbelte und juckte, aber als sie mit den Fingern erneut darüberfuhr, war sie glatt und weich. Blinzelnd vertrieb sie die Tränen aus den Augenwinkeln und stellte plötzlich fest, daß die Nacht heller und klarer geworden war, die Umrisse des Steins deutlicher zu sehen waren und sie jedes Symbol klar erkennen konnte. Sie war geheilt worden - die alten Wunden und
Schmerzen, die Narben und die nachlassende Sehkraft. Auf Händen und Füßen kroch Dolena auf den Stein zu. Der dornengespickte Flegel traf sie zwischen den Schultern, zerschmetterte Knochen, krachte auf ihren Schädel und warf sie mit dem Gesicht in den Schlamm. Brons stieg über den Körper der Frau. Der Stein des Mana. Der Stein der Götter. Brons erkannte ihn sofort. Eine der Legenden, die wieder und wieder die Runde an den Lagerfeuern machten, beschrieb ihn genau. Aber bisher hatte Brons das abgetan wie die Geschichten über die verlorenen Städte, das Mondvolk und die verschwundenen Inseln. Aber das hier war keine Legende. Dies war Wirklichkeit. Der Fuhrmann spürte, wie die uralte Kraft seine Haut überflutete und den Schmerz der verspannten Muskeln und ausgerenkten Schultern mit sich nahm, die der Fluch im Leben jedes Fuhrmannes waren. Sein Schädel juckte unbeschreiblich, und als er mit der Hand darüberfuhr, fühlte er unter seinen Fingers das borstige Haar, das er schon in der Jugend verloren hatte. Er trat näher. Die Gesichtshaut spannte sich, Muskeln wölbten sich unter der Haut, und als er Stirn und Wangen
berührte, waren die Falten und Linien um den Mund und die Augen herum nicht mehr da. Der Stein des Mana. Der Legende nach reichte es aus, sich nur in seiner Gegenwart zu befinden, damit einem alle Herzenswünsche erfüllt werden. Brons ließ den Flegel fallen und ging direkt auf den Stein zu. Eigentlich hätte sie Schmerzen haben müssen. Dolena war schon oft verwundet worden. Sie kannte den schrecklichen Schmerz einer Verletzung, das scharfe Knacken gebrochener Knochen, die eisige Hitze offener Wunden. Der Fuhrmann hatte sie von hinten mit seiner Waffe getroffen. Sie wußte, daß ihr Schädel gespalten war - sie hatte das Knacken der Knochen gehört , und ein seltsames Gefühl in den Beinen ließ sie vermuten, daß auch die Wirbelsäule beschädigt war. Aber sie fühlte keinen Schmerz. War dies der Tod: Kein Schmerz, nur eine angenehme Wärme, die über die Haut strich und sich sanft in den Muskeln niederließ? Grüner und blauer Nebel wirbelte über ihr, einzelne bunte Tröpfchen lagen wie winzige Juwelen auf ihrer Haut. Sie beobachtete, wie der schwarze Daumennagel sich aufrollte und abfiel; vor ihren Augen formte sich ein neuer Nagel - durchsichtig
und vollendet. Sie spürte keine Schmerzen. Dolena hob den Kopf, und die frisch verheilten Knochen und Muskeln fügten sich mit Leichtigkeit zusammen. Die Berührung des Steins, nur eine Berührung, würde ausreichen, um ihm alles zu gewähren, was er jemals begehrt hatte. Eine einzige Berührung des Steins würde ihm Macht verschaffen, unvorstellbare Macht. Er würde mächtiger als jeder Weltenwanderer sein, der mächtigste Mann aller Welten. Brons streckte die Hand aus und berührte den Stein. Kraft - kalte, eisige Kraft - fuhr in seinen Körper. Das Gewicht seiner vierundvierzig Jahre fiel von ihm ab, und er war plötzlich wieder jung; jung, stark und vital. Er fuhr sich mit den Händen durch das dichte Haar, das den Schädel bedeckte, riß die Arme zum Himmel empor und schrie seinen Triumph laut heraus. Dolena kam gerade unsicher wieder auf die Beine, als Brons nach dem Stein griff. Aus den Augenwinkeln erblickte er sie, wandte den Kopf und schenkte ihr ein wildes Lachen. Dann umarmte er den Stein wie eine Geliebte.
Dolena sah, wie das Mana durch den Körper des Mannes floß: weiß und rot, grün und golden. Sie sah seine Muskeln hervortreten, das Haar sich gleich einer Schlange auf seinem Schädel winden und Büschel schwarzer Haare auf seiner Brust sprießen. Brons wandte den Kopf ab und spuckte aus: Die gelblichen Zähne wurden vom Nebel verschlungen, aber als er den Kopf hob und sie anknurrte, war sein Gebiß vollständig und makellos. Der Stein hatte ihn wieder jung gemacht. »Fürchte mich!« donnerte Brons mit kraftvoller, befehlender Stimme. »Fürchte mich!« Er drückte die Lippen auf den Stein und sog den Geruch in sich auf. Der Stein hatte ihn jung gemacht... und verjüngte ihn noch immer. Aus dem gesetzten Mann mittleren Alters war innerhalb von Sekunden ein Mann auf der Höhe des Lebens geworden, aber in noch kürzerer Zeit wurde daraus ein unreifer Junge, ein Kind und schließlich ein Säugling. Als Dolena neben dem Stein angelangt war, schrumpfte das am Boden liegende Kind an, wurde weniger, verlor seine menschlichen Konturen, verlor seine Körperlichkeit. Sie kniff die Augenlider fest zusammen... und als sie sie öffnete, war Brons verschwunden. Jetzt wußte Dolena, weshalb keine Spuren
vom Stein zurückgeführt hatten. Ohne einen Blick zurück zu werfen, wandte sie sich um und ging den Pfad entlang, sich an ihrer neugefundenen Jugend und Sehkraft erfreuend. »Was hast du im Wald gefunden?« fragte Crane neugierig, als sie am nächsten Morgen das Lager abbrachen. »Nichts«, erwiderte Dolena knapp. »Ganz bestimmt einiges mehr als ›nichts‹.« Der Zwerg betrachte unverhohlen ihre glatte Stirn, die jugendliche Frische ihrer Wangen und das Funkeln der Augen. »Nichts, vor dem man sich fürchten muß«, lächelte Dolena. DAVID M. HONIGSBERG
Dochyels Schlittenfahrt Als ich vierzehn Jahre alt war, veränderte sich mein Leben von Grund auf. Ich spielte ›Überfall auf das Dorf‹ mit meinen Freunden am Fuß der Berge. Gerade war die Reihe an mir, Pashalik Mons, unseren Helden, zu spielen. Drei andere waren meine Gefährten, und die restlichen zehn spielten die Dorfbewohner,
die unsere Angriffe abzuwehren versuchten. Wie immer gewannen die Goblin-Räuber, und wir strebten den Berg hinauf, auf dem Heimweg zum Zugang zu den Höhlen. Da geschah es. Fast hatten wir den Höhleneingang erreicht, als meine Mutter Carnach herausgerannt kam. »Aus dem Weg, Dochyel!« schrie sie mir zu. »Schnell, aus dem Weg!« Wir hörten ein schabendes Geräusch, Stein auf Stein. Thurka, einer meiner Freunde, rannte nach links. Wir anderen folgten ihm auf dem Fuße. Als wir die Sicherheit einer Felsnase erreicht hatten, schauten wir nach oben, um die Ursache des Geräusches zu entdecken. In dem Augenblick kam die Spitze eines Steinschlittens in Sicht. Innerhalb von Sekunden flitzte er an uns vorbei, der Fahrer lenkte ihn durch das Verlagern des Körpergewichtes geschickt um alle Hindernisse herum. Ich blickte dem Schlitten nach, bis er hinter einer Kurve verschwand und nicht mehr zu sehen war. Erst dann schaute ich wieder zum Höhleneingang. Dort stand die grüne, schlanke, doch muskulöse Gestalt meiner Mutter. Sie sah zu meinen Freunden und mir herunter, ein breites Grinsen lag auf ihrem Gesicht. »Hat euch gefallen, was ihr gerade gesehen habt, Jungs?«
Wir alle ruckten aufgeregt kletterten auf den Pfad zurück und rannten zum Höhleneingang. Vertraute Gerüche umgaben mich, Zeugen jahrhundertelangen Bewohnens, und teilten mir mit, daß ich daheim war. Als ich an ihr vorbeiging, schlug mir Mutter auf die Schultern. »Schon bald mußt du dich entscheiden«, ermahnte sie mich, »welchen Streitkräften du dich anschließen willst. Ich will ehrlich mit dir sein, Dochyel. Wenn du mir sagen würdest, daß du Schlittenfahrer wirst, wäre ich sehr stolz auf dich.« »Wirklich?« fragte ich mit verblüfftem Gesichtsausdruck. Ich hatte mir noch keine Gedanken über die Jahre meines Militärdienstes gemacht, und Mutter hatte nie zuvor darüber gesprochen. »Ganz bestimmt«, antwortete sie ernst. »Ein paar Goblins halten das Schlittenfahren für keine so ehrenhafte Aufgabe wie die eines Fußsoldaten, der die Dörfer überfällt, aber der Meinung bin ich nie gewesen. Es gehört schon einiges dazu, um einen Schlitten steuern zu können.« »Klar«, mischte Thurka sich ein, »vor allem gehört ein völlig verrückter Goblin dazu!« Ich schubste ihn gegen die Wand und bleckte die Zähne. »Ich bin nicht verrückt«, knurrte ich, »und ich werde der beste Schlittenfahrer sein,
den es je gegeben hat!« Von dem Augenblick an träumte ich nur noch von Steinschlitten. Manchmal wachte ich lange vor Morgengrauen auf, umgeben von der dunklen Behaglichkeit der Höhlen. Dann fühlten sich meine Muskeln steif und wund an, als hätte ich sie wieder und wieder angespannt, um einen Felsbrocken zu umfahren oder den Pfeilen der Dorfwachen auszuweichen. Zusammen mit meiner Mutter begann ich, Strategien zu erlernen und mir die Bodenbeschaffenheit vor jedem Höhleneingang einzuprägen. Ich lauschte den Alten, wenn sie von längst vergangenen Schlachten sprachen, in denen die Schlitten eine wichtige Rolle gespielt hatten. Ich lebte und atmete buchstäblich nur noch Steinschlitten. Zusätzlich verbrachte ich viel Zeit damit, mich mit den Meistern der Überlieferungen zu unterhalten. Von ihnen erfuhr ich, daß die Rundveltgoblins der einzige Stamm waren, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die alten Künste über Generationen hinweg zu lehren. Also waren wir der einzige Stamm, der Steinschlitten benutzte, und auch der einzige, der das Handwerk der Kriegstrommler aufrechtgehalten hatte. Diese Mitteilungen überraschten mich zutiefst. Obwohl ich noch nie Goblins anderer Stämme getroffen hatte, hatte ich doch immer geglaubt, daß bei allen Schlitten
und Trommeln zur Kriegsführung gehörten. Bei dem Gedanken, daß die Rundveltgoblins sich von denen unterschieden, die durch eigene Dummheit zu wenig mehr als stümperhaften Trotteln geworden waren, wallte Stolz in mir auf. Zuerst glaubten meine Freunde, daß ich nur eine seltsame Phase durchlief und mich schon bald wieder zu ihnen gesellen würde. Aber als die Wochen zu Monaten wurden, war meine Entscheidung gefallen: Es war mir wichtiger zu lernen, was ein Schlittenfahrer wissen muß, als weiterhin Räuber zu spielen. Langsam wandten sich Thurka und die anderen von mir ab, bis ich irgendwann nur noch einen einzigen Freund hatte: Orshk, meinen zahmen Steindachs. Zusammengerollt lag er neben mir im Schatten der Felsen, und sein Körper bedeutete die greifbare Gegenwart, während meine Tagträume sich damit beschäftigten, was mich in der Akademie erwarten würde. Als ich sechzehn Jahre alt wurde, kannte ich sämtliche Geschichten, die sich mit dieser erstaunlichen Kriegstaktik befaßten. Die Namen aller berühmten Schlittenfahrer waren mir geläufig, und ich konnte ihre Heldentaten auswendig wiedergeben. Jetzt wußte ich nicht mehr, weshalb ich Pashalik Mons so bewundert hatte. Schließlich hatte das Schlittenkorps Lücken in die feindliche Verteidigungslinie
geschlagen, und nur deshalb war es ihm möglich geworden, seine legendären Heldentaten zu begehen. Dreißig Tage nach meinem Geburtstag war die Zeit gekommen, daß ich meine Entscheidung bekanntgeben mußte. Ich teilte meiner Mutter mit, daß ich noch immer gedachte, der beste Schlittenfahrer aller Zeiten zu werden. Meine Eltern strahlten förmlich an dem Tag, als ich zur Schlittenschule ging; der smaragdene Glanz auf ihren Gesichtern spiegelte deutlich ihre Hoffnung wider, daß meine Zukunft beim Schlittenkorps lag und ich den Rundveltgoblins neuen Ruhm bescheren würde. Dazu kam noch, daß ich aufgrund der wichtigen Rolle, die meine Mutter beim Schlittentestprogramm spielte, die Erlaubnis bekam, Orshk mit zur Akademie zu nehmen. Mein Steindachs, der die Angewohnheit hatte, mit seinen kleinen, scharfen Zähnen an Fingern zu knabbern, und der gern Unsinn veranstaltete, wurde in kürzester Zeit zum Maskottchen meiner Klasse. Schnell lernte er die Aufmerksamkeit, die ihm durch relativ fremde Hände zuteil wurde, hinzunehmen, und nach ein paar Tagen gefiel ihm sogar die tägliche Fellpflege. Die größte Überraschung an der Akademie bereitete mir die Erkenntnis, daß nicht alle Kadetten meine grenzenlose Begeisterung fürs
Schlittenfahren teilten. Für viele von ihnen stellte das Schlittenkorps nur die zweite Wahl dar, nachdem sie von den Überfallkorps nicht angenommen worden waren, weil sie nicht gut zu Fuß waren. Sie schienen sich kein bißchen aus den Sagen und Legenden zu machen, die das Korps für mich so interessant und wichtig machten, und als man sie lehrte, daß die Schlittenfahrer am Erfolg der Räuber einen wesentlichen Anteil hatten, wurden sie wütend. Was mich betraf, so bot die Akademie alles, was ich erwartet hatte, und ich vertiefte mich mit Hingabe in mein Studium. Eines Tages, während des Taktik-Unterrichtes, wurde offenbar, wie sehr ich mich von den abgelehnten Räubern unterschied, mit denen ich die Unterkunft teilte. Wie gewöhnlich saß ich in der ersten Reihe, um kein Wort der Weisheiten, die unser Lehrer aussprach, zu verpassen. An diesem Tag hatte Kovar, der Pashalik, der uns gerade unterrichtete, besondere Betonung auf die Philosophie im Hintergrund der Überfälle gelegt. »Vergeßt nie«, sprach er, »daß wir rauben, wenn wir Werkzeug, Nahrung oder Handelsware brauchen.« Sein linker Arm baumelte kraftlos an seiner Seite - die Folge einer Verletzung, die er vor Jahren während eines Überfalls erlitten hatte. »Wir morden nur, wenn es unumgänglich ist. Wann könnte das
sein?« Ich erhob mich. »Wir töten nur, wenn wir bedroht werden, Pashalik Kovar.« »Warum könnte ein Mord sonst noch notwendig sein?« Ich dachte einen Augenblick nach, war unsicher, wie ich fortfahren sollte. »Um die Dorfbewohner in Angst zu versetzen?« »Genau«, stimmte er zu und wandte sich an den Rest der Klasse. »Wir dürfen nie zulassen, daß sich Dorfbewohner uns überlegen fühlen. Sie sollen uns fürchten. Natürlich werden sie sich verteidigen, auch werden sie ihre Erfahrungen mit anderen Dörfern austauschen. Aber Terror nützt uns, denn sie werden niemals wissen, wann wir zurückkommen. Im Rundveltgebiet gibt es mehr als dreißig Dörfer. In keinem Jahr überfallen wir mehr als fünf. Es gibt keine Regelmäßigkeit bei unseren Angriffen. Wir lassen sie immer im Ungewissen.« Kovars Aufmerksamkeit richtete sich erneut auf mich. »Dochyel, komm her«, befahl er. Ich gehorchte, und Kovar drehte mich mit dem Gesicht zur Klasse. Mit freundlicher Geste legte er mir die gesunde Hand auf die Schulter und sprach zu den anderen Kadetten. »Dochyel ist mit Abstand der eifrigste Kadett, den ich seit Jahren erlebt habe«, teilte er meinen Mitschülern mit. »Und das ist nicht nur mir
aufgefallen. Er versteht mehr von der Schlittentaktik als mancher Offizier. Die Geschichte kennt er fast genauso gut wie die Historiker, und sein Ehrgeiz, der Beste zu sein, wird ihm später gut zupaß kommen. So wie er sollte jeder junge Schlittenfahrer sein. Ihr anderen solltet versuchen, es ihm gleichzutun, wenn ihr euch hier bewähren wollt. Von euch allen ist er es, der den Leistungspegel festlegt. Ihr könnt gehen.« Die Worte Pashalik Kovars freuten mich sehr, riefen bei meinen Kameraden jedoch eine völlig andere Wirkung hervor. Später, am Abend, wollte niemand beim Essen neben mir sitzen. Auch sprach niemand mit mir. Am nächsten Morgen aß ich erneut allein und wurde nur angesprochen, wenn es unbedingt notwendig war. Ansonsten wurde ich gemieden. Meine Klassenkameraden hörten sogar auf, Orshk zu bürsten, denn dann hätten sie mit mir reden müssen. Nach ein paar Tagen mußte ich mir eingestehen, daß ich - egal wie ungewöhnlich groß meine Kenntnisse von Steinschlitten für einen so jungen Goblin auch sein mochten keine große Lust hatte, ständig allein zu sein hatte. Also half ich den wenigen, die noch einigermaßen freundlich zu mir waren, ihre Aufgaben besser zu begreifen. So stiegen auch sie bald im Ansehen unserer Lehrmeister.
Andere Kadetten wollten sich ebenfalls verbessern, brachen das Schweigen, und sogar Orshks Fellpflege wurde wieder aufgenommen. Gleichzeitig bemühte ich mich, genau wie irgendein anderer junger Schlittenfahrer zu sein. Das bedeutete nicht, daß ich weniger Interesse hatte, aber ich hielt mich mehr oder weniger zurück. Es dauerte eine Weile, aber bald machte sich meine Hilfsbereitschaft und das, was die anderen als Zugänglichkeit sahen, bezahlt, und ich war in der Lage, den in den Unterkünften aufgekommenen Neid in echte Freundschaft umzuwandeln. Dank dieser Freundschaft fand ich im Feuerschein der Plebeshöhle eine Kameradschaft, wie ich sie nie zuvor gekannt hatte. In vielen Nächten sanken meine Freunde und ich von dumpfen Klängen begleitet in den Schlaf, während die Kriegstrommler sich in ihrer Kunst übten. Die Tage unserer Ausbildung waren hart und lang, wollten kein Ende nehmen. Nichts wurde ausgelassen. Dinge, von denen ich in der Vergangenheit die Fahrer hatte sprechen hören, lernte ich nun von der Pike auf. Wir benutzten alte, angeschlagene Übungsschlitten, um Erfahrungen mit den feinen und nicht so feinen Körperbewegungen zu machen, die notwendig waren, um einen schweren Steinschlitten um kleine und große Hindernisse zu lenken. Die
Grundbegriffe der Schlittenreparatur wurden uns anhand von Konstruktionen durch Meister ihres Fachs nahe gebracht. Die Lehrer wiesen eindringlich darauf hin, daß wir in keinem Fall an unseren Schlitten hängen durften. Viele wurden nur für einen einzigen Überfall benutzt, da es fast unmöglich war, sie wieder zu den Höhlen hinaufzuschaffen. Im Notfall war es ausgesprochen wichtig, den Schlitten zu zerstören. Dadurch war es den Dorfbewohnern nicht möglich, eine erfolgreichere Verteidigungskonstruktion zu errichten, und sie blieben bei den üblicherweise angewandten Mauern und Pfeilen. Allerdings hätten mich auch die ausführlichsten Übungen nicht richtig auf den Tag vorbereiten können, den ich mit wachsender Spannung und Aufregung erwartete - den Tag, an dem ich meine erste Talfahrt in einem richtigen Steinschlitten machen würde. Während all meiner Studien, all der taktischen Wiederholungen, der vielen Stunden, in denen ich Geschichten von vergangenem Ruhm vernahm, hatte mir meine Mutter nie mehr gestattet, als nur in einem der Schlitten zu sitzen, die zum Üben bereitstanden. Nun bot sich mir die Gelegenheit herauszufinden, ob ich tatsächlich das Zeug zu einem legendären Fahrer hatte.
Ich hielt den Atem an, als der Schlitten Stück für Stück aus dem Höhleneingang geschoben wurde. Als wenig mehr als die Hälfte über den steil abfallenden Boden hinausragte, tauchte mein Gefährt in die Tiefe, und meine Abfahrt begann. Der Schlitten gewann an Geschwindigkeit, und die ersten Kurven kamen in Sicht. Instinktiv lehnte ich mich zurück und war überrascht, wie schnell er reagierte. Ich freute mich so über den Erfolg meiner ersten gemeisterten Kurve, daß ich beinahe die zweite verpaßt hätte. Daraufhin verscheuchte ich alle ablenkenden Gedanken aus dem Kopf. Später blieb mir genug Zeit zur Freude über diese Fahrt. Zuerst einmal mußte ich heil unten ankommen. Der Schlitten wurde schneller. Mir klapperten die Zähne, und ich mußte die Kiefer zusammenpressen, um sie ruhigzuhalten. Allerdings gelang es mir nicht, das Rütteln des Schlittens abzustellen, welches mich alles doppelt sehen ließ. Jetzt erkannte ich, weshalb der Instinkt eine so große Rolle für die Fahrer spielte - je schneller der Schlitten bergab raste, um so schwieriger war es, etwas zu sehen. Fast hätte mich eine Rechtskurve aus der Bahn geworfen, aber ich kam doch noch durch. Die beiden nächsten Linkskurven waren dagegen problemlos. Die Strecke führte nun ein wenig steiler
bergab. Der Schlitten wurde immer schneller und schneller. Ich besann mich auf alles, was ich je gelernt hatte, lehnte mich nach allen Seiten, beugte mich vor und zurück. Das Herz klopfte mir wild in der Brust, und die Sekunden schienen zu Stunden zu werden, während der Schlitten weiter über die Teststrecke glitt. Als die Abfahrt endlich ein Ende hatte, saß ich mit einem breiten Grinsen und völlig außer Atem im Schlitten. Nie zuvor hatte ich etwas so Aufregendes erlebt. Allerdings hatte ich auch bis zu dem Augenblick, als ich an einem unberechenbaren Stück Fels den Berg hinabgestoßen wurde, nicht gewußt, was wahre Furcht ist. Natürlich wollte ich nicht, daß irgend jemand erfuhr, daß von allen Goblins ausgerechnet ich vor Angst fast um den Verstand gekommen war. Also stieg ich aus dem Schlitten, als würde ich bereits seit Jahren Abfahrten wie diese hinter mich bringen. Ein paar meiner Freunde, die vor mir die Talfahrt gemacht hatten, umringten mich und schlugen mir auf den Rücken. Ich war so sehr damit beschäftigt, meine Angst nicht zu zeigen, daß ich ihre beifälligen Äußerungen kaum vernahm. »Tolle Abfahrt!« rief der eine, »Unglaublich!« brüllte ein anderer. »Girga Sul selbst hätte es nicht besser machen können!« schrie der nächste und brachte damit den Namen eines der berühmtesten Schlittenfahrers aller
Zeiten ins Spiel. Sogar mein Lehrer behauptete, er habe noch nie erlebt, daß jemand auf Anhieb so gut mit einem Schlitten umgehen konnte. Danach war mein Aufstieg so gut wie selbstverständlich. Innerhalb von sechs Monaten machte man mich zum Hilfslehrer - nicht allein wegen meiner furchtlosen Fahrweise, sondern hauptsächlich wegen meines großen Fachwissens. Bald teilte man Orshk und mir eine neue Unterkunft in der Offizierskaserne zu; eine äußerst seltene Begünstigung für einen Kadetten. Mein neues Quartier unterschied sich auf höchst erstaunliche Weise von dem, das ich an der Akademie bewohnt hatte. Es war bedeutend sauberer, größer, und vor dem Eingang hing ein dickes Fell. In der Akademie konnte jederzeit irgend jemand unsere Räume betreten, auch ohne Ankündigung. Jetzt mußte mir jeder, der mich zu sprechen wünschte, seinen Namen sagen, bevor ich die Erlaubnis zum Eintreten erteilte. Während meines nächsten Urlaubs beschloß ich, meine Eltern zu besuchen. Als meine Mutter die Offiziersnadel an meiner Tunika erblickte, holten meine Eltern eine Flasche Pag'b hervor. Verglichen damit erschien mir das Zeug, das meine Mitgoblins und ich beim Schlittenkorps tranken, wie Gift. Wir blieben in dieser Nacht noch lange auf, und ich unterhielt Vater und Mutter mit Geschichten über meine Ausbildung.
Am nächsten Tag nahm mich meine Mutter mit, um eine Flotte neuer Schlitten, die gerade geliefert worden waren, in Augenschein zu nehmen, und stellte mich voller Stolz allen dort beschäftigten Goblins vor. Zwei Monate später bestand ich die Abschlußprüfung als Klassenbester und wurde der Schlittengruppe 1 zugeteilt, der die derzeit besten Rundveltfahrer angehörten. Dort konnte ich endlich alles, was ich je gelernt hatte, bei Überfällen auf die Dörfer in die Tat umsetzen. Und dort entdeckte ich auch, wie gering wir von anderen Goblintruppen eingeschätzt wurden. Obwohl die Schlittenfahrer bei jedem Überfall Kopf und Kragen riskierten, beanspruchten die Fußtruppen den ganzen Ruhm und den Hauptanteil der Beute für sich. In ihren Augen waren wir wenig mehr als rasende Rammböcke. Schlimmer noch: Alle Fußsoldaten glaubten anscheinend, daß die Schlittenfahrer völlig verrückt waren - nichts weiter als von sich eingenommene, leichtsinnige Abenteurer. Mir war bewußt, daß diese Beschreibung auf einige Leute unseres Korps paßte, aber der größte Teil der mir bekannten Fahrer war sich durchaus im klaren, daß sie jedes Mal, wenn sie in einen Schlitten stiegen, ihr Leben aufs Spiel setzten. Einige von ihnen hatten sogar Familien und begaben sich niemals unnötig in Gefahr.
Ich würde etwas wirklich Außergewöhnliches tun müssen, um die Einstellung der anderen zum Schlittenkorps zu ändern. Nachts lag ich wach, versuchte etwas Neues auszuknobeln, etwas, das noch nie gemacht worden war, einen neuen Weg zum Einsatz des Korps zu finden. Ich wiederholte im Geiste alles Gelernte und alles, was ich je mitgehört hatte, in der Hoffnung, eine neue Taktik zu entdecken, bei der bisher noch keine Schlitten eingesetzt worden waren. Das Problem bei dieser Angelegenheit war die genau festgelegte Arbeit des Schlittenkorps. Unsere Aufgabe war es, die Verteidigung einer Siedlung durch das Einrammen der Mauern zu durchbrechen. Danach übernahm die Infanterie, strömte durch die von uns geschaffenen Löcher und entriß den verängstigten Dorfbewohnern die Beute. Ich rief mir ins Gedächtnis, was man mir an der Akademie immer wieder gesagt hatte. Seitdem Kovar den Gebrauch eines Arms verloren hatte, war ihm daran gelegen, uns die Gefahren, denen wir bei jedem Überfall ausgesetzt waren, nahezubringen. »Jungs, das Problem dabei ist«, erklärte er uns, »daß ihr immer im Dorf seid, bevor die Infanterie es erreicht. Daran kann man nichts ändern. Sie können schließlich nicht so schnell laufen, wie eure Schlitten fahren. Also seid ihr in
Gefahr, in höchster Gefahr, wenn ihr ein Dorf erreicht habt.« Wir sahen uns an und versuchten, unser Lächeln zu unterdrücken. Immerhin waren wir im Umgang mit Dolchen erprobt und hielten Kovars Warnung für die düsteren Worte eines alten Goblins, der längst zu nichts mehr nütze war. »Wenn ihr durch die Mauern brecht«, fuhr er fort, »kann es passieren, daß ihr benommen seid, vielleicht sogar bewußtlos. Dann könnte euch sogar ein kleines Kind töten. Vergeßt das nie, Jungs.« Ich hatte seine Worte nie vergessen, besonders nachdem ich gesehen hatte, wie einer meiner Freunde umkam, als er durch eine Mauer brach, die dicker als gewöhnlich war. Aber da nur wenige Schlittenfahrer bei Überfällen ums Leben kamen, schien es eigentlich unnötig, irgend etwas zu verändern. Warum eine Sache umgestalten, die anscheinend vorzüglich funktionierte? Und doch war ich der Ansicht, daß es einen Weg geben mußte, durch den die Todesrate der Fahrer gesenkt würde und zur gleichen Zeit die Infanterie dicht hinter den Schlitten ins Dorf kommen konnte. Anfangs fragte ich mich, ob es vorteilhaft wäre, die Anzahl der Schlitten zu verdoppeln. Schnell wurde mir aber klar, daß die Fahrer
dadurch zwar ein geringeres Risiko eingingen, die Schlittenbauer aber unnötig beansprucht würden und vielleicht auch die Zahl der Verletzten steigen würde. Dann erwog ich die Möglichkeit, die Infanterietruppen auf Karren oder besonderen Sitzen aus Häuten hinter den Schlitten den Berg herunterzuziehen. Mir fiel nur nicht ein, wie man diese Goblins vor Verletzungen bewahren sollte, wenn das Fahrzeug umkippen oder gegen einen Felsen prallen würde. Ich ließ die Idee ebenso schnell fallen, wie ich sie aufgegriffen hatte. Mir mußte etwas Besseres einfallen, etwas viel Besseres. Ruhelos wanderte ich durch meine Unterkunft; Orshk sah mich fragend an, seine dunklen Augen glitzerten im Fackelschein, während ich mich bemühte, eine Möglichkeit zu finden, das Ansehen des Korps in den Augen der Goblinführer zu heben. Dann kam mir ein Gedanke, der so simpel war, daß ich mich fragte, wieso niemand vor mir darauf gekommen war. Ich war sicher, daß es eine ganz neue Idee war. In keiner Erzählung war es je erwähnt worden. Auch wenn es mißlungen wäre - ganz besonders wenn es mißlungen wäre -, hätte ich davon gehört. Nein, dies war etwas ganz anderes. Jetzt mußte nur noch der Rat davon überzeugt werden. Und das bedeutete, daß ich vor mein ehemaliges Vorbild,
Pashalik Mons, treten mußte. Ich erklärte Pashalik Arngh, meinem vorgesetzten Offizier, die ganze Angelegenheit, und er hatte genug Vertrauen zu mir, um persönlich ein gutes Wort für mein Vorsprechen einzulegen. Wenn ich es auf eigene Faust versucht hätte, wäre ich sicher gescheitert. Wenngleich der Name meiner Familie bei den Rundvelts Gewicht hatte, verstand ich jedoch nichts vom korrekten Vorgehen in dieser Sache. Als hohem Offizier gelang es Arngh, ein Treffen mit der Gehilfin eines Ratsmitgliedes zu vereinbaren, und diese wiederum erreichte es, daß Arngh vor den Rat treten und die Bitte aussprechen konnte, daß man mir eine Audienz gewähren möge. Ich habe keine Ahnung, was er sagte, aber er schaffte es. Sofort nach der Versammlung kam er zu mir und bereitete mich auf mein Erscheinen vor dem Rat vor. »Du hast nur zehn Minuten«, erklärte er mir. »Wenn du sie dann noch nicht überzeugt hast, gibt es keine Hoffnung mehr. Du mußt auf alle Fragen gefaßt sein, egal wie unwichtig sie dir auch erscheinen mögen.« Ich nickte verstehend. »Du beginnst jetzt mit deiner Rede, und wir sprechen uns in drei Tagen. Du kannst jetzt gehen.« Die nächsten drei Tage verbrachte ich mit
Proben, hoffte, daß ich jede Möglichkeit, jeden Gesichtspunkt und jeden Widerspruch beachtet hatte. Dann meldete ich mich bei Arngh und trug meine Ansprache vor. Er war höchst erfreut und meinte, ich sei nun für die nächste Lektion bereit. »Sieh dir das hier an«, sagte er und reichte mir eine Tafel mit seltsamen Markierungen darauf. »Das ist das Innere des Ratszimmers. Jedes Ratsmitglied wählt einen bestimmten Platz. Ich werde dir beibringen, wer die wichtigsten Leute sind und wen du auf deine Seite bringen mußt, um die Abstimmung in deinem Sinne zu beeinflußen. Leider kann ich dich nicht genau auf die Art der Befragung vorbereiten. Von allen Seiten können Kommentare kommen. Du mußt das Gesicht immer dem Fragenden zuwenden. Dann wirst du merken, ob du dich wirklich gut vorbereitet hast. Deine ganze Sache steht und fällt damit.« Während meiner Schulung wanderte Arngh um mich herum, stieß Fragen hervor und bemühte sich, den Tonfall und die Bewegungen der Ratsmitglieder nachzuahmen. Weder und wieder vertiefte ich mich in die Zeichnung des Ratszimmers, bis ich jeden Goblin auf seinem Sitz vor mir sehen konnte. Als ich dann endlich in den Raum geleitet wurde, war ich aufs beste vorbereitet. In der Mitte des Zimmers brannte ein helles Feuer. Genau wie es die Zeichnung dargestellt
hatte, saßen die Ratsleute an steinernen Tischen, alle von unterschiedlicher Form, die im Raum verteilt standen. Meine Worte richtete ich an die Vorsitzenden, die mir Arngh genannt hatte. »Die Idee ist wirklich einfach«, erklärte ich so betont ruhig und gelassen, wie ich nur konnte. Auch bewegte ich mich fortwährend, um nicht zu lange in der Nähe eines Goblins zu verweilen und so bei den anderen den Eindruck zu erwecken, als schenke ich einem von ihnen mehr Aufmerksamkeit als den anderen. »Wenn wir etwas größere Schlitten benutzen würden, könnte jeder Fahrer einen Infanteristen mitnehmen.« Ich ergriff eine Tafel und zeichnete den Umriß des von mir vorgeschlagenen neuen Schlittens. Während die Ratsmitglieder die Tafel untereinander weiterreichten, fuhr ich fort: »Wenn wir dann die Mauern durchstoßen haben, brauchen die Fahrer nicht zu warten, bis die Infanterie ankommt. Sie können auch die Angriffe der Dorfbewohner leichter abwehren. Noch wichtiger ist, daß etliche Soldaten sofort an Ort und Stelle sind. Sie verbrauchen nicht erst einen Großteil ihrer Energie, indem sie den Schlitten nachlaufen, wie es gegenwärtig der Fall ist. Natürlich ist nicht genug Platz für alle Soldaten, aber...« »Das ist völlig ausgeschlossen, Dochyel. Ich kann mir nicht vorstellen, daß du die ganze
Geschichte richtig durchdacht hast«, unterbrach mich Halrak, der in der Nähe des Feuers saß. Das fortwährende Gemurmel der Gehilfen und Boten verstummte augenblicklich. Niemand wollte sich auch nur eines seiner Worte entgehen lassen. Ich wandte mich ihm zu, hoffte, daß ihm nichts eingefallen war, was ich nicht bedacht hatte. Wenn er meinen Plan nicht unterstützte, würde er niemals angenommen werden. »Es gibt nichts, das den zweiten Goblin vor den Schäden bewahren wird, die auch die Fahrer hin und wieder erleiden.« »Wir benötigen nur ein wenig zusätzliche Polsterung«, versicherte ich ihm, »vielleicht ein paar Felle. Es wird zwar nicht leicht sein, den Infanteristen beizubringen, sich während der Abfahrt nicht an den Fahrer zu klammern. Doch wenn sie am Boden des Schlittens bleiben und keine unnötigen Bewegungen machen, dürfte es eigentlich keine Probleme geben.« »Das ist anscheinend dein Ernst, oder?« Halrak erhob sich, entblößte die gelben Zähne und kam auf mich zu. Nie zuvor hatte ich einen so alten Goblin gesehen. »Glaubst du wirklich, daß wir einen solchen Einsatz der Infanterie stillschweigend zulassen würden?« »Mit dem größten Respekt«, erwiderte ich und versuchte, meine Nervosität nicht durchklingen zu lassen, »möchte ich behaupten, daß die
Fußsoldaten von größtem Nutzen sein werden. Jeder Dorfbewohner, der uns kommen sieht, wird beim Anblick der neuen, großen Schlitten in Panik geraten. Man wird nie darauf kommen, daß sich noch ein zweiter Goblin im Schlitten aufhält. Der Schlüssel zum Erfolg ist das Überraschungsmoment.« Halrak spuckte mir vor die Füße, um seine Mißbilligung kundzutun. »Das ist absurd und leichtsinnig, genau die Art von Plan, die wir vom Schlittenkorps erwartet haben. Was du vorschlägst, Dochyel...« »... könnte klappen, Ratsherr Halrak«, mischte sich Pashalik Mons ein, dessen Stimme zu meiner Linken aus dem Hintergrund des Raumes ertönte. »Unser junger Freund hier hat vielleicht die richtige Idee.« Die Stille schien eine Ewigkeit anzuhalten, als sich alle Augen auf Mons richteten. Halrak wich nicht zurück, schloß aber den Mund. »Es scheint mir, als würde einiges für den Plan des jungen Dochyel sprechen. Auch wenn es mir schwerfällt, es zuzugeben: Man könnte die Schlittenfahrer tatsächlich als die mutigsten Goblins unserer Armee bezeichnen. In jedem Jahr wird es schwieriger, Rekruten zu finden, die bereit sind, solche Risiken auf sich zu nehmen. Meiner Ansicht nach wird sein Plan genau das erreichen, was er gesagt hat - die Gefahr für die
Fahrer wird verringert, und gleichzeitig kommen Infanteristen viel schneller in die Dörfer, als es in der Vergangenheit möglich war.« Er erhob sich von seinem Sitz und kam auf mich zu. Dabei fiel mir auf, daß er hinkte und älter und kleiner war, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Allerdings bewirkte allein sein imponierendes Auftreten, daß ein bloßer Blick oder eine einzige Geste ihm Achtung verschaffte. »Dochyel«, sagte er zu mir, »ich weiß, daß du lange über diese Sache nachgedacht hast. In den vergangenen Monaten habe ich viel von dir gehört und mir gewünscht, daß andere junge Goblins deines Kalibers ebenfalls ihre Berufung im Militärdienst suchen würden. Hier vor dem Rat biete ich meine eigenen Sturmtruppen an, um deine Idee in die Tat umzusetzen. Es erscheint mir einleuchtend, daß die besten Soldaten mit den besten Schlittenfahrern unserer Berge zusammenarbeiten sollten, um dem Volk der Goblins Ruhm und Ehre einzubringen.« Ich war völlig verblüfft. Natürlich hatte ich gehofft, daß der Rat meinen Plan gutheißen würde, aber niemals hatte ich gedacht, daß ich die Unterstützung eines so erfahrenen alten Kämpfers wie Pashalik Mons erringen würde. Kurz nachdem er gesprochen hatte, fällte der Rat seine Entscheidung. Die Abstimmung war nicht einstimmig, aber mit Mons auf meiner Seite und
Halraks widerwilliger Zustimmung fanden sich doch bedeutend mehr helle als dunkle Steine in der Wahlurne. In den darauffolgenden Wochen schien es mir, als sei mein Sieg im Ratszimmer der einfachste Teil meines Plans gewesen. Die Anzahl der zu bedenkenden Punkte war ungeheuerlich. Neues Felsgestein mußte gebrochen werden, damit die Handwerker neue Schlitten fertigen konnten Schlitten, in denen zwei Leute Platz hatten. Nachdem das geschehen war, wurden mehrere Spitzenfahrer - ich selbst Inbegriffen ausgewählt, um zu testen, ob die Schlitten im Gleichgewicht lagen und sich gut handhaben ließen. Dabei steuerte jeweils ein Fahrer, während ein zweiter die Rolle des Infanteriegoblins spielte und von Fellen eingehüllt am Boden des Schlittens kauerte. Es dauerte eine Weile, bis wir uns an die neuen Gefährte gewöhnt hatten, aber wir waren sehr zufrieden damit. Außerdem bewirkte das zusätzliche Gewicht, daß die Schlitten bedeutend schneller in die Tiefe sausten, besonders im letzten Teil der Strecke. Als sämtliche Probeläufe beendet und kleinere Verbesserungen durchgeführt waren, begann die nächste Etappe. Dieser Teil des Plans stellte sich als weitaus schwieriger heraus, als ich vermutet hatte. Pashalik Mons hatte in der Tat seine Truppen zur
Verfügung gestellt. Allerdings hatten weder er noch ich mit dem Widerwillen der Soldaten gerechnet, mit dem Schlittenkorps zusammenzuarbeiten. Wir wollten den Leuten nicht einfach nur befehlen, in einen Schlitten zu steigen - das hätte der Moral geschadet. Arngh und ich hatten schließlich die Idee, eine kurze Schulung anzuberaumen, bei der die Soldaten etwas über Schlitten lernen würden, ohne auch nur den Fuß hineinsetzen zu müssen, ähnlich der Lektion, die jene Goblins erhielten, die sich mit dem Gedanken trugen, dem Korps beizutreten. Wenn Mons seinen Leuten nicht befehlen konnte, in einen Schlitten zu klettern, konnte er ihnen aber doch immerhin befehlen, wenigstens an dieser Schulung teilzunehmen. Die Begeisterung, mit der die Fahrer über das Schlittenkorps sprachen, übertrug sich auch auf die Soldaten, und anschließend waren sie begierig darauf, einen Schlitten bei der gesamten Abfahrt zu beobachten. Dies stellte eine völlig neue Erfahrung für sie dar, denn bisher waren sie daran gewöhnt, nur den Rücken der Fahrer zu sehen, die an ihnen vorbei zum Dorf rasten. Dieses Mal standen die Infanteristen am Ende der Strecke und sahen zu, wie aus einem der neuen Zwei-Mann-Schlitten, der aus ihrer Sicht auf der halben Höhe des Berges die Größe einer Erbse hatte, am Fuß des Berges ein
ausgewachsener Sturmschlitten wurde. Im Anschluß daran bereitete es uns dennoch Schwierigkeiten, einen Soldaten zu finden, der bereit war, an einer Abfahrt teilzunehmen. Sie wuselten herum, sahen von einem zum anderen, fragten sich, wer wohl als erster so tapfer oder so närrisch sein würde, sein Leben dem Geschick eines Schlittenfahrers anzuvertrauen. Endlich erhob sich eine Stimme aus einer Goblingruppe zu meiner Rechten. »Ich melde mich freiwillig«, verkündete der Soldat und trat vor. Ich blinzelte erstaunt. Es war niemand anderer als mein alter Freund Thurka. Jetzt hatte ich die Gelegenheit, ihm zu zeigen, daß ich nicht bloß irgendein verrückter Schlittenfahrer war. »Komm mit«, sagte ich lächelnd zu ihm, »wir zeigen dir, wie's gemacht wird.« Wir stapften den Berg hinauf zu einem dort wartenden neuen Schlitten. Ich zeigte Thurka, wie er sich am besten hinkauern mußte, und er befolgte meine Anweisungen, als habe er schon häufig in so einem Gefährt Platz genommen. Bevor er Zeit hatte, über alles weitere nachzudenken, gab ich den anderen Goblins das Signal zur Abfahrt. Schnell entfernten sie die Bremsklötze an der Vorderseite, rannten nach hinten und machten sich mit aller Kraft daran, den Schlitten so weit aus dem Höhleneingang zu schieben, daß er von selbst in die Tiefe gleiten
konnte. Als die Geschwindigkeit zunahm, schaute ich über die Schulter zu Thurka. Sein Körper war gespannt, aber er schien nicht sonderlich beunruhigt. Innerhalb kürzester Zeit waren wir am Ziel angelangt und wurden von Infanteristen umringt, die Thurka mit Fragen über die Abfahrt bombardierten. Nachdem er ihnen versichert hatte, daß sich keiner von ihnen so etwas entgehen lassen sollte, mußten wir auslosen, in welcher Reihenfolge sie an den heutigen Probeläufen teilnehmen durften. Ohne Zögern fiel die Entscheidung, daß Thurka mein Beifahrer sein würde, wenn es zum Angriff käme. Nachdem wir diese Hürde genommen hatten, zogen die vereinten Regimenter in gemeinsame Höhlenkasernen - sogar die Offiziere -, um enger zusammenzuwachsen. Wir wurden zwei Wochen lang gedrillt. Während dieser Zeit lernten wir vom Schlittenkorps eine Menge über den Nahkampf. Zwar hatte man uns einige der Techniken während der Ausbildung beigebracht, hauptsächlich aber verließen wir uns auf unsere Schlitten und hofften aufs Beste. Dagegen waren die Sturmtruppen von ihren Dolchen und Speeren abhängig. Da in einem Schlitten kein Platz für Speere war, übten wir stundenlang mit neuen Dolchen und konnten gegen Ende der
Unterrichtszeit wenigstens mit unseren Ausbildern mithalten. Noch nie hatte ich so hart für etwas gearbeitet wie für diese Aufgabe. Meine Zukunft beim Schlittenkorps hing von ihrem Erfolg ab. Pashalik Mons schien das zu verstehen, und er sprach oftmals nächtelang mit mir, wenn die anderen Soldaten und Fahrer schon längst schlafen gegangen waren. Als ich ihm von meinen Befürchtungen erzählte, wurde mir klar, daß ich alles getan hatte, um den Erfolg des nächsten Angriffs zu sichern. Je länger wir sprachen, um so mehr erinnerte ich mich an alles, was ich in meiner Jugend an ihm so verehrt hatte. Als wir uns besser kannten, erzählte er mir Geschichten aus seiner Vergangenheit und wurde weniger zu einem Idol als vielmehr zu einem echten Goblin, fast wie jeder andere auch. Durch unsere Gespräche wurde ich entspannter, obwohl der große Tag immer näher rückte. Zwei Tage vor dem Überfall unternahmen Infanterie und Schlittenkorps eine gemeinsame Pilgerfahrt zum heiligen Schrein unserer Vorfahren. Dort verbrachten wir eine schlaflose Nacht genau wie unsere Väter und Großväter es getan hatten, als sie sich auf besondere Kämpfe vorbereitet hatten. Wir trommelten und sangen; wir tanzten und tranken mehr Pag'b als je zuvor. Wir rangen miteinander und fluchten, tranken
noch mehr Pag'b, bis schließlich die Priester kamen und den Schrein säuberten. Dann schwankten wir zurück zu den Kasernen und versanken in einen todesähnlichen Schlaf. Irgendwann am nächsten Nachmittag erwachten wir und fühlten uns ausgeruht und bereit. In Reih und Glied marschierten wir zu dem Felsvorsprung, von dem die Schlitten abfahren würden. Die Nachricht unseres Unterfangens eilte uns voraus, und von Zeit zu Zeit säumten Goblins unseren Weg, um uns Glück zu wünschen. Wir marschierten schweigend, nickten ihnen aber unseren Dank für ihr Erscheinen zu. Hinter uns wurden die neuen Schlitten - insgesamt zehn - von Grubenponys gezogen, die arg mit der außergewöhnlich schweren Last zu kämpfen hatten. Die Sonne stand bereits tief, als wir den Felsen erreichten. Ich schätzte, daß uns kaum mehr als eine Stunde Tageslicht blieb. In der Ferne konnte ich Rauchwölkchen ausmachen, die von den schlichten Behausungen des Dorfes, über das wir herfallen wollten, aufstiegen. Wenn wir dort ankamen, würde es bereits dunkel sein, was uns noch mehr Vorteile bescherte als das bloße Überraschungsmoment. Der Ort für diesen Probeüberfall war besonders sorgfältig ausgesucht worden. Zehn Dörfer hatte man ausgekundschaftet, bevor die
unter uns liegende Siedlung ausgewählt worden war. Die Mauern waren recht dünn, boten unseren neuen Schlitten keinen Widerstand. Es gab haufenweise Zunder in Form von Stroh für den unwahrscheinlichen Fall, daß wir alles in Brand setzen mußten. Und am wichtigsten wog die Tatsache, daß dort seit fünf Jahren kein Angriff mehr stattgefunden hatte. Wenn also die Erinnerung an unseren letzten Überfall nicht gerade noch hell lodernd in den Köpfen der Bewohner stand, würden sie völlig unvorbereitet sein. Langsam und besonnen nahmen wir unsere Plätze ein, zehn Fahrer und zehn Infanteristen. Die restlichen Fußsoldaten dehnten ihre Muskeln und bereiteten sich auf den langen Lauf vor. Eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang machten sie sich auf den Weg nach unten. Arngh drehte die Sanduhr um. Wir gaben ihnen einen Vorsprung von zwanzig Minuten. Schweigend warteten wir in unseren Schlitten, beobachteten, wie die Schatten länger wurden und die Nacht über uns hereinbrach. Als die Sanduhr abgelaufen war, verrichteten die Helfer ihre Pflichten, und die Schlitten gingen den Berg hinunter auf die Reise. Thurka kauerte hinten in meinem Schlitten, hob nicht den Kopf, um sich umzusehen - ganz wie man es ihn gelehrt hatte. Ich warf einen kurzen Blick auf
die anderen Schlitten. Jeder Fahrer saß tief in seinem Gefährt, die Augen nicht nur auf die Fläche direkt vor ihm, sondern auch auf die weitere Strecke gerichtet; er plante die notwendigen Körperbewegungen, um sich und seine Fracht sicher durch Kurven und an Felsbrocken vorbeizusteuern. Nur die Fahrer waren zu sehen, die Soldaten blieben unsichtbar. Bald schon erblickte ich die Rücken der Infanteristen, die uns vorausgeeilt waren. Als sie uns herannahen hörten, erhöhten sie ihre Geschwindigkeit, bis sie, als ich an ihnen vorbeischoß, in vollem Tempo dahinjagten, um den Schlitten so schnell wie möglich ins Dorf zu folgen. Schließlich wurde der Abhang flacher. Ich steuerte durch eine Kurve und erhaschte den ersten Blick auf das Dorf. Alles war so, wie unsere Späher versprochen hatten. Der einzige Schutz war eine niedrige Steinmauer. Sie würde sofort fallen. Der Ort war ruhig. In der Luft lag der Geruch von gekochtem Fleisch; die Mauer kam auf mich zu. Ich duckte den Kopf unter den Schlittenrand, bevor wir durch die schlichte Wand stießen. Die Geschwindigkeit des Schlittens trug uns ein Stück ins Dorf hinein. Hinter mir hörte ich, wie die anderen Schlitten durch die Mauer brachen, jeder Fahrer sorgfältig bemüht, nicht
durch eine schon vorhandene Öffnung zu steuern. Wir wurden jetzt langsamer, und ich richtete mich auf, um die Umgebung in Augenschein zu nehmen. Mir war wie immer ein wenig schwindlig durch den Aufprall. Direkt vor mir befand sich der Dorfbrunnen, eine schlichte Konstruktion mit zwei hölzernen Eimern. Dahinter standen mehrere einfache Hütten aus Reet und Flechtwerk. Alles war genau, wie es sein sollte, alles - bis auf eine Sache: Auf jeder Seite des Brunnens standen fünf Männer, die Ackergeräte und andere grobe Waffen in den Händen hielten. Ihr Anblick überraschte mich. Die meisten Dorfbewohner rennen davon, wenn die Schlitten durch die Mauer stoßen. Erst ein einziges Mal hatte ich seit meinem Eintritt in das Korps eine organisierte bewaffnete Gegenwehr erlebt. Damals hatte mir die Angst, geschlagen zu werden, schnell wieder zu einem klaren Kopf verholfen. Aber diesmal waren es die Dörfler, denen eine Überraschung bevorstand. Als die Männer auf die Schlitten zurannten, sprangen die Goblinsoldaten mit gezogenen Dolchen aus ihren Verstecken, die hochgezogenen Lippen gaben den Blick auf die gebleckten Zähne frei. Die Menschen hatten nicht mit dieser Wende gerechnet. Unseren Leuten genügte dieser Augenblick des Zögerns,
um aus den Schlitten zu springen und mit drohenden Blicken vorzudringen. Die Dörfler hoben ihre Waffen, aber ich bemerkte, daß sie nicht mehr so selbstsicher waren wie noch kurz zuvor. Jetzt sah die Angelegenheit schon besser für uns aus; also verließ ich den Schlitten und zog dabei meinen Dolch. Die anderen Fahrer folgten meinem Beispiel, und wir reihten uns bei den Infanteristen ein - die Kräfte standen jetzt zwei zu eins. Die Männer wichen zurück, unsicher, wie sie mit dieser neuen Bedrohung umgehen sollten. Ich erblickte die Gesichter von Frauen und Kindern, die durch die Fenster lugten. Schnell hielt ich meinen Dolch in ihre Richtung, und sofort verschwanden sie im Inneren der Häuser. Thurka übernahm die Führung, bedeutete uns, weiter auf die furchtsamen Männer zuzugehen. »Weichbäuchige Feiglinge!« brüllte er dabei und unterstrich seine Worte mit Knurren und Flüchen. »Wir werden euch alle töten, wenn ihr uns anzugreifen wagt! Wir fressen eure Kinder und nehmen ihre Fingerknochen, um uns die Zähne zu säubern!« Ich bin sicher, daß keiner der Menschen unsere Sprache verstand, aber zweifellos begriffen sie den drohenden Klang seiner Worte. Einige ließen die Waffen fallen. Thurka knurrte die übrigen an und verfluchte sie.
Anscheinend hatten sie vor, sich so stur wie möglich zu stellen, bis sie die anderen Soldaten durch die Löcher, die wir gebrochen hatten, ins Dorf stürmen sahen. Nun warfen sie auch die letzten Waffen zu Boden und sahen zu, wie wir ihre Häuser plünderten. Sie waren geschlagen, aber nicht besiegt. Ich sah die Wut in ihren Augen flackern und wußte, daß sie alles versuchen würden, um auf unseren nächsten Besuch vorbereitet zu sein - wann immer das sein würde. Aber heute waren wir die Sieger und verwandelten die Felle, durch die unsere Beifahrer geschützt worden waren, in Säcke, die wir mit allen Wertsachen, derer wir habhaft werden konnten, füllten. Bevor wir das Dorf verließen, warfen wir all ihre groben Waffen in den Brunnen, um, sicherzugehen, daß sie uns in nächster Zeit keinen Ärger bereiten konnten. Jeder Fahrer zerstörte anschließend systematisch seinen Schlitten, indessen Thurka und seine Kameraden ein wachsames Auge auf die Dorfbewohner hielten. Dann verschwanden wir durch die Löcher in der Mauer; zurück blieben Schutthaufen als Zeugnis unseres Sieges. So schnell wir konnten, ohne uns allzusehr zu verausgaben, eilten wir nach Hause, und die Berge hallten von unseren Triumphgesängen wider.
Zwei Wochen später, nachdem wir Bericht erstattet und an vielen Gratulationsfesten teilgenommen hatten, entschloß ich mich, meine heimatliche Höhle aufzusuchen. Den Nachmittag verbrachte ich mit meinen Eltern, und als sich die Sonne am Himmel neigte, fand ich mich an dem Höhleneingang wieder, wo ich meinen ersten Steinschlitten erblickt hatte. Ich schlenderte ein Stück bergab und genoß den milden Wind auf der Haut. Der Windhauch trug Stimmen heran, Stimmen von Goblinkindem, die an der gleichen Stelle spielten, an der auch ich als Kind gespielt hatte. Vorsichtig schlich ich näher, denn ich wollte sie nicht dabei stören. Ich schaute um einen Felsbrocken herum und war völlig überrascht von dem Anblick, der sich mir bot. Zwei Kinder hockten hintereinander auf einem Granitblock. Etliche Stricke waren um den Stein gewunden, und die beiden hielten die Enden fest umklammert. Ihre Körper lehnten sich nach rechts und links, die Bewegungen waren ungleichmäßig. Während ich sie beobachtete, wurde mir klar, daß sie Schlittenfahrer und Infanterist spielten - ein Spiel, das in meiner Kindheit völlig undenkbar gewesen wäre. Ich schlich noch ein wenig näher, um zu hören, was sie sprachen. »Achte auf den Felsen, Dochyel!« rief der
hinten sitzende Goblinjunge. »Ich sehe ihn schon, Thurka!« brüllte das Mädchen zurück und warf den Körper nach links. So vergingen ein paar Minuten, dann folgte die Nachahmung eines schnellen Haltens. Die Kinder warfen ihre Umhänge zu Boden, kletterten von dem Stein herunter und stürzten davon, um unsichtbare Schätze zusammenzuraffen. Die Sonne war inzwischen halb am Horizont verschwunden. Ich wandte mich um und begab mich auf den Heimweg, zufrieden und mit der Gewißheit, daß ich mehr getan hatte, als nur die Goblinkriegführung zu verändern. BRUCE HOLLAND ROGERS
Das Herz von Shanodin Es gab keinen Pfad. Die beiden Reiter - einer davon mit schwerer Rüstung angetan, rittlings auf einem großen, schwarzen Streitroß sitzend, der andere grau gekleidet, auf einem Pferd so hochbeinig und schmal wie ein Hirsch bewegten sich zwischen den hochaufragenden Bäumen hindurch. Sie ritten auf gleicher Höhe, hielten aber mindestens eine Schwertlänge
Abstand zueinander. Der graue Reiter sprach beinahe unaufhörlich, der andere überhaupt nicht. Als der Ritter einmal einen Blick auf seinen Gefährten warf, erblickte er den Hauch, den Abklatsch, einen Witz von einem Mann, der jeden seiner Gedanken hinter einem Scherz verbarg. Was war Daisilodavi anderes als ein selbstgeschaffenes Geheimnis? Man konnte einen Mann nicht wirklich kennen, der trotz seines vielen Plapperns niemals eine ernste Bemerkung machte. Aber ungeachtet des ewigen Hin und Hers, des Schwätzens und des verwirrenden Herumschwirrens, das den wahren Menschen unsichtbar machte, war Daisilodavi sehr tüchtig in seinem Fach. König Amjad möge sein Name euch erzittern lassen - hielt den kleinen Mann für unentbehrlich. Es störte den Ritter gewaltig, daß er einen Rivalen um die Gunst des dunklen Herzens seines Herrn hatte und daß dieser Rivale ausgerechnet so ein Luftikus sein mußte. Daisilodavi sah, wenn er den neben sich reitenden Ritter anblickte, einen Klotz, einen Grobian, eine eiserne Figur, die all ihre Geheimnisse hinter diesem Schweigen verbarg. Was war Khairt anderes als ein dickköpfiger Niemand? Ein Mann, der keine Fragen über seine Vergangenheit beantwortete, war nicht
unwissend. Einige Ereignisse im Leben eines Mannes werden wie mit Buchstaben auf seinen Körper geschrieben. Aber bei Khairt waren die meisten Zeichen unter seinem schwarzen Kettenhemd versteckt. Die gezackte Narbe auf der Wange zeugte von Kampf, und das sollte doch kaum überraschen, oder? Da waren sein zermürbend langsamer Gang und die Grunztöne, die er ausstieß, wenn er die Knie beugen mußte. Es konnte einen interessanten Grund dafür geben - aber welchen? Khairt würde nie darüber reden. Und wenn Daisilodavi schon einen Rivalen um die Gunst Amjads - möge sein Name euch die Gelbsucht bringen - haben mußte, warum mußte es ein so schwer einzuschätzender Kerl wie der da sein? Hin und wieder gelang es Daisilodavi, eine Meinung oder Aussage aus ihm herauszulocken, aber niemals irgendeine Offenbarung. Sogar der Akzent des Ritters war ein seltsames Gemisch, so daß man nicht einmal seinen Geburtsort genau bestimmen konnte. Aber bald schon mußte der Ritter etwas über sich selbst preisgeben. Er würde keine Wahl haben. Lächelnd hob sich Daisilodavi im Sattel und wies mit der Hand auf den dichten Wald. »Wie Sterne am Ende der Zeit«, meinte er. Der neben ihm reitende Khairt wandte den behelmten Kopf weder nach links noch nach rechts. Er wußte, was der kleinere Mann sagen
wollte, erwiderte aber nichts. Wie auf dem Waldboden verstreute Sterne blitzten hier und da Sonnenflecken zwischen den fauligen schwarzen Blättern auf. Die beiden Reiter hatten die Sonne nur selten zu Gesicht bekommen, seitdem sie den Wald von Shanodin betreten hatten. Nun ritten Khairt und Daisilodavi seit zwei Tagen zwischen den riesigen Stämmen hindurch, und mit jedem Schritt, mit dem sie sich dem Herzen von Shanodin näherten, wurde das Sonnenlicht schwächer und die Bäume größer, sie wölbten sich dicht und hoch über ihren Köpfen. Vereinzelte Sonnenstrahlen wurden immer seltener - Sterne, die am Ende der Zeiten funkeln. »Oh, eine solche Redewendung hat zuviel Poesie für deinen Geschmack, nicht wahr?« fragte Daisilodavi. »Du bestehst aus finsteren Blicken, Düsternis, Worten mit einer Silbe und Sätzen mit einem Wort.« Er zog die Brauen mit gespieltem Ernst zusammen und blickte mißmutig drein. »Klar«, sagte er mit tiefer, verstellter Stimme. Nach langer Pause fügte er hinzu: »Nein.« Dann lachte er. »Und wenn du etwas äußerst, dann ist es meistens die Meinung, daß alles schlecht ist und immer schlechter wird. Du machst zuviel aus dem Rittertum, du scheinst nur dunkle Gedanken zu hegen. Es ist heller Tag! Vögel zwitschern! Khairt, hebst du niemals deine
schwarzen Augenbrauen? Öffnest du niemals die Augen?« Khairt schwieg noch immer. »Bah, was bist du doch für ein Reisegefährte«, sagte Daisilodavi. »Ritter, du bist so redselig wie eine Messingstatue.« Der Vergleich war auf mehr als eine Art angemessen, denn Khairt steckte von Kopf bis Fuß in einer Rüstung. Aufgrund seiner Größe hätte er auch ohne dieses zusätzliche Gewicht einen schweren Gaul reiten müssen. Mitsamt Schwert, Schild und Kettenhemd mußte er dreimal soviel wiegen wie sein Begleiter. Sein schwarzes Roß war zwei Handbreit höher als Daisilodavis Pferd und wie ein Zugpferd gebaut. Das hochgeklappte Visier zeigte nur wenig von seinem dunklen, ausdruckslosen Gesicht - das Gesicht eines Mannes, der es gewöhnt war, die Schrecken des Kampfes ohne mit der Wimper zu zucken hinzunehmen. Seine Augenbrauen waren tatsächlich schwarz. Wie alles an Khairt schwer wirkte, so verkörperte der andere Mann die Leichtigkeit eines Elfen. Der auf den schmalen Schultern liegende Umhang war silbergrau und bauschte sich beim leisesten Lufthauch auf. Daisilodavis Haar war blond, fast schon weiß. Das glatte und zarte Gesicht wirkte jung, doch feine Linien hatten sich um Mund und Augen herum
eingegraben, und nicht alle konnten als Lachfältchen bezeichnet werden. Anscheinend trug er keine einzige Waffe, kein kleiner Dolch steckte im Gürtel, keine seltsame Falte der Tunika wies darauf hin, daß dort vielleicht eine vergiftete Nadel stecken mochte. Auf die meisten Leute wirkte er ebenso harmlos wie gesprächig. »Vielleicht bist du ja verzaubert«, fuhr Daisilodavi fort. »Das würde vieles erklären, denn ich habe dich noch nie ohne deine eiserne Hülle gesehen. Vielleicht bist du eine leere Rüstung mit einem angezauberten Kopf.« Er beugte sich vor und machte Anstalten, an das metallene Knie des Ritters zu klopfen, um zu prüfen, ob es wohl hohl klänge. Khairts behandschuhte Faust schloß sich wie ein Schraubstock um Daisilodavis Handgelenk und ließ erst locker, als dieser sich zu winden begann. Der Ritter sagte: »Man beobachtet uns.« »Natürlich beobachtet man uns«, antwortete Daisilodavi und rieb sich in dem Griff wand. »Seitdem wir Shanodin betreten haben, werden wir beobachtet, obwohl unsere Beobachter unsere Mission nicht gutheißen.« Er trieb sein Pferd zum Trab an und wich den Zweigen aus, als das Tier zwischen den Bäumen durchlief. »He, ihr Beobachter!« rief er. »Habt ihr schon einmal jemanden wie mich gesehen? Ist jemals ein anmutigerer Reiter durch diese
Wälder geritten?« Dann wirbelten Roß und Reiter plötzlich mit tänzerischer Eleganz herum und waren wieder Khairt zugewandt. »Ha!« schrie er lauthals. »Sie passen auf, damit ich ihre hölzernen Herzen nicht schmelze!« »Paß auf, was du sagst«, meinte Khairt. »Fürchtest du die Damen des Waldes?« Daisilodavi grinste. »Oder trauerst du ihnen nach?« Er lachte über seinen Witz. Khairt wandte den Kopf ab. »Du bist ein Narr«, sagte er mit einer Stimme so hart und kalt wie die Eisenketten, mit denen Yyelor, der Eisriese, an den kalten Norden gekettet war. Allerdings war Khairts Stimme längst nicht so hart und kalt wie die König Amjads. Daisilodavi fand, daß nichts so hart und kalt wie die Stimme ihres Herrn war, wenn man ihn verärgert hatte. Khairts Faust schloß sich fest um den Sattelknauf. »Weshalb müssen wir zu zweit reisen? Warum hat mich Amjad - möge sein Name Furcht erwecken - nicht allein ausgeschickt, um diesen Glinham zu töten?« »Dunkel sind die Wege Amjads - möge sein Name Nasenbluten verursachen«, erwiderte Daisilodavi. »Obwohl die Antwort eigentlich offensichtlich ist. Ich war schon einmal im Herzen von Shanodin. Du nicht.« »Ich finde den Weg auch ohne daß du an meiner Seite wie ein noch nicht entwöhnter
Welpe herumspringst. Und ich brauche deine Hilfe nicht.« »In der Tat. Und ich brauche dich wohl kaum, um diesen Glinham zu erledigen. Glaubst du denn, daß ich deine Gesellschaft begehre? Denkst du etwa, ich freue mich, daß Amjad uns zusammen ausgesandt hat? Du bewegst dich wie ein Karrengaul und schleppst deinen Schatten hinter dir her.« »Jeder schleppt seinen Schatten hinter sich her«, gab der Ritter zurück. »Ich rede von deinem schmollenden Schweigen, deinen mürrischen Worten, deiner zweiten Haut aus schwarzem Stahl. Kurz gesagt, du bist auffallend wie ein häßlicher Attentäter. Du bist genau das, was jeder Mensch fürchtet. Das Opfer sieht dich von weitem heranstampfen und bereitet sich auf den Angriff vor. Ich dagegen nähere mich ihm lächelnd, finde ihn auf seinem Lager ruhend, beruhige ihn, ermutige ihn...« Eine Klinge blitzte in Daisilodavis Hand auf, teilte die Luft und verschwand, noch bevor Khairt erraten konnte, woher sie gekommen war. »Mit dir zu reiten«, fuhr Daisilodavi fort, »ist so, als würden mir Läufer vorauseilen, die rufen: ›Vorsicht! Traut diesem Fremden nicht! Er kommt in Begleitung des Todes!‹« »Dann verschwinde doch! Geh deinen eigenen
Weg. Ich finde den, den wir suchen, und wenn ich ihn erledigt habe, werde ich dich am Klang deines Geschnatters wiederfinden.« Aber keiner konnte den anderen verlassen. Amjads Befehle waren eindeutig gewesen. Sie sollten diesen Glinham gemeinsam ins Herz des Shanodin verfolgen - der Mann hatte deutliche Spuren hinterlassen, wo er sich zu verstecken gedachte - und ihn gemeinsam töten. Aber warum gemeinsam? Gab es irgendeinen Grund für Amjad, daran zu zweifeln, daß einer von ihnen allein in der Lage wäre, mit diesem Mann, einem einfachen Kaufmann, fertigzuwerden? Für Khairt gab es keinen ersichtlichen Grund, und er fühlte er sich unbehaglich, weil den Sinn der Sache nicht verstand. Die Dornenzweige zeigten sich anfangs weit verstreut, hier als Wildrosenbusch, dort als Brombeerstrauch, aber je weiter die Reiter vorankamen, um so dicker und häufiger wurden die dornigen Zweige, bis schließlich der gesamte Boden unter den Bäumen mit dicht miteinander verwobenen Ranken bedeckt war. Daisilodavis Pferd scheute nach jedem Schritt wieder einen halben Schritt zurück. Khairt saß ab und zog sein Breitschwert aus der Scheide. »Wir nähern uns unserem Ziel«, erklärte
Daisilodavi. »Diese Ranken bewachen das Herz.« Khairt trat langsam vor, erhob das mächtige Schwert und schlug zu. Dornen und Blätter flogen umher. Er tat noch einen Schritt und schlug zur anderen Seite; bald wurden seine Schnitte rhythmischer: Ein Schnitt - ein Schritt, und die spitzenbewehrten Zweige fielen wie Wellen vor einem Schiffsbug. Seine Knie schmerzten, aber das taten sie immer, wenn er zu Fuß ging; die Schmerzen störten ihn nicht sondern halfen ihm, sich zu konzentrieren. Wenn auch die Ranken immer dicker, höher und dichter wurden, fühlte Khairt doch Freude bei dieser Arbeit - ähnlich wie bei einem Gefecht. Wenn er sich nicht umwandte, konnte er so tun, als stünde niemand hinter ihm außer seinem Pferd. Viel zu häufig zerstörte Daisilodavi diese Illusion durch einen lauten und dummen Scherz. »Man bedenke, daß ich dich als geistlos bezeichnet habe! Dabei gehst du hier verständig und mit Schärfe gegen die feindlich gesonnenen Dornen vor!« Khairt schenkte ihm keine Beachtung, tat so, als sei er nicht da, und fühlte sich bald friedlich und allein mit seiner Arbeit. Allein - bis auf die Augen des Waldes. Sogar wenn er sich vorstellte, daß der Meuchler nicht hinter ihm stand, konnte er nicht umhin, die
Blicke des Waldes auf sich ruhen zu fühlen. Es gibt auf der Welt einen Ort, an dem ein Mensch nie unbeobachtet ist: der Shanodin. So lautete ein Sprichwort. Als Khairt schweratmend durch die dichtesten Dornen brach, schmerzten seine Schultern merklich. Jetzt aber fiel ihm das Hacken und Schneiden mit jedem Schritt leichter, und schon bald hatte er einen Weg durch die Ranken gebahnt, auf dem selbst Daisilodavis dünnhäutiger Hengst gehen konnte. Wortlos stützte er sich für einen Augenblick auf sein Schwert, nahm das Gewicht von seinen verkrampften Gliedern und steckte anschließend das Schwert zurück in die Scheide. »Gut gemacht«, sagte Daisilodavi, »aber das hält nicht lange an.« Khairt begriff nicht, was er damit sagen wollte, bis er sich umwandte und sah, wie die Ranken wieder wuchsen und sich miteinander verwoben, um die soeben überwundene Barriere zu erneuern. »Ich fürchte, daß es keinen leichteren Weg zurück gibt als diesen hier«, meinte Daisilodavi erklärend. »Glinham sitzt in der Falle. Falls er hier ist.« »Oh, er ist hier«, versicherte der Meuchler. »Verlaß dich darauf. Er glaubte, daß ihn dieser Ort schützen würde.«
»Durch eine so einfache Dornenwand? Der Mann ist ein Narr.« Khairt stemmte die Hände in die gepolsterten Hüften und starrte auf die Ranken. Die Zweige trugen Blüten - weiß, rot und rosa. Wieso bemerkte er das erst jetzt? Über ihm in den Baumwipfeln sang eine Drossel ihr liebliches Lied, erinnerte ihn an den Abend, und in Gedanken sah er einen sternenbesäten, purpurnen Himmel... »In der Tat ein Narr«, sagte Daisilodavi und blickte Khairt durchdringend an. Der Ritter wußte nicht, warum, aber er ließ das Visier herunter. Dann schüttelte er sich wie vom Schlaf erwacht und stieg wieder aufs Pferd. Erst als er ein wenig vor Daisilodavi hergeritten war, öffnete er das Visier wieder, aber auch nur, weil der Waldboden jetzt mit Blumen bedeckt war. Er wollte sie alle gleichzeitig sehen. Noch immer sang die Drossel über seinem Kopf. Ein paar Sonnenstrahlen blitzten zwischen den Blättern auf. Wie hatte Daisilodavi doch gesagt? Wie die letzten Sterne am Ende der Zeit? Eher wie Diamanten. Eher wie Feuerflammen auf dem nächtlichen Meer. Khairt hatte geschlafen und war nun erwacht. Wie sonst sollte man es nennen, daß er jetzt alles sah und hörte? Die Welt lebte, sie war voller Vogelgesang und Blüten. Wie konnte er das nur vergessen?
Daisilodavi begann zu singen, und es hörte sich weder unschön noch störend an, ganz im Gegensatz zu sonst. Der Meuchler sang von grünen Auen und von heller Sonne, von einem Mädchen, das Frühlingsblumen im Haar trug. Urplötzlich verstummte der Gesang. »Jetzt taut das schwarze Eis rings um Khairts Herz herum«, sagte Daisilodavi sanft und trieb sein Pferd neben das Roß des Ritters. »Ein bißchen Sonne scheint auch in seiner eisernen Brust.« Khairt zog die Brauen zusammen. Er fühlte sich weder überlegen noch kühl, hatte sich aber soweit in der Gewalt, daß seine Stimme wie eine Totenglocke klang: »Noch mehr Unsinn.« »Keineswegs!« widersprach sein Begleiter. »Du verleugnest dein Herz - oder sollte ich sagen, dein Herz verleugnet Dich? Während ich gerade gesungen habe, hast du im Takt dazu genickt.« »Habe ich nicht«, knurrte Khairt. »Hast du doch. Und es hat nicht viel gefehlt daß du vom Pferd gesprungen wärst und zu tanzen begonnen hättest!« »Wenn ich vom Pferd springe, dann nur, um dich zu durchbohren«, antwortete Khairt zähneknirschend. Daisilodavi lachte und zügelte sein Pferd, um Khairt die Führung zu überlassen. Er begann wieder zu singen.
Diesmal biß Khairt die Zähne zusammen und versuchte, sich auf Kampfszenen zu konzentrieren, um das Lied zu verdrängen. Er bemühte sich, an alle Kriegsgeräte, die er kannte, zu denken, und erwog die einzelnen Schwachpunkte. Er dachte an Einzelkampftaktiken und stellte sich Fragen: Wie geht man gegen einen Schwertkämpfer vor, wenn man selbst mit einem Streitkolben bewaffnet ist? Was kann man ohne Pferd und Waffen gegen einen Pikenier ausrichten? In die Enge getrieben, unbewaffnet und ohne Rüstung wie stehe ich den Nahkampf mit einem dolchschwingenden Gegner durch? Diese Gedanken halfen ihm, Gesang und Sänger, Blumen, Blätter und Sonnenflecken zu verdrängen. Er beschäftigte sich so eingehend mit ausgedachten Feinden, daß ein wirklicher Gegner über ihm war, bevor er es merkte. »Spitzbuben!« rief ein aus den Büschen springender Schatten. Als sich Khairt verblüfft umwandte und nach dem Schwertgriff tastete, prallte etwas gegen seinen Oberkörper. Wäre der Stoß eine halbe Sekunde später erfolgt, hätte er das Gleichgewicht gefunden und wäre darauf vorbereitet gewesen. Statt dessen rutschte er aus dem Sattel und fiel auf den mit Blättern bedeckten Boden.
»Fahr zur Hölle!« rief die Stimme. Khairt rollte sich herum, und der Angreifer sprang über den Rücken des Pferdes. »Was haben wir denn hier?« Daisilodavis Stimme hatte immer noch den singenden Tonfall. »Was denn nur?«, dachte Khairt. Die Person, die ihn gerade vom Pferd geworfen hatte, schien wenig mehr als ein Mädchen zu sein und war nur mit einem hölzernen Stab bewaffnet. Sie trug die groben Lumpen einer Küchenmagd. Auf der Wange hatte sie einen schwarzen Fleck, wie von Ofenruß. Aber die Haltung der jungen Frau war die einer Kriegerin. Sie hielt den Stab an einem Ende. Sie holte aus. Der Stab flog auf Khairts ungeschütztes Gesicht zu. Der Ritter trat aus und rollte sich mit einer fast vergessenen Bewegung zur Seite. Das Kettenhemd behinderte ihn, sein linkes Knie pochte, aber er schaffte es. Der Stab fuhr mit dumpfem Geräusch in den Boden, und als das Mädchen erneut angreifen wollte, war Khairt wieder auf den Beinen. »Willst du dich nicht ergeben?« sagte sie fordernd. »Ergeben?« fragte Khairt ungläubig. »Einem Mädchen mit einem Stab? Ergeben?« »Oder sterben«, erwiderte die junge Frau kalt. »Ich glaube, sie meint es ernst«, mischte sich Daisilodavi belustigt ein. Er saß noch auf dem
Pferderücken, verharrte in einiger Entfernung hinter dem Mädchen. In Khairts Augen wirkte die Haltung des Mädchens ziemlich unbeholfen. Mochte sie auch eine feurige Kämpferin sein - ausgebildet war sie nicht. Durch das Verlagern ihres Gewichts oder zu langes Stillstehen bot sie ein gutes Ziel, und Khairt hätte sie leicht von den Füßen reißen können. Aber Khairt tat nichts dergleichen. Dagegen betrachtete er ihr Gesicht. Das Haar, obwohl schlicht und braun, war aus der Stirn gestrichen und lag zu beiden Seiten des Kopfes an, wie ein Paar eingezogener Flügel. Die Augen leuchteten hell und klar. Keine Härte sprach aus ihren Zügen, nur Entschlossenheit. Sie war schön, und wenngleich er oft genug schöne Frauen erblickt hatte, war das letzte Mal, als er Schönheit gesehen und erkannt hatte... Oneah. Er ballte die Fäuste. »Du wirst dich ergeben«, knurrte er. »Und du wirst uns erklären, warum du Fremden auflauerst.« »Für mich seid ihr keine Fremden«, antwortete sie. »Euch umgibt Amjads Gestank.« »Möge sein Name dir Kopfläuse bescheren«, bemerkte Daisilodavi. Das Mädchen trat einen Schritt zur Seite und versuchte, den grau gekleideten Reiter nicht im
Rücken zu haben und den Ritter trotzdem im Auge zu behalten. »Ich kämpfe, um meinen Herrn Glinham zu schützen.« »Dann tut es mir leid für dich«, sagte Khairt trocken, »denn Glinham wird sterben.« Bevor sie sich bewegte, blitzte kurz ein Entschluß in ihren Augen auf, und Khairt wußte, daß sie sich, den Stab schwingend, auf ihn stürzen würde. Er wich dem Angriff aus und traf ihr Knie mit seinem Unterarm. Sie schwankte. Er schlug erneut zu und riß sie von den Beinen. Sie stürzte unglücklich. Das Knacken schien vom Handgelenk herzurühren, als sie ihren Fall abfangen wollte. Sie rollte zur Seite und wand sich vor Schmerzen. Khairt konnte sie ob des Gewichts seiner Rüstung und seiner schmerzenden Knie nicht greifen und festhalten. Sie kam mühsam auf die Beine und hielt sich das Handgelenk. Khairt hatte Daisilodavi nicht absteigen sehen, aber er erwartete das Mädchen bereits. Noch bevor sie seine Nähe bemerkt hatte, stach er ihr schon die Nadel in den Nacken. Bevor sie sich umdrehen konnte, war er bereits sechs Schritte entfernt, und bevor sie taumelte und zu Boden sank, saß er schon wieder auf dem Pferderücken. Der qualvolle Todeskampf verzerrte das hübsche Gesicht und blieb auch bestehen, als sie starb. Khairt wandte den Blick ab.
»Das war nicht nötig.« »Doch, es war nötig«, erwiderte der Meuchler. »Sie hätte sich nie ergeben. Wenn du sie besiegt hättest, wäre sie bei der ersten Möglichkeit doch wieder auf uns losgegangen. Vielleicht hätte sie dir mit einem Glückstreffer den Schädel eingeschlagen, wenn wir ihr ausreichend Gelegenheit gegeben hätten.« »Sie kämpfte wie eine Heldin.« »Das stimmt«, pflichtete Daisilodavi bei und trieb sein Pferd an. »Sie hatte das Herz einer Heldin.« Über seine Schulter hinweg fügte er hinzu: »Entwickelst du jetzt so etwas wie ein Gewissen?« Khairt zwang sich, noch einen Blick auf ihr Gesicht zu werfen. Wann hatte er zum letzten Mal Bedauern über den Tod eines Gegners empfunden? Aber er verspürte keine Gewissensbisse. Es tat ihm lediglich um das hübsche Gesicht leid. Der Ritter wuchtete sich wieder in den Sattel und holte Daisilodavi trabend ein. »Wenn schon eine Küchenmagd das Herz einer Heldin besitzt«, meinte er, »wieviel gefährlicher müssen dann erst Glinhams Bewaffnete sein!« »Im Herzen von Shanodin«, sagte Daisilodavi, »mußt du mit Überraschungen rechnen.« »Ich rechne immer mit Überraschungen.« »Außer mit dem Hinterhalt einer
Küchenmagd.« Daisilodavi zwinkerte ihm zu. »Wovon hast du geträumt, daß sie dich so unvorbereitet erwischen konnte?« »Ich träume nicht«, zischte der Ritter durch die zusammengebissenen Zähne. Er rief seinem Pferd ein rauhes »Vorwärts!« zu und trabte vor seinem Begleiter her. Aber die Frage blieb offen. Wieso hatte sie ihn derart leicht überraschen, können? Weshalb war er in diesen Glückzustand, diese Zufriedenheit geraten? Wann immer ein Mann denkt, er sei glücklich und zufrieden, dann ist er offen für Verletzungen. Khairt wußte das ebensogut, wie er auch wußte, daß ein Mann, der leidet, zuerst zuschlägt, ohne Gnade tötet und in jedem Garten ein Schlachtfeld sieht. Was ist eine Hecke anders als ein Versteck? Was ist ein Springbrunnen anderes als ein Platz, wo man seine Feinde ersäuft? Und doch... Sogar während ihn diese nüchternen Gedanken befielen, vernahm er noch das Rascheln der Blätter hoch über seinem Kopf, den ungewöhnlichen Anblick der im Unterholz blühenden Blumen. Wieder dachte er an das Gesicht des Mädchens, das Leuchten ihrer Augen, als sie noch lebte. Er atmete tief ein und nahm die Düfte des Waldes in sich auf. Die auf dem Waldboden liegenden schwarzen Blätter und die dunkle Erde
darunter rochen so würzig wie frischgebackenes Brot. Erneut hörte er das Lied einer Drossel und die Stimmen der anderen Vögel. In seinem Rücken, über ihm und ringsherum verspürte er die Blicke des Waldes. So kam es, daß er zum zweiten Mal ins Träumen geriet, bis Daisilodavi an seine Seite geritten kam und den vor ihnen hergehenden Mann anrief. »Auch ein Reisender«, bemerkte der Meuchler. »Hast du ihn denn nicht gesehen?« Dann rief er mit lauter Stimme: »He, Soldat!« Der Mann trug ein Kurzschwert am Gürtel, und beim Ausschreiten benutzte er einen ungespannten Bogen als Wanderstab. »He, Bogenschütze!« Der Mann wandte sich nicht um. Seine Kleidung war schmutzig, als habe er darin auf dem Waldboden geschlafen. »Die Tunika ist mit blauen und goldenen Borten eingefaßt«, sagte Daisilodavi leise. »Einer von Glinhams Leuten. Siehst du's?« »Ich habe schließlich Augen im Kopf.« »Aber so wie er jetzt aussieht«, fuhr der Meuchler fort, »gehört er zu niemandem.« Khairts Hand lag auf dem Schwertknauf. »Der Schein könnte trügen.« »Das ist selten der Fall«, meinte Daisilodavi, und ein dünnes Lächeln umspielte seinen Mund. »Und auch nicht überall.« Wieder hob er die
Stimme: »He, Bogenschütze! He, Wandersmann!« Der Mann reagierte nicht und schaute auch nicht eher auf, bis die Reiter zu beiden Seiten an ihm vorüberritten. Daisilodavi riß sein Pferd herum und wandte sich dem Wanderer zu. Khairt ritt ein Stück weiter und spähte in die Gegend, ob er Zeichen für einen neuen Hinterhalt entdecken konnte. Er sah nichts Bedrohliches. Allerdings fielen ihm die Schmetterlinge auf, die über dem Laubwerk umherflatterten. Ihre Flügel waren silbern und blau gezeichnet - hätte er einen Namen für sie finden müssen, hätte er ›Himmelswölkchen‹ gewählt. Er beugte sich vor, um sie besser sehen zu können. Laß das! dachte er. Er war nicht wegen ein paar Schmetterlingen hier. Er war hierhergekommen, um einen Mann zu töten. Mit einem Ruck am Zügel hielt er das Pferd an und drehte es um. Gerade fragte Daisilodavi den Mann: »Und du hast uns nicht gehört?« »Tja, ich hatte gerade überlegt, ob ich euch hörte oder nicht«, antwortete der Fremde. In seinem wirren Haar klebten vereinzelte Blätter. »Ich dachte bei mir: ›Höre ich da Stimmen, und rufen sie mir etwas zu?‹ Wenn ich mich umgewandt hätte - wer könnte mir sagen, ob ihr auch wirklich existiert? Wie zuverlässig sind
unsere Sinne?« »Was redet er da?« mischte Khairt sich ein. »Laß ihn sprechen«, meinte Daisilodavi. »Ich danke Euch«, sagte der Mann, »ob Ihr nun existiert oder nicht. Wie ich schon sagte, wie zuverlässig sind unsere Sinne? Sehen nicht die verrückten Dinge, die nicht da sind? Hören und sehen die Träumer nicht das, was sie für wahr halten? Wer will mir sagen, ob ich nicht in Kürze aufwachen werde und denke, daß ich im Schlaf eine seltsame Unterhaltung geführt habe?« Daisilodavi lächelte. »Ich weiß, was du meinst. Und selbst wenn du aufwachst, könnte es sein, daß du nur träumst, aufgewacht zu sein. Vielleicht bist du eine riesige Seeschnecke, die auf dem Grund des Ozeans schläft, die träumt, ein Mensch zu sein, obwohl es in Wirklichkeit nie eine Geschöpf wie den Menschen gegeben hat.« »In der Tat.« »Bei den Göttern!« rief Khairt aus. »Nie zuvor habe ich einen solchen Unsinn gehört.« Er zog das Breitschwert aus der am Sattel hängenden Scheide und legte es sich über die Schulter. »Antworte, solange du noch einen Kopf zum Antworten hast. Wo ist dein Herr?« »Ich habe keinen Herrn«, erwiderte der Mann. »Mit jenem Leben habe ich abgeschlossen.« Er hob den ungespannten Bogen. »Habt ihr
schon einmal die Unmöglichkeit eines fliegenden Pfeils bedacht?« »Antworte!« sagte Khairt ungeduldig und hob das Schwert. »Wo ist Glinham?« »Ich bin gar nicht sicher, ob ein Wesen wie Glinham jemals existiert hat«, meinte der Mann und breitete mit hilfloser Gebärde die Hände aus. »Und wo er jetzt ist, weiß ich nicht und könnte auch nicht sicher sein, ob ich wüßte, wieso ich wüßte, wenn ich tatsächlich glaubte, daß ich es wissen könnte.« Khairts Gesicht wurde puterrot. »Es ist nicht nötig, ihm den Kopf zu spalten«, beschwichtigte ihn Daisilodavi lächelnd. »Steck dein Schwert wieder ein, Ritter. Er antwortet dir, so gut er kann.« »Blödsinn!« »Kein Blödsinn«, beteuerte der Mann, »sondern fundamentale Fragen!« Zum ersten Mal blitzte es kriegerisch in seinen Augen, aber er machte keine Anstalten, nach dem Schwert im Gürtel zu greifen. Es schien, als habe er dessen Vorhandensein völlig vergessen. »Weg mit dem Schwert«, forderte Daisilodavi Khairt auf. »Hier finden wir weder Hilfe noch Ärger.« Der Ritter legte sich die schwere Klinge erneut über die Schulter. »Du hast eben von Pfeilen gesprochen«,
wandte er sich wieder an den Fremden. »Pfeile«, nickte der Mann. »Jawohl. Das war das Ende meines Soldatenlebens. Bedenkt, daß ein Pfeil, bevor er ins Ziel fliegt, zuerst einmal die Hälfte des Weges zurücklegen muß, nicht wahr?« »In der Tat«, stimmte Daisilodavi zu. »Und von da an muß er wieder eine Hälfte zurücklegen, stimmt's?« »Stimmt.« »Und dann wieder eine Hälfte - ein Achtel und wieder die halbe Strecke - ein Sechzehntel. Wo auch immer er hinfliegt, von der Hälfte zum Viertel zum Achtel zum Sechzehntel, kann die verbleibende Strecke halbiert werden. Und wieder halbiert. Könnte man sie nicht unendlich halbieren? Gibt es eine Strecke, die so klein ist, daß sie nicht mehr halbiert werden kann? Also sind die Punkte, die ein Pfeil passieren muß, unendlich zahlreich. Da sie unendlich sind, können sie nicht addiert werden. Der Pfeil wird sein Ziel also nie erreichen.« Daisilodavi sagte: »Das nennt man ›Des Pfeilmachers Paradoxon‹.« »Tatsächlich? Ich dachte, ich hätte es entdeckt.« »Nein, es hat schon viele Stirnen vor der deinen gerunzelt.« »Nun wißt Ihr, weshalb ich meinen Bogen
nicht spanne.« »Richtig.« »Richtig?« fuhr Khairt dazwischen. »Glaubst du etwa, daß ein Pfeil nicht durch ein Herz dringt, weil der Bogenschütze über diesen Unsinn nachdenkt?« »Mein Herr«, unterbrach ihn der Mann, »Dir seid ein Narr.« »Ich? Ein Narr?« brüllte der Ritter. »Ich werd dir zeigen wer der Narr ist!« »Komm schon«, sagte Daisilodavi und riß sein Pferd herum. »Wir haben eine Aufgabe.« Über seine Schulter hinweg rief er dem ehemaligen Soldaten zu: »Hier hast du was zum Nachdenken! Stell dir vor, daß ein übermächtiger Dämon dir im Traum erscheint und dir drei Wünsche schenkt. Dein erster Wunsch lautet: Dein erster Wunsch soll nicht gewährt werden. Hat der allmächtige Dämon die Macht, diesen Wunsch zu erfüllen?« Mit einem abfälligen Schnauben steckte Khairt das Schwert zurück in die Scheide. Er drehte dem ehemaligen Soldaten nicht sofort den Rücken zu. Immerhin hatte der Kerl trotz allem ein Schwert. Vielleicht war er nicht so dumm, wie er schien. »Ich wünsche mir, daß dieser Wunsch nicht erfüllt wird«, murmelte der Mann vor sich hin. Er kaute an der Unterlippe und rieb sich die
Stirn. Khairt zog sein Pferd herum. Als er den Meuchler eingeholt hatte, sagte er: »Willst du nicht zurückreiten und den da ebenfalls vergiften?« »Ich habe ihn bereits mit dem Rätsel vergiftet«, erwiderte Daisilodavi. »Er wird darüber nachgrübeln, bis er verhungert ist. Oder aber er gibt auf und findet etwas anderes, das ihn fertigmacht. Wenn er Hunger verspürt, sucht er zuerst mal eine Theorie über das Essen. Wie schön, wenn alle Menschen Philosophen wären. Dann hätte ich einen einfachen Beruf.« »Es kriechen genügend Narren über die Erde«, meinte Khairt verächtlich. »Keine Narren«, gab Daisilodavi zurück. »Du hast die andere Hälfte noch nicht gesehen.« Khairt antwortet nicht. Er war völlig in den Anblick der Muster und der Vielfalt versunken, die durch weiße und schwarze, glatte und rauhe Baumrinde entstanden waren. Die eigentlichen Stämme der Bäume wurden zu einem Kaleidoskop wogender Geometrie, als er an ihnen vorbeiritt. Es fiel ihm erst jetzt auf. Und während er es bemerkte, spürte er wieder, daß sein Blick auf die Stämme erwidert wurde. »Mehr als die Hälfte«, bekräftigte Daisilodavi. Die Dämmerung wurde zur Düsternis, als sie
so weit geritten waren, daß sie wieder auf Dornenranken stießen. »Die andere Seite«, stellte Daisilodavi fest. »Wir sind quer durch das Herz des Shanodin geritten.« Shanodin, dachte Khairt. Ein wunderschöner Name. Hatte einen musikalischen Klang. Aber laut sagte er: »Keine Spur von Glinham.« »O doch, es gibt eine Spur.« »Du meinst seine Leute.« »Nein, ich meine ihn. Oder ist dir der ungewöhnliche Geruch nicht aufgefallen, vor etwa ein bis zwei Wegstunden? War da nicht eine unnatürliche Spur?« Den Geruch nicht wahrgenommen? Nun, Khairt war beinahe trunken davon geworden! Der würzige Duft von Moos und Blättern, der Moschusgeruch eines Hirsches, das süße Bukett der Blumen, und von irgendwo aus den Tiefen des Waldes strömte ein zarter Hauch, beinahe wie Vanille. Das war der Duft der rotborkigen Shanodin-Fichten. Davon abgesehen hatte er noch andere würzige Gerüche wahrgenommen. Da gab es eine schwache Spur von Aromen, wie aus der Presse eines Alchimisten - Rosen, Klee und Flugsamen, leicht vom Biß der Flammen versengt... Khairt zügelte sein Pferd. »Lampenöl!« »Also hast du es gerochen. Und nicht
irgendein Lampenöl, stimmt's? Nein, jemand verbrennt dort ein Duftöl, ein teures Öl. Das ist doch die Art von Luxus, die man bei einem reichen Kaufmann erwartet, was?« »Zwei Wegstunden hinter uns! Und warum hast du nicht sofort angehalten?« »Du warst so in deine Träume versunken, daß ich nicht gewagt habe, dich zu wecken.« »Träume!« Khairt ballte die Faust, wußte aber nicht, worauf er beharren oder was er abstreiten sollte. Er hatte nicht wirklich geträumt, sich aber auch nicht um seine Aufgabe gekümmert. »Dämonen und Dung!« stieß er schließlich hervor. »Jetzt merke ich, weshalb unser Herr, König Amjad, annimmt, daß du seine Befehle nicht genau befolgst!« »Sag mir doch«, erkundigte sich Daisilodavi, »in welchen Gedanken du schwelgtest, als uns dieser Geruch in die Nasen stieg?« »Fahr mit deinem gestelzten Getue zur Hölle! Verdammt sei deine schlüpfrige Zunge! Wir sollten umkehren und zurückreiten. Glinham ist ganz in der Nähe!« »Das wird er morgen auch noch sein. Es wird dunkel. Wir schlagen ein Lager auf und warten aufs Tageslicht.« »Wir hätten ihn längst töten können«, sagte Khairt. »Wir könnten schon auf dem Heimweg sein.«
»Und du willst wirklich von hier weg?« fragte Daisilodavi neugierig. »Ich dachte, daß dieser Ort dich irgendwie anzieht.« Der Ritter starrte auf die dunklen Schatten der Bäume. Sie sahen sowohl schön als auch drohend aus. »Dieser Wald ähnelt zu sehr einer Frau, und mit Frauen hatte ich nichts zu tun, seitdem ich nicht mehr in...« Er hielt inne, bevor er den Namen des Ortes über die Lippen gebracht hatte. Im Dienste König Amjads hatte er niemals über seine Vergangenheit gesprochen, über sein Leben an einem Hof in der Tiefebene. Je weniger andere davon wußten, um so freier fühlte er sich. Daisilodavi beugte sich im Sattel vor, als versuche er angestrengt, das nicht gesprochene Wort zu erhaschen. Als nichts geschah, saß er ab. »Es wäre sinnlos, unsere Pferde in der Dunkelheit zu gefährden. Wir lagern jetzt. In der Zwischenheit wird Glinham nirgendwohin verschwinden. Er hat auch ein Lager aufgeschlagen, oder was denkst du, weshalb wir am hellen Tag Lampenöl gerochen haben?« »Eine Höhle.« »Genau. Und den Eingang finden wir besser am Tag als in der Nacht.« Daisilodavi legte eine Decke auf den Boden, breitete ein Stück Ölhaut daneben aus und kümmerte sich dann um sein Pferd.
Khairt rührte sich nicht. »Wirst du auf dem Pferderücken schlafen?« erkundigte sich der Meuchler. »Man beobachtet uns. Ganz eindringlich.« »Und weil wir keine Baumlästerungen aussprechen, werden uns die Beobachter nichts Böses tun. Ritter, schlag dir die Dryaden aus dem Kopf. Sitz ab. Schlaf. Vielleicht brauche ich morgen deinen Schwertarm.« »Niemand außer Amjad und mir wird Gebrauch von mir machen. Ich diene dir nicht. Du wirst mich also nicht ›brauchen‹.« »Nur eine Redewendung. Sterne am Himmel, Ritter. Sitz ab und ruh dich aus!« Khairt verweilte noch ein wenig länger im Sattel, damit es nicht so aussah, als gehorche er seinem Begleiter. Dann kletterte er hinab, denn weiterer Widerstand wäre ihm wie das Schmollen eines Kindes erschienen. Er gab seinem Pferd etwas Hafer und legte ihm Fußfesseln an. Das harte Zeug, von dem sie sich in dieser Woche ernährt hatten, war tagelang völlig geschmacklos über Khairts Lippen gekommen. Heute abend, als das letzte Licht des Tages verblaßte, bemerkte er die wahre Fülle, erkannte die Freude des täglichen Genusses von ungesäuertem, ungesalzenem Brot. »Wirst du wieder im Sitzen schlafen?«
erkundigte sich Daisilodavi. Die Ölhaut hatte er über seinen Körper gebreitet. »Um so schneller bin ich auf den Beinen und kann kämpfen«, gab Khairt zurück. »Aber nur wenn du rechtzeitig aufwachst. Du hast heute beim Reiten geschlafen. Ich glaube kaum, daß du bei Nacht besser Wache halten kannst.« Khairt schwieg. Daisilodavi schloß die Augen und lächelte im Dunkeln. Der Ritter ging allmählich ein wenig aus sich heraus. Wenigstens konnte er jetzt herausfinden, was für ein Mann das war, der zusammen mit ihm die rechte Hand König Amjads darstellte. Khairt, für seinen Teil, war beunruhigt, ohne recht zu wissen warum. Sicher, das Gefühl, dauernd beobachtet zu werden, gefiel ihm nicht. Aber da war noch etwas anderes. Seitdem er zum Schwert gegriffen hatte, seitdem er in den Dienst König Amjads getreten war, war er zur Ruhe gekommen, obwohl er eigentlich immer gerade im Begriff war, einen Mord auszuführen. Oder vielleicht war es eben, weil er immer in einen Mord verwickelt war. Nun hatte ihn diese Ruhe verlassen. Er fühlte sich nackt. Unbewaffnet. In diesem Wald gab es etwas viel Gefährlicheres als alle Lanzenträger zusammen, denen er je gegenübergestanden hatte.
Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, nahm er den geisterhaften Phosphorschein der vermoderten Äste und Baumstümpfe wahr. Diesen bläulichen Schimmer hatte er während vieler Nachtwachen gesehen, ihn aber nie als besonders schön empfunden. Jetzt, wo die Feuerfliegen und Hexenkäfer rote und grüne Lichtspuren durch die Dunkelheit zogen, kam es ihm vor, als habe er nie zuvor ein größeres Wunder erlebt. Schon bald verlor er sich in den wogenden Lichtmustern und sah sie noch mit geschlossenen Augen vor sich. Er träumte von Blumen. Er träumte von schwarzen, braunen, grauen und weißen Baumstämmen, die wie Säulen einer riesigen Halle dem Baldachin aus Baumwipfeln entgegenstrebten. Er träumte von den schwarzen Rissen, Punkten und Wirbeln auf der weißen Birkenrinde, erkannte, daß diese Zeichen Poesie waren, die man beinahe lesen konnte. Seine Lippen, geschwollen vom Schlaf, bemühten sich vergeblich, die Worte zu formen. Khairt träumte von Schmetterlingen. Er träumte von Öffnungen im Wipfeldach, durch die er zwischen den Blättern den blauen Himmel aufblitzen sah - selten und kostbar wie ein Saphir. Arme und Beine waren ihm schwer wie Blei.
Er träumte, daß aus dem Baum, gegen den er sich gelehnt hatte, Finger herauskamen; Finger, die sanft die eisernen Ringe des Kettenhemdes berührten. Er träumte, daß er gelähmt und vertrauensvoll dasaß, während zusätzliche Finger über seine metallenen Beinschienen strichen, das Visier auf und nieder klappten und das Gewicht seines Schwertes wogen. Wenn dies kein Traum war, konnte sein Tod nahe sein. Wenn diese Finger wirklich an ihm herumtasteten, wenn dieses Wesen ihm Böses wünschte... Er versuchte sich zu bewegen. Es gelang ihm nicht. Mit großer Mühe öffnete er die Augen. Zwei grüne Hexenkäfer schwebten vor ihm, keine Handbreit voneinander entfernt. Sanfte Finger verfolgten die Linie seiner Augenbrauen, glitten tiefer, um ihm die Augen zu schließen. Das sind keine Hexenkäfer, dachte er und schlief ein. Als er die Augen wieder öffnete, wurde das Herz des Shanodin von grauem Licht erfüllt. Daisilodavi, ein unförmiger Haufen unter der Ölhaut, regte sich. Khairt erhob sich schwerfällig. An diesem Morgen fühlten sich seine Knie an, als seien sie mit gebrochenem Glas gefüllt. Er grunzte. »Und ich wünsche dir ebenfalls einen guten Morgen«, sagte Daisilodavi.
»Wir hatten Besucher«, bemerkte Khairt, und seine Augen suchten den Boden nach Spuren ab. Er sah keine, aber Dryaden sind sehr leichtfüßig. »Wir sind die Besucher«, erwiderte der Meuchler. »Wundert es dich, daß sie uns ausforschen wollen?« Ausforschen, das war es. Khairt erinnerte sich an die Finger auf seinem Schwert. Wieso war er nicht aufgewacht? Wieso war er nicht aufgestanden und hatte gekämpft? Steifbeinig ging er zu seinem Pferd, steckte das Breitschwert in die Scheide und sagte: »Auf jetzt, laß uns das Töten erledigen, und dann nichts wie weg hier.« »Töten, töten, töten! Denkst du nur ans Vergnügen? Du Wüstling!« »Ich will lebend hier rauskommen. Steh auf!« »Bin ich ein Zombie, den du erwecken kannst?« »Schon beim ersten Wort eines jeden Tages beginnst du zu schwafeln.« »Und du bist vom ersten Wort an säuerlich. Ich stehe auf, mein Ritter. Bald machen wir uns ans Töten. Wirst du dich besser fühlen, wenn du erst einmal dein Schwert gebadet hast?« Khairt antwortete nicht sondern bückte sich, um die Fesseln des Pferdes zu lösen. Während des Rittes konzentrierte sich Khairt
auf den Zweck ihrer Mission. Ja, das an den Baumstämmen emporkriechende Efeu war besonders üppig; ja, das Trillern und Zwitschern der Vögel war angenehm und unterhaltsam. Aber er durfte nicht darüber nachdenken. Er durfte nur ans Blutvergießen denken, an den ehrlichen Schweiß des Kampfes. Sollte Glinham doch gut bewaffnet sein! Sollten die Krieger, die ihm dienten, doch über großen Kampfgeist verfügen. Kämpfen, Töten das allein würde Khairt Befriedigung verschaffen. Verdammt sollten diese Schmetterlinge mit ihren vielfarbigen Flügeln sein! Sollten diese Blumen doch abfallen und verfaulen! Sollten sich doch Greifvögel auf diese Singvögel stürzen! Aber selbst während er die Schönheiten des Waldes verfluchte, konnte er nicht umhin, sie zur Kenntnis zu nehmen. Schließlich konnte er die Wahrnehmungen seiner Augen und Ohren nicht verleugnen. »Wir sind jetzt ganz in der Nähe des Verstecks«, sagte Daisilodavi und zügelte sein Pferd. »Ich glaube, wir müssen hier lang.« Er überquerte einen Bach. Das Geräusch des über die Pferdehufe rauschenden Wassers war so hell wie Glockenklang. Khairt verzog das Gesicht. Er folgte mit halbgeschlossenen Augen und
versuchte, sich auf den Gedanken an ehrlich vergossenes Blut zu konzentrieren. Als sie näher kamen, war der Höhleneingang deutlich zu erkennen. Wenn man sagen würde, die Höhle sei auf einer Lichtung gelegen, erweckte man die Vorstellung von offenem Himmel und hellem Licht. Es gibt aber im Herzen des Shanodin keine Lichtungen. Nur an einer Stelle wachsen die Bäume nicht ganz so dicht, und in der Mitte dieses Ortes befand sich ein Stück Fels, von Reben und Ranken überwuchert. Beide Männer saßen ab. Daisilodavi kramte in den Satteltaschen nach einer Lampe, Feuerstein und Öllappen. Die Öffnung zwischen den Felsen war sehr schmal. »Du große Ratte paßt gar nicht durch dieses winzige Loch«, stellte der Meuchler fest und setzte die Öllappen in Brand, um die Lampe zu entzünden. »Also müssen wir uns jetzt trennen.« »Ich könnte mich hineinzwängen«, erwiderte Khairt. »Vielleicht. Aber dazu müßtest du die Rüstung ablegen und dich mit Bärenfett einreihen. Das wird dauern. Zuerst mußt du einen Bären jagen.« »Sogar mit Rüstung und allem passe ich durch die Öffnung«, behauptete Khairt. »Und dann? Kämpfst du mit dem
Breitschwert, wenn da drin vielleicht nicht mal eine Armlänge Platz ist? Nein. Bleib hier. Halte Wache. Unter Umständen treibe ich die Beute nach draußen, und dann gehört er dir.« »Und was ist, wenn er gut bewacht wird?« »Ich behaupte, daß er nicht gut bewacht wird. Egal wie viele Bewaffnete er mitgenommen hat, ich wette, daß die einzige, die zu ihm stand, das Mädchen war, das wir getötet haben. Die anderen sind davongelaufen.« »Weshalb?« »Du begreifst immer alles so langsam, Khairt. Bleib eine Weile hier stehen und denk darüber nach.« Damit verschwand er in der Öffnung. Khairt stand nicht lange still. Seine Knie schmerzten. Er ließ sich auf einem Stein nieder und beobachtete den Eingang der Höhle, lauschte auf Geräusche des Meuchlers. Kein Laut drang aus dem schwarzen Loch. Es schien, als habe die Erde Daisilodavi verschluckt. Aber rings um ihn her ertönte das Singen der Vögel. Khairt atmete die Düfte des Waldes ein, und plötzlich fühlte sich der Helm auf seinem Kopf wie eine Umklammerung an. Er setzte ihn ab. Die frische Luft auf seiner Haut fühlte sich so gut an, wie sie roch. Wieder blickte Khairt zum Höhleneingang. Vielleicht war das Loch nicht tiefer als ein
gewöhnliches Verlies. Andererseits konnte es sich meilenweit ausdehnen. Daisilodavi konnte die Beute auch erst nach Tagen aufstöbern oder aber gleich an der Stelle töten, wo er Glinham fand. Nach einer Stunde war ihm klar, daß dieses Loch nicht wie ein Verlies war. Khairt wußte, daß er hier warten sollte, das Schwert kampfbereit, den Helm auf dem Kopf wie ein Wächter. Aber sein Haar fühlte sich fettig an, und seine Haut war klebrig vom Schweiß. In diesem Augenblick fiel ihm der Bach ein. Der schmale Spalt, durch den sich Daisilodavi gezwängt hatte, wurde noch enger, bis er sich schließlich nur noch Zoll für Zoll vorwärtswinden konnte. Dann wurde die Öffnung größer, runder, und weitete sich allmählich zu einem breiten, ebenen Gang. In uralten Zeiten hatte ein Strom die Wände geglättet, aber nun waren sie trocken und der Boden staubig. Alles war wie tot. Kein Wasser tropfte von den Wänden, um Kristalle oder Stalaktiten zu formen. Der Gang mündete in einer großen Höhle. Der beißende Guanogeruch verriet die Fledermäuse, die in großen Trauben hoch oben, außerhalb des Laternenlichts, unter der Decke hingen. Der
Lichtschein erfaßte ein Glitzern am Boden, und er entdeckte ein kleines Häufchen Schmuck - das schwere goldene Armband eines Mannes, mit wertvollen Steinen gefaßte Ringe. Er legte sich das Armband ums Handgelenk und steckte die Ringe in die Tasche seines Umhangs. Dann lauschte er. Stille. Am gegenüberliegenden Ende der Höhle setzte sich der Gang fort. Er führte in einen zweiten, kleineren Raum. Hier setzte sich Daisilodavi der Meuchler nieder, um nachzudenken, denn im Licht der hocherhobenen Laterne erblickte er nicht weniger als fünf Öffnungen, die weitere Gänge verhießen. Es würde ihm nicht helfen, die aus den einzelnen Durchgängen strömende Luft zu schnuppern. Das Duftöl hatte bereits geraume Zeit in der Höhle gebrannt, und der Geruch war inzwischen durch alle Räume und Gänge gestrichen. Außerdem waren die aufsteigenden Schwaden aus seiner eigenen Laterne bedeutend intensiver. Also, wohin sollte er sich wenden? Dann hörte er den Chorgesang. Zuerst hatte Khairt sich nur Wasser aufs Gesicht gespritzt, die Tropfen von den Augen gerieben und dann zu dem umgestürzten Baum geblickt, über dem seine Rüstung lag. Dicht
neben ihm lag das Schwert. Als niemand hinter einem Baum hervorgeschossen kam, um mit Steinen oder Stäben nach ihm zu werfen, wagte er, sich hinabzubeugen und den Kopf in den plätschernden Bach zu halten. Er erhob sich. Kühles Wasser lief ihm aus dem Haar, über die Wangen und den Nacken hinunter. Die Kleidung, die er seit vielen Tagen unter der Rüstung trug, war ausgesprochen schmutzig. Ein kleines Stück bachaufwärts landete ein Smaragdfink am seichten Ufer, legte den Kopf auf die Seite, um Khairt zu beäugen, und badete dann in einem sonnenbeschienenen Stück des Baches. Tröpfchen rannen über den Rücken des Vogels, fielen wie Diamanten von seinen Flügeln. Khairt holte tief Luft und zog sich aus. Als er die schwarzen Kleidungsstücke ablegte und sich der frischen Luft preisgab, fühlte er sich, als würde er einen Traum abstreifen. Nackt ging er ein Stück bachabwärts, bis er an eine Stelle kam, die tief genug war, um darin zu liegen. Zuerst wusch er die schweißverklebte Kleidung. Dann kniete er in der Strömung, füllte die gewölbte Hand mit Wasser und ließ es über die tätowierten Blumen auf seinen Armen und die auf seine Brust tätowierten vielfarbigen Vögel laufen. Er sank in das Wasser. Die Haare an seinen
Beinen verbargen die braunen Zeichen fast vollständig, aber immerhin konnte man noch erkennen, daß sie Baumrinde darstellen sollten. »Laß meine Beine wie Eichenstämme sein«, hatte er dem Tätowierer gesagt. Und diese Wahl war wie eine Prophezeiung gewesen. Im Kampf schienen seine Beine im Boden verwurzelt. Niemand hatte ihn umwerfen können, ganz gleich wie hart die anderen Ringer auch nach seinen Knien getreten hatten. Unbeweglich war er dagestanden, wartete auf seinen Augenblick, wartete auf den richtigen Zeitpunkt, da er sich auf den Gegner werfen, ihn festhalten oder aus dem Ring wirbeln konnte. Er war so unbeugsam wie eine Eiche. Und gleich dem Baum konnte er sich nicht beugen, und er zerbrach, als er dann doch einmal nachgeben mußte. Während eines Kampfes hatten zwei verhängnisvolle Hiebe seine Knie zerschmettert und seine Laufbahn beendet. Khairt rollte sich im Wasser herum, ließ die Strömung über seinen Körper spülen. Er reckte sich wohlig und stand schließlich tropfend auf. Waren die Blumen im Gestrüpp vorher nur bunt gewesen, so strahlten sie nun. War der Gesang der Drossel vorher wundervoll gewesen, so war er nun betörend. Bunte Wolken von Schmetterlingen tanzten in der Luft. »Eyah!« rief Khairt dreimal den Jubelruf der
Oneah. Er schüttelte den Kopf, verspritzte Wasser und Freude gleichermaßen. Er stampfte mit dem bloßen Fuß auf die Blätter und mißachtete dabei den Protest seines Knies. »Koy!« schrie er. »Erster Schritt!« Er tat den ersten Schritt seiner Schule, bewegte sich im Gleichgewicht, wie man es ihn ganz zu Anfang gelehrt hatte. »Izza!« rief er aus. »Erste Drehung!« Er vollführte die Dreivierteldrehung, die Beine immer fest auf dem Boden. Die schwierigeren Schritte fielen ihm so leicht wie das Luftholen, obwohl er sie lange Jahre nicht probiert hatte. Diese Bewegungen - ›der Tanz, der Knochen bricht‹ - gehörten nicht zu den Schritten der Ringer. Innerhalb des Hofes waren sie verboten, da sie nicht zum Sport gehörten, sondern zur Kriegskunst. Khairt tat einen Laufschritt, sprang in den geflügelten Seitentritt und landete anschließend auf einem Bein. Sein Knie zitterte. Er verbiß sich den Schmerz und blieb stehen. Es gelang ihm, sich zu drehen, und schon war er beim nächsten Schritt, den weitausladenden Gesten, die ihn an Wellen erinnerten. Ja, er tanzte. Er fing mit dem ›Gang der kreisenden Nadeln‹ an, drehte sich wieder und wieder, wirbelte über den Waldboden. Er fühlte sich so lebendig wie schon seit Jahren
nicht mehr. Ittono Khairt ni Hata Kan, Großmeister des Hofes, tanzt noch einmal, und in seinem Tanz lebt der Hof der Tausend Tausende wieder auf... Grüne Augen. Noch eine Drehung, noch eine, und... Grüne Augen. Er hielt inne. Jemand beobachtete ihn. Khairt drehte sich zur anderen Seite; er war ein wenig schwindlig, seine Knie pochten schmerzhaft. Da. Auf der anderen Seite des Baches, im Schatten des Efeus, zwischen den Bäumen. Zwei Lichter, grünglänzend wie Hexenkäfer, kaum eine Handbreit auseinander. Sie blinzelte, trat vor, und erst als sie sich bewegte, konnte er sie richtig wahrnehmen. Fast schien es, als sei sie unsichtbar gewesen, aber nun merkte er, daß er sie die ganze Zeit über gesehen hatte, aber ihre Füße nicht von den Wurzeln und ihre Arme nicht von den Ästen unterschieden hatte. Er hatte ganz einfach nicht gewußt, wie er sie sehen mußte. Je mehr sie sich bewegte, um so deutlicher erkannte er sie. Die Arme endeten nicht in Zweigen, sondern in Händen ähnlich den seinen. Ihre Füße waren Füße, keine Wurzeln. Wieso hatte er ihre Haut für Baumrinde gehalten, wenn sie doch nur mit Tätowierungen in diesem
Muster bedeckt war - genau wie seine eigenen Beine? Und in Wirklichkeit leuchteten ihre Augen nicht wie Hexenkäfer. Sie waren grün und hatten einen völlig normalen Glanz. Sie lächelte, und Khairt wußte nicht, ob er jemals zuvor eine so schöne Frau gesehen hatte. Nicht einmal die Oneah-Kurtisanen kamen ihr gleich. Schön, aber auch gefährlich, wenn er sie verärgern würde. Er beobachtete sie aufmerksam. Sie drehte sich im Kreis, hielt inne und blickte ihn fragend an. Khairt zuckte die Achseln, Sie wiederholte die Bewegungen. »Ah!« rief er aus, »Der Gang der kreisenden Nadeln!« Er lächelte. »Nein, nein. So nicht. Dein Knie muß auf gleicher Höhe mit der Hüfte sein. Und die Zehen mußt du so halten.« Er zeigte es ihr und schaute zu, wie sie ihn nachahmte. »Ja«, nickte er beifällig, »so ist's besser. Jetzt achte auf deine Hände.« Erneut führte er ihr die richtigen Bewegungen vor, sie folgte ihm, und schon bald tanzten sie zu beiden Seiten des Baches den ›Gang der kreisenden Nadeln‹. Sie tanzten, bis sie den Busch erreichten, auf dem Khairts schwarze Kleidungsstücke zum Trocknen hingen. »Götter und Schwerthiebe!« rief er aus,
besann sich auf seine Blöße und riß die Sachen an sich. Die Dryade verschwand. Khairt starrte auf die Stelle, an der sie gestanden hatte. Dann schüttelte er lachend den Kopf. »Ich bitte um Verzeihung, Dame des Waldes«, sagte er. »Ich bin nicht daran gewöhnt, ohne Lendentuch zu tanzen.« Er riß die nasse Tunika entzwei, um einen Schurz zu erhalten, aber sie kehrte nicht zurück. Von Zeit zu Zeit hielt Daisilodavi inne, um dem Klang einer Männerstimme zu lauschen, die sich im Takt eines religiösen Liedes hob und senkte. Allmählich wurde das Geräusch lauter, und nun war der Meuchler in der Lage, auch die Eigenart des Gesangs zu beurteilen. Die Stimme hallte wider, allerdings nicht mit dem krassen Echo eines schmalen Gangs. Dies war der volltönende Widerhall eines großen Raumes. Und er hatte ihn fast erreicht. Er hielt einen Augenblick lang inne, schraubte den Docht der Öllampe herunter, bis nur noch eine winziges bläuliches Flämmchen zu sehen war, und schlich dann ohne Licht ein kleines Stück weiter. Am Ende des Gangs konnte er einen orangefarbenen Lichtschein ausmachen. Er kehrte um, drehte den Docht wieder herauf, und vergewisserte sich, daß alle Nadeln und Klingen am rechten Platz steckten. Dann machte er sich
erneut auf den Weg, pfiff dabei die Melodie eines fröhlichen Trinkliedes, dessen Takt bedeutend schneller als der des Chorais war. Der Gesang verstummte. Daisilodavi pfiff weiter. Kurz bevor er die große Höhle betrat, begann er zu singen: Hat ein Mädel frohen Mut, Und ist sie auch noch reich, Und wenn sie alles für mich tut, Dann heirat ich sie sogleich, Hei, heirat ich sie sogleich. Als er in den Raum ging, lachte er herzhaft. »Sie heiraten! Lieber würde ich mich ertränken!« Er lachte noch einmal. Der Raum war erheblich größer als der erste, durch den er gekommen war. Auf der gegenüberliegenden Seite, hoch oben auf einem Steinhügel, brannte eine Lampe, aber niemand war zu sehen. »He, haben mich meine Ohren getrogen oder wurden hier gerade Gebete gesungen? He da, hallo, gibt es hier einen frommen Mann?« Keine Antwort. Daisilodavi kniff die Augen zusammen. Er konnte einen Felsvorsprung ausmachen, der wie ein Bord auf der Höhe der Lampe um die Höhlenwände herumlief.
»Was wollt Dir?« fragte eine Stimme. Wegen des Echos konnte Daisilodavi nicht sagen, aus welcher Ecke sie kam. »Ich möchte Wein«, sagte der Meuchler. »Ich bin seit Tagen ohne Wein. Habt Ihr welchen?« »›Wein ist der Fluch des Gedankens.‹ So spricht der Prophet Eziir.« »Ach so. Nun, in dem Fall ist es zwecklos zu erwarten, das Ihr welchen besitzt. Bier vielleicht? Met?« »›Trinke keine starken Gebräue, keinen Wein, keinerlei gegorene Getränke, so dein Geist und Körper nicht sterben mögen‹«, sprach die hallende Stimme. »So sprach die Prophetin Haprina während ihrer Predigt vor den Königen. So lauten die Worte der Propheten.« »Aha, jetzt weiß ich, wie die Dinge liegen«, meinte Daisilodavi. »Ich habe wenig Hoffnung auf Wein. Also, ehrenwerter Herr Glinham, Ihr werdet doch sicher nichts dagegen haben, wenn ich nur darum bitte, mich niedersetzen und rasten zu dürfen, nicht wahr?« »Ihr nennt einen Namen, der nicht mehr gültig ist.« »Sicher, sicher. Ich nehme an, Ihr habt jetzt einen anderen Namen. Den eines Einsiedlers.« Die Stimme antwortete nicht. Daisilodavi ließ den Blick über den Felsvorsprung schweifen, sah aber nichts, was auf Glinham hindeutete.
»Weshalb seid Ihr gekommen?« fragte die Stimme. »Würdet Dir mir glauben«, erwiderte Daisilodavi, »wenn ich sagen würde: Um zu morden?« Er kicherte leise. »Übrigens fand ich dies Armband und andere Wertsachen.« Er ließ das Licht der Lampe über das Gold spielen. »Aber das sollte ich wohl nicht erzählen, denn dann werdet Ihr sie zurückhaben wollen, stimmt's?« »Jene sind wie die Haut einer Schlange, abgelegt mit meinem früheren Leben, ich will sie nicht mehr.« »Ihr seid recht asketisch geworden, wie?« Daisilodavi stellte die Lampe auf den Höhlenboden. »Vom fetten Kaufmann zum Einsiedler?« »›Die Reichtümer der Erde wiegen für den Frommen so schwer wie die Steine in der Tasche des Ertrinkenden.‹ So sprach der Prophet Pringle in den Zeiten der Silbersonne.« Dann schwieg Glinham lange Zeit. Endlich fragte er: »Hast du immer noch vor zu morden?« »Das Herz des Shanodin verändert einen Mann«, bemerkte Daisilodavi. »Es macht ihn ehrlich«, stellte Glinham fest. »So sprechen die Propheten.« »Das stimmt nicht. Die Propheten haben sich über den Wald von Shanodin ausgeschwiegen.
Aber Odamulus der Seher hat etwas über diesen Ort geschrieben. Er schrieb: ›Im Herzen des Shanodin lebt ein Mann so, wie sein Herz es ihm befiehlt und folgt dem Pfad, dem er ansonsten nicht folgen will oder zu folgen wagt. Im Herzen des Shanodin wird alles offenbart.‹« »Und deshalb seid Ihr hierhergekommen, nachdem Ihr Amjad, möge sein Name Trunksucht verursachen, erzürnt habt. Wer auch immer von Amjad geschickt wurde, muß hier sein wahres Ich entblößen. Eine weise Entscheidung. Eine frohe Wahl. Eine Strategie, auf die man trinken sollte!« Daisilodavi blickte suchend auf dem Höhlenboden umher. »Habt Ihr nicht vielleicht ein paar Weinschläuche fortgeworfen, als Ihr Euch der Juwelen entledigt habt? Gibt es hier nirgends einen Tropfen zu trinken?« »Keinen Wein«, erwiderte die priesterliche Stimme Glinhams. »Und was die Weisheit meiner Entscheidung angeht, nun, sie ist nicht nur weise, sondern auch närrisch gewesen. Ich habe hier meine wahre Berufung gefunden: den Pfaden der Propheten zu folgen. Aber was verlangen die Propheten? ›Laß das Licht leuchten für den, der es erkannt hat, damit es nicht nur seine Augen erhelle.‹ So spricht der Prophet Eziir.« »Die Worte der Propheten sind zu spitzfindig
für mich.« »Es besagt, daß auch ich leuchten muß. Ich muß hinaus in die Welt gehen und anderen das Licht der Propheten zeigen. Wenn ich aber den Shanodin verlasse, wird mein früheres Ich wiedergeboren. Draußen in der Welt, in die ich das Licht bringen soll, werden meine Augen wieder getrübt. Ich werde mich wieder mit Gold, Spezereien und Seidenstoffen befassen.« »Ach so«, sagte Daisilodavi. »Das Pendel schwingt also von einer Seite zur anderen - so wie du zwischen den Propheten und dem Profit pendeln wirst.« Glinham blieb ernst. »Außerhalb des Shanodin«, erklärte er, »werde ich nicht fromm sein, und Ihr werdet kein harmloser, nach Wein lechzender Narr sein.« Mit diesen Worten trat Glinham vor. Die ganze Zeit über hatte er dicht bei der brennenden Lampe gesessen. Er trug eine seidene Tunika, die an den Rändern, an denen er die feinen Stickereien abgerissen hatte, ausgefranst war. Tiefe Traurigkeit lag in seiner Stimme, als er sprach: »Wenn ich fortgehe, folge ich den Worten der Propheten nicht länger. Will ich ihnen jedoch Folge leisten, darf ich nicht hier bleiben.« »Fürwahr ein trauriges Rätsel«, gab Daisilodavi zu. Er seufzte vernehmlich. »Ihr
könntet nur zu den Shanodin-Bezauberten predigen. Niemand sonst würde Eure heiligen Worte hören.« Wieder seufzte er. »Man sollte Kummer am besten mir Wein herunterspülen. Kein Tropfen - seid Ihr sicher?« »Was sagtet Ihr?« Daisilodavis Gesicht erhellte sich. »Ah, also habt Ihr doch Wein!« »Nein, nein. Davor habt Ihr etwas über die Shanodin-Bezauberten gesagt. Aber natürlich, da seid zum Beispiel Ihr! Zu Euch werde ich predigen!« Daisilodavi ergriff die Lampe und wich zurück. »Nicht wenn es hier drin keinen Wein gibt. Nein danke, nein, nein, keine Worte der Propheten mehr für mich!« Als sich Daisilodavi zur Flucht wandte, kletterte Glinham unbeholfen über die Felsbrocken. »Wartet! Wartet!« rief er. »Gebete sind besser als Wein! Das werdet Ihr schon sehen!« Als seine Knie keine weiteren Tanzschritte aushallen konnten, setzte sich Khairt unter einen Baum, das Gesicht dem Bach zugewandt. Die Geräusche des Waldes, seine sinnlichen Gerüche und die vereinzelten Sonnenstrahlen drangen ihm ins Herz, und es dauerte nicht lange, bis er erneut tanzte, allerdings nur von der Hüfte an aufwärts.
Sitzend bewegte er die Arme, ließ sie die Figuren des ›Tanzes, der Knochen bricht‹ und anderer Tänze vollführen. Dann improvisierte er, stellte Licht und Schatten des Waldes oder den neckenden Schrei eines Eichelhähers durch ein Erschauern der starken Arme oder das Zusammenrollen der Finger dar. Auf der anderen Seite des Baches sah er im Schatten des Unterholzes einen Ast den Bewegungen seines Armes folgen. Er lächelte. Noch immer sitzend, wiegte er den Oberkörper von einer Seite zur anderen und wurde scheinbar von einem Baumstamm nachgeahmt. Aber eine Sekunde später war es dann kein Baumstamm mehr, sondern: Sie. Ihre grünen Augen sprühten, wurden dann wieder zu den Augen einer Sterblichen, Sie hob das Bein und tanzte, spiegelte die Bewegungen seiner Arme wider. »Meine Dame, wunderschöne Dame, entzückendes Mädchen«, sprach Ittono Khairt ni Hata Kan. »Keiner der Goblins, die ich in Oneah gesehen habe, war so schön wie das Efeu Eures Waldes. Keiner der Musikanten, die vor den Königen der Tausend Tausende gespielt haben, konnte es der Drossel gleichtun. Meine Dame, keine der Frauen, vor denen ich mich verneigte oder die ich liebte, war wie Ihr.« Wenn sie ihn verstanden hatte, so gab sie es nicht zu erkennen. Sie tanzte und tanzte immer
weiter, auch noch als Khairts Arme plötzlich schwer wurden und er ihr nicht länger zusah. Sein Atem ging langsamer, wurde tiefer. Sie tanzte bis an den äußersten Rand des Ufers, und erst als seine Augenlider schwer wurden und sich langsam schlossen, flog ein Lächeln über ihr Gesicht. Er wollte etwas sagen. Er wollte Zeilen eines Gedichtes sprechen, aber die Zunge lag ihm bleiern im Mund und wollte sich nicht rühren. Schlafe ich? fragte er sich. Ich will nicht schlafen. Ich will keinen Augenblick ihrer Gegenwart durch Schlaf versäumen. Aber falls er schlief, so träumte er wenigstens, daß sie bei ihm war, denn er fühlte ihre Fingerspitzen über die tätowierten Blumen und Vögel fahren. Im Traum spürte er die sanfte Berührung auf den Linien der Baumrinde, die seine Beine schmückten. Ihre Berührung war angenehm, doch gleichzeitig fühlte er sich in Gefahr. Wenn sie ihm Böses tun wollte, war er zu hilflos um sich zu wehren. War die Dryade nicht ein Geschöpf des Waldes? Konnte sich nicht, wie zum Beispiel bei einem Bären, ihre Neugier in Wut verwandeln? Mit aller Kraft versuchte er, die Augen zu öffnen. Es gelang ihm nicht. Wieder bemühte er sich. Er war ein Mann, der
noch bis zur letzten Runde im Ring gestanden hatte, um den letzten Kampf zu Ende zu bringen, obwohl ihn bereits eines seiner Knie nicht mehr aufrecht halten konnte. Mit derselben Kraft zwang er sich, die Augen zu öffnen. Grüne Lichter. Sanft drückte sie ihm die Augen zu. Glinham starrte auf die Blutlache in seiner Handfläche. In dem gelblichen Licht schimmerte Daisilodavis Dolch. »An der Spitze haftet langsam wirkendes Gift«, erklärte er. »Es erschien mir wie eine Gnade. Auch wenn Ihr Schmerzen aushalten müßt, habt Ihr doch wenigstens ungefähr eine Stunde, in der Ihr Euren Frieden finden könnt, und Trost durch die Propheten.« Eine Nadel blitzte in der anderen Hand des Meuchlers auf. »Ich kann Euch auch das schnelle Gift geben, wenn Euch das lieber ist. Noch mehr Schmerzen, aber es ist sofort vorbei.« Tränen schossen in Glinhams Augen. »WWieso?« »Damit meint Ihr doch sicher«, ergänzte Daisilodavi, »wieso ich dem Zauber des Shanodin entkommen bin? Immerhin hat er aus Euch einen frommen Mann gemacht, obwohl Dir früher nur das Gold angebetet habt.«
»O nein! Ich liebte die Worte der Propheten, fürchtete mich aber, nach Ihnen zu leben.« Er umfaßte sein Handgelenk. »Es brennt so sehr!« »Wie auch immer, all Eure Untergebenen veränderten sich, und auch mein Begleiter, der draußen auf mich wartet, wird zu einem anderen Mann, ist nicht mehr der brutale Schlächter, den König Amjad liebt. Also, wie bin ich entkommen? Wieso bleibt Daisilodavi einfach Daisilodavi? Ist das wirklich so ein schweres Rätsel?« Glinham betrachtete seine Wunde und biß sich auf die Lippen, Seine Hand zitterte, und er ballte die Faust. »Stimmt, Ihr habt jetzt anderes im Kopf, deshalb verrate ich Euch die Lösung. Seht Ihr, Amjad hat mich einst hierhergebracht, um die wahre Natur seiner engsten Diener zu erkennen. Und er nannte es: ›So mörderisch und fröhlich wie du da draußen bist, so mörderisch und fröhlich bist du auch hier drin.‹ Man könnte auch sagen...« Der Meuchler beugte sich dicht zu dem zitternden Glinham vor. »Ich schauspielere. Ich tue nur so, als ob. Ich lüge. Ich wechsle mein Wesen von einer Sekunde auf die andere. Und was steckt dahinter? Was versuche ich durch all das zu verbergen?« Er lächelte. »Ich bin ein Schauspieler. Ein Lügner. Ein Hochstapler. Mein
wahres Ich ist, daß ich gar kein wahres Ich habe.« »›Es ist süß, daß Auge des Himmel zu begrüßen‹«, stöhnte Glinham. »So sprach die Prophetin Niptea, als sie verbrannt wurde.« »Hat sie das wahrhaftig gesagt?« wunderte sich Daisilodavi. »Das schnelle Gift!« bettelte Glinham. »Gebt mir das schnelle!« Khairt hörte ihn kommen. Vielmehr hörte er die Stille: Die Insekten brummten nicht mehr, und das Schweigen breitete sich kreisförmig aus, folgte den Bewegungen des Meuchlers. Khairt wußte, daß Daisilodavi seine Rüstung betrachtete, wußte, daß er den Haufen schwarzer Kleidungsstücke anstarrte. Lange bevor Daisilodavi vor ihm stand, spürte er bereits dessen Gegenwart. »Oneahn«, stellte der Meuchler fest. »Das ist es also. Ein Liebhaber der Schönheit am Hofe von Oneahn. Kein Wunder, daß ich deinen Dialekt nicht erkannt habe. Jene Rasse ist doch ausgestorben.« Khairt öffnete die Augen. »Wir haben unseren Auftrag beendet«, teilte ihm der Meuchler mit. »Unser Herr erwartet uns zu weiteren blutigen Taten.« »Ich bleibe hier«, sagte Khairt.
»Ritter, du hast gar keine Wahl. Du hast Amjad den Treueschwur geleistet.« »Geh. Er hat genügend todbringende Hände mit den deinen.« »Oh, wir beide sind aber verschieden. Meine Hände töten unsichtbar, aber er bedarf deiner Hände genauso. Man kann nicht immer heimlich zuschlagen.« »Ich gehöre ihm nicht länger.« »Das würde stimmen«, meinte Daisilodavi, »das würde stimmen, wenn nur der Fluch dieses Waldes nicht wäre.« »Es ist kein Fluch. Ich bin heimgekehrt. Bitte laß mich allein, Daisilodavi.« Er holte tief Luft. »In diesem Wald klingt sogar dein Name wie Musik.« Er wiederholte den Namen. »Und du beschuldigst mich, dummes Zeug zu reden«, stellte der Meuchler fest. »Ich lebte einst im Mittelpunkt der Erde, Daisilodavi, denn das war der Hof der Tausend Tausende. Ich dachte, daß ich im Herzen der Schönheit lebte. Ringen war schön. Es war schön, im glänzenden Hof unter dem Dach der Lichter zu stehen. Und die Frauen des Hofes...« »Das ist lange vorbei.« »Ja. Für mich war es vorbei, als meine Kräfte mich verließen. Aber ich glaubte, daß es für alle Zeiten in seiner Schönheit bestehen würde - vor dem Goblin-Krieg.«
Daisilodavi blickte zur Seite. »Du brauchst nicht weiterzusprechen.« »Warum nicht? Das ist doch der Grund, weshalb Amjad wollte, daß wir hierherkommen: Er wollte mein Ich kennenlernen. Hör zu, damit du es ihm genau erzählen kannst. Als die Städte und der Hof der Tausend Tausende fielen, glaubte ich, nie wieder etwas Schönes erblicken zu dürfen. Obwohl auch ich, wenn alles zu Staub wird, ebenfalls zu Staub werde. Deshalb wanderte ich weit fort, bis ich einen Meister fand, der mich in der Handhabung des Breitschwertes unterwies. In Oneahn waren scharfe Waffen verboten. Im Stahl wohnt die Sünde. Es war mir egal. Ich hatte beschlossen, genauso hartherzig wie jeder Goblin zu werden.« Bei den letzten Worten bebte seine Stimme. Drohend rief er aus: »Soll Amjad mich doch sehen und sogar er mich fürchten!« »Das ist der Khairt, den ich kenne!« Khairt lachte. »Nicht mehr. Ich habe Schönheit gesehen und schließe daraus: Schönheit wird länger bestehen als Staub.« »Nein«, erwiderte der Meuchler, »alles wird zu Staub.« »Nicht das Singen der Vögel. Nicht das Licht der Sonne. Laß mich allein. Überlaß mich dem Anblick des Waldes.« »Fürchtest du die Dryaden denn nicht?«
Khairt lächelte. »Man mag Furcht kennen, muß sich aber nicht davon überwältigen lassen. Nur ein Narr würde sie nicht fürchten.« Beinahe hätte der Meuchler etwas gesagt, konnte sich aber gerade noch zurückhalten. »Ich verstehe«, sagte er. Er ging ein Stück davon, hielt dann inne und sagte über die Schulter hinweg: »Staub wird dich besiegen, Khairt. Und Staub wird länger bestehen als Schönheit.« Dann verschwand er. Khairt tanzte und übte im letzten Tageslicht, und er wußte, daß sie ihn beobachtete, obwohl sie nicht zurückkehrte. »Grün, schöner als Gold, mein Herz ist grün«, sprach er. Das war die Zeile des Gedichts aus Oneahn, die er ihr gern gesagt hätte. Er wünschte, er könnte sich an den Rest des Gedichts erinnern, aber es war nicht mehr da. Weg, wie auch Oneahn nicht mehr da war. Er wollte nicht an das denken, was er verloren hatte. Diese Gedanken gehörten zu seinem dunklen und verletzten Ich. An diesen Ort gehörten keine Gedanken an Tod und Zerstörung. Das Herz des Shanodin war das Leben selbst. Als die Dämmerung sich neigte, lehnte er sich wieder an den Baum, um auf sie zu warten. Wie zuvor wurden auch jetzt seine Arme schwer. Wie zuvor konnte er auch jetzt die Augen nicht
aufhalten. Nahe. Sie war ganz nahe. Mit einer federleichten Geste berührte sie seine Haut. Dieses Mal träumte er in seinem Wachtraum von blumenbedeckten Steppen, den süßen Gefilden seiner Jugend. Er erwachte beim Klang einer vertrauten Stimme. »Höchste Zeit, daß du dich rührst«, sagte Daisilodavi. Er saß auf einem Baumstamm. »Es ist schon nach Sonnenaufgang. Wir haben noch einen langen Ritt vor uns, um aus diesem Wald herauszukommen!« Khairt rieb sich die Augen und stand auf. »Ich dachte, du bist fort.« »Ich war fort«, entgegnete Daisilodavi. »Ich bin umgekehrt.« Er warf schwarze Fetzen vor Khairts Füße. »Zieh dich an. Du wirst doch wohl nicht nackt reiten wollen. Und leg die Rüstung an. Wenn wir nicht schnell genug reiten, werden wir kämpfen müssen.« »Ich habe hier keine Feinde«, erklärte Khairt. »Jetzt schon«, behauptete Daisilodavi. »Wir beide haben Feinde.« Als er sich erhob, erkannte Khairt den Umriß des Baumstammes, den er als Bank benutzt hatte - die Wölbung der Wade, die ausladenden Hüften, die Schultern.
Khairt stöhnte ungläubig auf. Er richtete sich mit knackenden Knien auf und ging zu ihr, drehte sie um, blickte in das verzerrte Gesicht. »Ihre Schwestern werden sich nicht mit Einzelheiten aufhalten«, sagte Daisilodavi. Seufzend sattelte er Khairts Pferd. »Wenn man sie vermißt, werden sie hier suchen. Bei den Dryaden gibt es keine Gerichte, keine Gnade. Sie fallen in großer Überzahl über alle Sterblichen in der Nähe des Tatortes her und vernichten sie.« Khairt stieß keine Warnung aus. Wenn er sich wie der Ritter bewegt hätte, den Daisilodavi kannte, hätte der Meuchler ausweichen können. Aber Khairt bewegte sich mit den schnellen Tanzschritten Ittono Khairt ni Hata Kans, und seine Knie hielten stand. Blitzschnell legte sich eine Hand um die Kehle des Meuchlers, drückte ihn nach hinten über den anderen Arm. Aus den Augenwinkeln sah Khairt die Nadel in Daisilodavis Hand. Sie blickten sich in die Augen. Würde Khairt einmal zudrücken und den Arm bewegen, wäre Daisilodavis Kehle zerdrückt und sein Rücken gebrochen. Der letzte Stich der sterbenden Hand würde auch den Ritter-Ringer töten. »Warum?« knurrte Khairt grimmig. »Haßt du mich, weil ich dein Rivale bin? Aber ich wäre nicht länger dein Rivale gewesen! Warum? Du hast sie getötet, um mich zu zerstören!«
Würgend stieß Daisilodavi mit halberstickter Stimme hervor: »Nein, ich wollte dich erhalten.« Khairt blickte ihm lange in die Augen, ließ ihn dann auf den Waldboden fallen. Wortlos nahm er die schwarzen Fetzen, schüttelte sie aus und kleidete sich an. Nördlich des Shanodin, in der Ebene der Sonnen, wiegte sich das Gras im Wind. Es gab keinen Pfad. Die beiden Reiter - der eine, angetan mit einer Rüstung, saß auf einem schwarzen Streitroß, der andere, graugekleidete ritt ein hochbeiniges Pferd - bewegten sich durch die Wellen aus Gras. Sie ritten auf gleicher Höhe, mit weniger als einer Schwertlänge Abstand. Keiner der beiden sah nach links oder nach rechts. Sie sprachen nicht. Nicht einmal als sich die Ebene in Marschland verwandelte und später dann in Sümpfe überging. Nicht einmal als sie die fauligen und stinkenden Moore ihres Herren Amjad erreichten. Möge sein Name euch verstummen lassen. M. C. SUMNER
In der Falle Kolli schob sich durch den Vorhang, der die Türöffnung bedeckte, und krauste die Nase, als
sie den beißenden Gestank wahrnahm. Der Laden war eng und schmutzig; durch die mit Ölpapier bespannten Fenster drang nur ein schmuddelig wirkendes Licht herein. Von den Deckenbalken hingen ein Dutzend Tierfelle herab, die das Innere des Raumes in ein Labyrinth aus Häuten verwandelten. »Einen guten Morgen wünsche ich«, rief eine rauhe Stimme hinter den Häuten hervor. »Was kann ich heute für dich tun?« »Ich suche Morl«, erwiderte Kolli. Unterhalb der pelzigen Wand erschienen schwere Stiefel, in denen dicke Beine steckten. »Ich bin Morl.« Eine letzte Haut wurde beiseite geschoben, und zum Vorschein kam das bärtige Gesicht eines breitschultrigen Mannes. Anfangs konnte er sie nicht sehen und blickte suchend nach rechts und links, ein eingefrorenes Lächeln auf den Lippen. »Hier unten.« Morls bärtiges Gesicht wandte sich ihr zu, und das Lächeln verblaßte beim Anblick ihrer abgewetzten Kleidung. »Wer bist du?« »Dason schickt mich.« Morl rieb sich mit der wurstfingrigen Hand über die wäßrigen Augen. »Dason? Na und, weshalb hat er dich geschickt?« »Er meinte, du hättest Schwierigkeiten mit...« Morl drehte sich um und ging durch die hin
und her pendelnden Felle davon. »Geh zurück und richte Dason aus, daß er jemanden schicken soll, der alt genug ist, um sich die Schuhe selbst zu schnüren.« Kolli schob sich ebenfalls zwischen den Häuten durch und folgte ihm. »Ich bin vierzehn und ich habe viel...« »Mädchen, du bist nicht einmal groß genug, um ein gutes Frühstück abzugeben. Geh und hol deinen großen Bruder.« »Ich habe schon mit Dason gearbeitet, ich...« Morl wandte sich wieder zu ihr um, »Man kann aus der Schale eines Bettlers kein Wechselgeld nehmen! Sag Dason, er soll jemand anderes schicken.« »Laß mich endlich einen Satz zu Ende bringen!« schrie Kolli. »Ich habe keinen großen Bruder. Und Dason schickt keinen anderen, weil du nicht genug zahlst, um jemand anderes anzuheuern.« Sie stemmte die Hände in die schmalen Hüften. »Und du brauchst niemand anderes. Du brauchst nur mich.« Morl runzelte die Stirn. »Was du nicht sagst!« Er ging weiter und ließ sich hinter einem stabilen Tisch nieder, der mit losen Fellfetzen bedeckt war und dessen Oberfläche dunkle Flecken aufwies. »Jawohl«, bekräftigte sie. »Hat dir Dason erzählt, worum es geht?«
»Nein, aber das ist ganz gleich«, sagte Kolli. »Ich eigne mich hervorragend.« Sie trat bis an die Tischkante, beugte sich vor und stützte die Hände auf das rauhe Holz. »Was soll ich für dich stehlen?« »Sei vorsichtig«, mahnte Morl. »Du möchtest deine feinen kleinen Hände doch wohl nicht auf irgendwelche widerwärtigen Dinge legen.« Kollis Blick flog über den verfärbten Tisch, aber sie rührte sich nicht. »Was soll ich für dich stehlen?« wiederholte sie. »Was ich brauche, ist ein Geheimnis.« »Wie kann ich es stehlen, wenn du mir nicht verrätst, was es ist?« Morl wedelte mit einer fleischigen Hand. »Mädchen, so meine ich das nicht. Das soll heißen, daß ich hinter Informationen her bin. Ich brauche das Geheimnis eines anderen für mich.« »Wessen Geheimnis?« erkundigte sich Kolli. »Kalent Ush' Geheimnis«, erwiderte Morl mit gesenktem Blick. Kolli runzelte die Stirn. »Der Händler aus Keldon? Der draußen im Wald lebt?« Morl nickte. »Genau der.« Seine wulstigen Lippen verzogen sich zu einem hämischen Grinsen. »Jetzt bist du schon nicht mehr so sicher, was?« »Ich habe noch nie außerhalb der Stadt gearbeitet«, sagte Kolli nachdenklich. Sie
zögerte einen Augenblick. Man erzählte sich schreckliche Geschichten über Dinge, die sich außerhalb der Stadt zugetragen hatten. Erst in den letzten Tagen waren wieder ein paar Leute verschwunden. »Ich schaffe es. Was willst du denn wissen?« Der bullige Mann beugte sich über den Tisch, bis sein kantiges Gesicht beinahe das ihre berührte. »Ich muß erfahren, wie Kalenth Ush an die Felle der Silberwölfe kommt.« Kolli zog die Stirn kraus. »Ich würde annehmen, daß er Fallen aufstellt. Glaubst du etwa nicht?« »Nicht hier«, sagte Morl kopfschüttelnd. »Ich habe im Umkreis von hundert Wegstunden noch von keinem Silberwolf gehört. Aber Ush bringt immer wieder Felle vorbei.« Er lehnte sich zurück, ergriff einen Pelzfetzen und rieb ihn zwischen den Fingern. »Nichts ist so gut wie ein Silberwolffell: weich, warm, gut zu färben. Und kein Tier der Erde ist so schwer zu fangen: mannshoch, gefährlich und nur bei Nacht zu sehen.« »Ich verstehe nicht«, unterbrach ihn Kolli, »welche Rolle es spielt, woher dieser Keldon die Felle hat.« Morl schnaubte. »Wenn es viele Silberwolfpelze gibt, verlieren andere Felle an Wert. Warum Kaninchen oder gewöhnlichen
Timberwolf kaufen, wenn man Silberwolf kriegen kann? Wenn das so weitergeht, wird jeder Fallensteller, jeder Gerber und jeder Pelzhändler in der Stadt bald arbeitslos sein.« »Ich finde heraus, woher er die Felle bekommt«, versprach Kolli. »Du hast mein Wort darauf.« »Nun«, meinte Morl, »ich kann nicht behaupten, daß mich das besonders beruhigt. Lauf schon los, Mädchen, aber treibe deine Spiele mit Ush mit äußerster Vorsicht. Er ist nicht viel freundlicher als einer der Wölfe.« Kolli kannte jede noch so verwinkelte Gasse und jedes mit Vogelkot bedeckte Dach der Stadt, aber die Wälder waren für sie ein Geheimnis. Verglichen mit den dichtgedrängt stehenden Häusern und den verschachtelten Straßen boten die dicken Stämme der uralten Bäume wenig Deckung. Kolli schmiegte sich eng an den rauhen Stamm einer Eiche und hoffte, daß ihre farblose Kleidung mit der knorrigen Rinde verschmelzen würde. Ein Dutzend Schritte entfernt, am Ende des staubigen Pfades, lag das Haus des Kalenth Ush. Hinter dem hohen, aus angespitzten Pfählen bestehenden Zaun erblickte man die spitzen Dächer mehrerer verfallener Gebäude. Zur Straße hin sah sie ein schmales Tor, das
allerdings geschlossen war. An einer langen Stange flatterte, ähnlich der Flagge eines Regimentes, ein graues Pelzstück als einziger Hinweis auf den Beruf des Keldoniers. Von einem der Gebäude stieg eine Rauchfahne auf, und Kolli nahm den Duft von brennendem Fichtenholz wahr. Ush war daheim. Die bloße Tatsache, daß sich der Händler sicher genug fühlte, um außerhalb der Stadtmauern zu leben, sagte eigentlich genug über den Mann aus. Die Wälder ringsum die Stadt waren nicht gerade für ihre Harmlosigkeit bekannt. Banditen, Riesenspinnen und Grizzlybären mit schwertähnlichen Klauen hausten unter den dunklen Bäumen; auch Basilisken waren nicht unbekannt. Kolli fürchtete sich nicht vor den Banditen schließlich hatte sie immer unter deresgleichen gelebt, aber die Tiere... Sie mußte sich beherrschen, um nicht zurück in die Stadt zu laufen, als die rote Sonne am Horizont versank. Wenige Minuten später hörte sie den Hörnerklang der Stadtwachen. Dann ertönte aus der Ferne das Knarren der Balken und Klirren der Ketten, als die schweren Tore für die Nacht geschlossen wurden. Sie wartete, bis sich der Himmel dunkelviolett verfärbt hatte und die Nachtvögel ihren Gesang ertönen ließen, bevor sie sich von dem Baum
löste und auf den Besitz des Keldoniers zuschlich. Kolli rieb sich die verkrampften Arme, verließ den schmalen Baumgürtel und huschte über den staubigen Weg. Sie drückte das Gesicht gegen die klobige Palisade und versuchte einen Spalt zu finden, der ihr einen Blick gewähren würde, aber Ush hatte die Zwischenräume mit Lehm ausgefüllt. Kollis dünne Finger glitten über das Holz, ertasteten jede Unebenheit, jeden Riß. Sie zog sich hoch, und die in weichen Stiefeln steckenden Füße hoben sich vom Boden. Sie kletterte sehr behende. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis Kollis Gesicht zwischen zwei spitzen Pfählen über die Einzäunung lugte. Das größte Gebäude lag am nächsten. Aus einem Loch in der Mitte des Daches stieg Rauch auf, und Kolli hörte das Krachen und Knacken des Feuerholzes. Auf der Rückseite des Anwesens befand sich eine Reihe kleinerer Schuppen. Jeder einzelne war von einem stabilen Zaun umgeben. Zwei der Tore standen offen, die anderen waren mit starken Holzbalken verbarrikadiert. In einer kleinen Einfriedung direkt unter Kollis Ausguck knabberte ein Trio räudiger Schafe an einem Haufen abgemähten Grases. Nachdenklich krauste sie die Nase. Was hatte Ush in diesen Schuppen? Für Vieh waren sie
nicht groß genug, und es fehlten der Lärm und der übliche Abfall, der auf Geflügel hindeutete. Außerdem bot die Palisade den Tieren ausreichenden Schutz vor den Geschöpfen des Waldes. Also waren die Schuppen nicht zum Schütze dessen gedacht, was sich darin befand. Wahrscheinlich sollten sie es davor bewahren, herauszukommen. Ein Lächeln breitete sich langsam über Kollis Gesicht aus, als sie auf die Schuppen blickte. Sie sprang vom Zaun herab und eilte der Stadt zu; sie würde feststellen, ob die Stadtmauern ebenso leicht zu überwinden waren wie der Zaun von Kalent Ush. »Er zieht Silberwölfe auf!« brüllte Morl. Kolli rückte. »Er hält sie da draußen in Schuppen. Er hat sogar Schafe da, um sie zu füttern.« Der Pelzhändler fuhr sich mit der Hand über das struppige Haar. »Aufziehen! Ich glaube es nicht! Wie sollte er wohl mit ihnen umgehen können? Und überhaupt: Wie hat er sie fangen und herbringen können?« Er hielt inne und blickte Kolli durchdringend an. »Hast du die Wölfe gesehen?« »Ich sah die Schuppen.« »Schuppen! Schuppen können sonst was bedeuten. Ich habe dich nicht dafür bezahlt, daß
du herausfindest, ob der Mann Schuppen hat.« »Wenn er da draußen keine Wölfe aufzieht, wie erklärst du dir denn dann die Neuigkeit, die ich von der Stadtwache erfahren habe?« »Welche Neuigkeit?« fragte Morl. »Du hast von den vermißten Händlern und Waldarbeitern gehört?« »Habe ich, aber das sind sicher Banditen gewesen.« »Das glauben alle. Aber letzte Nacht wurden ein paar Reiter von einem wilden Tier angefallen.« »Eine Höllenkatze. Die greifen doch alles an.« Kolli lächelte. »Es war ein Tier, das wie ein riesiger Timberwolf aussah.« »Riesiger Timberwolf«, wiederholte Morl bedächtig. »Ja, könnte sein, daß die Leute hier einen Silberwolf so beschreiben würden. Aber sie unterscheiden sich nur in der Größe; Silberwölfe haben Hände wie Menschen und sind höllisch gefährlich.« »Ein paar von Ush' Schuppen standen leer«, erzählte Kolli. »Ich vermute, daß ein paar seiner Wölfe ausgebrochen sind und sich der Reisenden angenommen haben.« Ein nachdenklicher Ausdruck trat in Morls tiefliegende Augen. »Vielleicht sollte ich ein paar Fallen aufstellen. Könnte meinem Geschäft
nicht schaden, wenn ich ein paar eigene Silberwolffelle anbieten würde.« »Gute Idee«, stimmte Kolli zu. »So, jetzt bezahl mich, und ich werde mich davonmachen.« Morl griff nach seiner Börse, hielt dann inne und fragte: »Und wenn du dich geirrt hast?« »Ich habe mich nicht geirrt!« »Das weiß ich nicht. Und selbst wenn Ush Silberwölfe in den Schuppen gehalten hat, könnte es doch sein, daß sie inzwischen alle getötet wurden oder ausgebrochen sind.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich muß wissen, was jetzt in diesen Hütten steckt.« »Ich habe ausgeführt, was du mir aufgetragen hast«, erwiderte Kolli. »Wenn du mehr willst, mußt du mit Dason verhandeln.« »Ich lege einen Silbertaler drauf.« »Zwei.« »Einverstanden«, stimmte Morl zu. »Aber nur, wenn er Silberwölfe in den Schuppen hält. Keine Wölfe, kein Geld.« Kolli dachte an die schweren Holzbalken vor den Türen dreier Schuppen. Egal was darin war, Ush wollte auf keinen Fall, daß es herauskam. Und wenn sie es geschickt anstellte, würde Dason nichts von der zusätzlichen Bezahlung erfahren. »Einverstanden«, sagte sie. Sie achtete sorgfältig darauf, den Zaun an
einer Stelle zu erklimmen, die möglichst weit von den Behausungen der Schafe und Wölfe entfernt lag. Kolli ließ sich auf den unkrautüberwucherten Boden auf der Innenseite des Zaunes fallen und verharrte ein paar Minuten lang regungslos, um abzuwarten, ob sich im Inneren des Hauses etwas rührte. Kein Lichtschein drang aus dem verfallenen Gebäude, nur der rötliche Schein eines Herdfeuers. Noch war die Nacht klar und dunkel, aber Kolli blieb nur ungefähr eine Stunde, um ihren Plan auszuführen. Schon zeigte sich der funkelnde Strahl des kleinen Mondes hoch am Nachthimmel, bald würde sich der große Mond dazugesellen - dann würde die Nacht für Kollis Vorhaben zu hell sein. Jetzt mußte sie handeln. Sorgfältig bedachte sie jeden einzelnen Schritt; bewegte sich mit leisen, blitzschnellen Schritten vom Zaun auf den ersten Schuppen zu. Die Pferche waren völlig verdreckt. Die stabilen Einfriedungen waren auf den Innenseiten angenagt und beschädigt und fast genauso hoch wie die Palisade rings um das Anwesen. Die Schuppen trugen Spuren häufiger Ausbesserungen und von Gewaltanwendung. Das Holz der Türen war dicker als Kollis Handfläche. Büschel hellen Pelzes hingen an dem rauhen Holz. Aus dem dritten Schuppen drang ein
gedämpftes Geräusch. Da war es wieder - ein leises Jammern. Ich muß sie nur sehen, sagte sich Kolli. Ich muß nur mal reinsehen, die Biester zählen und dann machen, daß ich von diesem schrecklichen Ort verschwinde. Sie drückte das Gesicht an einer Stelle gegen die groben Bretter, an der ein fingerbreiter Spalt war. Es dauerte geraume Zeit, bis sich ihre Augen an die beinahe völlige Dunkelheit im Inneren des Schuppens gewöhnt hatten, und es dauerte noch viel länger, bis sie in der Lage war, das zu deuten, was sie erblickte. Sie sah einen Mann. Er war an Händen und Füßen an die gegenüberliegende Wand gebunden. Sein Mund wurde von einem ungegerbten Stück Fell bedeckt. Die Kleidung, die in Fetzen an seinem Körper hing, hätte einst einem wohlhabenden Händler gehören können. Er starrte ihr direkt ins Gesicht. Sie stieß einen unterdrückten Schrei aus und wich zurück. Der Mann versuchte zu sprechen, aber unter dem Knebel wurden seine Worte zu einem tierischen Wimmern. Kolli trat wieder zum Schuppen und flüsterte: »Ich hole dich raus. Hab keine Angst.« Eine Hand klammerte sich um ihren Nacken und hob sie hoch. Sie kratzte danach, trat mit den Füßen um sich, traf aber nur Luft. Sie wurde
langsam herumgedreht und fand sich einer grimmigen Fratze mit Augen schwärzer als die Nacht und einem mit langen scharfen Zähnen gespickten Lächeln gegenüber. »Angst«, stellte Kalent Ush fest. »Ich werde es niemandem erzählen«, sagte Kolli flehend. Die Lederbänder, an denen sie hing, schnitten ihr in die Handgelenke. Sie konnte auch den Kopf nicht weit genug drehen, um zu sehen, was Ush gerade machte. Das Feuer befand sich nur ein paar Schritte entfernt, und die roten Flammen erhellten den Raum. Ein Häufchen Gold und Silber lag auf einem kleinen Tisch - zweifellos stammte es aus den Taschen der vermißten Händler und dem Erlös von Ushs Handel mit Silberwolffellen. Kolli stieß sich mit den Beinen ab, versuchte ihren Körper dem Keldonier zuzuwenden. »Ehrlich, die Wachen würden mir auch gar nicht glauben, selbst wenn ich darüber reden würde.« Ush trat wieder in ihr Blickfeld. Der Mann war so groß, daß sein Kopf fast an die Decke stieß. Trotz der kühlen Nacht war sein Gesicht schweißbedeckt. »Über was reden?« fragte er mit einer Stimme, die vom gutturalen Dialekt der Keldonier geprägt war. Als Kolli nicht antwortete, grunzte er verächtlich. »Du hast zwar alles gesehen, aber du weißt überhaupt nichts.
Oder?« »Du tötest die Reisenden.« »Tue ich das? Und weshalb?« »Du raubst ihr Geld und verfütterst sie dann an deine Silberwölfe«, stieß Kolli hervor. Der Keldonier schnaubte verächtlich. »Ihr südländischen Narren wißt doch nicht einmal, wie ein Silberwolf wirklich ist.« Er trat zu ihr und fuhr mit einem rauhen Fingernagel über ihre Wange. Sie zuckte nicht, beherrschte sich angestrengt. »Was weißt du vom Handel mit Häuten?« fragte Ush. »Nichts. Ich weiß gar nichts. Laß mich gehen, und ich werde kein Wort von dem verraten, was ich gesehen habe.« Er ging nicht auf ihr Angebot ein. »In diesem Geschäft muß man immer mit Einbußen rechnen. Von einem älteren Tier bekommt man das größte Fell. Aber natürlich nicht das feinste Feil.« Wieder streckte er die Hand nach Kollis Wange aus. »Die weichsten Felle kriegt man nur von den Jungen.« Sehr langsam und zielstrebig lehnte er sich zu Kolli hinüber und riß ihr das Wams von der Schulter. Dann biß er sie. Fest. Sie schrie auf, konnte den Schrei nicht unterdrücken. Der Mund des keldonischen Händlers brannte wie Feuer auf ihrer Haut.
Er lehnte sich zurück und lächelte sie mit blutigen Lippen an. Kolli packte die Lederriemen so fest sie konnte, riß die Füße hoch und trat mit beiden Absätzen in das lächelnde Gesicht. Als der Händler zurücktaumelte, schwang sich Kolli so lange hin und her, bis es ihr gelang, die Füße durch den Rauchabzug in der Mitte des Daches zu bekommen. Eine Glutwolke begleitete sie, wirbelte wie ein Schwarm Feuerfliegen um sie herum. Die Hitze der unter ihr züngelnden Flammen war grauenvoll, versengte ihr die Beine und den Rücken. Aber die Lederriemen hatten sich, jetzt da ihr Gewicht nicht mehr auf ihnen lastete, merklich gelockert, und sie konnte sich befreien. Ihr Kopf drehte sich dem Feuer zu. Ush brüllte etwas, das Kolli nicht verstehen konnte, und trat in die Feuerstelle, um sie zu ergreifen. Funken und Rauch umgaben Kolli, als sie sich endlich ganz durch das Loch zwängen konnte und über das Dach rollte. Vom Kopf bis zu den Schenkeln fühlte sie sich völlig verschmort. Ihre Beinkleider waren angesengt, und sie roch den ekligen Gestank ihres verbrannten Haars. Die Tür öffnete sich krachend, und Kalent Ush rannte in den Hof. Orangefarbene Funken und Rauch folgten ihm auf dem Fuße. Er schlug sich auf die rauchenden Beine und brüllte etwas in
einer fremden Sprache. Kolli blinzelte rußige Tränen fort, kroch zum Rand des Daches und sprang auf die Palisade zu. Ihre Handflächen wurden von Hunderten von Splittern aufgerissen, als sie sich an die Spitzen der Einzäunung klammerte. Einen furchtbaren Augenblick lang fanden ihre Füße keinen Halt, aber dann war sie auch schon oben und kletterte über die Spitzen. Sie schlug unsanft auf dem Boden auf, erhob sich und rannte gebückt davon, eine Hand gegen die schmerzenden Rippen gedrückt. Sie mußte ungefähr eine Meile durch den dunklen Wald hasten, um die Stadtmauern zu erreichen. Und wenn sie dort ankam, mußte sie auch noch an den Wachen vorbeikommen - die Geschichte, die sie ihnen letzte Nacht erzählt hatte, würde ihr diesmal nichts nützen. Der Himmel färbte sich allmählich grau. Jeden Augenblick nun würde der größere Mond am Horizont erscheinen. Vorhin hatte Kolli sein Auftauchen gefürchtet, jetzt hoffte sie, daß sein Licht ausreichen würde, um ihr den Weg zu weisen. Dann fing ihr Körper Feuer. Kolli fiel ins Unterholz. Sie wollte schreien, aber ihre Kehle brannte ebenfalls, brannte weißglühend. Sie fühlte, wie sich jeder Knochen ihrer Wirbelsäule verformte; die Muskeln flossen wie
Eis über die schmelzenden Knochen; die Tunika und die Beinkleider zerrissen unter ihren sich windenden Gliedern. Dann verlosch das Feuer, und Kolli lag schweratmend auf dem Pfad, kühle Nachtluft strich über sie hinweg. Sie versuchte aufzustehen, aber ihre Knie bogen sich in die falsche Richtung. Im kalten Licht des Mondes sah sie, daß ihre Arme mit silbrigem Fell bedeckt waren und die Finger jeder Hand in einer gekrümmten Klaue endeten. Zitternd tastete sie mit einer klauenbewehrten Hand nach ihrem Gesicht und spürte die hervorstehende Schnauze an der Stelle, wo vorher ihr Mund gewesen war. Sie schrie. Der Schrei kam als Heulen über ihre Lippen. Ein zweites Heulen scholl durch den Wald. Es hätte der wortlose Schrei einer Kreatur sein sollen, aber es war anders. Kolli verstand jede bedrohliche Silbe des Heulens. Kalent Ush nahte. Kollis Hinterbeine waren zu kurz, um mehr als ein ungeschicktes Schlurfen zustande zu bringen. Auf allen vieren ging es besser. Sie brauchte ein paar Schritte, um das Gleichgewicht zu finden, dann konnte sie schneller rennen als je zuvor, so schnell, daß die Bäume rings umher verschwammen. Ush folgte ihr. Sie hörte ihn hinter sich. Mit jedem Sprung kam er näher. Kolli rannte um eine Biegung und erblickte die brennenden Fackeln
der Stadtmauer. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun würde, wenn sie dort ankam, aber alles war besser, als von Ush gefangen zu werden. Der Boden unter ihren Füßen explodierte in einem Hagel aus Erde und Blättern. Zum zweiten Mal in dieser Nacht spürte sich Kolli hochgehoben, diesmal aber in einem stabilen Netz aus Seilen. Das Netz schaukelte nur wenige Handbreit über dem Boden, gehalten von einer schweren Trosse. Während sich Kolli im Netz wand und drehte, erscholl ein Jubelruf aus den Baumwipfeln über ihrem Kopf. Sie drehte den Kopf nach hinten und erblickte Morl, der den Stamm einer dicken Eiche hinabkletterte. Kolli versuchte zu reden. Versuchte ihm klarzumachen, wer sie war, was geschehen war. Alles was sie herausbrachte, waren winselnde und knurrende Laute. »Du bist so ungefähr der mickrigste Silberwolf, den ich je gesehen habe«, meinte Morl und ging um das Netz herum. Er zog ein breitflächiges Schwert aus der Scheide, die auf seinem Rücken hing. »Aber kleine Felle sind normalerweise die besten.« Er hob das Schwert. Ein grauer Scharten sprang aus dem Wald und warf Morl zu Boden. Das Schwert fiel ihm aus den Händen und landete auf den Blättern unter dem Netz. Morl schrie. Kolli streckte die Hand aus und kratzte
verzweifelt am Boden, versuchte, das Schwert zu erreichen. Ihre verwandelten Finger waren besser zum Aufschlitzen als zum Greifen geeignet, aber schließlich schaffte sie es. Ein Hieb, und das Netz fiel zu Boden. Kolli mußte noch mehrmals ansetzen, bevor sie frei war. Sie taumelte über die Straße, unsicher auf den Hinterbeinen, und folgte Kalent Ush. Morl lag in einer Pfütze dunklen Blutes. Ush beugte sich über ihn, hing an der Kehle des toten Mannes und zerrte an ihm, wie ein Hund es mit einem Eichhörnchen machen würde. Er wandte sich Kolli zu und heulte auf, blutiger Schaum spritzte ihm aus den Fängen. Kolli führte das Schwert mit beiden Händen. Ush wich mit Leichtigkeit aus. Ein Schlag seiner klauenartigen Rückhand riß Kolli von den Beinen. Sie rollte in einen steinigen Bach. Kaltes Wasser floß über ihr Fell. Ush stand am Ufer, seine struppige Gestalt zeichnete sich deutlich gegen den aufgehenden Mond ab. In seinen silbrigen Augen spiegelte sich das kalte Licht des Mondes. Knurrend sprang er auf sie zu. Jetzt war es an Kolli auszuweichen. Als Ush ins Wasser klatschte, schlug sie zu und schlitzte seine Seite mit ihren neuen Klauen auf. Sein Schmerzgeheul belohnte sie. Kolli sprang zur Seite, suchte nach einem Fluchtweg.
Ush war schneller, als sie dachte. Die Wasseroberfläche teilte sich spritzend. Klauen gruben sich in ihre Schulter, warfen sie zu Boden. Ush drückte sie mit einem haarigen Arm in den Bach. Er öffnete die spitze Schnauze und entblößte Zähne, die ebenso scharf und gebogen waren wie die Gerätschaften in Morls Werkstatt. Kollis ungeschickte Finger tasteten über den Grund des Baches, suchten nach einem Stein. Was sie fand, war das Schwert. Ihr verzweifelter Hieb traf auf Kalent Ushs pelzigen Nacken wie eine Axt auf einen Baumstamm, und das Schwert blieb stecken. Der Silberwolf fiel heulend zur Seite. Kolli kam taumelnd auf die Beine, wich zurück und ließ sich auf alle viere nieder. Sie rannte auf die Bäume zu, bevor sie sich umwandte. Ush zerrte an dem Schwert, aber der Griff war durch das sprudelnde Blut glitschig geworden. Seine kurzen Arme fanden keinen Halt. Noch einmal knurrte er und stürzte dann zu Boden. Nur sehr langsam näherte sie sich dem Körper. Erst als der Blutfluß versiegte und ihre neue Nase den Geruch des Todes witterte, trat sie vor. Sie zog und zerrte, bis sie das Schwert endlich in Händen hielt. Dann schlug sie wieder und wieder zu, bis der Kopf des Silberwolfes über die blutbesudelten Blätter rollte. Das erste Licht des Tages brachte den feurigen
Schmerz der Umwandlung mit sich. Dieses Mal wurde er von Kolli willkommen geheißen. Als es vorbei war, bemerkte sie zu ihrer Freude, daß alle Wunden, die sie während der Nacht erhalten hatte, verschwunden waren. Aber diese Freude ließ sich nicht mit jener vergleichen, die sie empfand, als sie ihr vertrautes Gesicht wiederhatte. Sie sah auf die reglose Gestalt Kalent Ushs nieder, die inmitten des Farns am Ufer des rauschenden Baches lag. Würde die Sache mit seinem Tod ein Ende haben oder würde sie sich beim Aufgang des Mondes wieder in ein Ungeheuer verwandeln? Kolli wußte es nicht und war auch viel zu müde, um sich darüber Gedanken zu machen. Sie stand auf und schritt voran, nicht auf die Stadt zu, sondern zurück zu Kalent Ushs Behausung. Sie mußte die Gefangenen befreien. Sie würde ihre Hilfe brauchen, wenn sie jemals den Tod der beiden bekanntesten Pelzhändler der Stadt erklären wollte. Außerdem lag noch ein Haufen Goldstücke in dem Haus. Auch die würden Kolli frei machen. BILLIE SUE MOISMAN
Der Raub der Bayende
Der Zauber der ersten Liebe besteht in unserer irrigen Annahme, daß sie niemals enden kann. - BENJAMIN DISRAEU Regen fiel gleich silbernen Fäden über das ganze Land Kieve. Nebel, so dick und undurchdringlich wie Seilstränge, stieg von den Sümpfen auf und wurde von der See landeinwärts getrieben. Thane, Oberster Magier und stolzer werdender Vater, stand im Schatten des Feuers. Seine Frau nahm an, daß er das heilige Amulett ›Blaues Königreich‹ in Händen hielt und seine Abendgebete sprach, aber er hatte sie bereits beendet. Nun stand er einfach nur da, beobachtete Bayende, sog ihre Gegenwart so genießerisch in sich auf, wie er es auch mit feinstem Met halten würde. Sie saß ein Stück von ihm entfernt, nah beim Herdfeuer, gebadet in das Zwielicht des sterbenden Tages. Eine hauchdünne weiße Stola lag über ihren Schultern, und ein fröhlich bunter Schal bedeckte das lange goldene Haar. Sie seufzte von Zeit zu Zeit, während sie winzige Satinschleifchen und Perlen auf ein Säuglingshemd nähte, das auf ihrem Schoß lag.
Man hatte ihnen vorausgesagt, daß ihr Kind innerhalb der nächsten vierzehn Tage an einem grauen, regendurchtränkten Tag zur Welt kommen würde. Bayende bestand darauf, daß sie ihrem Sohn einen prachtvollen Namen geben würde, so daß er über die Umstände seiner Geburt hinauswachsen könnte und ebenso sanft, klug und liebevoll wie sein Vater werden würde. Thane wußte nicht, welcher Name das sein würde. Es war ein Spiel zwischen ihnen - er versuchte, hinter das Geheimnis zu kommen, und sie zierte sich kichernd und sagte, daß er ihn erst am Tag der Geburt erfahren würde. »Es ist nicht dein Name«, neckte sie ihn. »Ein Knabe, der Sohn eines Zauberers, muß einen eigenen Namen haben. Ich habe mich für einen mächtigen Namen entschieden, damit er nie die Gefahr fürchten muß.« Thane beobachtete sie unentwegt, sein Herz drohte vor Liebe überzufließen, und er fürchtete, er würde sich nicht davon abhalten können, zu ihr laufen, vor ihr auf die Knie zu fallen und sie mit unzähligen Liebesschwüren zu erschrecken. Wie hatte er nur all die Jahre ohne Frau sein können? Ohne Bayende? Inzwischen bedeutete sie ihm mehr als seine Macht, mehr als das friedliche Land, mehr als sein eigenes Leben. Er war überzeugt davon, daß er solch überschwengliches Glück nicht verdiente. Denn
auch sie liebte ihn, und nun würden sie bald eine Familie haben. Er rollte den türkisfarbenen Stein - das blaue Königreich - zwischen den Fingern, hielt ihn dann in der geballten Faust. Er sprach noch ein Gebet, ein eigennütziges Gebet, Er bat darum, daß sich nichts zwischen ihn und Bayende drängen mochte. Er betete, daß sein Sohn, der während der regnerischen Tage in Kieve geboren werden sollte, wenn die Monde hoch am Himmel standen und die Sonne selten ohne die Sturmwolken erschien, ihm als Magier nachfolgen und das Land vor Weltenwanderern schützen würde, die versuchten, in andere Welten einzudringen. Er flehte um ewigen Frieden, anhaltende Liebe, um ein einfaches und harmonisches Leben. »Bist du fertig, und könntest du mir vielleicht die Hände auf den Rücken legen?« Bayende hörte mit Nähen auf; es schien, als könnte sie seine Gedanken erraten und fühlte sich beunruhigt. War es denn falsch, fragte sich Thane, sich Vollkommenheit zu wünschen, wenn es doch dergleichen im Leben nicht geben konnte? Er trat aus der Dunkelheit heraus, hinein in den flackernden Lichtschein und die Wärme. Er steckte das ›Blaue Königreich‹ in eine Hosentasche. Bayende beugte sich nach vorn
über die Knie, und er begann, die verkrampften Muskeln am Rückenende, dicht über dem Ansatz der Hüften, zu massieren. Es erregte ihn, sie zu berühren, aber er hielt an sich und drängte seinen Körper nicht an sie. »Hilft es?« erkundigte er sich. Sie seufzte wohlig. »Du hast Magie in den Händen. Auch wenn du keine andere Art von Magie beherrschen würdest, wäre dies genug Grund für mich, dich zu lieben.« Sie drehte sich ein wenig zur Seite, und seine Hände glitten um ihre Taille, massierten die dort ebenfalls verkrampften Muskeln. Im Licht des Feuers sah er ihr Profil und bemerkte, wie die Last der vielen arbeitsreichen Stunden von ihr abfiel, während er das weiche Fleisch ihres Rückens berührte. Ihre Haut glühte rosig, und die blonden Wimpern lagen wie Federn auf den hohen Wangenknochen - oder wie die winzigen Farnfächer, die am Fuße alter Bäume wuchsen. Jetzt richtete sie sich wieder auf und trat einen Schritt zurück. Sie legte die Hände auf den geschwollenen Leib und sah ihn aus dankbaren Augen an. »Ich sollte dein Abendessen vorbereiten«, meinte sie. »Die Zeit vergeht so geruhsam während des Regens, daß ich meine Pflichten vernachlässige.« Sie legte die Näharbeit beiseite, und er half ihr, sich zu erheben. Er versuchte sie zu
umarmen, aber sie widersetzte sich. Sie hatte noch so viel zu tun, bevor der Tag zu Ende ging. Er würde sie nur verärgern, wenn er sie zu oft oder zu fest berührte. Die Hebammen hatten ihm erklärt, daß dies ein Bestandteil der Schwangerschaft war und nicht bedeutete, daß sie sich von ihm abwandte. Sie mußte in sich hineinhorchen, ein neues Leben nähren, und er mußte Geduld haben, bis das Kind geboren war und er wieder normale eheliche Beziehungen mit ihr haben konnte. Niemand hatte Thane je nachsagen können, daß er ein geduldiger Mensch wäre. Aber er fand, daß er es im Zusammenleben mit Bayende lernte. Er wollte es auch lernen. Er wollte ihr gegenüber selbstlos sein. Wenn zeitweilige Enthaltsamkeit dazu gehörte, um eine Familie zu gründen, und Bestandteil der Liebe war, würde er diese Lektion lernen. Während sie sein Abendessen zubereitete, würde er die Bücher in seiner Bibliothek zu Rate ziehen, ob es einen Spruch gab, der ihn schneller auf dem Pfad der Geduld voranbrachte. Es war von äußerster Wichtigkeit, daß er so viele Geheimnisse wie nur möglich entdeckte. Wie sonst konnte er seinen Sohn Dinge lehren, die er selbst nicht kannte, die er selbst noch nicht beherrschte? Der silbrige Regen fiel in Strömen auf die
Dachvorsprünge des Steinhauses, und das Geräusch begleitete Thane in einen kälteren Raum, wo er sich konzentrieren und studieren konnte, bis ihn Bayende zu Tisch rufen würde. Noranda-Zang hatte mehr als zehn schreckliche Jahre damit verbracht, in vielen Ländern zu suchen. Thane mußte irgendwo sein, und er würde ihn finden. Man sagte, daß Thane einer der wenigen untergeordneten Zauberer war, dem es gelungen war, eine Zufluchtsstätte zu schaffen, in der es Frieden und Überfluß gab. Nun, das würde sich ändern! Niemand besiegte Noranda-Zang im Krieg von Thanopolis, ohne dafür zu büßen. Hatte Thane ihm nicht ins Gesicht gelacht und ein Schwert durch sein Herz gestoßen? Thanes Lachen hatte seine Lippen verzerrt, während er den Schwertgriff hin und her bewegte und Zangs Herz in zwei Teile spaltete. Wenn Zang nicht seine Vorbereitungen getroffen hätte, bevor er in die Schlacht zog, hätte er niemals zurückkehren und in einen neuen Körper schlüpfen können. Oh, er würde Thane finden und ihn in Stücke reißen; er würde die Überreste in die vier Winde streuen und zusehen, wie sie davongetragen wurden. Dann würde er das von Thane regierte Land dem Untergang preisgeben. Eine Horde rachedurstiger Skelette würde auf knochigen
Pferden durch die Straßen reiten, bis diese vom Blut der Feinde überflutet wurden. Er würde Gehirnwäscher anheuern, damit ihm die Menschen ihr Vertrauen schenkten, und sie dann von Todesfeen und Schattenelfen heimsuchen lassen. Nachdem er den langen Pfad, der die Welten verband, verlassen hatte und über den Sand des Strandes von Kieve stolperte, hielt er schließlich inne und beschwor einen ›Schaurigen Schatten‹, der sich Caskor nannte. Caskor wurde sichtbar, fest in einen Umhang zum Schutz gegen den prasselnden Regen gewickelt. »Was für ein Land ist das hier?« fragte Zang. »Gibt es Lebewesen?« Caskor drehte sich gemächlich um, seine roten Augen blickten über den Strand, dann zu dem sanft ansteigenden Land, den Wäldern und den dahinter hoch aufragenden Bergen hinüber. Zang wartete ab und versuchte, durch den samtigen Nebel auf das vor ihm liegende Land zu spähen. Dies konnte eine tote Welt sein, in der nur Geisterkreaturen existierten. Wenn das so war, dann wollte er keine Zeit verschwenden. Er hatte alle Geisterkreaturen, die er benötigte, unter seinem Befehl, es waren mehr als genug, um Thane zu bestatten, nachdem er ihn aufgestöbert hatte. »Nun«, fragte er nach einer Weile, »hast du
die Stimme oder den Verstand verloren? Kannst du Menschen wahrnehmen, und gibt es hier einen Zauberer? Ein Name, ich will den Namen dieses verdammten Ortes!« Caskor wandte sich ihm langsam zu, und ein bösartiges Grinsen teilte die untere Hälfte seines Gesichtes. Er war die einzige Kreatur, die Zang kannte, die gleichzeitig belustigt und überlegen dreinsehen konnte. »Ich kam auf deinen Befehl, Meister, aber ich wäre wahrscheinlich gefälliger, wenn du mit mir nicht so reden würdest wie mit deinen Sklaven in Everlorne.« »Ich rede mit dir, wie es mir paßt, Caskor. Denk daran, wer dich gerettet hat, als dich diese Hexe in ihrer verschlossenen und versteckten Schmuckschatulle gefangenhielt. Wenn ich nicht gewesen wäre, würdest du noch immer im Dunkeln stecken, mit Rubinen und Diamanten als Gesellschaft.« Zang kam gefährlich nah an den Geist heran, so nah, daß sie einander in die zornigen Augen sehen konnten. »Nun? Soll ich dich in die Außenwelt befördern, wo du ganz allein herumwandern wirst, jetzt und in alle Ewigkeit?« Caskor erstarrte, das grimmige Lächeln war verschwunden, »Es gibt hier Städte und Lehen, Burgen und Bauernhöfe«, verkündete er. »Ein Magier herrscht über das Land. Es trägt den
Namen Kieve.« »Wer ist der Magier?« Caskor blinzelte, und wieder erschien das Lächeln auf seinen dünnen Lippen. »Ja, das ist eine gute Frage«, meinte er. »Wer ist der hiesige Zauberer?« Dann verschwand er. »Sei verflucht!« Der Regen prasselte auf Zang nieder, durchnäßte ihn völlig, ließ ihn erschauern. »Wenn ich dich wiedersehe, wirst du was erleben!« brüllte er in den grauen Himmel, und ein Nebelhauch trug seinen Fluch auf die See hinaus. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als landeinwärts zu ziehen und den Zauberer ausfindig zu machen. Laß es Thane sein. Ein Spruch, den er zehn Jahre lang wie eine Beschwörungsformel durch die Windungen seines Gehirns getragen hatte: Laß Thane den Zauberer sein, der hier regiert. Zang bahnte sich einen Weg durch den Wald, bog die moosbedeckten Äste der Bäume zur Seite, teilte scharfzahnige Farnwedel. Bald würde die Nacht hereinbrechen, und er mußte einen Baum als Schlafplatz erklimmen, um nicht vom Sumpf aufgesogen oder von einem Fluß fortgespült zu werden. Er war schließlich nicht all die Jahre unterwegs, hatte nicht all die Abenteuer bestanden, um jetzt in einem Tümpel
voller Schaum und Geröll zu ertrinken. Laß ihn hier sein, dachte er, zog sein Schwert und schlug auf die Natur ringsumher ein, um tiefer in die Arme der grünen Dunkelheit vorzudringen, welche die Städte im Inneren des Landes vor dem Ansturm der gewalttätigen und unberechenbaren See schützte. Thane erwachte, den Körper seiner Frau in den Armen haltend. Er schmiegte sich an ihren Rücken, sein Arm lag über ihrer Hüfte und dem gewölbten Bauch. Er war aufgewacht, weil er einen Tritt des Kindes zu spüren vermeinte. Sein anderer Arm lag über Bayendes Kopf, die Hand ruhte auf ihrem seidenen Haar. Er seufzte vor Erstaunen, daß es ihm vergönnt war, wieder einen Tag an der Seite dieser wundervollen Frau beginnen zu dürfen. Es betrübte ihn, daß er sich erheben und das warme, duftende gemeinsame Bett verlassen mußte. Er löste die Arme und schlüpfte unter den schweren Decken hervor. Die kalte Morgenluft ließ ihn erschauern, und er beeilte sich, die Hose, das langärmelige rote Hemd und einen mit goldenen Sternen und schwarzen Halbmonden bestickten Umhang anzulegen. Der Umhang war ihm an dem Tag ausgehändigt worden, an dem er als vortrefflicher Magier anerkannt worden war. Eines Tages würde er diesen Umhang an seinen
Sohn weitergeben, um dann für den Rest seines Leben müßig neben seiner geliebten Bayende zu sitzen. Zwietracht vergessen. Rechtsprechung vergessen. Mißstände vergessen. Er brauchte dann nicht mehr auf diplomatische Weise zwischen den Menschen vermitteln. Die Stadtmarschälle hatten ihn gebeten, den Vorsitz bei der Schlichtung eines kleinen Zwistes zwischen zwei Bauern zu führen, bei dem es um die Verteilung eines Heuertrages ging, den die beiden gemeinsam gesät und bearbeitet hatten. Wenn er sich beeilte, konnte er ein gerechtes Urteil fällen und noch rechtzeitig zurück sein, um mit Bayende zu frühstücken. Er beugte sich über sie und zog die Decken hoch, damit keine Zugluft ihren Rücken erreichte. Soll sie schlafen, dachte er. Sie ist zu müde, um im Morgengrauen aufzustehen, und sie muß in den letzten Tagen ihrer Schwangerschaft nicht wie eine Magd schuften. Er schloß die Tür hinter sich und sprang die Steintreppen zum Untergeschoß hinab, auf die zweiflügelige Eichentür zu. Dann wandte er sich um, erinnerte sich, daß er ein Feuer entzünden wollte, damit das Haus bereits erwärmt war, wenn die Geliebte erwachte. Wenn er nicht immer in so großer Eile wäre, würde er sicher ein besserer Ehemann sein. Keine seiner Lehren hatte ihm vermittelt, wie er
das Adrenalin in seinen Adern ruhig halten konnte oder wie er sich zu einer gemäßigteren Gangart zwingen konnte, die es ihm ermöglichen würde, sich auf all die kleinen Einzelheiten zu besinnen, die ein geordnetes häusliches Leben ausmachten. »Ich Idiot«, murmelte er und kehrte in den großen Raum zurück. Nach kurzer Zeit hatte er ein prasselndes Feuer entfacht und rannte wieder zur Tür, vergaß jedoch diesmal, den Schlüssel ins Schloß zu stecken und das Haus gegen Eindringlinge abzusichern. Listenreich gab sich Noranda-Zang ein schwächliches und heruntergekommenes Aussehen. Er legte sich einen abgetragenen Mantel um die Schultern und beließ den Sumpfschlamm, der an seinen schwarzen Stiefeln klebte, an Ort und Stelle. Er ließ den Kopf hängen und legte das Gesicht in mißmutige Falten, um älter zu wirken. Auffällig hinkend bewegte er sich vorwärts, hielt sich an Pfosten, Geländern und Wänden fest, um auf den Beinen zu bleiben. Dorfbewohner gingen ihm aus dem Weg, und ein paar fromme und ahnungsvolle Leute schlugen das Kreuzzeichen, als er an ihnen vorbeihumpelte. Zang erkundigte sich bei einem Schankwirt, wo er den Herrscher von Kieve finden könnte, da
er etwas mit ihm besprechen müsse. Die Anweisungen waren einfach zu befolgen und führten Zang mitten durch die Marktstände, an denen Fleischstücke unter offenem Himmel gebraten wurden und Köche auf dem Boden um verkohlte Balken herumhockten und in Kesseln mit dampfenden Gemüseeintöpfen und Meerestiersuppen rührten. Verlockende Gerüche nach Zitronen, Ingwer und Knoblauch drohten Zang zu überwältigen, aber ihm stand jetzt nicht der Sinn nach Essen. Er würde auch nicht eher schlafen, bis seine Mission erfüllt war. Er würde nicht einmal daran denken, mit anderen Leuten zusammenzukommen, bis er sein Ziel erreicht hatte. Die aufregendste Neuigkeit hatte er von dem Schankwirt erfahren: nicht nur den Wohnsitz des Herrschers, nein, auch dessen Namen. Thane Du-Moriss IV., Fürst und Meister, Patron und Herrscher von Kieve. Er hatte ihn gefunden, endlich gefunden und würde jetzt den tödlichen Schlag ausführen. Hinter den Ständen mit Eßwaren traf er auf die Händler mit ihren bunten Schmuckstücken. In einem hölzernen Pferch befand sich ein riesiger Bär, angetan mit einem Halsband aus Perlenmuscheln, der im Besitz einer Frau war, die ein Geweih auf dem Kopf trug. Es gab Jongleure, Zauberkünstler, Feilscher, Diebe,
Bettler und viel mehr Zuschauer, als Zang in den meisten Ländern erblickt hatte. Dies war anscheinend ein wohlhabender Ort, aber wie würde es ihm ohne den herrschenden Magier ergehen? Wirrnis und Verzweiflung würden das Land überfluten. Zang würde alles, was Thane geschaffen hatte, zerstören und verwüsten. Wenn nötig, würde er dafür auch die verunstalteten Mißgeburten herbeirufen, die er in den Sümpfen mit geronnenem Blut aufzog. Einen Ring aus Feuerwürmern würde er über die Brücken rollen lassen, jede Faser des Holzes würden sie zu Asche verbrennen. Vor der Haustür des Magiers erhob Zang die Faust, um gegen die breiten Eichenbretter zu klopfen, aber seine immerwährende unsichtbare Gefährtin - Gloom - erschien vor ihm, wie immer, wenn sie ihm helfen konnte. Sie flüsterte ihm ins Ohr: »Es ist offen, Meister.« Die graue Wolke, die Gloom einhüllte, wirkte wie eine Säule aus den Nebelschwaden, die über dem Dorf hingen. Schimmernde, feuchte Tropfen hingen an ihren Wangen und der Nase und fielen gleich ungeweinten Tränen von den schmalen Lippen. »Laß uns eintreten«, sagte sie, lehnte sich gegen die Tür und schlüpfte durch die spaltbreite Öffnung. Es schien, als sei die Tür von einem starken Wind aufgedrückt worden; sie drehte sich
kreischend und knarrend in den Lederangeln, die dringend geölt werden mußten, und das Geräusch ließ Zang zusammenzucken. Er runzelte die Stirn und folgte Gloom. Eine Hand hielt er am Schwertgriff. Er würde die furchtbaren Kreaturen, die seinem Befehl unterstanden, im Notfall herbeirufen, aber er hoffte, Thane aus eigener Kraft bestrafen zu können. Gloom glitt einen dunklen Gang entlang, Zang blieb ihr auf den Fersen, schweratmend; an seiner Wut entzündete sich plötzlich die Angst, daß man ihm eine Falle gestellt hatte oder daß er die Zauberkraft verlieren könnte. Nach der endlos scheinenden Suche konnte er kaum glauben, daß er den Feind endlich mit eigenen Augen sehen würde. Der Korridor mündete in einen großen Raum, von dem aus eine breite, unregelmäßige Treppe nach oben führte. Anscheinend war niemand hier. Wo waren die Dienstboten? Gehörte Thane zu den seltsamen Männern, die es für unangebracht hielten, sich von anderen bedienen zu lassen? Ein Feuer prasselte an der Herdstelle, aber es schien niemand daheim zu sein. Gloom wandte sich um und flüsterte ihm zu: »Oben, Meister, die Frau liegt oben.« »Welche Frau? Ich bin nicht wegen einer Frau
gekommen. Ich will Thane, den Magier.« »Scrihhhh«, zischte Gloom. Einen Augenblick lang schimmerte ihre geisterhafte Gegenwart hell auf, verblaßte sich dann wieder zur Farbe stumpfen Zinns. Zang roch ihre übelriechende Ausdünstung und hielt den Atem an, während er ihr zuhörte. »Sie ist die Herrin des Hauses Thane«, erklärte Gloom. »Sie bekommt ein Kind.« Zang erstarrte auf der Stelle, die Hand krampfte sich um den Griff des Schwertes, die Knöchel traten weiß hervor. Frau? Schwanger? Thane hatte eine Frau. Natürlich war das nicht verboten. Nun, er hatte es auch einmal versucht, aber seine kostbare Celia war bei der Geburt des Kindes gestorben, und nur ein äußerst mächtiger Magier war in der Lage, eine Familie zu gründen und trotzdem genug Kraft zu besitzen, ein Land zu regieren. Nie hätte er es für möglich gehalten, daß Thane dazu fähig sein würde. »Wir wollen sie uns vornehmen, Meister«, flüsterte Gloom mit begieriger Stimme. »Sie soll weinend sterben und bedauern, daß sie auch nur den Namen ihres Gemahls gekannt hat.« Zang wartete ab, bis er sicher war, daß dies der richtige Weg war und er ihn einschlagen würde. Ja. Ja, wenn er etwas so Grausames ausführen würde wie den Mord der Ehefrau, die noch dazu ein Kind erwartete, konnte er einem
Magier kein größeres Unheil zufügen. Mit einem einzigen Schlag würde er Thane nicht nur die Geliebte nehmen, sondern auch den Erben des Königreiches. Es hieß in den Büchern der Weisheit, daß man einen Zauberer nicht immer zu töten vermochte, wenn man nur den sterblichen Körper vernichtete. Man konnte auch den Verstand, den Geist und die Seele angreifen. Oder man nahm ihm diejenigen, die er liebte wenn er stark genug war, jemanden zu lieben und riß ihm dadurch das Herz aus dem Leib. Diesen vernichtenden Schlag konnte keine Macht der Welt ungeschehen machen. »Ja!« brüllte Zang und stürmte die Treppe hinauf. Seine Schritte dröhnten wie die Glocken des Unheils. »Ja! Das ist es. Komm mit, Gloom, verschlinge ihr Fleisch, nage ihre Knochen ab. Heute abend werden wir ihre Augen in unseren Bechern herumrollen lassen.« Die Kunst des Magiers gehört zu den gefahrvollsten und beschwerlichsten, die man sich vorstellen kann. Auf der einen Seite muß man gegen die Feindseligkeit Gottes und der Obrigkeit gewappnet sein; die andere Seite dagegen ist so schwierig wie Musik, so tiefschürfend wie Poesie, so einzigartig wie Schauspielkunst, so entnervend wie die Herstellung von explosiven Stoffen und so heikel
wie der Handel mit Drogen. William Bolitho Ein Hauch von Beklommenheit überfiel Thane, als er heimkam und seine Tür offen fand, dem frischen Morgenregen Einlaß gewährend. Wasser spritzte über die Schwelle in den mit Steinplatten ausgelegten Eingangsbereich, um dort einen hellen, glitzernden See zu bilden, in dem sich Thanes magischer Umhang widerspiegelte. Die Sterne und der Mond auf den Schultern glitten durch das sich von einem vereinzelten Windstoß kräuselnde Wasser. Was habe ich getan? fragte sich Thane. Mein Herz rast. Das Blut klopft mir in den Ohren. Irgend etwas stimmt nicht, stimmt überhaupt nicht. In Kieve gab es keine Halunken, die sich bereit gefunden hätten, Bayende etwas anzutun, aber die Schlösser sollten umherwandernde Geister und Hüter des Bösen aussperren, die vielleicht auf der Suche nach einem Gastgeber oder einem neuen Zuhause waren. Jetzt fiel ihm wieder seine Ungeduld ein, die ihn zur Ratsversammlung getrieben hatte, um dort zu richten und schnell wieder zu Bayende zurückzukehren und mit ihr das Frühstück, bestehend aus Würstchen und Hörnchen, einzunehmen. Er wußte, daß er vergessen hatte,
die Tür hinter sich zu schließen. Narr. Und jetzt war etwas geschehen. Er spürte es durch die Nervenenden des Körpers hindurch, spürte, wie es über die Kopfhaut lief, spürte, wie es sich in den Tiefen seines Herzens wand, ähnlich einem dort lauernden, ruhelosen Schrecken. O mein Gott, betete er, kein Unglück, bitte nicht! Keine Katastrophe, bitte nicht! Ich opfere dir all meine Schätze und gebe die Magie auf. Ich gebe dir mein Königreich, meinen Ruhm und meine Ehre. Ich opfere dir Arme und Beine, werde zum Bettler draußen vor dem Tor, aber laß mich kein Unheil vorfinden... Er rannte durch die mit Mond und Sternen gespickte Pfütze, durch den leeren Korridor, durchquerte den großen Raum mit dem inzwischen nur noch schwelenden Feuer, nahm immer zwei der Steinstufen gleichzeitig und rief: »Bayende, Bayende, Bayende!« An der Tür blieb er stehen. Beim Anblick des verspritzten Blutes und der überall im Raum verteilten Körperteile, der goldenen Haarsträhnen, die so naß und rot waren wie der gehäutete Schädel, von dem sie stammten, weiteten sich seine Augen vor Entsetzen. Das ganze Bett. Der ganze Boden. Die Wände. Alles war rot gefärbt vom Lebensblut der Geliebten.
Wo...? Das Kind...? In Stücke gerissen und halb aufgefressen lag es wie ein kleiner Ball aus Innereren unter dem Fenster. Bauende! Thane fiel auf die Knie und schlug die zitternden Hände vor das verzerrte Gesicht. Er weinte stundenlang, weinte, bis der Tag zur Nacht wurde. Er rührte sich nicht von der Stelle, verharrte an der Tür des Raums, in dem seine Liebste hingemetzelt worden war, bis ihn schließlich die Kräfte verließen und er reglos im Gang vor der Tür liegen blieb. Mit der Wange berührte er die eisigen Steine, der nach innen gerichtete Blick schien auf ein stecknadelkopfgroßes Licht gerichtet. Unbestreitbar gehört die Magie zu den empfindsamsten und schwierigsten aller Künste und Wissenschaften. Sie bietet viel mehr Möglichkeiten eines Irrtums, was das Verständnis, die Beurteilung und Ausführung angeht, als jeder andere wissenschaftliche Zweig. Aleister Crowley Siebzehn Jahre lang war Thane entlang der Pfade zwischen den Welten gereist. Er hatte an Gewicht und Muskeln verloren, aber keineswegs an Macht. Je schmächtiger er wurde, um so
stärker wurden seine tödlichen Gedanken. Je verzweifelter er wurde, um so ausgewogener und gleichmäßiger wurden seine magischen Kräfte. In jedem neuen Land erforschte er die Geheimnisse der Berge, der Inseln, der Wälder, Ebenen und Sümpfe. Er kam schnell voran, war immer in Bewegung, rastete niemals. Er wandelte zwischen den Welten, ohne den Titel eines Weltenwanderers zu führen. Wenn sich die wahren Götter zeigten, eilte er schnell außer Sichtweite. Auch die geringste Kleinigkeit seines Wissensschatzes war notwendig gewesen, um ihm das Wandern zu ermöglichen, aber das war es wert. Oder vielmehr, würde es wert sein, sobald er Zang gefunden hatte. Die Geschicke seines Landes legte er in die Hände der Ältesten, die ihm in regelmäßigen Berichten mitteilten, daß Kieve gedieh. Berichteten sie von Schwierigkeiten, schickte Thane Truppen gesichtsloser Engel aus, die den Unruhestiftern derartige Angst einjagten, daß sie nicht mehr wagten, sich während der Abwesenheit des Herrschers schurkisch aufzuführen. Viele Jahre waren vergangen, seitdem er seine geliebte Bayende und ihren unbenannten Sohn verloren hatte. In seinen Gedanken und Gebeten hielt er sie lebendig. Er hatte sich nie seine Gedankenlosigkeit an jenem Tage, als das Böse
über Bayende kam und sie mordete, verziehen. Diese Sünde lastete auf ihm, brannte ihm wie eine Fackel in der Brust und ließ ihn keine Ruhe finden. Hätte er doch nur die Tür verschlossen! Wäre er doch nur früher nach Hause gekommen! Wenn doch das Leben nicht so trübselig, so unberechenbar und so furchtbar ungerecht wäre! Aber Gerechtigkeit war etwas für die Mutigen, und er würde sie erlangen. Er widmete sich ausschließlich dem Ziel, Noranda-Zang zu bestrafen. Bei einer so abscheulichen Tat schützte das Gesetz Zang nicht, und niemand würde ihm beistehen, wenn Thane jemals einen Fuß in das Land des Ungeheuers setzen würde. Im bleichen Niemandsland zwischen den Welten starrte Thane auf den vor ihm liegenden Pfad, folgte einer Abzweigung, mied die nächste, bevorzugte eine Richtung, beachtete eine andere dagegen nicht. Während er suchte, stand die Zeit zwischen den Welten still; oftmals verlor er die Orientierung und verlief sich. Von Zeit zu Zeit spürte er Feuchtigkeit auf den Wangen, wenn er danach tastete, entdeckte er Tränen, von denen er nicht wußte, daß er sie geweint hatte. Wie war er nur an diesen höllischen Ort gekommen, der schlimmer war als ein Gefängnis oder eine Folterkammer? Was es wirklich ausschließlich seine eigene Schuld gewesen, an jenem Tag das
Haus so gedankenverloren zu verlassen, war sein unbesonnener, stets vorauseilender Geist dafür verantwortlich? Diese und andere nicht zu beantwortende Fragen trieben ihn durch Tage und Nächte, quälten ihn, rissen seine Seele in Fetzen. Wieder und wieder murmelte er ihren Namen - Bayende, Bayende, meine Bayende. Er stolperte - der Hinweis darauf, daß ihn der Weg in eine neue Welt geführt hatte. An einem einsamen Strand fand er sich wieder, runter ihm rauschte das unberechenbare blaue Meer. Vor ihm ragten Felsen auf, die von einem schwarzen Teppich aus sterbendem Moos bedeckt waren. Hoch über den Felsen zogen Wolken auf, aufgedunsen, voll mit dem fiebrigen Regen, der in der Zeit der Hitze und der Gefahren vom Himmel strömt. Es roch nach brennendem Abfall und Bitterkraut. Stechmücken umschwärmten und stachen ihn. Er wischte sie fort und wirkte einen Zauber, der sie auf Abstand hielt und es ihm ermöglichte Luft zu holen, ohne daß er dabei Insekten verschluckte. Entweder war dieser Ort getarnt, um Weltenwanderer abzuschrecken, oder aber es war ein Land, in dem das Böse in der Dunkelheit sprungbereit auf den Hinterbeinen hockte, um dem Befehl eines grausamen Magiers zu folgen. Urplötzlich fegte ein Wirbelwind von Süden
heran. Er jagte direkt auf Thane zu. In seinem Mittelpunkt wirbelten Greifarme herum, welche Schwerter hielten, die ebenso groß wie Thane waren, dabei so scharf wie das Eis im Januar und so schnell wie der pfeifende Wind im Februar. Thane umklammerte das ›Blaue Königreich‹ mit der Faust und schüttelte sie gegen den Wirbelwind. Zwei Nachtmahre auf ihren geflügelten Pferden schossen heraus. Sie wieherten, kauerten auf der Hinterhand und rasten dann vorwärts, den Strand entlang, den klirrenden Schwertern entgegen, die von einer zwölfarmigen Kreatur geschwungen wurden. Es handelte sich um einen gehörnten Kraken, aus den Tiefen des Meeres beschworen. Thane betete um den Sieg und sah die Nachtmahre durch die wirbelnden Blitzstrahlen der Schwerter schlüpfen. Der Kampf brachte ein solches Donnern mit sich, daß der Boden unter Thanes Füßen erbebte. Nach wenigen Minuten war es vorbei, der Wind zerstreut, die Schwerter zu Boden gefallen, der gehörnte Krake getötet; eine schwarze Flüssigkeit rann in die Wellen, die über den Körper schwappten. Thane rief die Nachtmahre zurück und befahl einem davon, ihn aufsitzen zu lassen, damit er über die schroffen Felsen in das darunterliegende Land reiten konnte. Er würde herausfinden, wer diese Welt beherrschte und warum so viele
Schutzmaßnahmen ergriffen worden waren. Seiner Erfahrung nach harte ein Magier viel zu verbergen, wenn er solche Fallen stellte. Thane flog über die schwarzen Felsen, hielt sich am Haar des Nachtmahrs fest, der zweite Mahr folgte ihnen. In der Ferne erblickte er grüne Wälder, ebenso wenig einladend anzusehen wie die Felsen. Er flog darüber hinweg und sah Türme, eine ganze Reihe von Türmen, aufgebaut wie ein Zaun oder eine Barrikade gegen Eindringlinge. Soldaten erspähten ihn und schossen mit vergifteten Pfeilen nach ihm, aber Thane lachte nur und flog immer höher, bis der Wind so kalt war, daß sein Gesicht zu einer eisigen Maske erstarrte. Hinter den Türmen lag eine gleichförmige, gelblichgrüne Ebene, in deren Mitte eine majestätische Steinfestung stand. Sie war von strohgedeckten Hütten und schlichten Häusern umgeben. »Dort«, befahl Thane, der Nachtmahr steuerte in die Tiefe und landete direkt vor der Ansiedlung; sein Gefährte dicht neben ihm. Ein wie ein Bettler gekleideter Dorfbewohner rannte auf Thane zu und verneigte sich vor ihm. »Meister, Ihr befindet Euch in großer Gefahr. Hierher kommen keine Weltenwanderer. Sie sind nicht willkommen. Ihr seid der erste, den ich seit meiner Kindheit zu sehen bekomme.« Thane segnete den Bettler, ohne zu erklären,
daß er kein wirklicher Weltenwanderer war, kein Gott, sondern nur ein einfacher Zauberer aus einem unwichtigen Land, das unbeachtet blieb. Statt dessen sagte er: »Wie heißt dieser Ort, und wer ist der Magier hier?« »Wir nennen das Land ›Everlorne‹.« »So? Und der Magier? Rede, Mann, ich habe nicht den ganzen Tag zum Schwatzen Zeit.« »Ich... es ist nicht erlaubt... ihn auszusprechen, Herr.« »Was soll das heißen, es ist nicht erlaubt?« brüllte Thane, der kaum zur Nachsicht neigte. Nachdem er Bayende verloren hatte, hatte er es aufgegeben, sich in Geduld zu üben. »Wir werden getötet, wenn wir seinen Namen nennen. Es tut mir leid, Herr, aber auch wenn ich nichts besitze und nur eine arme Seele bin, die von den Spenden der anderen lebt, so möchte ich doch lieber meine Haut auf dem Rücken behalten.« Thanes angeborenes Mitgefühl schlug dem zerlumpten Mann mit den furchtgeweiteten Augen entgegen. Er zog eine Münze aus der Tasche und reichte sie dem Bettler. »Macht nichts. Du bist ein guter Kerl«, sagte er. »Verzeih meine Unhöflichkeit. Zu meiner Entschuldigung kann ich anführen, daß ich mich seit siebzehn Jahren auf Reisen befinde. Ich befürchte, daß ich so lange über die Pfade
geschritten bin, daß meine Umgangsformen sehr darunter gelitten haben.« Der Bettler verneigte sich, trat zurück und verneigte sich wieder und wieder, während er sich rückwärts gehend auf das Dorf zu bewegte. Thane starrte auf die eindrucksvolle Fassade der Festung. Dort wird sich der Tyrann versteckt halten, dachte er. Der Magier mit dem unaussprechlichen Namen. Der große Herrscher, der dieses öde Reich durch Furcht und das Häuten unschuldigen Fleisches regiert. Laß es Zang sein! Laß es Noranda-Zang sein, darum bete ich, dachte er und schaute von den Schutzwällen bis zur Spitze der grauen Steinfestung hinauf. Ich bin matt und werde alt. Die lange Trauer drückt mich nieder. Für mich hat es im Leben wenig Gerechtigkeit gegeben. Bitte laß das Ungeheuer, nach dem ich suche, hier sein! Er schritt den Weg entlang, der zwischen den kleinen Behausungen der Leute von Everlorne hindurch führte. Sie wichen vor ihm zurück, fürchteten sich vor dem Fremden und dem, was er hier zu finden hoffte. Niemand erwiderte seine Blicke; die Männer wandten sich ab, und die Frauen bedeckten die Gesichter mit erhobenen Röcken. Wo gab es Farbe in diesem Land, wo Jubel, wo war die Hoffnung auf ein besseres
Morgen? Die Dörfler waren wie für eine Bestattung gekleidet, und von der Angst, die sie bei seiner Ankunft gepackt hatte, schloß er darauf, daß sie kein besonders abenteuerliches Leben führten. Er erreichte die Straße, die zur Festung führte. Bewaffnete Wächter standen kampfbereit vor den geschlossen Toren. Thane holte tief Luft und nahm das ›Blaue Königreich‹ fest in die Hand. Er hatte die Nachtmahre am Eingang des Dorfes zurückgelassen und rief sie jetzt zu sich. Außerdem beschwor er den Geist des Weidelandes, des grün-goldenen Landes rings um das Dorf, und aus der grasbewachsenen Ebene erhoben sich Heuschreckenhorden mit rasiermesserscharfen Zähnen. Sie folgten seinen Befehlen und hielten auf die Wachen zu. Als diese die schwarze Masse todbringender Heuschrecken erblickten, schrien sie um Gnade, verließen ihre Standorte und rannten durch die Straßen des Dorfes. Thane lächelte. Er erhob die Hand, um den Heuschreckensturm aufzuhalten. Sie verhielten in der Luft wie eine Ansammlung von Sporen, flatterten, schlugen die Hinterbeine aneinander, knirschten mit den scharfen Zähnen. Zu beiden Seiten Thanes standen die Nachtmahre. Die Pferde scharrten auf dem Boden, schnaubten Feuer durch die großen
Nüstern. Thane schritt auf das riesige verschlossene Tor zu, wirkte einen Zauberspruch - und schon öffnete es sich ihm. Der schwere Holzbalken hob sich und fiel krachend zur Seite. Die Tür öffnete sich nach außen. Vor ihm lag ein gepflasterter Innenhof, der von verkümmerten Wacholderbäumen und verdrehten Stechpalmen gesäumt wurde. In jedem Zweig und Blatt erblickte Thane bösartige Zerstörung am Werk. Nichts Gutes gedieh hier. Nichts Gesundes. Gewiß war der Zauberer bereits unterrichtet. Er mußte über Kräfte verfügen, die ihm das Eindringen eines Fremden in seinen Besitz mitteilten. Ein Mann, der bemerkte, wenn seine Leute seinen Namen aussprachen, war in der Tat ein mächtiger Magier. Vielleicht war er kein gewöhnlicher Gegner, den man einfach töten konnte. Hatte er nicht Noranda-Zang schon einmal getötet, in Thanopolis? Nur damit er zurückkehrte und unheilige Blutrache ausübte? Wenn dies Zangs Behausung war, hätte es da überhaupt Sinn, ihn zum zweiten Mal zu töten? Das Feuer der Leidenschaft fuhr Thane durchs Herz, veranlaßte ihn zu einem tiefen Seufzen. Es war gleichgültig, ob er Zang im Laufe der Zeit immer wieder vernichten mußte. Wenn notwendig, würde er es wieder und wieder tun. Er würde ihn überall finden, ihn an den
Himmelsküsten und den Abgründen der Hölle suchen, um seinem Feind das Leben zu nehmen. Wenn er dem Monster die sterbliche Existenz tausend- und abertausendmal rauben mußte, würde er es ebenfalls ausführen. Erreichte er sein Ziel nicht, hätte er in Anbetracht dessen, was ihm selbst geraubt worden war, versagt. Bayende, Bayende. Ein Riese von einem Mann schritt über den Innenhof; sein Gesicht hätte einen Wolf erschreckt und in die Flucht geschlagen. Er hatte rabenschwarzes Haar, blaue Augen, einen stechenden Blick. Als er sprach, glänzten seine Zähne wie alte Flußkiesel. »Wer bist du? Was hast du in meinem Haus zu suchen? Du bist hier eingedrungen.« Thane rief aus: »Ich bin Thane von Kieve. Ich suche Noranda-Zang, dem ich noch etwas schulde.« »Du erwähnst den Namen meines Vaters, ohne um dein Leben zu furchten?« Thane fühlte etwas in der Brust zerspringen, und alles begann sich um ihn herum zu drehen. Erst nach ein paar Augenblicken gelang es ihm durch mühsam erzwungene Konzentration, dem grauen Schwindelgefühl zu entkommen. Vor ihm stand der Sohn eines Verrückten. Wo war denn Thanes Sohn? Im Bauch eines Wesens, als Mahlzeit eines Dämons. All diese Jahre hindurch
hatte Zang die tröstliche Nähe einer Familie gespürt, während Thane allein über gewundene Pfade und dornige Böden gewandelt war. Allein und allein und schrecklich allein. Thane zog die Hand aus der Tasche, die noch immer das ›Blaue Königreich‹ fest umklammert hielt, und schüttelte die Faust gegen den jungen Mann, der ihm in drohender Haltung entgegen kam. Haß entströmte der erhobenen Faust. Unterdrückte Leidenschaft wurde frei, gesellte sich dem Haß zu, und zusammen bildeten sie eine dichte schwarze Wolke, die dem Menschen entgegenflog. Inmitten der Wolke lagen Thanes Einsamkeit, seine Trauer, sein gebrochenes Herz. Siebzehn lange Jahre steckten darin. »Ich vernichte dich und dein Leben!« brüllte Thane. »Ich schwöre bei allem, was heilig ist, daß du der Sproß des Bösen bist, der Samen der Verderbnis. Ich zwinge dich aus diesem Leben. Ich mache deinen Atem zu meinem, übertrage die Kraft deiner Lenden auf die meinen, nehme deine Jugend in mich auf und zerstöre dich für alle Zeiten.« Der junge Mann blieb stehen und wirkte erschreckt. Noch bevor Thane den Todesspruch zu Ende gebracht hatte, warf sein Gegenüber den Kopf zurück und schrie wie ein wildes Tier in der Falle. In seiner Kehle pulsierte es, als wollte er sprechen, es aber nicht konnte. Sein langes
schwarzes Haar fiel über die Schultern, er erhob die Arme zum Himmel. Dann fiel er, wie von einem mächtigen Sturmwind gefällt, hintenüber. Zu Boden geworfen durch die Gewalt von Thanes Wut und Kraft, aus dem Leben gerissen durch Thanes Spruch. Er lag auf dem Rücken, ein letztes Zucken trieb ihm das Blut in die Augenhöhlen. Es strömte auch über die vollen Lippen und befleckte die Vorderseite des weißen Seidenhemdes. Er lag still. Er war tot. Die schwarze Wolke mit Thanes Wut schwebte davon; der Wind trug sie unter die scharfzahnige Heuschreckenherde . Thane ging auf den Körper zu und kniete nieder. Vor ihm lag das Ergebnis seiner Rache. Er fühlte weder Mitleid noch Reue. Inbrünstig hoffte er, daß Noranda-Zang diesen Junge liebte. Daß er ihn anbetete. Daß ihm der Tod seines Sohnes eine grausame Wunde schlagen und ihn niemals mehr Frieden finden lassen würde. Nun hatte dieses schreckliche Reich keinen Erben mehr. Gerade als Thane durch das Hoftor hinausschritt, ertönte hinter ihm eine Stimme, die weinend seinen Namen rief, ihn verfluchte. Es war ein Vater, der voller Trauer schrie: »Thane, Thane, Thane, nein, nein, nein! Thane,
nicht mein Sohn, nicht mein einziger Sohn!« Thane blieb weder stehen noch wandte er sich um. Er mußte Zang nicht ansehen, um zu wissen, daß er ihm alles genommen hatte, was dieser jemals geliebt hatte. Der Klang der Stimme hatte es ihm verraten, denn sie kam aus den Tiefen einer Seele, die man auf einer Streckbank folterte. Aber er lächelte nicht und fühlte keinen Triumph, denn wenn er auch brutal gemordet hatte, so war er doch nicht stolz auf seine Tat. Nun würde es zwei Magier geben, die den Rest ihres Lebens allein und in Trauer verbrachten. Nun gab es zwei, die für immer miteinander im Krieg standen, auch wenn Thane bewußt war, daß es nichts mehr gab, was einen Verlust darstellen würde. Nicht mehr, seitdem er sein kleines klopfendes Herz verloren hatte. Bayende. Bayende. Seine kleine, erbärmliche Seele. Bayende, meine Geliebte. Verloren, ohne Hoffnung darauf, wenigstens eine Seite des unendlichen Grenzgebietes der Ewigkeit zu erreichen. Thane zog den abgetragenen Umhang über den Schultern zurecht und stapfte davon. Die aufgestickten Monde und Sterne, die das zerfranste Kleidungsstück schmückten, glänzten im Dämmerlicht. Sie schimmerten wie die
Feuerfliegen, die gemächlich über die Ebenen von Everlorne flogen, um einem vagabundierenden Geist den Weg durch die hereinbrechende Dunkelheit zu erhellen. CYNTHIA WARD
Die Quellen des Mana Die folgende Geschichte erzählt die noch junge, aber schon grauhaarige Elfe den ungefähr vierzig Männern, Frauen und Kindern, die frierend um das Feuer herumsitzen, das der Wind, der durch den Paß fährt, zu rotlodernden, gezackten Bahnen aufbläst. Die Liebe ist der Grund für unsere Verzweiflung und unseren Exodus. Damit beginnt die Elfe ihre Geschichte. Durch Liebe entstand der Zauberer Tyrann, durch die Liebe zwischen Anaki und Turul. Ihr wißt, wer Anaki und Turul waren, und euch ist bekannt, daß sie sich verliebten. Aber wißt ihr auch, warum sie sich verliebten? Habt ihr von der Schönheit Anakis gehört, deren Augen schwarz wie Obsidian glänzten, deren Ohren in wohlgeformten Spitzen endeten, deren Haar wie eine Flut schwarzer Tinte bis auf die Hüften fiel? Hörtet ihr, wie gutaussehend Turul
war, mit Muskeln, wie sie ein Bildhauer nicht schöner aus Sandstein hätte modellieren können, und mit lockigem Haar so dicht wie ein schwarzes Fell? Ist euch gesagt worden, daß Anaki und Turul seit ihrem neunten Lebensjahr zusammen aufwuchsen, als man sie von den anderen Kindern trennte, damit sie bei Anakis Mutter Inasha, der Magierin von Eredok, ihre Lehrjahre verbrachten? Aus all diesen Gründen mußten sie sich ineinander verlieben. Und weil sie verliebt waren, zogen sie sich oft in die Wälder zurück, um miteinander allein sein zu können. So kamen sie während ihres sechzehnten Sommers durch ihre Liebe an einen Platz, den sie nie hätten aufsuchen dürfen. Es war ein Fluß, von dem man erzählte, er beherberge Dämonen. Ängstlich hielten sie Ausschau nach verdächtigen Anzeichen. Die Bäume ringsumher waren weder verdorrt noch geborsten, und die Erde weder unfruchtbar noch verbrannt. Grünes Gras, Farnkraut und Moos wuchsen am Rande des kristallklaren Wassers. Der Fluß bildete am Fuße eines hohen Felsvorsprungs einen See, und der Wasserfall, der sich in den See ergoß, ähnelte einem hundert Fuß hohen, zarten weißen Vorhang, der an der Stelle, wo er die Oberfläche des Sees berührte, zu einer hochaufspritzenden, donnernden Fontäne wurde. Abgesehen davon
lag der See völlig ruhig da. Er war fünfzig Fuß breit und vollkommen klar. Könnt ihr euch davon ein Bild machen, ihr Kinder des Sumpfes? Könnt ihr euch ein so großes und reines Gewässer vorstellen? Anaki und Turul starrten nicht deshalb auf den See, weil der Anblick von sauberem Wasser eine Seltenheit war; schließlich waren sie Kinder des Waldes und der Ebenen. Nein, sie starrten hinein, weil sie nach einem Bad lechzten. Erhitzt und verschwitzt waren sie dem Geräusch des Wassers in der Annahme gefolgt, daß es sie an den Großen Fluß leiten würde, der in jenen Tagen an Eredok vorbeifloß. Statt dessen kamen sie an den verbotenen Strom. »Die Geschichten der Alten sind nicht immer wahr«, gab Anaki zu bedenken. »Ich weiß«, antwortete Turul, zog sich aus und rannte los. »Nicht!« schrie Anaki. Es war zu spät: Turul tauchte in das Wasser ein. Sein muskulöser brauner Körper teilte die Oberfläche so glatt wie ein Messer. Anaki hielt den Atem an; sie hatte nicht vergessen, daß es gefährlich war, kopfüber in unbekannte Gewässer zu springen, egal ob sie Dämonen beherbergten oder nicht. Turul tauchte wieder auf, grinste vergnügt und schrie und forderte Anaki mit Gesten auf, sich zu
ihm zu gesellen. Erleichtert daß ihr Geliebter sich nicht den Kopf an einem Stein verletzt hatte, atmete sie aus. Aber sie tauchte nicht; sie war weder so leichtsinnig noch so starrsinnig wie Turul. Vorsichtig watete sie ins Wasser. Turul schrie auf und verschwand in einer aufspritzenden Fontäne. »Turul!« Noch bevor sich das Wasser beruhigt hatte, tauchte Anaki unter. Mit geöffneten Augen sank sie durch das schmerzhaft kalte Wasser, konnte aber wegen des aufgewirbelten Schlamms nichts erkennen. Sie berührte den Grund des Sees, ihre Augen brannten, ihre Füße berührten nichts als Schlick und Steine. Mit schier berstender Lunge stellte sie die Beine nebeneinander, stieß sich kraftvoll vom Boden ab, und ihr Körper schoß wie ein Speer in die Höhe. Als sie an die Oberfläche kam, rang sie nach Luft, schüttelte heftig den Kopf und blinzelte mehrmals hintereinander, um wieder einen klaren Blick zu bekommen. Sie erspähte Turul. Eine Kreatur, von der sie nur eine lange Reihe großer, scharfer, dreieckiger Klingen sehen konnte, die wie Haifischflossen das Wasser zerschnitten, hatte Turuls Bein gepackt und zog ihn hinter sich her. Anaki machte sich an die Verfolgung. Sie war eine schnelle Schwimmerin, konnte es aber
keineswegs mit der Wasserkreatur aufnehmen. Und was sollte sie tun, wenn sie die beiden einholte? Und doch folgte sie ihnen. Hätte sie sich doch abgewandt und wäre geflohen! Natürlich wirkten Anaki und Turul keine Zaubersprüche. Sie konnten es nicht. Die Hände eines Magiers müssen frei sein, um zu gestikulieren, um Kraft heranzuziehen, um die freigewordenen Mächte zu formen und zu lenken. Nicht einmal der Zauberer Tyrann kann einen Spruch wirken, wenn er schwimmt. In den Tagen von Anaki und Turul und allen Zeiten davor bedeutete ein Magier zu sein etwas völlig anderes als heutzutage. Die Macht einer Magierin hing einzig und allein davon ab, wie kräftig, gesund und gut ernährt sie war, wenn sie Sprüche wirkte. Wir würden ihre mächtigsten Sprüche für schwach halten, denn jeder Spruch wurde einzig durch die Körperkraft angetrieben. Und das ist auch der Grund, weshalb die Zauberer der Vergangenheit in den Dreißigern an Altersschwäche starben. Wie gern würden wir doch in den alten Zeiten leben! Wie sehr verfluchen wir die Seelen von Anaki und Turul! Nicht daß sich dadurch etwas ändert. Wenn Anaki es nicht herausgefunden hätte, dann wäre ein anderer gekommen und hätte das Wissen entdeckt, mit dessen Hilfe man
eine Hexe in eine unsterbliche Tyrannin und die Große Ebene in eine Große Einöde verwandeln kann. Als Anaki den Kopf hob, um nach Luft zu schnappen, sah sie, wie Turul unter dem Wasserfall verschwand. Sie schwamm zu einem Felsbrocken, der an einer Seite des Wasserfalls aus dem See ragte, und kletterte auf den schlüpfrigen Stein. Immer wieder mußte sie heftig blinzeln, um die auf sie niedersprühenden Tropfen abzuwehren. Sie vermeinte, den Rand eines Höhleneingangs hinter dem Vorhang aus Wasser wahrzunehmen. Dort mußte eine Öffnung sein; wohin sonst hätte die Kreatur Turul schleppen können? Anaki schwamm zur steinernen Kante zwischen See und Felswand und entdeckte tatsächlich eine Höhle auf der Rückseite des Wasserfalls. Sie rannte hin. Die Öffnung war größer als Anaki und dreimal so breit wie hoch. Drinnen herrschte schwärzeste Dunkelheit. Anaki zwang ihre Gedanken zur Ruhe, die nötig war, um Magie auszuführen, und wirkte einen einfachen Spruch. Sie erschuf eine wesenhafte Kugel, die schwaches grünes Hexenlicht verströmte. Die Kugel schwebte in Schulterhöhe, und Anaki betrat die Höhle. Was für ein Schrecken ergriff Anaki! Dort hauste wirklich ein Dämon, der ihren Geliebten
geraubt hatte. Wie konnte sie ihn retten? Konnte sie sich überhaupt selbst in Sicherheit bringen, jetzt, da sie die Höhle des Dämons betreten hatte? Vielleicht war Turul längst tot. Vielleicht erlitt er grausame Folterqualen. Was auch immer Turul zustieß, würde auch ihr Schicksal sein das bezweifelte Anaki keinen Augenblick, aber sie ging ohne zu zögern vorwärts, um Turul zu retten oder mit ihm zu sterben. Langsam bewegte sich Anaki durch einen dunklen Tunnel, schritt vorsichtig über die feuchten Steine, die vom Hexenlicht kaum beleuchtet wurden. Zugluft schlug ihr ins Gesicht, traf die nasse, bloße Haut mit schmerzhafter Kalte. Nach kurzer Zeit, die sich wie Wegstunden dehnte, verbreiterte sich der Gang, und ein schwacher Lichtschein war zu sehen; Anaki löschte das Hexenlicht. Augenblicke später drückte sie sich gegen die Wand, denn urplötzlich riß der Tunnel auf, gleich einem riesigen Mund mit steinernen Zähnen. Von der oberen Zahnreihe tropfte das Wasser wie Gift herab. Der Gang streckte sich wie eine lange Zunge in das Maul: eine riesige Höhle. Die Wände gaben ein unheimliches Licht ab, das beinahe so stark war wie das Licht des größeren Mondes, aber die Höhle war so riesig, daß man die gegenüberliegende Wand - wenn es eine gab - nicht sehen konnte.
Ungefähr zehn Schritt entfernt hockte auf vier kräftigen Beinen der Dämon. Ein klauenartiges sowie ein mit Schwimmflossen ausgestattetes Vorderbein ruhten auf Turuls Brust. Er lag wie tot. Der lange, schlanke Körper und der Schwanz des Dämons lagen schützend um ein Nest mit zehn oder zwölf Eiern von der Größe eines Elfenkopfes herum. Die Eier hatten dunkelgraue Schalen, und vier oder fünf davon schaukelten hin und her; wären sie reglos geblieben, hätte Anaki sie für vom Wasser abgerundete Steine gehalten. In dem Augenblick, als sie erkannte, daß es sich um Eier handelte, wurde ihr klar, daß Turul in die Höhle geschleppt worden war, um die schlüpfenden Dämonen zu ernähren. Der glatte Körper des Dämons war doppelt so groß wie Turul und hatte einen mehr als doppelt so langen Schwanz, an dessen Spitze sich Stacheln befanden. Die Kreatur hätte eigentlich wie ein Salamander ausgesehen, wenn nicht auf ihrem Rücken ein hoher reptilienartiger Kamm gestanden hätte, gezackt wie ein Kreshitenschwert, der sich vom Schädel bis zur Schwanzspitze zog. Der Dämon Öffnete das Echsenmaul und entblößte lange, scharfe Schlangenzähne, aber weder eine Echse noch eine Schlange hätten je einen Laut wie das metallische Kreischen ausstoßen können, das
durch den langen, schmalen Kiefer entwich und in der riesigen Höhle entsetzlich widerhallte. Der Dämon richtete die kalten grauen Augen auf Anaki. Er erhob sich und kam langsam auf sie zu, wobei er eine rote Feuerwolke ausatmete. Anaki hatte niemals zuvor irgend etwas erblickt, was diesem Ungeheuer auch nur im entferntesten ähnelte, aber uns ist es inzwischen wohlbekannt. Es gehört zu den Kreaturen, die der Zauberer Tyrann zu seinen magischen Sklaven zählt. Anaki stand einem Wasserdrachen gegenüber. Turul war vielleicht tot. Anaki hatte eine geringe Aussicht auf Rettung, wenn sie sich jetzt abwandte und davonlief. Der Zauberer Tyrann mit all seinem Mana kann leicht mit einem Wasserdrachen fertig werden; aber der stärkste Elf, dem kein Mana zur Verfügung steht, besitzt nicht einmal ein Viertel der Kraft, die notwendig ist, um einen Wasserdrachen mit Sprüchen zu besiegen. Anaki konnte keinen Erfolg haben. Und trotzdem begann sie, den mächtigsten der ihr bekannten Todessprüche zu wirken. Hinter dem Dämon und den Eiern, jenseits einer kleinen Bodenwelle, erschien ein zweiter Wasserdrache. Er war dreimal so groß wie der erste, bewegte sich noch bedächtiger, kam aber genauso zielstrebig auf Anaki zu. Anakis Angst wuchs, aber sie gab nicht auf. Ein zweiter Dämon konnte die Sache auch nicht
schlimmer machen. Sie besaß die notwendige Konzentration für den Spruch, aber nicht zu unterdrückende Gefühle ließen ihren Leib erbeben. Dies war eine völlig neue Erfahrung für sie, sprach gegen alles, was man ihr bisher beigebracht hatte; niemand wußte warum, aber allen war bekannt, daß es sehr gefährlich war, wenn beim Zaubern Gefühle die Oberhand gewannen. Aber Anaki hatte keine Wahl, es blieb keine Zeit, um in eine beruhigende Trance zu fallen. Sie wirkte den Spruch und zitterte so stark vor Haß, wie es noch niemals vorher geschehen war. Gleichzeitig wand sie sich, als sie von der brennenden Hitze des Dämons schmerzhaft getroffen wurde, und fühlte trotz allem mit köstlicher Deutlichkeit, wie groß ihre Liebe zu Turul war und wie sehr sie um ihrer beider Leben bangte. Sie sah und spürte nicht, daß ihre Magie die Dämonen erreichte. Ihre angeborene Kraft strömte nutzlos davon, wie das Wasser aus einer gesprungenen Schüssel. Aber sie würde ihren Geliebten nicht verraten, indem sie ohnmächtig zu Boden fiel, bevor sie den Spruch beendet hatte. Als die Flamme des Wasserdrachens Anakis Arme schmerzhaft kitzelte, endete der Spruch, und sie spürte, wie etwas tief im Inneren, an einer unbestimmbaren Stelle, knackte - es schien,
als sei ihre Seele geborsten - und plötzlich verfügte sie über unendliche Kräfte. Wenn man die angeborene Kraft benutzt, um Magie anzuwenden, dann ist das genauso, als würde man damit schwimmen oder rennen wollen. Aber die neue Kraft, die Anakis Spruch wieder entzündete, erschien ihr wie ein gewaltiger Fluß, der aus einer unendlich mächtigen Quelle entsprang, die außerhalb ihres Körpers lag, und der wie das Flutwasser aus dem Herzen der Erde durch ihre Adern strömte. Es handelte sich um eine unverwechselbar fremde Kraft. Gesteuert durch ihren Spruch, überflutete diese Kraft die Dämonen. Sie gingen in grüne Flammen auf. Diese erstickten das rote Feuer. Ihre Schmerzenschreie waren so schrill wie das Kratzen rostigen Metalls, wenn es auf Metall trifft, aber sie gingen trotzdem weiter auf sie zu. Brennend und furchterregend näherten sie sich Anaki und zeugten so von dem entsetzlichen Lebenswillen magischer Kreaturen. Als er noch zwei Körperlängen von ihr entfernt war, sprang der kleinere Wasserdrachen auf Anaki zu. Sie versuchte auszuweichen. Dabei stürzte sie zu Boden. Der Aufprall raubte ihr den Atem und beinahe auch die Sinne. Aber noch immer durchströmte sie die fremde Kraft, und sie klammerte sich an ihre Aufgabe und starrte den
Wesen, die sie für Dämonen hielt, entgegen. Plötzlich erstrahlte das grüne Feuer so hell wie die Sonne; dann erlosch es und verschwand - und mit ihm die Wasserdrachen. Anaki fiel vor Unglauben und Erschöpfung kraftlos in sich zusammen. Sie begriff nicht, was geschehen war. Sie rollte sich zu einer Kugel zusammen, und fast hätte sie den Verstand verloren - aber da fiel ihr Turul ein. Langsam richtete sie sich auf, die Beine zitterten wie bei einem neugeborenen Fohlen, das zum ersten Mal aufzustehen versucht; genau wie ein Fohlen fiel auch sie wieder zu Boden, konnte sich aber nicht mehr erheben. Also kroch sie auf den verbrannten Händen und Füßen an die Seite ihres Geliebten. Er lag völlig reglos, die Augen waren geschlossen, die Lippen leicht geöffnet; er schien nicht mehr zu atmen. Sie legte ein Ohr an Turuls Brust. Sie vernahm einen einzelnen Herzschlag. Nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit erschien, hörte sie einen zweiten. Turuls Herz schlug schwach und unregelmäßig. Turul war an den Beinen durchs Wasser geschleift worden; Anaki betrachtete sie und sah, daß sie in einer Blutlache lagen. Die linke Wade war bis auf den Knochen zerfetzt; das zerrissene Fleisch war an den Stellen, an denen es nicht blutbedeckt war, völlig schwarz, und violette
Steifen zogen sich wie Blutergüsse über den gebräunten Oberschenkel. Turul war nicht tot, aber er lag im Sterben, von den Fängen des Wasserdrachens vergiftet. Obwohl Anaki erschöpft war und nicht begriff, woher sie die Kraft genommen hatte, um die Dämonen zu töten, versuchte sie, den Schlangengiftspruch zu wirken, den einzigen ihr bekannten Zauber, der vielleicht Turuls Leben retten konnte. Sie verspürte keine Kraft, von der sie zehren konnte, aber sie machte weiter, gestikulierte nur schwach, sang mit heiserer Stimme. Sie setzte dabei die nur noch schwach flackernde Flamme ihres eigenen Lebens aufs Spiel. Sie mußte Turul retten! Wieder verspürte sie das seltsame Knacken, als sei etwas im Inneren ihrer Seele bis zum Wendepunkt gedreht worden, und erneut durchströmte sie die unglaubliche Kraft. Sie würde Turul retten! Gleichzeitig endeten der Spruch und der Kraftstrom. Ein Lichtstrahl blitzte über der Wunde auf, zuckte grellgrün und blendend hell. Als Anaki wieder deutlich sehen konnte, war die Verfärbung des Fleisches verschwunden und die Wunde verheilt, ohne eine Narbe zurückzulassen. Sanft legte Anaki eine Hand auf die Brust ihres Geliebten; sie fand den Herzschlag:
schwach, aber regelmäßig. Ein Gefühl der Erleichterung ergriff sie mit ebensolcher Macht wie vorhin die seltsame Kraft. Dann holten sie die Anstrengungen ein, und sie sank reglos auf die kalten Steine. Plötzlich erwachte Anaki mit wild klopfendem Herzen. Sie wurde gerüttelt. Schnell raffte sie sich auf, voller Angst, daß die Wasserdrachen zurückgekehrt waren, und wäre um ein Haar mit dem Kopf gegen Turuls Gesicht gestoßen. Er kniete neben ihr, hatte sich dicht über sie gebeugt. Sie riefen einander beim Namen und umarmten sich, redeten in der Sprache der Liebenden, die ich nicht wiederholen muß. Dann erzählte Anaki Turul, was geschehen war. Er war verblüfft und gehörig entsetzt über die fremde Kraft, die sie ihm beschrieb. »Bevor wir verschwinden«, schloß Anaki. »Müssen wir die Eier dort zerstören.« Sie deutete auf das Nest. Turul rang beim Anblick der riesigen Eier nach Luft. Inzwischen bewegten sich alle, einige knackten bereits, in Kürze würde die Brut ausschlüpfen. »Ich muß diese Kraft finden. Wir dürfen nicht zulassen, daß auch nur ein einziger Dämon in der Nähe von Eredok überlebt!« Anaki murmelte den Todesspruch. Sofort verspürte sie das seltsame Knacken und den
unbeschreiblichen Kraftfluß. Allmählich gelang es ihrem Körper, die fremde Magie zu steuern. Die Dracheneier gingen in grüne Flammen auf. Anaki erschauerte. »Bei den Göttern, Anaki«, stieß Turul heiser hervor, »was für eine Macht ist das?« »Ich weiß nicht!« erwiderte Anaki. »Laß uns gehen!« Während sie den Gang entlangliefen, bemerkte Anaki im Schein des Hexenlichtes, daß Turul nicht einmal hinkte. Die unglaubliche Magie hatte ihn völlig geheilt. Als die Liebenden den Tunnel verließen, blieb Turul stehen und starrte auf die schattenhafte Innenseite des Wasserfalls. Seine Lippen bewegten sich, aber Anaki konnte seine Worte wegen des rauschenden Wassers nicht hören. Sie beugte sich vor und rief ihm ins Ohr: »Ich kann dich nicht hören!« Turul legte die Lippen an ihr Ohr und brüllte, so laut er konnte: »Als das Ungeheuer mich unter den Wasserfall zog, verlor ich durch den Aufprall das Bewußtsein! Als ich wieder zu mir kam, fand ich dich leblos neben mir liegend!« Er umarmte Anaki heftig. Sie traten hinter dem Wasserfall hervor. Schreckerfüllt erstarrten sie. Die Bäume rings um den See waren kahl und verdorrt, und ein Teppich brauner Blätter bedeckte den Boden und
die Wasseroberfläche. »Ihr Götter«, flüsterte Anaki, »was ist geschehen?« Aber sie errieten die Wahrheit nicht, die wir zu unserem Kummer kennen. Als sie sich ein wenig von dem schrecklichen Anblick der Zerstörung erholt hatten, schwammen sie zu der Stelle, an der sie ihre Kleidungsstücke vermuteten - es war durch die veränderte Umgebung sehr schwierig, sie wiederzuerkennen - und gingen ans Ufer. Pflanzen und Laub raschelten unter ihren Schritten, ein feiner, blasser Staub legte sich über die bloßen Waden. Die letzten noch an den Ästen hängenden Blätter fielen herab, lösten sich während des Falls auf und überpuderten die Erde und die Liebenden mit trockenem braunen Schnee. Die skelettartigen Schatten der Bäume zeichneten sich am Boden ab. »Der Tod der Dämone muß irgend etwas Bösartiges freigesetzt haben«, vermutete Turul. »Wir können von Glück sagen, daß wir nicht umgekommen sind!« Bevor Anaki antworten konnte, stolperte sie über ein Kleiderbündel. Sie schüttelten die pudrigen Blätter von den Gewändern und kleideten sich an. Die Stoffe klebten unangenehm auf der feuchten Haut.
»Anaki«, sagte Turul, »du mußt mir beibringen, wie man diese Kraft herbeiruft.« Anakis Gesicht war angespannt, und die Augen hatten ihren Glanz verloren. »Aber nicht heute.« »Natürlich nicht.« Mit schleppenden Schritten gingen sie heimwärts. Wenige hundert Schritt vom Fluß entfernt veränderte sich der Wald von Grund auf. Plötzlich strahlte das Buschwerk in saftigem Grün, die Bäume trugen wieder ihr grünes Kleid. Anaki und Turul schauten sich mit großen Augen um. »Turul«, sprach Anaki, »wir dürfen niemandem erzählen, was heute geschehen ist.« »Du hast recht. Niemand darf es wissen. Mein Vater würde mich umbringen, wenn er wüßte, daß ich in der Nähe des verbotenen Flusses war!« »Eines Tages werden wir meiner Mutter von dieser Kraft erzählen«, sagte Anaki matt. »Wir müssen es ihr erzählen, aber nicht heute. Heute nicht.« Jahre sollten vergehen, bevor sie irgend jemandem davon erzählten. Nur ein Tag verstrich, und schon versuchte Anaki, Turul etwas beizubringen, das sie selbst nicht verstand.
Damit alles geheimblieb, wanderten sie zum Rand der Großen Ebene. Das Dorf lag in weiter Entfernung und wurde vom hohen Gras verdeckt. Anaki erklärte die Geschehnisse, so gut sie konnte, beobachtete dann, wie Turul ein paar harmlose, aber kräftezehrende Illusionszauber wirkte und auf diese Weise versuchte, den Durchbruch zum Kraftstrom gemäß ihrer Beschreibung zu erreichen. Bald hockte er ermattet neben ihr; ein kleiner, kräftiger Junge, dessen Kopf an der Schulter eines großen, schlanken Mädchens ruhte. »Ich schaffe es nicht«, keuchte er. »Ich habe meine ganze Kraft verbraucht und keine andere finden können. Diese fremde Macht gehorcht nur dir.« »Das ist nicht wahr«, beharrte Anaki. »Versuch es noch einmal.« »Ich glaube, ich kann nicht.« »Du mußt!« Selten erhob Anaki die Stimme. Turul sprang erstaunt auf und versuchte sich an einem neuen Spruch. Mit leiser Stimme und unsicheren Gesten begann er, aber als der Spruch zu Ende war, brach ein Wildschwein aus dem Wald hervor. Die Illusion war überzeugend, von der starken Ausdünstung des grauen Körpers bis hin zu den Erdklumpen, die von den Hufen aufgewirbelt wurden. In Wirklichkeit war es gar
keine Illusion, aber sie ahnten nicht, daß diese Art der Magie ihnen ermöglichte, eine in der Nähe befindliche Kreatur zu verzaubern und herbeizurufen. Rings um das Wildschwein herum, von dem sie noch immer glaubten, es sei nur eine Illusion, verblaßte die Farbe der Gräser, sie verdorrten, starben ab. Turul schrie auf, und die Kraft versiegte. Das Tier verschwand, denn Turuls Einfluß war nicht stärker gewesen, als hätte es sich um eine Illusion gehandelt. Die Liebenden fanden sich in einem großen Kreis von abgestorbenen Bäumen und totem Gras wieder. Anaki hatte entdeckt, wie ein Magier die lebendigen Kräfte des Waldes und der Ebenen benutzt, so als handele es sich um den eigenen Körper. Sie hatte Mana entdeckt. Aber sie wußte nicht wie man den Gebrauch von Mana steuerte. Als Anaki und Turul sich von ihrem Entsetzen erholt hatten und die Sprache wiederfanden, stellte Anaki fest: »Wir morden! Wir vernichten Bäume und Gras, wenn wir diese Magie benutzen.« »Mein Vater sagt: Ein Jäger tötet nur, wenn es unbedingt notwendig ist«, fügte Turul hinzu. »Ja«, nickte Anaki, »wir dürfen diese Macht nur anwenden um Leben zu retten. Und wir dürfen niemandem erzählen, was wir entdeckt
haben!« Sie sprachen zu niemandem darüber, und sie benutzten die Mana auch erst nach mehr als einem Jahr aufs neue. Anakis Mutter, Inasha, lag im Sterben aufgrund der vorzeitigen Altersschwäche, die in jenen Tagen das Leben der Zauberer beendete. Anaki und Turul kämpften um Inashas Rettung, nährten machtvolle Heilzauber mit großen Mengen von Mana; zerstörten Ernten und Steppengras während einer schlechten Wachstumsperiode. Dennoch wurde Inasha vom Seelenjäger gefangen. Anaki und Turul waren gleichermaßen von Trauer und Schuld erfüllt. Und doch griffen sie nach sechs Monaten erneut auf die Steppenkräfte zurück, als sie um das Leben eines tödlich verwundeten Jägers kämpften. Dieses Mal hatten sie Erfolg. Die neue Magie machte sie nicht allmächtig, aber oftmals konnten sie damit ein Leben retten, das sonst verloren gewesen wäre. Die jungen Zauberer hielten ihren Schwur, die Wälder und Ebenen nur anzurühren, wenn es unumgänglich war, und glücklicherweise kam dies nicht zu häufig vor, da die Dorfbevölkerung nur dreihundert Elfen zählte. Anaki und Turul wünschten sich viele Kinder, aber trotz all ihrer Bemühungen und Gebete bekamen sie nur eines. Sie beteten ihren Sohn an,
und Akkurdal wurde zum Mittelpunkt ihres Lebens; erhielt nicht nur die ungeteilte Liebe, sondern auch die fortwährende Aufmerksamkeit seiner Eltern. Im Gegensatz zu den Bauern, Jägern und Handwerkern des Dorfes mußten die Magier ihr Kind nicht unter der Obhut der Ältesten zurücklassen, wenn sie ihren Pflichten nachkommen wollten. Damit will ich nicht sagen, daß der junge Akkurdal keine Zeit mit anderen Kindern verbrachte. In jenen sorglosen Tagen hatten die Kinder von Eredok viel Zeit zum Spielen, und Akkurdal spielte mit ihnen, denn er war noch nicht neun Jahre alt, noch nicht der Schüler seiner Eltern. Und er bestand darauf mitzuspielen. Noch bevor er fünf war, hatte er erkannt, daß die anderen Kinder sich vor seinen Eltern fürchteten, und daher auch vor ihm. Als die Kinder das nächste Mal Fangen spielten und er gefaßt wurde, leugnete er dieses ab. Seg, sein Spielkamerad, behauptete wahrheitsgemäß: »Ich hatte dich!« Akkurdal sagte ruhig: »Nennst du mich einen Lügner?« »Lügner, Lügner, Lügner!« rief Seg wütend. »Ich bin kein Lügner«, erwiderte Akkurdal. »Ich werde meinen Eltern erzählen, daß du mich Lügner genannt hast.«
»Nein!« rief Seg in plötzlicher Angst. »Meine Eltern mögen keine Lügner. Sie verzaubern Kinder, die Lügen über ihren Sohn verbreiten...« »Akkurdal!« rief eines der älteren Kinder, ein vernünftiges siebenjähriges Mädchen namens Unekti. »Deine Eltern sind Heiler. Sie wirken keine bösen Zauber!« »Vielleicht würden sie Seg nicht verzaubern«, gab Akkurdal zu. Schon damals war er schlagfertig und log blitzschnell, wie es Kinder tun, wenn sie einer Strafe entgehen wollen, »Aber ich kenne viele Sprüche!« »Du bist kein Lügner!« rief Seg. »Ich habe nur Spaß gemacht! Ich bin dein Freund, Akkurdal! Tu mir nichts!« Es freute Akkurdal sehr, Seg in der Hand zu haben, und wollte sich die Freude nicht nehmen lassen. »Vielleicht tue ich dir nichts - wenn du diesen Hundehaufen da ißt!« Seg bettelte und flehte, die anderen Kinder schrien und stöhnten, aber Akkurdal gab nicht nach, und schließlich tat Seg, was Akkurdal befohlen hatte. Die Kinder machten von nun an alles, was Akkurdal sagte. Einige wurden sogar zu seinen Dienern, zu seinen ›Soldaten‹, damit sie Anteil an seiner Macht über die Kinder von Eredok
hatten, daher wurde seine Unkenntnis der Magie nicht entdeckt. Natürlich erfuhren die Eltern von Akkurdals Spielkameraden irgendwann, was vor sich ging, und endlich erschien eine kleine nervöse Abordnung vor Anaki und Turul und berichtete ihnen von Akkurdals Tyrannei. Erstaunt wandten sich Anaki und Turul an ihren neunjährigen Sohn und fragten: »Akkurdal, ist das alles wahr?« »Nein«, antwortete Akkurdal. Anaki und Turul ermahnten die Eltern, nicht alles, was ihnen die Kinder erzählten, zu glauben, und schickten sie fort. Sie befragten ihren Sohn nicht weiter und forschten auch nicht nach. Im Alter von neun Jahren nahmen sie ihren Sohn als Schüler an, genau wie Inasha es mit ihnen gemacht hatte. Seltsamerweise nahmen sie sonst keine Lehrlinge auf; vielleicht erhofften sie sich weitere Kinder, obwohl sie auf die Dreißig zugingen, was in jenen Tagen ein beträchtliches Alter für Zauberer war. Akkurdal lernte schnell, schnell genug, um die Kinder weiterhin zu beherrschen, als diese - älter und weiser (und verzweifelter) geworden - seine Tyrannei beenden wollten. Er hatte erraten, daß man die Heilzauber umkehren und dadurch Schmerzen und Verletzungen zufügen konnte, und das erwies sich als richtig.
Als Akkurdal sechzehn Jahre alt war - im gleichen Alter wie Anaki, als sie die neue Magie entdeckte -, lehrten ihn seine Eltern, wie man die angeborene Kraft mit der des Waldes und der Steppe nähren konnte. Sie betonten ganz besonders die Notwendigkeit des verantwortungsvollen Gebrauchs. Sie verschwendeten ihren Atem. Mit sechzehn waren sie Erwachsene gewesen; Akkurdal war ein Kind. Die erste nicht überwachte Anwendung der Kraft war eine aufsehenerregende Illusion, um die Kinder und Jugendlichen des Dorfes zu verängstigen. Er hatte damit Erfolg. Außerdem zerstörte er mehrere Morgen Wald und Eredoks Ernte, indem er Mana aus dem Boden unter den Feldern nahm. Dabei wurden viele Zuschauer getötet, denn er hatte keine Illusion beschworen, sondern wahrhaftige Landegel. Akkurdal wunderte sich über die Vorgänge; gleichzeitig berauschte ihn die Freude wie starker, süßer Wein, denn er erkannte, daß er an diesem Tag seine nicht unbeträchtliche Macht noch vergrößert hatte. Die Schreie der sterbenden Kinder riefen die Dorfbewohner herbei; unter ihnen befanden sich auch Anaki und Turul. Sie verbannten die Landegel und begriffen endlich, daß auch das Wildschwein, von Turl vor vielen Jahren
herbeigerufen, keine Illusion gewesen war. Sie befahlen ihrem Sohn, nach Hause zu gehen, und in der Abgeschiedenheit ihrer Hütte sprachen sie streng, barsch und böse mit ihm; sie redeten mit ihm wie niemals zuvor. Er ging nicht darauf ein, und zum Schluß brüllten sie ihn an. »Du wußtest, was du tust!« schrie Turul. »Warum hast du die Ernte zerstört? Bei den Göttern, wir brauchen sie, um den Winter zu überleben!« »Du hast deine Freunde getötet!« weinte Anaki. »Du hast alle Dorfbewohner in Gefahr gebracht! Macht dir das denn nicht aus?« »Nein«, erwiderte Akkurdal lässig, »warum sollte es?« Seine gleichgültige Antwort entsetzte seine Eltern, und nun erkannten sie, was jeder andere in Eredok längst über das Wesen Akkudals wußte. Die Entdeckung führte dazu, daß Turul zum ersten Mal eine körperliche Züchtigung vornahm. Er war jetzt alt, seine Hiebe schwach, aber sie erweckten eine ungeheure Wut in Akkurdal, die den jungen Mann dazu brachte, etwas auszuprobieren, das seinen Eltern niemals in den Sinn gekommen wäre. Er wandte sich nach außen, tastete sich vor, suchte nach ausreichender Kraft, um seine dunkle Idee zu nähren - und als ihm das Mana zufiel, kostete er eine neue, gewaltige Macht.
Er metzelte seinen Vater und seine Mutter nieder und machte sie gleichzeitig zu seinen Sklaven. Sie waren tot. Magische Lebenskraft gab er ihnen ein - sie wurden die untertänigen Diener ihres bösartigen Sohnes. Zombies. Auch in jenen Tagen der klaren Gewässer, der Wälder und der Steppen lagen entlang des Großen Flusses zahlreiche Sümpfe. Akkurdal hatte das Mana entdeckt das ihm gut gefiel. Er entzog den Sümpfen, die er benutzte, nicht die Lebenskraft. Bei der Suche nach geeigneter Mana hatte er zufällig entdeckt, wie er Kraft anzapfen konnte, ohne sie völlig auszuschöpfen, und lernte so den Gebrauch von Mana ohne die Zerstörung seiner Quelle. Nun war Akkurdal der einzige Zauberer in Eredok. Die Dorfbewohner erkannten den Zusammenhang zwischen der tödlichen ›Illusion‹ des jungen Zauberers und der zerstörten Ernte. Da sie die Schicksale von Anaki und Turul nicht kannten, kamen die Dorfoberen von Eredok, um mit Akkurdal zu sprechen. Da sie Akkurdals Natur kannten und seine Eiter nirgendwo erblickten, sprachen sie ruhig und besonnen mit ihm. Dieser lachte und verhöhnte die Leute und sagte ihnen, daß sie von nun an seinen Befehlen folgen müßten. Sie gerieten in Angst und Wut,
und der Erste Jäger zog sein Messer aus Lugulitestahl und sprang auf den Magier zu. Er war jung und behende und seinem Opfer nahe, aber er hatte keine Chance. Eine Geste, ein Spruch, und er lag tot am Boden. Dann erhob er sich als Zombie und richtete sein Messer gegen die Männer und Frauen, die seine Verbündeten gewesen waren. Sie erstarrten, entsetzt und entgeistert. Akkurdal sprach: »Ihr könnt mir nichts anhaben. Verneigt euch! Ich bin jetzt der Herrscher von Eredok, mein Wille ist euer Gesetz. Ihr werdet tun, was ich befehle, oder alle sterben!« Dann verkündete er, daß alle Männer und Frauen von Eredok ihre Messer und Speere ergreifen sollten und die Ländereien ihrer Nachbarn besetzen mußten. Die Abordnung protestierte. Anaki und Turul erschienen. Die Elfen schrien beim Anblick ihrer guten Zauberer, die zu wandernden Leichen geworden waren. Die toten Magier und der tote Jäger - die Zombies - brachten die verängstigten Dorfbewohner um. Dann verzauberte Akkurdal die Leichen, belebte sie und machte sie zu Untoten. So begann die Herrschaft des Magiers Tyrann. Der Rest ist euch bekannt.
Akkurdals Machtgier und Habsucht trieben ihn auf Eroberungszüge, und kein Zauberer, keine noch so große Armee konnte ihn besiegen, denn er allein kannte das Geheimnis der Manaquelle. Jetzt nachdem er die Große Ebene erobert hat, langweilt er sich und belustigt sich damit seine Untertanen mit wahllosen Zurschaustellungen seiner Macht zu verängstigen, die bereits die Große Ebene in die Große Einöde verwandelt haben - riesige Flächen faulender Sümpfe und Ödlandes, die sich über tausend Wegstunden in jede Himmelsrichtung erstrecken. Nun wißt ihr, wie die Liebe von Anaki und Turul ein Ungeheuer erschuf und unsere Welt vernichtete. Um dem Ungeheuer zu entkommen, flohen wir aus Eredok, um einen Paß durch die Berge von Shenggor zu finden, die bisher von niemandem je überquert wurden. Wir haben den Paß gefunden, ihr werdet ein neues Land entdecken, neue Ebenen und Wälder, die euer Zuhause sein werden. Aber ich werde nicht mit euch gehen. Die Elfe hält in ihrer Geschichte inne, denn die zerlumpten, zitternden Zuschauer brechen angesichts der Neuigkeit in überraschte Rufe und Schreie aus. Die Stimmen hallen von den glatten
Felswänden des Passes wider. Dann erhebt sich die Stimme eines männlichen Elfen über das Gewirr des Echos und der Ausrufe: »Woher weißt du das alles? Wie kann es sein, daß du diese Dinge erfahren hast?« Woher ich das alles weiß? Mein Vater hat es mir erzählt, und der hörte es von seinem Vater, dem Zauberer Tyrann. Die versammelten Elfen brechen wieder in Überraschungsrufe und diesmal auch Entsetzensschreie aus. Mein Vater versuchte, seinen Vater zu töten, aber er hatte nicht soviel Erfahrung wie Akkurdal und starb durch dessen Hand. Jetzt ist er Akkurdals Diener, der schreckliche Zombiemeister des Zauberers Tyrann. Aber Akkurdal, selbst der mächtige Zauberer Tyrann Akkurdal, wußte nicht, daß sein Sohn eine Tochter hat. Eine Magierin, die gleich ihm alles über den vielfältigen Gebrauch von Mana weiß. Eine Magierin, die auf der Flucht in die Berge gelernt hat, daß auch ein Gebirge eine Manaquelle darstellt, mit deren Hilfe sie die gräßlichen hier lebenden Kreaturen befehligen kann. Dieses Mana ist dem Zauberer Tyrann unbekannt. Diese Magie ist so mächtig wie die seine. Sie steht auf, die grauhaarige, noch junge Elfe, und der Nachtwind fährt ihr durchs Haar
und bläst es hoch wie ein silbernes Feuer, die Augen strahlen rot und scheinen so heiß wie zwei Sterne zu sein. Das Gesicht ist hart wie Granit, tiefe Linien der Entschlossenheit haben sich darin eingegraben - so unausrottbar, wie die Gebirgszüge im Angesicht der Erde verankert sind. Dann hebt sie die Faust und schreit: Bei der Seele meines Vaters und den Seelen von Anaki und Turul schwöre ich, daß ich meinen Großvater Akkurdal, den Zauberer Tyrann, vernichten werde! Die Elfen erheben sich jubelnd und hören daher nicht die leisen Worte, den tiefernsten und von ganzem Herzen kommenden Schwur: Ich werde mich vom Erbe des Bösen reinwaschen. MORGAN LLYWELYN
Dryadenkuß Der Baum stand in einer Bodensenke und streckte die blattlosen Finger nach dem größeren der beiden Monde aus, welche die umliegenden Berggipfel erleuchteten. Es war ein schlanker Baum, tief verwurzelt und anmutig anzusehen, im Frühling mit duftenden Blüten bedeckt, und im Sommer trug er ein dichtes, grünes
Blätterkleid. An diesem Winterabend bot er jedoch einen kargen und einsamen Anblick. Am Rande der Senke stand ebenfalls eine einsame Gestalt, den Blick nach unten gerichtet. Telier zog den zerfransten Umhang enger, um sich gegen den eisigen Wind zu schützen, während er das Bild zu seinen Füßen betrachtete. Das perlmuttfarbige Mondlicht erhellte die Bodensenke beinahe so, als wäre es heller Tag. Früher hatte dichtes Unterholz den Baum umgeben, knorrige Zweige, die man ohne große Mühe abtrennen und wegtragen konnte. Nach und nach hatte Telier das gesamte Buschwerk abgeholzt, um seine Feuer in Gang zu halten. Nur der Baum war zurückgeblieben. Telier war ein alternder Mann mit müden Knochen. Er wollte gar nicht erst versuchen, einen ganzen Baum zu fällen. Die Aufgabe hätte seine Kräfte überstiegen, und er hatte schon viel zu viele Niederlagen einstecken müssen. Aber wo sollte er Feuerholz finden? Vom Abhang her starrte er auf den Baum hinab und fragte sich, was er tun könnte. Vielleicht ein paar Zweige herunterholen? Er hätte ein Seil über einen toten Ast werfen und ihn abbrechen können. Aber gab es überhaupt tote Äste, die tief genug über dem Boden hingen? Lebende abzutrennen, wäre bedeutend schwieriger gewesen.
Wenn er zurückdachte, konnte er sich nicht erinnern, jemals tote Äste entdeckt zu haben. Der Baum wirkte immer äußerst gesund; er beneidete ihn um diese Gesundheit. In letzter Zeit hustete Telier häufig, und die winterliche Kälte schien tiefer in die Knochen zu dringen als in den Jahren zuvor. Wenn er krank würde, ohne jemanden in der Nähe, der sich um ihn kümmerte, müßte er sterben. Einsam und vergessen würde er sterben, ein närrischer alter Mann... Er kehrte zu seiner Hütte zurück, und verließ sie kurz darauf wieder mit einer um die Schulter geschlungenen Seilrolle und einem im Gürtel steckenden Handbeil. Auf den weißen Strähnen, die sich durch das Haar und den Bart zogen, schimmerte das Mondlicht. Mit einem schweren Seufzer machte er sich auf den Weg zur Bodensenke. Der gewundene Pfad war lehmig und ausgetreten, und er fürchtete sich vor dem Ausrutschen. Wenn er stürzte und sich verletzte, würde niemand seine Schreie hören. Absichtlich hatte er diesen Platz weitab jeder menschlichen Behausung gewählt. Magie, darauf beharrte er, gedieh nur in Abgeschiedenheit. Aber es ist ja nicht so, dachte Telier grimmig, daß sich Magie einfach so ergibt. Er hatte sich ein Leben lang dem Aufspüren von Mana
gewidmet, alles Geld, das er besaß, für Bücher und Unterrichtsstunden ausgegeben, zu Füßen der großen Magier gesessen und deren Worte aufgesogen - bereit für den Tag, da auch er Magie anwenden würde. In seiner Jugend hatte er manchmal - beinahe das Prickeln des Mana in den Fingerspitzen verspürt. Aber wann immer das geschehen war, hatte er sich insgeheim gefürchtet. Der Besitz und die Anwendung von Mana brachten eine ungeheure Verantwortung mit sich. Er versicherte sich selbst, daß er eines Tages reif dafür sein würde, bald schon, nur jetzt gerade noch nicht... Es gab noch soviel zu lernen, so viele Vorbereitungen waren noch zu treffen. Er mußte noch weiser, älter und stärker werden. Jedenfalls hatte er so in seiner Jugend gedacht. Die Zeit war vergangen. Telier war älter und stärker geworden, aber nicht weiser; er kam dem Ziel, ein geschickter Magier zu werden, nicht näher. Die Jahre verflogen, während er von einem Lehrer zum anderen wanderte, auf der Suche nach dem Einen, der ihm die Tür öffnen würde. Und manchmal glaubte er, daß sich die Tür einen Spaltbreit geöffnet habe und er einen goldenen Lichtschein dahinter erspähen könne. Er vermeinte, in der Entfernung das Brüllen des Minotaurus zu hören oder gar das heisere Lachen der schakalköpfigen Kreatur. Sein Herz schlug
fester, seine Handflächen wurden feucht. Und dann wich er zurück. Hinterher, nachts im Bett, warf er sich unruhig hin und her. Morgen, schwor er sich. Morgen wäre er bereit. Wenn sich die Tür morgen öffnen würde, würde er sich durch den Spalt hindurchzwängen. Frohen Mutes würde er sich in das Reich der Magie stürzen, das Königreich des Mana. So verfolgte er seinen Wunschtraum, bis der Lauf der Zeit sowohl die Angst als auch den Eifer verminderte und ihm nur noch eine zähe Beharrlichkeit blieb. Aber es geschah nichts. Das Mana wurde niemals greifbar und erreichbar für ihn, niemals öffnete sich die Tür weit genug, um ihn durchzulassen. Die Leute betrachteten ihn mit mitleidigen Blicken. Damals begann er, die Gesellschaft der Menschen zu meiden und sich an Plätzen niederzulassen, wo ihn nur die Bäume und der freie Himmel umgaben. Wenn er behauptete, die Einsamkeit sei eine Notwendigkeit, so war das lediglich eine Ausrede. Aber er verdoppelte seine Anstrengungen, die Magie zu erlernen, da ihm nichts anderes mehr geblieben war. Teller seufzte; hielt inne, um Atem zu schöpfen. Unter ihm wartete der Baum. Er hielt
es für eine Schande, ihn zu fällen. Der Baum war von ungewöhnlich schöner Form, anmutig und schlank, die Zweige so hübsch angeordnet, als hätte ein Künstler sie drapiert. Selbst wenn nur ein Ast entfernt würde, wäre die Gleichmäßigkeit des Baums zerstört. Aber das Feuer in seiner kleinen Hütte war schon vor längerer Zeit erloschen, und der Winter wurde immer kälter. Er brauchte Wärme. Er brauchte Licht. Die beste Zeit für Übungen war die tiefste Nacht, und die konnte er nicht im Dunklen bewerkstelligen. Er konnte keine Übungen ausführen, wenn die Glieder steifgefroren waren und die Finger sich nicht mehr krümmen ließen, um die geheimen Symbole und Zeichen der Macht in die Luft zu malen. Er ertappte sich dabei, wie er laut auf den Baum einredete und seine Angelegenheiten schilderte. »Ich hoffe, daß ich... Ich denke, daß ich kurz vor dem Ziel stehe«, erklärte er mit einer Stimme, die durch die lange Schweigsamkeit heiser klang. »Nur noch eine kleine Anstrengung, dann habe ich es geschafft. Die Anwendung von Mana fällt niemandem in den Schoß; sie verlangt große Opfer. Ich habe alles aufgegeben - Heim, Freunde, Familie. Ich habe nie geheiratet, habe keine Kinder, die meine Bücher erben könnten. Und sonst besitze ich
nichts, nur die Kleidung, die ich am Leib trage, und die elende Hütte am Rand dieser Senke. Doch wenn es mir endlich gelingt, wird sich alles ändern. Den Rest meines Lebens werden Silber und Gold begleiten. Schöne Frauen werden mich aufsuchen, werden mich nicht als alt und grau bezeichnen. Mana wird mich in ihren Augen anziehend aussehen lassen; Mana wird mich so kräftig wie einen jungen Mann erscheinen lassen. Das Elend meines Lebens wird Vergangenheit sein.« Verlangen brannte ihm in der Kehle. Seit so vielen Jahren lief er nun diesem einen Versprechen hinterher. Wenn er einsam, hungrig oder erschöpft war, hatte er sich in diesem Traum verloren, sich vorgestellt, wie alles sein würde. Er versagte sich die Freuden der Gegenwart erwartete Gutes nur von der Zukunft. Er war nicht länger ängstlich. Die Unsicherheit der Jugend lind die Zaghaftigkeit der mittleren Jahre hatte er überwunden. Die verbliebenen Gefühle erschöpften sich in dem überragenden Verlangen, seinen Traum wahrzumachen, bevor er das Zeitliche segnete. Er fuhr fort, den Abhang hinabzuklettern, vorsichtig, Schritt für Schritt. Einmal blickte er zurück auf seine Hütte am oberen Rand der Talsenke. Die halbzerfallene Bretterbude lag noch nicht sehr weit über ihm, doch bereits jetzt
belastete ihn der Gedanke an den Rückweg. »Ich werde alt«, murmelte er halblaut vor sich hin. »Ich habe nicht mehr viel Zeit.« Damit meinte er keineswegs die Suche nach Feuerholz. Als er den Grund der Senke erreicht hatte, schlurfte er durch die herabgefallenen Blätter auf den Baum zu. Die Rinde war sehr blaß, beinahe weiß, erinnerte ihn an Haut, die vom Mondlicht beschienen wurde. Mit den Fingerspitzen berührte er den Griff des Beils, konnte sich aber nicht überwinden, es aus dem Gürtel zu ziehen und in den Stamm sinken zu lassen. Nein, der andere Plan war besser. Ein Seil, über einen tiefhängenden Ast geworfen, ein kraftvoller Ruck nach unten... Kraftvoll Teliers Lippen zuckten. Es wäre schon gleichbedeutend mit Zauberei gewesen, überhaupt irgendeine Kraft in seine Armmuskeln zu schicken. Er legte den Kopf in den Nacken und schaute zu den Ästen auf. Den am tiefsten hängenden Ast konnte er sogar mit der Hand berühren, wenn er sich ein wenig reckte. Er holte tief Luft, nahm das zusammengerollte Seil von der Schulter und machte sich daran, es über die Zweige zu werfen. Als er sich jedoch auf das Seil konzentrierte, spürte er eine Berührung an der Schulter. Erschreckt sah er auf. Wind war aufgekommen,
und der Ast unmittelbar über ihm bewegte sich, knarrte, neigte sich herab, bis die äußersten Zweige Teliers Schulter sanft und schmeichelnd berührten. Mana! dachte er, wußte es aber im gleichen Augenblick besser. Er war nicht in der Lage, einen Ast zu befehligen. Tränen des Selbstmitleids brannten ihm in den Augen, als er sich die bittere Wahrheit eingestand. Nicht einmal das konnte er mit Magie bewerkstelligen - nachdem er es ein Leben lang versucht hatte. Hätte er etwas anderes geglaubt, hätte er sich lediglich selbst damit belogen. »Was stimmt denn nicht mit mir?« fragte er leise den Baum. »Andere schaffen es. Sie müssen es nur einmal versuchen, und schon ist's vollbracht. Sie schlagen den richtigen Weg ein, kennen die richtigen Leute, treffen die richtige Wahl. Und alles, was ich tue, scheint falsch zu sein. Vor Jahren hätte ich schon die Suche nach Mana aufgeben sollen, aber ich war eigensinnig. Ich wollte mir einfach nicht eingestehen, daß ich mein Leben in die falsche Bahn gelenkt hatte. Es gab einmal eine Frau, die mich liebte - aber sie war nicht die Frau meiner Träume. Es gab einmal ein kleines Gehöft, das ich für uns hätte kaufen können - aber ich hatte nie daran gedacht, mein Leben als Bauer zu verbringen. Ich war zu dickköpfig. Allen hatte ich erzählt, daß ich ein
Magier werden würde, also versuchte ich es immer wieder. Und wenn ich jetzt keinen Erfolg habe, war mein ganzes Leben vergebens.« Teliers Schultern zuckten vor unterdrücktem Schluchzen. Einen Augenblick lang spürte er die Berührung des Astes nicht mehr. Als ihm dann die Zweige erneut über die Schulter strichen, schien ihm dies wie ein gutes Omen. Es war vorherbestimmt, daß er diesen Ast abbrechen konnte, um Feuerholz zu erhalten, und in dieser Nacht - in gerade dieser Nacht! - würde er es bestimmt schaffen. Die steifen Finger würden die Zeichen richtig formen, die trockenen Lippen die Worte richtig sprechen - und schließlich würde das Mana zu ihm kommen. Mit einem lauten Schrei versuchte er sich selbst anzuspornen und seinem Arm Kraft zu verleihen, dann warf er das Seil. Es schlängelte sich durch die Luft und über den Ast. Telier fing das andere Ende auf und zog daran. Obwohl der Ast laut knarrte, brach er nicht. Wieder zog er. Ohne Erfolg. Der Geschmack des Mißerfolgs lag ihm so trocken wie Staub auf der Zunge. Verzweifelt knotete er sich schließlich beide Seilenden um den Bauch, um sich mit dem ganzen Gewicht daranzuhängen. Dann warf er sich zu Boden, hielt beide Arme über den Kopf und erwarte das Krachen des Holzes. Nichts geschah. Nur der Wind war zu hören.
»Nein!« brüllte er enttäuscht. »Bitte nicht! Nur dieses eine Mal, bitte dieses eine Mal muß mir doch etwas gelingen! Ich halte es nicht mehr aus, ich kann nicht mehr! Es muß doch Magie geben... für mich... irgendwo, irgendwie. Ich kann nicht länger so leben.« Nie zuvor waren der Schmerz und das Verlangen so stark gewesen. Seine Knochen schienen in Flammen zu stehen. Das Gesicht in den toten Blättern vergraben, weinte der Mann, der Telier hieß, bitterlich. Die Tränen benetzten die Blätter, wurden von ihnen aufgesogen. Der winterliche Wind spielte auf den Saiten der Zweige seine Lieder. Mana schimmerte auf der silbrigen Baumrinde. Die Äste neigten sich gleich sanften Armen zu Telier hinab. Einer davon berührte ihn, wie er so zusammengekrümmt auf dem Boden lag. Die Zweige schlossen sich wie Finger um seine Schultern, zogen ihn auf die Knie. Ein anderer Ast wand sich ihm um die Hüfte, brachte ihn sanft auf die Beine. Zuerst war er verblüfft, dann entsetzt. Mit einem Fluch hieb er nach den Zweigen. Doch während er versuchte, sich zu befreien, spürte er es; spürte es diesmal ganz sicher: das unverwechselbare Prickeln von Mana. Gleichzeitig vernahm er das Gebrüll des
Minotaurus. Die Luft war erfüllt vom Flügelschlagen gigantischer schwarzer Vögel, Blut tropfte von ihren Krallen. Dicht hinter ihm ertönte Knochengeklapper, der bröckelnde Klang tanzender Skelette. Eine Welle der Angst durchflutete Telier. Hastig blickte er sich um, war nicht sicher, wohin er fliehen sollte. Bevor er noch einen einzigen Schritt tun konnte, öffnete sich der Boden zu seinen Füßen und enthüllte einen feuerlodernden Abgrund. Hungrig züngelnd sprangen die Flammen hoch, die Hitze drang ihm bis auf die Haut. Die ganze Zeit über verspürte er das Prickeln, fortwährend überlief es ihn: das schwindelerregende, aufregende Gefühl von Mana. Er konnte nicht dagegen ankämpfen; er war zu alt und zu schwach. Hilflos taumelte er am Rande des Abgrunds umher und erwarte jeden Augenblick, daß seine letzte Stunde geschlagen hatte. Der Baum hielt ihm noch immer die Zweige entgegen, wartete nur darauf, ihn liebevoll an sich zu ziehen. Nun verließ ihn die Furcht. Das Versagen der bitteren Jahre fiel von ihm ab. Ein Blitz der Erkenntnis offenbarte ihm, daß Mana ihn nie hatte erreichen können, weil irgendein winziger Teil seines Ichs widerstanden hatte. Aber nun würde er nicht länger widerstehen. Mit einem
einfältigen, hoffnungsvollen Lächeln nahm er seine letzten Kräfte zusammen, sprang über den Abgrund, in die Arme des Baums. Noch während er über das Feuer hinwegsetzte, erlosch es und der Abgrund schloß sich. Der Baum zog ihn eng an den Stamm, der so weich war wie ein Körper, und so warm wie das Leben selbst in einer Winternacht. Das Licht des Mondes strahlte hell, verlieh dem Augenblick eine besondere Schönheit. Teller fühlte sich kraftvoll wie ein junger Mann; frisches Blut strömte ihm durch die Adern. Der Baum neigte sich über ihn. Er bemerkte das Verlangen, das Verlangen einer magischen Kreatur nach dem einzigartigen, besonderen Individuum, das es wert war, das Geschenk seiner Liebe zu empfangen. »Ich?« flüsterte Teuer, konnte es kaum glauben. »Ich?« Mit sanftem, aber bestimmtem Druck zogen ihn die Äste näher. Er wußte, was der Baum wollte. Seine Gedanken drangen ihn Teliers Kopf, als hätte die Kreatur gesprochen. Er wußte, daß er auch ablehnen konnte. Bis zum letzten Augenblick konnte er sich abwenden, und sie würde ihn gehen lassen. Nichts geschah mit Gewaltanwendung. Aber es geschah mit Magie. Mit einem frohen Ausruf ergab sich Telier.
Niemand suchte ihn bis zum darauffolgenden Frühjahr. Als er nicht im nächstgelegenen Dorf erschien, um seine mageren Vorräte aufzufrischen, wunderten sich die Kaufleute. Sie brauchten lange Zeit, um den Schluß zu ziehen, daß etwas nicht in Ordnung war. Sie waren nicht hartherzig oder gleichgültig; sie hatten nur ihr eigenes Leben zu leben, und er hatte sich schließlich absichtlich aus ihrer Welt zurückgezogen. Aber schließlich machten sie sich doch Sorgen, und ein Suchtrupp brach auf. Als sie die verwahrloste, leere und fast eingestürzte Hütte fanden, weiteten sie die Suche auf die umliegende Gegend aus. Auf dem Grund der Talsenke entdeckten sie einen einsamen Baum, der einen dichten Mantel hellgrüner Blätter trug, die den Blick auf das Geäst verwehrten. Sie bogen das Blattwerk auseinander, um auf dem Boden nachsehen zu können, fanden aber weder einen Körper noch Knochen. Zum Schluß gaben sie auf. »Teuer muß tot sein«, sagten sie zueinander. »Armer alter Mann; sein Leben war eine Enttäuschung, und nun hat er irgendein tragisches Ende gefunden.« Sie kehrten heim zu ihren Frauen und Familien und den vielfältigen Sorgen, und sie vergaßen ihn. Noch immer steht der Baum in der Talsenke.
Im Frühling duften seine zahlreichen Blüten; im Sommer trägt er den Mantel aus grünen Blättern. Zu allen Jahreszeiten ist er unbeschreiblich schön, unsterblich, voller Mana. S. M. STIRLING
Das Klagelied Sauruven Hellwald wrang den letzten Tropfen Wein aus dem schlaffen Schlauch. Er schmeckte wäßrig und sauer; er spuckte auf die Straße, die Tropfen zeichneten, ebenso wie die Schweißtropfen des Pferdes, ein schwarzes Muster in den heißen weißen Staub. Er wischte sich den Mund an dem Stückchen Leinen ab, das am Handgelenk unter dem Kettenhemd hervorlugte, verfluchte die Hitze und den festgebackenen Lehm, mit dem sein Gesicht verschmiert war. Wie eine grauweiße Schicht klebte ihm der Dreck über der Brust auf dem Wappenrock, verdeckte beinahe die gekreuzten Runenblitze seines Ordens, der Schwarzen Ritter. Die schmalen dunklen Augen spähten mißbilligend über das vor ihm liegende weite Gebirgstal. Die Straße klebte geradezu am Abhang. Der Fluß Synar entsprang in diesem Teil der Gurdurngs und floß schäumend in seinem tiefen Bett dahin. Man konnte ihn weder
mit Booten befahren noch zu Fuß oder auf dem Pferderücken durchqueren. Unterhalb der Straße lag ein kleiner See, dessen Oberfläche ruhig, kühl und blau anzusehen war und durch den der wilde Strom gespeist wurde. Es juckte Sauruven auf der Haut bei dem Gedanken, ein Bad darin zu nehmen. Auf einem hinter dem See gelegenen Feld war ein zentaurischer Bauer gerade dabei, sein Feld zu bearbeiten; dicke Riemen verbanden die breite Egge mit dem Pferdeleib, eine riesige Staubwolke folgte ihm auf dem Fuß. Nicht weit vom Gehöft entfernt lag ein kleines Dorf, malerisch und ordentlich anzusehen; die meisten der Gebäude entstammten zentaurischer Bauart: langgestreckte scheunenartige Häuser mit Schwingtüren. Wieder spuckte Sauruven aus. Pferdeärsche. Hoffentlich mußte er nicht mit denen verhandeln. Zähl danach deine Finger. Zentauren waren für ihren Geiz bekannt. Außerdem waren Tauschgeschäfte erniedrigend für einen Ritter. Entweder gab man freiwillig etwas her, oder aber man ließ die Schwertklinge sprechen; nichts anderes. Sauruven verzog den Mund. So war es jedenfalls, wenn man ein ortsansässiger Ritter war und die Landbevölkerung für seinen Lebensunterhalt aufkommen ließ; oder auch dann, wenn man als Kämpfer in Lohn und Brot
bei einem Landesherrn stand. Wenn die Börse zu leicht wurde, mußte man dagegen handeln oder aber zum Räuber werden und das Risiko eingehen, von den Leuten des Königs am nächsten Baum aufgehängt zu werden. Mit etwas Glück gab es im Dorf Menschen - ein paar der Häuser sahen recht normal aus - oder Zwerge, auf jeden Fall irgend etwas, das auf zwei Beinen daherlief. Der Ort wirkte geradezu anheimelnd; die ordentlichen Rechtecke der Felder, die den See umgaben, standen voll mit gelbem Weizen und grünem Korn, dahinter lagen Weiden, Obstgärten mit Apfel- und Pfirsichbäumen, und an den niedrigeren Abhängen befanden sich sogar terrassenförmig angelegte Weinberge. Den schönsten Anblick bot ein am westlichen Ende des Tals aufragender Berg, der sich wie eine riesige Faust aus Granit trotzig gen Himmel erhob: die Antwort der Erde auf die Gleichmütigkeit des Himmels. Der Geruch des Wassers veranlaßte sein Pferd zum Wiehern, und er klopfte ihm den Hals. Auch die drei Packpferde richteten die hängenden Ohren auf. Es war Zeit zum Ausruhen, zum Essen und zum Schlafen. Aber zuerst wollte Sauruven baden. Erneut ließ er den Blick über das Tal schweifen. Mit einem Seufzer drückte er dem schwarzen Hengst die Absätze gegen die Rippen,
und das Tier schritt den Pfad hinab auf das Dorf zu. »Willkommen in Kvardalen«, begrüßte ihn der Schankwirt. »Was kann ich für Euch tun, edler Herr?« »Wein«, antwortete der Ritter. Der Wirt hüstelte verstohlen hinter der vorgehaltenen Hand. »Oh, werter Ritter, lieber nicht. Nicht solange...« Er deutete auf die Zentauren, die am anderen Ende des Raums herumlungerten. Die Schankstube war an zwei Seiten geöffnet, strohgedeckte, durch Pfosten gestützte Wände konnten bei kaltem und unfreundlichem Wetter herabgelassen werden, um den Raum gemütlicher zu machen. In jenem Teil der Schenke standen natürlich keine Stühle, denn die Zentauren würden sie kaum benutzten, allerdings gab es ein Geländer, auf dem sie bequem die Hufe aufstützen konnten, und Tische, die ihrer Körperhöhe entsprachen. Der Schankraum war L-förmig, mit je einer festen Wand an jedem Ende. Die Tür zur Küche befand sich hinter der Theke. Der Duft frisch gebackenen Brots wehte von dort herüber, überdeckte beinahe den süßlichen Biergeruch. Sauruven zuckte die Achseln und bestellte einen Krug des hiesigen Gerstengebräus.
»Maultiere vertragen wohl nichts, wie?« fragte er - nicht besonders laut, aber doch unüberhörbar. Der Wirt - er sah aus wie ein Mensch, bis auf die verdächtig spitzen Ohren - wedelte heftig beschwichtigend mit den Händen. Zentauren haßten es, als Maultiere bezeichnet zu werden, weil damit angedeutet wurde, daß sie Hybriden seien. Wenn man den Zauberern Glauben schenkte, was die wenigsten taten, waren sie es tatsächlich. »Beim schieren Geruch spielen sie schon verrückt«, fuhr Sauruven fort. »Sie sollen dann vergessen, daß sie einen Schweif haben.« Die bärtigen Gesichter der Zentauren wandten sich ihm zu, unter den schweren Brauen zeichnete sich allmählicher Unmut ab. Einige ballten die Fäuste auf den hohen Tischen oder faßten die hölzernen Krüge fester. Sei gerecht, dachte der Ritter und hob grüßend den Krug, sie brauen jedenfalls ein vorzügliches Bier. Er grinste ihnen zu und ließ dabei den Umhang von der Schulter rutschen. Die linke Hand ruhte auf dem Griff des Langschwerts; sie erstarrten beim Anblick der Waffe und des ölig glänzenden Kettenhemds. »Wartet.« Ein Zentaurenhengst hatte die Schenke betreten. An der Stelle, wo sein menschlicher
Körper mit dem gefleckten Pferdeleib verschmolz, trug er einen Gürtel, an dem ein kurzes Schwert baumelte. Über den Schultern hing ihm ein zweifach geschwungener Bogen nebst Köcher. Er blickte Sauruven aufmerksam an. »Du bist also gekommen?« fragte er mißtrauisch. »Jetzt schon? Die Botschaft muß sehr schnell gereist sein!« Er zuckte die Achseln. »Nun, so ist das bei den Zauberern. Ich bin der Vogt und Waldaufseher des Barons, und...« Die Hand des Ritters glitt vom Schwertgriff. Zauberer? dachte er und fluchte leise. Das sähe seinem Herrn Thomil ähnlich, ihn hierherzuschicken und ihm nichts zu erzählen. Gar nichts... Durch die nachmittägliche Sonne brach, gleich einem unwillkommenen Gast, eine leise und traurige Melodie. Volltönend klang die Stimme, als trauere der Berg selbst einem unwiederbringlichen Verlust nach. Nach einer Weile verklang das Lied. Die Köpfe der Zentauren hatten sich erhoben, ihre Augen waren weit aufgerissen, die Nasenflügel gebläht. Sie hielten jedoch die Kiefer fest geschlossen und schwiegen, schlugen mit den Schweifen und bewegten unruhig die Hufe. Sauruven setzte den Krug langsam ab und
schloß den geöffneten Mund wieder. Was um alles in der Welt sucht ein HurloonMinotaurus hier? fragte er sich. Dann schüttelte er den Kopf. Welch eine Frage! schalt er sich. Zweifellos hat irgendein Zauberer den armen Bastard wie ein abgelegtes Spielzeug hier fortgeworfen, nachdem der Minotaurus für ihn gekämpft hat. Es ist mir gleich, dachte Sauruven. Sein Geschäft war der Krieg, der Kampf sein Beruf, sein einziges Geschick. Thomil gab ihm viele Gelegenheiten, in Übung zu bleiben, und die Belohnung dafür war nicht zu gering; wenn sie hin und wieder karg ausfiel, so fiel für ihn doch immer wieder die eine oder andere Beute ab. Aber die Hurloon waren ganz anders als er; sie waren eng mit ihren Familien und ihren Bergen verbunden. Es war reine Grausamkeit, einen von ihnen hier allein zurückzulassen. Er lachte. Die anderen wandten ihre Gedanken von den Bergen ab und sahen den Ritter voller Besorgnis an. Er riß sich zusammen; es war unnötig, die Bewohner des Orts zu verängstigen, denn es gab für ihn Wichtigeres zu tun. »Ich lache nur über mich selbst«, erklärte er beruhigend. Könnte ich auch. Ausgerechnet Sauruven Hellwald steht hier und bemängelt die Grausamkeit eines anderen. Was kommt als
nächstes? Landen vielleicht Drachen hier und ermahnen die Reisenden, ihre Lagerfeuer zu ersticken, da man Waldbrände vermeiden müsse? »Seit wann geht das schon so?« erkundigte er sich und deutete mit dem Krug auf die Berggipfel. Die Nasenflügel des Zentauren blähten sich, und Sauruven warf ihm einen drohenden Blick zu. Normalerweise faßte er das als Beleidigung auf, obwohl er spürte, daß der andere damit Unsicherheit zeigte. Der Vogt fingerte am Griff des Schwerts herum. »Seit gestern«, erwiderte er. »Ging die ganze Nacht und den heutigen Tag über.« Er wies auf den Berg. »Siehst du den spitzen Berg dort?« Sauruven blickte in die angegebene Richtung und nickte nach einer Weile. »Das ist das Horn«, mischte sich der Wirt ein. »Von dort kommt es. Aber da wird er nicht bleiben.« Nachdenklich nagte der Ritter an der Unterlippe und fuhr sich mit der großen Hand durch den kurzen dunklen Bart. Wahrscheinlich hatte der Wirt recht. Auch wenn die HurloonMinotauren Stierköpfe hatten, waren sie doch Fleischfresser - und normalerweise nicht besonders wählerisch, wenn es darum ging, was dieses Fleisch einmal gewesen war, als es noch geatmet hatte. Mehr als ein König hielt sich
einen Minotaurus, um sich seiner Feinde auf unterhaltsame Weise zu entledigen. »Ich brauche dein verdammtes Zimmer nicht«, teilte er dem Wirt schroff mit. »Ich steige auf den Berg.« Das Pferd setzte einen Huf vor, zog ihn dann wieder zurück, schnaubte und schüttelte den Kopf, so daß die Kinnkette des Kopfstücks rasselte. Auf der rechten Seite polterte ein Stein den beinahe senkrechten Abhang hinunter und zersprang krachend in tausend Stücke, als er auf eine Felsnase prallte. Hier oben war es kühler als im Tal; Sauruven befand sich bereits höher als der im Osten gelegene Gebirgspaß, hatte drei Viertel des Wegs hinter sich und fast schon das flache hornförmige Plateau erreicht. In dieser Höhe erschien ihm die Luft schon viel dünner. Das Klagelied des Hurloon hallte laut in den steilen Schluchten wider. Sauruven saß ab und tätschelte geistesabwesend sein Kriegsroß, um es zu beruhigen. Das Pferd war gut ausgebildet und zuverlässig; der Ritter vertraute darauf, daß es wußte, wo der Weg keinen sicheren Halt mehr bot. Sauruven wand die Zügel um den Sattelknauf, nahm den Schild, wickelte ihn aus der Hülle aus gewachster Leinwand, und zum Vorschein kam die schwarzglänzende Oberfläche
mit dem Wappen der Schwarzen Ritter. Danach setzte er den Helm auf; der vertraute Geruch der schweißgetränkten Polsterung aus Kork und Schwamm umgab ihn, während das Gewicht des Stahls ihm auf den Kopf drückte. Das Sichtfeld wurde nun von dem Visier auf die Öffnungen zwischen den drei Stangen eingeschränkt. Tröstlich und vertraut lag ihm auch die mit Haifischhaut bespannte Scheide des Schwerts in der Hand; er bewegte die Schultern, um das Kettenhemd zurechtzurücken, und stieg bergauf. Steine und Geröll knirschten ihm unter den Füßen. Er hielt den Schild hoch erhoben vor sich, das Schwert baumelte über der rechten Schulter auf dem Rücken. Der Pfad verengte sich zusehends, bis er sich schließlich nur noch auf einem schmalen Vorsprung fortbewegte, den Oberkörper eng an die Felswand gedrückt, den Westwind im Rücken. Als das Lied ertönte, hüllten ihn die Klänge ein, das Echo wurde von den flachen Felsen zurückgeworfen. Es schien ihm in die Knochen zu dringen, die Nackenhaare richteten sich auf, und ein unheimliches Gefühl überkam ihn. Nachdem er vorsichtig eine enge Biegung des schmalen Pfads umrundet hatte, lag eine weite unebene Fläche vor ihm. Sauruven erblickte den Körper eines jungen weiblichen Hurloon-
Minotaurus, der auf einem Scheiterhaufen lag; die mit Stiefeln bekleideten Füße waren ordentlich zusammengebunden, die Hände auf der Brust gekreuzt. Auf dem Kopf trug er einen aus Gräsern gewundenen Kranz, in den blasse Blumen geflochten waren; Blumen, wie sie hier oben in den Bergen zur Frühlingszeit wuchsen. Der Ritter blieb stehen, die Schwertspitze senkte sich, bis sie den Felsboden berührte. Vor dem Scheiterhaufen kniete ein männlicher Minotaurus. Seine Haut war strahlendweiß, die aufwendigen Tätowierungen auf den Nüstern und die mit bronzenen Spitzen versehenen Hörner wiesen ihn als Kriegshäuptling aus; ebenso wie die große Eichenholzkeule, die zu seinen Füßen lag. Er hatte den Kopf zurückgeworfen, die riesigen Hände gegen die Schläfen gepreßt, die kräftige Kehle vibrierte beim Singen des gefühlvollen Lieds. Hätte ich nie zuvor Trauer gesehen, dachte Sauruven, dann wäre ich heute wahrer Trauer begegnet. Er fällte eine Entscheidung. Obwohl der Ritter kein Geräusch verursacht hatte, sprang der junge Minotaurus plötzlich auf und wandte sich ihm mit rotleuchtenden Augen zu, jeder Zoll des kräftigen Körpers wirkte wie eine Drohung. Unter der Haut spielten die Muskeln, so dick wie Schiffstaue. »Ich werde mit dir kämpfen«, erklärte
Sauruven, wohlwissend, daß er verlieren würde, »wenn du glaubst, es würde ihr zur Ehre gereichen.« Er nickte in die Richtung des Weibchens. »Aber eigentlich bin ich gekommen, um mit dir das Klagelied zu singen.« Es war, als würde ein Feuer erlöschen. Die Schultern des Minotaurus senkten sich, er trat zwei Schritte zurück und streckte dem Ritter die Hände mit den Handflächen nach außen - in der Geste des Friedens - entgegen. »Ich danke dir«, sagte er traurig, fast flüsternd, »eine Hymne klingt besser, wenn sie mehrstimmig gesungen wird.« Sauruven trat vor und steckte die Waffe zurück in die Scheide, um besser vor dem Scheiterhaufen knien zu können. Er zog einen Wasserschlauch hervor und bot ihn dem Hurloon an, der ihn mit dankbarer Verbeugung annahm und nun neben dem Ritter kniete. Nachdem der Minotaurus getrunken hatte, gab er den Schlauch zurück und sprach: »Ich bin Eumenes aus den Hurloon-Bergen. Dies« - er wies zum Scheiterhaufen - »ist meine Frau Eurynomous. In unserer Sprache bedeutet das ›Weit entfernte Weidegründe‹. Und in der Tat«, fuhr er mit tränenerstickter Stimme fort, »hat sie den Tod weit weg von daheim gefunden.« Schmerzerfüllt schloß Eumenes die Augen, neigte den Kopf und schlug sich mit der Hand
gegen die Brust. »Wie starb sie?« fragte Sauruven. Diese Frage gehörte zum ersten Teil der Zeremonie: Das Leben der Verstorbenen wurde von hinten aufgerollt, vom Augenblick des Todes zur Kindheit und Geburt. »Wir wurden vom Windstoß eines Magiers gepackt. Plötzlich befanden wir uns weit fort von daheim, weit weg von unserem Land und unseren Herden. Ein Steinriese hat sie getötet. Er fiel über sie her und schleuderte sie den Berg hinab; der Sturz kostete sie das Leben.« Eumenes warf den Kopf zurück und sang. Sauruven sang die höhere Tonlage. Die Erschöpfung schien von seinen breiten Schultern abzufallen, seine Stimme wurde volltönender. Eumenes besang die Tugenden seiner Gefährtin Eurynomous in zahlreichen Liedern. Und Sauruven sang mit ihm. Morgendämmerung? dachte der Ritter. Wie lange... Die Erinnerung kehrte zurück. Drei Tage schon, hier auf diesem eisigen Gipfel, inmitten der Felsen. Die Kehle schmerzte ihm vor Anstrengung, aber ein innerer Frieden erfüllte ihn; das war während all der Jahre und vielen Reisen, die er unternommen hatte, selten vorgekommen.
»Ich muß den Scheiterhaufen entzünden«, verkündete Eumenes, und seine kraftvolle Stimme klang heiser. »Das Feuer der Berge ist mächtig; deutlich verspüre ich das Mana.« Er bewegte die Hände, als wolle er etwas aufheben. Flammen schlugen weißlodernd aus dem Scheiterhaufen hervor, und Sauruven taumelte rückwärts, riß die Hände schützend vors Gesicht. Der Gestank, der üblicherweise eine Leichenverbrennung begleitete, war nicht wahrzunehmen, es entfaltete sich lediglich eine ungeheure Hitze. Eumenes hielt ihr stand, obwohl sie ihm die tränenüberströmten Augen zu versengen drohte. »Du bist ein Zauberer«, stellte Sauruven beunruhigt fest. Sein Blick wurde eisig. »Nein!« gab Eumenes verärgert zurück. »Niemals! Ich habe nur diesen einen Spruch. Aber ich kann nicht zulassen, daß Eurynomous' Körper als Zombie wiederbelebt wird, um für irgendeinen Magier dessen Kämpfe auszutragen.« Im Feuerschein funkelten seine Augen voller Zorn und Trauer, und Sauruven schwieg, denn er spürte, daß weder Zustimmung noch Beileidsbekundungen angebracht waren. Bei Sonnenuntergang war der Scheiterhaufen abgekühlt, und sie konnten die Asche aufnehmen und in den Wind streuen, der unablässig über die Berggipfel strich. Eine Zeitlang verharrten sie
noch in gemeinschaftlicher trauriger Stille und starrten den zerklüfteten Abhang in das friedliche Tal der Zentauren hinab. »Komm mit mir zu meiner Lagerstelle«, sagte Sauruven schließlich. »Wir werden dort einen Leichenschmaus abhalten, wie es den Sitten und Gebräuchen entspricht.« Eumenes rückte abwesend und folgte dem Ritter den Pfad entlang. Als sie die Lagerstatt erreichten, blickte er sich aufmerksam um; es schien, als sähe er den Schild, die schwarze Rüstung und das riesige Kriegsroß zum ersten Mal. Mißtrauen keimte in seinen Augen auf; sie suchten die schwere bleigespickte Keule, die er mitgebracht und achtlos gegen einen Baum gelehnt hatte. »Du gehörst zum Orden der Schwarzen Ritter«, stellte Eumenes fest. Sauruven nickte und stocherte im Feuer herum, über dem gepökeltes Schweinefleisch, an Zweigen aufgespießt, vor sich hinbriet. »Stimmt«, nickte er, »die Schwarzen Ritter... Übrigens findest du am zweiten Packsattel ein Fäßchen mit Bier.« Der Minotaurus holte es und drückte an einem Ende mit der riesigen Faust ein Loch hinein. Der Ritter füllte sein Trinkhorn und nickte Eumenes zu. Der setzte das Fäßchen an die Lippen und trank in tiefen Zügen, wobei der Adamsapfel in
der mächtigen Kehle hüpfte. »Ich möchte behaupten, daß ich kaum Gutes über die Schwarzen Ritter gehört habe«, sagte er anschließend nachdenklich. »Das gilt auch für die Hurloon-Minotauren«, erwiderte Sauruven. Er spuckte ins Feuer. »Aber die Zauberer sind noch weitaus schlechter angesehen - und am wenigsten werden sie von den eigenen Dienern geschätzt.« Das Gesicht des Minotaurus konnte sich nicht zu einem menschlichen Lächeln verziehen, aber die Art und Weise, wie er mit dem Schwanz schlug und die metallverzierten Hörner bewegte, ließen darauf schließen, daß auch er belustigt war. Schweigend nahmen sie die Mahlzeit ein. Schließlich lehnte sich Sauruven zurück, wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und fragte: »Was hast du jetzt vor?« Er hielt eine Sekunde inne und fügte dann hinzu: »Mein Freund.« Der Stierköpfige nickte. »Mein Herz ist zerrissen«, antwortete der Minotaurus. »Ich will nach Hause, bei meinem Volk sein. Diese Berge hier sind viel zu jung und zu rauh, um mir zu gefallen. Aber ich möchte auch Eurynomous' Tod rächen.« Er schüttelte den Kopf und hieb mit der Faust auf den Boden. Es hallte wie Trommelklang.
»Der Steinriese hatte sie nicht töten müssen; sie hätte ihm nicht schaden können. Er tat es aus reiner Bosheit. Er lachte über ihre Schreie. Und hätte ich nicht gehofft, ihr noch helfen zu können, ich hätte ihn auf der Stelle getötet. Aber als ich zurückkehrte, war er fort und ich mußte die Bestattung vorbereiten.« Der Minotaurus schwieg und starrte ins Feuer. Sauruven fühlte sich durch Eumenes' offensichtliche Beschämung unwohler als durch die ebenfalls unverhohlene Trauer. Es wäre sinnlos gewesen, ihm zu versichern, daß ihn keine Schuld traf: Das wußte der Minotaurus selbst. Scham hat oft weniger Anlaß als Trauer, ist aber ebenso tiefgründig. »Du könntest heimkehren und ein paar Freunde holen, dann zurückkommen und ihn ausfindig machen«, schlug Sauruven vor. Eumenes schüttelte den Kopf. »Nein, ein Magier könnte ihn in der Zwischenzeit abrufen und weit weg bringen, dann würde ich ihn nie wieder finden. Ich muß es jetzt tun.« »Soll ich dir helfen?« »Du bist großzügig«, sagte Eumenes anerkennend. »Ich habe immer gehört, daß die Schwarzen Ritter gute Kämpfer sind. Man sagt, sie leben dafür. Aber Großmut habe ich gar nicht erwartet.«
Sauruven lachte auf. »Ich bin ein Krieger, kein Verrückter. Kämpfen ist das Beste im Leben, aber nicht alles. Übrigens biete ich dir Hilfe an, weil ich dann kämpfen kann - meine Lieblingsbeschäftigung -, und bin gar nicht so großmütig. Stimmt's?« »Ich nehme deine Hilfe gern an«, sagte Eumenes grinsend und bot ihm seine Hand dar. Sauruven nahm sie. »Ich übernehme die erste Wache«, sagte er. »Du hast mehr Grund als ich, erschöpft zu sein.« »Nein!« Unwillkürlich protestierte Sauruven, als er geweckt wurde. Man konnte Thomils Befehl nicht verkennen, nicht einmal dann, wenn er während eines tiefen Schlummers erging. Die aufsteigende Übelkeit war immer die gleiche, genau wie die Nebelfetzen, die ihm die Sicht versperrten, bis sie sich dann verzogen und den Ausblick auf ein neues Schlachtfeld freigaben. Auch konnte er die unheilige magische Kraft nicht verwechseln, die ihm durch die Adern strömte, bis er sich wie die fortwährend gezupfte Saite einer Kriegsharfe vorkam. Die Welt wurde wieder klar, bis sie so deutlich vor seinen Blicken stand wie ein mit einem Diamanten geschnittenes Stück Glas. Er fühlte sich voller Leben - das Gefühl verspürte er nur während des Kampfes, aber der Überschwang der
Magierschlachten war manchmal mehr, als das menschliche Fleisch ertragen konnte. Als sich die Übelkeit verflüchtigt und die Orientierungslosigkeit gelegt hatten, öffnete er die Augen, um das Schlachtfeld zu betrachten. Er befand sich auf einer kahlen Ebene, die so flach war, daß eine winzige Erhebung in weiter Ferne bereits wie ein Hügel wirkte. Kurzes Gras wiegte sich im sanften Hauch des Windes. Erschreckte Grashüpfer sprangen zu seinen Füßen auf, hüpften im hohen Bogen durch die Gräser davon. Der Platz roch nach Staub, Hitze und wildem Thymian. Zuerst glaubte er sich allein. Wo ist der Gegner? dachte er. Die kristallklare Sicht hatte jetzt einen roten Stich bekommen. Kampfsucht war ein Geschenk des Zauberers, und genau das Rechte für einen Schwarzen Ritter. Eine vertraute Gestalt kam über die kleine Erhebung. Der harte Schlag seines Herzens schien einen Augenblick lang auszusetzen, und ihm wurde übel. Eumenes hielt an, als er bis auf zehn Schritt herangekommen war, und verneigte sich. »Dies ist nicht der Kampf, den wir zusammen kämpfen wollten, mein Freund.« Der Minotaurus versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht. »Wenn ich könnte, täte ich es nicht«, erklärte er, »aber der Wille des Zauberers
zwingt mich dazu.« Thomil! rief Sauruvens innere Stimme. Ich bitte dich um diese Gunst, die einzige, die ich je verlangt habe. Laß es nicht geschehen. Erlöse mich, diese Kreatur ist mein Freund. Es gab keine Antwort; und gleichgültig, ob der Magier ihn nicht hören konnte oder nicht hören wollte, daß Ergebnis blieb gleich. Das Verlangen fraß sich durch ihn hindurch, bis er schließlich in den Rand des Schilds biß und schmerzvoll aufschrie beim Versuch, dagegen anzukämpfen. Eumenes stöhnte, Schaum troff ihm von den Stierlippen, flog in weißen Fäden davon, als er den Kopf schüttelte und brüllte; ein Brüllen, dessen Klang Sauruvens Innerstes erbeben ließ. Die metallgespickte Keule hob sich. »Töte!« brüllte der Minotaurus mit gequälter Stimme. »Die Ritter des Ordens dürfen keine Freunde haben«, hatte Sauruvens Schwertmeister immer wieder gesagt. Das ist die Strafe dafür, daß du die Regel mißachtet hast, dachte Sauruven in den Sekunden, bevor sich der Minotaurus auf ihn stürzte. Der scheußliche Luftzug der vorbeiwirbelnden Keule strich ihm über die Lider. Sein Können meldete sich, ein Knie gab nach, und sein Gewicht riß ihn herum. Der Rückschlag war nicht besonders kraftvoll; er warf sich hinein und erwischte die Keule mit dem Schild, den er so
stellte, daß die Keule in Kopfhöhe aufschlug. Aber auch das reichte, um ihn in die Knie zu zwingen. Er hörte das Splittern des Holzes, das Brechen des Schildrands. Seine Schulter fühlte sich taub an, ohne Thomils Kraft in den Adern hätte ihm der Schlag die Knochen zerschmettert. Eumenes brüllte und hob die Keule mit beiden Händen hoch über den Kopf. Niemand konnte diesen Hieb überleben; er würde den Stahl des Helms und den daruntersteckenden Schädel wie eine Eierschale zerschmettern. Aber der Minotaurus gab sich in dieser Stellung eine Blöße - und im gleichen Augenblick, als Sauruven angriff, wurde ihm bewußt, daß Eumenes genau das beabsichtigt hatte; jener hatte zugelassen, daß die Kampfeswut von ihm Besitz ergriff, und sich damit seiner Umsicht und seiner Geschicklichkeit beraubt, die ihn ansonsten gerettet hätten. Der lange rasiermesserscharfe Stahl drang in den Körper des Minotaurus ein, begegnete keinem nennenswerten Widerstand, bis er schließlich mit einem dumpfem Geräusch auf einen Knochen stieß; der Ritter spürte den Aufprall schmerzhaft am eigenen Handgelenk. Die Klinge war durch den Magen nach oben geglitten, hatte Venen und Lunge durchbohrt und steckte nun tief im Brustkorb des Minotaurus. Einen Moment lang blieb er aufrecht stehen,
vor Schmerz und Schock völlig erstarrt. Dann zog Sauruven das Schwert zurück, und Eumenes fiel. Der Fall schien endlos, gleich einem riesigen Baum unter der Axt eines Holzfällers. Der Boden unter den Füßen des Ritters erbebte, als der Körper seines Gegners aufschlug. Die Keule flog beiseite, die großen Hände griffen nach der tödlichen Wunde, aus der das Blut schoß. Blut schäumte auch durch die großen kantigen Zähne und über die hochgezogenen Lippen. In diesem Augenblick verließ sie die Kampfsucht, zusammen mit der unreinen Kraft, die den Sieg des Ritters ermöglicht hatte. Sauruven sank neben seinem Freund auf die Knie, warf das Schwert beiseite und nahm den gehörnten Kopf in die Arme. Eumenes' Augen rollten zurück, richteten sich dann aber auf Sauruvens Gesicht. »Du warst ein würdiger Gegner«, keuchte er und tastete nach der Hand des Ritters. »Eigentlich ist es gar nicht so schlimm. So muß ich Eurynomous' Verlust nicht allzulange betrauern.« Er grinste Sauruven an. »Ich wünschte, sie wäre hier, um mir mein Klagelied zu singen.« Das war alles. Der große Kopf sank herab, und die großen braunen Augen schlossen sich zur Hälfte. Eumenes, Kriegsführer der Hurloon-
Minotauren, war tot. Sauruven warf den Kopf zurück und sang das Klagelied. »Es ist geschafft«, sagte die rauhe, kriecherische Stimme an seiner Seite. Sauruven ließ das Goldstück in die ausgestreckte schmutzige kleine Hand des Goblins fallen. Hinter ihnen ging die Sonne über Kvardalen auf, aber die Berggipfel lagen noch im Schatten, Der Wind trieb ein paar Schneeflocken vor sich her; es war Winter, und eine lange Reise lag hinter ihm. Geschafft, dachte Sauruven und blickte den Abhang hinauf. Hier hatte es angefangen, nicht weit von der Stelle, wo sein Pferd vor sieben Monaten gescheut hatte und von wo ab er dann zu Fuß weitergegangen war und Eumenes getroffen hatte. »Fünf«, meinte der Goblin starrköpfig. »Ein Goldstück, hast du gesagt - und du hast doch sicher gemeint, eines für jeden von uns.« Er grinste mit den lückenhaften Zähnen. Seine Kameraden, die hinter ihm standen, grinsten ebenfalls und tasteten nach den gebogenen Schwertern mit den gezackten Klingen, die in den Gürteln staken. Einer von ihnen wog seinen Speer mit der flachen Spitze in der Hand. Sauruven sah auf den Goblin hinab. Sein Gesicht wirkte wie eine ausdruckslose Maske,
die schwarzen Augen ähnelten tiefen Seen, schienen wie Fenster, die ins Nichts führten. »Ha! Es ist ein Scherz!« sagte der Goblin lachend. »Du solltest lachen, es ist nur ein guter Witz. Fünf! Ha!« Mit einer Handbewegung sammelte er seine Gefährten. Sie gingen durch das steinige graue Ödland davon. Einen Moment lang hörte der Ritter noch auf das Schlurfen ihrer Mokassins, dann verschwanden sie im sanften Schneegestöber. Er wartete, wartete, bis er sicher war, daß sie fort waren. Werkzeuge, wenn auch verräterische, dachte er kühl. Sauruven schritt zu einem Platz, von dem aus er die darunterliegende Höhle beobachten konnte. Er ergriff das dort liegende Seilende, wickelte es sich um die kräftigen Hände und verschaffte sich einen festen Halt. Versuchsweise zog er einmal am Seil und freute sich, als er das Geräusch herunterprasselnder Erde vernahm. Die Sonne stieg am Horizont empor, und er beobachtete, wie sich ihr goldenes helles Licht in die Höhle ergoß. Lautes Grunzen ertönte, gefolgt vom Geräusch schwerer Schritte. Eine massige bärtige Kreatur trat ins Licht der Morgensonne, reckte sich genüßlich, ließ die Muskeln wie Wellen über Arme und Brust spielen. Der
Steinriese zog den Bärenfellschurz hoch und gähnte; dabei entblößte er riesige gelbe Zahne, die bis tief in den Rachen ragten. Sauruven zog am Seil und spannte die Muskeln an. Bleib so, dachte er mit tödlicher Anspannung. Bleib genau da, wo du bist. Die Stütze aus Fichtenholz drehte sich zur Seite, die Spitze glitt über den Boden der darüberliegenden hölzernen Pritsche. Die darauf aufgeschichteten Felsbrocken bewegten sich, rieben sich aneinander - Goblins waren wirklich unvergleichliche Fallensteller. Der Steinriese blickte entgeistert nach oben. Auf den scheußlichen Zügen breitete sich Überraschung aus, die Augen traten unter den schweren vorstehenden Brauen hervor, der lange Kiefer fiel herab, so daß er beinahe auf der grauhäutigen Brust lag. Dann stieß er einen Entsetzensschrei aus. »Schrei nur, du Schwein!« brüllte Sauruven. Das gehörte zwar nicht zum Kodex der Schwarzen Ritter, brach aber unwillkürlich aus ihm heraus. »Schrei so, wie Eurynomous geschrien hat, du Feigling!« Die Lawine prasselte auf den Steinriesen herab. Als sich die Staubwolken gelegt hatten, ragten nur noch der Kopf und der Teil eines Arms aus dem Steinhaufen heraus, der jetzt vor
dem Höhleneingang lag. Sauruven räusperte sich und spuckte ein paarmal aus, um den Staub aus der Kehle zu entfernen. Dann zog er das Schwert und kletterte vorsichtig über den holprigen Abhang in die Tiefe. Zwar war die Höhlenöffnung versperrt, aber noch immer drang Aasgeruch heraus. Erstaunlicherweise lebte der Steinriese noch; Blut strömte über die rauhen Lippen, und die rotgelben Augen folgten Sauruvens Bewegungen. »Du!« versuchte er zu brüllen; es klang allerdings eher wie ein atemloses Flüstern. »Du Ritter! Ich kämpfe gegen dich! Laß mich frei, und ich töte! Töte! Tote!« »Du bist es nicht wert, im Kampf den Tod zu finden«, antwortete Sauruven. Er steckte das Schwert in die Scheide und nahm eine metallgespickte Keule aus Eichenholz vom Rücken. »Dies ist ein Todes-Opfer.« Als die Keule niedersauste, schrie der Steinriese auf, dann noch einmal. Schließlich trat Stille ein, die nur vom splitternden Geräusch der Schläge unterbrochen wurde. Als die Tat vollbracht war, trat Sauruven zum Rand des Felsens. Er erhob die Keule, schleuderte sie weit fort und beobachtete, wie sie herumwirbelte, sich drehte und dabei in die Tiefe fiel, ins schneebedeckte Tal hinunter. Zum letzten Mal erklang das Klagelied eines
Hurloon-Minotaurus über die Hänge. Dann drehte sich der Schwarze Ritter auf dem Absatz um und schritt davon, den gewundenen Pfad hinab. DAVID DRAKE
Der Luftangriff Der Mannschaftsgoblin Dümmer-Als-Drei starrte wie gewöhnlich erstaunt auf die Arbeitsgoblins, die Ballon Prima ausrollten. Er kratzte sich am Kettensuspensorium und meinte zu Hockendem Hund, der Ballonführerin: »Ich weiß nicht so recht, Führerin.« Hockender Hund rollte vielsagend die Augen und murmelte: »Mana gib mir Kraft!« Verstohlen spähte sie umher, um herauszufinden, ob Roxanne mitbekam, womit sich Ballonführer herumschlagen mußten, aber die Oberste Thaumaturgin war gerade mit den Leuten beschäftigt, die das Drachenjunge in die richtige Position vor dem Kohlehaufen zu bringen versuchten. Hockender Hund bedachte ihre vierköpfige Mannschaft mit bösen Blicken. »Nun, was wißt ihr nicht?« knurrte sie. »Was gibt es denn da zu wissen? Wir steigen auf und werfen Steine hinab. Magst du Steine hinunterwerfen, Nummer
Drei?« »Ich möchte sie gern beißen«, erklärte Dümmer-Als-Eins. »Können wir sie beißen, Hockender Hund?« Das Plateau, auf dem sich die Ballonbrigade auf die Schlacht vorbereitete, befand sich hoch über den Köpfen der Gegner, die sich auf der weiten Ebene verteilt hatten. Die feindliche Kommandogruppe, ein pulsierender weißer Manafleck in der Ferne, hielt sich im Hintergrund der Truppen. Weiße Bataillone waren in Reihen aufmarschiert. Kleinere Schluchten und Hügel erschwerten die geradlinige Formation ein wenig; dennoch standen die Soldaten so korrekt genug, daß das an Unordnung gewöhnte Hirn eines Goblins schmerzhaft zusammenzucken mußte. »Aber wie kommen wir denn wieder nach unten, Führerin?« erkundigte sich Drei. »Wieder hinunterzukommen ist der einfachste Teil des Ganzen!« rief Hockender Hund. »Die Steine sind auch nicht klüger als ihr, und die kommen auch unten an, stimmt's? Sagen wir lieber, sie sind nicht viel klüger. Überlaßt das Denken nur mir, klar?« »Ich möchte sie wirklich gern beißen«, wiederholte Eins. Er kratzte sich mit einer schwarzglänzenden Kralle an einem der ebenfalls schwarzglänzenden Fänge. »Wenn wir
die Steine geworfen haben, können wir sie dann beißen, Hockender Hund?« Hockender Hund versuchte sich vorzustellen, wie man aus einem Ballon heraus die Feinde beißen könnte. Sie kam nicht weiter als zu einer sehr verschwommen Vision, die ihr noch mehr Kopfschmerzen verursachte als die weißgekleideten enggeschlossenen Reihen unten in der Ebene. »Ohne meinen Befehl wird nicht gebissen!« meinte sie schroff, um ihre Unwissenheit zu überdecken. »Nicht ein einziger winzigkleiner Biß!« Der große Kohlehaufen lag zum Anzünden bereit. Der metallene Deckel lag noch auf dem Boden dahinter. Anstatt eine einfache Kuppel herzustellen, hatten die Schmiede einen riesigen gehörnten Helm angefertigt. Zu beiden Seiten des Haufens befand sich eine Rampe aus Lehm, die es den Arbeitsgoblins ermöglichen würde, den Helm über die Kohlen zu tragen und sie damit zu bedecken, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen wäre. Ballon Prima und Ballon Secundus wurden zu beiden Seiten entrollt, und den drei Drachenzähmern war es endlich gelungen, das Junge vor dem Kohlehaufen zu plazieren. Die anderen, noch leeren Ballonhüllen lagen ausgerollt in Zweierreihen, bereit zum Gefülltwerden. Sie konnten beginnen.
»Also los, Theobald!« forderte Roxanne, die Oberste Thaumaturgin, den Zweiten Thaumaturgen auf, der sie begleitet hatte. »Fang an und verschwende keine Zeit. Wir liegen schon vierzig Minuten hinter unserem Zeitplan. Malfegor wird mir die Haut abziehen, wenn wir nicht vor Mittag angreifen, und ich kann dir versprechen, daß du nicht dabei sein wirst, um dich darüber lustig zu machen.« Roxanne schritt zu Hockendem Hund und ihrer Mannschaft. Die Ballonführerin versuchte, wie ein Mensch Haltung anzunehmen; sie schwankte dabei gefährlich hin und her. Die breiten Schultern und der schwere Schädel eines Goblins verlagerten den Schwerpunkt zu hoch, außer wenn die Hüften nach hinten gedrückt wurden und die Knöchel praktischerweise möglichst dicht am Boden blieben. »Alles bereit?« verlangte Roxanne zu wissen. Die Oberste Thaumaturgin der Ballonbrigade trug einen rotgestreiften Kraftanzug in Malfegors Farben. Ihre Dokumentenmappe war aus wertvollen purpurroten Bauchhäuten gefertigt, die von kleinen männlichen Echsen stammten. Von sehr vielen kleinen männlichen Echsen. »Jawohl, Oberst! Hundertprozentig bereit!« antwortete Hockender Hund. Sie runzelte die Stirn. Mit Zahlen kannte sie sich nicht so gut aus. »Zweihundertprozentig!« bot sie daher zur
Auswahl an. »Schön, das will ich euch auch geraten haben«, sagte Roxanne und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Drachen. Das Drachenjunge war nicht größer als eine Kuh. Es schien weder bei guter Gesundheit noch bei guter Laune zu sein. Der Schwanz schlug widerspenstig hin und her, obwohl einer der Zähmer sich bemühte, ihn ruhig zu halten, während die anderen beiden den Kopf der Kreatur umklammert hielten. Theobald, der Zweite Thaumaturg, stand vor dem Drachen. In einer Hand hielt er ein Buch, in der anderen ein Gefäß aus rotem Kupfer. Als Theobald zu sprechen begann, erhob sich ein Manaschleier von den umliegenden Felsen, senkte sich über den Drachen und schlängelte sich durch sein Maul ins Körperinnere. Die Umrisse der Kreatur verschwammen. Violette Flecken zeigten sich in den sonst roten Kraftfeldern. Der Drache schüttelte sich. Die Zähmer wurden herumgeschleudert ließen aber nicht los. Dummer-Als-Eins beugte sich zu Hockendem Hund hinüber und flüsterte mit knarrender Stimme etwas in ihr Ohr. Die Ballonführerin seufzte und fragte: »Äh, Oberst?« Roxanne zuckte zusammen. Die Vorstellung eines Goblins von leisem Sprechen bedeutete
lediglich, daß man ihn nicht noch im nächsten Tal hören konnte. »Ja?« antwortete die Oberste Thaumaturgin. »Äh, Frau Oberst«, begann Hockender Hund, »es gibt ein paar Unklarheiten, was das Beißen betrifft. Äh, ob wir den Feind beißen, meine ich. Äh, also, ist das möglich oder nicht?« Roxanne starrte die Ballonführerin mit ehrlicher Verwunderung an. Die vier anderen Goblins standen hinter Hockendem Hund, kratzten sich, warteten aber anscheinend gespannt auf eine Antwort. »Ihr werdet Steine werfen«, sagte Roxanne; sie sprach sehr langsam und deutlich. Sie versuchte, abwechselnd Augenkontakt zu allen Goblins zu halten, aber die Augen von Goblins neigen dazu, in verschiedene Richtungen zu streben. Die Oberste Thaumaturgin tappte mit dem keilförmigen Absatz ihres offenen Schuhs auf den Felsboden. »Steine sind so wie das hier, nur kleiner«, erklärte sie. »Die Steine liegen bereits im Korb eures Ballons. Habt ihr das alle begriffen?« Keiner hatte es verstanden. Keiner von ihnen verstand überhaupt irgend etwas. Dümmer-AlsDrei kratzte sich wieder am Suspensorium. Roxanne zuckte zusammen. »Ist das Ding nicht unbequem?« fragte sie. »Ich meine, weil es aus
Kettengliedern besteht.« Der Mannschaftsgoblin nickte heftig. »Ja, das kann man wohl behaupten.« Er fuhr fort, sich zu kratzen. »Wann redet sie denn endlich vorn Beißen?« erkundigte sich Eins mit dröhnendem Flüstern bei Hockendem Hund. Das Drachenjunge stieß einen donnernden Furz aus. Der am Schwanzende stehende Zähmer wurde von einer blauen Flamme dreißig Fuß weit fortgeschleudert, seine Gewänder wurden versengt. Der Manaschleier löste sich auf, und Roxanne fuhr herum. »Tut mir leid, tut mir leid«, stotterte der Zweite Thaumaturg unsicher und schloß das Buch. »Das Mana hier ist nicht rein. Zuviel Grund wasser, wir müssen uns über einem Aquiver befinden. Aber sie ist abgefüllt und bereit.« »Also los, macht weiter!« befahl Roxanne den verbliebenen Zähmern mit grimmiger Miene. Die Hauptzähmerin sang dem Drachenjungen leise ins Ohr, ihr Kamerad streichelte von der anderen Seite die schuppige Kehle. Das Junge glänzte durch die neuerworbene Kraft, beugte sich zu den Kohlehaufen vor und rülpste einen winzigen Feuerball heraus. Roxanne runzelte die Stirn. »Komm schon Mädchen, du schaffst es!«
schmeichelte die Zähmerin. »Komm schon, tu's für Mammi! Komm, meine Süße, komm...« Das Drachenjunge streckte ein mit diamantförmigen Krallen bestücktes Vorderbein vor und stieß einen zweifachen, purpurfarbenen Feuerstrom durch die Nüstern. Das Feuer schoß über den Kohlehaufen, drängte die Flammen durch jede Lücke, jeden Spalt. Die Zähmer lenkten das rubinrote Inferno, indem sie den Kopf ihres Zöglings mit langen Seilen hin- und herzogen. Nach ungefähr drei Minuten lodernden Höllenfeuers sank der Drache erschöpft in sich zusammen. Er schien nur noch halb so groß wie vor wenigen Minuten zu sein. Die beiden vollständig bekleideten Zähmer stellten die Kreatur vorsichtig auf die Beine und führten sie zur Seite. Der dritte Zähmer humpelte neben ihnen her. Anstelle seines Gewandes trug er eine rote Flagge, die er von dem in der Nähe befindlichen Kavallerieregiment geborgt hatte. Der Kohlehaufen glühte wie Magma, das tief im Mantel der Erde gefangen ist. »Kommt schon!« befahl Roxanne. »Keine Verschwendung bitte! Beeilt euch und deckt es ab!« Die Verantwortung für die Abdeckmannschaft lag bei zwei Thaumaturgenlehrlingen, die beide noch sehr jung waren. Mit hellen Stimmen
erteilten sie ihre Kommandos, woraufhin die vier Arbeitsgoblins den riesigen Helm mit Hilfe von gekreuzten Stangen ergriffen, die durch Öffnungen an der Vorder- und Rückseite des unteren Randes geschoben worden waren. Dann schlurften sie vorwärts, die Lehmrampen zu beiden Seiten des Haufens hinauf. Bei den Trägern handelte es sich um Goblins, die eher wegen ihrer Muskelkraft als wegen ihrer Klugheit ausgewählt worden waren. Schon der Hauch von Geist hätte den Verstand dieser Goblins - wenn sie überhaupt Verstand besaßen durcheinandergebracht. Damit sich die Träger in die richtige Richtung bewegten, warfen die Lehrlinge Abbilder von breiten klauenbewehrten Fußabdrücken auf den Boden vor den Anführern, damit diese ihre Füße genau hineinsetzen konnten. Die Goblins am rückwärtigen Ende der Stangen setzten die Füße ebenfalls genau in diese Markierungen. Sie verlagerten ihr Gewicht erst dann, wenn sie sicher waren, daß sich der Fuß völlig innerhalb der geschlossenen roten Linien befand. Die Fortbewegung der Abdeckung war eher amöbenhaft als schildkrötenähnlich. Wenigstens ging es vorwärts. Die Oberste Thaumaturgin Roxanne trommelte vor Ungeduld mit den Fingern auf ihre Dokumentenmappe, aber Arbeitsgoblins konnte man einfach nicht zur
Eile antreiben. Die Anführer hielten an, als sie die letzten Fußabdrücke am Ende der Rampen erreicht hatten. Die Träger verharrten bewegungslos, anscheinend unempfindlich gegen die Hitze und den Rauch des qualmenden Kohlehaufens. Die Thaumaturgenlehrlinge wandten sich an Roxanne. »Ja!« brüllte sie. »Deckt es zu! Los, deckt es zu!« Die Lehrlinge befahlen: »Laßt die Stangen fallen!« Ihre Stimmen klangen unsicher und heiser. Drei der Träger gehorchten. Der vierte sah sich erstaunt um, ließ dann aber doch seine Stange fallen. Der Helm rutschte über das Feuer, schief zwar, aber wenigstens war er unten. Das Metall bedeckte die Kohle vollständig und schloß die Außenluft aus. An den äußeren Enden der beiden Hornspitzen saßen Düsen. Die Thaumaturgenlehrlinge verbanden sie mit den Einfüllöffnungen der Ballons Prima und Secundus. Das richtige Anbringen der Schläuche war harte Arbeit, aber zu schwierig, um einen Goblin damit zu betrauen. Roxanne selbst überprüfte die Verbindung zu Prima, während einer der Lehrlinge das gleiche bei Secundus tat. »In Ordnung«, erklärte sie dem besorgt zusehenden Lehrling, der inzwischen auf die Rampe geklettert war. »Öffne den Hahn.«
Der Lehrling drehte einen Griff, der an der Spitze des Horns saß und wie ein fliegender Drache geformt war; Gas strömte durch den Schlauch, der sich ein wenig drehte, in den Bauch des Ballons Prima. Die Oberste Thaumaturgin trat einen Schritt zurück, während sich der Ballon füllte. Die Ballons waren aus Seeschlangendärmen gefertigt. Das Material war gasundurchlässig und so unbeschreiblich robust, daß Riesen sogar Stäbe aus Gold zwischen Lagen dieses Stoffes setzten und das Metall zu Spiegelwänden umarbeiteten. Prima blähte sich auf, füllte sich mit dem Gas, das mangels Luftzufuhr aus dem glühendheißen Kohlenfeuer austrat. Die vier Halteseile strafften sich in den Händen der Arbeitsgoblins, deren Aufgabe es war, den Ballon am Boden zu halten, bis er vollständig gefüllt und die Einfüllöffnung wieder geschlossen war. »Ihr da!« wandte sich Roxanne an Hockenden Hund und ihre Mannschaft. »Worauf wartet ihr noch? Klettert in die Gondel!« Hockender Hund öffnete den Mund, um zu erklären, daß sie auf Befehle gewartet hatte. Sie vergaß aber, was sie sagen wollte, bevor sie die Worte noch herausgebracht hatte. »Ihr DümmerAls«, sagte sie statt dessen, »macht, daß ihr in das kleine Boot kommt.«
Die Gondel aus Korbgeflecht knarrte, als die fünf Goblins hineinstiegen. Der Ballon war schon gut gefüllt und hob sich leicht vom Boden ab, das grobe Stahlnetz, durch das die Gondel gehalten wurde, schwang hin und her. Ein leichter Wind blies über Malfegors Flugplatz, bereit, die Brigade über den Feind hinwegzutragen. Der Boden der Gondel war mit Steinen bedeckt, die so groß wie der Kopf eines Goblins waren. Viele der Wurfgeschosse waren ausgesprochen markant gezackt. Drei tätschelte einen Felsbrocken, der eine ganz besonders entzückende Spitze besaß. Auf der anderen Seite des Helms erhob sich Ballon Secundus. Wie neunundvierzig Prozent der zur Brigade gehören Ausrüstung war auch er wurstförmig. Prima gehörte zur geringen Mehrheit der Ballons, die - von der Seite betrachtet - wie riesige Kuppeln mit einer kleinen Spitze darauf aussahen. Die Stahlnetze glänzten wie Kettenhemden über den rosaweißlichen Seeschlangendärmen. Hockender Hund ergriff einen Stein und wog ihn in der Hand. Ein guter, fester Granitbrocken. Mit solchen Steinen konnte man einen Goblin gut zum Werfen bringen, jede Wette, o ja. Hockender Hund hatte gehört, daß es Vorgesetzte gab, die ihre Mannschaften mit
Kalkstein abzuspeisen versuchten, der schon zerbröckelte, wenn man ihn bloß schräg von der Seite ansah. Aber so war der gute alte Malfegor nicht... »Stellt die Gaszufuhr ab!« rief die Oberste Thaumaturgin Roxanne dem auf der Rampe stehenden Lehrling zu. Sie selbst löste die Verschlüsse der Schläuche. Als sich Prima bewegte, lösten sich die Schlauche, und Roxanne schloß die Einlaßöffnungen. »Loslassen!« befahl sie dem Bodenpersonal. Drei der Goblins ließen die Seile fallen. Der vierte, ein - selbst für einen Arbeitsgoblin außergewöhnlich kräftiger Kerl, hielt sein Seil weiterhin fest. Er hatte die großen Zehen gegeneinandergepreßt, die Klauen fest im felsigen Boden des Plateaus vergraben. Ballon Prima erhob sich nur auf einer Seite. Die Gondel stand beinahe senkrecht, neigte sich zu dem Goblin, der das Seil umklammerte. »Laß los!« brüllte Roxanne. »Laß das Seil fallen!« Sie schlug dem Goblin die Dokumentenmappe über den Kopf. Er blickte die Thaumaturgin fragend an. »Laß los!« wiederholte Roxanne. »Verstehst du mich?« Der Goblin blinzelte. Er hielt das Seil weiterhin fest und klammerte sich am Boden an.
Über ihm schaukelte Ballon Prima. Roxanne blickte auf. Hockender Hund schaute von oben auf sie herab. Das Gesicht der Ballonführerin trug den wohlbekannten, erstaunten Ausdruck zur Schau. Die Mannschaftsgoblins standen beinahe senkrecht aufgereiht im Rücken ihrer Anführerin. Ein Windstoß aus der falschen Richtung, und der Inhalt der Gondel würde unweigerlich herauspurzeln. »Du da!« befahl die Oberste Thaumaturgin. »Schlag diesem Narren einen Stein auf den Kopf. Einen harten Stein!« Hockender Hund betrachtete noch einmal den Stein, den sie in der Hand hielt, und entschied, daß er geeignet war; dann schlug sie auf den Arbeitsgoblin ein. Die Augen des Opfers verdrehten sich. Er ließ das Seil fallen und fiel auf den Rücken. Ballon Prima schoß in die Höhe und richtete sich dabei auf. Das Seil, das der Goblin fallengelassen hatte, wand sich um Roxannes Taille und riß sie mit. Die Oberste Thaumaturgin wog wenig mehr als einer der Steine am Boden der Gondel, daher beeinträchtigte ihre Anwesenheit den Aufstieg des Ballons nicht sonderlich. Hockender Hund lugte über den Gondelrand zu Roxanne hinab und blinzelte ratlos. Die
Oberste Thaumaturgin schaukelte wie ein angeketteter Kanarienvogel hin und her und schrie: »Zieh mich rein, du Idiotin!« »Ich wußte gar nicht, daß Frau Oberst uns begleitet«, erwiderte die Ballonführerin zerknirscht. Sie schlug sich mit den Knöcheln fest gegen den Schädel, um das Denkvermögen anzukurbeln. »Oder wußte ich es?« fügte sie hinzu. »Zieh mich...«, rief Roxanne. Das Seil, das weniger um sie geknotet als vielmehr gewunden war, wickelte sich ab. Roxanne griff mit beiden Händen danach. Ihre Dokumentenmappe flatterte endlos lange in die Tiefe. Schließlich zerschellte sie unten auf den Felsen in viele kleine Teile, die nicht größer waren als die Echsenhäute, aus denen die Mappe ursprünglich gefertigt worden war. Hockender Hund zog das Seil Stück für Stück mit beiden Händen nach oben, ergriff dann die Oberste Thaumaturgin und zerrte sie in die Gondel. Roxannes Augen blieben fest geschlossen, bis sie nicht länger gähnende Leere, sondern massive Wurfsteine unter den Füßen spürte. »Sind wir...?« fragte sie. Sie blickte über den Rand der sanft schaukelnden Gondel. Da Ballon Prima so schwer beladen war, hatte er sich nur wenige hundert Fuß über das Plateau erhoben,
aber der Boden wich stetig weiter fort, als Malfegors magischer Wind sie den gegnerischen Linien entgegentrieb. »O Mana«, stöhnte Roxanne. »O Mana, Mana, Mana.« »Führerin«, meinte Dümmer-Als-Zwei, »erinnerst du dich daran, wie ich in der vorigen Woche die Beutelratte gefressen habe, über die vorher die Trolle gegangen sind?« »Klar«, antwortete Hockender Hund. Jeder hier anwesende Goblin erinnerte sich daran. »Nun, ich fühle mich jetzt wieder so wie neulich«, verkündete Zwei. Er sah grünlich aus. Wenigstens sahen seine Augäpfel grünlich aus. Wenn man es recht bedachte, schwankte er auch ein wenig mehr, als die Gondel es tat. »Wo hast du denn hier oben eine tote Beutelratte gefunden, Nummer Zwei?« erkundigte sich Hockender Hund. »Habe ich doch gar nicht!« erwiderte der Mannschaftsgoblin wenig überzeugend. Er runzelte die Stirn, schlug sich gegen den Kopf und fügte hinzu: »Jedenfalls glaube ich, daß ich keine gefunden habe.« »O Mana«, stöhnte die Oberste Thaumaturgin. »Wie soll ich denn bloß wieder runterkommen?« »Runterzukommen ist ganz einfach!« verkündete Dummer-Als-Drei strahlend. »Sogar
Steine kommen runter! Ihr seid bestimmt viel klüger als ein Stein, Frau Oberst!« Die Oberste Thaumaturgin Roxanne warf noch einen Blick über den Gondelrand, dann rollte sie sich im Heck zu einer Kugel zusammen. »Habt Ihr auch tote Beutelratte gefressen?« erkundigte sich Zwei in - für Goblins mitfühlendem Ton. Während die Thaumaturgin ihre Lage bedachte, war Ballon Prima weitergeflogen. Die Bataillone der weißgekleideten Gegner lagen nun unmittelbar unter ihnen. Sie sahen aber nicht so aus, wie sie eigentlich aussehen sollten. Sie wirkten winzig klein. Hockender Hund krauste die Stirn. Sie fragte sich, ob das wirklich die Leute waren, auf die sie Steine werfen sollten. »Führerin, ist das hier wirklich der richtige Platz?« fragte Vier. Die Gondel neigte sich um etwa dreißig Grad. Alle vier Goblins beugten sich an der gleichen Seite wie die Anführerin über den Rand. »Die sehen irgendwie falsch aus.« »Mein Kopf tut weh, wenn ich sie bloß ansehe«, fügte Drei hinzu. »Sie sehen so...« Goblins haben kein Wort für ›quadratisch‹. Beim bloßen Versuch, diesen Begriff auszudrücken, zuckten schmerzhafte Lichtblitze hinter den Augen des Mannschaftsgoblins auf.
Mit einem verschwommenen roten Geistesblitz durchzuckte Hockenden Hund eine Lebensweisheit: Wenn du unsicher bist, wirf Steine. »Wir schmeißen Steine!« schrie sie und ließ den Worten sogleich Taten folgen. Begeistert warfen die Goblins Steine in die Tiefe - so begeistert, daß Hockender Hund Dümmer-Als-Eins daran hindern mußte, Roxanne, die er versehentlich ergriffen hatte, über Bord zu werfen. Der Fehler wäre um ein Haar nicht wiedergutzumachen gewesen. Als Hockender Hund die Oberste Thaumaturgin aus Eins' Händen befreit hatte, versuchte der Mannschaftsgoblin, sie zu beißen - anscheinend war das seine Lebensweisheit -, bis Hockender Hund ihm ordnungsgemäßen Respekt einbleute. Die Gondel schwankte heftig von einer Seite zur anderen, da sich das Gewicht im Innern fortwährend verlagerte. Der gesamte Ballon schoß in die Höhe, da die Steine als Ballast gedacht waren, wenn sie nicht als Munition verwendet wurden. Die Besatzung von Ballon Prima hatte so viel Spaß, wie es Goblins nur haben können, wenn sie ihre Kleidung anbehalten (und bedeutend mehr Spaß als Goblins, die ihre Kleidung ablegen - wie sich jeder vorstellen kann, der schon einmal einen nackten Goblin gesehen hat). Allerdings trafen sie niemanden unten in der
Ebene, denn sie entfernten sich immer mehr vom Boden. Die eng formierten Reihen des Feindes platzten wie Glas auseinander, das auf einen Stein geworfen wird, als Ballon Prima auf sie zugeflogen kam. Das lag an ihrer Furcht und nicht an den Steinwürfen. Die Goblins waren genausowenig in der Lage, einzelne Soldaten aus tausend Fuß Entfernung zu treffen, wie sie nicht in der Lage waren, ohne die Hilfe Ballon Primas zu fliegen. Aber Hockendem Hund und ihrer Mannschaft war das ziemlich gleichgültig. Steinewerfen war in jedem Fall eine angenehme Beschäftigung; außerdem befriedigten der Zusammenbruch der wohlgeordneten Bataillone und das entstandene Durcheinander den Gerechtigkeitssinn der Ballonführerin. Das Universum (dieser Begriff war nicht so klar umrissen wie - sagen wir einmal - für eine Thaumaturgin, aber dennoch ein Begriff - auch für Goblins) bestand aus Chaos. Auf beiden Seiten der vermutlichen Flugbahn des Ballons hatten sich weißgekleidete Bogenschützen postiert und spannten ihre Waffen in völlig sinnlosem Bemühen. Aus dem gleichen Grund, der es den Goblins erschwerte, ein Ziel am Boden zu treffen, war es auch für die Bogenschützen unmöglich, Ballon Prima zu
erreichen. Die zurückfliegenden Pfeile richteten mehr Schaden unter anderen weißgekleideten Truppen an, als es die von den Goblins abgeworfenen Steine getan hatten. Malfegors Wind trieb den Ballon weiterhin auf die feindliche Kommandotruppe zu. Der Hagel der Wurfgeschosse aus der Gondel versiegte. »Führerin«, fragte Vier, »wo sind die Steine?« Hockender Hund schaute sich aufmerksam auf dem Gondelboden um. Sie hob sogar Roxanne auf, die darauf mit einem leisen Stöhnen reagierte. »Hier sind keine Steine mehr«, stellte Hockender Hund fest. Dümmer-Als-Drei kratzte sich. »Ich dachte, da wären Steine«, sagte er verwundert. »Können wir sie jetzt beißen, Hockender Hund?« fragte Eins. Hockender Hund blickte wieder über den Rand des Ballons. Sie hoffte, daß noch eine Thaumaturgin oder sonst jemand dort hinge, der ihnen sagen konnte, was jetzt zu tun sei. Es war niemand zu sehen. Hockender Hund sah auf beiden Seiten nach. Vorsichtshalber. Die Gegner hatten Vorbereitungen für den Angriff der Ballon-Brigade getroffen. Zwei Mannschaften der Anti-Ballonexperten galoppierten herbei, stellten sich zwischen Ballon Prima und der weißen Kommandogruppe
auf. Die Mannschaften saßen ab und machten ihre Hochschußwaffen schnell einsatzbereit. Eine Kugel, die beinahe denselben Umfang wie ein von den Goblins abgeworfener Stein hatte, zerplatzte in zwanzig Fuß Entfernung, und heraus sprudelte ein Schwall weißen Manas. »Oooh«, machten Hockender Hund und drei ihrer Leute. Der Wind änderte die Richtung ein wenig, trieb Ballon Prima auf die geplatzte Kugel zu. Malfegor jagte den Geschossen in der Annahme nach, daß der sicherste Platz dort sei, wo gerade eine Kugel zerplatzt war. »Ohhh«, stöhnte Dümmer-Als-Zwei und hielt sich mit beiden Händen den Bauch. »Je mehr wir rumwackeln, um so älter wird die Beutelratte.« Tatsächlich explodierte die nächste Kugel genau an der Stelle, an der sich Prima befunden hätte, wenn der ursprüngliche Kurs eingehalten worden wäre. Wieder drehte sich der Wind und trieb den Ballon weiter auf die Kommandogruppe zu. Die feindlichen Artilleristen kurbelten heftig an ihren drehbaren Bögen. Sie bemühten sich ebenfalls, den Schußwinkel zu verändern, aber inzwischen befand sich Ballon Prima direkt über ihren Köpfen, und die Drehbögen konnten nicht senkrecht abgefeuert werden. Wenn Prima wieder in Schußrichtung käme, würde er genau
über der Kommandogruppe schweben. Dümmer-Als-Vier stieß Hockenden Hund in die Rippen und deutete auf die zusammengerollte Thaumaturgin. »Können wir sie jetzt runterwerfen, Führerin?« erkundigte sich der Mannschaftsgoblin. »Sozusagen weil wir ja keine Steine mehr haben?« Hockender Hund stülpte die Lippen um - ein entsetzlicher Anblick. »Nein«, entschied sie dann, »Steine werfen ist gut. Thaumaturgen werfen ist nicht gut.« Wenigstens nahm sie das an. Aber irgend etwas sollten sie schon hinunterwerfen. »Können wir sie jetzt beißen?« wollte Eins wissen. Dümmer-Als-Zwei übergab sich heftig und ausgiebig über die Seite der Gondel, genau wie damals, nach jenem (selbst von einem Goblin) nie vergessenen Beutelratten-Zwischenfall. Die enorme grünlich-gelbe Menge bewegte sich mit zunehmender Geschwindigkeit der Erde zu. Man konnte sie leichter mit den Blicken verfolgen als einen Stein, denn sie leuchtete ein wenig. Einen Augenblick lang dachte Hockender Hund, daß die Masse eine der Anti-Ballonwaffen treffen werde, aber statt dessen wurde der Captain der Truppe getroffen, der rücklings auf das Geschütz fiel. Die umkippende Apparatur feuerte die Kugel
gerade nach oben. Zwar verfehlte der leuchtendweiße Ball die Gondel um Drachenhaaresbreite, aber dafür schoß er in die Seite des darüberhängenden Gasbeutels. Die Ballonhaut platzte mit lautem Knall. Das aus der Kugel stammende weiße Mana entzündete den Balloninhalt mit einer vielfarbigen Stichflamme - einer Mischung aus Wasserstoff Kohlenmonoxyd und Methan -, alle entflammbar und hübsch anzusehen. »Oooh!« raunten die Goblins entzückt. Zwei, der sich nicht länger den Bauch hielt sah ganz besonders vergnügt aus. Der ehemalige Ballon Prima sank, zum Glück jedoch nicht so schnell wie die vorhin abgeworfenen Steine. Die Gashülle war geplatzt, aber das Stahlnetz hielt die zähe Haut aus Seeschlangendärmen zusammen. Beides gemeinsam ergab einen hervorragenden Fallschirm. Unter ihnen am Boden war alles in heller Aufregung. Die feindlichen Kommandeure hatten begriffen, daß Ballon Prima direkt auf ihren Köpfen landen würde. Dümmer-Als-Eins blickte auf die köstlich weichen gegnerischen Offiziere hinab, die von Sekunde zu Sekunde näher kamen, während die Gondel durch die Luft rauschte. Mit leidender Stimme fragte er: »Bitte, Führerin, können wir
sie jetzt beißen?« Hockender Hund warf einen Blick auf Roxanne - keine Veränderung - und traf eine Entscheidung. »Jawohl«, erklärte die Ballonführerin bestimmt, »wir beißen sie.« Dümmer-Als-Drei kratzte sich mit der freien Hand, die andere umklammerte den Rand der Gondel. Er deutete auf die Oberste Thaumaturgin und sagte liebevoll: »Mann, das ist schon was, wenn man so klug ist, sich so was auszudenken. Sie muß wohl ein Genie sein, stimmt's Führerin?« »Ganz bestimmt«, stimmte Hockender Hund zu und bereitete sich darauf vor, beim Aufsetzen auf dem Boden zwischen die entsetzten Feinde zu springen. Die Oberste Thaumaturgin Roxanne jammerte leise vor sich hin. PETER FRIEND
Mehr als nur eine kleine grüne Welt? Seht mal«, rief der kleine Kilian, »ich habe ein Tier gefunden!« Er stand in einiger Entfernung, und ich sah nicht mehr als einen langen blassen Schatten im Schnee zu seinen Füßen liegen. Ich tippte auf
eine Florindine oder vielleicht eine Eisschnepfe. »Zurück, Kilian! Sofort!« rief ich. Mirindil und ich ließen die Bündel mit Feuerholz fallen und rannten zu ihm. »Ich glaube, es ist tot«, sagte er, trat aber gehorsam einen Schritt zurück. Er irrte sich. Es war nicht tot, und es war kein Tier. Es war eine Art Mann, zusammengerollt und nackt im Schnee liegend; er atmete flach und stoßweise. Sein Körper war mit Blutergüssen und Brandwunden übersät, die nicht von Flammen herrührten, sondern durch die viel schlimmere Hitze der Magie verursacht worden waren. Ich berührte ihn vorsichtig, und er wimmerte vor Schmerzen. »Lauf schnell zum Großen Baum«, wies ich Kilian an. »Sag Sharlory, daß wir einen kranken Mann mitbringen.« Er rückte und sauste los. »Bist du sicher, daß es ein Mensch ist?« fragte Mirindil. »Er hat zwar Arme und Beine und einen Kopf, aber sieh doch - am Kinn und auf der Brust wachsen Haare. Dann die langen dünnen Beine. Wie kann er damit aufrecht stehen? Und die Hautfarbe - erzähl mir nicht, daß es nur an der Kälte liegt.« Wieder blickte ich auf das Gewirr der langen Gliedmaßen hinab und fragte mich, ob sie recht haben könnte und dies vielleicht nur irgendein seltsames wildes Tier war, das auf der Suche
nach Nahrung über die Berge gekommen war. »Kalt«, flüsterte die Kreatur kaum wahrnehmbar. Mirindil zuckte die breiten Schultern. »Er spricht; das soll mir genügen.« Sie zog den Mantel aus und breitete ihn über den Mann. »Soll ich ihm ›Vergessen des Schmerzes‹ geben? Er riecht nach gebrochenen Knochen.« Ich nickte. Sie streckte die Arme und Finger aus und stimmte den Gesang an. Auch ich erhob die Hände suchte mit Gedanken und Fingerspitzen die richtigen Umrisse zu finden, um ›Wärmendes Feuer‹ zu wirken. Gemeinsam woben wir unsere Sprüche und beobachteten, wie sein Atem sich beruhigte, die Haut sich erwärmte. Er blinzelte und versuchte uns anzusehen. »Grüne Magie«, krächzte er überrascht, dann schwanden ihm die Sinne. Mirindil und ich legten ihn uns über die Schultern. Trotz seiner Größe wog er nicht mehr wie einer der Unseren. »Was hat er damit gemeint - ›grüne Magie‹?« fragte Mirindil, während wir über den Hügel heimwärts stapften. »Welche Farbe sollte Magie denn sonst haben?« Als wir den Großen Baum erreichten, waren bereits viele versammelt; jeder bot uns Hilfe an,
man reckte die Hälse und drängte sich heran, um einen Blick auf den Fremdling zu werfen. Sogar die Zweigdrachen wachten von dem Lärm auf und lugten durch die Dachsparren. Mühsam bahnten wir uns einen Weg durch die Menge, langten endlich am Herdfeuertisch an und legten den Mann auf den warmen Granit. »Hinaus!« brüllte Sharlory, während sie den Stamm der Schriften hinabstieg. »Alle, bis auf die Magiekundigen, hinaus!« Murrend entfernten sie sich, nur zwei Dutzend von uns blieben in einem Halbkreis rund um das Herdfeuer stehen. »Er braucht keine Magie«, sagte die alte Guineren und beäugte den Fremden. »Sein Arm ist sicher gebrochen, er ist ein bißchen zerschlagen und verbrannt, aber das kann man auch mit guter Pflege wieder heilen. Mit einem ›Frühlingsmorgen-Sonnen‹-Spruch könnte man's beschleunigen, würd ich sagen, aber...« »Seine Wunden beunruhigen mich nicht«, unterbrach sie Sharlory. »Er hat Linien. Fühlt sie. Vorsichtig.« Sie streckten die Hände nach ihm aus, alle, nur ich nicht. Sharlory starrte mich an. »Er ist ein Magier«, sagte ich und nickte. »Ich habe es gefühlt, als ich ihn das erste Mal draußen im Schnee berührte. Aber... es ist nicht unsere Magie.«
»Was hast du denn auch erwartet?« fragte Guineren. »Er ist ein Fremder. Vielleicht von jenseits des Dunklen Meers. Ich erkenne auch keine seiner Linien.« »Ja, ja, ganz andere Sprüche. Aber seht doch, wohin sie weisen«, meinte Sharlory geduldig. »Nach oben, jede einzelne, weg vom Land. Also sagt es, wohin weisen sie?« »Könnte er vielleicht ein Spiegeldämon sein?« schlug jemand vor. »Sollen wir ihn fortjagen, damit der Winter ihn verschlingt?« »Er ist ein Reisender, soviel ist offenbar. Vielleicht aus einer anderen Welt, so wie es in den Schriften steht«, sagte Mirindil, die dafür einen bösen Blick von Sharlory erntete. »Wir haben noch nie einem Reisenden in Not unsere Hilfe verwehrt.« Zustimmendes Gemurmel erhob sich. »Wir müssen vorsichtig sein«, erklärte Sharlory. »Ich traue ihm nicht.« »Nun, ich habe keine Angst vor ihm«, erklärte Guineren. Sharlory lächelte. »Dann sollst du dich um ihn kümmern.« Der Winter war lang und ereignislos gewesen, und Guineren und der Fremde wurden zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Das gefiel ihr gut, und sie gewöhnte sich an, jeden Mittag roten
Tee im Großen Baum zu trinken und den aufmerksamen Zuhörern die Fortschritte des Fremden zu schildern. Am zweiten Tag verkündete sie, er habe das Bewußtsein wiedererlangt und sie mit einem grauenhaften Akzent beschimpft. Am dritten Tag behauptete er, er sei ein mächtiger Zauberer namens Alzarakh, und drohte ihr, sie in eine Sumpfkröte zu verwandeln. »Und, hat er's getan?« erkundigte sich ein junger Magieschüler unter allgemeinem Gelächter grinsend. Sie spuckte gutmütig in seine Richtung. »O nein, er sagt, er darf es nicht. Sagt, er verschone mich - im Moment jedenfalls. Sagt, er sei ein so wundervoller Zauberer, daß ein paar neidische Magier versucht hätten, ihn zu töten, und er nur noch das nackte Leben hierher retten konnte. Er nimmt an, daß sie seine Magie sofort ausfindig machen, wenn er nur ein paar Funken aus den Fingern sprühen läßt, und dann werden sie wie eine Horde Verrückter hier einfallen.« »Klingt nach einem Maulzauberer«, bemerkte jemand unter noch mehr und stärkerem allgemeinen Gelächter. Wir alle kannten Maulzauberer - Schüler, die mit halb erlernten Dingen angaben, alte Magier, die versiegende Kräfte hinter überheblichem Gerede versteckten. Der Beweis von Magie ist
das Wirken eines Spruches. Am vierten und fünften Tag berichtete Guineren, daß er schweigend schmolle und sehr viel von ihrer heißen Kerbelsuppe trinke. Sharlory verbrachte die beiden Tage damit, über knisternden alten Rindenschriften zu brüten und unverständliche Dinge vor sich hinzumurmeln. »Er ist bloß irgendein verirrter Wanderer«, beruhigte ich sie. »Im letzten Winter hatten wir doch auch schon drei.« »Aus Bardwabaum und Sleen. Leute wie wir«, erwiderte sie und entrollte eine andere Schrift. Am sechsten Tag erschien er persönlich, humpelte auf den unbeschreiblich dünnen Beinen zum Großen Baum; Guineren, die ihm knapp bis zur Hüfte reichte, stützte ihn. Er war der erste, der sich jemals bücken mußte, um durch den Schlüssellocheingang zu treten. Als er sich im Innern des Großen Baums aufrichtete, lief ein Raunen durch den Raum, und er sah sich zweihundert erhobenen Gesichtern gegenüber. Im hellen Schein des Feuers wirkte er noch fremdartiger als zuvor. Die Schrammen und Wunden verheilten gut, genau wie der Arm, um den ein Verband aus Weichstein angelegt worden war. Aber seine Haut war so dünn, daß man sah, wie sich Muskeln darunter bewegten. Sein Hals war so kurz, daß er nicht einmal den Kopf nach
hinten drehen konnte, und die Nase so klein, daß er sie nicht richtig zu bewegen vermochte. Winzige Krallen, wie ein Neugeborenes. Kleine stumpfe Zähne, so blaß, daß sie fast weiß wirkten. Augen in der Farbe reifer Rolltrauben, die uns anstarrten. Vielleicht sahen wir für ihn genauso seltsam aus. Guineren führte ihn zum Hohen Steinsitz, dem traditionellen Platz der Ehrengäste und Geschichtenerzähler. Sharlory blickte vom Stamm der Schriften herab und wartete, bis Ruhe eingekehrt war. »Willkommen in unserem Baum, Alzarakh. Ruh deine Knochen an unserem Herdfeuer aus«, verkündete sie endlich - recht kühl, wie mir schien. Jedem Magier gebührt der Respekt eines anderen Magiers. Er räusperte sich und blickte sich um. »Ich danke dir«, sagte er mit dröhnender Stimme und einem komischen Akzent, dann ließ er sich nieder. Erwartungsvolle Stille. »Erzähl es ihnen«, drängte Guineren. »Erzähl ihnen, was du mir erzählt hast.« »Ja Alzarakh«, sagte Sharlory. »Erzähl es uns.« Er sprach über eine Stunde lang. Nachdem er sich mit einem Krug Moschuswein erfrischt hatte und wir ihn erneut aufforderten, sprach er noch
eine weitere Stunde zu uns. Es war eine wundervolle Geschichte über eine Welt mit nur zwei Monden, wo es Magie in vielen Farben gab und die Zauberer ruhmreiche Kämpfe austrugen, bei denen sie Sprüche anwandten, von denen wir nie gehört hatten. Irgendwie überraschte es uns nicht, als er berichtete, daß er selbst der edelste aller dieser Magier sei, der Held der Kontinente, geachtet von Königinnen, Geweihten und Gelehrten. Ich glaubte ihm kein Wort, aber es war mir gleich. Es war die beste Geschichte, die ich seit Jahren gehört hatte, und ich stimmte in das Stampfen und Pfeifen ein, das jedesmal ertönte, wenn er eine Atempause einlegte. Sogar Sharlory mußte bei einigen seiner Übertreibungen grinsen, aber die meiste Zeit kritzelte sie bloß auf einem Rindenstück herum und trug eine grimmige Miene zur Schau. Als ich am nächsten Tag zu meiner Klasse hinaufkletterte, drangen mir Schreie entgegen, und ich ertappte zwei Schüler mitten im Kampf. »Maulzauberer!« schrie Ramion und fletschte die Zähne. »Nicht wahr!« brüllte Tyndryn zurück, ging mit ausgefahrenen Krallen auf ihn los und fiel dabei fast vom Ast. Eines der anderen Kinder erblickte mich und
zwitscherte eine Warnung, worauf die ganze Klasse auseinanderstob und sich auf die Plätze begab. Schweigend starrte ich sie an. Ramion blutete aus einem langen Riß an der Nase, und auf Tyndryns linken Ohr befanden sich zwei Zahnabdrücke. Alle sahen mich an, als wäre nichts geschehen. Ich seufzte, lehnte mich auf meinem Ast zurück und blickte nach oben. Zwei Zweigdrachen grinsten auf mich herab. »Wir Magiekundigen sind privilegierte Leute«, begann ich und wandte mich den Schülern zu. Sie seufzten laut und ließen die Nasen hängen. »Die Hälfte unseres Volkes wird niemals genügend Magie beherrschen, um einer Blume zum Blühen verhelfen zu können oder einen Fritschkäfer zu verjagen. Von allen unseren Kindern habt nur ihr gewisse Anzeichen gezeigt, daß ihr vielleicht eines Tages Magie ausüben und mächtige Sprüche wirken könnt. Aber auch von euch werden einige es nicht schaffen.« Ein paar Kinder sahen kurz zu Ramion und Tyndryn hinüber. »Tyndryn glaubt Alzarakh«, höhnte Ramion. »Sie denkt, daß der aufgeblasene alte Narr Gewitterstürme und gehende Bäume und Trolle herbeirufen kann.«
»Trolle sind erdachte Wesen«, mischte sich einer der Zweigdrachen ein. »Schlaf weiter«, fauchte ich ihn an. »Warum sollte er nicht die Wahrheit sagen?« fragte Tyndryn herausfordernd. »Er kann von uns nichts bekommen außer Nahrung und Schutz, die wir ihm sowieso gewähren. Warum sollte er sich Mühe machen und lügen? Um uns zu beeindrucken?« »Vielleicht will er uns weder betrügen noch belügen«, schlug ich vor, »sondern versucht lediglich, seine Gastgeber mit seiner lebhaften Vorstellungskraft zu unterhalten.« »Das wollt ihr Magiekundigen uns allen weismachen, stimmt's?« sagte Tyndryn. »Und ich weiß auch warum: Ihr seid neidisch. Er hat fünf magische Farben - ihr nur eine - und Hunderte von Sprüchen, die mächtiger sind als alle, die ihr je gekannt habt.« Entsetzte Stille. Ich holte tief Luft und sog den sanften Duft der inneren Rinde und des alten Baumsafts ein. »Letzte Nacht hat es wieder geschneit, Tyndryn. Die äußeren Äste unseres Baumes sind schwer vom Schnee und verstecken die hungrigen Blätter vor der Sonne. Vielleicht solltest du den Nachmittag damit verbringen, den Blätterbürstern zu helfen. Da du so weise in magischen Angelegenheiten bist, werden ihnen
deine Sprüche eine große Hilfe sein.« Wütend krauste sie die Nase und sprang den Straßenstamm hinab; dabei hieb sie auf jeden Ast und jeden Krallenhalt ein. »Und du hülfest ihr sicher gern, Ramion«, fügte ich hinzu und beobachtete, wie das Grinsen aus seinem Gesicht schwand. »Eines der Kinder fragte mich, ob ich einen Spruch kenne, mit dem man Schnee von den Blättern schütteln kann«, berichtete mir Alzarakh. »Und was hast du ihr geantwortet?« »Ihr? Oh, das hab ich nicht gewußt; für mich seht ihr alle so ziemlich gleich aus. Nun, ich schlug vor, es mit einem ganz kleinen Tornado zu versuchen oder mit einem sehr höflichen wandernden Baum. Und dann muß ich zugeben, daß ich gelacht habe, und sie rümpfte die Nase und rannte auf allen vieren davon. Habe ich ihre Gefühle verletzt?« »Ganz bestimmt. Sie ist eine Magieschülerin, noch sehr jung, sehr klug, und sehr ungeduldig. Sie möchte mit Blitzen um sich werfen und Kreaturen beschwören, und ich kann ihr nur beibringen...« »Wie man Samen zum Keimen bringt?« schlug er lachend vor. Es war uns aufgefallen, daß er oft lachte. Viel zu oft, wie einige meinten.
Ich fletschte die Zähne. »Du denkst wohl, unsere Magie ist ein Scherz, wie? Bloß weil wir keine Erdbeben verursachen oder uns gegenseitig durch Riesenoger abschlachten lassen.« »Und somit habe ich deine Gefühle auch verletzt. Es tut mir wirklich leid«, sagte er und bemühte sich, ein ernstes Gesicht zu machen. »Ich bin siebenhundert Jahre alt. Ich kann die Welten nicht mehr zählen, die ich aufgesucht habe. Ganze Städte habe ich durch Magie entstehen sehen, und die gleichen Städte wurden durch die Bosheit eines Zauberers wieder vernichtet. Ich sah Feuerbälle, die diesen großen Baum hier innerhalb einer Sekunde in Asche verwandeln könnten. Daher, nun ja, wenn ich euch zusehe, wie ihr bedächtig eure Sprüche wirkt, um eine Kornernte zu erhalten, dann muß ich zugeben, daß das alles recht... zahm auf mich wirkt.« »Vielleicht solltest du deine Worte etwas vorsichtiger wählen«, sagte Sharlory und ließ sich von einem höhergelegenen Ast fallen. »Wir haben noch nicht erlebt, daß du auch nur einen einzigen Samen zum Keimen gebracht hast, geschweige denn eine ganze Ernte.« Er grinste, als handle es sich um einen großen Spaß. »Ich weiß, ich weiß. Ich höre, daß mich alle hinter dem Rücken ›Maulzauberer‹ nennen. Und wenn ich geheilt bin, verschwinde ich in
einer Rauchwolke, und dann werdet ihr auch nicht besser von mir denken.« »Je eher du gehst, um so besser werde ich von dir denken«, sagte Sharlory und schwang sich zu einem anderen Ast hinüber. »Bald, das verspreche ich«, sagte er zu mir. »Ich werde täglich kräftiger. Sowohl mein Körper als auch mein Geist. Euer Land besitzt mehr Mana, als ich je gesehen habe - es ist wirklich faszinierend. Meine neuen Manalinien dehnen sich, zerbrechen. Mit meinen Sprüchen ist es das gleiche - jeden Morgen wache ich auf, und sie fliegen in alle Richtungen davon. Es wird täglich schlimmer. Ich muß noch ein paar Wochen lang hierbleiben. In der Zwischenzeit versuche ich, mich gut zu benehmen.« Sein Lächeln war lässig, seine Augen hart und leuchtend. Er hielt Wort, das mußten wir zugeben. Seine Geschichten wechselten zu langen spaßigen Erzählungen über verzauberte Vögel und Schlammfeen, Zauberer wurden kaum erwähnt. Er lobte den Großen Baum über alle Maßen und bestand darauf, daß ihm noch nie ein Volk begegnet war, das so klug war, den größten Teil seines Dorfes in einem einzigen Baum anzulegen. Er bewunderte unsere Wintervorräte an Nadelkorn, und fragte Guineren höflich nach
dem Rezept für ihre Kerbelsuppe. Einen Nachmittag verbrachte er damit, meine Schüler über die Schwierigkeiten und Gefahren der Magie zu belehren. Er zeigte ihnen seine ganzen alten Wunden, von der gezackten schwarzen Narbe hinter dem Ohr bis zu den fehlenden Zehen am linken Fuß, und erklärte, wie er jede einzelne erlitten hatte. Er zeigte ihnen seine Manalinien, die allesamt leuchtend gen Himmel wiesen, beschrieb sie bis in die blutigste Einzelheit und beeindruckte damit sogar Tyndryn und Ramion. Alle Magiekundigen hockten auf umliegenden Ästen und sahen schweigend zu. Und wieder glaubte ich ihm kein Wort und kümmerte mich nicht weiter darum. Er war ein angeberischer, rechthaberischer Wichtigtuer, aber ich hielt ihn für harmlos. Nur Sharlory und ein paar andere fuhren fort, ihn mißtrauisch zu beobachten, und schenkten ihm böse Blicke, wann immer sie ihn sahen. »Dein Wunsch erfüllt sich«, sagte Tyndryn. »Guineren meint, daß sein Arm geheilt ist, und sie schlägt gerade den Weichsteinverband ab.« »Du hörst dich beinahe fröhlich an. Ich dachte, ihr zwei hättet euch in den letzten Wochen angefreundet. Hast du nicht den gestrigen Morgen mit ihm zusammen im Wald verbracht?«
erkundigte ich mich. Sie lächelte. »Ich habe ihm bloß geholfen. Seine Linien schweben dauernd davon. In seiner Welt ist das anders - da bleiben die Sprüche, wo du sie haben willst. Und es gibt dort richtige Drachen, die Feuer spucken, nicht bloß so dumme kleine wie bei uns, die nur Holz essen. Er hat mich eine Menge gelehrt. Dinge, die du mir niemals beibringen könntest«, setzte sie hinzu und sprang mit gerecktem Nacken und hocherhobener Nase davon. Ich kletterte den Großen Baum hinunter und ließ mich an einer Liane zu Guinerens Knospenhaus hinab. Alzarakh saß auf dem Dach, blinzelte in das helle Licht der Frühlingssonne und bewegte den geheilten Arm vorsichtig auf und nieder. Er schaute mich an und grinste. »Du bist schon da, um mir liebevoll Lebewohl zu sagen? Das rührt mich. Aber ich gehe noch nicht sofort. Ich muß noch ein wenig Mana sammeln, und dann habe ich auch noch einen meiner Sprüche verlegt.« »Verlegt?« fragte ich ungläubig. »Mmm, vor ein paar Tagen. Sie schweben so herum - ich sagte es schon einmal, stimmt's? Das liegt an dieser Welt; hat vermutlich etwas mit diesem grünen Mana zu tun. Keine Bange, irgendwo wird der Spruch schon auftauchen.«
Wieder grinste er, aber diesmal sah er mir dabei nicht in die Augen. Der Himmel grollte, und grüne Blitze zuckten auf. Wir drehten uns um und sahen einen smaragdfarbenen hellen Streifen durch die Wolken brechen und zu einer nahegelegenen Lichtung reichen, auf der eine kleine Gestalt Purzelbäume schoß und Freudenschreie ausstieß. Neben ihr verdichtete sich die Luft und bildete eine verschwommene baumähnliche Form. »Sie hat es geschafft«, stieß Alzarakh entgeistert hervor. »Das ist mein Spruch - deine kleine Tyndryn hat gerade einen vom Ehernwurzelbaumvolk herbeigerufen.« Rings um uns herum schwärmten die Leute aus den Bäumen, gestikulierten und riefen durcheinander. Ich packte Alzarakh am Arm und zerrte ihn auf den grünen Streifen zu. »Beende es. Halt sie auf. Tu was. Die Kreatur könnte sie töten.« Er griff nach einem dicken Ast und hielt sich daran fest. »Nein, nein, du verstehst das nicht. Vergiß das Baumvolk. Sie hat einen Spruch benutzt, der mit einer anderen Welt verbunden ist - sie werden es ganz sicher merken. Wir müssen zurück.« Der Himmel pulsierte weiß, blau, schwarz, in verschiedenen Rottönen, dann wieder schwarz. Ein halbes Dutzend schattenhafter Gestalten
erschien kurz, warf bunte Streifen in Tyndryns Richtung und verschwand wieder. Sie schrie und wurde von einer Kugel aus kalten Regenbogenflammen verschluckt. Die große Baumkreatur schauderte und zerfiel ins Nichts, der grüne Streifen verschwand. Blitze hagelten nieder, und der Boden unter unseren Füßen erzitterte und stöhnte. Endlich Stille. Wo Tyndryn gestanden hatte, befand sich nur noch ein rauchender schwarzer Kreis auf dem Felsboden. »Das war für mich bestimmt«, sagte Alzarakh leise. »Ja. Ich frage mich, weshalb dich die anderen Zauberer so sehr hassen. Vielleicht weil du jemand bist, der ein Kind sterben läßt, um sein eigenes Leben zu retten«, sagte ich mit lauter Stimme. Allmählich scharten sich die Leute um uns herum. Ich riß den Arm von dem Ast fort und zerrte ihn zu dem schwarzen Kreis, meine Klauen tief in sein Fleisch vergraben. »Das diebische Balg stahl meinen Spruch! Ist das meine Schuld?« rief er. Ich knurrte aus tiefster Kehle. »Du hast ihren Kopf wochenlang mit Neid auf deine Magie gefüllt. Du hast dafür gesorgt, daß alle von deinen schwebenden Sprüchen wußten. Und dann hast du den Spruch irgendwo liegengelassen, wo sie ihn mit Sicherheit findet
und der Versuchung nicht widerstehen kann, ihn zu wirken. Du wußtest, daß die anderen Magier es merken und glauben würden, daß sie dich endlich gefunden hätten.« »Laß mich los, du stinkendes Tier!« brüllte er und zerrte mit seinen kleinen Fingern an meiner Hand. »Ich bringe dich um, ich bringe euch alle um!« »Du glaubst, daß du jetzt in Sicherheit bist«, sagte ich. »Deine Feinde denken, du seist tot. Es wäre leicht, aus dieser ›zahmen‹ kleinen Welt zu verschwinden und ins alte Leben zurückzukehren. Nicht wahr?« Ich ließ seinen Arm los und warf ihn auf den noch immer rauchenden schwarzen Boden. »Jawohl«, brüllte er, »aber erst nachdem ich euch unverschämten Biestern eine Lektion in punkto Respekt erteilt habe.« Er erhob die Arme und öffnete den Mund. Guineren warf die ›Hölzerne Zunge‹ auf ihn. Er würgte und tastete nach seinem Mund, und Mirindil wickelte ihn mit der ›Dornenkrone‹ ein. Er fiel zu Boden, die Dornen ritzen ihm die Haut auf. Ich griff in die Luft, beschwor ›Saures Blut‹ und sah zu, wie das eigene Blut ihn innerlich verbrannte. Sharlory zerdrückte die Luft zwischen den Handflächen. Winzige grüne Keime wuchsen ihm aus den Nasenlöchern, dem Mund, den
Ohren und Augen. Ein paar Minuten später wuchs nur noch ein seltsam verrenkter kleiner Baum auf der geschwärzten Erde. »Magie ist grün, Zauberer«, sagte Sharlory. »Grün und mächtig.« SONIA ORIN LYRIS
Alles hat seinen Preis Melelki zwang sich zum Aufwachen, blinzelte die Müdigkeit aus den Augen fort und schob sich unter den warmen Decken hervor. Mühselig kam sie auf die Beine, zog sich an und stapfte aus der winzigen Hütte nach draußen in die Herbstsonne. »Tageslicht wünsche ich euch«, begrüßte sie ihre Töchter. »Morgen, Mama«, antwortete Tamun in viel zu munterem Tonfall. Sie stand an der Wäscheleine, neben sich einen Korb mit feuchter Wäsche. Sekena hockte auf den Stufen. Sie stöhnte. Melelki setzte sich neben sie. Ihre eigenen Arme und der Rücken schmerzten von der harten Arbeit dieser langen Nacht - wie mußte sich dann erst Sekena mit ihren fünfzehn Jahren fühlen. Aber es war ja nur einmal im Jahr. Wenigstens war für dieses Jahr die Gefahr gebannt. Eisige hohe Felsen und lange Tropfen,
und das alles bei Lampenlicht. Zum Glück waren sie alle gute Kletterer. Trotz der Gefahr war es besser, den Berg in der Dunkelheit zu erklimmen, als bei Tag zu riskieren, einer Gruppe Grubenarbeiter in die Hände zu laufen. Die Bergleute würden nicht gutheißen, was die Frauen vom Berg herunterholten. In der Tat, harte Arbeit. Aber jetzt, dachte sie lächelnd, hatten sie sechzehn Eier im Keller. Und das bedeutete Gold. Tamun hängte Kleidungsstücke und Leinentücher auf, die so dünn waren, daß das durch die Bäume dringende Sonnenlicht auf die flachen kleinen Steine zu ihren Füßen fiel. Auf das Leinen wurden Bilder gestickt, aber dazu waren sie schon lange nicht mehr gekommen, außer im Winter, wenn es zu kalt war, um etwas anderes zu tun. Tamun war schon so früh auf den Beinen, obwohl auch sie in der Nacht gearbeitet hatte anscheinend hatte sie überhaupt nicht geschlafen. Und das, nachdem sie ihren Teil der sechzehn Eier den steilen Berg hinabgeschleppt hatte, von dem hoch oben gelegenen Nest bis hinunter zur Hütte. Und noch immer hatte sie soviel Energie übrig. Leider gab es dafür nur eine Erklärung. Sekena saß erschöpft an Melelkis Seite. Melelki legte den Arm um ihre jüngste Tochter. »Du warst sehr stark letzte Nacht.«
»Danke, Mama.« Sie legte den Kopf gegen den von Sekena, so daß sich die wilden Strähnen ihrer strohbraunen Haare vermischten, und flüsterte: »Sieh dir Tamun an. Siehst du die Röte? Die Farbe unter ihren Augen? Die roten Ohren? Fällt dir auf, wie wenig Schlaf sie benötigt? Erste Hitze, das ist es.« »Nein«, flüsterte Sekena entsetzt, »sie ist zu jung.« Melelki schnaubte leise. »Pah! Du mußt es gerade wissen, was, Kind? Fünfzehn Jahre und schon eine weise Frau?« Sekena errötete und krauste die Stirn. »Sie ist zu jung«, beharrte sie, und ein furchtsamer Unterton klang in ihrer Stimme mit. »Nicht wahr?« »Wenn ihr über mich redet«, sagte Tamun von der Wäscheleine her, »dann redet so laut, daß ich euch verstehen kann.« Ihre Mutter seufzte. »Es scheint mir, als gingest du deiner ersten Hitze entgegen.« Tamuns Hände hielten inne. Sie blickte abwesend drein. »Das würde einiges erklären, stimmt's? Aber ich bin doch erst neunzehn.« »Tja, es ist nicht bei allen gleich, meine älteste Blume. Selten kommt es so früh wie bei dir, aber genauso selten erst mit siebenundzwanzig, so spät wie vor einigen Jahren bei meiner Schwester
Belkena. Erinnert ihr euch? Jetzt hat sie schon drei - zwei davon sind Mädchen - und kann gar nicht aufhören, von ihnen zu schwärmen.« »Ich hoffe, daß es bei mir überhaupt nicht geschieht«, murmelte Sekena. Ihre Mutter knuffte sie sanft am Kopf. »Na«, schalt sie. »Was willst du denn dann tun? Belkena welche stehlen? Ich könnte jetzt genausowenig Kinder bekommen, wie dort Steine am Boden liegen, also kriegst du von mir keine. Du mußt es nehmen, wie es kommt, denn mehr als ein paar Jahre lang wirst du keine Hitze haben. Also wünsch dir keine närrischen Dinge.« »Aber ich will keine...« »Schsch!« machte Melelki und legte einen Arm um die breiten Schultern ihrer Tochter. »Du wirst sehen, es macht Spaß. Du bist dann so kräftig wie der stärkste Mann, aber das spielt keine Rolle, weil sie deinem Liebreiz nicht widerstehen können. Sie kommen und bringen dir Geschenke. Juwelen, schön geschmiedete Dinge...« »Schwerter?« »Vielleicht. Wenn du das möchtest. Und dann... Nun, du wirst ja sehen.« »Ich bin stark genug, um Dracheneier zu tragen, Mama. Ist das nicht stark genug?« »Schsch«, machte Melelki hastig. »Du darfst nur drinnen darüber sprechen, mein Kind, das
habe ich dir doch schon gesagt. Jemand könnte den Pfad heraufkommen. Sogar die Bäume...« »Mama, die ganzen Jahre über haben wir...« »Magie hat Ohren«, beharrte Melelki. »Aber das ist dumm...« »Ich sagte ›Schsch‹«, wiederholte Melelki, und ihre Stimme wurde so spitz wie die Nadeln, mit denen sie Bilder auf das feine Leinen stickte. Damit stand sie auf, strich die Hosenbeine glatt und ging zu Tamun hinüber, um ihr beim Aufhängen der Wäsche behilflich zu sein. »Wir müssen noch eine Menge Näharbeiten für die feinen Damen oben aus den großen Häusern erledigen, nicht wahr?« »Ja, Mama«, antwortete Tamun eifrig. »Bah«, schnaubte Sekena, breitete mit verächtlicher Geste die Hände aus und ging ins Haus. Tamun räusperte sich leise und sagte: »Will sie wieder verfärbte Finger haben und blutige Nadelstiche? Ich nicht. Wir könnten sogar mit dem Nähen aufhören, vielleicht sogar in die Stadt zurückkehren, was meinst du, Mama? Es scheint hier in jedem Winter kälter zu werden.« »Ach, das ist nicht so schlimm. Und das Dorf ist ganz in der Nähe.« »Aber es ist so einsam hier.« »Nun, das ist wahr. Besonders jetzt, da du soweit bist...«
Ihre Tochter errötete ein wenig, runzelte die Stirn und starrte zu Boden. Es wäre schön, wieder mit den anderen zusammenzuleben, mit der Familie, den Freunden. Und nicht mehr eine Stunde weit zum Markt laufen zu müssen und dann wieder eine Stunde zurück. Aber hier oben waren sie unter sich und dem Berggipfel viel näher. Waren näher beim Nest. In jedem Jahr erschien ihr die Menge des Goldes gewaltig, aber jedesmal hatten sie am Jahresende weniger übrig, als sie erwartet hatte. Es lag nicht daran, daß sie zuviel ausgaben, sondern daran, daß sich die Bilder nicht mehr so gut verkauften und alles teurer wurde. Vielleicht arbeiteten sie auch nicht mehr so hart, weil sie wußten, daß die Eier auch im nächsten Herbst da sein würden. Sie hatten sich daran gewöhnt an einem sauberen Ort zu leben, ohne Ratten und Wanzen und kriechenden Schleim. Die Tage der Armut schienen weit zurückzuliegen. Damals war der Berg Melelkis einzige Freude gewesen. Nur zum Spaß war sie dort herumgeklettert. Der Fels war wie eine Frage, und jedesmal, wenn sie hinaufstieg, fand sie eine andere Antwort. Ein glücklicher Zufall hatte sie eines Tages zum Nest geführt, ein glücklicher Zufall und der seltsame Geruch, der
ihre Aufmerksamkeit erregte, führten sie höher und immer höher den Berg hinauf, an Felsnasen und tiefen Spalten vorbei, über spitze Steine hinweg zu einer kleinen Öffnung zwischen zwei eisverkrusteten hohen Gipfeln. Und da sah sie es: Ein Nest mit großen weißen Eiern, die im Sonnenlicht glänzten und an den Schimmer der Farben des Regenbogens erinnerten. Sie sahen wie Gänseeier aus, nur viel, viel größer. Jedes einzelne war länger als ihr Unterarm. Dafür gab es nur eine Erklärung. Dracheneier. Einige wären davongerannt. Melelki nicht. Sie schritt um die Eier herum, das Herz raste ihr in der Brust, aber sie konnte sich nicht losreißen, bevor sie nicht mit dem Finger über die harten Schalen gefahren war. Drachen werden herausschlüpfen, dachte sie. Drachen. Sie hatte schon welche gesehen, aus der Entfernung. Hin und wieder erschien ein Drache während der Erntezeit; flog so hoch am Himmel, daß er wie ein Vogel aussah, nur die Umrisse waren anders. Dann hielten alle mit der Arbeit inne und deuteten hinauf. Abends erzählten sie dann Geschichten von Drachen, die sich von Jungfrauen ernährten und das Nest mit Neugeborenen auslegten. Melelki grinste. Hier gab es keine
Neugeborenen. Vielleicht stimmte das mit den Jungfrauen auch nicht. Dracheneier. Ihre Gedanken bewegten sich in eine andere Richtung, während ihr Blick über die glänzenden Eier glitt. Ihre Töchter und sie waren bettelarm. Menschen und Elfen fertigten Juwelen aus den Eierschalen. Und Waffenspitzen. Was wäre wohl ein ganzes Ei wert? Und wer würde es kaufen? In jenem Sommer kam ein eingebildeter dünner Mensch mit blauen Augen und strähnigem Haar in die Stadt, brachte Geld unter die Leute, kaufte Waffen von den besten Waffenschmieden - für menschliche Soldaten, die im Osten gegen aufständische Orks kämpften, wie er behauptete. Am darauffolgenden Tag schluckte sie ihr Mißtrauen gegenüber Menschen hinunter und suchte den Mann auf, der in der Sitzenden Ente wohnte. Sie spendierte ihm ein teures Getränk und fragte ihn, was er über Drachen wisse. »Ich empfehle dir, sie zu meiden«, sagte er. »Und was ist, wenn jemand ein paar Eier findet? Könnte man die verkaufen?« erkundigte sie sich. »Normalerweise verkaufen meine Töchter und ich bloß gestickte Bilder, aber wenn...« Sein Blick war durchdringend. Leise sagte er: »Nimm dich in acht, wenn du über diese Dinge
sprichst. Solche Sachen sind sehr wertvoll, aber auch gefährlich.« »Wegen der Elternpaare?« »Nein. Die Weibchen legen die Eier auf hohen Berggipfeln ab, in Nestern aus Eis und Schnee, aber sie sind schlechte Eltern. Zu geil, um dazubleiben. Sie legen die Eier und fliegen zurück in warme Gegenden, denn dort sind die Männchen. Dann treiben sie es miteinander, bis sie wieder Eier legen müssen.« »Und sie bewachen die Eier nicht?« »Nicht nötig. Die Schalen sind hart wie Metall, und die Jungen können für sich selbst sorgen.« »Die Jungen - was fressen sie?« »Kinder und Jungfrauen.« Er beobachtete, wie sie die Augen aufriß, dann lachte er und erhielt dafür einen bösen Blick. »Nichts, was größer ist als sie selbst, wenn es irgendwie möglich ist, und sie sind so groß wie ein Dorfköter. Klar, wenn sie Angst haben, greifen sie an, aber sie ziehen kleine Beute vor und fressen eigentlich alles. Gras, Blätter, Tannenzapfen, abgefallene Äste, verrottende Bäume. Abfall. Alles. Genau wie Orks.« »Und sie legen nur im Herbst?« Er nickte. »Ein paar Jahre lang legen sie in jedem Herbst Eier und verschwinden dann einfach. Es gibt Legenden über ältere Drachen...«
Er atmete tief aus. »Die hoffentlich Legenden bleiben, denn die Jungen schlüpfen schon bösartig aus und werden von Jahr zu Jahr schlimmer. Aber die ausgewachsenen zeugen nur ein paar Jahre lang Nachwuchs. Genau wie dein Volk, Zwergendame.« »Drachen sind Tiere«, erwiderte sie kalt. »Glaubst du, daß wir auch Tiere sind?« Er war so dünn. Sie hätte ihn mit Leichtigkeit in der Mitte durchbrechen können. Einmal zupacken, drehen und ziehen, und es wäre aus mit ihm. Sein Blick vermied den ihren, glitt schnell durch den Raum, um festzustellen, ob sie belauscht wurden, dann starrte er wieder in sein Bier. »So habe ich es nicht gemeint.« Er schob sich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht und beugte sich vor. »Deine... Bilder möchte ich sehen. Niemand hat so ein gutes Auge wie ihr Zwerge für Form und Perspektive.« Sie schnaubte belustigt über sein absurdes Kompliment. Natürlich redete er von den Eiern. »Hör zu. Ich kaufe so viele, wie du nur kriegen kannst. Wie viele werden es sein, und wie schnell hast du sie?« Melelki dachte an das Ei, daß sie mitgebracht und im Wald versteckt hatte. Beinahe wäre sie auf dem Rückweg vom Nest einer Gruppe Männer begegnet, die Eisen aus einer Grube fortschafften. Sie würden die Eier des Nachts
holen müssen. Im Geist war sie schon damit beschäftigt, Trageschlingen zu weben. »Wieviel?« »Zwei Goldstücke pro Ei.« Er sagte es so lässig, als würde er täglich von solchen Summen reden. Sie hielt den Atem an. Vierzehn Eier. Das bedeutete eine Menge Gold. Also hatten sie einen Treffpunkt abgemacht, eine Zeit verabredet. Sie mit den Eiern, er mit seinen Fuhrwerken. Und dem Gold. Nach dieser ersten Nacht, angefüllt mit Klettern, mit Ziehen und Heben und Schleppen, waren ihre Töchter und sie so erschöpft, daß sie sich kaum noch bewegen konnten. Aber mit dem Gold, das der Mensch für die Eier gezahlt hatte, vermochten sie ihre Schulden zu begleichen und neue Winterkleidung zu kaufen. Im Frühling hatten sie sich eine kleine Hütte auf halber Höhe des Berges gebaut. In der Nähe der Eier, die sie im folgenden Jahr zu finden hofften und die sie wirklich gefunden hatten. Und im Jahr darauf. Seit fünf Jahren nun verkauften sie die glänzenden, in den Farben des Regenbogens schimmernden Eier. Sie lebten besser als je zuvor. Und nun... Tamun hielt ein nasses leinenes Rechteck in den Wind und hängte es dann an die Leine.
Melelki dachte über ihre Kinder nach. Sekena war fast erwachsen, Tamun stark wie ein Krieger und neigte dazu, schnell, sehr schnell recht unruhig zu werden. Die Eier lagen im Keller, sorgfältig auf dickes Stroh gebettet, was völlig unnötig war, aber sie konnten es nicht ertragen, solch wertvolle und gefährlichen Dinge auf den harten Steinboden zu legen. In wenigen Wochen würden die Jungen ausschlüpfen, was sie von den immer dichter werdenden Tupfen auf den Schalen ableitete. Aber das war nur ein Ratespiel, denn eigentlich durften keine Fehler unterlaufen, wenn es sich um Drachenjunge handelte. Deshalb machte sie sich trotz ihrer Müdigkeit auf den Weg ins Dorf, wo sie dem blauäugigen Mann eine Botschaft zukommen lassen würde, damit er mit seinen Fuhrwerken kam, um ihnen Gold zu bringen und die wachsenden Eier mitzunehmen. Bevor die Brut schlüpfte. Der blauäugige Mann sandte ihr seine Antwort. Aber er wollte sich nicht mit ihr an der Hütte treffen, sondern mit ihr im Rasthaus an der Bergstraße reden. Ein paar Tage später wachte Melelki bei Tagesanbruch auf, legte einen ölgetränkten Umhang um und wickelte sich zum Schutz gegen
den strömenden Regen fest darin ein. Dann wanderte sie die eisverkrustete Bergstraße entlang. Sie kam so dicht an dem am Fuß des Berges gelegenen Dorf vorbei, daß sie den Rauch der Schmieden sehen konnte. Ihr Weg führte sie weiter hinauf, auf die Wasserfalle zu. Etwas später öffnete sie die knarrende Holztür, schüttelte das Wasser vom Umhang ab und betrat das kleine Rasthaus. Der Raum stank nach nassen Menschen. Er saß auf dem hölzernen Bett in der Mitte, das lange dunkle Haar fiel ihm über die Schultern und ins Gesicht, verdeckte die unwahrscheinlich blauen Augen. Melelki nickte ihm zu. »Naß da draußen«, sagte er, und sie nahm an, daß dies die Begrüßung sein sollte. Natürlich war es naß draußen. Es regnete. Es war Spätherbst und ging auf den Winter zu. »Ja«, antwortete sie, wußte nicht, was sie sonst hätte sagen sollen. »Ich habe die... Stickereien für dich.« Sie sprachen nie über Eier, nicht einmal dann, wenn sie - so wie jetzt - meilenweit vom Dorf entfernt waren, für den Fall, daß doch einmal jemand mithörte. Aber ›Stickereien‹ war so ein menschliches Wort. Sie kannte menschliche Worte, aber es war mühsam, sie zu gebrauchen. Es waren lange schlüpfrige Dinger und bedeuteten immer etwas völlig anderes. Warum konnten sie nicht einfach
›Bilder‹ sagen, und das war's? Natürlich sprachen sie gar nicht über Bilder, sondern über Eier. Dracheneier. »Wieviel?« fragte er. Sie versteckte ihre Spannung unter einem ungeduldigen Seufzer. »Genau wie immer.« Er wartete, die Brauen fragend hochgezogen. »Zwei Goldstücke für jedes«, sagte sie verwirrt. Vielleicht hätte er gern gehabt, daß sie auch noch für ihn tanzte? »Ich denke nicht.« »Was? Natürlich. So war es immer.« »Dieses Mal nicht. Mein Auftraggeber hält deinen Preis für zu hoch. Er bietet dir weniger an.« Sie fühlte Bestürzung in sich aufsteigen. Wie konnte er nur weniger bieten? »Letztes Jahr...« »Letztes Jahr war letztes Jahr.« »Und die letzten fünf Jahre?« »Vorbei ist vorbei.« »Wieviel weniger bietet er?« »Zwei Goldstücke für alles, was du hast.« Sie war entgeistert. »Menschenverrückt. Das ist absurd.« »So lautet das Angebot.« »Aber... wieso?« »Ich weiß es nicht. Vielleicht braucht er sie nicht mehr. Vielleicht hat er einen anderen
Zulieferer gefunden.« »Ich glaube dir nicht.« Er zuckte die Schultern. »Ich bin bloß der Bote.« Irgend etwas an der Art, wie er das sagte, machte sie mißtrauisch. Aber er war schließlich ein Mensch, und alle seine Antworten erregten ihr Mißtrauen. Sie überlegte schnell. Was tat der Auftraggeber mit den Eiern? Seit fünf Jahren grübelte sie darüber nach und hatte entschieden, das es sich um einen Zauberer handeln mußte. Wer sonst wollte Dracheneier haben? Wer sonst wußte, wie man mit den geschlüpften Jungen umgehen mußte? Aber was fing er mit so vielen Drachen an, Jahr um Jahr? Das mußte mit diesen Kriegen im Osten zu tun haben, für die man im Zwergendorf Waffen schmiedete und für die immer wieder Söldner angeheuert wurden. Wer wußte schon, was ein Zauberer alles mit Drachen anstellen konnte? Vielleicht hatte er jetzt genug. Aber warum war dann Blauauge noch hier und unterhielt sich mit ihr? Nein, er wollte sie noch immer, dachte wohl, er könne sie billiger bekommen. Und wenn er sie wollte, dann brauchte er sie. Er wollte nur nicht dafür zahlen. Sie schnaubte belustigt. »Ich könnte bedeutend
mehr verdienen, wenn ich nur die Schalen verkaufen würde.« Es war ihr gleich, ob jemand mithörte. Vielleicht hörte sie jemand und machte ihr ein besseres Angebot. Ihre Blicke kreuzten sich, blieben fest. Dieses Blau, dieses unnatürliche Blau - wie lebendes Eis. Das war es: Menschen hatten Eis in den Augen, Eis in den Köpfen. Eis konnte nicht denken. »Dann tu es doch«, meinte er. »Viel Spaß mit der Brut.« Sie schauderte innerlich. Vor ungefähr neun Jahren war ein Drachenjunges mit einem gebrochenen Flügel ins Dorf gekommen und hatte versucht, Würste von einem Marketenderwagen zu fressen. Das Kleine hatte ein halbes Dutzend Männer blutüberströmt zurückgelassen, als diese es mir bloßen Händen überwältigen wollten - typisch für Zwergenmänner, wie immer übertraf ihr Mut ihre Klugheit. Erst als Bewaffnete, größtenteils Frauen, mit zusammengesuchten Speeren und Schwertern auf das kleine Biest einhieben, wurde es überwältigt. Wer hätte gedacht, das etwas so Kleines so bösartig sein könnte? An jenem Abend waren beim gemeinsamen Verzehr des Dracheneintopfes viele Geschichten erzählt worden. Melelki gefiel der Gedanke an sechzehn junge
Drachen, alle gleichzeitig hungrig, überhaupt nicht. War es möglich, daß tatsächlich jemand anderes auch Eier verkaufte? Sie konnte sich kaum vorstellen, daß noch eine Person soviel Glück, eine so gute Nase und ein ebenso gutes Klettervermögen hatte wie sie selbst es damals gehabt hatte. Sie fällte eine Entscheidung. »Tja, wirklich schade«, sagte sie und tat, als wäre sie nur ein wenig enttäuscht. Sie beachtete ihre innere Stimme nicht, die ihr sagte, daß er sich bei solchen Spielen besser auskannte als sie und ihre zur Schau getragene Gelassenheit bestimmt durchschaut hatte. »Ich denke, ich muß mein Nest an jemand anderen verkaufen.« Sein Lachen jagte ihr kalte Schauer über den Rücken, denn ihre Worte schienen ihn wahrlich zu belustigen. Dadurch wurde ihr Entschluß ein wenig erschüttert, also festigte sie ihn erneut mit ihrer Wut auf ihn, auf seinen betrügerischen Täuschungsversuch und darauf, daß er sie so viele Tage hatte warten lassen, nur um ihr dies mitzuteilen. Sie schüttelte das Wasser, das sich auf dem Umhang gesammelt hatte, auf den Boden, warf ihn sich über die Schultern, knotete die Bänder zusammen und warf ihm noch einen Blick zu. Er sah nachdenklich aus, aber bei einem Mensch
wußte man ja nie so genau... »Das Angebot gilt noch«, sagte er und starrte sie wieder eiskalt an. »Zwei Goldstücke für alles zusammen?« Sie lachte spöttisch, und ihr Ärger überdeckte die Furcht und die bloße Versuchung. Sie würden einen anderen Weg finden. Sie drehte sich um und ging; dabei schloß sie die Tür so heftig, daß das kleine Gebäude erbebte. Melelki schwelgte in finsteren Gedanken über den Menschen, als sie sich durch schlammige Pfützen nach Hause begab. Teilweise wäre sie gern umgekehrt und hätte ihm gesagt ja, sie wolle zwei Goldstücke nehmen, wenn er nur mit dem Fuhrwerk käme und die Dracheneier mitnähme. Diese Anwandlung konnte sie beherrschen, steckte sie gefesselt und geknebelt in eine entlegene Ecke ihres Kopfes. Sie hatte einen wertvollen Schatz: sechzehn Dracheneier! Irgendwer mußte sie wollen, würde auch genausogut dafür zahlen, wie der Mann es getan hatte. Sie mußte einen Karren kaufen, natürlich, ohne daß man ihr Fragen stellte. Sie brauchte Geld, und das wenige, was ihnen geblieben war, ginge dafür zur Neige. Dann mußte sie einen anderen Käufer finden, und zwar schnell, denn in
ein paar Wochen würden die Jungen ausschlüpfen und... Es blieb überhaupt keine Zeit mehr für das alles. Sie war eine Närrin. Die ganzen Jahre hindurch war sie davon ausgegangen, daß Eisauge sie haben wollte, dafür zahlen würde, statt dessen hatte sie... Was hätte sie tun sollen? Statt dessen hätte sie jemand anderen ausfindig machen sollen. Statt dessen hätte sie herausfinden sollen, wozu die Eier nütze waren. Soviel zur Neugierde der Zwerge, dachte sie wütend über sich selbst. Wo war diese Neugierde im letzten Jahr geblieben, wo im Jahr davor, als das Wetter so gut war, als sie nach Osten hätte losgehen können, um zu sehen, was der blauäugige Mensch mit den Dracheneiern anfing? Statt dessen war sie das ganze Jahr über daheim geblieben, war im Berg herumgeklettert, hatte bei ihren Töchtern gesessen, Geschichten erzählt, Körbe geflochten und lange geschlafen. Und manchmal Bilder genäht. Niemals wieder. Von jetzt an würde sie alles herausfinden. Aber zuerst mußte sie die Eier loswerden, bevor die Brut schlüpfte. Er würde sie nicht kriegen. Nicht dieser eingebildete, blauäugige, stinkende Mensch. Nicht für zwei Goldstücke, nicht für vier. Nicht einmal wenn sie keine
andere Wahl hatte, als die Eier zurück ins Nest zu bringen. Langsam atmete sie aus, der Atem sah in der kalten Luft wie Rauch aus. Genau das würden sie tun müssen. Die Eier wieder auf den Berg bringen und zurück ins Nest legen. Für alles andere blieb keine Zeit. Nicht in diesem Jahr. Der Gedanke war bitter, denn es würde bald Winter, und die Marktleute waren während der kalten Monate geizig, daher brauchten sie das Gold. Sie war froh, daß sie in den vergangenen Jahren etwas gespart hatten, aber es war nicht viel. Wenigstens war das Haus solide genug gebaut, um Schnee und Kälte abzuwehren. Sie mußten eng zusammenrücken und viel schlafen. Sehnsüchtig stellte sie sich einen riesigen Kessel vor, in dem sie alle Dracheneier hartkochen könnte. Den ganzen Winter hätten sie wenigstens genug zum Essen. Aber wahrscheinlich wären die Schalen zu dick oder irgend etwas Fürchterliches würde geschehen. Der Gedanke an den erneuten Aufstieg zum Berggipfel, bei dem jedes Ei in einem Tragegurt über die schlüpfrigen Ränder hoher Felsnasen mitgeschleppt wurde, benagte ihr gar nicht. Aber sie mußte die Eier doch nicht an genau den Ort bringen, an dem sie gelegen hatten, oder? Einfach nur weit genug von der Hütte
entfernt. Und weg von den Minen. Wenn die Jungen in die Minen gerieten... Weit weg. Wütend stapfte sie durch die Lehmpfützen, ungeachtet ihrer kalten Füße und des Regens, der ihr übers Gesicht strömte, und auch ungeachtet der Erinnerung an den Menschen, der sie auslachte. Sekena stand in dem winzigen dunklen Keller, die sechzehn Eier schimmerten im Licht der Lampe. Der strohbedeckte Fußboden bot kaum ausreichenden Platz für alle. Oben schliefen Mama und Tamun, aber Sekena war unruhig gewesen, hatte sich angezogen und war nach unten geschlichen. In diesem Jahr mußten sie die Eier zurück ins Nest legen. Sie waren alle nicht sonderlich glücklich darüber, aber Mama hatte recht, sie hatten keine andere Wahl. Allerdings hatte der Sturm andere Gedanken, und man konnte bei diesem Schneetreiben den Berg nicht hinaufklettern, daher mußten sie warten, bis das Unwetter vorüber war. Vielleicht morgen. Sekena war enttäuscht. Es war nicht allein die Arbeit, die gräßliche, eiskalte, anstrengende Arbeit des Kletterns, sondern auch das Zurückbringen der Eier...! Sie verloren die Eier
und das ganze Gold. Wie seltsam, daß der Mensch nicht dafür bezahlen wollte. Es mußte noch mehr dahinterstecken. Auf jeden Fall wollte Sekena die Eier noch einmal ansehen, bevor sie morgen zurück ins Nest auf dem Berggipfel gebracht wurden. Mit zitternden Händen kauerte sie nieder und fuhr mit den Fingern über eine der weißgefleckten leuchtenden Schalen. Glatt wie Glas, hart wie Eisen. An einigen Orten stellte man Juwelen und Waffen aus den grellweißen Scherben her. Waffen. Die hätte sie gern gesehen. Mama sagte, es sehe den Menschen ähnlich, Juwelen aus Eiern zu machen, die andere für sie gesucht hätten. Dabei kämen sie sich tapfer vor, als hätten sie selbst die Eier geöffnet. Als wären sie so mutig gewesen und hatten zugesehen, wie die Brut schlüpfte. Die wenigsten würden in der Nähe bleiben, wenn es tatsächlich geschah. Sekena wollte. Sie träumte des Nachts davon, stellte sich vor, wie die Jungen wohl aussehen würden, wenn sie herauskamen. Wer hatte je Drachen schlüpfen gesehen? Den Drachen, der damals ins Dorf gekommen war, hatte sie verpaßt, aber alles darüber gehört, immer wieder. Es mitanzusehen, das wäre etwas! Die vielen Nächte, in denen die Eier hier unten
gelegen hatten, hatte Sekena in all den Jahren schlaflos verbracht. Sie hatte wachgelegen und die Versuchung bekämpft, nach unten zu gehen und eins aufzubrechen. Manchmal hielt sie sich an der Bettkante fest und hoffte, ihre Mutter und Schwester würden rechtzeitig aufwachen, um sie aufzuhalten, wenn das Verlangen zu groß würde; stellte sich entsetzt vor, es gelänge ihnen nicht, verzweifelte fast, weil es sie sosehr danach verlangte. Natürlich lag diese seltsame Neugierde den Zwergen im Blut, trieb sie voran. Dieselbe Neugier trieb ihre Mutter dazu, in den Bergen herumzuklettern, und führte sie schließlich zu dem Nest auf dem Gipfel. Dieselbe Neugier trieb Tamun dazu, den Waldboden abzusuchen, um tote Tiere aufzulesen, die sie mitnahm, aufschnitt, trocknete und dann ihrer Knochensammlung einverleibte. Sekena betrachtete die wundervoll glänzenden Eier, sog ihren wilden Duft ein, steigerte die Versuchung absichtlich ins Unermeßliche. Die Neugier brannte in ihr gleich einem Schmiedefeuer, aber sie kämpfte dagegen an und besiegte sie. Sie war kein Kind mehr, das wie ein Blatt im Wind herumgeworfen wurde, sie war beinahe erwachsen. Jetzt stand sie hier, von einem inneren Feuer verzehrt, und berührte kein einziges Ei.
Mama wäre stolz auf sie, wenn sie es wüßte, aber Sekena würde nie darüber sprechen. Dies war ihr ureigenster Kampf, ihr ganz persönlicher Triumph. Sie war eine starke Frau. Nicht wie Tamun. Es erfüllte Sekena mit Furcht, Tamuns fieberhaftes Benehmen mitanzusehen. Die ältere Schwester schlief kaum noch und sprach wie besessen davon, ins Dorf zurückzukehren, über Häuser, Kinder und Männer. Serena schüttelte sich. Sie würde ihr Geheimnis bewahren: Sie hatte sich dafür entschieden, daß sie eine zwergische Söldnerin werden würde, wenn sie erst einmal ihre Hitze erreicht hätte. Sie nahmen Frauen, die sich in Hitze befanden, weil sie dann stärker als die Männer waren, aber sie mußten versprechen, nicht schwanger zu werden. Das Versprechen konnte sie halten. Gleichgültig, wie sehr ihre Leidenschaft sie antriebe, sie ließe sich nie davon überwältigen. So stand sie da, prüfte sich, spürte das Zucken in den Fingern, ein Ei zu berühren, einen Hammer zu nehmen und herauszufinden, wie hart die Schalen waren. Das Verlangen war so stark und schmerzlich wie Hunger, aber sie beherrschte es - und nicht umgekehrt. Heute hatte sie es mit den Eiern bewiesen, aber eines Tages würde sie mit einem guten
Zwergenschwert im Kampf ihre Kraft unter Beweis stellen. Sie sah es deutlich vor sich. Eine leichte Rüstung, die ihr Bewegungsfreiheit ließ und ihre angeborene Schnelligkeit begünstigte. Und das Schwert - sie spürte den Griff in der Hand, sein Gewicht, als sie es erhob, hörte das Klang, als es in einen kreischenden Ork eindrang; die häßliche Kreatur sank zu Boden, das dunkle Blut versickerte in der Erde. Diese Bilder waren so lebendig, die Geräusche so deutlich, daß sie fast das neue Geräusch hier im Keller überhört hätte. Sie blinzelte, als es noch einmal ertönte. Ein Reißen, ein Knacken. Dort, auf dem am entferntesten liegenden Ei, erblickte sie etwas, was sie nie zu sehen erwartet hatte. Einen Riß. Sie stürmte jeweils drei Stufen auf einmal hinauf. Melelki schritt ihnen voran in den Keller, jede von ihnen trug eine Lampe. Da war es, in der entlegendsten Ecke: ein Ei, durch das sich ein kleiner gezackter Riß zog. In dem trüben Licht überprüfte sie die restlichen Eier, ging leichtfüßig um sie herum und zwang sich zur Neugierde, um damit das Entsetzen zu unterdrücken. Das Muster auf dem hinteren Ei trat viel deutlicher hervor als bei den
anderen Exemplaren. Wahrscheinlich zeigten die dunkleren schimmernden Flecken an, wie nahe der Zeitpunkt des Ausschlüpfens herangerückt war. Nur das eine war auffallend. Aber das erleichterte sie auch nicht allzusehr. Lange standen die drei Zwerginnen schweigend, lauschten, beobachteten. Dann hörten sie es: ein gedämpftes Knacken. Das Geräusch von etwas Lebendigem, etwas, das hinaus wollte. »Nach oben«, befahl Melelki, und sie verließen den Keller. »Ich verbarrikadiere die Kellertür«, sagte Tamun. Melelki rückte. »Sekena. Pack Lebensmittel zusammen und trag Mäntel und Lampen zur Tür.« Sekena rannte in die Küche. Nun, da beide beschäftigt waren, erlaubte sich Melelki einen tiefen Atemzug und ließ die Luft stoßweise wieder entweichen. Die Brut sollte erst in ein paar Wochen ausschlüpfen. Sie schloß die Augen und versuchte zu erraten, wie lange das Junge brauchen würde, um die Schale zu zerbrechen. Konnten sie irgend etwas tun, um es zu verhindern? Sie wußte es nicht. Sollten sie versuchen, es zu töten? Die Erinnerung an die blutüberströmten Männer überwältigte sie.
Nein. Sie und ihre Töchter würden ihm einfach aus dem Weg gehen, falls - wenn - es herauskäme. Der Mensch hatte gesagt, daß sie nur angriffen, wenn sie Angst hatten, und keine Tiere fraßen, die größer als sie selbst waren. Also bestand für sie alle keine Gefahr, wenn sie ihm nicht in die Quere kamen. Sie hoffte, daß der Mensch die Wahrheit gesagt hatte. Alles bestand aus Verlangen. Alles bestand aus dem hungrigen Schmerz, endlich frei zu sein. Hinaus, hinaus, sang die Stimme des Blutes, der Schlag des Herzens. Er biß und trat und heulte gegen die harte dunkle Welt, die ihn gefangenhielt. Entschlossenheit brannte in ihm. Er kämpfte, wand sich, setzte seine ganze Kraft ein. Endlich hörte er etwas. Gute, verheißungsvolle Geräusche. Befreiende Geräusche. Laute der Freiheit durchschnitten seine glatte Welt. Sein Gefängnis knackte, bekam scharfe Kanten. Er hatte es gesprengt. Er war frei. Er lag keuchend auf den Überresten seines Kerkers. Erschöpft, kalt und hungrig, aber der süße Erfolg des Entkommens überdeckte alles andere.
Frei. Als er sich kräftig genug fühlte, blickte er auf und sah sich um. Er öffnete das Maul, um die Luft zu schmecken. Irgend etwas stimmte nicht. Irgend etwas fehlte. Wo war der Himmel? Wo der Wind? Er brauchte das. Wie Feuer überkam ihn das Verlangen nach diesen Dingen. Seine Unzufriedenheit kehrte zurück. Die Dinge, die er brauchte, hätten hier sein sollen. Dessen war er sich sicher. Wut brodelte in seinem Innern. Irgendwo waren der Himmel und der Wind. Die Dinge, die er benötigte. Er würde sie finden. Hinaus, hinaus, sang die Stimme des Blutes. Nach oben, nach oben. Er machte sich an den Aufstieg. Die Sonne war gerade aufgegangen, als die Geräusche aus dem Keller lauter wurden und Melelki erschauern ließen. Das Junge hatte das Ei verlassen, soviel war sicher, und nun klang es, als versuche es durch die Mauern und Balken des Hauses zu brechen. »Hinaus hier!« drängte Melelki, und sie packten die Bündel, Mäntel und Lampen und rannten in den tiefen Schnee hinaus, der den Boden bedeckte. Sie stürmten auf die Bäume zu, hielten dort an und wandten sich um, um die
Hütte zu beobachten. »Glaubst du, daß wir hier sicher sind?« fragte Sekena. »Ich weiß nicht.« »Wir können nicht einfach weggehen«, sagte Tamun. »Nein.« Neugierde, Angst und noch irgend etwas anderes hielten sie davon ab, zum Dorf zu fliehen. Sie hatten die Hütte mit eigenen Händen erbaut - sie gehörte ihnen. Und im Keller lagen Eier, die ihnen gehörten. Ihre Eier. Während sie warteten, ging die Sonne auf, der Himmel färbte sich blau. Der Sturm war vorbei. »Wenigstens haben wir gutes Wetter«, meinte Sekena leise. Aber im Licht des Tages sahen sie deutlich, daß der Pfad zum Berggipfel dick verschneit und nicht begehbar war. Heute konnten sie die Eier nicht zurückbringen. Vielleicht war das jetzt auch nicht mehr wichtig. Die Hütte bebte immer wieder, als das Junge darin herumtobte. Welche Kraft doch in einem so kleinen Tier steckt, dachte Melelki. Der Balken, der die am nächsten gelegene Hausecke stützte, knarrte und brach dann mitten durch. Melelki hatte das Gefühl, als habe man ihr einen Schlag versetzt. Sollte sie mit den Töchtern den Weg hinablaufen? Sie konnte nicht gehen.
Noch nicht. Keine von ihnen konnte schon gehen. Tamun ballte die Fäuste, öffnete sie wieder. »Mama...« Melelki legte die Hand auf die Schulter ihrer ältesten Tochter. Tamun war angespannt, ihr Körper wurde durch die Hitze angetrieben, die sie so schnell übermannt hatte. Melelki klopfte ihr sanft auf den Rücken und versuchte, sie alle zu beruhigen - dabei begann sie bei sich selbst. Wieder bebte das Haus. Mehrmals hörten sie dröhnende Schläge. Sekena stieß sie an und deutete von der Hütte weg, zur rechten Seite hinüber. Eine Gestalt trat unter den Bäumen hervor. »Bah, im Namen des Mondes!« zischte Melelki. Es war der blauäugige Fremde. Wut stieg in ihr auf, aber sie unterdrückte das Gefühl. Er schaute auf das schwankende Haus und verlangsamte seine Schritte. »Menschlicher Abschaum!« brüllte Melelki ihm entgegen, konnte sich nicht länger beherrschen. »Du hast gesagt, sie würden nicht angreifen! Jetzt schau!« Ein zweiter Eckbalken zerbrach, und die ganze Seite des Gebäudes neigte sich. Es klang, als zerreiße etwas, als schleife man Bäume und Felsen herum. Tamuns Augen waren weit aufgerissen und
voller Wut. Melelki verstärkte den Griff auf ihrer Schulter. »Es zerstört unser Haus!« »Tja«, sagte sie zu ihrer Tochter, »ich weiß, meine Blume, ich weiß.« »Was will es? Nahrung?« stieß Tamun hervor. »Was denn? Blödes Biest!« Der Mensch war jetzt genauso dicht am Haus wie die Zwerginnen und blieb stehen. »Ich glaube, es will hinaus.« Tamuns Gesicht war rot angelaufen. »Hinaus?« »Ja«, meinte er. »Es will hinaus. Es will auf etwas hinaufklettern und sich davon abstoßen. So lernen sie fliegen.« Ein Teil von Melelkis Gehirn verstaute diese Tatsache für später. Aber jetzt... »Mach, daß es aufhört«, befahl ihm Tamun kurz. Er lachte auf, ein knappes Lachen. »Ein Drachenjunges aufhalten?« Ein Fensterladen zersplitterte. Eine grüne Nase war zu sehen. »Da ist es«, flüsterte Sekena, und ihrer Stimme lag mehr Faszination als Angst. Die Nase verschwand. Wieder ertönten krachende Geräusche aus dem Innern der Hütte. Melelki zuckte zusammen. »Du weißt, wie man es macht«, beharrte
Tamun. »Nicht ohne...« Er schüttelte den Kopf. »Was tust du hier?« fragte Melelki. »Ich dachte, du hättest dir vielleicht mein Angebot überlegt.« »Pah«, fauchte Melelki. »Hast du das Ei zerbrechen lassen, um uns herumzukriegen?« »Nein«, antwortete er, »nein. Es ist einfach nur früher geschlüpft.« »Wir können es nicht weitermachen lassen«, sagte Tamun mit zusammengebissenen Zähnen. »Wir haben kein Zuhause mehr«, fügte Sekena hinzu. Dann, etwas sanfter: »Haben wir gespartes Geld, Mama?« »Ein wenig, meine Blume. Ein wenig.« Das Hüttendach bebte, wölbte sich und fiel mit lautem Krachen zusammen. Holzstücke flogen aus den zerborstenen Wänden, landeten auf dem Boden und wirbelten den Schnee auf. Tamun schrie; es war ein langanhaltender tiefer Schrei, wie ein Kampfruf. Melelki und Sekena packten sie gleichzeitig, aber sie schüttelte die beiden ohne Schwierigkeiten ab und rannte wie verrückt auf die Hütte zu. Melelki wollte ihr nach, aber Sekena ergriff ihren Arm und zog sie mit schmerzlich entschlossenem Gesicht zurück. »Nein, Mama!« »Es wird sie töten!« heulte Melelki und wehrte sich gegen ihre überraschend kräftige jüngere
Tochter. Sekena zog sie zu Boden, und einen Augenblick lang rangen sie heftig miteinander. Dann ließen sie davon ab und blickten Tamun nach. Der Mensch brüllte hinter ihr her, daß sie zurückkommen solle, daß sie dumm sei und vieles andere mehr. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Melelki das als unglaubliche Beleidigung aufgefaßt, im Augenblick stimmte sie ihm aber bedingungslos zu. Er bückte sich, nahm die Hände voller Schnee und Schmutz und warf sie hinter Tamun her in die Luft. Verrückt. Menschenverrückt. Genauso verrückt wie die Tatsache, Dracheneier im Keller aufzubewahren. Zwergenverrückt. Und jetzt würde Melelki einen hohen Preis für ihre Dummheit zahlen. Tamun hatte erst die Hälfte des Weges zur Hütte hinter sich, aber das spielte keine Rolle. Es war zu spät, man konnte nichts tun außer zuzusehen, wie sie geradewegs in den Tod lief. Von der Hitze getrieben und erfüllt von der zusätzlichen Kraft, war Tamun trotzdem keine Gegnerin für das Drachenjunge. Es würde sie wie einen trocken Ast zerbrechen. Melelki heulte vor Kummer und Verzweiflung, mußte aber tatenlos zusehen. Seltsam, wie viele Einzelheiten ihr auffielen, und zwar alle gleichzeitig: Sekenas weiße
Finger, die ihren Arm umklammerten, Tamuns durch den Schnee gedämpfte Schritte, der Sprechgesang des Menschen, der Schnee und Schmutz in die Richtung der Hütte warf. Seltsam, welche Dinge diesen schrecklichen Augenblick in eine Ewigkeit verwandelten. Sie wollte nicht glauben, daß in wenigen Herzschlägen ihre älteste Tochter, ihre Tamun, ihre Blume, gerade jetzt in der ersten Hitze schon bald in lebloses Fleisch verwandelt wäre. Jetzt lebte sie noch, in ein paar Sekunden wäre sie tot. Wie war so etwas möglich? Könnte sie doch ihre Tochter anhalten, das Junge erstarren lassen, sie alle erstarren lassen; wenn, ach wenn doch nur... Donner brach über sie herein. Die Erde erbebte. Melelki wurde gegen Sekena geschleudert, und in ihren Ohren dröhnte es. Sie versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, aber Sekena hatte sich schon herumgerollt und stand bereits. Die Hütte war völlig zerstört, jeder einzelne Holzbalken, jeder Stein waren rußgeschwärzt und ringsum im Kreis verteilt. Tamun lag auf halbem Wege zusammengesunken am Boden. Melelki rannte sofort zu ihr, aber der Mensch erreichte sie als erster und kniete neben ihr nieder. Sie packte ihn bei der Schulter, stieß ihn zur Seite und fiel neben ihrer Tochter auf die Knie.
Der Störenfried war jedoch sofort wieder neben ihr. Sie knurrte ihn an, knurrte mit tiefen kehligen Lauten. »Ich will ihr helfen, du blödes Weib!« »Ich bringe dich um, wenn du sie anrührst!« erwiderte Melelki in einem Atemzug. »Verflucht, ich habe sie doch gerade gerettet!« Die Worte bedeuteten ihr nichts, jetzt nicht, da Tamun hier lag. Melelki bückte sich, legte das Ohr an den Mund ihrer Tochter und hielt den Atem an, bis sie Tamuns Atem deutlich wahrnahm. Das Gefühl großer Erleichterung überkam sie. »Sie atmet«, sagte Melelki und unterdrückte ein Schluchzen. Der Mensch hockte neben ihr. »Ich würde dir gern sagen, ob es ihr wieder gutgeht, aber wenn du mich nicht in ihre Nähe läßt...« »Zur Hölle mit dir«, sagte Melelki leise und strich sanft über Tamuns Haar. »Es ist wahrscheinlich nicht möglich, von einer Zwergin ein wenig Dankbarkeit zu erwarten.« »Dankbarkeit?« knurrte sie. »Das Drachenjunge ist tot«, erklärte er und sprach jedes Wort langsam und deutlich aus, als wäre sie eine verblödete Kreatur, die ihn nicht verstand. In der Tat, die Worte ergaben einen Sinn. Sie
sah zu der eingestürzten Hütte hinüber. Sekena schritt um die Trümmer herum, tippte mit der Stiefelspitze gegen einzelne Teile. »Wo ist das Junge geblieben?« fragte Sekena. »Es ist da drinnen, in kleinen Stücken. In sehr, sehr kleinen Stücken.« Melelki schaute ihn an. Er sah beinahe wütend aus. »Soll ich sie mir nun ansehen oder nicht?« Widerwillig bedeutete sie ihm näher zu kommen. Er hockte sich neben Tamun, berührte ihren Hals und zog eines der Augenlider hoch. Melelki überdachte die vergangenen Minuten erst einmal, dann erneut. »Du bist der Zauberer«, stellte sie fest. Er rückte. Ein Schauer lief ihr den Rücken hinab. »Welche Art von Zauberer?« »Ein Elementarmagier«, antwortete er. »Nicht einer von den... anderen.« Sie atmete auf. »Ein Erde-Zauberer«, sagte sie erleichtert. Keiner von denen, der mit einem Wort ganze Dörfer unterhöhlen oder mit einer Geste Zombies herbeirufen konnte. Das war gut. »Erde-Zauberer«, wiederholte er sarkastisch, »Aber ich bin Zauberer genug, um ein Drachenjunges in einen Donnerschlag zu verwandeln. Sie ist unverletzt. Wie nennst du sie?«
»Tamun.« Er neigte sich über sie und rief sie leise beim Namen, immer wieder. Tamun öffnete die Augen. »Dank sei dem Himmel und der Erde«, stieß Melelki hervor. »Habe ich es getötet?« fragte Tamun und versuchte sich aufzusetzen. Sie wies die Versuche des Menschen, ihr zur Hilfe zu kommen, brüsk zurück. Er lachte einmal kurz auf. »In gewisser Weise schon.« »Ist es tot? Die Hütte...« »Nein, Blume«, unterbrach sie Melelki, »die Hütte ist... zerstört.« »Zerstört?« Ihre Stimme klang traurig. »Die Eier...« Sekenas Stimme drang aus der Ruine zu ihnen herüber. »Ich habe eins gefunden«, verkündete sie und warf ein Holzstück beiseite, »Und hier ist noch eins. Das ganze Gebäude ist auf sie draufgefallen, und sie haben nicht mal einen Kratzer.« »Dracheneier«, nickte der Mensch. »Eins war voreilig, aber die anderen brauchen sicher noch ein paar Wochen. Untersucht sie nach dunkleren Flecken und Punkten. Sucht...« »Du.« Melelkis Wut regte sich wieder. »Du elender, stinkender, menschlicher Mistkerl...«
Er seufzte und erhob sich. »Sogar ein Ork zöge in Betracht, mir zu danken, Frau.« »Dank? Dafür, daß du uns nichts für das Nest geboten hast, daß du uns diesem Ungeheuer überlassen hast?« Er wandte sich ab und klopfte sich den Schnee vom Mantel. »Vielleicht Dank für das Leben deiner Tochter. Aber nicht von einer Zwergin. Natürlich nicht. Herzlose, selbstsüchtige Kreatur. Du gäbst eine gute Mutter für die Drachenjungen ab.« Sie stand auf und ging um ihn herum, um ihm den Weg zu blockieren, und starrte nach oben in die kalten blauen Augen. »Bah, du mußt gerade reden, versuchst uns zu betrügen und überläßt uns der Wut des Drachen!« »Ich hätte die Eier ja wenigstens mitgenommen. Dann wäre dies nicht...« Er wedelte mit der Hand, seufzte ergeben auf und machte eine abwehrende Bewegung. Er wollte um sie herumgehen, aber sie ließ ihn nicht vorbei. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Du solltest dich ein wenig fürchten, Frau. Sogar ein Erde-Zauberer ist gefährlich.« »Bah, du solltest für das bezahlen, das du verlangt hast.« »Ich kann nicht mit etwas bezahlen, was ich
nicht habe«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Nicht habe?« »Geld. Gold. Ich habe keins.« »Aber - wieso nicht?« »Du bist eine wißbegierige Kreatur, was?« Er grinste humorlos. »Aber ich bin nicht hier, um meine Erfolge zu besprechen. Oder die Mißerfolge.« Tamun stand unmittelbar hinter ihm. »Die Eier«, sagte sie plötzlich. Er drehte sich um, war einen Augenblick lang überrascht, wie dicht sie vor ihm stand. Sie richtete die dunklen Augen fest auf ihn. »Was tust du mit den Eiern?« Er erwiderte ihren Blick einen Moment lang, schaute dann zur Hütte, wo Sekena dabei war, noch mehr Holz zur Seite zu werfen, um die Eier freizulegen. »Das da.« »Was?« »Ich fülle sie mit elementarer Magie. Wenn ich es richtig anstelle, explodieren sie.« »Aber weshalb tust du das?« »Warum sollte ich dir das erzählen?« Sie streckte die Hand aus und legte sie ihm auf die Brust. Er zuckte zusammen, war unsicher, was geschehen würde. Zuerst schaute er lange auf ihre Hand, dann blickte er wieder in ihre Augen. »Was tust du?«
»Weshalb tust du das mit den Eiern?« fragte Tainun erneut. »Die Eier«, erklärte er, »sind Waffen. Ich...« Er hielt inne, schluckte. »Was tust du?« Melelki harte diesen Gesichtsausdruck schon gesehen, und jetzt lag er auf dem Antlitz des Menschen. Wo hatte sie ihn schon gesehen? Auf den Gesichtern der männlichen Zwerge. Oh. »Tamun«, flüsterte sie, »nein. Doch kein Mensch.« Sekena gesellte sich leise zu ihnen. »Die Eier«, drängte Tamun ohne das Flehen ihrer Mutter zu beachten. »Im Osten gibt es Kämpfe. Davon habt ihr gehört. Orks und Menschen. Aber das ist nicht alles. Havenwood hat mich beauftragt...« Er schüttelte den Kopf. »Du machst irgend etwas mit mir.« »Die Elfen haben dich beauftragt. Sprich weiter«, sagte Tamun. Eine seiner Hände hob sich zitternd und verhielt über Tamuns Hand. Einen Augenblick lang dachte Melelki, er werde ihre Hand wegreißen. Statt dessen drückte er seine Handfläche sanft auf Tamuns Fingerspitzen. »Havenwood beauftragte mich, beide Seiten anzugreifen und den Eindruck zu erwecken, als wäre es jeweils der Gegner. Ich überzeugte
menschliche Späher, daß die Orks eine Invasion planen würden. Dann schlich ich zu den Orks und half ihnen, Gefechtspläne - gegen meine eigenen Leute - zu entwickeln. Die ganze Zeit über griff ich beide Seiten an.« Melelki und ihre älteste Tochter wechselten rasche, besorgte Blicke. Sekena starrte mit dem Ausdruck äußerster Konzentration auf ihre Füße. »Aber warum wollen die Elfen so etwas?« »Weil...« Er schloß die Augen, atmete heftiger, seine Hand lag noch immer auf der Tamuns. »Weil die Elfen möchten, daß sich Menschen und Orks bekämpfen, und deshalb nicht weiter nach Osten in Richtung Havenwood kommen.« »Die Elfen haben durch dich einen Krieg angezettelt«, stellte Sekena fest. Er öffnete die Augen, atmete auf. »Ja.« »Und warum bezahlen sie dich nicht mehr?« Seine Stimme klang bitter. »Weil ich erfolgreich war. Der Krieg hat begonnen.« Melelki schnaubte. »Pah, das überrascht mich nicht. Elfen hassen es, sich die Hände schmutzig zu machen, nicht wahr? Aber sie lieben Spielchen. Jetzt ergibt es einen Sinn, daß sie so viele Waffen und Rüstungen kauften und herkamen, um uns anzuheuern, damit wir ihre Grenzen bewachen sollen. Widerliche Kreaturen.« »Aber wozu«, fragte Sekena,
»brauchst du dann diese Eier, wenn die Elfen doch nicht mehr zahlen?« Ein Lächeln breitete sich allmählich auf dem Gesicht des Menschen aus. »Ich hatte vor, Havenwood einen Schluck ihrer eigenen Medizin zu verabreichen. Ich dachte, daß sie es gern einmal aus der Nähe sähen.« Tamun erwiderte sein Lächeln - fröhlich, mit blitzenden Zähnen. »Aha! Wunderbar. Wir werden dich begleiten.« Melelki wandte sich ihrer Tochter zu. »Was?« »Ja, natürlich«, stimmte Sekena lächelnd zu. »Seid ihr verrückt?« fauchte Melelki böse. »Arbeitet die Erdenmagie bereits? Rührt sie eure Hirne zu Abfallsuppe? Wir haben nichts. Nichts, hört ihr? Vielleicht ein paar Goldstücke, irgendwo unter den Trümmern, die einmal unser Heim waren. Vielleicht. Wahrscheinlich nicht.« »Ja, Mama, genau«, stimmte Tamun zu. »Trümmer, fünfzehn Dracheneier und zwei Wochen. Das ist unser ganzes Vermögen. Also laß uns losziehen und diese ehrenwerten, edlen Elfen aufsuchen. Ich frage mich, wie sie die Art von Unterhaltung finden, die wir ihnen bieten können.« Sie ließ die Hand von der Brust des Menschen gleiten. Seine Hand folgte der ihren, als handle sie aus eigenem Antrieb. Die Finger der beiden umschlossen sich. Sekenas Gesicht leuchtete erwartungsvoll auf.
»Vielleicht können wir sie dazu bringen, sich untereinander zu bekämpfen.« »Oder aber unsere Dracheneier zu kaufen.« »Oder beides.« »Am Anfang des Winters?« schnaubte Melelki. »Hat euch die Kälte den Verstand eingefroren?« »Wir werden schnell vorankommen, Mama. Wir halten uns warm. Außerdem bleiben uns nur noch zwei Wochen bis zum Ausschlüpfen, dann haben wir es geschafft.« Melelki hatte das Gefühl, daß sie dafür bedeutend länger brauchen würden, wenn sie diese Reise anträten. »Wenn uns kalt wird, zünden wir ein Feuer an«, fuhr Sekena fort. »Oder der Mensch wird eines der Jungen für uns in die Luft jagen.« Der Magier stieß einen Laut aus. »Ich kann mich nicht erinnern, euch zum Mitkommen eingeladen zu haben.« Nun, dachte sich Melelki, es war nicht so, daß sie die Hütte durch Wunschgedanken wieder aufbauen konnten. Außerdem - hatte sie nicht geschworen, alles über Drachen herauszufinden, was nur möglich war? »Zwei Goldstücke«, fuhr er fort, »und ich nehme sie alle mit, aber ihr alle...« »Alle oder keine«, unterbrach ihn Melelki. Er sah zuerst sie an, dann Sekena und am
längsten Tamun, die sich die dicken Haarsträhnen aus dem leuchtenden Gesicht schob. Er ballte die freie Hand zur Faust, sah zur Seite, dann wieder zu Tamun. »Was stellst du mit mir an, Frau?« Sie lachte. »Tamun...«, sagte Melelki warnend und atmete tief durch. Man konnte nichts tun, wenn eine Zwergin in Hitze kam. Aber ein Mensch? Schon der Gedanke bescherte ihr ein seltsames Gefühl. Sekena rieb die Hände aneinander. »Laßt uns aufbrechen. Ich möchte gern ein Drachenjunges sehen. Bisher haben wir nur eine Nase gesehen. Außerdem friere ich vom Herumstehen. Also, Mensch...« »Ich habe einen Namen.« »So? Dann sag ihn doch.« Seine Augen ruhten noch immer auf Tamun. »Reod. Reod Dai.« »Seltsamer Name.« Reod schnaubte, starrte die anderen beiden düster an. »Es werden niemals Lieder über den Großmut der Zwerge gesungen.« »Reod Dai«, sagte Sekena und betonte die Worte sorgfältig. »Wo sind deine Fuhrwerke?« »Unten am Weg.« »Wir müssen noch einen Preis ausmachen«,
mischte sich Melelki ein. »Für unsere Eier.« Reod riß den Mund auf. »Frau, du überraschst mich.« »Tja, du kriegst sie nicht umsonst.« »Dann laßt uns die Fuhrwerke holen. Wenn es sein muß, kannst du unterwegs feilschen.« »Mama«, sagte Tamun, »Sekena und ich bleiben hier und holen die Eier unter den Trümmern hervor.« Der Blick ihrer ältesten Tochter verriet Melelki, daß sie auch nach den gesparten Goldmünzen suchen würden. Wenn Reod Dai fort war. Reod warf Tamun einen Blick zu, der teilweise besorgt und teilweise ganz anders geartet war. Sie schenkte ihm ein beruhigendes Lächeln und löste gleichzeitig ihre Hand aus der seinen. »Komm schon!« forderte ihn Melelki auf und verbarg ihre Belustigung, Aber über wen hätte sie auch lachen sollen? Über Tamun oder den Menschen? Und wer hätte das gedacht? Sie schüttelte den Kopf. Dann schritt sie zusammen mit dem Menschen den Pfad hinab. Die Sonne stieg höher und erwärmte die beiden. »Preis«, erinnerte sie ihn. »Preis«, schnaubte er verächtlich. »Welcher Preis? Ich kann dir nichts geben.«
»Ich nehme die beiden Goldstücke und...« »Und?« »Und ich erwarte von dir unterwegs den bestmöglichen Schutz, den du und deine Erdenmagie uns geben könnt. Und...« Er lachte ungläubig. »Und wenn wir es schaffen, mit den Eiern Geld zu verdienen, dann gehört uns dreiviertel davon.« »Dreiviertel? Ich denke nicht. Höchstens ein Viertel.« »Die Hälfte.« »Die Hälfte. Einverstanden. Früher warst du keine so schwieriger Verhandlungspartnerin.« »Ich habe dazugelernt. Von dir, Mensch. Reod Dai. Oder denkst du immer noch, daß wir Zwerge so dumm wie Tiere sind?« »Nein.« Er zögerte. »Wegen Tamun...« »Ach ja, das ist die andere Sache.« Er machte eine enttäuschte, abwehrende Handbewegung. »Ich feilsche nicht mit dir um die Zuneigung deiner...« »Einer Zwergin.« »Ja, einer Zwergin.« »So dumm wäre ich auch gar nicht. Aber du solltest begreifen, daß sie sich gerade in der ersten Hitze befindet. Es macht sie... auf verschiedene Arten stark. Es ist anders als bei euch Menschen.«
Mit trockenem Lächeln sagte er: »Das habe ich bemerkt.« »Und trotzdem erweckt sie deine Aufmerksamkeit?« »Jawohl.« Die Sonne schien durch die Bäume, und Melelki bemerkte, daß trotz aller Schrecken, die ihr und ihren Töchtern widerfahren waren, die Luft klar und hell war; es lag die Verheißung von etwas Neuem darin - wie eine Antwort auf die zwergische Neugier. Als gelte es, einen neuen Berg zu erklimmen. Und ihre älteste Blume war voll erblüht. Es war eine gute Zeit. Aber, dachte sie schaudernd, mit einem Menschen? »Es kommt mir seltsam vor, Reod Dai, daß du mit deinen ganzen Zauberkünsten - auch wenn es nur Erdenzauber sind - und deinem ganzen Wissen dich von einer einfachen Zwergin verführen läßt, die sich in der ersten Hitze befindet. Sicherlich hast du das - und Schlimmeres - schon erlebt. Ich bin sicher, da du ein Mensch bist und noch dazu ein Zauberer, wäre es dir ein leichtes, ihr zu widerstehen.« Eine Weile hörte man nur das Geräusch ihrer Stiefel, die auf dem strahlendweißen Schnee knirschten. Ein Lächeln glitt über seine Lippen. »Nun, mit Verführungsmagie ist es so: Es wirkt nicht, wenn
man sie nur in eine Richtung ausstrahlt.« Melelki dachte nach und blieb dann plötzlich stehen. Reod wandte sich ihr zu, ihre Stiefel hinterließen dreieckige Muster in dem frischgefallenen Schnee. Auf dem abschüssigen Pfad stand er ein wenig unter ihr, überragte sie dennoch und sah mit dem gleichen schiefen Lächeln auf sie herunter wie vor vielen Jahren. »Was redest du da?« »Die Bemühungen gehen niemals nur von einer Seite aus.« Sie musterte ihn ausgiebig. Groß und dünn. Sehr dünn. Leicht zu zerbrechen. Aber vielleicht doch nicht ganz so leicht, wie sie angenommen hatte. Sie ging weiter, und schweigend schloß er sich an, warf ihr hin und wieder einen Blick zu. Außer der gewohnten Überheblichkeit war noch etwas anderes darin zu lesen. Hoffnung vielleicht. Als sie tief einatmete, fiel ihr auf, daß der Mensch doch nicht so schlecht roch. Schließlich redete sie. »Und ich möchte auch, daß du uns vor dem Erfrieren bewahrst.« Er lachte, und Melelki vermeinte, hinter seiner Belustigung auch Erleichterung zu spüren. »Ich denke, daß laßt sich einrichten.« Sie lächelte ein wenig. »Das erwarte ich auch von dir.«
»Natürlich erwartest du das. Ich habe Glück, daß es soviel Erde auf dieser Welt gibt.« »Du hast Glück, so gute Gesellschaft zu haben.« »Ja«, sagte er leise, »das ist wahr.«