Atlan - Im Auftrag der Kosmokraten
Nr. 677 Hexenkessel Alkordoom
Das Kristallkommando von Peter Terrid
Auf ...
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Atlan - Im Auftrag der Kosmokraten
Nr. 677 Hexenkessel Alkordoom
Das Kristallkommando von Peter Terrid
Auf der Welt der Nachtgeister
Nur unter großen Mühen schaffte es Atlan im Jahre 3808, die verlorengegangenen Koordinaten von Varnhagher‐Ghynnst wieder in seinen Besitz zu bringen und danach das Generationenschiff SOL seiner Bestimmung als Spoodiesammler bei den Kranen zuzuführen. Anschließend trat Atlan im Jahre 3811 gemäß den Wünschen der Kosmokraten seine Aufgabe als Orakel von Krandhor an, um an der Entwicklung der Pufferzone zwischen den im Konflikt liegenden Superintelligenzen ES und Seth‐Apophis mitzuwirken. Im Jahr 3818 wird Atlan jäh aus seinem beschaulichen Orakeldasein herausgerissen, denn die Kosmokraten benötigen seine Dienste an anderer Stelle viel dringender. Da der Arkonide erfährt, daß vom Erfolg oder Mißerfolg seiner Mission das weitere Schicksal der Mächte der Ordnung abhängt, geht er selbst das größte Risiko ein. Er läßt sich quasi in Nullzeit über weite Sternenräume in die Galaxis Alkordoom versetzen, wo er bereits in den allerersten Stunden seines Aufenthalts den ganzen Erfahrungsschatz seines 12.000 Jahre währenden Lebens einsetzen muß, um bestehen zu können. Der Todestest beweist Atlans Überlebenspotential. Doch dieser Potential wird fast überfordert auf der Welt der Nachtgeister, denn sie ist der Einsatzort für DAS KRISTALLKOMMANDO …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide im Piloteneinsatz. Kennennick ‐ Ein skrupelloser Thater. Gentile Kaz ‐ Beherrscher des Sektors Ordardor. Ily Locarnen ‐ Eigner der KHARLHON. Gräzzer ‐ Ein eigenartiger Roboter. Ishan‐Khan ‐ Ein Weltraumpirat.
1. Behutsam tupfte Ily Locarnen die Schweißtropfen von der Stirn der Kranken. Ata hatte den Kopf auf die Seite gelegt und atmete schwer. Jeder Atemzug klang wie ein Seufzer. »Ach, Junge«, ächzte Ata. »Was kann ich für dich tun?« fragte Ily sanft. »Möchtest du noch etwas essen?« »Nur das nicht«, murmelte Ata Locarnen schwach. »Beim Sternenfeuer, nein. Ich könnte jetzt keinen Bissen herunterbringen. Nicht in diesem Zustand. Aber du könntest mir ein paar Gahyn‐ Früchte pürieren, vielleicht kann ich das hinunterbringen.« Ily lächelte und stand auf. »Ich werde sehen, was sich machen läßt«, sagte er und verließ die Kabine. Langsam schritt er durch die Gänge der KHARLHON. Der Anblick, der sich ihm bot, war wenig dazu angetan, seine Laune zu heben. Die KHARLHON hatte ein beträchtliches Alter auf dem Buckel, seit mehr als sieben Generationen stand sie in Diensten der Familien Locarnen, und in diesem Dienst hatte sie manche Schramme abbekommen. Vor allem hatte das Schiff den Abstieg der Familie mitgemacht – einstmals Flaggschiff einer schmucken Flotte schneller Karawanenkreuzer war sie jetzt das einzige Schiff, das der Familie geblieben war. Und mit der Familie selbst war es in ähnlicher Weise bergab gegangen. An diesen ersten Tagen des Jahren 5000 d.E. bestand die
Sippe praktisch nur aus zwei Personen – aus Ily Locarnen und der Schwester seines Vaters. Alle anderen Sippenmitglieder waren gestorben oder über ganz Alkordoom verstreut. An den Wänden waren die Behänge verschlissen, blätterte der Lack ab und machte sich der Rost breit. Die Leuchtkörper waren stumpf und fleckig, die Bodenbeläge sahen aus, als hätten sich die vom Hunger geplagten Nager aus den Laderäumen aufgemacht, um ihren Appetit an den Teppichen zu stillen. Vermutlich fanden sie in den Laderäumen nichts mehr – seit über einem Jahr hatte Ily keinen Auftrag mehr bekommen. Gräzzer fuhr eines seiner zahlreichen Augen aus, als Ily in die Zentrale kam. »Du warst bei deiner Tante«, meinte Gräzzer. »Man kann es dir ansehen.« »Es geht ihr nicht gut«, sagte Ily und setzte sich seufzend auf den Sitz des Piloten. »Sie möchte Gahyn‐Früchte püriert haben«, sagte Ily seufzend. »Wir haben aber keine mehr an Bord.« »Sollte das Tantchen vergeßlich geworden sein?« meinte Gräzzer. Gräzzer war knapp zwei Meter lang und einen Meter dick, eine metallene Wurst auf einem Kranz von Armen, Beinen, Stielaugen und Werkzeugen. Es gab an diesem Körper mindestens vierhundert verschiedene Auswüchse, deren Funktion Ily nicht kannte – wahrscheinlich nicht einmal Gräzzer selbst. Ilys Vater hatte den Robot vor vielen Jahren einmal bei einem riskanten Spiel gewonnen – und das war dann auch der letzte Gewinn, den er jemals gemacht hatte, ein höchst zweifelhafter zudem. Nur wenige Tage nach seinem Auftauchen an Bord geriet die KHARLHON in einen Hypersturm, büßte ein Triebwerk ein und verlor obendrein die letzte wirklich gewinnbringende Fracht. Die Ladung aus hochleistungsfähigen Positronengehirnen wurde von den Partikeln des Sturms in einen Haufen Schrott verwandelt. Auch Gräzzer hatte es dabei erwischt – aber sein Gehirn schien recht eigenwillig konstruiert zu sein. Einen Totalausfall hatte es nicht gegeben – aber
dafür war der Wurstrobot recht wunderlich geworden. Wäre es nach Tante Ata gegangen, wäre Gräzzer längst von Bord geflogen, aber Ily hatte sich durchsetzen können und den Robot behalten – schließlich hatte er als Kind mit Gräzzer gespielt. »Was machen wir jetzt?« fragte Ily und sah seinen metallenen Freund an. »Konkurs«, meinte Gräzzer und wedelte mit einigen seiner Arme. »Spotte nicht«, sagte Ily. »Wir Locarnens sind schon immer Händler gewesen, und mit dieser Tradition will ich nicht brechen.« »Sie wird mit dir brechen«, konterte Gräzzer trocken. »Wenn du jetzt aufhörst, wirst du anschließend ein armer Mann mit einer Menge Schulden sein – und was das heißt, weißt du wohl. Man wird dich einfangen, einsperren und frei verkaufen. Und bis du deine Schulden abgearbeitet hast, werden deine Haare grün sein.« »Das wird Tantchen nicht überleben«, murmelte Ily. »Auch eine Lösung«, gab Gräzzer zum Besten. Ily hatte nie begreifen können, wie es möglich war, daß ein Roboter – selbst einer mit defekter Positronik – ein lebendes Wesen nicht leiden konnte. Genau das war aber der Fall – Gräzzer und Tante Ata konnten sich nicht ausstehen und gifteten sich ständig an. »Laß die Tante in Ruhe. Sie hat ein sanftes Herz. Nach dem Tod meiner Eltern hat sie mich aufgezogen. Sie ist immer gut zu mir gewesen.« »Richtig«, meinte Gräzzer trocken. »Sie hat immer dein Bestes gewollt und meistens auch gekriegt.« »Etwas mehr Respekt«, forderte Ily müde. Er stand auf und warf einen Blick auf den Schirm. Die KHARLHON schlich förmlich durch das Universum. Geschwindigkeiten von mehr als einhundert LG verursachten bei der Tante Magendrücken, Schwindelanfälle, Herzrasen, Atemnot und fliegende Hitze. Jenseits der tausendfachen Lichtgeschwindigkeit kamen dann noch Unterleibsschmerzen, Zahnfäule und brüchige Fingernägel dazu. Daher schlenderte die
KHARLHON mit zehnfacher Lichtgeschwindigkeit durchs All. Die Aussichten, in das frühere Expreßtransportgewerbe zurückzukehren, waren daher nicht allzu rosig. Ily schlich in die Küche. Es ließ sich nicht mehr verheimlichen – die Lage war ernst. Die Vorräte gingen zur Neige – vor allem die Proteinflocken, die die Tante zum Frühstück brauchte, würden bald erschöpft sein. Ily mixte aus den Restbeständen einen halben Liter einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit zusammen. Mit Hilfe von Lebensmittelfarben versuchte er dann, diesem Trank die gleiche Farbe zu geben, wie sie pürierte Gahyn‐Früchte aufwiesen. Der Versuch gelang einigermaßen. Ein wenig in Sorge kehrte Ily zu seiner Tante zurück. Sie lag im Bett und röchelte leise vor sich hin. Ily stellte den Becher ab und richtete sie auf. Vermutlich hatte sie wieder entschieden zu wenig von ihrer Medizin genommen. Er öffnete den kleinen Schrank, holte die dickbäuchige Flasche heraus und goß eine kräftige Portion davon in den Becher. Dann setzte er ihn an die Lippen der Kranken und flößte ihr vorsichtig den Trank ein. Ata öffnete die Augen und sah Ily leicht verglast an. »Guter Junge«, flüsterte sie matt. »Wenn ich dich nicht hätte …« »Trink«, sagte Ily sanft. »Es wird dir guttun.« Tante bemerkte den Schwindel nicht. Es war ein deutliches Zeichen dafür, wie krank sie war, und Ily empfand große Schuldgefühle, seine leidende Tante derart zu hintergehen. Ata leerte den Becher in zwei gierigen Zügen, dann sank sie in die Kissen zurück. Ein gleichmäßiges Schnarchen zeigte an, daß sie eingeschlafen war. Leise entfernte sich Ily aus der Kabine. »Es muß etwas geschehen«, murmelte er. Gräzzer kam über den Flur gewackelt. Er hatte die Worte gehört. »Du wirst etwas tun müssen«, kommentierte er. »In drei Tagen sind unsere Energiereserven aufgebraucht – denk daran.« »Auch das noch«, jammerte Ily. »Wie soll ich das der Tante
sagen?« »Sie wird es schon merken«, meinte Gräzzer. »Erst wird das Licht ausgehen, dann gibt es keinen Sauerstoff mehr, und wenn die KHARLHON auch im Inneren bis auf den absoluten Nullpunkt durchgekühlt ist, wird die gute Tante schon merken, was passiert ist.« »Du bist widerlich«, stieß Ily hervor. Gräzzer fuhr zwei seiner Augen bis auf einen Meter aus und verknotete die beiden Stiele. »Ich bin ein Einzelgeschöpf«, verkündete er. »Daran liegt es.« Durch alle Räume der KHARLHON war das schrille Fiepen zu hören. Die Antennen des Schiffes mußten etwas aufgefangen haben. »Hoffentlich wird Tante nicht wach«, murmelte Ily und stürzte in die Zentrale. »Richtig«, bemerkte Gräzzer. »Hoffentlich hält sich die Katastrophe in Grenzen.« Die Antennen hatten etwas aufgefangen – einen Notruf. Irgendwo, und zwar ganz in der Nähe, war ein Schiff in Raumnot. Für Ily gab es da kein Zögern – hilfsbereit, wie er war, beschleunigte er die KHARLHON. Der Bordrechner ermittelte unterdessen, wo das fremde Raumschiff zu finden war. »Seltsam«, stieß Ily hervor. »Nur ein allgemeiner Notruf, keine Positionsangabe, kein Sprechtext. Was mag da passiert sein?« »Vielleicht eine Tante in Not«, spottete Gräzzer. Endlich hatte der Rechner ermittelt, wo das havarierte Raumschiff zu finden war. Ily änderte den Kurs und ließ die Triebwerke stärker arbeiten. Einen Augenblick lang dachte er an die zerrüttete Gesundheit seiner Tante, aber dann ließ er die KHARLHON mit höchster Fahrt auf das Ziel zurasen – Tante würde sicherlich Verständnis dafür haben. Schließlich handelte es sich um einen Notfall. »Prächtige Arbeit«, sagte Gräzzer, als die KHARLHON in den Normalraum zurückfiel. »Fang an zu zählen …«
Ily schluckte. Die KHARLHON war präzise ein paar Lichtminuten von dem fremden Raumschiff herausgekommen und raste nun auf gerader Linie auf den Havaristen zu. Genaugenommen waren es sogar zwei – ein kleiner Raumer und ein mittelgroßer, der längsseits gegangen war. Ily verzögerte mit allem, was die KHARLHON hergab. Der Abstand verringerte sich trotzdem rasend schnell. Gräzzer schaltete den Normalfunk ein. Das Bild stabilisierte sich rasch und zeigte das Bild eines stämmigen Mannes mit grünen Locken, einem dichten Bart und einem überaus verzweifelten Gesichtsausdruck. »Wir kommen zu Hilfe«, beeilte sich Ily zu versichern. »Gleich sind wir bei euch.« »Verschwinde, Bürschchen!« schrie der Bärtige. »Hau ab, sonst blasen wir dich aus dem Raum.« Ily konnte, während er an den Kontrollen der KHARLHON herumhantierte, im Hintergrund des Bildes die Zentrale des Schiffes erkennen. In einer Ecke lag ein Verunglückter, zwei Männer schleppten gerade Notvorräte davon, ein weiterer Mann trug eine verletzte junge Frau über der Schulter. Die Kranke, vermutlich im Fieberwahn, schrie, strampelte und schlug auf ihren Retter ein. Ily sah, daß er aus der KHARLHON das letzte herausholen mußte, wollte er eine Kollision vermeiden. Er ließ die Korrekturtriebwerke arbeiten, und die KHARLHON machte einen Satz in die Höhe. »Der Narr wird uns noch rammen!« schrie der Bärtige. »Schießt ihn ab!« Psycho‐Seuche, diagnostizierte Ily. In Krankheiten kannte er sich dank Tante Ata aus. Auf den beiden Schiffen mußte eine Seuche ausgebrochen sein, die die Geistestätigkeit beeinträchtigte. Anders war es nicht zu erklären, warum plötzlich auf die KHARLHON geschossen wurde. Da sie zu diesem Zeitpunkt gerade wieder einen Satz machte – ungewollt – verfehlte der Schuß sein Ziel. Dafür traf Ily ins Schwarze.
Die Restfahrt der KHARLHON war nicht mehr sehr hoch, obendrein waren alle drei Schiffe mit Prallfeldern zum Schutz vor festen Körpern ausgerüstet. Dennoch war der Schlag gewaltig, der die Schiffe traf. Ily wurde nach vorn geschleudert. Die Gurte des Pilotensitzes rissen mit einem Schnalzgeräusch, und Ily wäre mit dem Kopf in den Panoramaschirm geflogen, hätte nicht Gräzzer ein paar Arme ausgefahren und ihn im Flug aufgefangen. Aus den Lautsprechern erklang Wutgebrüll. »Fangt diesen Narren ein! Ich will ihn haben.« »Ily, was ist los? Was hast du schon wieder gemacht?« Ily, der sich gerade wieder aufrichtete und versuchte, den Schreck zu verdauen, seufzte. Die Tante war wach geworden. »Nichts, Tante«, sagte er hastig. »Nichts von Bedeutung.« »Das zu entscheiden überlaß mir«, ereiferte sich Ata. »Ist das Schiff explodiert?« »Nein, Tante!« Nach dem Zusammenprall war die KHARLHON weitergeflogen, wie ein Ball, der auf eine Wand geworfen war. Jetzt wurde diese Fahrt abrupt gestoppt. Ily schwankte und mußte sich festhalten. Aus einem der Lautsprecher erklang ein Entsetzensschrei. »Hör sofort damit auf, Ily!« bestimmte Ata. »Traktorstrahl«, diagnostizierte Gräzzer. »Sie haben uns.« »Ein Glück«, freute sich Ily. »Dann können wir ihnen zu Hilfe kommen.« »Unsere Hilfe werden die gerade brauchen«, kommentierte Gräzzer. »Du entschuldigst – ich habe noch etwas zu erledigen.« »Nur zu«, ermunterte ihn Ily. »Bereite die Medostation vor, vielleicht haben sie dort drüben auch Verletzte. Und sieh nach, was für Mittel wir für Seuchenbekämpfung zur Verfügung haben.« Als die Schiffe wieder zusammentrafen, war der Ruck sehr sanft. Der harte Schlag, mit dem sich Magnetanker des Havaristen an der Hülle der KHARLHON festsetzten, war im ganzen Schiff zu hören.
»Endlich«, freute sich Ily. Eine Lage wie diese hatte er sich immer gewünscht – einmal in großem Stil helfen zu können, ein vollbesetztes Raumschiff aus höchster Not zu befreien und dafür bewundert und gefeiert zu werden. Tante würde mächtig stolz auf ihn sein. Tante erschien im Eingang zur Zentrale, als Ily sich gerade auf den Weg zur Schleuse machen wollte. Ata starrte zunächst Ily an, dann fiel ihr Blick auf den Bildschirm. Ihre Augen wurden groß und rund, dann stieß sie einen Seufzer aus und fiel um, Ily genau in die Arme. Wieder gab es einen harten Schlag, und ein paar Augenblicke später blies die Klimaanlage einen Geruch durch das Schiff, der verdächtig an Sprengstoff erinnerte. »Sie müssen wirklich sehr verzweifelt sein«, vermutete Ily. Er überlegte, wohin er die ohnmächtige Tante verfrachten sollte. Auf dem fremden Schiff tobte eine Seuche, und Ata war überaus geschwächt – es war wohl am besten, sie in einen Raum zu sperren, in den neue Krankheitskeime keinen Zutritt finden konnten. Ächzend schleppte Ily die Tante durch die Gänge der KHARLHON. Er verfrachtete sie in einen Nebenraum der Medosektion. Der Raum konnte luftdicht verschlossen werden und hatte eine eigene Sauerstoff‐ und Energieversorgung. Danach hastete Ily zur Schleuse, um den Notsuchenden schnellstens helfen zu können. Auf den Anblick, der sich ihm bot, war er nicht gefaßt. In der gesprengten Schleuse standen sieben verwegen dreinblickende Gestalten, flankiert von einer Gruppe nicht minder grimmig dreinblickender Roboter. »Ach du liebe Güte«, entfuhr es Ily. Offenbar war die Seuche über die Passagiere hereingebrochen, als sie gerade einen Maskenball gefeiert hatten. Auch die Waffen sahen überaus echt aus. Sie waren echt … Ily sah das rötliche Leuchten an der Mündung, und nun begriff er
endlich, daß er selbst dringend Hilfe brauchte – und daß es dafür entschieden zu spät war. Der vorderste der Weltraumbanditen fixierte Ily. »Ein Jünglein«, sagte er abschätzig. Ily fühlte sich versucht einzuwenden, daß er immerhin schon zwanzig Jahre alt war – für einen Sternenfahrer doch schon ein hinreichendes Alter. Aber der Raumbrigant sah nicht danach aus, als würde er sich auf Diskussionen einlassen. Ily schwieg vorsichtshalber. »Komm«, sagte der Pirat. »Unser Anführer will dich sehen.« »Und was will er von mir?« fragte Ily. Die Roboter packten ihn und stießen ihn vorwärts. »Das wirst du noch erfahren«, sagte der Pirat – und Ily begann zu frösteln. 2. Ishan‐Khan, der Anführer der Briganten, war ein Thater von beachtlichen Proportionen. Eines seiner Augen fehlte und war durch eine Prothese ersetzt worden. Der Ersatz war leicht zu erkennen – zum einen schimmerte das Auge himmelblau, zum anderen hatte es einen ausgesprochen freundlichen Ausdruck. Das echte Auge, groß und rot, hatte dagegen einen Ausdruck, der Ily überhaupt nicht gefiel. Ishan‐Khan hatte sich in prunkvolle Gewänder gewickelt, vermutlich zusammengeraubt. Heftig schluckend sah Ily, daß der Kolben von Ishan‐Khans Waffe einen erschreckend abgenutzten Eindruck machte. »Das ist er, Khan!« Ily wurde nach vorn gestoßen und machte ein paar Schritte, um nicht zu fallen. Unmittelbar vor dem Khan blieb er stehen. Der Khan war fast zwei Schritt größer als Ily, und so von oben herab
betrachtet zu werden, ließ Ily frösteln. »Du wagst es also, uns zu rammen, wie?« Ily machte das klägliche Gesicht, das zu seiner Stimmung paßte. Er hatte fürchterliche Angst. »Ich habe das nicht gewollt«, behauptete er. »Ich wollte euch doch nur zu Hilfe kommen.« Ily mochte es, wenn gelacht wurde, aber nicht dieser Art und Weise – wenn er der Gegenstand dieses höhnischen Gewiehers war. »Was habt ihr geladen?« fragte der Khan. »Nichts«, mußte Ily gestehen. Der Khan sah nach einem seiner Untergebenen. »Er sagt die Wahrheit – die Laderäume sind leer.« »Und wie sieht das Schiff von innen aus?« fragte der Khan. Die Antwort war die, die Ily befürchtete. »Eine Rostbüchse, Khan, zu nichts mehr zu gebrauchen.« Der Khan schüttelte grimmig den Kopf. »Also gut«, sagte er schließlich. »Steckt den Knaben zu den anderen. Er wird uns hoffentlich genug einbringen, um die Beulen auszugleichen, die er uns geliefert hat. Das Schiff wird gesprengt.« »Nein!« schrie Ily auf. »Das dürft ihr nicht.« Der Khan lachte boshaft. »Freundchen, wenn wir nur täten was wir dürften, hätten wir wenig zu tun. Sprengt das Schiff …« Der Thater starrte Ily an. »Augenblick …« Der Khan hob die Hand und stoppte seine Untergebenen, mit der anderen zog er Ily näher heran. »Ist das Wrack etwa nur eine Art Tarnung? Spuck es aus, Knabe – was habt ihr an Bord versteckt?« Ily schluckte. Tante würde sicherlich sehr ärgerlich werden, wenn er ihr Versteck verriet, aber Ily konnte schließlich nicht zulassen, daß sie von den Piraten getötet wurde. »Meine Tante ist noch an Bord«, sagte er stockend. Der Khan begann zu grinsen.
»Na also«, sagte er. » Schafft das Weib heran. Wenn er sie versteckt hat, wird sie wohl eine Menge wert sein. Und den Jungen bringt zu den anderen Gefangenen.« * Das Jammern und Klagen nahm kein Ende, es war nervenzerfetzend. Das Schiff, das die Raumpiraten aufgebracht hatten, hieß OPPRATH und war ein nicht sehr neuer Passagierraumer – den Waffen der Weltraumplünderer hatte dieses Schiff nichts entgegenzusetzen gehabt. Die Gefangenen waren im großen Speisesaal der OPPRATH zusammengesperrt worden – an die siebenhundert Personen, deren Heimatwelten über den ganzen Sektor verstreut sein mußten. So viele verschiedene Wesen hatte Ily noch nie auf einem Haufen gesehen. »Wo kommst du her?« Die Stimme gehörte zu einem Mädchen, das in Ilys Alter sein mußte. Sie hatte die leuchtendsten grünen Augen, die Ily je gesehen hatte, und ihr Pelz sah wundervoll weich aus. Ily schluckte. Außer seiner Tante hatte er seit sieben Jahren keine Frauensperson seiner Spezies mehr zu Gesicht bekommen, und er wußte nicht, wie man sich in einer solchen Lage verhielt. Um nichts Dummes zu sagen, hielt er erst einmal den Mund. »Kannst du nicht reden? Ach nein, jetzt wird er auch noch gelb, wie süß.« Wenn Ily in Gegenwart von Frauen etwas sein wollte, dann ganz bestimmt nicht süß, und daß er gelb anlief, machte ihn noch mehr verlegen und verstärkte den Farbton. Ily deutete nach draußen. »Von einem anderen Schiff«, brachte er schließlich hervor. Verärgert stellte er fest, daß seine Zahnplatten zu klappern
begannen. Auch seine Stimme hatte nicht die Tiefe und Festigkeit, die er sich gewünscht hätte. »Du bist einer der Piraten!« stieß das Mädchen hervor. Ihr Pelz verfärbte sich ein wenig nach rot. »Nein, nein«, beteuerte Ily eilig. »Sie haben uns auch gekapert, und ich war so dumm, ihnen genau entgegenzufliegen.« »So siehst du auch aus«, sagte das Mädchen spöttisch. Ily entschloß sich, so schnell wie möglich ein anderes Thema anzuschlagen. »Und wer seid ihr?« fragte er. Das Mädchen seufzte. »Wir machen einen Pilgerflug«, sagte sie leise. Verwundert sah Ily die Passagiere an. Sie sahen nicht aus wie religiöse Fanatiker, eher ein wenig alt, müde und gebrechlich. »Wohin wollt ihr denn pilgern? Und warum überhaupt?« »Wir wollen zum Wunderkristall von Lummensand«, erklärte das Mädchen. »Nie gehört«, offenbarte Ily. »Was bist du nur für ein ungebildeter Bursche. Jeder in der Sektion kennt doch den großen Kristall, der seit zwanzig Jahren immer wieder einmal aufgetaucht und wieder verschwunden ist. Vor fünfhundert Tagen Ortszeit ist er auf Lummensand gelandet, und dort ist er jetzt noch.« »Ein fliegender Kristall?« sagte Ily zweifelnd. »Mehr als das«, beteuerte das Mädchen. »Er kann Wunder bewirken, die ganze Sektion spricht davon. Er läßt Gliedmaßen nachwachsen, heilt von allen möglichen Gebrechen, verleiht neue Kraft, gibt Frauen die Fruchtbarkeit zurück …« Jetzt war es das Mädchen, das gelb anlief. Ily, der nicht begriff, was daran peinlich sein sollte, hielt sich zurück. »Und alle diese Leute wollen nach Lummensand?« fragte er. Das Mädchen nickte. »Sie wollen sich dort heilen lassen. Die meisten sind von ihren Heilkundigen aufgegeben worden, ihre ganze Hoffnung ist
Lummensand. Aber jetzt ist es wohl nichts damit, im Gegenteil.« »Was haben die Piraten vor?« Das Mädchen schluckte. »Sie haben uns alles weggenommen, was von Wert ist«, berichtete sie. »Auch alle Vorräte haben sie geplündert.« »Nun ja«, meinte Ily. »Trotzdem …« Er dachte an entsprechende Durststrecken an Bord der KHARLHON. »Und später wollen sie uns als Sklaven verkaufen«, stieß das Mädchen hervor. »Die Alten und Kranken wollen sie umbringen, die Männer kommen in die Bergwerke, und die Mädchen und jüngeren Frauen sollen an den Pascha von Zorpp verkauft werden.« Ily schluckte. »Aber da muß man doch etwas unternehmen«, sagte er heftig. »Was denn? Wir sind völlig ohne Waffen, und von der Besatzung dieses Charterschiffs sind zwei Dutzend bereits zu den Piraten übergelaufen.« »Loslassen! Nehmt eure schmierigen Pfoten von mir!« Ily schrak zusammen. Diese Stimme kannte er – Tante Ata in bemerkenswert schlechter Laune. Sie erschien im Eingang zum Speisesaal, flankiert von zwei Piraten. Hinter ihr tauchte Ishan‐Khan auf und grinste tückisch. »Herhören«, sagte er mit lauter Stimme. »Ihr wolltet also nach Lummensand, nicht wahr. Nun gut, wir werden nach Lummensand fliegen.« Ily seufzte erleichtert, das Mädchen bekam wieder runde Augen. Ilys Tante, von den Piraten zu den anderen gestoßen, hatte die Hände in die Hüften gestemmt und zankte herum. »Das werdet ihr Halunken bereuen«, verkündet sie. »Einer alten kranken Frau so etwas anzutun.« Wortlos ließen die Piraten das Schott zugleiten und nahmen Tantes Redestrom so das Ziel. Sie schüttelte die Fäuste und verstummte.
»Wer ist das?« fragte das Mädchen. »Meine Tante«, antwortete Ily kläglich. »Sie ist sehr krank …« »Für eine Kranke hat sie eine bemerkenswert kräftige Stimme«, meinte das Mädchen. Ily richtete sich auf. »Das ist die Lösung«, sagte er. »Natürlich, daß ich darauf nicht gekommen bin. Aber wie sollte ich auch, ich habe schließlich nie etwas von der Sache gehört.« »Wovon redest du?« fragte das Mädchen. Ata hatte Ily in der Menge ausgemacht und bahnte sich resolut einen Weg zu ihrem Neffen. »Was hast du dir dabei gedacht?« fragte Ata, kaum daß sie in der Nähe war. »Warum hast du das getan? Wie, stellst du dir vor, soll das jetzt weitergehen? Ich bin krank und brauch Pflege. Hier werde ich elend umkommen, und es wird deine Schuld sein.« Bei jedem Satz schien Ily innerlich ein wenig zu schrumpfen. Das Mädchen ließ den Blick von Ata zu Ily wandern und zurück. Sie hatte den Mund offenstehen und zeigte so bemerkenswert hübsch gemusterte Zahnplatten. »Du wirst schon sehen, Tante, es wird alles gut werden«, begann Ily. Er wollte so schnell wie möglich ein anderes Thema anschlagen. »Und was deine Krankheit betrifft – du hast ja gehört, was der Khan gesagt hat. Wir fliegen nach Lummensand, und der Wunderkristall wird sicherlich auch deine Krankheit heilen.« »Heilen?« ereiferte sich Ata. »Heilen? Ja bist du denn von Sinnen!« »Ich will doch nur dein Bestes«, versicherte Ily verwundert. »Diese Sprüche kenne …«, die Tante unterbrach sich. »Wer ist dieses Mädchen?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Ily. »Du weißt nicht einmal ihren Namen und poussierst mit ihr herum?« »Ich …« Ily wußte nicht, wie er sich da herausreden konnte. Das Mädchen starrte Ata an, als sei sie ein Gespenst.
Das Erscheinen von Ishan‐Khan enthob Ily der Mühe, eine faule Ausrede für etwas zu erfinden, von dem er gar nicht wußte, wie man es machte. »Du da, komm her!« Ily stand langsam auf und ging zu Ishan‐Khan hinüber. Der Weltraumverbrecher grinste wieder. Ily fand die Angelegenheit gar nicht zum Grinsen. »Du hast mich mit deinem Kahn auf eine Idee gebracht«, erklärte der Pirat. »Ich … bei unserem Volk gibt es keinen Khan«, versuchte Ily zu protestier ren. Eine furchtbare Ohrfeige ließ ihn zurücktaumeln. »Freundchen, deine blöden Wortspiele kannst du bei anderen anbringen, nicht bei mir. Meine Leute können mit dem Schrotthaufen nicht fliegen, also wirst du es tun – für uns.« »Die KHARLHON?« fragte Ily entgeistert. »Kennst du einen anderen Schrotthaufen?« gab der Khan zurück. »Los, geh an Bord. Ich werde dir sagen, wer noch mitkommt.« Die Blicke des Khans wanderten über die Köpfe der Gefangenen, die sich vorsichtig duckten. »Deine Tante; Sie wirst du gebrauchen können«, meinte der Khan. »Komm her. Du auch.« So ging es eine Zeitlang weiter. Ily fiel auf, daß Ishan‐Khan vornehmlich besonders ärmlich aussehende Gefangene aussuchte. »Das wird genügen«, bestimmte Ishan. Noch einmal wanderte sein Blick über die Reihen seiner Opfer. Ily sah den Piraten wieder grinsen. Offenbar war ihm ein neuer Spaß eingefallen. »Die Kleine kommt auch mit. Gefällt dir doch, oder?« Ily begriff, daß der Khan irgendeinen Witz auf seine Kosten gemacht hatte, denn die Piraten lachten alle, auch ein Teil der Gefangenen, und das Gelächter verstärkte sich noch, als sowohl Ily als auch das Mädchen vor Verlegenheit gelb anliefen. »Das hast du mir eingebrockt«, zischte das Mädchen, als es neben
Ily stand. »Hättest du mich doch nie angesprochen.« Ily zuckte zusammen. »Ich habe dich nicht angesprochen«, erinnerte er sich. »Unsinn«, empörte sich das Mädchen. »Sehe ich aus wie eine, die fremde Männer anspricht? Na also.« Ily schluckte und begann zu ahnen, daß ihm einiges bevorstand, auch wenn er noch nicht die leiseste Ahnung hatte, was. Die Gefangenen wurden an Bord der KHARLHON geführt. Der Marsch war ein wenig beschwerlich, denn eine Schar von Piraten und Robots schleppte schwere Kisten an Bord der KHARLHON und verstaute sie im Lagerraum. »Was soll das?« fragte Ily seine Nachbarin. »Weißt du es?« »Das sind unsere Opfergaben für den Wunderkristall«, antwortete das Mädchen betrübt. »Wer den Kristall berühren will, muß den Kristallpriestern Opfer darbringen, und wer am meisten gibt, darf den Kristall als erster berühren. Das bewirkt dann das Wunder.« »Aha«, sagte Ily, der gar nichts begriff. Ein Wunder, für das bezahlt werden mußte, kam ihm ein wenig eigentümlich vor, aber er verstand von Wundern so wenig wie von Mädchen und hielt daher lieber den Mund. Ishan‐Khan hatte sich in der Zentrale der KHARLHON eingenistet. Zu seiner Freude entdeckte Ily auch Gräzzer. »Ein so heruntergekommenes Schiff habe ich noch nie gesehen«, sagte der Khan bissig. »Ein Wunder, daß der Kahn immer noch fliegt.« »Man muß damit umgehen können«, sagte Ily. »Ily, du tust nicht, was dieser gräßliche Thater dir sagt!« ließ sich Atas Stimme vernehmen. »Sei ein Mann, trotze ihm.« Diese Aufforderung stand in beträchtlichem Gegensatz zu Atas früheren Darlegungen, wonach ein wahrer Mann sich vor allem bemühen sollte, seiner Tante jeden Wunsch zu erfüllen. Ishan‐Khan sah Ata grimmig an. »Noch ein Wort, und ich lasse dich über Bord werfen«, drohte er.
»Angesichts unserer Treibstoffreserven ist dieser Vorschlag durchaus logisch«, erklärte Gräzzer. Ishan‐Khan wandte den Kopf. Zum ersten Mal schien er den Stachelwurstrobot wahrzunehmen. »Wer ist denn das?« fragte er. »Gräzzer, unser Schiffsrobot. Er ist unersetzlich«, behauptete Ily rasch. Ohne Gräzzers Hilfe brachte er die KHARLHON keine Lichtstunde weit durch den Raum. »Ein schlauer Bursche«, sagte Ishan‐Khan. »Ihr braucht also Treibstoff von uns?« »Außerdem noch ein paar Kleinigkeiten«, fuhr Gräzzer fort. »Wasser, Nahrung, Hydraulikstabilisatoren, Funkentzerrer, Klebmasse und noch ein paar andere Sachen.« »He, wir sind Piraten, keine Werft«, rief Ishan‐Khan. »Und dies ist kein normales Schiff, Khan«, antwortete Gräzzer. »Um deinen Zwecken dienen zu können, muß die KHARLHON ein wenig hergerichtet werden.« »Meinen Zwecken?« Gräzzer klappte seine unteren Gliedmaßen zusammen und legte sich gemütlich auf den Boden. Es sah aus, als wolle er schlafen. »Dein Plan ist offen erkennbar. Du vermutest, daß sich auf Lummensand ein Vielfaches der Schätze befindet, die du an Bord der OPPRATH zusammengeraubt hast. Du willst unser Schiff, diese Schätze und die Pilger als Tarnung verwenden, um auf Lummensand alles zu rauben, was dort an Wert zusammengekommen ist. Habe ich recht?« »Bei allen Sternengeistern«, rief Ishan‐Khan. »Das ist ein Robot nach meinem Geschmack. Du hast recht, Gräzzer.« »Und damit die KHARLHON wohlbehalten ans Ziel kommt, müssen ein paar notwendige Reparaturen ausgeführt werden. Wir haben ja noch ein paar Tage Zeit dafür.« Ishan‐Khan stand wie erstarrt. »Was meinst du damit?« »Ich habe in den letzten vier Stunden noch drei weitere Funkrufe
aufgefangen, die vermutlich den gleichen Inhalt haben. Es sieht so aus, als wären sämtliche Weltraumpiraten der Sektion im Augenblick dabei, den gleichen Trick zu praktizieren – nämlich die Pilgerraumer zu überfallen und zu plündern. Es werden mit Sicherheit auch andere Piraten auf die gleiche naheliegende Idee kommen, Lummensand selbst zu überfallen.« Gräzzer bewegte sich ein bißchen und scheuerte seinen Bauch auf den Boden der Zentrale. Die Reibung von Metall auf Metall ließ kreischende Geräusche hörbar werden und ein paar elektrische Entladungen über Gräzzers Wurstkörper laufen. »Laß sie die ersten Versuche unternehmen – sie werden für dich alle Fallen auskundschaften, die man auf Lummensand für solche Fälle sicherlich vorbereitet hat. Und erst wenn sie sich vergebens abgemüht haben, greifst du zu – du bekommst, was du jetzt schon hast, desweiteren die Schätze von Lummensand und obendrein das, was deine Kollegen als Tarnung an Opfergaben angebracht haben.« Ishan‐Khan lachte laut auf, und Ily schüttelte hilflos den Kopf. Was war in Gräzzer gefahren, daß er sich in dieser Weise verhielt und dem Weltraumschurken auch noch gute Ratschläge gab. »Einverstanden«, sagte Ishan‐Khan in bester Laune. »Junge, dein Robot ist prachtvoll. Was willst du für ihn haben?« »Ich …«, begann Ily. »Ich gehöre bereits zur Beute«, ließ sich Gräzzer vernehmen. Jetzt war Ishan‐Khan am Ende seiner Fassungskraft angelangt. Offenen Mundes starrte er Gräzzer an. »Mach weiter so«, sagte er schließlich. »Vielleicht mache ich dich eines Tages zu meiner rechten Hand, Gräzzer.« Gräzzer richtete sich auf alle Extremitäten auf. »Ich werde dieses Angebot einer wohlwollenden Prüfung unterziehen«, verkündete er hoheitsvoll. »Ich darf in deinem Namen die notwendigen Maßnahmen veranlassen, nicht wahr? Ich empfehle mich.« Sprach es und trippelte an einem erschütterten Ily vorbei aus der
Zentrale der KHARLHON. Ily konnte kaum begreifen, was geschehen was. Vor ein paar Stunden noch hatte er friedlich mit Tante Ata das Weltall durchflogen. Jetzt war er ein Gefangener, sein Schiff war zum Piratenschiff geworden, und Gräzzer entpuppte sich als Genie des Verbrechens. Es sollte noch schlimmer kommen. 3. Hovenal entpuppte sich als eine kleine, intensiv rot schimmernde Sonne. Lummensand, unser Zielplanet, beschrieb eine recht enge Umlaufbahn um das Muttergestirn, aber wegen der geringen Leuchtkraft der Sonne genügte auch diese Bahn nicht, um ein komfortables Klima auf dem Planeten hervorrufen zu können. Lummensand konnte getrost als Ödwelt bezeichnet werden – kahl und karg und fast so rötlich wie Hovenal selbst. Jetzt wußte ich, warum man uns ausgerechnet auf einer so tristen Welt wie Garzwon hatte trainieren lassen – die äußeren Bedingungen beider Planeten waren ausgesprochen ähnlich. Kennennick hatte unterdessen weitere Informationen über Lummensand herausgerückt. Im Grenzgebiet zweier Sektoren von Alkordoom gelegen, wurde Lummensand quasi als neutrales Gebiet betrachtet. Der Planet kam dem sehr entgegen – es gab darauf praktisch nichts zu holen. Der Grund, weshalb der Planet überhaupt besiedelt worden war – eine einheimische Intelligenzbevölkerung gab es nicht – waren die überaus reichen Quarzvorkommen, die dort ausgebeutet und verarbeitet werden konnten. Vor allem gab es dort ein paar Vorkommen jener seltenen Quarze, die als Schwingquarze für die unterschiedlichsten Hyperinstrumente gebraucht wurden – früher hatte es sogar handfeste Streitigkeiten um Lummensand gegeben,
jetzt galt die Lage als bereinigt. Kennennick hatte zur Kennzeichnung der Lage einen Ausdruck gebraucht, der in etwa dem Schachbegriff Patt entsprach – ich vermutete, daß dieses Patt darauf hinauslief, daß beide Seiten Mittelsmänner und Agenten auf Lummensand stationiert hatten, die sich gegenseitig belauerten und ausspionierten und nach Möglichkeit das Leben schwer machten. Angesichts der Verachtung des Lebens, die ich bereits auf Garzwon hatte feststellen müssen, bedeutete dieses Patt vermutlich auch, daß jeder, der sich zwischen die Parteien zu drängeln wagte, früher oder später ausgeschaltet oder angeworben wurde. Das Kristallschiff flog den Planeten an. Ich musterte die Anzeige der Taster. Das Ortungssystem war vorzüglich – jede einzelne Raumschiffseinheit war exakt auszumachen. Das Bild der Anzeige war reichlich verwirrend. Für einen öden Bergbauplaneten war der Raum geradezu überlaufen. Es gab Hunderte von Raumschiffen, die um den Planeten herumschwirrten wie Bienen um einen Honigtopf. An einigen Punkten der Umlaufbahn herrschte ein Gedränge, das geradezu atemberaubend war. »Am besten halten wir uns von dem Trubel fern«, schlug ich vor, in der Vermutung, daß an den Brennpunkten des Treibens Raumstationen zu finden waren, in denen die Quarze umgeschlagen wurden. »Das wird nicht möglich sein«, antwortete Kennennick. »Wir müssen ebenfalls dort anlegen.« »Und warum?« wollte ich wissen. »Die Plantetenverwaltung will es so«, antwortete Kennennick knapp. Ich runzelte die Brauen, dann änderte ich den Kurs des Kristallschiffs. Vorsichtshalber suchte ich mir jenen Punkt aus, an dem das Gedränge am geringsten zu sein schien.
Es gab, wie die Taster zeigten, insgesamt sieben Raumstationen, an denen sich die Schiffe drängten, und während wir uns einer dieser Stationen näherten, erschienen im Raum um Hovenal vier weitere Schiffe und nahmen Kurs auf den Planeten. »Toller Andrang«, bemerkte Pazzon. Es kam, wie ich es erwartet hatte – natürlich war die Schlange, in die wir uns eingereiht hatten, die mit der langsamsten Abfertigung, jedenfalls erschien es uns so. Ein Dutzend unterschiedlicher Schiffe hing neben einer großen Plattform im Raum – und jedes dieser Schiffe schien von einer anderen Werft mit völlig anderen Bauauffassungen zu stammen. Es gab eiförmige Konstruktionen, Kugelraumer, granatförmige Schiffe, Kästen und Zylinder und manche ziemlich absonderliche Konstruktion. Der Funkverkehr bot mir Gelegenheit, meine Kenntnisse des Alkordischen zu vertiefen – vornehmlich um solche Ausdrücke, die in einer gepflegten Konservation nichts zu suchen hatten. Unmittelbar neben uns schwebte ein Schiff durch das All, das als fliegender Rosteimer zu bezeichnen war, eher ein Wrack als ein Schiff. Die vergilbte und zerkratzte Aufschrift verriet, daß es sich um die KHARLHON handelte. »Wann geht es endlich weiter?« empörte sich der Pilot dieses Schiffes. » Wir haben schließlich Kranke an Bord.« »Was glaubst du, was wir geladen haben? Athleten?« »Was hat das zu bedeuten?« fragte ich Kennennick. »Du wirst es erleben«, sagte der Thater. »Kümmere dich um deine Aufgaben.« Wir dockten nach der KHARLHON an der Plattform an. Wenig später erschien in unsere Schleuse ein Inspektor der Planetenbehörden, ein hageres Vogelwesen mit sehr flinken Augen, gehüllt in eine orangefarbene Robe, vermutlich sein Rangabzeichen, denn sie paßte wenig zu dem türkisfarbenen Gefieder. »Wer ist alles an Bord?« wollte der Inspektor wissen.
Kennennick stellte jedes einzelne Besatzungsmitglied vor, und der Inspektor musterte uns sehr genau. »Kein Kranker an Bord?« fragte er dann mit einem Unterton von Mißtrauen in der Stimme. »Wir könnten vielleicht mit einem Suchtpatienten dienen«, bemerkte Pazzon spöttisch und erntete einen giftigen Blick von Kennennick. »Was wollt ihr dann hier, wenn ihr keine Kranken an Bord habt?« bohrte der Inspektor nach. »Die Möglichkeiten erkunden«, antwortete Kennennick, der als einziger von uns zu wissen schien, worum es überhaupt ging. »Feststellen, ob die Berichte wahr sind.« »Also schnüffeln«, gab der Inspektor zurück. »Meinetwegen, ihr könnt landen. Aber eines sage ich euch – benehmt euch anständig, sonst wird es euch übel ergehen. Die Kristallpriester lassen nicht mit sich spaßen, und die Ordnungskräfte ebensowenig.« »Und woran erkennen wir die Ordnungskräfte?« wollte ich wissen. »Wir haben die lautersten Absichten und wollen keinerlei Ärger.« Der Blick des Vogelwesens deutete an, daß es sich von mir gefoppt fühlte. »Ihr werdet es schon merken«, antwortete er. »Hier, eure Dokumente. Weiterflug genehmigt.« Sprach es und hüpfte aus der Zentrale. Kennennick grinste breit. Er stieß mich an. »Weiter!« bestimmte er. Ich löste das Kristallschiff von der Plattform und machte dabei eine verblüffende Entdeckung – wir hatten einen Teil unseres Schiffes offenbar verloren. Der Kristall, der zwischen den Bügeln gesteckt hatte, war spurlos verschwunden. »Sie dir das an«, forderte ich Kennennick auf. »Kümmere dich um die Landung«, schnauzte mich der Thater an. »Du bist zu neugierig, das kann dich doch den Kopf kosten.«
Vor uns schlingerte die KHARLHON durch den Raum. Wir hielten einen geringen Abstand, um von dem Halbwrack nicht beim Landeanflug gerammt zu werden. Trotz der einigermaßen zügigen Abfertigung wurden die Schlangen an den Raumstationen eher länger als kürzer – auf Lummensand schien irgend ein Boom ausgebrochen zu sein. Was gab es auf Lummensand zu finden? Ich war sehr gespannt darauf. Waren die anderen ebenfalls hinter dem Kristall her, den wir stehlen sollten? Wenn ja, dann stand uns etwas bevor – vor allem das Problem, mit dem Kristall den Planeten wieder zu verlassen. Die Flugkontrolle auf Lummensand lotste uns herunter. Die KHARLHON landete mit einem Manöver, das eher einer Bruchlandung gleichkam. Wir setzten unmittelbar daneben auf. Lummenor nannte sich die Hauptstadt, und die Ähnlichkeit mit dem 48er Goldrausch wurde immer größer, schon aus der Luft hatte ich es beobachten können. Die Stadt wirkte als sei sie binnen weniger Wochen gleichsam explodiert. Im Kern gab es ein paar Gebäude, die fest und dauerhaft aussahen. Darum herum waren Unterkünfte wie Pilze aus dem Boden geschossen – Goldbuden, Plastikzelte, Baracken aus allen möglichen Materialien. Am Rand der Stadt gab es einen Vergnügungspark, auf der gegenüberliegenden Seite hatte ich ein großes Feld entdeckt, auf dem eine Fülle seltsamer Monumente zu sehen war. Der Logiksektor gab den Hinweis, daß es sich möglicherweise um eine Begräbnisstätte handelte. »Ihr beide werdet das Schiff verlassen und euch umsehen«, bestimmte Kennennick. »Wenn ihr noch jemanden mitnehmen wollt, sagt es.« Mit den beiden waren Pazzon und ich gemeint. Ich entschied, daß Blackbox uns begleiten sollte – was auf Colamms Gesicht deutlich Ärger erkennen ließ. Die lebende Positronik konnte uns bei der Erfassung der wesentlichen Daten von Lummenor große Hilfe leisten.
»Heiliges Sternenlicht«, stieß Pazzon hervor, als wir im Freien standen. Sein Ausruf bezog sich nicht auf die schneidende Kälte, die über Lummenor lag – sie galt vielmehr dem Anblick, der sich uns bot. Die Passagiere der KHARLHON verließen das Schiff. Von Goldrausch war nicht die Rede. Die Wesen, die da langsam über den Boden des Raumhafens auf den Kontrollturm zu wanderten, waren durchweg angeschlagen, einige mußten sogar getragen werden. Allerdings waren unter diesen Passagieren auch einige Gestalten, die tatsächlich so aussahen, als wollten sie hier schnell ihr Glück machen – auf welche Weise auch immer. Ein weiterer Inspektor empfing uns am Fuß des Kontrollturms. Nur dort war es möglich, den Energiezaun zu passieren, der das Landefeld abriegelte. »Wißt ihr schon, wo ihr wohnen wollt?« fragte uns der Inspektor. Er trug einen dunkelroten Umhang und machte ein verdrießliches Gesicht, soweit man das bei einem Amphibienwesen erkennen konnte. »Wir wollen uns erst einmal umsehen«, erklärte ich. »Also gut – ich sage euch, was wichtig ist. Die Kultstätte ist im Norden zu finden, das Amüsierviertel im Süden. Im Westen ist der Rotlichtbezirk, und wenn ihr unbedingt nach Osten wollt – das werdet ihr schneller bekommen, als euch lieb ist. Befolgt die Anweisungen der Ordnungskräfte, vertraut niemanden und haltet euer Geld fest. Alles andere ist eure Sache.« »Dank für den Hinweis«, sagte ich. Der Inspektor ließ uns passieren. Kennennick hatte uns beauftragt, einen Kontaktmann der Facette Gentile Kaz zu finden – verbunden mit dem seltsamen Hinweis, wir brauchten nicht nach ihm zu suchen, er würde sich von selbst einstellen. Ich war auf diesen Kontaktmann gespannt. Das Zentrum von Lummenor lag unmittelbar neben dem Raumhafen. Wahrscheinlich, stammte diese Anordnung noch aus den Jahren, als Lummensand unbedeutend gewesen war –
normalerweise lagen Raumhäfen wegen des unvermeidlichen Lärms weitab von den Städten, um die Nachtruhe der Anwohner nicht zu beeinträchtigen. Bei Bergwerksiedlungen machte man sich solche Mühe wohl nicht. Lummenor platzte aus allen Nähten. Die Stadt war konzipiert worden für ein paar hundert Einwohner – jetzt aber trieben sich Tausende darin herum. Irgend etwas an der Konzeption der Stadt mußte sich geändert haben – und zwar vor nicht allzu langer Zeit. Aber was? Ich wurde aus dem Rummel nicht recht schlau. Die Bewohner Lummenors, die ich zu sehen bekam, gliederten sich in einige deutlich voneinander verschiedene Gruppen. Den Löwenanteil bilden offenkundig Kranke aus allen Bereichen Alkordooms – ich sah eine unglaubliche Fülle verschiedener Arten, die sich hier ein Stelldichein gaben. Allerdings paßte der Gesamtcharakter der Stadt und des Planeten wenig zu einem Zentrum der Heilkunde. Der Charakter der Stadt wurde weitaus stärker von der zweiten Gruppe von Bewohnern geprägt – und dabei handelte es sich um Schlitzohren und Glücksritter aller Schattierungen, die offenkundig gedachten, bei diesem Rummel möglichst schnell und viel abzukassieren. Wahrscheinlich waren sie damit beschäftigt, die Kranken nach allen Regeln auszunehmen. Zwei weitere Gruppen waren zu erkennen – die Begleiter der Kranken, die meist recht hilflose Gesichter machten, weil sie mit dem Leben auf Lummensand nicht zurechtkamen. Dazu kam die Schar der Ureinwohner – gekennzeichnet in der Regel durch mürrische und verdrießliche Gesichter. Es gab in Lummenor alles, was zu einer solchen Stadt gehörte – Nepplokale, Spielhöllen, Kaschemmen der übelsten Sorte, hastig zusammengeschusterte Unterkünfte mit bombastischen Namen. Scharlatane und Wunderdoktoren trieben sich herum und priesen ihre Wunderkräfte an. Ein Heiratsinstitut entdeckte ich, das sich
rühmte, für jeden Geschmack etwas anbieten zu können – unmittelbar neben einem Institut, das praktisch das gleiche offerierte, allerdings ohne das Ziel einer gesetzlichen Verbindung. Pazzon schmunzelte in sich hinein, während wir uns Lummenor ansahen – ʹ ich hatte den Eindruck, daß ihm diese Stadt gefiel. Die Ordnungskräfte waren relativ leicht zu erkennen – in bunte Gewänder gehüllte Wesen, die meisten von einem Robot begleitet. Die Farbschattierung gab wohl den jeweiligen Rang an – der Logiksektor kam nach kurzer Beobachtung zu dem Schluß, daß die Oberhäupter dieser seltsamen Streitmacht an gelben Gewändern zu erkennen sein mußten. Pazzon stieß mich an. Er deutete auf ein Schild, einen Wegweiser. »Zum Wunderkristall!« las ich. »Das sehen wir uns an«, schlug Pazzon vor. »Ich vermute, daß wir dieses Ding stehlen sollen.« Kalkulation bestätigt, lief als Schrift über den Körper unseres Begleiters Blackbox. Ich nickte. Langsam gingen wir weiter. Ich überlegte, was ich nun tun sollte. Wenn es einen Planeten gab, auf dem ich mich hätte absetzen und untertauchen können, dann war es Lummensand. Das Durcheinander bot dafür die besten Voraussetzungen. Was sich etwas großspurig als Ordnungsmacht bezeichnet, war in Wirklichkeit eine Truppe, die lediglich den Zweck hatte, ein solches Maß an Gesetzestreue und Ordnung aufrechtzuerhalten, daß die Opfer dieses Systems nicht von einem Besuch des Planeten abgeschreckt wurden. Ansonsten schienen sich die Farbenträger um nichts zu kümmern, wahrscheinlich steckten sie in vielen Fällen unter der gleichen Decke wie die Schwindler und Ganoven, die Lummenor bevölkerten. Blackbox meldete sich zu Wort. Kalkulation, las ich. Möglichkeit zum Absetzen gegeben, Chancen günstig, erwäge Flucht.
Ich war von dieser Botschaft gerührt. Ausgerechnet Blackbox, die lebende Positronik. Angesichts der Umstände, die uns zusammengeführt hatten, mußte Blackbox bei nur logischem Denken zu der Einsicht gekommen sein, daß Mißtrauen das oberste Gebot war. Bei einer Flucht vor Kennennick und Gentile Kaz war er am besten beraten, wenn er sie allein betrieb. Daß er uns in seine Pläne einweihte, war ein echter Vertrauensbeweis. Ich sah Pazzon an. Der leckte sich nachdenklich die Lippen. »Ich denke das gleiche«, sagte er schließlich, er grinste mich an. Bei diesem Blick spürte ich Mißtrauen in mir aufkeimen – Pazzon hatte irgendeinen Plan im Hinterkopf, und ich wurde den Verdacht nicht los, daß dieser Plan etwas mit mir zu tun hatte. »Einverstanden«, sagte ich nach kurzem Zögern. »Trotzdem möchte ich mir zunächst diesen Wunderkristall ansehen – ich möchte wissen, was daran so wertvoll ist.« Dieses Wunderding zu finden, war ziemlich einfach – ein Strom von Heilsuchenden bewegte sich langsam auf das Gebilde zu. Es war ein erschütternder Anblick. Einen beträchtlichen Teil der Kranken stufte ich als neurotisch ein – eingebildete Kranke oder solche, die sich psychosomatisch selbst zugrunde richteten. Anderen war anzusehen, daß ihnen solche Wallfahrten ebenso wie Ärztebesuche die Langeweile vertrieben, auch wenn sie sich das selbst nie eingestanden hätten. Und es gab sehr viele, die wirklich Hilfe brauchten, Elendsgestalten, die teilweise gerade noch transportfähig waren. Für sie war der Wunderkristall wohl die letzte Hoffnung. In unserer Nähe erkannte ich bekannte Gesichter – den fluchfertigen Piloten der KHARLHON, einen ziemlich brutal und verschlagen wirkenden Thater, begleitet von drei Personen, von denen ich zwei ebenfalls in der Zentrale des Schiffes flüchtig gesehen hatte. Die beiden schienen ein Paar zu sein – zwei junge Wesen, annähernd menschenähnlich, mit dichtem Haarpelz am
ganzen Körper, Pinselohren und dreieckige Zahnplatten anstelle normaler Zähne. Neben dem Pärchen schleppte sich eine ältere Frauensperson dahin, die sich gebärdete, als schaffe sie es keinen Schritt mehr ohne fremde Hilfe. »Wir sind ja bald am Ziel, Tante«, hörte ich den jungen Mann sagen. »Dort wird man dir helfen können.« »Helfen, pah!« Es gehörte nicht viel psychologisches Vermögen dazu, in der Tante eine Frau zu wittern, die ihren Neffen durch wirkliche oder eingebildete Wehwehchen fortwährend unter Druck setzte und emotional erpreßte – und bei solchen Krankheiten waren Medizin und Ärzte nicht nur sinnlos, sondern bestenfalls störend. Der Thater musterte die Marschierenden mit kalten, gierigen Augen. Ich sah, daß er vor allem die Wertgegenstände betrachtete, die die Hilfesuchenden heranschleppten. Der sogenannte Wunderkristall lag in einem großflächigen Park, von einer Energiekuppel überwölbt. Darunter war ein Sonderklima geschaffen worden – angenehm warm, mit recht hoher Luftfeuchtigkeit. Die Initiatoren des Spektakels hatten in diesem Fall keine Kosten und Mühen gescheut. Nach dem langen Marsch von Lummenor hierher konnte das Gelände seine Wirkung kaum verfehlen, und in der Trostlosigkeit der normalen Lummensand‐ Oberfläche mußte dieses Areal tatsächlich wie ein Wunder wirken. Man hatte fruchtbaren Boden herangeschafft, Bäume und Sträucher angepflanzt, Beete und Gärten angelegt. Über dem Areal lag ein betäubender Duft nach Blumen und Früchten. In kleinen Gruppen wurden die Pilger eingelassen. Es gab nur einen Zugang in die Energiekuppel, der sorgfältig bewacht wurde. Gleich ein Dutzend Roboter standen bereit – sie sahen auf den ersten Blick aus wie Medoeinheiten, aber ich konnte die versteckt angebrachten Waffen durchaus erkennen. Und auch dem Thater entgingen die Risiken nicht, die jeder Eindringling auf sich nahm. Das Personal des Kristallkults war hervorragend geschult – wer es
nicht schaffte, hinter die Maske zu sehen, wurde perfekt getäuscht. Freundliche, fast salbungsvolle Mienen mit sorgfältig aufgetragener Demut, die Bewegungen sanft und gekünstelt, die Stimmen leise und einlullend, die Kleidung bescheiden und unaufdringlich – man mußte die Augen dieser Kristallpriester sehen, um ihre Tarnung durchschauen zu können. Wieselflink musterten sie die Ankömmlinge, schätzten sie ein und behandelten jeden so, wie er es brauchte, um Vertrauen zu den Kristallpriestern zu gewinnen. Uns hielten sie einfach an. »Was wollt ihr?« wurde ich gefragt. »Wir möchten uns den Kristall ansehen«, antwortete ich. Der Priester wechselte die Miene. Gerade noch die Empathie in Person, jetzt die fleischgewordene Überheblichkeit. »Du bist gesund und munter«, herrschte er mich an. »Es gibt andere, die die Heilwirkung des Kristalls brauchen, und niemand weiß, wie lange die Kraft des Kristalls anhält. Also geh und vergeude nicht die Wunderwirkung des Lummensand‐Kristalls durch deine Zudringlichkeiten. Diese hier brauchen das Wunder dringender als du.« Der Trick klappte perfekt – eine Menge böser Blicke traf uns. Die raffinierten Priester spielten die Kranken gegeneinander aus, und sie machten das teuflisch geschickt. Der junge Mann und seine Tante wurden eingelassen, obwohl diese Tante einen außerordentlichen rüstigen Eindruck machte. Das junge Mädchen und der grimmig dreinschauende Thater mußten zurückbleiben. Ich sah, wie der Thater die Lippen aufeinanderpreßte. »Worauf wartet ihr noch, trollt euch!« Uns blieb nichts anderes übrig, als den Rückmarsch anzutreten. Ein paar Dutzend Schritte vom Eingang entfernt blieb ich stehen. Ich wandte den Blick zurück. Ich wußte, ich würde an diesen Ort zurückkehren.
4. »Wozu?« fragte Pazzon. »Ich denke, wir setzen uns ab.« »Ich möchte diesen Kristall genau sehen«, antwortete ich. »Frage mich nicht nach den Gründen, ich kenne sie selbst nicht – und ich werde zu dem Kristall vordringen.« »Kennennick wird seine Freude an dir haben«, versetzte Pazzon. Wir hatten ein Quartier gefunden, eine Kaschemme übelster Art, unsauber und teuer. Zum Glück hatte uns Kennennick reichlich ausgerüstet. Zusammen mit uns drängten sich fast einhundert Besucher Lummensands in dieser Unterkunft, die Stimmung war alkoholgeschwängert, darunter lag eine Schicht zurückgehaltener Gewalttätigkeit. Blackbox hatte sich in eine Ecke verdrückt und lag still da. Pazzon genoß nach den Entbehrungen des Trainingslagers auf Garzwon die Möglichkeiten, die sich ihm boten, vor allem die flüssigen. »Irgendwo in Lummenor schleicht der Vertrauensmann von Gentile Kaz herum«, erinnerte ich Pazzon. »Kennennick hat gesagt, er wird uns von sich aus finden – da wir ihn nicht kennen, er aber uns, müssen wir sehr vorsichtig sein. Er könnte schon jetzt neben uns sitzen. Folglich …« »… werden wir unsere Rollen weiterspielen«, ergänzte Pazzon. »Einverstanden. Wie weit willst du gehen? Willst du den Kristall wirklich stehlen? Du dürftest nicht der erste sein, der das versucht. Die Kristallpriester sind auf der Hut, verlaß dich darauf. Sie sind hier auf feindlichem Gebiet und werden doppelt und dreifach wachsam sein.« »Wieso auf feindlichem Gebiet?« fragte ich. »Ganz einfach. Offiziell gehört Lummensand zum Gebiet von Gentile Kaz. Tatsächlich liegt der Planet aber sehr nah an der Grenze zum Sektor Kontagnat, und da hat Zulgea von Mesanthor das Sagen. Die Hexe wird an dem Heilsrummel hier mindestens
genauso interessiert sein wie Gentile, schließlich wirft das alles eine Menge ab. Dieses religiöse Getümmel allerdings schmeckt stark nach Pymonia, der Gräfin von Skull. Diese Priester sind so gut geschult, das können nur Gefolgsleute der Gräfin sein. Hier sind sie sehr weit entfernt vom Zentrum der Macht ihrer Herrin, also auf sehr heißem Boden. Entsprechend vorsichtig werden sie sein.« Bevor ich versuchen konnte, aus Pazzon noch weitere Informationen über Pymonia herauszuholen, tauchte an unserem Tisch ein Fremder auf. Er trug ein bodenlanges dunkles Gewand, das so weit fiel, daß man von den Konturen des Körpers darunter praktisch nur die Größe abschätzen konnte. Dort, wo ein Kopf hätte sein können, war eine Kapuze so tief herabgezogen, daß ich nichts sehen konnte. »Ihr seid also angekommen«, sagte der Fremde und blieb neben dem Tisch stehen. »Ich habe euch gesucht und gefunden.« Offenbar war das der Kontaktmann von Gentile Kaz. Er kam mir seltsam bekannt vor. Zum einen erinnerte er mich an den geheimnisvollen Schleicher, den ich auf Garzwon gesehen hatte, als er sich an dem Kristallschiff zu schaffen gemacht hatte. Zum anderen breitete er um sich herum eine Stimmung aus, wie sie an Bord des Kristallschiffs herrschte – eine Andeutung von Gefahr und Tod. »Kennennick hat uns losgeschickt, damit wir die Lage erkunden«, berichtete ich. »Ich weiß. Was habt ihr herausgefunden?« »Nicht viel, man hat uns nicht bis zum Kristall durchgelassen. Wir werden versuchen, heute Nacht etwas mehr in Erfahrung zu bringen.« »Tut das. Ich werde euch wieder finden, wenn es nötig ist«, sagte der Fremde. »Falls ihr mich sucht – fragt nach Foinsell.« Bevor wir ihn aufhalten konnten, war er im Gewühl verschwunden – und zwar spurlos. Blackbox näherte sich.
»Ich werde heute verschwinden«, ließ er uns wissen. »Gelegenheit zu günstig, lebt wohl.« Auch er war im Gedränge untergetaucht, bevor wir ihn zurückhalten konnten. Pazzon stieß eine Verwünschung aus. Ich sah auf die Uhr. Wir hatten noch ein paar Stunden Zeit, bis es in Lummenor so ruhig wurde, daß wir an einen Aufbruch denken konnten. Ich beschloß, diese Zeit zu verschlafen. * Es war ein Fehler gewesen, ein Nickerchen zu machen. Pazzon hatte die Gelegenheit genutzt und sich volllaufen lassen. Er konnte zwar noch gehen, aber als Begleiter für ein solches Erkundungsunternehmen war er mehr als hinderlich. Da er mit Krawall gedroht hatte, wenn ich ihn nicht mitnahm, hatte ich zähneknirschend zustimmen müssen – Pazzon begleitete mich. Es war lange nach Mitternacht gewesen, als wir aufgebrochen waren. In der sogenannten Stadt ging es dennoch munter zu, allerdings waren jetzt die zwielichtigen Gestalten unter sich. Die Kranken lagen irgendwo in ihren schäbigen Quartieren und warteten – entweder darauf, daß sie endlich den Wunderkristall zu sehen bekamen, oder darauf, daß das versprochene Wunder endlich eintrat. Es gab ein paar Anschlagtafeln in der Stadt, auf denen die Wunder der letzten Wochen verzeichnet waren. Die Liste hatte eine ansehnliche Länge – bei näherer Betrachtung allerdings würde sich nach meiner Meinung herausstellen, daß die weitaus größte Zahl der Heilungen entweder schlichtweg gefälscht war oder auf die Spontanheilung von psychosomatischen oder gar hysterischen Phänomenen zurückzuführen war. Ausdauer hatten wir auf Garzwon reichlich zu trainieren gehabt – es fiel uns daher nicht schwer, die recht weite Strecke von
Lummenor zum eigentlichen Heiligtum in flotten Tempo zurückzulegen. Pazzon allerdings hatte mitunter Schwierigkeiten, sich zu orientieren, mehr als einmal mußte ich ihn regelrecht in die richtige Richtung stoßen. Bei Nacht wirkte das Heiligtum besonders eindrucksvoll. Der Energieschirm war so geschaltet worden, daß er transparent war. Der Innenraum wurde zudem effektvoll beleuchtet. Wer immer vorbeikam, mußte den Eindruck haben, einer Halluzination zum Opfer gefallen zu sein – oder ein wirkliches Wunder zu sehen. In der Stadt hatte ich erfahren, daß die Genesungspriester sich nicht scheuten, den technischen Aufwand, den sie zur Täuschung der Kranken betrieben, der wundersamen Wirkung des Kristalls zuzuschreiben – er sei es gewesen, der Kraft seiner wunderbaren Fähigkeiten das Land habe ergrünen lassen und so fort. Es war schäbigster Betrug, was hier an Ahnungslosen vollzogen wurde. Von dem sagenhaften Kristall selbst war nichts zu sehen – er wurde umrahmt von einer Gruppe hoher Bäume mit breit ausladendem Geäst. In der künstlichen Beleuchtung flimmerten und irisierten die Blätter dieser Bäume und verstärkten noch den Eindruck des Bildes. »Gut gemacht«, lobte Pazzon, ein wenig außer Atem. Er ließ sich auf den Boden sinken. »Jetzt muß ich erst einmal ausruhen.« Ich hätte ihn am liebsten angebrüllt, aber das unterließ ich vorsichtshalber. Wahrscheinlich gab es irgendwelche Wachen in der Nähe – mit Sicherheit waren wir weder die ersten noch die einzigen, die sich nachts dem Kristall zu nähern versucht hatten. Die Kostbarkeiten, die die Pilger dem Kristall zum Opfer darbrachten, mußten Diebesgesindel von weither anlocken, und die Kultpriester waren gewiß schlau genug, ihre Beute vor solcher Konkurrenz zu schützen – niemand wußte besser mit Gaunern umzugehen als Gauner, und diese beiden Gruppen waren einander wert. »Psst!« machte ich. Ich hatte Schrittgeräusche gehört. Wer außer uns trieb sich noch in
der Nähe herum? Ich warf mich auf den Boden und drückte mich platt auf den Untergrund. Schwach konnte ich gegen die Dunkelheit die Silhouetten von drei Personen erkennen – es schien sich um Thater zu handeln. Nach den Exemplaren dieses Volkes, die ich bis jetzt kennengelernt hatte, schien es sich bei den Thatern um ein Volk von ausgesuchten Spitzbuben und Schurken zu handeln. Narr, kommentierte der Logiksektor kurz. Natürlich war es Unfug, ein Volk nach einigen wenigen Vertretern beurteilen zu wollen – aber Vorurteile dieser Art schlichen sich gern ein, mitunter auch bei mir. »Es wird wieder Zeit«, hörte ich einen der Thater sagen. »Die vier Tage sind vorbei.« »Langsam geht mir das Stillhalten auf die Nerven«, brummte ein anderer. »Zulgea sollte endlich handeln – früher oder später wird uns das Gelbe Trio auf die Schliche kommen. Diese nächtlichen Ausflüge sind sehr gefährlich, und ihr wißt ja, wie das Trio mit Schnüfflern umgeht.« Bei diesen drei Thatern handelte es sich also um ein Kommando, das in den Diensten von Zulgea stand, die man die Hexe nannte – aus welchen Gründen die drei allerdings, wie aus ihren Worten hervorging, immer wieder zum Kristall schlichen, war aus dem kurzen Gespräch nicht abzulesen. Die drei blieben stehen. »Still – jemand kommt.« Ich verkniff mir einen Seufzer. Das hatte gerade noch gefehlt – wenn dieses Spielchen so weiterging, dann krochen nur noch Deckungsuchende um den Kristall herum und stolperten übereinander. Die drei Thater suchten sich eine Deckung, zum Glück ein Stück von uns entfernt. »In Lummenor könnte es nicht emsiger zugehen«, murmelte Pazzon, der über den Rand seiner Deckung spähte.
Es war eine ganze Abteilung, die sich da näherte – in dem Licht, das von der Energiekuppel ausging, konnte ich sogar Einzelheiten erkennen. Mit Verwunderung stellte ich fest, daß es sich um das junge Paar von der KHARLHON handelte. Die beiden schienen Gefangene zu sein, denn sie wurden umringt von einer Gruppe verwegen aussehender Gestalten, angeführt von jenem Thater, den ich als Pilot der KHARLHON kennengelernt hatte. »Wie willst du den Energieschirm aufbekommen?« hörte ich den jungen Mann fragen. »Laß das unsere Sorge sein«, knurrte der Anführer. Er hielt die Hand an der Waffe. Zwei seiner Männer schleppten einen schweren Körper – wahrscheinlich irgendeinen Projektor, der ein Interferenzfeld zum Energieschirm aufbauen sollte. Dann sah ich zu meiner Verwunderung, wie sich die drei versteckten Thater plötzlich aufrichteten. Sofort flogen bei den Anrückenden die Waffen aus den Gürteln. »Stehenbleiben!« rief der Anführer. »Und nehmt die Hände in die Höhe.« »Gewiß«, beeilte sich der vorderste der Thater zu versichern. Mir kam dieser Vorgang nicht ganz geheuer vor – irgend etwas braute sich da zusammen. »Was macht ihr hier?« wollte der Anführer der Bewaffneten wissen. Seine Männer bildeten einen weiten Kreis um die drei Gefangenen. Ich sah, wie sich in aller Eile die beiden jungen, Leute davonzuschleichen versuchten – und es gelang ihnen auch. In der Nähe der erhofften Beute wurden die Angreifer offenbar leichtsinnig. »Du mußt Ishan‐Khan sein«, sagte einer der drei. »Ihr kennt mich? Um so besser, dann brauche ich euch nichts mehr zu erzählen. Redet also – was wollt ihr hier?« »Wir haben mit euch nicht gerechnet, aber das soll uns nicht hindern, ein Geschäft zu machen. Ihr wollt die Opfergaben
einkassieren, nicht wahr?« »Und wenn es so wäre …?« »Ihr könnt sie haben«, sagte der Thater, der unmittelbar vor Ishan‐ Khan stand. »Wenn ihr uns den Kristall überlaßt.« Über das Gesicht von Ishan‐Khan flog ein niederträchtiges Grinsen. »Wer seid ihr, daß ihr uns Bedingungen stellt?« fragte er boshaft. »Ich brauche nur abzudrücken …« »Tuʹs«, sagte der Thater vor ihm. Ich wollte aufspringen und irgend etwas unternehmen, um den Mord zu verhindern, aber Pazzon packte mit allen zehn Armen zu und hielt mich fest. Er legte mir sogar eine Hand auf den Mund, so daß ich keinen Laut von mir geben konnte. Wie erstarrt sah ich, daß Ishan‐Khan die Waffe hob und abdrückte … … er wollte abdrücken, aber er schaffte es nicht. Es war, als würde seine Hand von unsichtbaren Kräften gefesselt. Ich sah, wie Ishan‐ Khan die Muskeln anspannte, aber er bekam den Schußfinger nicht gekrümmt. Der Schuß löste sich nicht. »Bemühe dich nicht, Ishan‐Khan«, sagte der vorderste der drei Thater. »Ich bin Korbatt, dies ist Melenter, und er ist Paryr, und jeder von uns ist in der Lage, dir den Finger festzuhalten … oder deinen Herzschlag anzuhalten. Unterlaß also jede Hinterhältigkeit, es wird dein Schade nicht sein.« Ishan‐Khan murmelte eine Verwünschung. Er ließ die Hand sinken, als resigniere er – dann schnellte sie plötzlich wieder hoch. Auch dieser Versuch schlug fehl. Wieder löste sich kein Schuß aus der Waffe, dafür begann Ishan‐Khan zu ächzen und zu wanken. »Wir können eure Hilfe brauchen«, sagte Korbatt. »Allein werden wir es nicht schaffen, den Kristall wegzuräumen – und an den anderen Sachen sind wir nicht interessiert. Für euch ist der Kristall ohne Wert – wir können also ein gutes Geschäft machen.« »Was habt ihr drei mit dem Kristall vor, was wollt ihr von ihm?« fragte Ishan‐Khan. Er steckte jetzt endgültig die Waffe weg.
Korbatt lachte unterdrückt. »Es ist unser Kristall«, eröffnete er Ishan‐Khan. »Du hast am eigenen Leib gespürt, was wir vermögen – und mit dem Kristall machen wir dasselbe. Er wäre längst wieder verschwunden, würden wir ihn nicht hier auf Lummensand festhalten.« »Ich denke, das Gelbe Trio hat die Herrschaft über Lummensand?« »Leider stimmt das. Wir haben uns im Hintergrund gehalten, weil wir uns nicht exponieren wollten. Und jetzt ist es zu spät – das Gelbe Trio ist viel zu stark für uns.« »Das ließe sich ändern«, meinte Ishan‐Khan. »Wenn wir zusammenarbeiten – das könnte gewinnbringend werden.« »Aber nicht auf Lummensand. Wenn wir den Kristall auf eine Welt schaffen könnten, auf der nur wir zu bestimmen haben … dann wäre das Geschäft wirklich gut, für beide Teile.« Langsam klärten sich für mich die Zusammenhänge. Ich wußte schon, daß sich der wunderwirkende Kristall seit einiger Zeit durch Alkordoom bewegte – für annähernd sechzig Erdjahre, was in etwa zwanzig Jahren lokaler Zeitrechnung entsprach. Vor fünfhundert Tagen Ortszeit war der Kristall auf Lummensand gelandet – und vermutlich durch die besonderen Fähigkeiten der drei Mutanten festgehalten worden. Wahrscheinlich war dieses Zusammentreffen der Mutanten reiner Zufall – das erklärte auch, warum es die drei offenbar so schwer hatten, ihren Auftraggeber, die Hexe, zum Handeln zu bewegen. Die Versuche der Mutanten, den Kristall für sich zu behalten, waren gescheitert – das sogenannte Gelbe Trio hatte die Fäden in die Hand genommen und dafür gesorgt, daß die Mutanten an den Kristall nicht mehr herankamen. Damit steckten die drei in einer Zwickmühle. Blieb der Kristall gelähmt, konnte er vom Gelben Trio ausgenutzt werden – und das führte zwangsläufig dazu, daß sich die Machtmittel dieses sauberen Trios vermehrten. Freilassen konnten die drei den Kristall auch
nicht – dann bekamen sie Ärger mit der Hexe Zulgea, wenn sie sich endlich rührte. So oder so – die drei konnten am Status quo nichts ändern. Es sei denn, sie arbeiteten mit den Männern um Ishan‐Khan zusammen – vermutlich Weltraumpiraten, die vor keinem Streich zurückschreckten, wenn er nur genügend Beute brachte. Außerdem spielten noch die Kristallpriester mit, die nach meinen dürftigen Erkenntnissen zu Pymonia gehörten, der Gräfin von Skull. Von Gentile Kaz waren Agenten unterwegs, darunter wir. Gauner aus allen Winkeln Alkordooms hatten sich eingefunden, und dazwischen hausten unter entsetzlichen Bedingungen einige tausend mehr oder minder fanatisierter und hoffnungsvoller Pilger, die von dem ganzen niederträchtigen Ränkespiel nicht das Geringste ahnten. In dieser Konstellation kamen die Kranken wahrscheinlich noch am günstigsten davon – hätte eine dieser Gruppen allein bestimmen können, wären sie weit ärger geschröpft, betrogen und ausgebeutet worden. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es auf einem Planeten aussehen mochte, der allein von den drei Mutanten und den Piraten verwaltet wurde – es war ein Schreckensbild. Aber es gab noch andere Faktoren in diesem Spiel – und einer dieser Faktoren zeigte sich im nächsten Augenblick. 5. Ein markerschütternder Schrei gellte über die Wüste. Ich wurde von diesem Klang im ersten Augenblick derartig erschreckt, daß ich wie benommen liegenblieb. Einen Herzschlag später kam Leben in die Szenerie. Der Energieschirm verfinsterte sich, verfärbte sich in ein tückisches Rot, und kurz danach wurden auf dieser Fläche Bilder sichtbar.
Es waren Bilder des Grauens, sichtbar gewordene Alpträume. Ich sah bizarre Schreckensgestalten, die von der Höhe der Energiekuppel auf mich herabzustürzen schienen, Monster, die sich am Fuß der Barriere tummelten und Klauen und Zähne zeigten. Zwischendurch erklang immer wieder das Schreien und Wimmern. Zwischen der Energiebarriere und uns wuchs eine Gestalt aus dem Boden – ein riesenhafter Roboter mit glänzendem Körper und einem künstlichen Gesicht, das wie die Verkörperung aller Bosheit aussah – ein Amokläufer in Maschinengestalt. Trugbilder, informierte mich der Logiksektor, hypnotisch unterstützt. Wie dieses Horrorschauspiel auf weniger stabilisierte Gemüter wirken mußte, wagte ich mir nicht auszumalen. Pazzon zitterte am ganzen Leib, die jämmerlichen Klagelaute, die er in seiner Panik ausstieß, wurden nur deshalb nicht gehört, weil das Kreischen und Wehgeheul von der Barriere alles andere übertönte. Inzwischen hatte eine ganze Gruppe der Riesenroboter Stellungen bezogen. Sie waren so gigantisch, daß wir aufrecht stehend nicht einmal die Oberkante ihrer metallenen Füße hätten mit den Armen erreichen können. Ich wandte den Kopf und sah zu den Piraten hinüber. Sie standen wie vom Donner gerührt. In die Roboter kam Bewegung. Der ganze Boden erzitterte, als sie die ersten Schritte taten – genau auf uns zu, wie es schien. Ich spürte, wie der Boden sich unter mir einen halben Schritt hob und dann zurückfiel – ein wahrhaft scheußliches Gefühl, ich kannte es von Erdbeben her, und es schlug mir immer wieder auf den Magen. Vor Wasser, Feuer, Hagelschlag und allen möglichen anderen Gefahren der Natur konnte man sich mehr oder minder schützen – aber wenn die Erde selbst sich schüttelte und aufbäumte, wenn es buchstäblich nicht mehr möglich war, festen Boden unter die Füße zu bekommen, dann saß jedem die Panik im Nacken, und mochte er sonst noch so furchtfrei gewesen sein.
Pazzon wollte trotz der Schwingungen aufstehen und sich davonmachen. Ich packte und betäubte ihn mit einem Dagorgriff. So entging er dem nächsten Augenblick – der Sekunde, in der hoch über mir die dunkle Sohle eines Roboterfußes erschien und sich zeitlupenhaft langsam auf mich herabsenkte. Ich wußte, daß es hypnotische Bilder waren, aber trotzdem krampfte sich in mir alles zusammen, als sich diese Hunderte von Tonnen schwere Masse auf mich herabsenkte und den ganzen Himmel völlig verdunkelte. Wieder hob sich der Boden, schien mich dem Fuß geradezu entgegenzuwerfen. In meinen Ohren klang das Gewimmer von der Barriere, dazwischen die schrillen Panikrufe anderer. Es passierte nichts. Der Fuß senkte sich auf mich herab, kam wieder in die Höhe und entschwand meinen Blicken – es war eine Illusion, nichts weiter, aber sie kostete eine ungeheure Portion Nervenstärke. Wer nicht wie ich mentalstabilisiert war oder sonstwie in der Lage, das Sinnesgegaukel als solches zu identifizieren, war nach einem solchen Ereignis vermutlich reif für eine psychiatrische Behandlung. Vorsichtig richtete ich mich auf – in weiter Ferne sah ich sie laufen, Todesfurcht im Nacken. Sowohl die Mutanten als auch die Piraten nahmen Reißaus – wie vermutlich einige hundert Vorgänger vor ihnen auch. Die Kristallpriester – oder das Gelbe Trio – hatten sich einen sehr effektvollen Schutz ihres Geheimnisses einfallen lassen. Das Normalwesen mochte ich sehen, das diesen Spuk ertrug und nicht in Panik verfiel und das Weite suchte. Das ist nur eine von mehreren Sicherheitsmaßnahmen, mischte sich der Logiksektor ein. Natürlich – spätestens in ein, zwei Stunden, wenn die Angst zum Teil verflogen war, zum Teil auf einem mutfördernden See von Alkohol driftete, mußten die Flüchtlinge erkennen, daß sie einer hypnotischen Täuschung aufgesessen waren. Zwar gab es außer entsprechender hochentwickelter Technik eigener Mutantengabe
und der Mentalstabilisierung kein Mittel gegen hypnotische Beeinflussung – aber mit geeigneten Medikamenten war es möglich, die Wirkung solcher Seelenschocks vorab so zu dämpfen, daß wirklich mutige und entschlossene Charaktere auch dieses Schauspiel durchstehen konnten. Und Ishan‐Khan traute ich auf diesem Gebiet einiges zu. Pazzon kam wieder zu sich – sein Blick war glasig. Ich patschte ihm ins Gesicht. »Wach auf, du bist nicht tot«, sagte ich halblaut. Auf den angetrunkenen Pazzon mußten die Schreckensbilder besondere Wirkung gehabt haben – er schlotterte am ganzen Leib und beschrieb mit allen Händen beschwörende Gesten. Der Schock saß ihm tief in den Gliedern. Auf eine ziemlich rauhe Art brachte ich ihn schließlich wieder in die Wirklichkeit zurück. Unterdessen verkündete metallisches Klirren, daß sich nun eine echte Robotertruppe an die Arbeit machte, Schreckgelähmte, Ohnmächtige oder solche, die von einem Herzschlag umgeworfen worden waren, zusammenzutragen. Uns durften sie nicht finden. »Lauf!« munterte ich Pazzon auf. »Diesmal sind es echte Roboter.« Er rannte, was seine Beine hergaben. Noch halb umnebelt fiel er immer wieder hin, rappelte sich auf und stolperte weiter. Ich sah es mit einer gewissen Schadenfreude. Die Freude verging mir jäh, als ich von der Seite plötzlich einen Körper auf mich zuschießen sah. Bevor ich noch reagieren konnte, war ich umgeworfen, jemand packte nach meiner Kehle. Ich machte kurzen Prozeß mit diesem Jemand. Ein Aufbäumen, eine Beinschere, begleitet von einem Hüftschwung – der Angreifer flog durch die Luft und kollerte halb betäubt über den Boden. Mit einem Panthersatz war ich bei ihm, packte zu und spürte, wie der Körper unter meinen Händen schlaff wurde. »Loslassen, du Wüstling! Nimm die Hände weg, du Ferkel!« Was um alles in der Welt hatte in dieser Umgebung eine entrüstete
Mädchenstimme zu suchen? Ich stand auf und suchte mit den Augen nach Pazzon – er wälzte sich auf dem Boden herum und hatte mit Armen und Beinen eine Person umschlungen, die sich temperamentvoll loszustrampeln versuchte. Ich erkannte sie wieder, und als ich den Kopf zu meinem Opfer wandte, sah ich, was ich erwartete hatte – es war das junge Paar, das wir schon einige Male gesehen hatten. »Laß sie los, Pazzon!« bestimmte ich. »Sie wollte mich umbringen!« keuchte der Fyrser. »Laß sie trotzdem los«, kommandierte ich. Er gehorchte. Das Mädchen richtete sich auf. »Lüstling!« fauchte sie. »So etwas ist mir noch nie passiert. Kerle, die nach mir grapschen, sind ja schon schlimm genug – aber einer mit zehn Händen, Pfui!« Wider Willen mußte ich lachen. »Was gibt es da zu kichern?« fauchte die kleine Kratzbürste. »Ihr habt Angst vor uns gehabt?« vermutete ich. »Und darum habt ihr versucht, uns anzugreifen?« Das Mädchen nickte. Sie war klein und hatte ein hübsches Fell, wahrscheinlich war der Junge fürchterlich in sie verliebt, ohne davon auch nur das geringste zu ahnen. Mein Gegner richtete sich langsam auf. Als er mich sah, versuchte er rücklings davonzukrabbeln. Ich hielt ihn fest. »Laß den Unsinn«, bestimmte ich. »Wir tun euch nichts – wenn wir das wollten, wärt ihr jetzt schon tot.« »Auch ein Argument«, sagte das Mädchen schnippisch. Diese Sorte war wohl überall im Kosmos gleich – vermutlich gab es diesen Typ auch unter Amphibien, Echsen und Spinnentieren. »Kommt«, sagte ich. In der Ferne war der Marschtritt der Roboter zu hören, der sich langsam näherte. »Wir können später über alles reden.«
* »So sieht es aus«, sagte Ily Locarnen ziemlich kläglich. »Ich weiß beim besten Willen nicht mehr, was ich machen soll.« Halte dich da raus, gab der Logiksektor durch. Du hast genügend eigene Probleme. Der Einwand war richtig, aber ich dachte nicht daran, die beiden in ihrem Elend allein zu lassen. Es war purer Zufall, daß sie uns über den Weg gelaufen waren – aber ich knobelte bereits daran herum, was sich aus diesem Zusammentreffen machen ließ. Immerhin hatten die beiden ein Raumschiff samt Tante – beides nicht sonderlich erfreulich anzuschauen und mit allerlei Macken und Schrullen behaftet, aber immerhin funktionstüchtig. »Was denkst du?« fragte der Zehnarmige. »Ich überlege, wie wir von hier wegkommen«, antwortete ich zögernd. Das war nicht ganz richtig – ich brütete auch über dem Problem, wie ich möglichst bald an den Kristall herankam. »Würdet ihr uns mitnehmen?« »Wenn wir starten können, gern. Aber an Bord sind noch immer diese schrecklichen Piraten, und wir starten nicht ohne die Tante.« »Das sagst du« meinte das Mädchen. »Ich habe da ganz andere Vorstellungen.« »Bleibt in eurer Unterkunft und rührt euch nicht«, entschied ich schließlich. »Wir geben euch Nachricht – und wir werden auch einen Weg finden, eure Probleme zu lösen.« »Wenn das nur möglich wäre«, seufzte das Mädchen. Pazzon und ich verabschiedeten uns. Am Horizont stieg schon die Sonne auf, als wir in unsere Unterkunft zurückkehrten, wo sich bereits die ersten Zecher zum Frühstücksglas eingefunden hatten. In unserem Zimmer wartete eine Überraschung auf uns – in doppelter Hinsicht. Die erste Überraschung war Foinsell, der sich Zugang zu unserer Kammer verschafft hatte. Das war allerdings nicht weiter schwierig,
das Schloß war unglaublich primitiv und konnte mit einfachen Haken geöffnet werden. Die zweite Überraschung war ein Schock. »Es sieht so aus, als habe er desertieren wollen«, bemerkte Foinsell. »Gentile Kaz schätzt so etwas gar nicht.« In einem Winkel des Raums lag Blackbox, auf die Größe einer Kinderfaust zusammengeschrumpft. Der Körper hatte einen metallischen Farbton, und als ich ihn berührte, hielt ich tatsächlich eine Art Metallkasten in der Hand. Im Innern klirrte etwas leise. Ich war sicher, daß Foinsell nicht bluffte – bei diesem Kasten mußte es sich, so seltsam das auch klang, um die Leiche von Blackbox handeln. Für wen diese Warnung bestimmt war, lag auf der Hand. Äußerliche Schäden waren an dem Körper nicht zu erkennen, so daß ich auf pure Spekulation angewiesen war, wie Blackbox getötet worden war. Es tat mir leid um die lebende Positronik, sie war ein eigentümlicher, aber sehr sanfter Gefährte gewesen. Sein Tod gab uns einen Hinweis mehr auf die Skrupellosigkeit, mit der Kennennick und hinter ihm Gentile Kaz ihre Pläne vorantrieben. »Was habt ihr erreicht?« Ich wurde den Verdacht nicht los, Foinsell zu kennen, aber in diesem Fall half mir auch das fotografische Gedächtnis nicht – ich konnte mich an keinen bestimmten Zusammenhang erinnern. Pazzon berichtete von den Abenteuern der letzten Nacht, wobei er seine Rolle ein wenig glättete und gefälliger darstellte, als es der Wirklichkeit entsprach. Die beiden jungen Leute vergaß er zu erwähnen. »Dann werden wir jetzt zusammen den Kristall aufsuchen. Ihr seid meine Pflegepersonen, außerdem wird noch Kennennick mitkommen, auch er wird sich krank stellen.« »Wir brauchen Opfergaben«, erinnerte ich. »Die wird Kennennick mitbringen«, erklärte Foinsell. »Gehen wir.«
Er war kurz angebunden, und während wir uns zum dritten Mal auf den Weg zum Wunderkristall von Lummensand machten, sagte er kein einziges Wort. Sein weiter Umhang schwang beim Gehen leise vor und zurück, aber Beine oder Füße bekamen wir trotzdem nicht zu sehen. Beim Gehen schwankte Foinsell hin und her, blieb ab und zu stehen und ließ ein wehleidiges Ächzen hören. Aber er ließ nicht zu, daß wir ihn anfaßten oder zu stützen versuchten – möglicherweise hätten wir dabei etwas über die Form der Gestalt unter der Kutte erfahren können. Kennennick wartete in der Nähe des Kristallparks auf uns. Er sah aus, als habe er sich mit ein paar Zweitkonditionierten herumgebalgt – erbarmungswürdig. Wieviel von seinen Blessuren nur vorgetäuscht war, ließ sich nicht erkennen. In krassem Gegensatz zu seinem normalen Gehabe – unverwüstlicher Krieger, der keinen Schmerz kennt – produzierte der Thater Jammern, Stöhnen und Seufzen, das einem angst und bange werden konnte. Kennennick brachte auch die Opfergaben mit. Wir verteilten sie unter uns, bevor wir uns in die Schlange der Wartenden einreihten, die sich langsam auf den Eingang zu bewegte. Spuren der letzten Nacht waren nicht zu sehen, es gab keinen Hinweis darauf, daß sich irgend jemand dem Kristall zu nähern versucht hatte. Allerdings war in der ganzen Stadt das Geschrei des Kristalls gehört worden – auf diese Weise, so hieß es bei den Bewohnern Lummenors, reinige sich der Kristall von den Leiden anderer, die er auf sich genommen habe. Daß es sich um technische Spielereien handelte, wußten nur Eingeweihte. Nach zwei langweiligen Stunden erreichten wir endlich den Einlaß. »Ihr schon wieder?« fragte der Posten. »Wir haben zwei Kranke bei uns«, erklärte ich. »Und an Opfergaben wollen wir es nicht fehlen lassen.« »Zeig her«, bestimmte der Posten. Mir war ein edelsteinbesetzter
Trinkbecher überlassen worden, Pazzon bot eine nicht minder kostbare Schmuckschatulle an. Kennennick hatte einen Sack Münzgeld mitgeschleppt, und Foinsell jammerte und ächzte nur. Der Posten legte die Opfergaben auf einen Tisch und durchleuchtete sie – vermutlich hatten raffinierte Burschen schon versucht, auf diese Weise Sprengladungen oder ähnliches einzuschmuggeln, die den schützenden Energieschirm von innen aufknacken sollten. »In Ordnung, ihr könnt gehen.« Hintereinander betraten wir das Innere der Energiekuppel. Von einem leistungsfähigen Projektor wurde auf die Innenseite ein Abbild des Sternenhimmels projiziert, das sich langsam bewegte. Es war ein eindrucksvolles Schauspiel, gerade richtig für Lebewesen, die sich davon gefangennehmen ließen. Sanftes Licht strahlte über den Park, dessen Gerüche uns umwehten. Wer hier spazieren ging, konnte sich für ein paar Stunden im Paradies wähnen – es sei denn, er kam von einer Welt,
auf der solche Naturspiele zum Alltag gehörten. Ich konnte mir das nicht vorstellen – eine derartige Fülle exotischer Pflanzen und Tiere ließ sich wahrscheinlich in weitem Umkreis nicht finden. »Unglaublich«, murmelte Pazzon. Er ließ die flinken Augen wandern, es sah aus, als halte er nach Beute Ausschau. Foinsell zeigte sich gänzlich unbeeindruckt, er jammerte und seufzte ab und zu. Kennennick hielt sich eng an Foinsells Seite, während ich mich umsah. Vielen der Kranken verschaffte bereits der Anblick dieses künstlichen Paradieses eine erste Linderung, und sei es nur dadurch, daß sie vom Reiz der Landschaft abgelenkt wurden und nicht mehr an ihre Gebrechen dachten. Das galt insbesondere für jene Hilfesuchenden, deren Leiden hauptsächlich psychischer Natur waren. Mir fiel auf, daß der Weg der Besucher nur eine Richtung kannte – auf den Mittelpunkt des Energiedomes zu. Ich konnte niemanden sehen, der gerade vom Kristall kam und einen geheilten Eindruck machte. Ich vermutete, daß wir nach dem Besuch des Kristalls durch eine andere Abteilung des Geländes geschleust wurden und es auch an anderer Stelle wieder verließen. »Weiter!« drängte Foinsell. Viele der Ratsuchenden bewegten sich sehr langsam durch den Park. Wir mußten unser Tempo ein wenig zügeln, um nicht durch ungebührliche Hektik aufzufallen. Häufig sahen wir Priester des Kristallkultes, die sich um die Patienten kümmerten und dabei manches kostbare Geschenk absahnten. Der Kristallrummel war in erster Linie ein Geschäftsbetrieb, und zwar ein sehr erfolgreicher, wie man sehen konnte. Für das Gelbe Trio, die Organisatoren dieses medizinischen Zirkusunternehmens, mußte dabei ein Vermögen herausspringen – und entsprechend würden sie sich gegen Störungen sichern. Der eigentliche Wunderkristall war noch einmal in eine Energiehülle gesteckt worden, eine gleißend helle, blauweiße
Leuchtschale, die den Kristall überwölbte und für unsere Augen unsichtbar machte. Nur zwei Personen hatten Zutritt zu diesem Heiligtum, sorgfältig achteten die Priester am Eingang darauf. Der Eingang selbst war so angelegt worden, daß man auch von dort aus den Kristall nicht zu sehen bekam. Es ging durch eine Sperre, dann einen gewinkelten Energiekorridor entlang – und dann stand man endlich vor dem Kristall. Pazzon und Kennennick waren als erste an der Reihe. Sie verschwanden im Eingang. Auf einem Bildschirm kontrollierte der Kristallpriester die Zahl der Personen im Schrein – sobald der innere Raum frei war, durften die nächsten beiden eintreten. »Glückliche Genesung«, sagte der Priester rechts von mir, als ich neben Foinsell eingelassen wurde. Es klang sehr einstudiert. Die gleißende Helle umgab uns. Ich schielte ein wenig zur Seite, um mehr von Foinsell sehen zu können, aber dessen Vermummung bestand auch diesen Test. Dann standen wir vor dem Kristall. Er war außerordentlich groß – ein gezacktes Gebilde ohne erkennbare Regelmäßigkeit in der Form, zirka fünfunddreißig Meter hoch, von einer stumpfblauen Farbe. Beim ersten Blick war ich enttäuscht. Gewiß, der Klotz war riesig, aber das war auch alles. Foinsell näherte sich dem Gebilde. Wäre er ein Mensch gewesen, hätte er sein Ohr an den Kristall gehalten, so wirkte die Bewegung. »Gut«, murmelte Foinsell. »Sehr gut. Er ist tot, genau das Richtig für das Schiff.« Er schlich um den Kristall herum. Ich ging auf den Brocken zu und berührte ihn. Das Material war kalt … Nein! Kalt vielleicht, aber ganz bestimmt nicht tot. Ich konnte es spüren, nicht über die normale Sinneswahrnehmung. Es war wie eine Eingebung, aber überaus bestimmt. Der Kristall lebte. Mehr noch. Ich spürte tief in mir einen kaum
wahrnehmbaren Druck, ein sehr sanftes Drängen. Mir zwängte sich der Verdacht auf, der Kristall wolle mir etwas mitteilen. Der Logiksektor gab keinen Kommentar zu dem Gedankensturm, der mich durchflutete. Ich blieb mit den Rätseln und meinen Zweifeln allein. »Komm«, sagte Foinsell von der anderen Seite her. »Ich weiß, was ich wissen will.« »Du willst ihn wirklich stehlen?« fragte ich. »Nein«, antwortete Foinsell trocken. »Du wirst ihn stehlen.« 6. Einsatzbesprechung, das ganze Kristallteam saß beieinander, Kennennick eingeschlossen. Er machte einen frischen Eindruck, von Verwundungen war nichts zu sehen – war das die Wirkung des Lummensand‐Kristalls oder das Ergebnis des Abschminkens? »Vergessen wir einmal alles andere«, sagte Pazzon laut, »übersehen wir die Wachen, die Roboter, die Sicherheitsmaßnahmen, von denen uns Atlan berichtet hat – in jedem Fall bleibt ein Problem völlig offen. Wie bekommen wir diesen Kristall in unser Schiff? Das Riesending ist ohne aufwendige Hilfsmittel nicht von der Stelle zu bewegen, und wenn wir mit einem entsprechenden Maschinenpark anrücken, haben uns die Wachen des Gelben Trios in zwei Nanosekunden erledigt.« Kennennick preßte die Lippen aufeinander. Er stand auf und verließ den Raum. Das hatte er schon zweimal getan, und jedesmal hatte er ein kleines Funksprechgerät mitgenommen. Ich vermutete, daß er den Stand der Lage mit Gentile Kaz diskutierte und dessen Anweisungen einholte. Als er zu uns zurückkehrte, machte er ein finsteres Gesicht. »Die Sache ist entschieden«, sagte er ohne Umschweife. »Das Problem des Kristalltransports braucht euch nicht zu interessieren.«
»Es interessiert uns aber sehr – schließlich müssen wir bei der Sache unsere Hälse riskieren.« »Dafür seid ihr ausgebildet worden«, gab Kennennick zurück. Einige in der Runde waren schockiert, obwohl sie von der Lebensverachtung Kennennicks und Gentiles doch schon mehr als eine Kostprobe zu sehen bekommen hatten. Waren sie etwa in dem Irrglauben mitgeflogen, der Einsatz des Kristallkommandos sei nichts weiter als ein spannendes Abenteuer? Ich war mir von Anfang an darüber klar gewesen, daß wir ein Himmelfahrtskommando bildeten – wichtig war bei der ganzen Aktion nur das Ergebnis. Um welchen Preis er erreicht wurde, war für Kennennick und Gentile Kaz offenkundig nebensächlich, allerdings für Kennennick nicht im gleichen Maß, denn er würde die Aktion mitmachen. Aber der Thater in den Diensten von Gentile Kaz war ein so harter und erprobter Kämpfer, daß seine Aussichten die besten waren. »Wann soll die Aktion beginnen?« »In dieser Nacht«, entschied Kennennick. Jedenfalls hörte es sich so an – in Wirklichkeit war diese Entscheidung schon lange vorher von Gentile Kaz getroffen worden. Seltsamerweise wünschte ich uns sogar Erfolg, obwohl ich mir darüber klar war, daß jede positive Entwicklung zugunsten von Gentile Kaz anderen zum Schaden gereichen mußte. Aber zum einen wollte ich diesen Einsatz selbst gern überleben, zum anderen hatte ich durchaus nichts dagegen, wenn dieser widerwärtige Wunderrummel mangels Kultgegenstands in sich zusammenbrach. Schon nach so kurzer Zeit waren die Beweise absolut eindeutig – es ging nur um Geschäfte, von Heilung, Wundern gar, konnte keine Rede sein. Aber jede Kostbarkeit, die die Verzweifelten für diesen Wahnwitz opferten, fehlte ihnen, um einen wirklichen Fachmann zu konsultieren. Hätten sich das Gelbe Trio und die nicht minder skrupellose Priesterzunft darauf beschränkt, wohlhabenden Neurotikern das Geld aus der Tasche zu ziehen –
sollten sie. Aber sie plünderten auch gewissenlos andere aus, die ihre letzten Besitztümer zusammengekratzt hatten, um von dem Wunder geheilt werden zu können. Um dieser Wesen willen war es mir nur recht, wenn der Kristall verschwand. »Schade, daß Blackbox uns bei den Vorbereitungen und Planungen nicht mehr helfen kann«, meinte Warze. Eine beklemmende Pause entstand. Die Geschichte hatte sich im Kristallkommando herumgesprochen, und jeder wußte, daß er das nächste Opfer sein würde, wenn er sich davonzumachen versuchte. Wir hatten Foinsell oder Kennennick im Verdacht, unseren Gefährten kaltblütig getötet zu haben. Bei Foinsell war ich mir nicht sicher, bei Kennennick hingegen gab es keine Zweifel, daß er zu solchen Handlungen fähig war. »Wir kommen auch ohne den Verräter aus«, sagte Kennennick. »Das Material, das wir brauchen, wird rechtzeitig geliefert werden, darum braucht ihr euch keine Sorgen zu machen.« Kennennicks Blick richtete sich auf mich. »Dir wird der entscheidende Anteil bei diesem Unternehmen zufallen«, sagte er. »Du wirst das Kristallschiff steuern.« Ich nickte. Damit hatte ich gerechnet. Was Kennennick nur andeutete, waren die Risiken, die damit verbunden waren. Vermutlich sah das Programm so aus: Sprengung aller Hindernisse auf dem Weg zum Kristall, gleichzeitig Start des Kristallschiffs. Hinflug zum Kristall – während gleichzeitig der ganze Planet alarmiert wurde – Transport des Kristalls ins Schiff, Start in den freien Raum und dann eiligste Flucht. Nur mit einer außerordentlichen Portion Glück war diese Aufgabe zu lösen. »Wann soll ich an Bord gehen?« »Das wird dir rechtzeitig mitgeteilt werden«, antwortete Kennennick. Die Besprechung ging weiter, die Einzelheiten wurden durchgesprochen. Das Ergebnis war wenig erfreulich – uns stand
ein hartes Stück lebensgefährlicher Arbeit bevor. Ich war ziemlich verwundert, als ich feststellte, daß ich nicht nur als Pilot des Raumschiffs fungieren sollte, sondern außerdem noch Aufgaben beim eigentlichen Diebstahl des Kristalls zu bewältigen hatte. Als ich nachfragte, verwies mich Kennennick auf seine Anweisungen, die ihm jede Erläuterung verboten. Nach der Besprechung trennten wir uns. Es blieben uns noch zehn Stunden bis zum Beginn der Aktion. Ich nutzte die Zeit, um nach den beiden jungen Leuten zu sehen. Sie waren brav in ihren Unterkünften geblieben. »Wie sieht es an Bord der KHARLHON aus?« fragte ich. »Wer ist an Bord?« Ily machte ein bedrücktes Gesicht. »Von den Piraten nicht viele, nur ein Dutzend, aber die halten die Tante als Geisel fest.« Ich unterdrückte eine Verwünschung. Wie sollte ich dieses Problem lösen? »Paßt auf. Eure Chancen sind nicht sehr groß, das gebe ich sofort zu. Aber vielleicht schafft ihr es, wenn ihr den Überraschungseffekt ausnutzt. Es wird in dieser Nacht sehr viel Aufregung geben.« »Woher weißt du das?« »Das kann ich euch auch nicht verraten. Das Durcheinander wird so groß sein, daß Ishan‐Khan seine Leute zusammentrommeln wird – und zwar möglichst alle, da bin ich mir ganz sicher. Wahrscheinlich werden an Bord nur zwei, höchstens drei Wachen übrigbleiben. Traut ihr euch zu, die mit Narkowaffen auszuschalten?« Die beiden sahen sich an, dann nickten sie. »Wenn das Chaos am größten ist, schaltet ihr die Wachen aus und übernehmt wieder die Kontrolle über das Schiff. Eines dürft ihr dann aber unter gar keinen Umständen tun – starten. Bleibt, wo ihr seid, laßt niemanden an Bord – und startet nicht. Das könnte für euch tödlich werden.«
»Das alles klingt sehr geheimnisvoll«, meinte Ily. Er sah mich aufmerksam an. »Aber gut, ich werde tun, was du vorschlägst. Wie lange müssen wir auf Lummensand bleiben?« Ich lächelte. »Ihr werdet den richtigen Zeitpunkt für den Start schon finden«, antwortete ich. »Ich kann euch jetzt keine weiteren Einzelheiten verraten, aber nach dieser Nacht werdet ihr vermutlich keine Schwierigkeiten mehr haben.« »Das klingt fast zu gut, um wahr zu sein«, seufzte Ily. Ich verließ die beiden und kehrte zu den Gefährten von der Kristallbrigade zurück. Pazzon wartete auf mich, er wirkte aufgeregt. »Ich kann es kaum erwarten«, erklärte er, als ich ihn danach fragte. »Ich friere vor Ungeduld.« Ich wölbte die Brauen, sagte aber nichts. Früher hatte ich von dieser Ungeduld nicht viel bemerkt. Ich nutzte die Zeit und überprüfte die Ausrüstung. Dieser Coup war von langer Hand vorbereitet worden, das stand für mich nach kurzer Zeit fest. Zwar kannte ich mich in den Verhältnissen Alkordooms nicht aus, aber nach mir bekannten Maßstäben gemessen, war unsere Ausrüstung ebenso erlesen wie teuer. Jemand – Gentile Kaz vermutlich – hatte einen erheblichen Aufwand betrieben, um diesen Kristall in seinen Besitz zu bringen, wobei Kaz vermutlich der Verlust seiner Ausrüstung schmerzlicher sein würde als der Tod seiner Mitarbeiter. Danach legte ich mich schlafen. Es versprach eine turbulente Nacht zu werden. * »Leise!« wisperte Warze. »Seid leise und vorsichtig, sonst werden wir noch gehört.«
Schwer hatten wir an unserem Gepäck zu tragen. Die Ausrüstung wog viele Zentner, die zu schleppen alles andere als leicht war. Vor uns wölbte sich der Energieschirm über dem Wunderkristall. Er war unser Ziel, und Kennennick achtete darauf, daß die Gruppe eng beisammen blieb. Auch Foinsell hatte sich uns angeschlossen. Kennennick hob die Hand. »Deckung!« rief er leise. Ich robbte zu ihm hin. »Was gibt es?« Kennennick murmelte einen wüsten Fluch. »Diese elenden Piraten sind auf den gleichen Gedanken gekommen wie wir«, knurrte er. »Sieh nur, ich bin sicher, daß sie es sind.« Von der Stadt her näherte sich mit höchster Fahrt eine Schar schwerer Gleiter. Kennennick hob das Fernglas, um die Fahrzeuge besser beobachten zu können. »Sie sind es«, murmelte er. »Und sie kommen mit schweren Waffen.« Ich sah, daß er erbleichte und für Sekunden völlig erstarrt wirkte. »Diese Schufte«, kam es dann über seine Lippen. Ich fand diese Bemerkung eher spaßig. Kennennick war selbst ein Schurke der übelsten Sorte, dem ein Leben nichts bedeutete – das eigene ausgenommen. Was ihn dazu brachte, über eine Bande von Weltraumpiraten derart zu lästern, war mir nicht erklärlich. Und noch rätselhafter erschien es mir, daß er erbleicht war. Zu den wenigen rühmenswerten Eigenschaften des Thaters gehörte ein unglaublicher Mut – ich konnte mir nicht vorstellen, daß ihn die Piraten derart erschreckt haben sollten. Die Gleiter kamen herangejagt. Sie wirbelten gewaltige Staubfontänen hinter sich auf, und als sie an uns vorbeirasten, legte sich dieser Staub wie eine Decke über uns. »Liegenbleiben!« bestimmte Kennennick. Er beobachtete weiter die Piraten – soweit das bei den Lichtverhältnissen überhaupt
möglich war. Kennennick wandte den Kopf. »Kannst du die Stelle trotzdem noch finden?« fragte er und deutete auf den Staubschleier, der sich über die Wüste legte. »Ich hoffe es«, antwortete ich. Diese Oberflächenveränderung war nicht groß genug, um mich vor Probleme zu stellen – das fotografische Gedächtnis würde den fraglichen Ort zuverlässig finden. »Sehr langsam weiter«, bestimmte Kennennick. »Paßt auf, daß ihr nicht gesehen werdet.« Wir marschierten hinter den Piraten her, die ihre Gleiter bis dicht an die Energiekuppel her anfuhren und absprangen. Beim Vorbeifahren hatte ich sehen können, daß sie sich tatsächlich mit den drei Lähmmutanten zusammengetan hatten. War es das, was Kennennick so erschüttert hatte? Thater, die für eine andere Facette arbeiteten? Ich konnte mir nicht vorstellen, daß Kennennick sich darüber erregte. Was aber hatte ihn dann erschreckt? Langsam kamen wir den Piraten näher. Sie hatten ein schweres Energiegeschütz herbeigeschafft, wahrscheinlich von ihrem Schiff. Es war in Einzelteile zerlegt worden und mußte jetzt zusammengebaut werden. »Stümper«, murmelte ich. Tipa Riordan hätte ihre Leute zu besseren Leistungen gedrillt. In ihrer Piratengruppe hatte es solches Durcheinander nicht gegeben. Und ein Haufen Freifahrer unter Dantons Führung – nun, die wären vermutlich mit dem Kristall bereits auf und davon gewesen, Die Piraten von Ishan‐Khan brauchten entsetzlich lange, bis sie ihr Geschütz endlich montiert hatten. »Sie wollen uns die Arbeit abnehmen«, sagte Kennennick grinsend. »Sie werden die Wachen alarmieren«, erinnerte ich ihn. »Sollen sie!« zischte der Thater. »Herhören! Vergrabt eure Gepäckstücke, zieht euch aus und verwendet die Paste aus eurem Gepäck zum Einreiben. Danach rollt ihr euch im Sand und grabt
euch selbst Deckungen. Vorwärts.« Neu war dieser Trick nicht. Schon Cochise hatte ihn verwendet. Rasch befolgten wir Kennennicks Anweisungen. Wenn der Kerl nicht ein Schurke gewesen wäre, hätte man ihn zum USO‐ Spezialisten schulen können. Der Thater verstand sein Handwerk, seine Anweisungen kamen knapp und unzweideutig. Fünf Minuten später lagen wir im Sand, der zum Glück noch ein wenig Wärme von der Tagessonne behalten hatte. Zu sehen waren wir nicht mehr – daumendick klebte der Staub auf unseren eingesalbten Körpern, und bei dieser Beleuchtung waren wir vom Boden und von den herumliegenden Steinen nicht mehr zu unterscheiden. Bei den Piraten löste sich der erste Schuß aus dem Geschütz. Grell flimmerte es an der Energiekuppel auf, und einen Sekundenbruchteil später wurde der Höllenspuk wieder entfacht. Wieder erklang das gräßliche Schreien, wieder traten die Alptraumbilder zutage. »Vergeßt eure Medikamente nicht«, mahnte Kennennick. Gegen das Geschrei halfen Ohrstöpsel, die hypnotische Bilder konnten durch Psychopharmaka in ihrer Wirkung geschwächt werden. Ich ließ meine Kapsel in den Sand rollen und verließ mich auf meine Mentalstabilisierung. Wild feuerten die Piraten auf die heranstapfenden Riesenroboter. Da es sich dabei nur um Projektionen handelte, erreichten sie mit dem Schießen überhaupt nichts. Es sei denn, man wollte das Auftauchen einer vierzigköpfigen Roboterschar als Erfolg bezeichnen. Sie sprossen aus dem Boden wie Pilze nach einem Sommerregen, von einem auf den anderen Augenblick waren sie da, und die Maschinen eröffneten sofort das Feuer. Ich preßte die Zähne aufeinander. Helfen konnte ich den Piraten nicht, aber es war trotz der Verbrechen, die diese Leute auf dem Gewissen hatten, unerträglich,
miterleben zu müssen, wie sie von den Robotern erbarmungslos niedergekämpft wurden. »Was hast du vor?« schnauzte Kennennick, als ich mich bewegte. »Informationen sammeln«, antwortete ich und robbte weiter. Als ich nahe genug heran war, hatte der Kampf bereits ein Ende gefunden. Von der Mannschaft des Ishan‐Khan hatten nur acht den Kampf überlebt, die anderen waren von den Robots getötet worden. Hätten die Überlebenden sich nicht ergeben, die Robots hätten auch sie niedergemacht. Überlebt hatten auch die drei Thater, die eng nebeneinander standen und grimmig dreinblickten. »Sprechverbot!« sagte einer der Roboter, als Ishan‐Khan den Mund öffnen wollte. Der Khan schluckte und schwieg. In einem auffallend gelben Gleiter kamen sie herangebraust, hielten an und stiegen aus. Die Namen hatte ich bereits gehört, jetzt bekam ich das Gelbe Trio zu sehen. Pymo Bryter galt als der eigentliche Kopf des Dreiergespanns, ein überaus stämmiger Hominide mit roten Haaren. Hätte ich nicht gewußt, daß ich in der Galaxis Alkordoom steckte, ich hätte auf einen Springerabkömmling getippt. Bryter war ursprünglich in der Quarzproduktion beschäftigt gewesen und hatte als erster die Chancen erkannt, die der Kristall bot. Nummer zwei war ein spindeldürrer Abkömmling eines Flugvolkes, der Kaufmann der Gruppe. Cordell, so hieß der Gefiederte, galt als rücksichtsloser Schacherer, Schieber und Ausbeuter. Für die Sicherheit auf Lummensand war Kessa zuständig, ein Thater, der in dem Ruf stand, bei jeder Gelegenheit Verdacht zu schöpfen und mißtrauisch zu werden – mit den entsprechenden Folgen für seine Umgebung und seine Gesprächspartner. Die drei stiegen aus und schritten langsam zu den Gefangenen hinüber. Ich war nahe genug, um die Worte hören zu können, der
Wind trug den Schall sehr weit. »Schon wieder welche«, hörte ich Cordell krächzen. »Diese Kerle werden immer dreister.« Die Gefangenen rührten sich nicht. Angst stand in ihren Gesichtern geschrieben. Die Gelben Drei bauten sich vor ihren Häftlingen auf. »Gebt ihr zu, daß ihr den Kristall stehlen wolltet«, begann Pymo Bryter und strich sich den rötlichen Bart. »Nein«, antwortete Ishan‐Khan. »Wir wollten nur …« »Hör zu«, sagte Bryter scharf. »Wir haben Augen im Kopf, und hier gibt es genug zu sehen. Also stiehl uns nicht unsere Zeit – sonst werden wir dir ein Stück von deiner Zeit nehmen.« »Von der Lebenszeit«, setzte Cordell hinzu. »… und zwar den ganzen Rest«, schloß Kessa ab. »Ihr wolltet den Kristall«, behauptete der Bryter ein zweites Mal. »Die Opfergaben«, gab Ishan‐Khan zu. Ich sah, daß er vor Angst schwitzte. »Nun, das Geständnis genügt«, meinte Kessa freundlich. »Dann brauchen wir keine Todesurteile zu verhängen.« Ich sah, daß sich die Gesichter der überlebenden Piraten entspannten. Mich hätten diese Worte nur mißtrauisch gemacht. »Statt dessen werdet ihr arbeiten dürfen«, fuhr Cordell fort. »Gratis, versteht sich. Wir brauchen noch Arbeiter für die Bergwerke. Es gibt Winkel dort, da wollen wir keine Maschinen einsetzen – sie sind zu teuer.« Niemandem der Piraten brauchte man zu erklären, wie diese Bemerkung gemeint war. Ishan‐Khan rollte mit den Augen, dann wollte er sich auf den ersten des Gelben Trios stürzen. Bevor er noch den ersten Schritt vollendet hatte, stürzte er zu Boden. Kessa hatte ihn kaltblütig niedergeschossen. »Jetzt hatte Gentile Kaz einen Agenten weniger«, sagte der Thater und schob die Waffe zurück. »Und nun zu euch dreien.«
7. Die drei Thater standen wie aus Stein gemeißelt. Sie sahen das Gelbe Trio an. »Wir beobachten euch schon geraume Zeit«, ließ sich Kessa vernehmen. »Auch eure seltsamen nächtlichen Besuche hier am Kristall sind uns nicht verborgen geblieben. Aber ihr habt nie versucht, etwas zu stehlen. Was hattet ihr dann hier zu suchen?« »Wir …«, begann Korbatt zögernd. Er stockte. Kessa hatte seine Waffe auf ihn gerichtet. Ich konnte ihn nur von hinten sehen, nicht sein Gesicht. »Was habt ihr mit dem Kristall zu tun?« »Und in wessen Auftrag?« Eine Reihe von Fragen prasselte auf die Gefangenen herab, die nicht wagten, sich zu rühren. Ich sah aber, daß sie sich aus den Augenwinkeln heraus ansahen. Ihre Züge wirkten sehr angespannt. Währenddessen wurden die überlebenden Piraten von den Robots weggetrieben, in die Bergwerke Lummensands. Wenn ich mir vorzustellen versuchte, welche Verbrechen diese Weltraumbanditen begangen haben mochten, empfand ich wenig Mitleid mit ihnen. »Wir werden die Wahrheit sagen«, erklärte Korbatt schließlich. »Ehrlich und offen – aber nicht, wenn ihr eure Waffen auf uns richtet.« »Bedingungen stellen wir, nicht ihr«, entgegnete Kessa. Ich sah, daß die drei Mutanten ihre Gesichter zu einem triumphierenden Grinsen verzogen. Wahrscheinlich wollten sie jetzt die Waffen oder die Körper des Gelben Trios lähmen. »Das glaubt ihr«, sagte Korbatt höhnisch. »Auf diese Gelegenheit haben wir zwar nicht gewartet – aber wir sind heilfroh, daß sie sich ergibt.« »Was soll das heißen?« fragte Bryter. »Daß jetzt wir an der Reihe sind«, stieß Korbatt vor. Ich sah, wie er
zur Waffe griff. Die Ereignisse der nächsten Sekunden waren so widersprüchlich, daß ich nicht dazu kam, in irgendeiner Form einzugreifen. Ich hatte Mühe, die Zusammenhänge zu begreifen. Ich sah, wie Korbatt seine Waffe zog und auf Kessa anschlug. Ich sah auch, daß Kessa seine Waffe hob und damit auf Korbatt zielte. Im nächsten Augenblick jagte ein Ausdruck panischer Angst über das Gesicht des Mutanten. Auf mich wirkte er wie jemand, der mit einem Schlag den völlig sicher geglaubten Boden unter den Füßen verliert. Dann waren nur die Geräusche von Schüssen zu hören, Schreie und Getümmel. Fehlschüsse wirbelten Sand auf, der mir die Sicht nahm. Als er sich wieder legte, war nur noch Korbatt zu sehen. Er war tödlich getroffen, die anderen fünf lagen am Boden und rührten sich nicht mehr. Ich sah, wie Korbatts Mund ein Wort formte. »Verräter!« stieß er hervor, dann fiel er vornüber und blieb liegen. Ich hatte Mühe, die Übelkeit zu unterdrücken, die in mir aufstieg. Die sechs hatten sich gegenseitig erschossen, obwohl die Mutantengabe der Thater das eigentlich hätte verhindern müssen. War es das gewesen, was Korbatt so maßlos erschreckt hatte? Daß er nicht mehr in der Lage war, auf sein Gegenüber lähmend einzuwirken? Ich kam nicht dazu, diese Frage zu klären, denn im nächsten Augenblick begann der Boden zu vibrieren, und durch meinen Schädel gellte ein schriller Schrei, der rasch erstarb, zu einem kläglichen Wimmern wurde und dann völlig verstummte. Im gleichen Augenblick beruhigte sich auch der Boden. Hinter mir erklangen Schrittgeräusche. Kennennick kam herangestürmt. Er sah aus, als habe er einen Marathonlauf hinter sich, völlig ausgepumpt und keuchend. »Los«, stieß er hervor. »Wir müssen uns beeilen. Aber jetzt haben wir die Chance, auf die wir gewartet haben. Beeilt euch.«
»Soll ich nicht zum Schiff?« fragte ich. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Sicherheitsmannschaften eintrafen und das Blutbad entdeckten. »Später!« stieß Kennennick hervor. Er zerrte mich mit sich. Dank des fotografischen Gedächtnisses fand ich sehr bald den Platz, den ich suchte – eine der Luken, aus denen die Robots hervorzusteigen pflegten. Eine Sprengladung ließ den Lukendeckel in tausend Stücke zerspringen, eine weitere Ladung zerstörte zwei Robots, die dort einsatzklar gewartet hatten. Kennennick stürmte als erster in die Grube. Im rückwärtigen Teil gab es eine Metalltür, dahinter fand sich ein langer unterirdischer Gang, der ins Innere der Energieglocke führte. Ich sah feine Schweißperlen auf Kennennicks Stirn. Hintereinander krochen wir durch diese Röhre. Sie war elend eng und natürlich nicht dazu gedacht, daß Lebewesen mit empfindlichen Häuten hindurchkrabbelten. Wir scheuerten uns die Gesichter und Hände auf, außerdem staubte es entsetzlich. Kennennick arbeitete wie ein Besessener weiter, und hinter mir drängelte Warze. Pazzon folgte als nächster. »Halt!« bestimmte Kennennick. »Granate her!« Ich reichte ihm den Sprengkörper. Kennennick stieß die Luke auf und warf die Granate, sobald die Öffnung groß genug war. Die Ladung ging hoch und zerstörte zwei Robots, die dort gelagert worden waren. Durch den Qualm und den Rauch robbte Kennennick weiter, ließ sich in den Raum förmlich fallen und riß seine Waffe hoch. Mit gezielten Feuerstößen zerstörte er zwei weitere Robots und einen Schaltkasten. Der Raum versank in Finsternis. Ich schaltete den Handscheinwerfer ein. »Nach rechts«, ordnete Kennennick an. Wir drangen weiter vor. Die nächsten beiden Roboter hatten nur Wartungsaufgaben zu erfüllen, aber Kennennick zerstörte auch sie. Er hatte sich in einen regelrechten Kampfrausch hineingesteigert.
Nach meiner Schätzung hatten wir längst den Innenbereich der Anlage erreicht, als Kennennick stoppte. Er deutete mit der Waffe nach oben. Ich sah eine Wendeltreppe aus Metall. Mit dröhnenden Schritten stieg Kennennick hinauf. Der Raum darüber war frei, aber in der nächsten Kammer entdeckten wir vier Kristallpriester, auf die Kennennick sofort eine Waffe anschlug. Im letzten Augenblick gelang es mir, ihm den Lauf nach unten zu schlagen, so daß sein Schuß nur auf den Boden traf. »Nicht töten!« schrie ich. »Wir nehmen sie als Geiseln – für alle Fälle.« »Was soll das?« schrie Kennennick wutentbrannt. »Das Gelbe Trio nimmt keine Rücksicht auf sie.« »Das Gelbe Trio gibt es nicht mehr«, erinnerte ich ihn. Kennennick starrte mich finster an, dann nickte er. »Einverstanden!« Er griff zu einer anderen Waffe, und er brauchte nur eine halbe Sekunde, um die Priester zu betäuben. Sie waren bewußtlos, ehe sie den Boden berührten. Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Kennennick hatte mein Argument gelten lassen, mehr konnte ich für den Augenblick nicht erreichen. Der Thater stürmte weiter. Jetzt hielt er den Paralysator in der Rechten und den Strahler in der Linken. Wir brauchten drei Minuten, um die nächsten Räume zu säubern. Die meisten der Kristallpriester lagen in tiefem Schlaf und waren betäubt, ehe sie auch nur hatten wach werden können. »Noch ein Stockwerk höher!« bestimmte Kennennick. Foinsell hatte sich an uns herangeschoben. Er trug keine Waffe – also bekam ich auch seine Hände nicht zu sehen. »Zum Kristall«, stieß er hervor. Eine Treppe führte hinauf an die Oberfläche. Wir kamen in einem der kleinen Tempel heraus, in dem die Opfergaben aufbewahrt
wurden – wenigstens für kurze Zeit. Danach wurden die Kostbarkeiten unter scharfer Bewachung weggeschafft, gegen glitzernde Imitate ausgetauscht und verwertet. Der Gewinn war bisher meist in die Taschen des Gelben Trios geflossen, ein wenig hatten auch die Kristallpriester davon profitieren können. Kennennick schenkte den Juwelen keinerlei Beachtung. Sein Trachten stand einzig nach dem Kristall. Obwohl die Lage jetzt vergleichsweise entspannt war, wirkte er auf mich wie einer, der um das nackte Überleben kämpft. Nur wenige Schritte vom Tempel entfernt wölbte sich der innere Energieschirm. Jetzt war auch der Zugang versperrt. Er hätte uns ohnehin nichts genutzt – durch diese Öffnung bekam man den Kristallriesen nicht heraus. »Interferenz‐Generator!« forderte Kennennick. Colamm, der den größten Teil dieser Last getragen hatte, eilte herbei. Zusammen mit Warze und Pazzon baute er das Gerät zusammen. Den Akku‐Satz, der für befristete Zeit die Energie lieferte, hatte Einbein zu tragen gehabt. »Los!« feuerte Kennennick uns an. Das Gerät nahm seine Arbeit auf. An einer Stelle überzog sich das Weiße des Schirmfelds mit bläulichen Schlieren, dann wurde es langsam transparent. »Lockart, los«, bestimmte Kennennick. »Der Reaktor für das Schirmfeld liegt unter dem Kristall. Ausschalten.« Foinsell trat an meine Seite. »Endlich!« murmelte er. Ich drehte mich zu ihm um. Ich sah, daß er den Umhang ein wenig hob, dann spürte ich, wie er mich berührte – ein Gefühl ungeheurer Kälte durchrieselte mich … … und im nächsten Augenblick war ich in einem Raum, den ich bestens kannte, in der Zentrale des Kristallschiffs. »Anweisung: Starten!« Ich blieb wie erstarrt stehen. Wo war Foinsell? Und zu wem
gehörte die Stimme? Die ganze Besatzung war auf Lummensand. »Starten!« Die Stimme war durch Geräuscheffekte verändert, aber eines war nicht zu überhören – der so sprach, war gewohnt, daß man seine Befehle sofort und ohne Zögern ausführte. Ich ließ die Triebwerke des Schiffes an. »Ziel?« »Lummensand‐Kristall!« bestimmte die Stimme aus dem Lautsprecher. Zufällig warf ich beim Starten einen Blick auf die Monitore, die das Schiff von außen zeigten, und einen Augenblick lang glaubte ich zu halluzinieren. Der Kristall, der auf Garzwon an Bord montiert worden war, der sich beim Landeanflug auf Lummensand scheinbar verflüchtigt hatte oder unsichtbar geworden war, er steckte wieder am gewohnten Platz. Das Schiff stieg in die Höhe. »Schneller!« drängte die Stimme. Jetzt erkannte ich sie wieder, und durch meinen Schädel schoß ein unheimlicher Gedanke. Waren Foinsell, der Vermummte von Garzwon, der seltsame Kristall und Gentile Kaz etwa ein und dasselbe Wesen – nur in jeweils anderer Gestalt? Vermutlich, kommentierte der Logiksektor. Zum Beweis sind allerdings noch mehr Informationen nötig. Ich ließ das Schiff im Niedrigflug über Lummenor hinwegjagen. Jetzt bekam auch das eigentliche Simulatortraining seinen Sinn. Mein Kommandeur ließ mich so niedrig fliegen, wie es technisch überhaupt zu vertreten war. Daß bei diesem Flug ganz Lummenor aus den Betten geworfen wurde, daß Scheiben zu Bruch gingen und schreckhafte Leute Schocks bekamen – das schien meinen Befehlsgeber nicht zu stören. Ich hatte zwar geahnt, daß unsere Aktion spektakulär sein würde, aber mit einem solchen Auftritt hatte ich nicht gerechnet. Das Gelände des Kristalls kam in Sicht.
»Verzögern und warten!« bestimmte mein Befehlshaber. Ich war immer sicherer, daß es sich dabei um Facette Gentile Kaz selbst handelte. Durfte ich ihm unter diesen Umständen den Kristall überhaupt ausliefern? War der Lummensand‐Kristall vielleicht eine Art größerer Bruder dieses einen Kristalls? Wenn Gentile Kaz schon solche Macht und Fähigkeiten besaß, wozu mochte der Riesenkristall dann fähig sein. »Sprengköpfe abwerfen und zünden!« »Aber da unten sind Lebewesen«, protestierte ich. »Das Kristallkommando ist unter dem inneren Schirm geschützt, die anderen in ihren Unterkünften. Abwerfen und zünden!« Ich gehorchte. Eine Energiebombe zerstörte den äußeren Schutzschirm, die Reaktoren flogen in die Luft – nach ein paar Sekunden war der wundervolle Kristallpark völlig zerstört. »Flieg zum inneren Schirm!« »Achtung, Angriff!« meldete ich. In der Ferne waren die ersten bewaffneten Gleiter aufgetaucht, und es konnte nicht mehr lange dauern, bis ein paar Raumschiffe in den Kampf eingriffen. Ich zog das Kristallschiff zum inneren Energieschirm hinüber, der noch immer stand. Auch das Interferenzfenster, durch das wir eingedrungen waren, war verschwunden. »Warten!« Die Lage wurde von Augenblick zu Augenblick bedrohlicher. Ich zählte inzwischen an die sechzig Gleiter, die sich uns näherten, der größte Teil davon aus Richtung Lummenor, die anderen kamen von den Bergwerken. Vermutlich waren sie als Gegner ernst zu nehmen. Die empörten Glücksritter und Ganoven Lummenors brachten schwerlich mehr als ein paar Handfeuerwaffen mit, aber die Bergwerksgleiter konnten leichte Geschütze, Raketenwerfer und Kampfroboter transportieren. Mit einem Schlag erlosch der innere Schirm. Lockart hatte den Reaktor gesprengt – und dieses Manöver mit dem Leben bezahlt,
wie ich an den Spuren sehen konnte. »Kristall an Bord nehmen!« bestimmte Gentile Kaz. »Zuerst die Kristallkämpfer!« stieß ich hervor. Gentile Kaz hatte das Kommando selbst übernommen. Das Kristallschiff sank herab, fuhr Greifarme aus und packte den Kristall. Scheinbar mühelos wurde er angehoben und in den hinteren Teil des Doppelbügels eingepaßt. Ich ließ derweil die Schleuse öffnen und schaltete das Außenbordmikrofon ein. »Kommt an Bord!« Während der Kristall einrastete, eilte Kennennick auf die Schleuse zu. Ich sah, wie er die Waffe hob. Er verwendete noch immer einen Paralysator, aber das Ergebnis war für die Kristallmannschaft das gleiche – was Kennennick nicht jetzt tat, das würden die Nachfolger des Gelben Trios besorgen. Fassungslos vor ohnmächtiger Wut sah ich, wie Kennennick die Gefährten betäubte. Pazzon war der letzte, der auf dem Boden landete und sich nicht mehr rührte. »Blitzstart«, ordnete Kaz an. Die ersten Schüsse trafen die Schutzschirme des Kristallschiffs. Ich ließ die Schleuse zufahren – leider erst, nachdem Kennennick an Bord gekommen war. Dann ließ ich das Schiff mit Höchstwerten beschleunigen. Das Kristallschiff machte förmlich einen Satz und schoß über die heranfliegenden Gleiter hinweg, bevor die Mannschaften die mittelschweren Geschütze in Stellung bringen konnten. Diese Gefahr war vorläufig erledigt, aber dafür zogen neue Risiken herauf. Das Kristallschiff flog knapp über dem Boden dahin. Riesige Mengen Wüstenstaub wurden aufgewirbelt und nahmen den Verfolgern die Sicht. Mit den Massetastern oder Energietastern war es natürlich immer noch sehr leicht, das Schiff in diesem Stauborkan anzupeilen, aber die Wirkung der Schüsse wurde stark dadurch beeinträchtigt, daß der Waffenstrahl auf seinem Weg erst Milliarden
von Staubkörnern zu zerstören hatte, bevor er auf den Schirmfeldern des Kristallschiffs einschlagen konnte. Kennennick erschien in der Zentrale und ließ sich auf den Sitz des Zweiten Piloten fallen. »Saubere Arbeit«, lobte er, ich sah ihn verächtlich an, und er grinste. Es war deutlich zu spüren, daß das Schiff einen Kristall zusätzlich an Bord hatte. Es ließ sich leichter fliegen, reagierte schneller und vertrug erheblich höhere Belastungen. Lummenor tauchte am Rand des Gesichtsfelds auf. Jetzt kam es darauf an, schnell und richtig zu handeln. Ich aktivierte die Geschütze des Kristallschiffs. Es war unglaublich schwierig, zugleich zu fliegen und die Geschütze zu bedienen. Natürlich hätte ich diese zweite Aufgabe auch Kennennick übertragen können, aber was der daraus gemacht hätte, lag auf der Hand. Der Rand von Lummenor war erreicht, und ich ließ die Geschütze feuern. Wer jetzt noch nicht auf den Beinen war, wurde spätestens durch dieses Geschützfeuer geweckt. Kennennick fand ungeheuren Spaß an dem Schießen. Daß ich die Geschütze nur auf Ziele einsetzte, deren Zerstörung keine Leben fordern konnte, entging ihm im Eifer des Gefechts. Die Wirkung, die ich mit diesem Feuer erzielte, war spektakulär genug. Einmal erwischte ich die Schnapsvorräte eines Schwarzhändlers, die mit gewaltigem Getöse in die Luft flogen, ein anderes Mal mußte eine Gruppe Arbeitsrobots daran glauben. »Auf dem Raumhafen sind alle startfähigen Schiffe zu vernichten«, ordnete Gentile Kaz an. »Das kostet zuviel Zeit«, gab ich zurück. »Flugunfähigkeit reicht aus.« »Zustimmung!« Wieder traten die Geschütze in Aktion. Ich zielte auf Landestreben, auf Tanks, auf Ortungssysteme und ähnliche
Einrichtungen. Damit waren die Schiffe für Stunden und Tage außer Gefecht gesetzt, und das genügte vollauf. Für das, was Gentile und Kennennick in dieser Lage getan hätten, gab ich mich nicht her. Wir brauchten nur knapp dreißig Sekunden, um den Raumhafen einmal zu überfliegen. Nach einem zweiten Überflug war keines der Schiffe mehr einsatzbereit – von einem schäbigen Raumer abgesehen, auf den ich keinen einzigen Schuß abgegeben hatte, weil das die Mühe nicht lohnte. Hoffentlich konnten die beiden jungen Leute damit etwas anfangen. »Anweisung, schnellstmögliche Flucht aus dem System«, ordnete Gentile Kaz an. Seine Beute hatte er nun – jetzt kam es ihm darauf an, sie auch in Sicherheit zu bringen. 8. »Lauf!« schrie Ily. »Das ist das Zeichen, das Atlan erwähnt hat. Jetzt müssen wir handeln!« Die beiden rannten die Straße von Lummenor entlang – so schnell es die Verhältnisse zuließen. Auf den Straßen herrschte das Chaos. Wesen aus allen Bereichen Alkordooms rannten durcheinander und verwandelten das Zentrum der Stadt in ein Tollhaus. Lummenor brannte an zwei Dutzend Stellen, und die Robotfeuerwehr hatte alle Hände damit zu tun, diese Brände zu löschen, zumal die Arbeiten durch die aufgescheuchten Bewohner der Stadt behindert wurden. Die Nachricht vom Angriff auf den Lummensand‐Kristall hatte sich rasend schnell herumgesprochen. Wer eine Waffe tragen konnte, hatte sich auf den Weg zum Kristall gemacht, zum Teil per Gleiter, zum Teil zu Fuß. Mitten auf dem Weg war diese Kolonne von dem Verbrecherraumschiff überrascht worden. Es hatte zahlreiche Unfälle gegeben, die dank der Automatiken alle glimpflich verlaufen waren, aber das allgemeine Durcheinander nur
noch vergrößerten, zumal die Gerüchteküche förmlich überbrodelte. »Hunderte von Toten!« schrie jemand aufgeregt. »Ich habe es gerade gehört, diese Schurken haben einfach den ganzen Zug zusammengeschossen.« »Das sieht Atlan gar nicht ähnlich, daß er sich an so etwas beteiligt«, meinte das Mädchen. »Wer weiß, ob er damit überhaupt etwas zu tun hat«, stieß Ily hervor. Er mußte so schnell wie möglich einen Gleiter finden, der ihn und seine Freundin hinausbrachte aus der Stadt. Wenn es jemals eine Chance gegeben hatte, die KHARLHON zurückzuerobern, dann jetzt. Vermutlich würden sich fast alle Piraten mitten im Getümmel befinden, blind vor Wut darüber, daß ihnen jemand offenkundig zuvorgekommen war. In einer Nebenstraße fand Ily endlich einen klapprigen Gleiter. Er gehörte einem stämmigen Jamnuser, den Ily in einer der Schenken gesehen hatte – ein übler Beutelschneider und Betrüger. Ily hatte keine Hemmungen, den Halunken zu betäuben und ihm den Gleiter abzunehmen. »Los, steig ein«, forderte er. Das Mädchen zögerte. »Bist du dir darüber im klaren, was du zu tun beabsichtigst?« fragte sie. »Ich will mein Schiff zurückhaben«, erklärte Ily und forderte das Mädchen mit energischen Bewegungen auf, endlich einzusteigen. »Und dann werde ich von hier verschwinden, für immer.« »Und mich willst du mitnehmen?« Ily schüttelte den Kopf angesichts von soviel Begriffsstutzigkeit. »Natürlich«, sagte er und wies auf das Chaos ringsum. »Oder möchtest du lieber in dieser Räubersiedlung leben?« Das Mädchen stieg ein, Ily beschleunigte den Gleiter und jagte los. Er war pfiffig genug, keine der Hauptstraßen zu verwenden, die von aufgeregten Bewohnern Lummenors wimmelten. Er raste durch die Nebenstraßen, bis er sicher war, daß er das Hauptgetümmel
hinter sich gelassen hatte. »Bist du dir im klaren darüber, daß ich alles im Stich lasse, wenn ich mit dir fliege?« »Hör auf, mir Vorwürfe zu machen. Seit wir uns getroffen haben, mäkelst du an mir herum.« »Doch wohl mit Recht, schließlich schleppst du mich seither durch die Gegend, von einer Aufregung in die nächste. Jetzt soll ich auch noch kämpfen.« Ily seufzte laut. Der Gleiter jagte die Ausfallstraße zum Raumhafen hinunter. Immer wieder mußte Ily gewagte Ausweichmanöver wählen, um entgegenkommenden Fahrzeugen auszuweichen. Riesige Rauchsäulen über dem Landefeld bewiesen, daß das Räuberschiff auch dort zugeschlagen hatte. Hoffentlich war es nicht die KHARLHON, die da blakend ausbrannte, hoffte Ily inbrünstig. Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als er das Feld endlich unbeschadet erreichte. Der Raumhafen bot einen trostlosen Augenblick – überall standen angeschlagene Raumschiffe herum, einige umgestürzt, andere in Flammen aufgegangen, wieder andere mit riesigen Löchern in den Bordwänden. Nur ein Schiff schien unversehrt zu sein – die KHARLHON. Schäbig und scheinbar verlassen stand sie am Rand des Raumhafens. Ily lenkte den Gleiter bis dicht an die Schleuse und stieg aus. »Willkommen an Bord«, sagte eine fröhliche Stimme. »Gräzzer!« rief Ily erfreut. »Ich habe mir erlaubt, die ungebetene Besatzung dieses Schiffes zu desaktivieren«, erklärte Gräzzer. »Wenn du gestattest, werde ich diese Lümmel von Bord schaffen.« »Einverstanden«, sagte Ily erleichtert. »Wie ist es mit der Tante? Auch von Bord?« »Gräzzer!« rief Ily empört. Der absonderliche Robot fuhr zwei Dutzend Augen aus und
begutachtete das Mädchen. »An Bord?« fragte er zweifelnd. »Ja«, sagte Ily und merkte entgeistert, daß er schon wieder gelb anlief. »Muß das sein?« wollte Gräzzer wissen. »Wir haben schon Ärger genug.« »Ich will es so«, erklärte Ily energisch. Gräzzer fuhr seine Augen wieder ein. »Meinetwegen«, krächzte er. »Einem Roboter würde so etwas nicht passieren – hoffentlich!« Grummelnd machte er sich an die Arbeit, während Ily in die Zentrale der KHARLHON vorstieß. Dort lag der letzte der Piraten am Boden und schnarchte. Seine Augen waren halb geöffnet und wirkten glasig, außerdem roch er stark nach Tante Atas Medizin. Seltsam, daß es ihm dann noch so schlecht ging. »Wie hast du das gemacht?« wollte Ily wissen, als Gräzzer wieder in der Zentrale erschien. »Sehr einfach«, erklärte Gräzzer, während er sich den Bewußtlosen auflud. »Ich habe ihm nur gesagt, wo die Tante ihre sogenannte Medizin versteckt, den Rest hat er selbst besorgt. Die anderen habe ich mit Elektroschocks gelähmt.« »Und die Tante?« »Liegt im Koma«, antwortete Gräzzer. »So sagt sie jedenfalls. Hoffentlich hat sie recht.« »Deine Sprache ist entsetzlich«, maulte Ily. Er sah auf den Panoramaschirm. Gräzzer hatte die Raumbeobachtung eingeschaltet. Deutlich war zu sehen, wie von den anderen Landeplätzen des Planeten ein Schiff nach dem anderen aufstieg, um sich auf die Jagd nach den Kristalldieben zu machen. Jetzt begriff Ily, warum Atlan ihn angewiesen hatte, nicht sofort zu starten, wenn sich eine Gelegenheit bot – man hätte sonst ihn für den Dieb gehalten und erbarmungslos gejagt. »Schleuse geschlossen und gesichert«, gab Gräzzer durch. »Wir
können starten.« Ily schnallte sich auf dem Pilotensitz fest. Behutsam, wie es die altersschwachen Einrichtungen der KHARLHON erforderten, leitete er den Start ein. Seit die Piraten an Bord gekommen waren, hatte sich auf diesem Gebiet allerdings einiges geändert – immerhin hatten die Weltraumbanditen vier Tage lang emsig gearbeitet, um das Schiff von innen so weitgehend zu reparieren, wie das nur möglich war. Dabei hatten sie in ihrer Hoffnung auf die ganz große Beute weder Material noch Mühen gescheut. Die KHARLHON stieg langsam auf. »Paß auf, daß sie nicht auch noch uns jagen«, sagte das Mädchen leise. Gräzzer baute sich zwischen den beiden Sitzen auf und begaffte das Panoramabild. »Was für eine Aufregung«, sagte der Roboter. »Und das alles nur wegen eines Stücks toter Materie.« »Bist du vielleicht etwas anderes?« fragte Ily, während er die KHARLHON vorsichtig in einen stabilen Orbit brachte. Im Raum um Lummensand wimmelte es von Schiffen jeglicher Art, und fast alle beteiligten sich an der Jagd auf das flüchtige Schiff. Jetzt erst erkannte Ily dieses Schiff wieder – es war das Kristallschiff, und sein Pilot mußte Atlan sein. Ily zuckte zusammen. Was war der Rat eines Kristallräubers wert? War dies vielleicht eine Falle für Ily und die KHARLHON? Ausgerechnet diesen Zeitpunkt hatte sich Tante Ata ausgesucht, um ein Lebenszeichen von sich zu geben. Aus dem Lautsprecher erklang ihr Schimpfen durch alle Räume. Ily stieß einen Seufzer aus. »Wir bleiben noch ein wenig in der Parkbahn«, sagte er und stand auf. »Ich werde nach der Tante sehen.« »Ich komme mit«, entschied das Mädchen. Gräzzer hatte die Tante eingesperrt, und dem entsprach ihre Laune. Als Ily vorsichtig die Tür öffnete, brach eine
Schimpfkanonade über ihn herein, wie er sie noch nie gehört hatte. Das Trommelfeuer von Beschwerden und Klagen hörte erst auf, als das Mädchen auf der Schwelle erschien, begleitet von Gräzzer, der einen großen Behälter voll Wasser schleppte – zu welchem Zweck auch immer. »Was hat dieses Mädchen hier zu suchen?« fragte die Tante. Sie stemmte die Arme in die Hüften. »Wo sind die anderen Passagiere?« »Wir sind allein«, berichtete Ily und lief – zum wievielten Mal schon in diesen Tagen – gelb an. Die Tante machte große Augen, ihr Unterkiefer klappte herunter. »Soll das heißen …? Ja, bist du denn verrückt geworden? Ohne meine Erlaubnis …?« Das Mädchen hatte sich gegen die Tür gelehnt und ließ ihren Blick zwischen Ily und der Tante hin und her wandern. Es war offensichtlich, wessen Sieg in diesem Streit sie erwartete. Ily hatte das Gefühl, immer mehr einzuschrumpfen, es war scheußlich. Er raffte allen Mut zusammen. »Deine Erlaubnis brauche ich nicht«, brachte er mühsam über die Lippen. Der Tonfall, in dem er diese Behauptung aufstellte, strafte den Text Lügen, und die Tante ließ sich diesen Fehler nicht entgehen. »Die brauchst du nicht? Und wer soll für dich sorgen? Dieses Kind etwa, die sich mit fremden Burschen herumtreibt?« Das angesprochene Kind nahm Gräzzer den Behälter ab, machte einen Schritt auf die Tante zu und goß ihr wortlos den Inhalt über den Kopf. Ily duckte sich – gegen das, was jetzt kommen mußte, war eine Atomexplosion ein gelindes Lüftchen. Nichts dergleichen geschah. Die beiden Frauen sahen sich nur an. Minutenlang herrschte eine furchtbare Stille in der Kammer der Tante. »Willkommen«, sagte Ata schließlich, ein wenig stockend. »Ich glaube, wenn wir uns beide ein wenig Mühe geben, können wir
gute Freundinnen werden.« Ily glaubte, nicht richtig zu hören. Kein Wutausbruch, keine Beschimpfungen? »Da bin ich ganz sicher«, sagte das Mädchen freundlich. Sie sah Ily an, und dieser Blick verriet soviel Triumphgefühle, daß Ily fast schlecht wurde dabei. Gräzzer war vorangegangen. Neben dem Sitz des Piloten hatte er sich aufgebaut. »Was soll ich nur tun?« jammerte Ily. »Es ist entsetzlich. Wenn die beiden sich wirklich anfreunden … nicht auszudenken.« »Dann denk nicht daran«, empfahl Gräzzer. »Außerdem wird das Problem ohnehin in wenigen Augenblicken gelöst sein – wir werden nämlich bald gerammt.« Ily warf den Kopf herum. Auf dem Panoramaschirm konnte er sehen, was sich zugetragen hatte. Das Kristallschiff hatte einen Haken geschlagen, eine Bahn einmal rund um Lummensand beschrieben und setzte nun zum Angriff auf die Verfolger an, die als letzte aufgebrochen waren. Ily ließ die Triebwerke der KHARLHON mit höchsten Werten laufen, um aus der Schußbahn zu geraten. Trotz der Verbesserungen, die die Piraten eingebaut hatten, kamen ein paar g bei der Beschleunigung durch. Ily wurde in den Sitz gepreßt, und aus den Lautsprechern erklang das wütende Protestgeschrei der beiden Frauen. »Jetzt reicht es«, murmelte Ily. Mit einem Handgriff stellte er den Lautsprecher ab, ein zweiter Schalter ließ sämtliche Schotte zufahren. Das Kristallschiff jagte heran. Es war ungeheuer schnell und wendig. Ily spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Im letzten Augenblick schaffte er es, aus der Schußbahn zu kommen – aber einen Treffer mußte die KHARLHON dennoch einstecken. Er traf das Schiff mit solcher Wucht tangential auf die
Schirmfelder, daß die KHARLHON um ihre Längsachse zu rotieren begann. Hätte Ily nicht die Gurte seines Sitzes aktiviert, wäre er durch die Zentrale geschleudert worden. Mit letztem Einsatz schaffte er es, das Schiff wieder auf einen einigermaßen stabilen Kurs zu bringen. Es war ihm jetzt völlig gleichgültig, was außerhalb der KHARLHON passierte, er hatte jetzt nur noch einen Gedanken – so schnell wie möglich zu verschwinden, bevor die Sache lebensgefährlich wurde. Die KHARLHON vibrierte in allen Verbänden, als Ily mit höchster Energieleistung beschleunigte. Er wählte einen Kurs aus, der ihn möglichst weit vom Getümmel um Lummensand wegführte, und es war ihm gleichgültig, wohin das Hyperraummanöver ihn führen würde. Irgendwie mußten es die beiden Frauen geschafft haben, sich trotz der Schottverriegelung aus ihrer Kabine zu befreien. Sie erschienen gemeinsam in der Zentrale. Natürlich waren sie bei der Drehung herumgewirbelt worden und sahen entsprechend zerrupft aus, und die Launen waren nicht wesentlich besser anzusehen. Dann machte Ata einen Fehler. Sie ging auf Ily zu, griff nach den Instrumenten und schob den Beschleunigungshebel zurück. Ein solcher Eingriff in die Kompetenzen des Piloten war unerhört – Ily blieb vor Staunen der Mund offenstehen. »So«, sagte die Tante energisch. »Diese Herumspielerei hat jetzt ein Ende.« »Allerdings«, entfuhr es Ily. Er löste die Gurte und stand auf. Dann öffnete er den Mund. Was er in den nächsten fünf Minuten von sich gab, genügte, um die Tante schreckensbleich zurückweichen zu lassen, dem Mädchen den Mund weit zu öffnen und Gräzzer ein beifälliges Quietschen zu entlocken. Unmißverständlich und drastisch machte Ily seinen Zuhörerinnen klar, was er von ihren Spielchen hielt und wie er zu reagieren gedachte, wenn sie noch einmal versuchten, ihn zu ihrem
Hanswurst zu machen. Ilys Gebrüll klang von den Wänden der Zentrale zurück, allein die Lautstärke ließ keinerlei Zweifel daran, wie er seine Worte meinte – ernst und unwiderruflich. »Aber Junge«, machte die Tante, als Ily geendet hatte und sich mit einem wohligen Gefühl der Befriedigung in seinen Sessel zurückfallen ließ. »Verschwinde!« brüllte Ily. »Ich will dich in den nächsten Stunden nicht in der Zentrale sehen.« Das genügte. Krakeelend und maulend, aber immerhin folgsam, verließ Ata die Zentrale der KHARLHON. »So gefällst du mir viel besser«, sagte das Mädchen. »Dazu kommen wir später«, meinte Ily und grinste schief. »Zuerst wollen wir aus diesem Trubel heraus. Ich habe keine Lust, von einem dieser Verrückten abgeschossen zu werden. Und dir schlage ich vor, daß du einmal nachsiehst, was die Piraten in unseren Laderäumen so alles verstaut haben. Halte vor allem nach Lebensmitteln und Ersatzteilen Ausschau.« Das Mädchen machte eine zustimmende Geste und verschwand hastig aus der Zentrale. »Endlich«, sagte Gräzzer laut. »Ich dachte schon, ich würde durchrosten, bis es soweit ist.« Ily lachte unterdrückt. Die KHARLHON entfernte sich von Lummensand. Das Durcheinander im Weltraum wurde immer größer, und wenn Ily einen Blick auf den Planeten selbst warf und sich den Funkverkehr anhörte, konnte er sich ausrechnen, daß auch auf Lummensand alles Kopf stand. Der Diebstahl des Kristalls hatte mit einem Schlag alle Bewohner auf die Beine gebracht – schließlich wußte niemand, wie sich die Dinge danach weiter entwickeln würden. »Ily!« Ily schaltete den Bildschirm ein, der den Laderaum zeigte, von dem aus das Mädchen ihn angerufen hatte. »Sieh dir das an«, stieß sie hervor. »Sie haben ihre ganze Beute an
Bord gebracht.« Ily quollen fast die Augen aus dem Kopf, als er die Schätze sah. Juwelen und Geld, Kunstwerke und seltene Rohstoffe, Kostbarkeiten jeder Art. »Ob wir das behalten können?« fragte das Mädchen und wühlte in einem Bündel kostbarer Stoffe herum. Ily schluckte. Er wußte, daß die Piraten diese Schätze auf schändliche Weise zusammengetragen hatten, daß Blut an diesen Reichtümern klebte. Aber er wußte auch, daß es völlig ausgeschlossen war, diese Schätze den Erben der Geplünderten wiederzugeben. Der Schatz der Weltraumpiraten war herrenlos, und ihn irgendwelchen Behörden zu übergeben, fiel Ily nicht ein. »Wir behalten das Zeug«, sagte er schließlich. Er sah auf den Bildschirm. »Vorausgesetzt, wir kommen aus diesem Chaos heraus.« Einstweilen sah es nicht danach aus. Ein paar Sekunden, bevor Ily seine Entscheidung getroffen hatte, hatte sich die Zahl der im Raum herumjagenden Schiffe vergrößert. Mindestens einhundert fremde Schiffe waren mit einem Schlag aufgetaucht, und Ily wußte sofort, daß diese Schiffe überaus gefährlich waren. »Heiliges Sternenlicht«, stöhnte er auf. »Das hat uns gerade noch gefehlt. Zulgeas Wespen, ein ganzer Schwarm davon.« »Wo?« fragte das Mädchen erschreckt. Ily brauchte nur einen Blick auf den Bildschirm zu werfen, um die Antwort geben zu können. »Sie kommen genau auf uns zu«, stieß er hervor. 9. »Was hat das nun wieder zu bedeuten?« fragte ich.
Auf dem Energietastermonitor waren die neu angekommenen Schiffe deutlich zu erkennen. Im Gegensatz zu dem buntscheckigen Haufen, der uns bisher verfolgt hatte, handelte es sich bei diesen Schiffen um einen einheitlichen Typ. Nach meinen Meßdaten waren sie knapp fünfundzwanzig Meter lang, sehr schlank und wendig, beinahe zehn Meter durchmessend mit einem großen Multifunktionstriebwerk am Heck und kleineren Korrekturtriebwerken an den Seiten. Auffällig waren sechs Landebeine am unteren Teil des Schiffskörpers. Kennennick stieß eine Verwünschung aus. »Ein Wespenschwarm von Zulgea«, stieß er hervor. »Ich kenne diese Schiffe, sie sind sehr gefährlich.« Ich schätzte die Entfernungen ab. Wir hatten gute Chancen, dem Schwarm zu entkommen. Die Bezeichnung Wespen fand ich außerordentlich passend – sie schwirrten tatsächlich heran wie ein Schwarm stechgieriger Wespen. Die Schiffe wurden von Leuten gesteuert, die ihre Befehle von Zulgea, der Hexe, bekamen. Was hatten sie hier zu suchen? War es ein Zufall, daß sie ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt im Raum um Lummensand auftauchten? Ich erinnerte mich an die drei Mutanten, die in Zulgeas Diensten gestanden hatten. Sie waren nicht darüber verärgert gewesen, daß sich ihre Herrin nicht gemeldet hatte. War dieser Schwarm das Kommando, auf das die Mutanten so sehnsüchtig gewartet hatten? Eine Antwort auf diese Frage war nicht vordringlich – es gab Wichtigeres zu tun. Die Wespen schlugen einen sehr klar erkennbaren Kurs ein. Ein Teil steuerte Lummensand an. Ich ahnte, daß die Selbständigkeit des Planeten damit ein Ende finden würde. Der größte Teil der Wespen jedoch hatte einen Kurs programmiert, der einen ganz bestimmten Punkt im Raum anpeilte – jenen Punkt, den wir bei Beibehaltung unseres Kurses in absehbarer Zeit passieren mußten.
Es sah ganz danach aus, als machten Zulgeas Kämpfer Jagd speziell auf das Kristallschiff. Ich warf einen Blick auf den Panoramaschirm. Das Ortungssystem sorgte dafür, daß dort nicht nur die Umgebung Lummensands zu sehen war – alle Planeten, Asteroiden und dergleichen – sondern auch die Schiffe im Raum, die bei diesen Entfernungen viel zu klein waren, um noch gesehen werden zu können. Ich überließ die Auswertung dieses Bildes dem Logiksektor – und das Ergebnis überraschte mich durchaus nicht. Schon ein paar Sekunden nach dem Erscheinen des Wespenschiffe war das Durcheinander der Lummensand‐Flotte so groß geworden, daß niemand mehr das Ziel all dieser Aktionen zu erkennen vermochte. Daß diese Vielzahl von Schiffen Jagd auf das Kristallschiff machte, ging aus dem Wirrwarr nicht hervor. Die Schlußfolgerung daraus lag auf der Hand – schon bei ihrem Erscheinen hatten die Kommandanten der Wespen genau gewußt, nach welchem Schiff sie Ausschau zu halten hatten. War Verrat im Spiel? »Geschwindigkeit erhöhen«, erklang die Stimme von Gentile Kaz. »Beeilt euch!« Ich beschleunigte das Kristallschiff mit höchsten Werten, aber seltsamerweise kroch die Anzeige des Fahrtmessers vergleichsweise langsam in die Höhe. Die Flugrichtung der Wespen zielte jetzt genau auf uns. Eine Überschlagsrechnung ergab, daß sie uns in spätestens einer halben Stunde vor ihren Geschützen haben mußten. Was die Verteidigungsmittel des Kristallschiffs aushielten, wußte ich nicht – einem solchen Massenangriff aber waren sie gewiß nicht gewachsen. »Warum ist die Beschleunigung nicht höher!« ereiferte sich Gentile Kaz. »Unbekannte Störung!« antwortete ich. Ich gab dem Bordrechner den Befehl, sämtliche Parameter zu überprüfen und mir das Ergebnis zu melden. Normalerweise hätte die Rückmeldung nach
ein paar Sekunden erscheinen müssen – aber auf dem Bildschirm erschien nichts. Das Kristallschiff schien immer träger zu werde. Als ich ein Seitenmanöver einleitete, das unseren Kurs korrigieren sollte, reagierte das Schiff mit unglaublicher Trägheit. Gleichzeitig registrierte ich bei mir eine sehr seltsame Stimmung – ich erkannte das Gefühlsbündel sofort wieder. Es war die dumpfe Ahnung, daß dieses Riesengebilde regelrecht lebte und mir etwas mitzuteilen wünschte. Und wie aus unglaublich weiter Ferne hörte ich in mir ein feines Wispern, als versuche ein Telepath mir eine Botschaft gleichsam ins Gehirn zu flüstern. Aber diese Botschaft war zu leise und schwach, als daß ich sie hätte erkennen können. Ich spürte nur, daß sie Not und Elend ausdrückte. Ich wandte den Blick zur Seite. Kennennick auf dem Sitz des Kopiloten hatte die Zähne aufeinandergepreßt. Sein Körper war schweißnaß, alle Muskeln wirkten angespannt, die Hände hatte er um die Lehnen des Sessels gekrallt. Auf dem Panoramaschirm war zu sehen, wie die Wespen die Lummensand‐Flotte auseinandertrieben. Ein paar Warnschüsse der schlanken Flugkörper schienen zu genügen, um die Kommandanten der Verfolgungsschiffe zu wilden Fluchtmanövern zu verleiten. Zulgeas Wespenflotte schien in diesem Be reich Alkordooms einen beachtlichen Ruf zu besitzen. Auch Gentile Kaz zeigte sich beeindruckt. Ich konnte ihn fluchen und schimpfen hören, ab und zu benutzte er Ausdrücke einer Sprache, die mit dem Alkordischen nichts gemeinsam hatte. »Pilot an Gentile Kaz«, sagte ich. Kaz verstummte für einen Augenblick. »Du hast mich identifiziert?« »Das war nicht besonders schwierig«, gab ich zurück. »Ich vermute, daß das Auftauchen der Wespenflotte auf das Werk eines Verräters zurückzuführen ist.« »Sehr raffiniert«, stieß Kennennick hervor. »Was soll das heißen?
Wer soll uns verraten haben? Ich etwa? Außer uns beiden ist niemand da.« »Niemand sagt, daß der Verrat hier und jetzt stattfindet«, antwortete ich. »Ich halte es für wahrscheinlich, daß die drei Mutanten Zulgeas Flotte informiert haben.« »Falsch«, gab Gentile Kaz durch. »Sie konnten nicht wissen, von wem der Kristall erbeutet wird. Außerdem waren sie selbst hinter der Beute her – das Auftauchen der Wespen würde im Erfolgsfall jetzt ihre Pläne empfindlich stören.« Während wir an der Sache herumrätselten und die Bewegungen des Kristallschiffs immer bleierner wurden, näherten sich uns die Wespen Zulgeas. Ich hatte den Verdacht, daß Gentile Kaz in Panik verfiel und deshalb nicht mehr in der Lage war, die Funktionen des Schiffs zu unterstützen. Wenn er beim Herannahen der Wespen noch ängstlicher wurde, dann hing das Kristallschiff bald bewegungslos im Raum und war manövrierunfähig. »Wir werden angefunkt!« rief Kennennick. »Verbindung herstellen«, bestimmte Gentile Kaz. Ich versuchte, aus der Lautsprecherstimme die Stimmung des rätselhaften Kristallwesens herauszufiltern; es gelang mir nicht. Auf einem der kleinen Monitore erschien das Bild eines Thaters, wahrscheinlich des Kommandanten der Wespenflotte. »An das Schiff der Kristallräuber. Stoppt und dreht bei.« »Abgelehnt«, antwortete Gentile, bevor Kennennick und ich etwas sagen konnten. »In diesem Fall werdet ihr angegriffen und vernichtet«, drohte der Thater. »Versucht es nur!« höhnte Gentile Kaz. Ich sah, daß der Thater blinzelte, aber in diesem Augenblick fielen sämtliche Bildschirme aus, und in der Zentrale erlosch das Licht. Kennennick stieß einen Fluch aus. »Sekundärsystem aktivieren!« bestimmte Gentile. Es dauerte ein paar Sekunden, dann wurde die Zentrale von der
Notbeleuchtung erhellt. An der Steuerung merkte ich, daß das Schiff immer lahmer wurde. »Ich schlage vor, den Lummensandkristall auszuklinken«, sagte ich. »Er beeinflußt die Steuerung des Schiffs, das Kristallschiff gehorcht kaum noch.« »Ausgeschlossen«, ereiferte sich Gentile Kaz. »Der Kristall ist dazu nicht in der Lage, er ist tot.« »Das ist er nicht«, widersetzte ich mich. »Ich habe spüren können, daß er lebt.« »Ich empfange keine entsprechenden Impulse«, antwortete Kaz. »Und ich muß es wissen.« Da hatte er zweifellos recht, und im gleichen Augenblick begriff ich den Zusammenhang. Jetzt wußte ich, was den Kristall auf Lummensand gehalten hatte, durch welche Kraft die drei Thater‐Mutanten umgekommen waren, wer die Schuld daran trug, daß das Kristallschiff kaum noch zu steuern war. Kennennick! Er war der Verräter. Er mußte die gleiche Mutantengabe haben wie die drei Agenten Zulgeas, und vermutlich hätte er sogar mit ihnen zusammenarbeiten sollen. Sie waren es auch gewesen, die den scheintoten Zustand des Kristalls herbeigeführt hatten. Kennennick hatte beim Zusammentreffen der Mutanten mit dem Gelben Trio eingegriffen und die Gabe seiner Mitagenten gelähmt oder deren Wirkung auf das Gelbe Trio aufgehoben. Nur so waren die Vorfälle zu erklären. Das seltsame Vibrieren des Bodens in diesen Augenblicken – wahrscheinlich war mit dem Tod der drei Lähmer auch der Kristall frei geworden, und Kennennick hatte es von da an übernommen, seinen Zustand der Lähmung aufrechtzuerhalten. Er war auch dafür verantwortlich, daß das Kristallschiff nicht mehr einwandfrei funktionierte.
Ein atemberaubender Coup – wenn er funktionierte, dann bekam Zulgea gleich eine ganze Reihe überaus wertvoller Geschenke: die Macht auf Lummensand, das Kristallschiff samt dem Lummensand‐ Kristall, und vor allem bekam sie Gentile Kaz zu fassen. Kennennick starrte mich an. Ich wollte den Mund öffnen, um Gentile Kaz zu warnen, aber ich schaffte es nicht. Eine bleierne Müdigkeit legte sich auf mich, ich konnte keinen Finger mehr rühren. Jetzt hatte er auch mich ausgeschaltet. Der Weg für Zulgea von Mesanthor war frei. Ich versuchte, mich dagegen aufzubäumen, es gelang nicht. Nur mein Verstand funktionierte noch einwandfrei. Gegen diese psionische Lähmung half auch die Mentalstabilisierung nichts – Kennennick wirkte nicht auf mein Hirn, sondern auf meine Muskeln ein, die keinem Nervenimpuls mehr gehorchten. Entspannen, meldete sich der Logiksektor. Wie so oft in vielen anderen Gelegenheiten hatte der Extrasinn die Lage analysiert und eine Gegenstrategie entworfen, von der ich nur hoffen konnte, daß sie funktionierte. Ich sackte zusammen. Kennennick grinste zufrieden. Im gleichen Augenblick ging ein Ruck durch meinen Körper. Es schmerzte ungeheuer – der Extrasinn wandte an Kräften auf, was nur zu mobilisieren war, um meinen Körper wieder beweglich zu machen. Die Ereignisse überschlugen sich. In die Schirmfelder des Kristallschiffs schlugen die ersten Treffer ein. Kennennick fuhr herum, starrte mich an und fletschte die Zähne. Er hatte mein Aufbäumen gesehen, und wuterfüllt zeigte er mir, wozu er in der Lage war. Es fühlte sich an, als habe die Pranke eines Giganten mich gepackt und versuche mich zu zerdrücken. Die Luft blieb mir weg – Kennennick dehnte seine psionische Lähmung auch auf die unwillkürlichen Bereiche meines Nervensystems aus.
Während mir der Atem stockte, erklang eine klare Stimme in mir. »Ich bin ANIMA, die du gesucht hast. Ich bringe mich zunächst in Sicherheit, denn mehr kann ich im Augenblick nicht tun. Aber wir werden uns wiedersehen.« Aus den Lautsprechern erklang ein Wutschrei. Aus den Augenwinkeln heraus konnte ich sehen, daß der große Lummensandkristall verschwunden war. In seiner Überraschung und seinem Grimm hatte Kennennick einen Augenblick vergessen, daß er nicht nur mit mir zu tun hatte, sondern auch den Kristall zu lähmen hatte. Als er all seine Kraft auf mich lenkte, verlor er den Kristall aus seinem Griff. ANIMA! Sie wurde auch »die Schlummernde« genannt, sie war das Werkzeug, das mir die Kosmokraten zur Verfügung stellen wollten, und wenn ich den Aufwand betrachtete, der um den Riesenkristall getrieben wurde, dann begriff ich, wie wertvoll ANIMA für mich sein würde. Allerdings nicht in diesem Augenblick. Ich sah es Kennennick an – er hatte entdeckt, was geschehen war. Er wußte, daß sein Spiel beendet war. Gentile Kaz war nicht dumm – er mußte jetzt wissen, wer der Verräter im Kristall‐Team gewesen war. Mir nutzte das allerdings nichts – wie hätte er mir auch zu Hilfe kommen sollen? »Kennennick, du elender Verräter«, gellte die Stimme von Kaz aus dem Lautsprecher. »Ergebt euch, oder wir eröffnen das Wirkungsfeuer«, erklang eine andere Stimme. In diese Geräusche hinein erklang ein hohes schrilles Surren, und dann sah ich einen glitzernden Körper mit unglaublicher Geschwindigkeit aus einer Wand hervorschießen. Er jagte funkenziehend durch den Raum, durchbohrte und tötete Kennennick und verschwand in der gegenüberliegenden Wand,
ohne dort auch nur den geringsten Schaden hervorzurufen. Der fürchterliche Druck auf meinen Lungen ließ nach, ich konnte wieder Atem schöpfen. Mit Schrecken stellte ich fest, daß Kennennicks Lähmung bei mir bei weitem nicht so schnell verflog wie bei ANIMA. Ich konnte noch immer keinen Finger rühren. »Schiff gehorcht nicht«, wütete Gentile Kaz. Die Wespen kamen immer näher, sie waren jetzt so nahe, daß sie in der Normaloptik zu erkennen waren. Grell leuchteten an den Hecks die Triebwerksstrahlen. Mit aller Kraft strengte ich mich an, konzentrierte mich auf einen Arm und versuchte ihn zu bewegen. Es war ein Gefühl, als müsse ich einen unerhört zähen Kleister mit der Hand durchschneiden – aber der Arm bewegte sich langsam. »Unternimm etwas!« schrie Kaz. Ich stemmte mich hoch. Das Kleistergefühl ließ sehr langsam nach, aber es machte mir sehr zu schaffen. Zulgeas Wespen hatten uns eingekreist. Die Lage schien hoffnungslos. »An Gentile Kaz«, brachte ich mühsam über die Lippen. »Keine Fluchtbewegung unternehmen.« »Was soll das?« fragte Kaz zurück. Diesmal war der Stimme eine Gefühlsregung anzumerken – es schwang nackte Verzweiflung darin mit. »Die Lähmung der Schiffsfunktionen wird langsam zurückgehen«, sagte ich stockend. »Zulgeas Kommandanten können nicht wissen, daß Kennennick tot ist. Sie werden sich auf sein Wirken verlassen und nicht mit einem abrupten Manöver rechnen. Um das durchführen zu können, müssen wir aber alle Reserven des Schiffes mobilisieren können. Eine verzögerte Flucht wäre ein Verhängnis.« »Zugestanden!« grollte Gentile. Ich schüttelte den Kopf, um die Nackenmuskeln zu lockern. Meine Bewegungen wurden allmählich wieder schnell und flüssig.
Jetzt kam es darauf an, wie schnell sich das Kristallschiff von Kennennicks Zugriff erholte. Ich vermutete, daß er sich die Arbeit dadurch vereinfacht hatte, daß er die Rechenprozesse der Bordpositronik verlangsamt hatte – auf diese Weise konnte er sämtliche Funktionen mit einem Schlag beeinträchtigen. Ich ließ meine Finger über die Eingabetastatur huschen. Ich packte den sogenannten Benchmark‐Test in eine Endlos‐Schleife, die die Positronik dazu zwang, diesen Rechengeschwindigkeitstest immer wieder abzuarbeiten und zugleich die Arbeitszeit anzuzeigen. Die Werte lagen bei einigen Millisekunden – für eine Positronik um den Faktor Tausend zu langsam. Aber die Zahl wurde kleiner und kleiner – wenn sie mit dieser Geschwindigkeit abnahm, war das Schiff in ungefähr fünf Minuten wieder leidlich einsatzklar. Ich gab die Daten an Gentile weiter, der außer einem Fluch in fremder Sprache nichts hören ließ. Zwanzig Wespen schwirrten um uns herum. Ich sah, daß die seltsamen Beinpaare nicht nur als Landestützen dienten, sondern auch anderweitig verwendet werden konnten – beispielsweise als Greifarme. »Beeile dich«, ließ sich Gentile hören. Was ihn in Panik versetzte, war auf dem Bildschirem deutlich zu sehen – eine der Wespen machte Anstalten, den verbliebenen kleineren Kristall – also Gentile Kaz – aus den Bügeln des Kristallschiffs herauszupicken. »Ruhe bewahren«, sagte ich. Die Anzeige sackte immer mehr nach unten – mit jedem Augenblick wurde die Positronik leistungsfähiger. »Noch zwanzig Sekunden!« gab ich durch. Die Wespe schwebte heran. Bei zwei anderen Schiffen waren offene Schleusen zu sehen. Gestalten in Raumanzügen stiegen aus und bewegten sich auf das Kristallschiff zu. Wir sollten geentert werden. »Jetzt!« schrie ich und preßte den Beschleunigungshebel mit aller
Kraft voran. Aus den Lautsprechern erklang ein Schrei. Das Kristallschiff machte einen Satz, der es binnen einer Zehntelsekunde um Kilometer von den Wespen entfernte. Das Schiff, das den Kristall Gentile Kaz zu entern versucht hatte, war gegen den Bügel geprallt und torkelte jetzt schwer angeschlagen durch den Raum. Das Kristallschiff nahm Fahrt auf. Gentile wußte, daß es für ihn um alles ging – wie immer er auch auf die Antriebssysteme des Schiffs einwirkte, er tat es mit allem, was ihm zur Verfügung stand. Rasch vergrößerte sich unser Vorsprung. Von den Verfolgern konnte nur die Hälfte die Jagd wieder aufnehmen, die anderen mußten ihren im Raum schwebenden Kameraden zu Hilfe kommen. Das vergrößerte unsere Chancen, Zulgeas Jägern zu entrinnen. Die Beschleunigungswerte des Kristallschiffs waren bei Gentiles verzweifelter Anstrengung ein wenig höher, als die Leistung der Wespen – der Abstand war bald so groß, daß sie uns mit ihren Buggeschützen nicht mehr erreichen konnten. Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Gut gemacht«, lobte Gentile, schwieg und stieß dann einen gellenden Schrei aus. 10. Nur wenige Lichtsekunden vor uns war eine Viererstaffel Wespen aufgetaucht, genau in Flugrichtung. Zufall oder nicht, kaum hatten sie uns geortet, eröffneten sie auch schon das Feuer auf das Kristallschiff. Die ersten Einschläge konnte das Schiff noch verkraften, die Schutzschirme hielten, aber dann brachen sie für einen Sekundenbruchteil zusammen, und der unmittelbar darauf einschlagende Treffer zerstörte das Heck des Kristallschiffs.
Gentile Kaz war verstummt. Vielleicht war er besinnungslos geworden, ich wußte es nicht. Das Kristallschiff änderte wegen des Treffers den Kurs und schaffte es so, den nächsten Schüssen der Wespen auszuweichen. An Bord der Zulgea‐Schiffe war der Einschlag registriert worden – sie wußten, daß wir kaum noch Chancen hatten, uns zu retten, daher reduzierten sie das Feuer ein wenig. Es wurde zu einem Nervenkrieg. Immer wieder hämmerten die Energiekanonen der Wespen gegen die Schirmfelder des Kristallschiffs, und bei jedem zweiten Einschlag kam genügend kinetische Energie durch, um das Schiff herumzureißen. Und jedesmal ging irgend etwas zu Bruch. In Sekundenabständen platzten die Monitoren, schmorten Kabelstränge durch, wurden Wände eingedrückt und Lecks in die Hülle geschlagen. Ich löste die Gurte meines Sitzes – es hatte keinen Sinn mehr, diesen Flug fortzuführen. Ich versuchte, nach hinten zu kommen. Unmittelbar an der Steuerzentrale schloß sich der Wohnbereich an. Auf dem Hinflug hatten wir dort gewohnt, jetzt waren die Kabinen leer, das Kristallkommando gab es nicht mehr – wahrscheinlich war ich der einzige Überlebende. Dahinter war ein großer Teil des Maschinenparks des Kristallschiffs untergebracht – Lebenserhaltungssysteme, Schwerkrafterzeuger, Hyperenergiespeicher, Notkraftwerk und auch eine Rettungskapsel. Diese Notkapsel war mein Ziel. Das Kristallschiff schien schwer angeschlagen zu sein. Ätzender Qualm quoll durch die Räume, über einigen Apparaturen tanzte bläuliches Elmsfeuer, es schepperte und krachte immer wieder. Ein Treffer riß mich von den Beinen und schleuderte mich gegen einen Schlafkasten, der Deckel fiel herunter und landete auf meinem Fuß. Nur humpelnd konnte ich die nächsten Schritte zurücklegen. Kein Ton von Gentile Kaz. Stellte er sich tot? Mit ungeheurem Getöse flog einer der Schutzschirmprojektoren
hoch. Es war das Prallfeld, das den größten Teil der auftreffenden kinetischen Energie absorbierte – der nächste Treffer würde demnach mit der Wucht einer hochgehenden Bombe ankommen. Ich humpelte so schnell wie möglich weiter. Meine Haare richteten sich auf, da der ganze Raum von elektrischen Feldern förmlich knisterte. Überall sprangen Funken über und zuckten Entladungen. Mehr als einmal krampfte ich mich zusammen, wenn ich einen solchen Stromstoß abbekam. Der Boden hob sich jäh unter meinen Füßen, ich stürzte zur Seite und schrammte an einer Wand entlang. Mein Anzug hing in Fetzen herunter. Mühsam kroch ich weiter, auf allen vieren. Eine Feuerlanze leckte durch den Raum, schmolz ein paar Sicherungen zusammen und ließ ein weiteres Mal die Beleuchtung ausgehen. Jetzt stand mir als Lichtquelle nur das fahle Licht der elektrischen Entladungen zur Verfügung. Endlich erreichte ich die Rettungskapsel. Die Tür war verriegelt. Ich stemmte mich hoch, um sie zu öffnen. Der Hebel klemmte, wahrscheinlich von einem mechanischen Treffer verbogen. Ich zog meine Waffe und hämmerte mit dem Kolben auf dem Hebel herum. Endlich bewegte er sich, die ovale Tür glitt zur Seite. Im Inneren der Kapsel ging das Licht an. Ich sah eine Art Wanne, an deren Rand zahlreiche Aggregate zu sehen waren. Hastig schloß ich die Tür von innen, schon wieder mußte ich die Verriegelung mit brutaler Gewalt betätigen. Das Innere war weitgehend gepolstert, und als der nächste Treffer das Kristallschiff erschütterte, flog ich zwar wieder durch die Luft, landete aber einigermaßen weich. Schnell kroch ich hinüber zu der Wanne. Sobald ich den Boden berührte, klappte ein transparenter Deckel über die Öffnung, ein Instrumentenpaneel schob sich von der Seite her über meinen Bauch, und auf einem eingespiegelten Bildschirmfenster konnte ich die umliegenden Räume sehen.
Das Kristallschiff war schwer beschädigt – es konnte in jedem Augenblick explodieren. Was aus Gentile Kaz wurde, war mir in diesem Augenblick gleichgültig. Ich sah den roten Knopf und drückte ihn in die Fassung. Mit ungeheurer Wucht wurde die Rettungskapsel aus dem Schiff geschleudert, sie überschlug sich und trudelte durch den Weltraum. Ich griff nach den Instrumenten und versuchte die Lage der Kapsel zu stabilisieren. Nach einigen Mühen gelang es mir auch. Die Flucht war geglückt – wenigstens vorerst. Ich konnte das Kristallschiff sehen, das hilflos durch den Raum trieb. Der Kristall Gentile Kaz war verschwunden, Schutzschirme waren nicht mehr zu erkennen – das Kristallschiff war ein Wrack. Auf dem Bildschirmfenster erschien eine grafische Darstellung der näheren Umgebung. Ich erkannte die vier Wespenschiffe, die ihr Feuer eingestellt hatten – und dann sah ich, ziemlich weit entfernt für meine Verhältnisse, ein anderes Schiff. Es mußte die KHARLHON sein. Meine Rettung? Ich untersuchte die Instrumente. Die Rettungskapsel konnte in unbeschränktem Umfang gesteuert werden. Bei sparsamen Umgang mit den Reserven konnte man damit eine Strecke von knapp zwei Lichttagen zurücklegen, Wasser und Luft reichten ebenfalls für einige Zeit aus. Ich ließ das kleine Triebwerk feuern. Die Kapsel setzte sich in Bewegung. Ein paar kleine Korrekturen noch, dann zielte ich genau auf die KHARLHON. Natürlich hatte ich damit gerechnet. Es wäre auch zu schön gewesen, hätten sich meine Wunschträume erfüllt. Die Wespenbesatzungen hatten selbstverständlich mein Fluchtmanöver mitbekommen – sie nahmen die Verfolgung auf. Für ihre Triebwerksverhältnisse war es ein Katzensprung. Ich sah sie heranrasen. Was würden sie tun? Schießen oder kapern?
Auf diese Entfernung konnte ein positronisch gesteuertes Geschütz keinen Fehlschuß mehr tun – sie wollten mich also lebend einfangen. Möglicherweise hielten sie mich sogar für Gentile Kaz, was vorerst meine Überlebenschancen gewaltig steigern konnte. Die Wespen waren so damit beschäftigt, mich einzusammeln, daß ihnen ein Vorgang entging, der auch mich in Erstaunen versetzte. Das Kristallschiff nahm plötzlich wieder Fahrt auf, und zwar mit beträchtlichen Beschleunigungswerten. Gentile Kaz hatte sich also nur vorübergehend totgestellt – und jetzt sah er zu, daß er sich davonmachte. Ehe die Wespenbesatzungen etwas von der Flucht bemerkten, hatte Kaz mit dem Kristallschiff bereits einen Vorsprung geschaffen, der nicht mehr einzuholen war. Wehmütig sah ich zu der KHARLHON hinüber. Es war verständlich, daß sich dort nichts regte – das Halbwrack wäre im Kampf mit den Wespen beim ersten Feuerstoß restlos zerstört worden. Drei der Wespen nahmen die Verfolgung der Facette auf, das vierte näherte sich meiner Rettungskapsel. Ich sah die ausgestreckten Greiferarme näherkommen, dann ging ein Ruck durch die Kapsel. Ich stellte das Triebwerk ab. An den Geräuschen und Bewegungen konnte ich ermessen, was mit mir geschah. Die Greifarme zogen die Kapsel an Bord und setzten sie auf dem Boden einer Schleuse ab. Dann marschierten Roboter auf, deren Marschtritt bis ins Innere der Kapsel zu spüren war. Jemand machte sich an den Verschlüssen zu schaffen. Ich drückte den Knopf, der das Rettungssystem abstellte. Die Instrumente und der Deckel wurden wieder eingefahren. Ich fühlte mich müde und zerschlagen. Das also war der Anfang meines neuen Auftrages im Dienst der Kosmokraten! Anstatt helfend in die Geschicke dieser Galaxis einzugreifen, war ich verschleppt worden und hatte einen
erbarmungslosen Ausleseprozeß über mich ergehen lassen müssen. Eingeteilt zu einem Haufen von mehr oder minder üblen Kreaturen hatte ich mich an einem Raubzug beteiligt, war betrogen und hintergangen worden und geriet nun von einer Gefangenschaft in die nächste. Was würden Zulgeas Leute mit mir vorhaben? Weitere Aktionen der Art, die ich gerade erlebt hatte? Wenn die Facetten mehr oder weniger dem Erleuchteten unterstanden, dann war nicht anzunehmen, daß sich in dieser sauberen Schar ein edles Gemüt befand. Ich kam mir vor, als würde ich von einer Mafia‐Familie in die nächste gestoßen. Gab es in Alkordoom überhaupt irgendeine Ordnungsmacht, die Rechtsgrundsätze beachtete? Oder war ich in einem galaktischen Gangsternest gelandet, in dem sich eine Reihe von Banden auf Kosten der Allgemeinbevölkerung befehdeten? Die Verriegelung der Kapsel wurde geöffnet. Wie ich nicht anders erwartet hatte, bekam ich als erstes die Mündung einer Waffe zu sehen. Ein Thater hielt sie mir vors Gesicht. »Das ist nicht Gentile Kaz«, sagte eine Stimme aus dem Hintergrund. »Nur einer seiner Leute.« Der Thater – das Abzeichen schien ihn als Kommandanten der Wespe auszuweisen – stieß eine Verwünschung aus. »Zulgea wird toben, wenn sie das erfährt«, murmelte er und sah mich an. »Los, steh auf und komm mit.« Er verlieh seiner Aufforderung mit einem Wink seiner Waffe das nötige Gewicht. Langsam kletterte ich aus der Wanne. Jeder Muskel schien zu schmerzen, und beim ersten Auftreten wäre ich fast der Länge nach hingeschlagen. Der lädierte Fuß versagte den Dienst. Die Mehrzahl der Besatzungsmitglieder, die ich in den nächsten zwei Minuten zu Gesicht bekam, waren Thater, der Rest setzte sich aus einem buntscheckigen Gemisch aller möglichen Spezies zusammen. »Was machen wir mit ihm?« Der Kommandant musterte mich.
»Was hast du für Gentile Kaz gemacht?« fragte er. »Sein Schiff gesteuert«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Allerdings nicht freiwillig. Ich bin verschleppt und zwangsrekrutiert worden.« »Das sagen sie alle«, meinte der Offizier. Noch immer hielt er seine Waffe auf mich gerichtet. »Ab und zu wird es ja wohl wahr sein«, gab ich zurück. Der Thater sah mich scheel an. »Für einen Mann in Gentiles Diensten hast du ein reichlich loses Mundwerk«, stellte er fest. »Ich sage doch, daß er mich gezwungen hat«, versetzte ich. Eine halbmetergroße Echse mit buntschillernden Schuppen schob sich an den Kommandanten heran, kroch an ihm in die Höhe und züngelte ihm etwas ins Ohr. »Stimmt das?« fragte der Kommandant. Das Echsenwesen zappelte mit dem Schwanz, vermutlich das bei seiner Art übliche Signal zur Bestätigung. »Ich höre gerade, daß du Glück hast«, sagte der Kommandant. Bei dem zynischen Tonfall dieser Mitteilung erwachte sofort mein Mißtrauen. »Inwiefern?« wollte ich wissen. »Du hast ein interessantes Psi‐Potential«, eröffnete mir der Thater. »Wenigstens etwas, das wir nach Crynn bringen können.« Ich sah den Thater ein wenig erstaunt an. »Ich soll für euch arbeiten?« fragte ich. Der Thater begann laut zu lachen. Es klang widerwärtig. »So kann man es auch nennen«, sagte er, während mich zwei Robots packten. »Wir werden dich von dieser Bürde befreien.« Ich versuchte mir vorzustellen, was er damit meinte. Natürlich besaß ich keine paraphysikalischen Fähigkeiten, die einzige einigermaßen ungewöhnliche Begabung, die ich hatte, verdankte ich der ARK SUMMIA – das Extrahirn. Hatten sie es darauf abgesehen?
»Und danach?« fragte ich. Wieder lachte der Kommandant, und seine Untergebenen fielen in das wiehernde Gelächter ein. »Danach? Dann kannst du dich ausruhen, Freund«, sagte der Kommandant mit einem zynischen Grinsen. »Sehr lange. Es wird dir gefallen, ganz bestimmt.« Ich wußte, daß er mich verhöhnte, aber mir war daran gelegen, Informationen zu sammeln, daher stellte ich mich arglos. »Und wo?« fragte ich. Das Gelächter sagte mir alles. »In der Sonnensteppe«, sagte der Thater, kurz bevor er die Tür meiner Haftzelle schloß. Wenn ich es vorher noch nicht gewußt hatte – jetzt konnte ich sicher sein. Die sogenannte Sonnensteppe mußte ein Ort des Grauens sein – und dorthin wollte man mich verfrachten, sobald man … Eine Bürde abnehmen? Psi‐Potential? Hatten die Gefolgsleute von Zulgea etwa die Absicht, mir dieses Potential abzuzapfen, wie immer dieser Vorgang auch möglich sein mochte? Und wenn ja – was machten sie damit? Ich versuchte, mir vorzustellen, was es für Möglichkeiten gab, wenn es Zulgeas Leuten tatsächlich gelang, den Extrasinn gleichsam abzusaugen. Hatten sie dann Zugriff auf mein fotografisches Gedächtnis? Das konnte furchtbare Folgen haben – nicht nur für mich. Es würde den Facetten verraten, daß die Kosmokraten existierten und versuchten, die Umtriebe des Erleuchteten zu beenden und die Gefahr EVOLO auszuschalten. War diese Tatsache erst einmal bekannt, hatte ich so gut wie keine Chancen mehr, meinen Auftrag auszuführen. Und noch ein weiterer Gedanke beschäftigte mich. Was, wenn mit dem Begriff Psi‐Potential nicht der Extrasinn gemeint war, sondern eine Fähigkeit, die in etwa tatsächlich mit Mutantengaben zu vergleichen war – meine letzte Lebensversicherung sozusagen, die Möglichkeit, meinen Auftrag
jederzeit beenden zu können. Ich brauchte mich nur zu konzentrieren und das Kodewort »Varnhagher‐Ghynnst« zu denken, um diesen Auftrag abbrechen zu können. Natürlich konnten die Wespen‐Besatzungen davon nichts wissen, aber das war mir gleichgültig. Es sah ganz danach aus, als sollte ich weitaus rascher als geahnt erfahren, was mit der Sonnensteppe gemeint war – aber um was für einen Preis … * »Sie haben ihn«, sagte das Mädchen leise. Ily hatte die Hände um die Lehnen gekrampft. Es war sehr still an Bord der KHARLHON. Die beiden hatten die Hetzjagd auf den Bildschirmen verfolgt. Sie hatten gesehen, wie die Wespen einige Lummensand‐Schiffe zerstört hatten, daß ein Teil der Wespen auf Lummensand selbst gelandet war. Sie hatten gesehen, wie die Wespen das Kristallschiff gejagt hatten. »Es muß Atlan gewesen sein«, murmelte Ily. »Er ist der Pilot des Kristallschiffs gewesen.« »Aber das Kristallschiff ist verschwunden. Er hat sich in Sicherheit bringen können«, widersprach das Mädchen. Ily wandte den Blick nicht von dem Panoramaschirm. Er konnte sehen, wie eine der Wespen die kleine Rettungskapsel gepackt und an Bord genommen hatte. Wer immer darin gesessen haben mochte, er war jetzt in der Gewalt der Hexe Zulgea. »Können wir ihm helfen?« »Wir?« fragte Ily bitter. »Mit unserem Schiff?« Er hatte sich selten in seinem Leben so ohnmächtig gefühlt. Gleichgültig, wie die genauen Zusammenhänge aussahen – Atlan hatte ganz entscheidend dazu beigetragen, daß sich Ilys Leben von
Grund auf verändert hatte. War seine Zukunft vor ein paar Tagen noch extrem trostlos gewesen, so standen ihm jetzt alle Möglichkeiten offen. Mit den Schätzen der Weltraumpiraten konnte er das Geschäft wieder auf die alte Höhe bringen, neue Schiffe kaufen oder chartern, Mannschaften anstellen – und sich ein Weib nehmen. So reizvoll das alles auch war – im Augenblick waren Ilys Gedanken verdüstert. »Sie werden ihn schon nicht umbringen«, sagte das Mädchen. »Pah«, machte Ily. »Hast du es nicht gesehen? Es sind Zulgeas Wespen.« »Na und?« »Sieh dir die Kennzeichen einmal genauer an. Das sind nicht die üblichen Wespen. Die hier gehören zur Crynn‐Brigade.« Ily sah das Erschrecken auf dem Gesicht seiner Begleiterin. »Beim Sternenlicht«, stieß sie hervor, die Hand vor den Mund gepreßt. »Du meinst?« Ily nickte. »Sie werden ihn nach Crynn verschleppen, und dort werden sie mit ihm verfahren, wie sie es üblicherweise tun. Ich weiß selbst nicht genau, was sie mit ihren Opfern machen. Ich kenne nur Gerüchte.« »Und welche?« Ily zuckte mit den Schultern. »Sie werden irgendwie ausgesaugt oder leergepumpt oder angezapft, was weiß ich.« »Stirbt man daran?« Ily schüttelte den Kopf. »Man sagt«, stieß er langsam hervor, »daß die Opfer danach in die Sonnensteppe gebracht werden.« Das Mädchen stieß einen erstickten Laut aus. »Vielleicht war er noch an Bord des Schiffes?« sagte sie. »Ich glaube nicht«, antwortete Ily.
»Vielleicht ist er auch tot.« Ily schwieg eine Zeitlang. »Das wäre eine Lösung«, sagte er dann. »Besser als in den Händen der Crynn‐Brigaden.« Er griff zu den Schalthebeln und ließ die KHARLHON Fahrt aufnehmen. Die Wespen kümmerten sich nicht um das alte Schiff. »Vielleicht sehen wir ihn doch noch einmal wieder.« »Nein«, sagte Ily rauh. »Ganz bestimmt nicht. Die Brigaden haben noch nie eines ihrer Opfer herausgegeben. Wenn er wirklich dort drüben an Bord ist, dann ist sein Schicksal unwiderruflich besiegelt.« ENDE Von Crynn‐Brigadisten eingefangen und an einen Ort gebracht, an dem man ihm sein angebliches Psi‐Potential abzapfen will, sieht Atlan einer absolut düsteren Zukunft entgegen. Doch im letzten Moment kommt es anders als erwartet – es bietet sich die Chance der Flucht nach New Marion … FLUCHT NACH NEW MARION – so lautet auch der Titel des nächsten Atlan‐Romans. Autor des Bandes ist Falk‐Ingo Klee.