Gruselspannung pur!
Das Blutbad von Usedom
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann In der Nähe des Bansiner Friedho...
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Gruselspannung pur!
Das Blutbad von Usedom
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann In der Nähe des Bansiner Friedhofs an der Ahlbecker Chaussee wurde ein baufälliges Gebäude gesprengt. Schon lange verschandelte die unansehnliche Ruine die sogenannte Bäderstraße auf der Insel Usedom. Die Sprengung verlief ohne Komplikationen, und bis auf vereinzelte Risse in einer verwitterten Friedhofsmauer und dem Umkippen einiger alter Grabsteine gab es nichts, was den Einheimischen und Feriengästen von Bedeutung erschien. Aber dann begann eine Serie von unglaublichen Ereignissen, die auch dem fischblütigsten Insulaner das Blut in den Adern stocken ließ… Mark Hellmann - die Gruselserie, die Maßstäbe setzt! »Mami, mir ist langweilig. Darf ich spielen?« Die kleine Aline kniff ein Auge zu. Keck blinzelte sie gegen die Sonne. Die Mutter nickte. »Meinetwegen, Linchen. Ich hab hier noch 'ne Weile zu tun. Aber lauf nicht zu weit weg. Hörst du?« Die Achtjährige schmollte. Sie war denkbar mieser Laune. Statt
auf diesem blöden, totenstillen Friedhof herumzuhängen, könnte sie jetzt auf dem Gehsteig vor ihrem Haus Gummi-Twist spielen oder hinter dem Gebäude, auf der kleinen Wiese, unter dem Ahornbaum liegen und in ihrem dicken Märchenbuch schmökern. Auch ein Abstecher an den nahen Ostseestrand reizte sie. »Linchen?« »Was ist denn noch?« »Hast du gehört, was ich dir gesagt habe?« Die Mutter blickte streng drein. »Jaah!« quäkte Aline. Bin ja nicht taub, fügte sie in Gedanken hinzu und hüpfte auf dem festgetrampelten Hauptweg herum. Es war an einem Spätnachmittag im August. Der erste sonnige Tag nach endlosen Regenwochen. Astrid Glaubach hatte alle Hände voll zu tun, das verflixte Unkraut, das auf dem Grab ihres Mannes wucherte, auszuzupfen. Ihr Schatten tanzte auf dem Grabstein. Manchmal, wenn sie sich davor bückte, verdunkelte er die Aufschrift. Guntram Glaubach, 1965 bis 1997. Es war ein Arbeitsunfall gewesen. Guntram arbeitete bei einer kleinen Privatfirma, die sanierungsbedürftige Häuser einrüstete. Im Herbst des vergangenen Jahres rutschte er auf glitschigen Planke aus. Knallte mit dem Kopf einen Mauervorsprung und stürzte sechs Stockwerke tief auf einen Haufen zusammengetragener Feldsteine. Schädelbasisbruch. Alines Vater war sofort tot. Während Astrid Glaub ach emsig damit beschäftigt war, die Grabstelle auf Vordermann zu bringen, hetzte Aline wie ein geölter Blitz auf dem Friedhofsweg auf und ab. Aber auf die Dauer war ihr das auch zu langweilig. Aline japste nach Luft. Die Arme in die stechenden Seiten gestemmt, blickte sie sich um. Nirgendwo eine Menschenseele. Die Leute brutzelten entweder am Strand in der Sonne, oder sie hatten sich zuhause hinter zugezogenen Rollos verschanzt. Aline hörte, wie das Blattwerk über ihr in den Bäumen raschelte. Eichen, Trauerweiden, Birken, Lebensbäume. Die kannte sie schon. Doch am liebsten mochte sie Ahornbäume. Wegen der klebrigen Blättchen. Man konnte sie auseinanderpflücken und sich auf die Nasenspitze heften.
Aber nicht mal die gab es hier! Die Achtjährige seufzte bekümmert. Das nächste Mal, wenn ich wieder hierher mitkommen muß, werde ich mir ein Märchenbuch mitnehmen. Das nahm sie sich fest vor. Ich setze mich auf eine dieser grün angepinselten Holzbänke und lese, solange ich will. Die Sonnenstrahlen sprenkelten den Weg und die Mauer aus karminroten Backsteinen. Hin und wieder glitzerten die Boten der Sonne wie pures Gold. Das Mädchen setzte sich auf die nächstgelegene Bank und ließ die Beine baumeln. Sie trug ihre blaue Röhren-Jeans und das übergroße T-Shirt mit den Backstreet Boys drauf. Die nackten Füßchen steckten in hellblauen Sandaletten. Alines langes, strohblondes Haar, im Nacken zum Pferdeschwanz geknüpfte, hing weit über ihre schmalen Schultern. Gern hätte sie eine richtig coole Frisur gehabt, so wie die Mädchen aus den höheren Klassen der Maxim-Gorki-Schule in Neuhof, aber die Mutter hatte behauptet, dafür wäre sie noch zu jung - pfff! Aline fragte sich, ob die Prinzessinnen aus ihren Märchen auch solche ätzenden Pferdeschwänze tragen, mußten. Bestimmt nicht, denn sonst hätten sie wohl nie einen gutaussehenden Prinzen mit Muskeln aus Stahl abgekriegt. Und Dornröschen würde noch heute schlafen… Aline kicherte. Irgendwo, nicht allzu weit weg, erklangen die Glockenschläge einer Turmuhr. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs… Beim sechsten Schlag überlief sie ein Schauder. Nanu? Was war denn das? Sie hielt den Atem an. Da funkelte doch etwas aus dieser ollen Mauer gegenüber. Wie ein Sonnenstrahl sah das ja nicht gerade aus. Aline beschattete ihre Augen und sah genauer hin. Das sonderbare Funkeln blieb. Es sah fast aus, als glitzerte ein Goldstück aus dem blitzförmigen Riß, der die Mauer von oben bis unten durchzog. Sie wurde neugierig. Ich werde mal ganz spontan gucken, wieso es aus diesem komischen Spalt so blinkt. Verboten ist das bestimmt nicht. Also los, Linchen! Mit einem Satz sprang sie von der Bank. Die Mauer stand nur ein paar Meter weiter, auf der anderen
Seite des Weges. Nicht besonders hoch und höchstens fünf Meter lang, begrenzte sie die Stirnseite einer ungepflegten Grabstelle. Die anderen drei Seiten wurden von einer hüfthohen Buchsbaumhecke eingefaßt. In einem Nachschlagewerk für Kinder hatte Aline gelesen, daß Buchsbäumchen ein paar hundert Jahre alt werden konnten. Die ovalen Blättchen kitzelten an ihren Füßen, als sie über die Hecke hinwegstieg. Die Sonne verschwand hinter der dichtbelaubten Krone einer riesigen Eiche. Aus dem Mauerriß funkelte es nicht mehr. Doch das war nicht weiter schlimm. Aline wußte trotzdem, wo sie nachzusehen hatte. Die Stelle hatte sie sich haargenau eingeprägt. Schließlich war sie nicht aus Dummsdorf. Auf Zehenspitzen tappte sie über das efeuberankte Grab. Ihr Herz schien vor Aufregung gegen die Rippen zu schlingern; als sie vor der Mauer in die Hocke ging. Ein dumpfer, modriger Geruch stieg ihr in die Nase. Bäh! Sie kämpfte gegen das aufkommende Ekelgefühl. Die Neugierde erwies sich als stärker. Zielsicher griff sie mit ihren dünnen Fingern in den Spalt. Obwohl die Sonne schien und die Luft heiß war und knochentrocken, spürte sie ein kaltes Glibbern an ihren tastenden Fingerkuppen. Noch ein bißchen tiefer, Linchen, spornte sie sich an. Dann hast du es geschafft! Die Luft wurde ihr knapp, weil sie noch immer den Atem anhielt. Unversehens erfühlte Aline etwas Hartes, ziemlich Kaltes. Es mußte Metall sein. Das war klar wie Kloßbrühe. Ohne lange zu zögern, pellte sie das rundliche Ding aus seinem Versteck. Dann sprang sie schnell auf die Beine und füllte ihre Lungen mit Sauerstoff. Stolz betrachtete sie ihren Fund. Es war tatsächlich eine Münze. Obgleich sie an manchen Stellen ziemlich verdreckt war, blitzte sie so grell, daß Aline mit den Augen zwinkern mußte, wenn sie hinsah. Wie schwer die Münze war! Aline flitzte zur Bank zurück. Daneben stand nämlich ein Abfallbehälter, zur Hälfte mit Trauerschleifen, Einwickelpapier und Plastikfolien gefüllt. Sie
angelte sich einen Fetzen Papier heraus und wischte den Schmutz von der Münze. Nun glitzerte - das Goldstück so stark, daß sie aus der Sonne treten mußte, um es eingehend begutachten zu können. Mit einem Mal erschrak Aline. Entsetzen schlang sich wie ein nasser Waschlappen um ihren schmalen Mädchenkörper. Sie hatte bemerkt, was auf der Münze abgebildet war. Ein Totenkopf, der aus leeren Augenhöhlen direkt in ihr Gesicht zu starren schien. Der obere Teil des Schädels war von einem Tuch bedeckt, so als wolle sich der Totenkopf vor Wind und Regen schützen. Obwohl Aline große Angst hatte, beschloß sie, das geheimnisvolle Goldstück mit nach Hause zu nehmen. Bestimmt wäre die Mutter dagegen gewesen, wenn Aline es für sich behalten würde. Immerhin war es aus Gold und viel wert. Allerdings brauchte die Mutter ja kein Sterbenswörtchen davon zu erfahren. Aline langweilte sich nicht mehr, denn jetzt hatte sie ein eigenes Geheimnis… * Es war halb sieben, abends, und das malerische Seebad mit seinen protzigen Villen und Gebäuden, an denen Holzveranden klebten, sah aus, als würde es ein Vollbad in der Sonne nehmen. Alles erstrahlte in goldgelbem Glanz. Keine Spur von nahendem Unheil. Aline saß still neben der Mutter auf dem Kindersitz des Mitsubishi Colt. In ihrer schweißnassen Hand die Münze mit dem Totenkopf. Die wasserblauen Augen der Achtjährigen waren ins Leere gerichtet. Das seltsame Stück Metall übte einen magischen Reiz auf Aline aus. Sie spürte, daß sich nun etwas in ihrem Besitz befand, das einzigartig war. Und ebenso spürte sie, daß sie niemanden auf der Welt, auch nicht die Mutter, in ihr Geheimnis einweihen durfte. Sie seufzte laut, tief in Gedanken versunken. Astrid Glaubach bog von der Ahlbecker Chaussee in die
Seestraße ein. Schattige Bäume säumten die abschüssige Fahrbahn, die bis zum Strand hinunterführte. Der Kleinwagen ratterte über Natursteinpflaster. Alines Mutter betätigte den Blinker. Sie stoppte das Auto am Straßenrand und begann, in ihrer Handtasche zu wühlen. »Warum halten wir, Mami?« fragte Aline. »Fahren wir nicht gleich nach Hause? Es ist doch schon spät.« »Wir brauchen Brot.« Astrid Glaubach zeigte auf das baumkuchenförmige Reklameschild eines Bäckergeschäfts. »Und du weißt, Linchen, das Brot von Bäcker Krösing schmeckt nun mal am besten.« Das Mädchen warf der Mutter von der Seite einen mißmutigen Blick zu. Unwillig krauste sie die Stirn. Sie konnte es kaum erwarten, endlich in ihr Kinderzimmer zu kommen, um mit ihrer geheimnisvollen Münze zu spielen. Und nun vertrödelten sie die wertvolle Zeit. Pah, was war schon Brot gegen eine echte Goldmünze! Instinktiv preßte Aline die Hand, in der sie ihren Fund hielt, fest zusammen. Ihr Blick verschwamm. Ob das kalte Ding einem Königssohn gehört hatte? Oder einem heldenmütigen Ritter, der mit dem Schwert gegen feuerspeiende Drachen kämpfte, um die gefangene Prinzessin den Klauen des Ungeheuers zu entreißen? Aline schwelgte in ihrer Märchenwelt. Oder wenigstens einem steinreichen Kaufmann, der die Weltmeere befahren und haufenweise blutrünstigen Piraten und heimtückischen Seeschlangen den Garaus gemacht hatte? Oder…? Ihr stockte der Atem. Womöglich hatte die Münze gar dem schwarzen Zauberer gehört? »Linchen? Willst du mit in den Laden kommen?« fragte die Mutter. Das Mädchen schrak auf. »Äh, was hast du gesagt, Mami?« »Ob du mitkommen willst?« »Ach so, nein, hab keine Lust.« »Soll ich dir einen Riesen-Pfannkuchen mitbringen?« Astrid Glaubach stieg aus. »vielleicht gibt's heute welche mit Pflaumenmus?« Aline schüttelte den Kopf. »Keinen Appetit.« »Nanu? Bist du krank?« »Krank nicht. Bloß müde.« Aline gähnte gekünstelt.
»Na gut. Ich mach ganz schnell, ja?« Astrid Glaub ach klinkte die Autotür zu. Eilig überquerte sie den Gehsteig und verschwand in der Bäckerei. Aline machte ihre Augen schmal. Langsam, im Zeitlupentempo, öffnete sie die zusammengeballte rechte Hand. Das Goldstück funkelte im Sonnenlicht. Ein Strahl, gezackt wie ein Gewitterblitz, hüpfte auf der Oberfläche herum. Das Mädchen staunte. So einen ulkigen Sonnenstrahl hatte sie noch nie gesehen. Wie das blendete! Entzückt musterte sie ihren Schatz. Dann richtete Aline ihre Aufmerksamkeit auf die Abbildung des gespenstischen Totenkopfes. Je länger sie den Schädel betrachtete, desto faszinierter war sie von ihm. Das anfängliche Angstgefühl wich nun vollends. Eine Stimme erklang. Aline zuckte zusammen. Ihr Herz schlug ein paar Takte schneller. Es war die laute, dunkle Stimme eines Mannes, ganz nahe. Hatte er das Goldstück gesehen? Rasch ballte Aline ihre Hand zur Faust. Ängstlich blinzelte sie durch die Windschutzscheibe. Ein Mann, der seinen kugeligen Bauch vor sich herschob und eine Plastiktüte trug, ging gerade gemächlich an ihrem Mitsubishi vorüber. Er hatte strähnige, braune Haare und einen ausgefransten Pferdeschwanz. Neben ihm ging ein Junge von knapp vierzehn Jahren. Auch er trug Plastiktüte und Pferdeschwanz. Er wirkte wie ein zu klein geratenes Double seines erwachsenen Begleiters, der auch tatsächlich sein Vater war. Der Junge grinste, als er mitbekam, daß Aline ihn ansah. Aline bemerkte seine gelblichen Zähne. Der rechte Schneidezahn des Jungen stach hervor wie der Stachel einer Wespe. Sie rümpfte verächtlich die Nase. Der Junge ließ seine rosige Zunge wischen den Lippen flattern. »Blödian«, fauchte Aline hinter dem schützenden Glas. »Siehst aus wie 'n Steinbeißer. Paß bloß auf, daß du deinen Kuchenzahn nicht verlierst. Pfff - mit dem Ding kannst du ja 'ne Mauer einreißen!« Ein Rauschen! Mächtig und von überall her. Aline glaubte zu träumen. Urplötzlich ging es in ihrem Kopf zu wie in einem Grandhotel für
Fledermäuse. Sirenenartiges Singen, auf- und abschwellend, in allen Tonlagen, dazu las Flattern von Hunderten von Flügeln jeglichen Kalibers ließen ihr fast das Herz stillstehen. Gleichzeitig schien sich das Gewicht des Goldstückes in ihrer Hand zu verzehnfachen. Nicht genug damit, nein, die Münze fing buchstäblich an zu flimmern, als sei sie von einer Sekunde zur anderen zum Leben erwacht. Aline zuckte es in den Fingern. Die Münze fiel zu Boden. Klirrend schlug sie gegen Metall. Das gespenstische Rauschen schwoll ab und verdang schließlich ganz. Es hatte höchstens fünf Sekunden gedauert. Das Mädchen beruhigte sich. Aufatmend löste sie den Sicherheitsgurt, um sich weit genug nach vorn beulen zu können. Jeden Moment konnte die Mutter zurückkehren. Sagenhaft, dachte Aline. Wenn das keine Zaubermünze ist, dann verputze ich zum Abendbrot meine Barbiepuppe mitsamt den Haaren. Draußen, auf dem Gehsteig, wurde es mit einemmal laut. Sehr laut. Die beschauliche Abendstimmung auf der Seestraße wurde von einem schmerzerfüllten Aufschrei regelrecht zerfetzt. Darauf folgte aufgeregtes Geschnatter, Kreischen, Wehklagen, Poltern und verzweifelte Hilferufe. Neugierig geworden, kurbelte Aline die Seitenscheibe herunter. Etwas Unerhörtes mußte passiert sein. * Astrid Glaubach trat gerade aus dem Bäckerladen, als das fremdartige, beängstigende Geräusch an ihr Ohr drang. Unwillkürlich blickte die Frau an der Häuserwand hoch. Es kam vor, daß jemand das Fenster offenstehen ließ, wenn er in der Wohnung die Stereoanlage auf volle Lautstärke eingestellt hatte. Die Musik brachte heutzutage die merkwürdigsten Auswüchse zustande. Auch einige andere Fußgänger sahen sich suchend um. Doch die Fenster, die sich oberhalb des Geschäfts befanden, waren geschlossen. Das Rauschen mußte eine andere Ursache haben. Plötzlich verging Alines Mutter das Interesse an dem sonderbaren Geräusch. Starräugig sah sie zu, was unmittelbar
vor ihr auf dem Bürgersteig geschah. Sie versteinerte. Ein Junge, der einen Pferdeschwanz trug, begann unvermittelt wie ein orientalischer Derwisch zu heulen. Sein Körper erzitterte. Die unsichtbare Faust eines Riesen schien ihn mit eisernem Griff zu packen. Der Kopf des Jungen schlug auf seine Brust, dann flog er zurück in den Nacken, als wäre er ein Stoffpüppchen in den Händen eines spielenden Kleinkindes. Der Junge schrie vor Schmerz. Jäh klappte sein Mund auf, und zwar dermaßen weit, daß seine Lippen schmale Striche wurden. Sein Mund war ein klaffendes, schwarzes Loch. Blutiger Schaum quoll aus seinem Hals. Astrid Glaubach konnte den Blick nicht abwenden. Wie gebannt beobachtete sie das höllische Spektakel. Die Umstehenden schrien auf, als der Junge einen Mann, der neben ihm stand, mit schier übermenschlicher Kraft beiseite schleuderte. Glotzäugig strebte er dem nächstgelegenen Haus zu. Der Mann knallte gegen einen Kleinlaster, der hinter dem Mitsubishi der Glaubachs am Straßenrand parkte. Mit blutigem Kopf blieb er liegen. Die Menschen ringsum waren wie gelähmt. Eine unsichtbare Macht verurteilte sie zu passiven Gaffern. Erneut heulte der Junge auf. Er stand dicht vor der weißgeputzten Fassade des dreistöckigen Gebäudes. Wütend fletschte er die Zähne. Geifer, mit Blut vermischt, spritzte aus seinem aufgesperrten Rachen. Als wäre es die normalste Sache der Welt, preßte er seinen Unterkiefer an die Fassade. Röchelnd schlug er seine Zähne in die Mauer. Das Knirschen drang den Umstehenden durch Mark und Bein. Die Schneidezähne des Jungen schabten über den rauhen Putz. Seine Lippen, das Zahnfleisch und die Haut drumherum platzten auf. Dann brachen ihm die ersten Zähne ab. Mit einem Schwall Blut spuckte er sie kurzerhand aus. Wieder drang er auf die Mauer ein, das Gesicht verzerrt, die Schultern gegen die Wand gepreßt. Es schien der Sinn seines Daseins zu sein, sich mit dem Kiefer an dieser Mauer zu Schubbern.
Eine Frau in knallroter kurzer Hose und hautengem Pulli fiel in Ohnmacht. Sie sackte einfach in sich zusammen, als wäre sie ein Wasserball, aus dem jemand die Luft rausließ. Glücklicherweise reagierte der Mann, der neben ihr stand, instinktiv. Urplötzlich erwachte er aus seiner Lethargie und fing sie auf, bevor sie Bekanntschaft mit dem grauen Granitpflaster machen konnte. Erst jetzt kam Leben in die Menschen. Sie erwachten aus ihrer Erstarrung. Der Junge brach blutüberströmt zusammen. Einige Leute beugten sich über ihn. Rufe nach einem Notarzt wurden laut. Sein Vater kniete sich neben ihn. Er stützte den Kopf des Keuchenden. Leise sprach er auf seinen Sohn ein. Er streichelte ihn und schluchzte dabei. Derweil machten einige Passanten ihrem Unmut Luft. »Unverantwortlich«, sagte eine sächselnde Stimme. »Manche Eltern lernen es nie! Wie kann man ein krankes Kind unbeaufsichtigt herumlaufen lassen. Der Junge gehört zur Beobachtung in die Klinik.« Astrid Glaubach nickte unwillkürlich. So unrecht hatte der Sprecher dieser Worte nicht. »Wieso krankes Kind?« Zornig sah der Vater auf. »Marco ist völlig gesund. Der braucht nicht in die Klinik. Weiß der Leibhaftige, was das da eben war!« Irgendwo ertönte ein Knall. Aber keiner achtete darauf. Man hatte sich daran gewöhnt, daß zuweilen Überschalljäger der Bundeswehr über die Insel hinwegzischten. »Möglicherweise ein Anschlag außerirdischer Intelligenzen«, quäkte ein Herr, der trotz der Hitze des Tages ein hochgeschlossenes Oberhemd mit Krawatte trug. »So 'n Quatsch!« versetzte sein Nachbar. »Wer das glaubt, hat doch keine Krempe am Hut.« Der Herr mit der Krawatte zog einen Flunsch. »Wie Sie vielleicht bemerkt haben dürften, trage ich gar keinen Hut.« Jemand lachte nervös. Die Leute begannen, lebhaft zu debattieren. Vornehmlich ging es um die Frage, ob es nun Außerirdische gab oder nicht. Die unterschiedlichsten Ansichten prallten aufeinander. Das Schicksal des Jungen wurde immer mehr zur Nebensache. Die Show war zu Ende. »Machen Sie Platz!« ertönte da eine entschlossene Stimme.
»Gehen Sie beiseite. Ich bin Arzt.« Astrid Glaubach atmete erleichtert auf. Kopfschüttelnd wandte sie sich ab und ging zu ihrem Auto. Zeit, nach Hause zu fahren. Immerhin marschierte die Uhr schon auf sieben. Als sie die Fahrertür aufzog, sah ihr Aline aus weit aufgerissenen Augen entgegen. »Mami, was war denn da eben mit dem Jungen?« fragte sie. »Ach nichts, Linchen.« Astrid Glaubach setzte sich auf den Fahrersitz. »Der Junge ist nur sehr krank - verstehst du?« Aline gab keine Antwort. Sie dachte sich ihr Teil. Von irgendwo erklang eine Sirene. * Der Anruf, vor dem Alfred Rietböhl eine Heidenangst hatte, kam zehn Minuten nach Mitternacht. Erst glaubte Rietböhl, der Wecker habe geklingelt, und es war an der Zeit, aufzustehen. Doch dann bemerkte er seinen Irrtum. Er knipste die Nachttischlampe an. Vom Schlaf benommen, langte er nach dem Hörer und hielt sich die Muschel ans Ohr. »Hallo?« Seine Stimme klang kratzig, und er räusperte sich rasch. Dr. Fehlhaber von der Intensivstation der Medizinischen Universitätsklinik in Greifswald war am Apparat. »Herr Rietböhl, Ihr Schulfreund. Es geht ihm schlechter«, sagte der Arzt bedrückt. »Ich denke, Sie sollten kommen. Er will mit Ihnen reden. Und, Herr Rietböhl…?« »Ja?« »Beeilen Sie sich!« Alfred Rietböhl stockte der Atem. »Ja, natürlich«, krächzte er. »Selbstverständlich. Ich komme. Ich mache ganz schnell. In einer dreiviertel Stunde bin ich da.« Der Hörer entglitt seiner knorrigen Hand. Er zitterte. Auf einem Stuhl, der neben dem Bett stand, lagen seine Sachen. Rietböhl schlüpfte in Jeans, T-Shirt und Sakko. In der
Duschecke des kleinen Gästezimmers hielt er kurz den Kopf unter den Wasserhahn. Hastig trocknete er sich ab und warf das Handtuch achtlos auf den Fußboden. Frau Wendland, seine Wirtin, war eine nette Frau. Sie würde nicht schimpfen, wenn er mal nicht aufräumte. Rietböhl knallte die Tür ins Schloß. Das Echo hallte dumpf im Treppenhaus das modernisierten Altbaus wider. Mehrere Stufen auf einmal nehmend, stürmte der Mann die Treppe hinunter. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Eine Faust ballte sich in seinem Innern. Sein Puls hämmerte. Karl, sein Schulkamerad Karl, würde sterben… Alfred Rietböhl war ein mittelgroßer, hagerer Mann von fünfundsechzig Jahren. Er hatte eine Stirnglatze, eine knollige Nase und eine kantige, ausdrucksstarke Kinnpartie. Auffallend am ihm waren seine rehbraunen Murmeltieraugen. Rietböhl hatte sein Leben lang bei der Bundesbahn gearbeitet. Seine Frau Herta, die er sehr geliebt hatte, war vor fünf Jahren verstorben. Als Rietböhl pensioniert wurde, ging er viel auf Reisen. Er brauchte Ablenkung. Diesmal war die Insel Usedom an der Reihe. Und hier war er auf die Spur von Karl Dröse gestoßen. Aber sein ehemaliger Schulkamerad lag im Sterben… Rietböhl hetzte auf das nachtdunkle Grundstück. Er sah sich um, konnte aber kaum etwas erkennen. Die Tränen, die aus seinen Augen sickerten, nahmen ihm die Sicht. Das letzte Mal hatte er geweint, als Herta starb. Der alte Mann zwang sich zur Ruhe. Mit dem Handrücken wischte er die Tränen fort. Er holte tief Luft und hob seinen Blick in den sternenklaren Himmel. Wie eine riesige Glocke aus blauschwarzem Samt hing die Nacht über dem idyllischen Badeort. Für eine Sekunde schloß er die Augen. Der Wind kühlte sein erhitztes Gesicht. Alfred Rietböhl gab sich einen Ruck. Wie in Trance stieg er in seinen metallicgrünen Opel mit dem Koblenzer Kennzeichen, den er auf dem Gästeparkplatz, neben dem Haus, geparkt hatte. Er schob sich auf den Fahrersitz, drehte am Zündschlüssel, legte den ersten Gang ein und gab Gas. Der Eco-Motor heulte auf. Rietböhl fuhr bereits eine Weile, befand sich schon auf der
Bäderstraße in Richtung Wolgast, als ihm auffiel, daß er mit Standlicht fuhr. Er korrigierte seinen Fehler. Karl Dröse, dachte er, du alter Haudegen willst dich also aus dem Staub machen. Wieder rannen einige Tränen über seine Wangen und benetzten seine spröden Lippen. Sie schmeckten salzig… Alfred Rietböhl fuhr auf das Gelände der Medizinischen Klinik. Er stellte seinen Corsa neben einen Rettungswagen, der dicht am Hintereingang parkte. Ansonsten war der gepflasterte Hof des imposanten Klinikgebäudes verwaist. Die Warnblinkanlage des Rettungswagens war eingeschaltet. Das rhythmisch aufflackernde Licht spiegelte sich auf dem Pflaster wider. Ein vollbärtiger Sanitäter kam aus der perlweiß lackierten Doppeltür, auf der Notaufnahme stand. Der Mann war sehr groß und ging nach vorn gebeugt. Er ähnelte einem ausgewachsenen Braunbären, den ein Spaßvogel in eine rote Jacke verfrachtet hatte. Er schien überhaupt nicht erstaunt zu sein, als Rietböhl ihn plötzlich ansprach. »Karl Dröse. Es geht ihm sehr schlecht. Dr. Fehlhaber hat mich angerufen. Ich sollte mich beeilen. Verstehen Sie?« Der Riese in der roten Jacke verstand. Er steckte sich ein Zigarillo in den Mund und hielt Rietböhl wortlos die geöffnete Packung hin. »Danke, ich rauche nicht«, flüsterte Rietböhl. Der Mann in der roten Jacke ließ ein Feuerzeug aufflammen. Gedankenverloren blies er den Qualm in den Augusthimmel. Er hieß Gerhard Barke, war um die Fünfzig und arbeitete seit dreißig Jahren als Rettungssanitäter. Aufmerksam musterte er Rietböhl. »Gehen Sie«, sagte er. »Ihr Kumpel liegt auf der ITS. Die Intensivstation ist drüben, im anderen Gebäude. Dr. Fehlhaber erwartet Sie, und Ihr Freund auch. Sagen Sie, Verwandte, die sich um ihn kümmern, hat er wohl nicht, wie?« Rietböhl zuckte mit den Schultern. Dann tappte er in das bezeichnete Gebäude. Als er das Haus betrat, glaubte er, den Geruch von Blut einzuatmen. Übelkeit stieg in ihm auf. Zur Intensivstation.
Die Tür war nicht verriegelt. Alfred Rietböhl drückte sie auf und betrat den langen Vorraum. Gleißendes Licht überflutete den Flur. Der alte Mann pumpte seine Lungen voll mit Luft, die nach Medikamenten und Desinfektionsmitteln roch. Er blickte sich um. Eine Handvoll leerer Stühle standen auf der einen Seite des Ganges. Auf der anderen Seite war eine große Eisentür, auf der in großen Buchstaben das Wort Intensivstation aufgemalt war. Das Licht einer roten Glühbirne schimmerte oberhalb des Einganges. Kein Zutritt! Hinter dieser Eisentür lag Karl Dröse. Rietböhl blieb stehen. Stumm starrte er die Tür an. Er ahnte, was ihn erwartete. Er wußte es von Dr. Fehlhaber. Karl Dröse hatte Krebs, im Endstadium. Bösartige Tumore hatten sein Gewebe zerfressen. In den Organen und Lymphknoten hatten sich Metastasen und Tochtergeschwülste gebildet. Es ging zuende… Eine Krankenschwester kam aus einer Tür. Sie trug einen grünen Kittel. Einen zweiten hatte sie über dem Arm. Sie mußte ihn kommen gehört haben. Schwester Heike stand auf ihrem Namensschild. Alfred Rietböhl riß sich zusammen. »Schwester, ich möchte zu meinem Kameraden«, sagte er mit brüchiger Stimme. Schwester Heike hob die Augenbrauen. Sie war eine zierliche Brünette, Anfang Zwanzig. Es schien ihr nichts auszumachen, daß an ihrem Arbeitsplatz Menschen für immer von dieser Welt verschwanden. Streng sah sie den alten Mann an. »Sie sind Herr Rietböhl, nicht wahr?« Der Besucher nickte. »Ziehen Sie sich diesen Kittel über, Herr Rietböhl. Sie kommen wirklich recht spät.« »Ich komme aus Heringsdorf«, sagte er. »Bis hierher sind's fast siebzig Kilometer. Schwester, wie geht es Karl? Wird er am Leben bleiben?« Wieder sausten die Augenbrauen der Krankenschwester in die Höhe. »Fragen Sie den Arzt«, sagte sie resolut. »Ich darf Ihnen keine
Auskunft geben. Dr. Fehlhaber ist bei ihm.« Schwester Heike ging zur Tür und drückte einen Knopf. Es summte. Die Verriegelung sprang zurück. Rietböhl folgte der Schwester auf die Station. Hinter ihnen klinkte die Eisentür ins Schloß. Dr. Fehlhaber blickte ihnen stumm entgegen. Der Mediziner sah blaß und erschöpft aus. Unter seinen Augen lagen tiefe, dunkle Ringe. Er war Anfang Dreißig. Sein Haar war kurz geschnitten und lichtete sich bereits. Trotz seiner Jugend galt er als ausgezeichneter Arzt. »Herr Rietböhl, gehen Sie zu ihm«, sagte er leise. »Er ist gerade bei Bewußtsein.« »Ist jemand bei ihm?« »Nein. Sie scheinen der einzige Mensch zu sein, dem Herr Dröse etwas bedeutet.« Rietböhl sah, daß ein bitterer Zug im Gesicht des Arztes lag. Dr. Fehlhaber führte ihn an ein Bett, das man unter das Fenster gerollt hatte. Die Jalousie war nicht zugezogen. Das Fenster wirkte unheilverkündend. Ein schwarzes Viereck, drohend und kompromißlos. Rietböhl setzte sich auf einen Stuhl, den ihm der Arzt an das Bett stellte. Das Gesicht, das auf dem großen Kopfkissen lag, wirkte zerbrechlich und unreal. Obwohl Rietböhl keinerlei medizinische Kenntnisse besaß, wußte er sofort, daß sein Kumpel Karl Dröse diese Augustnacht nicht überleben würde. Der Patient war vom Tod gezeichnet. Seine einst so rosigen Wangen waren eingefallen. Die Augenhöhlen tiefgrau. Die Nase ragte spitz in die Luft. Der Schädel mit den spärlichen grauen Haaren ähnelte einem Totenkopf. Und überall diese gräßlichen Metastasen. Rietböhls Herz schien zerbersten zu wollen, so sehr hämmerte es in seiner Brust. »Karl«, wisperte er und beugte sich über den Sterbenden. »Karl, alter Schwede, ich bin's! Alfred. Karl, erkennst du mich?« In Karl Dröses Gesicht zuckte es. Dr. Fehlhaber räusperte sich im Hintergrund. »Er ist sehr schwach«, sagte er. »Aber mir scheint, er will Ihnen irgendwas sagen. Ich konnte es nicht verstehen. Es war zu undeutlich.«
Dröses Lippen öffneten sich. Rietböhl beugte sich über ihn. Der Sterbende ächzte kaum wahrnehmbar. »Hellmann.« Es war nur ein Hauch. »Hellmann?« forschte Rietböhl. »Ich kenne keinen Hellmann, Karl. Wer ist Hellmann?« Mit einem Schwamm betupfte Dr. Fehlhaber die Lippen seines Patienten. »Hellmann, Weimar…« Karl Dröse verstummte. Zögernd griff Rietböhl nach seiner Hand, die neben der Zudecke lag. Er hatte die Hände des Kameraden immer als warm und gut in Erinnerung gehabt. Er hatte sich geborgen gefühlt, wenn er sie als kleiner Junge umklammert hielt. Karl war fünf Jahre älter als er und hatte ihn so manches Mal vor prügellustigen Rabauken beschützt, die dem jüngeren Alfred an die Wäsche wollten. Doch jetzt fühlte sich die einst so starke Hand an, als würde er einen toten, glibberigen Fisch anfassen. Trotzdem drückte Rietböhl sie an seine Wange. Vor seinem inneren Auge zogen kaleidoskopartig kunterbunte Bilder auf, die alle Karl Dröse zeigten. Auf dem Schulhof, beim Herumstrolchen auf den Wiesen und den Wäldern, beim Baden im Waldsee mit einem kleinen Jungen, der er selbst war. Alfred Rietböhl wußte nicht, wie lange er, die Hand an der Wange, in dieser Haltung verweilt hatte. Dann öffnete Karl Dröse zum letzten Mal in seinem Leben den Mund. Rietböhl spitzte die Ohren. Doch lediglich ein schwacher Luftzug entwich den farblosen Lippen des Sterbenden. Sein Kopf sank tiefer ins Kissen, und ein leerer, erstarrter Blick heftete sich auf seinen letzten Besucher. Dr. Fehlhaber trat vor. Sanft drückte er dem Verblichenen die Augen zu. Der Tod hatte seinem unendlichen Schattenreich einen neuen Bewohner zugeführt. Rietböhl richtete sich auf. Ihm war, als hätte er Wattepfropfen in den Ohren, als der Arzt sagte: »Es tut mir leid wegen Ihres Freundes, Herr Rietböhl. Aber glauben Sie mir, für ihn ist der Tod eine Erlösung.«
Der alte Mann nickte geistesabwesend. Die letzten Worte des verstorbenen Freundes spukten in seinem Kopf herum. Hellmann? dachte er. Nie gehört! * Obwohl es Nacht war, lag Aline wach in ihrem Bett. Das Medaillon hatte sie in einer Schublade des Schreibtisches, zwischen Filzstiften und Zeichenblöcken, versteckt. Da würde Mutter es nicht finden. Das Mädchen war für die Ordnung und Sauberkeit in ihrem kleinen Reich selber verantwortlich. Und sie nahm ihre Pflichten sehr ernst. Durch das gekippte Fenster schien der Mond ins Kinderzimmer. Fahles Licht durchbrach die Finsternis. Aline hatte die Augen offen und starrte an die Decke. Sie war sicher, daß die Münze eine Zaubermünze war. Der Junge mit dem Pferdeschwanz war der Beweis. Hatte er nicht genau das getan was sie sich kurz zuvor, wenn auch unbewußt, gewünscht hatte? Normalerweise ein Grund, richtig happy zu sein. Wer, außer ihr, hatte schon eine Münze, die Wünsche erfüllen konnte? Dennoch gab es da etwas, das Aline nicht gefiel. Sie schniefte ärgerlich. Doof war, daß keiner davon erfahren durfte. Gern hätte sie vor den anderen Kindern mit der Münze geprahlt. Wie man sie bewundert hätte… Doch ein merkwürdiges Empfinden, das sich in ihr regte, seit sie die Münze besaß, hielt sie regelrecht davon ab. Es war beinahe so, als ob sich ein fremdes Lebewesen in ihr breitmachen würde, das ihr seinen Willen aufzwang. Zum Glück war das Gefühl angenehm. Es tat überhaupt nicht weh. Gedankenverloren wälzte sich das Mädchen von einer Seite auf die andere. Da wurde es plötzlich in der Nebenwohnung laut. Solange sie denken konnte, wohnten sie in diesem altmodischen Gebäude in der Strandstraße. Insgesamt gab es vier Wohnungen in dem Haus. Aline zählte die Namen der Mieter auf. Glaubach, Wendland, Lohmer, Hannemann. Der Krach kam aus der
Wohnung der Hannemanns. Aline lauschte angestrengt. Besonders nachts, wenn alles im Haus mucksmäuschenstill war, hörte man genau, wenn die Nachbarn einmal später als gewöhnlich zu Bett gingen. Manchmal, wenn im Fernsehen ein lustiger Film lief, bekam Aline mit, über welche Szenen in der benachbarten Wohnung am meisten gelacht wurde. Doch gelacht wurde da eigentlich schon lange nicht mehr. Im Gegenteil. Aline hob den Kopf, um besser hören zu können. Jedes Mal, wenn Herr Hannemann spätabends nach Hause kam, machte er Radau. Die Achtjährige wußte, daß er dann viel Alkohol getrunken hatte. Rücksichtslos krakeelte der Nachbar dann herum, schurrte mit Möbeln und schimpfte mit seiner Frau. Eigentlich - genau wie jetzt! Ohne ein Geräusch zu verursachen, stand Aline auf. Barfuß tappte sie zum Fenster und blickte eine Zeitlang hinaus zu den Sternen. Der Wind strich leise durch die Nacht. Das Meer rauschte. Nebenan donnerte die kräftige Stimme den betrunkenen Nachbarn Hannemann. Aline kam der Gedanke, ihrem lärmenden Nachbarn einen gehörigen Denkzettel zu verpassen. Wozu hatte sie ihre goldene Zaubermünze? Und verdient hatte es der Kerl allemal. Wie er sie immer anstierte, wenn sie hinterm Haus spielte. Richtig böse. Entschlossen zog Aline die Schublade auf und nestelte nach dem Goldstück. Immerhin war es schon zwei Tage her, seitdem sie von der Zauberkraft Gebrauch gemacht hatte… * Er wankte ein bißchen, als er ins Schlafzimmer kam. Die Frau lag im Bett, die Decke bis zum Kinn gezogen. »Mir ist speiübel«, sagte er. »Was ist das bloß?« Sie preßte die Lippen aufeinander. Ihre Wangenknochen
spannten die Haut. »Ich weiß es nicht«, hauchte sie. Er trat ganz ins Zimmer, ohne die Tür zu schließen, zog sich aus bis auf die Unterhose und starrte sie an. »Die Jungs haben einen ausgegeben«, lallte er. »Der lange Hein hat allein fünf Lagen geschmissen. Bier und Korn. Danach sind wir auf Tequila umgestiegen. Kennst du Tequila?« »Nein.« »Ein Bretterknaller, sag ich dir.« Er kratzte seine beharrte Brust. »Vorher leckt man Zitrone und Salz von der Hand. Dann kippt man den Tequila hinter die Binde. Mann, wie das brennt!« Die Frau zog das Bettuch bis an die Unterlippe. Sie hatte ein schmales, >durchsichtiges< Gesicht und dünne, offene Haare, die am Tag hochgesteckt waren. Er war ihr Mann, seit achtzehn Jahren. »Willst du noch was essen?« fragte sie. »Ich habe noch Hähnchenschenkel im Kühlschrank. Man fühlt sich besser, wenn man was gegessen hat.« »Hähnchenschenkel?« Sie nickte beflissen. »Ich hatte heute abend keinen Appetit. Ich mache sie dir warm, wenn du willst.« Er tappte zum Bett und warf die Zudecke zur Seite. Dabei rülpste er laut und herzhaft. »Hähnchenschenkel«, überlegte er laut. »In der Kneipe hab ich Eisbein gegessen. Gepökelt, mit Erbsenpüree und Sauerkraut. Das war vor sechs Stunden.« Sie warf das Bettzeug zurück. »Ich mache dir die Hähnchenschenkel heiß.« Als seine Frau im Nachthemd an ihm vorbeiging, packte er sie am Handgelenk. »Das gefällt mir nicht!« brüllte er sie an. »Was - meinst du?« »Dein Nachthemd. Es ist altmodisch und abgewetzt. Es sieht aus, als hättest du es von deiner Großmutter, und die von ihrer Großmutter!« Sie roch seinen scharfen Atem und sah seine glasigen Augen aus den Höhlen quellen. Er war mal ein gutaussehender, aufmerksamer Mann gewesen, damals, vor ihrer Hochzeit. Ihre Freundinnen hatten sie beneidet. Die hatte sie schon lange nicht mehr gesehen. Er wollte das nicht,
und sie gehorchte. »Ich friere nachts immer so. Deswegen trage ich es.« Er lachte heiser. »Du frierst im Bett?« »Ja. Und jetzt laß mich los. Du wolltest Hähnchenschenkel.« Er wurde bei dem Wort Schenkel zudringlich und versuchte, sie auszuziehen. Sie zog schnell den Kopf ein, als er sie küssen wollte. Seine gespitzten Lippen trafen ihre Stirn. »Ich muß in die Küche«, flüsterte sie ablenkend. »Das hat Zeit!« »Nicht so laut, die Nachbarn…« »Das ist meine Wohnung. Immerhin bezahle ich pünktlich meine Miete. Da bin ich so laut, wie es mir gefällt. Kapiert?« »Schon gut. Ich mache dir jetzt die Hähnchenschenkel. Ich werde mich an den Tisch setzen, während du ißt. In Gesellschaft schmeckt es besser.« Der Griff lockerte sich. Er glotzte sie an, als sähe er sie zum ersten Mal. Dann nickte er stumm. Sie atmete auf. Er ließ ihren Arm los, und sie ging in die Küche. Mit schweren Schritten folgte er ihr. Im Korridor brannte kein Licht. Er rammte mit dem Kopf gegen den Dielenschrank. Wütend schlug er mit der Faust dagegen. »Wieso machst du kein Licht? Soll ich mir die Knochen brechen?« Er rieb seinen Schädel, sank auf einen Hocker und stieß ungeniert auf. Eine Weile saß er so da, geistesabwesend, zusammengesunken, die verkrampften Hände auf den Tisch gelegt. Seine Frau briet die Hähnchenschenkel. Das Fett zischte. Sein Atem ging schwer und pfeifend. »Ich bin gleich fertig«, sagte sie. »Nur noch einen Augenblick. Ich wende sie noch mal.« Plötzlich stand er auf und fing an, grölend zu lachen. Sie sah sich erschrocken um. »Hätte bald meine Überraschung für dich vergessen.« Er wankte hinaus und kam mit einer kleinen Flasche Korn wieder. Wie eine Trophäe schwenkte er den Schnaps über seinem Kopf.
»Die trinken wir nach dem Essen. Und dann gehen wir ins Schlafzimmer«, versprach er, aber es klang wie eine Drohung. Als das Essen fertig war, stellte sie ihm den Teller hin. Dann setzte sie sich an den Küchentisch und sah zu, wie er mit beiden Händen die Hähnchenschenkel auseinanderriß und sich die Fleischstücken in den Mund stopfte. Heimlich wischte sie eine Träne von ihrer Wange. Er mochte es nicht, wenn sie weinte. Es machte ihn regelrecht wütend. Und dabei rutschte ihm schon mal die Hand aus, was er dann später immer bereute. »Iß nicht so hastig«, hauchte sie. »Das bekommt dir nicht. Laß dir ruhig Zeit.« Sein Gesicht verfärbte sich. »Hör gefälligst auf, mich herumzukommandieren!« brüllte er sie an. »Ich merke, du suchst schon wieder Streit, du blöde Kuh!« Elvira Hannemann schauderte, als säße sie in einem fürchterlichen Schneesturm, vollkommen nackt und ohne Hoffnung, jemals gerettet zu werden. Sie ahnte, was ihr bevorstand. Seufzend nahm sie eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Da passierte es! Die Frau begann zu schreien, wie sie noch nie in ihrem Leben geschrien hatte. Es war ein wilder, markerschütternder Schrei, der nichts Menschliches an sich hatte. Der Schrei hallte von den Wänden der Küche zurück. Und die Fensterscheiben vibrierten. Urplötzlich hatte die kleine, verschüchterte Frau in sich eine Energie gespürt, die so gewaltig war, daß sie sich auf der Stelle zutraute, den schweren Küchentisch anzukanten und aus dem Fenster zu schleudern. Die höllische Kraft war wie ein Blitz in sie eingeschlagen. Zugleich senkte sich ein blutroter Schleier über ihre Augen. Dahinter erkannte sie ihren verhaßten Mann. Er war aufgesprungen und bewegte sich auf sie zu. »Rastest du jetzt total aus, Schätzchen?« lallte er dümmlich. Blutgier flackerte in den Augen der Frau auf. Töten… Ansatzlos wirbelte sie um die eigene Achse. Dabei riß sie ein langes, scharfes Tranchiermesser aus dem Messerblock und
schwang es mit ungeheurer Kraft über ihrem Kopf. Dann streckte sie den Arm aus. Die Spitze des Messers war genau auf das Herz ihres Mannes gerichtet. Er grinste schief. »Geile Vorstellung«, kicherte er. »Wußte gar nicht, daß du soviel Temperament hast. Weißt du was? Du packst das Mistding jetzt weg, und wir steigen in die Falle. Okay, Süße?« Töten… Hannemann wischte sich das Fett von den Lippen. Der Schnaps, den er in sich hineingeschüttet hatte, verzerrte die Wirklichkeit auf makabre Weise. Er glaubte immer noch, daß er der Stärkere war. Ein Trugschluß. Er kam einen Schritt auf sie zu. »Schätzchen, gleich werde ich böse. Und dann kannst du was erleben. Das schwöre ich.« »Komm nur, du Mistkerl! Ich erwarte dich!« Ihre Stimme klang dumpf. Er stutzte. Solche Worte aus ihrem Mund waren ihm neu. Aber so leicht war sein alkoholisiertes Selbstbewußtsein nicht zu erschüttern. Er tat einen weiteren Schritt auf sie zu. Das Messer zischte durch die Luft. Der Mann sprang zurück. Zu spät! Mit einem wuchtigen Hieb hatte sie sein Gesicht getroffen. Seine rechte Wange wurde vom Kiefer bis zum Jochbein buchstäblich aufgetrennt. Die Wange klaffte auseinander, bestand nun aus zwei Teilen. Blut strömte aus der Wunde. Hannemann stand da wie belämmert und schrie. Er konnte es einfach nicht begreifen, was da mit ihm passierte. Aufflammende Wut mischte sich in sein Geheul. Wieder kam er näher. Er wollte sie packen, ihr das Messer aus der Hand schlagen. Aber statt dessen wich sie mit einem geschickten Ausfallschritt zur Seite. Erneut hob sie das Messer. Erneut holte sie aus. »Warte nur, wenn ich dich kriege, dann wehe dir, du verdammte Hexe!« Seine Stimme überschlug sich. Die Frau stieß nicht sofort zu. Als hätte sie diebische Freude
daran, den Mann zu quälen, ließ sie das Messer wie ein SamuraiSchwert durch die Luft wirbeln. Dann, wie ein her abstoßender Raubvogel, stieß es herab, traf seine rechte Schulter, bohrte sich hinein wie in Butter und kreiste bereits wieder in der Luft, bevor der Anflug eines Klagelautes über seine Lippen kam. Er brüllte, als würde er bei lebendigem Leibe auf einen Bratspieß gesteckt. Neben dem Kochherd, auf dem noch vor wenigen Minuten die Hähnchenschenkel brutzelten, sackte er blutüberströmt auf die Knie. Winselnd schnappte er nach Luft. Dann kippte er zur Seite und übergab sich. Als er fertig war, flehte er um Gnade, bettelte um sein Leben. Töten… Elvira Hannemanns Gesicht wurde zur Maske. Gefühllos, erbarmungslos. Schweiß glänzte auf ihrer Stirn und ihren Wangen. Jetzt nahm sie das Messer in beide Hände. Im Zeitlupentempo hob sie es empor. Eine Sekunde später ertönte ein surrendes Geräusch, und ein Poltern erklang, das sich anhörte, als wäre ein Kohlkopf vom Tisch auf den Flußboden gefallen. Dann herrschte Stille. * Aline wachte auf, weil sie ein merkwürdiges Kitzeln unter ihren Fußsohlen verspürte. »Laß das, Mami!« murmelte sie, ohne die Augen aufzumachen. »Ich will noch schlafen.« Das Kitzeln wurde stärker. Es war, als ob sie jemand mit einer flaumigen Hühnerfeder ärgern wollte, und das mitten in der Nacht. Aline strampelte mit den Beinen. Schläfrig spähte sie zum Fußende ihres Bettes. Fliegen, sagte sich das Mädchen, es müssen Fliegen sein. Olle Summsis. Die bekrabbelten einen immer so eklig. Besonders im Sommer, wenn es draußen warm war. Eine einzige Fliege reichte, um einen in den Wahnsinn zu treiben. Dauernd flog sie einem ins
Gesicht, auf Arme und Beine. Die Dinger riskierten Kopf und Kragen bei der Landung auf Menschenhaut. Es mußte das absolut Coolste für diese Plagegeister sein! Und das Risiko wert sein, erschlagen zu werden. Aline schwenkte das Fußgelenk, so heftig sie konnte. Das Kitzeln blieb. Es war ein Kitzeln der unangenehmen Art. Ein Kitzeln, worüber man nicht lachen konnte, beim besten Willen nicht. »Hau ab!« fauchte Aline. »Laß mich schlafen, du dämliches Fliegenvieh!« Wieder schüttelte sie den Fuß. Diesmal viel stärker als vorher. Der Fuß fühlte sich auf einmal irgendwie schwer an. Als hätte jemand böswillig einen Wackerstein an einer Schnur daran gehängt. Aber wer kam nachts in fremde Kinderzimmer und hing schlafenden Mädchen heimlich Wackersteine an die Beine? Aline dachte scharf nach. Sie lebten doch allein hier, nur die Mutter und sie. Der Wind säuselte ein melancholisches Lied. Aline sah zum Fenster. Es war gekippt. Sie hatte es selbst am Abend geöffnet, wegen der frischen Nachtluft. Vielleicht war sie auch von einem anderen Insekt gepiekt worden? Es hatte sich durch den Fensterspalt ins Zimmer geschummelt und… Verflixt, wie das kribbelte! Nicht zum Aushalten. Das Mädchen richtete sich auf und strampelte die leichte Zudecke beiseite. Sie spähte an das Fußende. Zwecklos, es war einfach zu finster. Mißmutig tastete sie nach dem Knipser der grünschirmigen Bankerlampe, die auf der kleinen Kommode neben ihrem Bett stand. Das Licht flammte auf. Endlich konnte Aline nachschauen, was da unter ihren Sohlen so kitzelte und wieso sich ihre Füße auf einmal so bleiern anfühlten. »Mamiii!« * Die Wohnungstür der Hannemanns stand sperrangelweit offen. »Gehen wir hinein?« wisperte Astrid Glaubach.
Alfred Rietböhl runzelte die Stirn. »Naja, nachsehen müßte man ja wohl, oder?« Sie standen auf der Plattform im Treppenhaus, direkt vor der Wohnung der Hannemanns. Nach dem unglaublichen Lärm war es darin still geworden, sehr still. Astrid hatte ihre Nachbarin, Frau Wendland, aus dem Bett geklingelt. Aber die ansonsten so resolute Köchin in einem Ferienhotel hatte kurzerhand Alfred Rietböhl, ihren Logiergast, vorgeschoben und war selbst zähneklappernd, die Decke über dem Kopf, im Bett geblieben. Astrid Glaubach befürchtete das Schlimmste, und Rietböhl hatte, ohne zu zögern, die Polizei informiert. Trotz der ungewöhnlichen Stunde sah Rietböhl aus wie aus dem Ei gepellt. Der alte Mann war frisch rasiert, trug einen dunkelblauen Morgenmantel und duftete nach Kölnischwasser. Er hatte einen ausgedehnten Nachtspaziergang am Strand unternommen. Seit dem Tod seines alten Freundes Karl Dröse vor zwei Tagen schlief er nicht mehr richtig. Erst vor ein paar Minuten war er von seinem Ausflug zurückgekehrt. Der Spaziergang an der frischen Luft hatte ihm gutgetan. Ein Klicken. Das Licht im Treppenhaus ging aus. Mit einemmal war es düster wie in einem zugeschnürten Kohlesack. Schnell drückte Astrid Glaubach auf den schwach glimmenden Zeitschalter. Es klinkte, und im Treppenhaus war es wieder taghell. Sie sahen sich einen Augenblick prüfend an, die hübsche Frau mit dem hochgesteckten, blonden Haar und der Mann im Frotteemantel. »Bringen wir's hinter uns«, sagte Alines Mutter. Der Mann nickte. Er knotete die Kordel seines Morgenmantels fester. Dann drückte er langsam die Tür auf. Die ungeölten Türangeln quietschten. Abgesehen von ihren stoßweisen Atemzügen war es das einzige Geräusch im Haus. Die Stille barg etwas Endgültiges. Rietböhl trat in die Wohnung. Astrid Glaubach folgte ihm. Der Korridor lag im Halbdunkel. Ein Spaltbreit Licht fiel aus der Küche. Die Tür war nur angelehnt.
Der Mann preßte den Daumen auf einen Plastikschalter. Dann stupste er die Tür zur Küche auf. Von der Diele aus spähte er mit langem Hals hinein. Astrid Glaubach, die zwei Schritte hinter ihm ging, hörte Rietböhl plötzlich laut stöhnen. Er starrte auf etwas, das auf dem Boden lag. Sie sah, daß er erschrocken zusammenfuhr. »Mein Gott!« stieß er fassungslos hervor. Als sich Alfred Rietböhl umdrehte, hatte sein zerfurchtes Gesicht die Farbe frischgefallenen Schnees. »Es ist Ihr Nachbar, der Hannemann«, sagte er tonlos. »Er liegt unter dem Küchentisch.« »Ist er - tot?« Rietböhl sah die Frau an. »Wäre wirklich besser, wenn Sie ihn sich nicht ansehen würden.« »Sind Sie auch sicher?« Astrid schob sich an ihm vorbei. »Ich meine, daß er tatsächlich tot ist?« »Frau Glaubach!« Er stellte sich ihr in den Weg. »Warten wir auf die Polizei. Jeden Moment kann sie eintreffen. Wir können ihm nicht mehr helfen.« »Woher wollen Sie das wissen? Sie haben doch nur kurz durch die Tür geguckt.« Rietböhl zögerte. »Hm - es ist schon seltsam.« »Was, in drei Teufels Namen, ist seltsam?« Astrid drängte den Mann, der den Eingang versperrte, energisch beiseite. Sie trat in die Küche - und erstarrte. Die Wandschränke, der Tisch und die Stühle waren blutbespritzt. Der Leichnam ihres Nachbarn lag, zusammengekrümmt wie ein Fötus, zwischen Kochherd und Küchentisch. Sein Kopf fehlte… * Das Auffälligste in Astrid Glaubachs Wohnzimmer waren die zahllosen maritimen Nippessachen. In der Anbaureihe, auf dem flachen Couchtisch und in den Wandregalen wimmelte es von Flaschenschiffen, exotischen Muscheln, kleinen Fischernetz-Nachbildungen, Bojen,
Klabautermann-Figuren und detailgetreuen Koggen aus der Hansezeit. Die Sammlung ihres verstorbenen Mannes. Er hatte die See und alles, was dazu gehörte, sehr geliebt. Astrid Glaubach und Alfred Rietbohl saßen sich am Couchtisch eine Zeitlang wortlos gegenüber. Allmählich beruhigte sich die Frau. Noch vor wenigen Momenten war sie nahe daran gewesen, sich in der Küche des Ermordeten zu erbrechen. »Wo die Polizei nur bleibt?« sagte sie nervös. »Ich frage mich die ganze Zeit, wohin Ihre Nachbarin verschwunden ist?« Rietböhl wiegte seinen Graukopf. Astrid Glaubach hatte ihn gebeten, so lange, bis die Polizei im Hause war, bei ihr zu bleiben. Sie fürchtete sich. Sie fühlte sich schwach und unsagbar erschöpft. »Möchten Sie einen Kaffee?« fragte sie. »Nett von Ihnen«, erwiderte der Mann. »Aber wenn ich mir jetzt noch eine Dosis Koffein genehmige, darin fliegt mir meine Pumpe um die Ohren.« »Vielleicht mögen Sie einen Rum?« Rietböhl hob abwehrend die Hände. »Es ist echter Jamaika-Rum. Guntram hat sich ab und an ein Gläschen gegönnt.« Als er merkte, daß ihr viel daran lag, ihm etwas anzubieten, gab er jeglichen Widerstand auf. »Gut, aber nur einen kleinen. Und nur wenn Sie auch einen nehmen.« Sie sprang auf, flitzte zur Hausbar. Kurz darauf plätscherte das scharfe Getränk in zwei goldrandige Gläschen. Sie prosteten sich zu und tranken. Er setzte das Glas ab. Nachdenklich strich er mit dem Zeigefinger um den feuchten Glasrand. »Merkwürdig«, meinte er. »Da bin ich kaum eine Woche auf der Insel, und schon passieren die ungeheuerlichsten Dinge in meiner Umgebung.« »Sie meinen das Blutbad nebenan, nicht wahr?« »Auch, ja, natürlich.« »Was denn noch?« wollte Astrid Glaubach wissen. Er schwieg eine Weile, dachte an Karl Dröse. Seine nach außen gekehrte, unerschütterliche Ruhe irritierte die Frau. Nur um etwas zu tun, hob sie die Flasche, die in der Mitte des Tisches stand. Sie schraubte den Verschluß ab.
»Möchten Sie noch einen?« »Einer reicht wirklich. Danke.« Sie stellte den Rum beiseite. Als der Boden der Schnapsflasche auf die Tischplatte klackte, kam ihr jäh das Erlebnis mit dem pferdeschwänzigen Jungen in der Seestraße in den Sinn. Da der Mann gedankenvoll schwieg, fing sie stockend an, ihm davon zu erzählen. Sie ließ nichts aus. Die furchtbaren Krämpfe. Die gewaltige Kraft, über die der Rasende plötzlich verfügte. Das ekelerregende Knirschen, als sich seine Zähne in den Hausputz einfraßen. Als sie geendet hatte, blickte Rietböhl sie mitleidig an. »Und Ihre Tochter hat alles mit angesehen?« erkundigte er sich. »Wie hat sie es aufgenommen?« Astrid Glaubach sank wie ein Häufchen Unglück in sich zusammen. »Gut, denke ich. Wir haben nicht weiter darüber gesprochen. Dann vergißt ein Kind so etwas eher.« Er schaute sie zweifelnd an. Es war ihr unangenehm, darüber zu reden. Ein Schuldgefühl beschlich sie. Ohne Umschweife wechselte sie das Thema. »Glauben Sie, es war seine Frau, die ihn - umgebracht hat?« sagte sie schnell. Rietböhl zuckte die Achseln. »Möglich.« »Ich kenne Elvira schon ein paar Jahre«, plapperte Astrid Glaubach munter drauflos. »Eine Seele von Mensch. Oft fragte ich mich, wie sie es mit diesem Trunkenbold aushielt. Bald jeden Abend hockte er mit seinen Kumpels im Kulm-Eck und schüttete sich zu. Elvira muß ein Gemüt wie ein Pottwal gehabt haben.« »Manche Frauen sind unglaublich stark - oder auch schwach, wie man will«, warf Rietböhl ein. Dann schien ihm etwas einzufallen. Weit beugte er sich nach vorn. »Sagen Sie, Frau Glaubach. Ich habe da mal eine persönliche Frage. Sie sind doch sozusagen eine alte Insulanerin, eine Eingeborene, wenn ich mich nicht irre?« Astrid Glaubach nickte. »Nein. Sie irren sich nicht. Ich wurde in Sellin, das liegt am Schmollensee, geboren.« »Gut. Kennen, hm, besser gesagt, kannten Sie einen Karl Dröse?« »Den Hellseher?« Alfred Rietböhl fuhr verdattert zurück. Sein Magen krampfte sich zusammen. Ihm war, als flitzte eine
glitschige Eidechse über seinen Rücken. Seine Verwirrung verdoppelte sich, als die übernatürliche Stille, die plötzlich eingetreten war, von der Stimme eines kleinen Mädchens unterbrochen wurde. Aline! Sie schrie. * Noch ein paar Minuten, und ich, Mark Hellmann, würde endlich am Ziel sein. Lässig lümmelte ich hinter dem Steuer meines BMW. Aus den Boxen des Autoradios hämmerte ein Song von den Stranglers, >Always The SunAnybody Seen my Baby?< Mike mochte die Rolling Stones. Er hatte die ganze Musikkassette voll davon. Die CD, die er sich von einem Kumpel überspielt hatte, hieß >Bridges To BabylonEin Herz kann man nicht reparieren