Mia Arrow
Das Tor
zur Hölle
Irrlicht Band 317
Walter fuhr schneller. Er hatte nur einen einzigen Gedanken im Kop...
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Mia Arrow
Das Tor
zur Hölle
Irrlicht Band 317
Walter fuhr schneller. Er hatte nur einen einzigen Gedanken im Kopf: Um Mitternacht mußte er in Aikbury sein. Die beiden Scheibenwischer versagten gleichzeitig den Dienst. Von einer Sekunde auf die andere konnte Walter nur noch etwas erkennen, wenn ein Blitz aufzuckte. Zum Glück folgten sie hintereinander in raschen Abständen. Walter fuhr weiter. Um Mitternacht, hatte die Frau gesagt. Walter neigte sich über das Steuer. Zwischen seinen Brauen stand eine steile Falte. Er würde nicht aufgeben. Er würde es schaffen. Bald würde er in Aikbury eintreffen. Länger als zwei Kilometer konnte es bis dort nicht mehr sein. Als der Wagen vornüber kippte, löste sich aus Walters Mund ein lauter Schrei. Um ihn herum wurde es dunkel. Er sah nicht mehr die Blitze, die in kurzen Abständen aufzuckten, und er hörte auch nicht mehr den dumpfen Donner. Die Dunkelheit war absolut…
Walter Smith war Professor an der Universität von London. Mit einunddreißig Jahren war er einer der jüngsten Hochschullehrer Großbritanniens. Wer ihn nicht kannte, hielt ihn vom Aussehen her eher für einen Studenten. Er war groß, kräftig und sportlich. Zum Haareschneiden nahm er sich selten Zeit. Erst wenn ihm die braunen Locken über den Hemdkragen gewachsen waren, ging er zum Friseur. Außer bei offiziellen Anlässen, wo ein Anzug vorgeschrieben war, trug er immer nur Jeans. Walter lehrte Geschichte. Sein Spezialgebiet waren die Kelten. Jenes Volk, das über Jahrtausende hinweg einen großen Teil Englands und Europas beherrscht hatte. Sie hatten eine Schrift von seltsamen geometrischen Zeichen hinterlassen, die bisher kein Mensch hatte entziffern können. Ihre Sagen von Hexen und Zauberern, von Helden und Verrätern, von hehren Göttern und den dunklen Mächten der Unterwelt waren mündlich von einer Generation an die nächste weitergegeben worden. Walter hatte sie gesammelt und in Büchern veröffentlicht. Seit Jahren versuchte er nun schon, die alten Schriftzeichen zu entziffern. Er kam damit nicht weiter, weigerte sich aber, einfach aufzugeben. Es war ihm, als hinge sein Leben davon ab. Sogar in dem heißesten Sommer dieses Jahrhunderts, als alle Welt in die Ferien gefahren war, beschäftigte er sich damit. Es ließ ihn nicht los. An einem Samstagnachmittag erkannte er, daß die Zeichen ihm für immer ein Buch mit sieben Siegeln bleiben würden. Er kam trotz aller Bemühungen nicht hinter ihr Geheimnis. Zornig warf er Bücher und Pergamente auf den Arbeitstisch. »Barbara«, rief er. Niemand antwortete.
Ihm fiel ein, daß Barbara zu ihrer Mutter gefahren war. Er verließ die Wohnung. Krachend fiel die Tür hinter ihm ins Schloß. Walter ging an der Themse entlang. Der Fluß wälzte sich trübe durch die Millionenstadt. Die Hitze war wie ein Feind, der die Menschen umzingelte. Sie waren wie betäubt von der stickigen Glut. Nach ein paar Kilometern blieb Walter abrupt stehen. Er wurde Zeuge eines seltsamen Schauspieles. Ein Mensch stürzte sich kopfüber von einem riesigen Kran, der am Ufer der Themse aufgebaut war, in die Tiefe. Die Hände hatte er dabei im Nacken verschränkt. Im allerletzten Augenblick, nur wenige Zentimeter über dem Erdboden, riß ein Gummiseil das arme Wesen an den Füßen auf die Plattform zurück. Ungehindert von der unerträglichen Hitze rannte Walter, so schnell er konnte, zu dem Kran. Glaubte er doch an ein ungeheuerliches Verbrechen, das da vor den Augen der Öffentlichkeit und am hellichten Tag passierte. Im gleichen Augenblick, als Walter keuchend bei dem Kran anlangte, trat ein Jugendlicher aus einem Fahrstuhl, der an der Außenwand des Krans angebracht war. Der Junge strahlte. »Ich sage dir, so etwas hast du noch nicht erlebt«, rief er. »Das ist ein absolut wahnsinniger Kick. Als würde sich die Erde unter dir auftun. Ich habe geschrien, laut geschrien. Ein Wahnsinn, ein echter Wahnsinn ist das BungeeSpringen.« »Wieso Bungee-Springen?« fragte Walter. »So nennt man das. Bungee. Hast du es etwa noch nie versucht?« »Nein, noch nie. Bungee. Ich habe noch nicht einmal davon gehört. Gibt es so etwas schon lange?«
»In New York gab es Bungee schon vor fünf Jahren. Klar, daß Bungee aus New York stammt. Da springen sie vom vierzigsten Stock runter bis zur Fifth Avenue. Ein Wahnsinn. Du mußt das unbedingt probieren. Das gibt den Kick.« »Ich bin nicht mehr so wild auf Kicks.« »Wenn du das nicht machst, versäumst du das Tollste, was es auf der Welt überhaupt gibt. Beim Absturz begreifst du auf einmal alles. Das Geheimnis der Welt. Was die Welt zusammenhält. Wenn du weißt, was ich damit sagen will.« »So ungefähr.« »Du kapierst plötzlich, was gewesen ist und was noch kommt. Die ganze Weltgeschichte, Tausende und Tausende von Jahren, schnurrt auf eine einzige winzige Sekunde zusammen. Das ist so, als würde ein Knoten platzen. Du stirbst und wirst neu geboren. Alles in einer Sekunde. Peng, macht es, peng, und du bist ein neuer Mensch.« »Wenn der Knoten platzt«, spottete Walter. »Der Knoten in dir«, rief der Junge. »Der Knoten, der dich blockiert. Du wirst es schon merken, wenn du springst. Es ist einfach der Kick. Ein Wahnsinns-Kick. Wenn du springst, dann weißt du genau, wovon ich spreche. Mit Worten kann man so was nicht erklären. Ich muß jetzt gehen. Tschüß bis zum nächsten Mal.« Der Junge lief die Uferstraße hinunter. Der Fahrstuhl stand noch immer vor Walter. Die Tür war weit geöffnet. Der Knoten, dachte Walter. Es hörte sich ganz verrückt an. Aber der Junge hatte gar nicht so unrecht. Walter hatte in letzter Zeit tatsächlich oft das Gefühl, als habe er einen Knoten in sich. Vielleicht kam es daher, daß er seit Jahren fast nur noch über Büchern saß. Früher hatte er Tiefseetauchen gemacht und war sogar auf die höchsten Berge der Welt gestiegen. Aber jetzt hatte er einen
Knoten in sich. Der Knoten war der Grund, weshalb er nicht weiterkam. Er war festgefahren. Sowohl was seine Beziehung zu Barbara betraf und was seine Arbeit anging. Der Knoten blockierte ihn. Er hinderte ihn am wirklichen Leben. Und wenn er versuchte, ihn loszuwerden? Der Sprung in die Tiefe. In den Abgrund. In dunkle Welten. Und dann zurückgerissen werden ins Licht. Sterben und neu geboren werden. Walter bezahlte ein paar englische Pfund. Er stieg in den Fahrstuhl. Eine Minute später befand er sich auf der Plattform des Krans. In der Höhe war die Hitze genauso unerträglich wie am Boden. Es herrschte zwar ein heftiger Wind. Aber er erfrischte nicht, sondern blies Walter Glutwolken ins Gesicht. Ein älterer Mann, der einen Buckel hatte und eine übergroße schwarze Sonnenbrille trug, legte Walter wortlos ein Gummiseil um die Fußknöchel. Tief unter sich sah Walter die Themse fließen. Sie kam ihm vor wie eine träge riesenhafte Schlange, die sich durch die Millionenstadt wand. Ihre Ufer waren gesäumt von Fabriken, Werften und Mietshäusern. Ganz London schien ein einziger Glutofen zu sein. Walter mußte plötzlich daran denken, wie er als Zehnjähriger zum ersten Mal von einem Zehn-Meter-Brett ins Schwimmbecken gesprungen war. Es war eine Mutprobe gewesen. Seine Freunde hatten am Beckenrand gestanden und gewartet, ob er es wohl wagen würde oder nicht. Er hatte es gewagt. Aber jetzt hatte er Angst.
Trotz der Hitze kroch ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Walter trat an den Rand der Plattform. Noch konnte er zurücktreten. Es war ein Wahnsinn. Sein Herz klopfte, als wollte es ihm die Brust sprengen. Die Knie zitterten erbärmlich. Er spürte das Seil an seinen Fußgelenken. Er würde nicht springen. Er war kein Wahnsinniger. Walter verschränkte die Hände im Nacken, wie er es bei dem Jungen gesehen hatte. Sie waren so naß, als hätte er sie in eine glitschige Brühe getaucht. Es war äußerst unangenehm. Er breitete die Arme weit auseinander. Er sprang. Er riß die Augen auf. Kopfüber stürzte er sich ins Bodenlose, in den Abgrund. In den Glutofen. In seiner Brust schien etwas zu reißen. Walter schrie laut auf. Vor Schmerz und vor Glück. Noch nie hatte er etwas Ähnliches gefühlt. Weder beim Tauchen in der tiefen See noch auf den Gipfeln der Berge. Noch niemals war er so frei gewesen, so losgelöst von allem Irdischen. Er wurde Teil des Universums, er gehörte dem Himmel wie der Erde an. Der Fluß unter ihm begann plötzlich in allen Regenbogenfarben zu glitzern. Purpur, Blau, Gelb, Grün, Orange – noch nie hatte Walter derart intensive Farben gesehen. Sie bildeten einen breiten Bogen aus metallisch aufflammenden Strahlen, der sich von einer Seite der Themse zur anderen spannte. Aus diesem bunten Bogen ragte ein mächtiges schiefergraues Urgestein heraus, auf das mit weißer Farbe geometrische Zeichen gemalt waren. Keltische Schriftzeichen.
Tod und Geburt, las Walter. Geburt und Tod, hämmerte es in seinem Kopf. Was ihm in jahrelanger Arbeit nicht gelungen war, enthüllte sich ihm in diesem einen Augenblick – er konnte die Zeichen lesen, die keltische Schrift. Tod und Geburt. Nur diese beiden Wörter. Dann zog sich das Gummiseil fest um seine Füße. Es ließ ihn in die Höhe schnellen, gab ihn gleich darauf wieder frei, riß ihn wieder hoch. Fallen und Hochziehen. Wie ein Gummiball sprang er auf und nieder. Drei, vier, fünf, sechsmal nacheinander. Dann stand Walter wieder auf der Plattform des Krans. Der glitzernde Regenbogen war zerrissen, die Themse wieder ein träger breiter Fluß. Kein Stein ragte aus ihren grauen Fluten hervor. Nur zwei mit Kohle beladene Schiffe und ein Ruderboot waren zu sehen. Der bucklige Mann, der Walter vor dem Sprung das Seil um die Füße gelegt hatte, streifte es ihm auch wieder ab. Er grinste schief. »Na, wie war es?« fragte er. Walter schüttelte nur den Kopf. Er konnte nicht sprechen. Nicht jetzt. Tod und Geburt, dachte er. Ende und Anfang. Warum aber nicht Anfang und Ende? Das Leben begann doch mit der Geburt und endete mit dem Tod. Nicht andersherum. Wie im Trance fuhr er mit dem Fahrstuhl nach unten. Als er den Asphalt unter den Füßen spürte, drehten sich die Themse, die Häuser und Werften vor seinen Augen. Um nicht umzufallen, mußte er sich gegen einen der schweren Eisenstützen des Krans lehnen. Sein Herz schlug ihm wild in der Brust. Nicht im gewohnten Rhythmus, sondern immer wieder stockend, um dann mit verstärkter Kraft neu einzusetzen. Schweiß perlte ihm von der
Stirn. Er sickerte ihm in schmalen Rinnsalen durch den Kragen seines Polohemdes auf die Brust. Als Walter sich das dichte braune Haar zurückstrich, merkte er, daß es so naß war, als habe er den Kopf unter einen dichten Wasserstrahl gehalten. Er atmete tief durch. Langsam beruhigte sich sein Herz. Etwas war mit ihm geschehen. Nie wieder, das wußte er, würde er der Gleiche sein wie vor dem Sprung. Walter ging zur Tower-Bridge. Mitten auf der Brücke blieb er stehen. Er legte die Hände auf die eiserne Brüstung und sah auf das langsam dahinfließende Wasser der Themse. Sein Blick ging hinüber zum Kran. Gerade sprang wieder jemand von der Plattform. Tod und Geburt. In dieser Reihenfolge.
*
»Walter, bist du es?« rief Barbara mit heller, fröhlicher Stimme. Sie kam aus der Küche ins Wohnzimmer. Um das hellblonde Haar hatte sie ein buntes Seidentuch gebunden. Sie war Sekretärin in einem Anwaltsbüro. Dort waren für die weiblichen Angestellten strenge Schneiderkostüme vorgeschrieben, weiße Hemdblusen und Schuhe mit halbhohen Absätzen. Sobald sie nach Hause kam, zog Barbara bequeme Kleidung an. An diesem Samstagnachmittag trug sie einen JoggingAnzug aus grüner Baumwolle. »Hallo, Barbara«, sagte Walter.
Barbara lief zu ihm. Sie war klein und grazil. Als sie ihm gerade von ihrem Besuch bei ihrer Mutter erzählen wollte, fiel ihr sein verändertes Aussehen auf. »Walter, was ist denn passiert? Du bist ja leichenblaß. Wo kommst du her?« fragte sie erschrocken. »Ich war beim Bungee-Springen.« »Bungee-Springen? Was ist denn das? Davon habe ich noch nie etwas gehört.« »Man fährt mit einem Fahrstuhl auf die Plattform eines Krans und stürzt sich in die Tiefe. Ein Seil reißt einen wieder nach oben.« Barbara starrte ihn entgeistert an. »Das darf doch wohl nicht wahr sein, Walter. Bei so etwas machst du mit?« »Barbara, ich habe die Zeichen gesehen.« »Welche Zeichen?« »Die keltischen Schriftzeichen. Sie waren in weißer Farbe auf einen riesigen Stein gemalt, der aus der Themse ragte. Es war der Stein, der bei der heidnischen Kultstätte der Kelten in Aikbury steht. Der größte, um den andere Steine einen Ringwall bilden.« »Und diesem Riesenstein sind also plötzlich Flügel gewachsen. Er hat sich in die Luft geschwungen und ist in die Mitte der Themse geflogen.« »Spotte nur.« Barbara schüttelte den Kopf und sah ihn mitleidig an. »Barbara, ich habe die Zeichen wirklich klar und deutlich vor Augen gehabt.« »Ja, ganz deutlich, Walter. Das glaube ich gern. Und ich kann dir auch zeigen, wo das war«, rief sie und lief in Walters Arbeitszimmer. Gleich darauf kam sie mit einer Fachzeitschrift zurück, die Walter seit Jahren abonniert hatte.
»Hier, Walter, da hast du deinen keltischen Stein und deine keltischen Zeichen«, triumphierte sie und reichte Walter die aufgeschlagene Zeitschrift. Zu sehen waren Fotos von einer dreitausend Jahre alten keltischen Kultstätte. Aufgerichtete Steine bildeten einen Kreis um einen Steinriesen, der mit weißen Schriftzeichen bemalt war. »Wer hat den heiligen Stein beschmiert?« las Walter mit halblauter Stimme aus dem Artikel vor. »Weit über 3000 Jahre hat eine der geheimnisvollsten heidnischen Kultstätten Englands die Zeiten unbeschadet überstanden. Bis im Juni dieses Jahres einer der heiligen Steinriesen von unbekannten Tätern mit weißer Farbe beschmiert wurde.« Walter starrte auf das Foto, das den Stein zeigte. Das erste Zeichen bedeutete Tod, das letzte Geburt. Die anderen Zeichen konnte Walter leider nicht entziffern. »Wann ist die Zeitschrift gekommen?« fragte er Barbara. »Sie lag heute in der Post. Ich habe sie, als ich vom Besuch meiner Mutter nach Hause kam, aus dem Briefkasten genommen und dir auf den Schreibtisch gelegt.« »Dann kann ich die Zeitschrift also noch gar nicht gelesen haben.« »Wahrscheinlich hast du von den Schmierereien aus der Zeitung erfahren. Oder es stand in einer anderen Zeitschrift.« »Nein, Barbara, nein. Ganz bestimmt nicht. Das wüßte ich doch. So etwas hätte ich nicht vergessen. Ich habe den Stein mit den Schriftzeichen in der Themse gesehen. Er stand mir genauso klar vor Augen wie du in diesem Moment.« Barbara gab es auf. Sie umarmte Walter. »Laß uns nicht mehr davon reden«, bat sie. »Du denkst also, daß ich spinne.« Sie strahlte ihn an. »Ja, aber das macht nichts. Dann liebe ich eben einen Spinner.«
Wie sie so vor ihm stand, fragte Walter sich zum ersten Mal, ob er sie eigentlich noch liebte. Aber war sie nicht ein Mädchen zum Liebhaben? Kein anderes, das er kannte, war so fein und so zart wie sie. Keine hatte so schöne blaue Augen und seidenweiches hellblondes Haar wie Barbara. Sie besaß die Anmut einer schönen Blume und die Heiterkeit eines Kindes. »Walter, komm zu dir«, sagte Barbara mit leiser Stimme. Nein, er liebte sie nicht mehr. Er erkannte es plötzlich mit aller Klarheit. Vielleicht hatte er sie niemals wirklich geliebt. Im Grunde seines Herzens hatte er immer nach einer Frau gesucht, die ganz anders war als Barbara. Nach einer, die nicht fein und zart war, sondern wild und leidenschaftlich. Keine anmutige Blume, unschuldig und rein, sondern eine Frau, die tief in die Geheimnisse des Lebens eingedrungen war. Vor Walters innerem Auge tauchten auf einmal wieder die beiden Zeichen auf, die er entziffert hatte. »Tod und Geburt«, flüsterte er. »Was sagst du?« fragte Barbara. »Nichts.« »Du hast Tod und Geburt gesagt.« Er konnte nicht mit ihr darüber sprechen, daß es die Zeichen für Tod und Geburt waren, die auf den Stein gemalt waren. »Ich weiß selbst nicht mehr, was ich so rede«, meinte er. Barbara legte ihre zarten Hände auf seine breiten Schultern. »Liebster, Walter-Schatz, dieses Bungee-Springen hat dich anscheinend völlig durcheinander gebracht. Deine Nackenmuskeln sind ganz verspannt. Du legst dich jetzt aufs Sofa, und ich reibe dich mit Massageöl ein.« Um weiteren Diskussionen aus dem Weg zu gehen und etwas Zeit zum Nachdenken zu finden, legte Walter sich bäuchlings auf die Couch.
Barbara holte das Massageöl aus dem Badezimmer und strich mit kreisenden Bewegungen über seine verspannten Muskeln. »Merkst du, wie gut dir das tut?« fragte sie. »Ja, es ist wunderbar.« »Atme ganz ruhig, Liebster. Entspanne dich. Mach’ die Augen zu.« Walter schloß die Augen. »00.777.468.468«, murmelte er. »Was ist?« Walter sprang auf. »00.777.468.468«, wiederholte er. »Was ist mit dieser Zahl, Walter?« Er lief, ohne zu antworten, zum Telefon und wählte die Nummer. Kurz darauf meldete sich die tiefe dunkle Stimme einer Frau. »Betty Brown.« Walter preßte den Telefonhörer fest an sein Ohr. »Hallo, wer ist da bitte?« rief die Frau, die sich mit Betty Brown gemeldet hatte. »Mein Name ist Smith, Walter Smith.« »Mister Smith, Sie wollten mich sprechen?« »Ja.« »Ich verstehe. Sie möchten mitmachen bei dem Fest.« »Ja.« »Seien Sie kurz vor Mitternacht bei mir. Wir gehen zusammen nach Aikbury. Aber kommen Sie nicht zu spät. Wenn Sie nicht rechtzeitig da sind, muß ich leider ohne Sie gehen.« »Ich werde pünktlich sein.« »Gut, ich werde Sie erwarten, Mister Smith.« Walter wollte noch so viel fragen. Er hörte jedoch ein Knacken in der Leitung. Die Frau hatte aufgelegt. »Was ist denn jetzt schon wieder passiert?« wunderte sich Barbara. Er schüttelte nur den Kopf. »00.777.468.468«, wählte er mit zitternden Fingern.
»Walter, was soll das alles?« rief Barbara. »Bitte sei still, Barbara.« Am anderen Ende der Leitung nahm niemand den Hörer ab. Walter versuchte es noch einmal, aber es meldete sich niemand. »Das war eine Frau, mit der du gesprochen hast, Walter, nicht wahr?« fragte Barbara. »Ja, eine Frau.« »Was wolltest du von ihr? Warum hast du sie überhaupt angerufen?« »Ich mußte es eben tun.« »Walter, komm zu dir.« »Sie hat gesagt, daß ich morgen kurz vor Mitternacht bei ihr sein soll.« »Wer hat das gesagt?« »Sie heißt Betty Brown.« »Wer ist diese Betty Brown, Walter?« »Ich weiß es nicht.« »Mein armer Schatz. Es ist noch viel schlimmer, als ich befürchtet hatte. Ich koche dir jetzt erst einmal einen Tee, und dann schläfst du dich aus. Morgen wirst du wieder einen klaren Kopf haben.« »Nein, Barbara, nein. Keinen Tee. Ich muß zu ihr fahren.« »Walter, höre auf mit diesem Unfug. Setz dich auf den Sessel und sage am besten gar nichts mehr. In zwei Minuten ist der Tee fertig.« »Ich kann nicht warten, Barbara.« »Eine wildfremde Frau bestellt dich also einfach zu sich nach Hause. Kurz vor Mitternacht. Und du hast nichts Eiligeres zu tun, als zu ihr zu fahren.« »Sie ist keine wildfremde Frau, Barbara.« »Ich weiß. Sie heißt Betty Brown. Aber du kennst sie nicht.« »So ist es.« »Walter, wo wohnt diese Frau?« »In Aikbury.«
»In Aikbury liegt doch die keltische Kultstätte mit dem Steinriesen, den irgend jemand bemalt hat.« »Genau.« Walter lief plötzlich ins Schlafzimmer. Er nahm eine Reisetasche aus einem Schrank. Wahllos warf er Wäsche, ein Hemd und einen Pullover hinein. Zum Schluß zog er den Reißverschluß zu. Barbara war ihm gefolgt. Als Walter die Tasche hochheben wollte, legte sie ihm eine Hand auf den Arm. »Walter, fahr nicht zu dieser Frau. Ich bitte dich.« »Ich muß es tun, Barbara.« »Sie wird alles Schöne zwischen dir und mir zerstören. Ich fühle es.« Er schüttelte ihren Arm ab. »Es tut mir wirklich leid, Barbara. Aber ich muß mich jetzt beeilen.« Walter hängte sich die Reisetasche über die Schulter. Sein Gesicht drückte die Entschlossenheit aus, sich unter keinen Umständen von Barbara zurückhalten zu lassen. »Walter, wenn du schon fahren mußt, dann nimm mich mit«, rief Barbara. »Nein, das ist ganz unmöglich.« Sie sah ihn mit großen Augen an. »Walter, du liebst diese Frau, nicht wahr?« »Ich kenne sie ja nicht einmal.« »Das glaube ich dir nicht, Walter. Du spielst mir etwas vor.« Barbara kämpfte mit den Tränen. »Du müßtest eigentlich wissen, daß ich kein guter Schauspieler bin, Barbara.« Sie schluchzte auf. »Ich wollte das nicht sagen. Aber ich bin so unglücklich, wenn du gehst.« Walter zwang sich zur Ruhe. Sie war ein wunderbares Mädchen, und es war gewiß nicht ihre Schuld, daß er sie nicht mehr liebte.
»Walter, sag’ mir die Wahrheit«, flehte sie. »Liebst du mich noch?« Er stöhnte innerlich auf. »Walter, ich kann eher mit der Wahrheit als mit einer Lüge leben«, flüsterte sie verzweifelt. »Barbara…« Ihre Augen waren jetzt voll von Tränen. Eine rollte die Wange hinunter. »Wenigstens die Wahrheit, Walter«, hauchte sie. Er schämte sich, weil er kein Mitleid für sie empfinden konnte. »Es gibt keine andere Wahrheit als die, die ich dir schon gesagt habe, Barbara.« Sie war sekundenlang wie erstarrt. Plötzlich schlug sie die Hände vor das Gesicht und warf sich bäuchlings auf die gelbe Bettdecke. Walter sah auf ihren unter heftigem Schluchzen zuckenden Körper. Er kam sich vor wie ein Unmensch, weil er dieses zarte, liebevolle Wesen unglücklich machte. »Barbara, bitte wein nicht«, bat er. Sie schluchzte nur noch mehr. Er zögerte noch einen kurzen Augenblick. Dann ging er wie einem inneren Befehl gehorchend mit schnellem Schritt aus der Wohnung. Vorsichtig ließ er die Tür hinter sich ins Schloß fallen. Um kurz vor Mitternacht sollte er bei ihr sein, hatte sie ihm gesagt. Um an dem Fest teilzunehmen.
*
Walter kannte den Weg zu den berühmten keltischen
Steinriesen gut. Er war im Laufe des Jahres des öfteren dort
gewesen, um Fotos zu machen und wissenschaftliche Studien zu betreiben. Die Kultstätte lag etwa fünf Fahrtstunden von London entfernt in einer abgelegenen und rauhen Gegend von Wales. Der Name des nächsten Ortes war Aikbury. Ein Kilometer dahinter waren die Steilküste und das Meer. Walter fuhr schneller als sonst. Er wollte noch vor Anbruch der Dunkelheit in Aikbury ankommen. Die Wege dorthin waren nicht befestigt. Nachdem Walter die Autobahn verlassen hatte, wurde die Fahrt recht beschwerlich. Von Kilometer zu Kilometer wurden die Wege schmaler und steiniger. Obwohl Walter jetzt sehr vorsichtig fuhr, schlugen immer wieder Steine von unten her gegen die Karosserie des Wagens. Walter vertraute auf die Robustheit seines Autos. Es war zwar schon über zwanzig Jahre alt, aber ein äußerst solides Modell. Ein Onkel hatte es ihm vererbt. Bisher hatte es ihn noch nie im Stich gelassen. Als Walter nur noch wenige Kilometer von seinem Ziel entfernt war, begann der Motor zu stocken. Gleich darauf setzte er ganz aus. Walter stieg aus. Er war kein praktisch veranlagter Mensch. Mit Autos kannte er sich überhaupt nicht aus. Er wußte gerade noch, wo der Motor war. Es begann schon zu dämmern. Walter ging um den Wagen herum. Dabei stieß er mit der Schuhspitze gegen den grauen Leib einer Schlange, die in Windeseile davonhuschte und unter einem Stein verschwand. Rechts und links des Weges weideten auf dürrem Gras Schafe und einige Ziegen. Am niedrigen Himmel, hinter graugrünen Hügeln, schien sich ein heftiges Sommergewitter zusammenzubrauen. Der feuchtwarme Wind, der vom Meer
her kam und sich Walter wie eine Filmschicht auf das Gesicht legte, trieb blauschwarze Wolkenberge über das Land. Zwei Elstern, die größer waren als alle Elstern, die Walter jemals zuvor gesehen hatte, flogen mit wildem Gekreisch so niedrig über seinem Kopf hinweg, daß sie ihn fast streiften. Gleich darauf schwangen sie sich in die Luft. Schließlich stürzten sie wie todessüchtige Kamikaze-Flieger auf einen umgestürzten Baum zu. Dort setzten sie sich auf einen kahlen schwarzen Ast, der wie ein grausiges Mahnmal hoch in die Luft ragte. Von einer Menschenseele war weit und breit nichts zu sehen. Walter beschloß, den Wagen stehenzulassen und zu Fuß weiterzugehen. Es konnte nicht mehr allzuweit sein nach Aikbury. Wenn er Glück hatte, würde er vielleicht doch noch auf einen Menschen treffen, der ihn mitnahm. Er war kaum ein paar Schritte gegangen, da fielen auch schon die ersten Regentropfen. Sie waren schwer wie kleine Gewehrkugeln. Kurz darauf wurden sie zu einem wahren Trommelfeuer. Walter lief zum Wagen zurück. Hinter ihm kreischten die Elstern. Der Wind blies ihm die Haare ins Gesicht. Er warf sich in den Fahrersitz, schlug die Tür hinter sich zu. Der Regen trommelte auf das Dach und gegen die Scheiben. Es sah nicht so aus, als würde das Unwetter bald aufhören. Walter versuchte noch einmal zu starten. Zu seiner Überraschung sprang der Motor auf Anhieb an. »Na also. Warum nicht gleich so«, sagte er und gab Gas. Der Regen wurde jetzt so stark, daß der schmale Weg zwischen den Weiden zu einem Bach wurde. Die Erde verwandelte sich in Matsch, in den die Räder einsanken. Es gelang Walter, den Wagen auf die Weide an seiner linken Seite zu steuern. Hier war der Boden fester. Inzwischen war es
stockdunkel geworden, so daß er die Scheinwerfer anmachen mußte. Blitze zuckten auf. Der darauffolgende Donner hörte sich an, als würde die Erde förmlich auseinanderbrechen. Walter fuhr schneller. Er hatte nur einen einzigen Gedanken im Kopf: Um Mitternacht mußte er in Aikbury sein. Die beiden Scheibenwischer versagten gleichzeitig den Dienst. Von einer Sekunde auf die andere konnte Walter nur noch etwas erkennen, wenn ein Blitz aufzuckte. Zum Glück folgten sie hintereinander in raschen Abständen. Walter fuhr weiter. Um Mitternacht, hatte die Frau gesagt. Walter neigte sich über das Steuer. Zwischen seinen Brauen stand eine steile Falte. Er würde nicht aufgeben. Er würde es schaffen. Bald würde er in Aikbury eintreffen. Länger als zwei Kilometer konnte es bis dort nicht mehr sein. Als der Wagen vornüber kippte, löste sich aus Walters Mund ein lauter Schrei. Um ihn herum wurde es dunkel. Er sah nicht mehr die Blitze, die in kurzen Abständen aufzuckten, und er hörte auch nicht mehr den dumpfen Donner. Die Dunkelheit war absolut. Aber sie hatte nichts Beängstigendes, sondern umfing ihn wie ein Brett aus weicher Watte. Er verspürte keinen Schmerz. Die Zeit schien aufgehoben zu sein. Nach einer Weile wurde es wieder hell. Walter sah sich in der Luft schweben. Sanft, wie von Engelsflügeln gehalten. Ein paar Meter unter ihm, in einem Flußbett, lag sein Wagen. Ein dunkles Wrack. Die vordere Windschutzscheibe war zerbrochen, der Kühler eingedrückt. Oberhalb des Flusses, auf dem Rasen, grasten die Schafe und Ziegen. Nur von den beiden Elstern war nichts mehr zu sehen.
Auf einem vorspringenden Felsbrocken sah Walter sich selbst liegen. Er hatte die Beine angewinkelt. Der Kopf war zur Seite geneigt, die Augen waren geschlossen. Es sah aus, als würde er friedlich schlafen. Wieder zuckte ein Blitz nach dem anderen auf. Donner grollte. Der Regen fiel in Strömen. Aber er machte Walter nichts aus. Er berührte ihn nicht. In der Welt, in der er war, gab es keine Nässe und keine Trockenheit. Auch keine Gefahren und deshalb keine Angst. Walter überkam eine große Heiterkeit. Er genoß die völlige Schwerelosigkeit. Wie merkwürdig das alles war. Bin ich der Mensch dort, fragte er sich. Bin ich denn tot? Ja, das muß wohl so sein. Das ist mein Körper. Meine grüne Hose. Meine Schuhe. Mein weißes Polohemd. Der Verlobungsring an der rechten Hand. Ein schlichter goldener Reif ohne jede Verzierung, wie Barbara es gewollt hatte. Aus weiter Ferne war der leise Klang eines hellen Glöckchens zu hören. Es folgte wunderschöne harmonische Musik, ähnlich dem Klang einer Windharfe. Plötzlich erinnerte Walter sich, daß er um Mitternacht erwartet wurde. Seien Sie pünktlich, hatte die Frau gesagt. Sonst würde sie ohne ihn zu dem Fest gehen. Er meinte ihre dunkle Stimme zu hören. Die Heiterkeit verließ ihn. Statt dessen überkam ihn jetzt ein Gefühl grenzenloser Angst. Er mußte unbedingt zu dieser Frau. Nach Aikbury. Zu dem Fest. Zu dem heidnischen Stein, auf dem die Worte Tod und Geburt standen. Er war tot. Aber er würde nicht wiedergeboren werden. Wer tot war, konnte schließlich nicht noch einmal geboren werden. Es hätte Geburt und Tod heißen müssen. Aber nicht Tod und Geburt.
Die Musik brach abrupt ab. Walter spürte, wie er in eine enge Röhre hineingezogen wurde. Es war schrecklich. Er sträubte sich mit aller Kraft gegen den Sog, der ihn in die Röhre zog. Aber es half ihm nichts, daß er sich wehrte. Um ihn herum wurde es wieder dunkel. Nach einer Weile bemerkte er am Ende der Röhre einen schwachen Lichtschein. Die Helligkeit zog ihn mit aller Macht an. Er mußte zu dem Licht gelangen. Es wurde heller und heller. Endlich nahm es die Farben eines Regenbogens an. Zentimeter um Zentimeter schob Walter sich vorwärts. Mit den Schultern und mit den Hüften. Wie ein Bogen, der sich über einen dunklen Fluß spannte, war das Licht. Walter war sicher, schon einmal etwas Ähnliches gesehen zu haben. Er wußte aber nicht mehr, wo und wann das gewesen war. Noch nie hatte Walter sich so angestrengt. Zum Licht. Er reckte den Kopf, bis es ihn schmerzte. Gar zu gern hätte er die Hand nach dem Licht ausgestreckt. Aber seine Schultern saßen fest in der Röhre. Um Mitternacht, hatte die Frau ihm gesagt. Er solle pünktlich sein. Walter schob den Kopf aus der Röhre. In das Licht. Das Licht. Er schrie hellauf. Es war wie der Schrei eines Neugeborenen.
*
»Hast du es gehört, John?« »Was soll ich gehört haben?« »Den Schrei. Es war ein Kind, das geschrien hat.« »Was du auch immer meinst. Es war der Wind.«
»Nein, John, es war ein Kind.« »Du immer mit deinem Kind. Überall hörst du Kinder weinen und rufen.« »Diesmal ist es aber wirklich eines.« »Genauso wirklich wie die letzten Male. Kann ich vielleicht etwas dafür, daß du kein Kind hast?« »Das habe ich dir niemals vorgeworfen.« John rieb sich mit der Faust die kantige Stirn. »Konntest du auch nicht. Mit einer anderen Frau hätte ich zehn Kinder gehabt. Es ist deine Schuld, daß wir keine Kinder haben.« »Nein, es ist weder meine noch deine Schuld, John. Der Himmel hat uns eben keine Kinder geschenkt.« »Der Himmel.« »Die Götter.« John lachte grob. Ruth legte den rechten Finger über ihre Lippen. »Pst, ich höre es weinen.« Sie lief zur Tür. Schon war John bei ihr. »Wo willst du hin, Frau?« »Zu dem Kind.« »Das Kind gibt es aber nur in deinem Kopf.« »Es ruft nach mir.« John riß die Holztür auf. Sie knarrte in den eisernen Angeln. Obwohl es noch lange nicht Mitternacht war, herrschte draußen Finsternis. Der Regen rauschte in Bächen vom Himmel. Kein einziger Stern war zu sehen. Ruth lauschte mit halboffenem Mund. Plötzlich stürzte sie ins Freie. »Ruth!« rief John. Sie hörte ihn nicht. »Ruth!« John warf die Tür hinter sich ins Schloß und rannte hinter seiner Frau her. Bald waren sie beide bis auf die Haut durchnäßt.
»Da ist es, da!« rief sie und streckte triumphierend den rechten Arm aus, um ihm die Richtung zu zeigen. Als ihr einfiel, daß John es in der Dunkelheit nicht sehen konnte, griff sie nach seiner Hand. Es war eine tellergroße Pranke. Er stieß die wildesten Flüche aus. Zum hundertsten Mal verfluchte John jenen Tag, an dem ihm eingefallen war, mit seiner Frau aufs Land zu ziehen, um in der Einöde von Wales Schafe und Ziegen zu züchten. In die reine unverfälschte Natur, hatte er gesagt. Ruth war lange Zeit dagegen gewesen. Halb widerstrebend war sie ihm schließlich gefolgt. Sie hatten einen alten Hof gekauft und sich dort häuslich mit ihrem Viehzeug eingerichtet. Es war während der ersten Monate so gewesen, wie er es sich vorgestellt hatte. Er und Ruth waren wie die ersten Menschen gewesen. Sie hatten von dem gelebt, was die Natur ihnen gab. Es war nicht viel, aber doch genug gewesen. Nichts und niemand hatte die Idylle gestört. Bis Ruth Frauen aus der Umgebung von Aikbury kennengelernt hatte, die sich Priesterinnen nannten und einem heidnischen Zirkel angehörten, der sich auf die alte Religion der Kelten berief. John hatte Ruth den Umgang mit diesen Frauen verbieten wollen. War doch bis zu dem Zeitpunkt immer er es gewesen, der über ihr gemeinsames Leben bestimmt hatte. Aber plötzlich war alles anders geworden. Ruth hörte nicht mehr auf ihn. Er besaß keine Gewalt mehr über sie. Ob er sie bat, anflehte, anschrie, ihr drohte – sie tat nur noch, was sie wollte. Sie begann sogar über ihn zu lachen, ihn lauthals zu verspotten. Und sie wollte ihn nicht dabei haben, wenn sie sich mit den anderen Frauen traf. Sie war nicht mehr die Ruth, die er gekannt hatte.
Stark war sie geworden. Eine Frau, die die Magie beherrschte. Die in der Lage war, kraft ihres Willens zu heilen. Die behauptete, mit ihrem inneren, ihrem geistigen Auge in die Vergangenheit schauen zu können. Eine Frau war sie geworden, vor der John sich immer mehr zu fürchten begann. Die sich weigerte, den Hof und die Tiere und alles aufzugeben, was sie sich erschaffen hatten. Zurückzukehren in die große Stadt, das war sein Wunsch. Wo es keine heiligen Kultstätten, keine keltischen Riten und keine heidnischen Zauber gab. Zu Menschen, die in Mietshäusern wohnten, die einen Beruf hatten und abends Skat spielten. Die in Supermärkten einkauften und die sich amüsierten, wenn sie das Wort Magie hörten. Solle er doch gehen, hatte Ruth ihm gesagt. Sie werde für immer an diesem Ort bleiben, wo die Kelten vor über dreitausend Jahren ihr Heiligtum errichtet hatten. Und John war geblieben. Denn seine Liebe zu Ruth war noch stärker als seine Furcht und auch als seine Wut. Er konnte nicht weggehen ohne sie. Je öfter sie ihn dazu aufforderte, desto stärker fühlte er sich an sie gebunden. Er war von ihr abhängig geworden. Manchmal hatte er den Verdacht, daß sie ihn verhext hatte. Daß sie keine keltische Priesterin war, wie sie es immer behauptete, sondern eine ganz gewöhnliche Hexe. Eine von den Frauen, die man in früheren Jahrhunderten auf dem Scheiterhaufen verbrannt hätte. John wünschte manchmal, daß es diesen Brauch noch immer gäbe. Statt dessen aber konnte er nur noch fluchen und höhnen. Obwohl er nur zu gut wußte, daß es nichts nutzte und er damit nur seine Hilflosigkeit ausdrückte. Er griff jetzt fester nach Ruths Hand. Sie war nur halb so groß wie die seine. Und doch kam es ihm vor, als sei sie viel kräftiger geworden.
»Laß uns umkehren, Ruth. Sei vernünftig. Es gibt hier kein Kind«, erklärte John. »Pst. Wir sind ganz nah.« Als sei es hellichter Tag, führte Ruth ihren Mann durch die Finsternis zu einem Taleinschnitt. Normalerweise floß dort nicht mehr als ein Rinnsal. Der starke Regen hatte daraus ein reißendes Gewässer gemacht. »Paß auf, Ruth, geh’ nicht zu nahe an den Rand. Das Wasser hat die Erde unterspült. Es wird uns mitreißen«, warnte John mit lauter Stimme. »Halte nur meine Hand fest«, versuchte sie ihn zu beruhigen. Gleich darauf blieb sie stehen. »Was ist denn nun mit dem Kind?« höhnte John. Sie lauschte auf eine Stimme, die nur sie hörte. »Dort liegt es. Auf der anderen Seite des Flußbettes.« »Auf der anderen Seite. Das ist so ähnlich, als würde es auf dem Mond liegen. Denn bei diesem fürchterlichen Regen führt kein Weg über den Fluß. Es sei denn, du willst dich ertränken.« Ruth ließ die Hand ihres Mannes los. Bevor er sie daran hindern konnte, sprang sie leicht und behende auf einen Stein, der aus dem strömenden Wasser hervorguckte. Von dort aus hüpfte sie zu einem nächsten und wieder zum nächsten. Bis sie auf der anderen Seite des Flusses angelangt war. »Du, mein Kind«, flüsterte sie, als ihre Hand Walters Körper berührte. »Ruth«, gellte Johns entsetzter Schrei. Ruth legte Walter eine Hand auf die Stirn. Sie war kalt und naß. »Ruth! Ruth!« Sie neigte sich zu Walter hinunter. Kein Atemhauch streifte ihr Gesicht. Behutsam, leicht wie eine Feder, berührte sie mit den Lippen seine geschlossenen Augenlider.
»Ruth!« Sie richtete sich auf. »Er ist hier. Auf der anderen Seite. Beeil dich, John Bendley.« Wieder war lautes Fluchen zu hören. Wenige Minuten später war John bei seiner Frau. Ein Blitz zuckte auf. »Von wegen ein Kind«, schrie John außer sich vor Wut. »Das ist ein ausgewachsener Mann. Und ein kräftiger noch dazu. Er hatte einen Unfall. Da unten im Fluß liegt das Autowrack. Was geht uns der Mann überhaupt an?« »Wir müssen ihn ins Haus bringen.« »Ins Haus? Zu uns? Jetzt?« John lachte haßerfüllt auf. Ruth faßte ihn scharf ins Auge. Er hörte sofort auf mit dem Lachen. »Es geht nicht. Das mußt du doch einsehen, Ruth. Wir können ihn nicht ins Haus tragen«, sagte er. »Du wirst es schaffen.« »Nein, Ruth, das schafft kein Mensch.« »Du wirst es schaffen, John.« Er fühlte sich wieder einmal von ihr bezwungen. Alles in ihm sträubte sich dagegen, diesen fremden Mann in sein Haus zu bringen. Aber er mußte es tun. Weil sie es so wollte. Ihr Wille war stärker als der seine. John preßte die Lippen aufeinander. Diese Frau war keine Priesterin und keine Hexe. Sie war des Teufels. John hob Walter hoch und warf ihn sich über die linke Schulter. »Nimm jetzt meine Hand, John. Halte sie gut fest. Ich führe dich.« … »Wie ein lichter Engel. Ich weiß«, höhnte er, während er ihre Hand umfaßte. Mit der anderen stützte er den Körper des Mannes auf seiner Schulter. Als sie über die Steine stiegen, rutschte Walters Körper weg. John fing ihn im letzten Moment auf und trug ihn auf den
Armen weiter. Wankend und unter seiner Last fluchend brachte er ihn nach Hause. »Hier hast du dein Kind«, höhnte er und ließ Walters Körper auf eine Strohmatratze fallen. Sie lag auf dem Boden einer Vorratskammer. An den gekalkten Wänden, auf soliden Brettern aus Eichenholz, standen Krüge und Schüsseln mit frischgemolkener Schafsund Ziegenmilch. Daneben lagerten kleine runde Käse. In die meterdicken Steinwände waren zwei schmale Löcher, nicht größer als Schießscharten, eingelassen. Sie waren nicht verglast, so daß der Wind ungehindert eintreten konnte. Der Boden bestand aus schweren Steinquadern. Möbel wie Stühle oder Tische waren nicht vorhanden. Ruth neigte sich über Walter. John stand hinter ihr. Er hatte eine Öllampe angezündet. Der schwache Lichtschein beleuchtete Walters Gesicht. Es war wachsbleich. Die Augen lagen tief in den Höhlen. »Was habe ich dir gesagt – es ist ein lebloser Mensch, den ich ins Haus geschleppt habe. Die Mühe hätte ich mir sparen können«, sagte John ergrimmt. »Schweig!« »Sobald der Regen aufhört, bringe ich ihn dorthin zurück, wo ich ihn hergeholt habe.« »Wirst du wohl schweigen!« »Er bringt uns doch nur Ärger. Später wird man noch behaupten, daß wir es waren, die ihn getötet haben.« Ruth kniete vor die Strohmatratze nieder. Sie hatte der Öllampe den Rücken gewandt. Wo der Schein des Lichts hinfiel, leuchtete ihr rotes wild gelocktes Haar, das ihr bis auf den Rücken fiel, wie Kupfer auf. Sie nahm eine dünne goldene Kette, an der ein steinernes Amulett hing, von ihrem Hals. Nachdem sie es geküßt hatte, legte sie es Walter auf die Brust.
Danach hockte sie sich auf die Fersen und richtete den Oberkörper auf. Mit langsamen Bewegungen malte sie Walter das gleich geometrische Zeichen auf die Stirn, das auf dem Amulett angebracht war. »Das Hexenzeichen wird einen Toten auch nicht zum Leben erwecken. Tot ist tot«, höhnte John. Ruth achtete überhaupt nicht auf seine Worte. Ihr Gesicht zeigte gesammelten Ernst. Sie begann, mit gemessenen Schritten um die Matratze zu gehen. Es waren drei Kreise, die sie zog, und einer war kleiner als der andere. »In diesen geheiligten Kreis, wo alles Liebe ist, rufe ich die Geister der Kelten. Kommt als unsere Beschützer«, murmelte sie. John stieß einen Laut aus, in dem seine ganze Verachtung lag, die er für derartige Beschwörungen empfand. »Die Geister der Kelten. Da könntest du ebensogut den Herrn der Unterwelt anrufen. Damit er etwas zu lachen hat.« Um zu zeigen, wie sich das anhören würde, brach John in dröhnendes Gelächter aus. Ruth blieb dicht vor John stehen. Sie war eine stattliche Frau. Das rote Haar umrahmte mit wilden Locken ein längliches Gesicht mit hoher Stirn. Das Auffallendste darin waren die großen grünen Augen. Sie funkelten John an. »Geh, John Bendley!« befahl sie ihm mit fester Stimme. Er bäumte sich innerlich auf. Was war aus ihm geworden? Was hatte sie aus ihm gemacht? Seinen Stolz hatte sie mit Füßen getreten. »Ich bin dein Mann und gehe, wann ich es will«, donnerte er aufgebracht. »Du kannst mir nichts befehlen. Ich war Schwergewichtskämpfer und Goldwäscher. Ich bin zur See gefahren und habe in Kohlengruben geschuftet. Soll ich mir jetzt vielleicht von einer Frau befehlen lassen, wann ich zu
gehen habe? Aus meinem eigenen Haus, das ich mit meiner Hände Arbeit gebaut habe? Ich bin noch immer dein Mann, und du bist meine Frau. Solltest du das vergessen haben?« Er wollte Ruth grob an sich ziehen. Sie trat einen Schritt zurück. »Du wirst es nicht wagen, mich zu berühren. Nie mehr wirst du mich umarmen, John Bendley. Du bist nicht mehr mein Mann.« Er starrte sie entgeistert an. Seine Nasenflügel weiteten sich. Sein Atem ging hörbar. Die langen kräftigen Arme hingen ihm an den Seiten herab. Er hatte die schweren Hände zu Fäusten geballt. »Ich bin nicht mehr dein Mann? Das hast du gesagt?« »Warum gehst du nicht endlich, John Bendley? Ich brauche dich nicht mehr.« »Du brauchst mich nicht mehr. Sehr schön. Du brauchst mich also nicht mehr. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan. Der Mohr kann gehen. Aber wenn ich wirklich gehe, bist du in dieser verdammten verlassenen Einöde verloren. Hier kann keine Frau allein überleben. Auch du nicht, Ruth.« Sie warf einen lächelnden Blick auf Walter. In ihre Augen, die gerade noch so zornig geblitzt hatten, trat ein Ausdruck von weicher Zärtlichkeit. »Du irrst, John. Ich bin nicht mehr allein«, flüsterte sie. Sein Grinsen wurde zu einer häßlichen Fratze. »Was willst du mit einem Toten?« In diesem Moment kam von Walters Lippen ein leises Stöhnen. Ruth kniete sofort wieder vor ihm nieder und strich ihm das Haar aus der Stirn. »Mein Kind«, flüsterte sie. »Was hast du da gesagt? Was ist das für eine Sprache?« rief John. Sie sah zu ihm auf. Ihr Gesicht war wie verklärt. »Es ist keltisch«, antwortete sie auf Englisch.
John zog die buschigen Augenbrauen zusammen. »Ich dulde diese Hexensprache nicht in meinem Haus.« Sie sah ihn mitleidig an. »Ist es dein Haus?« »Es war nicht sehr viel mehr als ein Stall, als wir hier einzogen. Ich habe daraus mit meinen Händen ein Haus gebaut.« Er streckte ihr wie zum Beweis seine riesigen roten Hände entgegen. »Also gut, John. Wenn du nicht gehen willst – möchtest du, daß wir dein Haus verlassen?« »Wir? Wen meinst du mit >wir