steckt voller Anregungen, mit deren Hilfe jeder Junge und jedes Mädel auch ohne Vorkenntnisse eine ganze Welt fröhliche...
19 downloads
286 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
steckt voller Anregungen, mit deren Hilfe jeder Junge und jedes Mädel auch ohne Vorkenntnisse eine ganze Welt fröhlicher und nützlicher Dinge hervorzaubern kann. Nur wenige Werkzeuge und wenig Material werden benötigt, und was das Schönste an der Auswahl ist: alle Altersstufen vom Jüngsten bis zu den .Grofjen" finden, was ihnen Freude macht. Ein eigener Basfeikurs führt in die Arbeiten ein.
Für frohe Stunden an langen Winterabenden
250 Basfeiarbeiten von Albert Fabian und Susanne Ströse 216 Seifen • 468 Abbildungen Ganzleinen mit Goldprägung und farbigem Schutzumschlag
DM 2.22 V E R L A G SEBASTIAN LUX MURNAU . MÖNCHEN • INNSBRUCK • ÖLTEN
K L E I N E B I B L I O T H E K DES WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
Kurt Vethake
CHINCHON der Wunderbaum Das Abenteuer des Doktor Haßkarl
VERLAG SEBASTIAN LUX UURNAU-MÜNCHEN-INNSBRUCK
ÖLTEN
„SPION" in den Anden * ^ e r Mann drängte das unsicher gewordene Tier an die Bergseite des Saumpfades und knotete den Leitzügel um eine Baumwurzel. „Da, versehnauf dich!" sagte er. Als er dann den Blick hob. um «uch für sich ein Ruheplätzchen auszumachen, sah er die Grenzer. Sie schienen ebenso überrascht zu sein, wie er selber es in diesem Augenblick war. „Manos arriba — Hände hoch!", rief einer von ihnen, unverkennbar der Anführer des Kommandos. Der Besitzer des Maulesels tat sehr verwundert, folgte aber dem Befehl und hob schicksalsergeben die Arme. Als die Männer näher herangekommen waren, erkannte er, daß es bolivianische Soldaten waren — bolivianische Soldaten, wohlverstanden, obgleich er glauben durfte, die Grenze noch weit vor sich zu haben und mitten in den peruanischen Anden au sein. „Haben wir dich endlich, du Spitzbube?" sagte der Offizier, während er mit kundigen Griffen die Kleidung des Bergwanderers abtastete. Der Mann ließ es sich schweigend gefallen. Er führte keine Waffe bei sich. „Darf ich fragen, für was Sie mich halten, Capitano?" erkundigte er sich nicht eben freundlich. „Für das, was du bist, amigo . . . für einen Spion!" Ehrlich gesagt, das hätte der Fremde am wenigstens erwartet. Er griff in die Rocktasche und reichte dem Offizier seine Papiere. „Wollen Sie sich einmal diese Schreiben ansehen!" Der Capitano tat nur einen flüchtigen Blick darauf. 2
„Schreiben von peruanischen Behörden? Was soll das?" sagte er verächtlich. „Selbstverständlich von peruanischen Behörden!" gab der Doktor zurück. „Aber wir befinden uns hier nicht in Peru, sondern in Bolivien . . . Herr Dr. Müller! Tun Sie doch nicht so, als ob Sie das nicht wüßten!' 1 „In Bolivien?" „Si si, Senor . . . in Bolivien!" echote der Offizier gereizt. Er sah sein Gegenüber prüfend an. Zugegeben: Die abgerissene Kleidung des Doktors war alles andere als eine Empfehlung; schließlich war er seit Wochen in der tropischen Wildnis unterwegs. „Es würde mich interessieren, was Sie mit mir vorhaben?" fragte der Gefangene nach einem Augenblick des Schweigens. „Dasselbe, was wir mit allen Spionen machen: Sie werden sich vor einem Militärgericht zu verantworten haben. Das heißt, zunächst bringen wir Sie nach Fort Montana; morgen geht es dann weiter in die Stadt." Welche Stadt das sein konnte, verriet er nicht. Nun, ein Spion war dieser Dr. Müller nicht; dafür aber etwas anderes, was in diesen südamerikanischen Landgebieten in jener Zeit nicht weniger gefährlich war: ein Schmuggler. Das Schmuggelgut, auf das er es abgesehen hatte, waren weder Waffen noch Pfunde oder Dollar, auch nicht Gold oder Edelsteine, sondern etwas viel Merkwürdigeres und im Grunde viel Wertvolleres: Junge Chincbonen, Sprößlinge des Chinarinden-Baums und Samen aus diesem Wunderbaum, der nur in den Hochregionen der Anden beheimatet war. Nirgendwo anders in der Welt wuchs dieser seltsame Laubbaum, auf den seit zweihundert Jahren die Augen von Millionen Malariakranken gerichtet waren — denn seine Rinde barg das einzige Heilmittel, das ihnen in den Schauern der Wechselfieberanfälle und der Schüttelfröste Hilfe und vielleicht Heilung bringen konnte: das Chinin.
Arznei aus Baumrinde Der Chinarindenbaum — die Chinchona, der Chinchon — ist dal größte Arzneigewächs der Erde. Eng umgrenzt war bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Landschaft, in der es allein gedieh. In den regenreichen Osthängen des bolivianischen und peruanischen Hochgebirges siedelte der Baum bis in zweieinhalbtausend, in manchen Hochtälern bis in dreieinhalbtausend Meter Höhe hinauf. Die Chinchonen — weit entfernte Verwandte des Kaffeestrauches 3
und der Labkrautgewächse, zu denen auch der Waldmeister der heimischen Wälder gehört — waren unter den urweltlichen Bäumen der Cordilleros de los Andes meist Einzelgänger. Es gab keine Chinchonenwälder, höchstens daß sich einmal einige Chinarindenbäume in einer Waldlichtung zur Gruppe zusammentaten, deren einzelne Vertreter aber immer respektvollen Abstand voneinander hielten. Auf meist ragendem Stamme breitete der lichte Wipfel fast schattenlos •eine lanzettschmalen, elliptischen oder auch eiförmigen Blätter und einmal im Jahr die rosafarbenen oder gelblich-weißen Blüten. Zwei bis drei Dutzend Arten — ranke und ausladende — fanden sich in den Ost-Anden. Allen gemeinsam war der Standort auf lockeren, möglichst feuchtgründigen Böden und auf den Regenseiten des Gebirges. Über die Frage, wer zum erstenmal die gottgesegnete Heilkraft der Rinde dieses Baumes erfahren hat, darüber gab es und gibt es auch heute noch viele Erzählungen. Bereits die Ärzte und Medizinmänner des Inkavolkes — so heißt es — sollen die Wunderwirkung des im Wasser gelösten Rindenpulvers gekannt und Fieber damit bekämpft haben. Wahrscheinlich haben sie es aber nicht gegen Malaria benützt; denn dieses zehrende Fieber ist vermutlich erst lange nach der Entdeckung und Eroberung des Inkareiches von der Alten Welt auf das südamerikanische Festland eingeschleppt worden. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts — soviel ist sicher — weiß man in Europa von der Wunderkraft dieses Baumes. Unter mehreren Namen vertreiben die Apotheken die zu Pulver gemahlene Rinde, in Paris und London und später auch in den deutschen Städten. Einige nennen sie „Jesuitenrinde" (pulvis Jesuiticum). Ein Missionar der Gesellschaft Jesu, der unter den Nachfahren der Inka in den Indianerdörfern Perus tätig war und an der Malaria erkrankte, soll von einem Medizinmann durch ein Gebräu aus der Rinde geheilt worden sein und die Arznei dann mit dem Bericht über seine Heilung und vielen Empfehlungen nach Europa gesandt haben. Zeitweise wird das Pulver auch als Gräfinnenpulver vertrieben — die Apotheken führen es unter dem klangvollen Namen „Polva de condesa"; denn man erzählt sich, daß die Gräfin de Chinchon, die Gemahlin des spanischen Vizekönigs von Peru in Lima in tödlicher Krankheit durch diese Medizin plötzlich gesundet sei. Im Vertrauen auf diese Nachricht nagelte Robert Talbot, ein Apothekerlehrling in London, ein Arztschild an seine Tür. Mit einer Mischung aus Rosenblättern, Zitronensaft, Wasser und gestoßener Gräfinnenrinde heilte er König Karl II. vom Fieber und wurde zum Lohne zum Ritter geschlagen 4
--•*«*-.
und in den Adelsstand erhoben. Als später der französische Kronprinz und seine Gemahlin ebenfalls vom Wechselfieber — der Malaria — erfaßt wurden, verwettete Talbot seinen Kopf, daß er sie mit dem Pulver in wenigen Tagen vom zehrenden Fieber befreien werde — und er hatte Erfolg. Auf der Suche nach einem besseren Namen für den inzwischen weithin berühmt gewordenen Baum erinnerte sich der große Arzt und Naturforscher Carl von Linne, der Mitte des 18. Jahrhunderts die Grundlage für die botanische Fachsprache geschaffen hat, der Geschichte mit der Gräfin de Chinchon und ordnete den Baum unter der Bezeichnung „Chinchona succirubra", Rotrindrige Chinchona. in seine vorbildlichen Pflanzenbeschreibungen ein. Wahrscheinlich aber ist, daß der damals ebenfalls bereits übliche Name Chinahaum auf das indianische Wort „quina" (gespr. kina), d. h. Rinde zurückgeht.
Die Seuche des Fiebertodes Das Chinarindenpulver oder vielmehr die in der Rinde enthaltene chemische Verbindung des „Chinins" ist das erstentdeckte Spezialheilmittel gegen eine ansteckende Krankheit gewesen — und dieße Krankheit war seit Menschengedenken eine der ärgsten Geißeln der Menschheit. Das Erschreckende an dieser Seuche, die durch Massenansteckung in kürzester Zeit Tausende dahinraffte, waren die zehrenden und verzehrenden, sich immer wiederholenden Fieberanfälle, denen die Erkrankten hilflos ausgeliefert waren und denen vielfach die kräftigsten Naturen schon bald erlagen. Aber auch dem Ausgeheilten drohte oft jahrzehntelang die Gefahr des Rückfalls, ohne daß eine erneute Ansteckung vorauszugehen brauchte. Wie die Beulenpest, der „Schwarze Tod", so griff auch der Fiebertod durch Malaria mehr als einmal schicksalhaft in den Ablauf des Weltgeschehens ein und unterwarf Männer und Mächte seinem Diktat. Der Malaria erlag im 4. Jahrhundert v. Chr. Alexander der Große, als er nach dem Blitz-Feldzug gegen Indien im Begriffe stand, seinen Abenteurerzug auch über die westliche Hälfte der damals bekannten Welt, über Nordafrika und Italien, auszudehnen. Den Westgotenkönig Alarich fällte das Wechselfieber, als er nach der Eroberung Roms seine Heeresmassen in Süditalien sammelte, um Sizilien und die afrikanischen Römerprovinzen zu erobern; Mohameds Leben erlosch durch das Fieber der Malaria, als er sich anschickte, die Beduinen Arabiens zum Sturm gegen Konstantinopel zu führen. Als dann das Abendland in den Kreuzzügen aufbrach, 5
um die an den Islam verlorenen „Heiligen Stätten" zu befreien, wütete, verheerender als das Schwert der Türken, das Fieber unter den Kreuzfahrern. Fünf deutsche Kaiser und unzählige deutsche Ritter mit ihnen starben an Malaria, als sie über die Alpen zogen, um in Rom die Kaiserkrone zu gewinnen. Den jungen General Napoleon zwang im Jahre 1799 in Kleinasien die Malariaerkrankung seiner Soldaten zum Abbruch seines gegen England gerichteten Ägyptenfeldzuges; dieser unerwartete Mißerfolg wurde nicht zuletzt Anlaß zu seinem Staatsstreich und seinem Kaisertum. Auch auf anderen Kriegszügen der alten und neuen Geschichte erwies sich die Malaria oft stärker und entscheidender als Feldherrntalent und Waffenmacht. Das einzige Mittel, das zwar die Ansteckung nicht verhindern, aber die zermürbenden Folgen des Fiebers hätte eindämmen können, wuchs fern in den südamerikanischen Gebirgsregionen nahe dem Äquator. Obwohl Eingeborene und weiße Siedler das Sammeln der Rinde mit Eifer betrieben — kostete doch das Pfund der getrockneten Rinde im europäischen Arzneihandel zeitweise bis zu 400 Mark — war der Weltbedarf immer noch größer als das Angebot. Die Sammler, die sich Cascarilleros oder Cascadores nannten, kletterten in immer höhere Gebirgszonen, fällten die Bäume, entrindeten sie und trockneten die dunkelfarbigen Rindenstücke über dem schnell entfachten Feuer, bevor sie die kostbare Ladung zu Tal trugen. Die Ausbeutung der Bestände wurde seit der Mitte des 17. Jahrhunderts zum Raubbau. Zwar hatten die Behörden in den Ostandengebieten eine strenge Anordnung erlassen, daß die Cascarilleros für jeden gefällten oder entrindeten Baum einen Steckling in die Erde setzen sollten und daß auch die dicken Rindenstücke, die man für weniger ergiebig hielt, auszunutzen seien — aber die Gier nach schnellem Verdienst ließ den Rindensammlern keine Zeit zu Sorgfalt und Nachpnanzungen. Die Händler Perus und Boliviens besaßen das Monopol auf Chinarinde und regulierten den Weltmarktpreis, je nach Bedarfslage entweder durch Hortung der angelieferten Rinden oder durch die Freigabe klug berechneter Mengen für die jeweilige Ausfuhr. Es wäre möglich gewesen, der mit dem Wachstum der Weltbevölkerung gewaltig angestiegenen Millionenzahl von Malariakranken zureichendere Hilfe zu bieten. Man konnte in anderen geeigneten Höhengebieten der Erde den Chinarindenbaum in Kultur nehmen und ihn außerdem durch entsprechende Züchtung zur Erzeugung eines noch höheren Chiningehalts bringen. Ähnliche Klima- und 6
Niederschlagsverhältnisse wie die Anden wies zum Beispiel das Gehirgsland der niederländisch-indischen Insel Java auf. Südamerika aber hütete eifersüchtig sein Monopol. Die Häfen wurden überwacht, jeder Fremde wurde argwöhnisch beobachtet. Auf die Ausfuhr von Setzlingen oder Jungpflanzen und von Samen der Chinchonen waren hohe Strafen gesetzt. In einigen Gouverneurbezirken war die Ausfuhr des Baumes oder von Sämereien sogar mit dem Tode bedroht. An Versuchen, den Baum oder Samen außer Landes zu bringen, hatte es nicht gefehlt, zumal es im Jahre 1820 gelungen war, aus dem Rindenpulver die eigentlich wirksame Substanz, das Chinin, herauszulösen und es rein darzustellen. Das bedeutete, daß man nun die Arznei dem Kranken in genau abgemessenen Mengen zuführen konnte, was bei dem kaum zu ermittelnden Ghiningehalt des bisherigen Rindenpulvers kaum möglich gewesen war. Nur einigen Wagemutigen, die den Vorstoß in die Wälder der Anden versucht hatten, war bis dahin ein kaum nennenswerter Erfolg beschieden gewesen. Die wenigen Pflanzen, die mit List und Tücke außer Landes gebracht worden waren, standen als Schaustücke in den Botanischen Gärten einiger Städte, reichten aber nicht aus, um daraus ausnutzbare Bestände zu züchten.
Ein Auftrag für Dr. Haßkarl Erst im Jahre 1854 gelingt einem deutschen Naturforscher da» kühne Unternehmen — der Durchbruch durch die Sperrzonen der Cascarillos und Rindenhändler, die rettende Tat für Unzählige, die in aller Welt an Malaria leiden und von ihr tödlich bedroht sind. Es ist jener Dr. Müller — sein eigentlicher Name aber ist Dr. Justu» Karl Haßkarl —, von dessen Gefangensetzung durch bolivianische Grenzsoldaten eingangs berichtet wurde. Die glückliche Begegnung mit einem holländischen Schiffsbesitzer hat den jungen Bonner Studenten schon früh nach Niederländischindien geführt, wo er reichlich Gelegenheit findet, seine botanischen Studien fortzusetzen und durch die Entdeckung und Bestimmung einiger hundert unbekannter Pflanzen ersten wissenschaftlichen Ruhm zu erwerben. Einige Jahre später kann er die Indonesienreiae wiederholen. So wird er, obwohl er mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen hat, zum besten Kenner der Boden- und Wachstumsverhältnisse auf der indonesischen Inselwelt. Als er nach langen Jahren wieder nach Europa, nach Amsterdam, 7
zurückkehrt, hört er, daß die holländische Kolonialverwaltung entschlossen ist, einen tatkräftigen und kundigen Mann nach Peru zu entsenden, um die von der Ausrottung bedrohten Chinabaumbestände durch die Entnahme von Samen und Setzlingen zu retten. Die Insel Java ist dazu ausersehen, die herausgeschmuggelten Wildlinge der Anden aufzunehmen, und Dr. Haßkarl erscheint nach seinen Ostindienerfahrungen und seinen naturwissenschaftlichen Kenntnissen als der einzig geeignete Mann, der dem Auftrag gewachsen ist. Und Dr. Haßkarl nimmt an. Anfang 1853 ist in vertraulichen Verhandlungen das Vorhaben in allen Einzelheiten festgelegt. Eine der abenteuerlichsten und bedeutungsvollsten Expeditionen der Geschichte ist startbereit. Aber kurz vor Haßkarls Aufbruch tritt ein Ereignis ein, das all seine Pläne zunichte zu machen scheint. Vom Kolonialminister der Niederlande ist ein Bote in Haßkarls Amsterdamer Wohnung erschienen, um ihn zu einer Unterredung ins Ministerium zu bitten.
*
Der Kolonialminister kommt dem Forscher mit todernstem Gesicht entgegen. „Ich habe schlechte Nachricht für Sie, Herr Dr. Haßkarl!" „Noch im letzten Moment Bedenken der Regierung?" Dr. Haßkarl kann seine Enttäuschung kaum verbergen, als er die Frage vorbringt. „Da! Lesen Sie!" Der Minister reicht ihm den „Amsterdamer Boten" über den Schreibtisch „Irgend jemand hat unsere Pläne verraten! Und das Schlimmste ist: Auch die spanischen Zeitungen, die drüben gelesen werden, bringen die Nachrieht, daß Sie nach Peru wollen, um Chinarindenbäume und Samen . . . " Er vollendet den Satz nicht, als er die Überraschung des anderen bemerkt. „Das ist doch unmöglich!" Dr. Haßkarl ist aufs äußerste bestürzt. „Und ich kann mir nicht vorstellen, wer das verraten haben könnte. Ich jedenfalls habe zu keinem Menschen von unsern Plänen gesprochen. Nur meine Frau ist unterrichtet, die wohnt in Düsseldorf und ist schweigsam wie das Grab. Wenn es also hier in Amsterdam und in Madrid in den Zeitungen steht, so kann es sich nur —• verzeihen Sie — um eine Indiskretion Ihres Ministeriums handeln!" „Ich fürchte, Sie haben recht!" gibt der Minister zu. „Aber ich habe keine Ahnung, wer ein Interesse daran haben könnte. Und selbst, wenn wir den Mann erwischen — helfen kann es uns nichts mehr! Sie werden Ihren Plan aufgeben müssen, Doktor!" 8
Haßkarl ist zum Fenster getreten. Seine Gedanken arbeiten fieberhaft. „Ich habe eine Idee, Exzellenz", sagt er dann mit einem Augenzwinkern. „Wenn Doktor Haßkarl nicht reisen kann, so fährt eben ein anderer! „Sagen wir, dieser andere sei . . . Dr. Müller!" „Als ob das so einfach wäre!" Der Minister ist über die Gelassenheit seines Besuchers verblüfft. „Wo sollen wir zum Beispiel diesen Dr. Müller hernehmen? „Dr. Müller bin ich selber", entgegnet nach einer Schweigepause der Gefragte. „Sie?" Die Exzellenz blickt verdutzt zu ihm herüber. „Daß Dr. Haßkarl Chinchonen aus dem Land schmuggeln will, ist bekannt, also werde ich als Dr. Müller nach Peru reisen!" Der Minister denkt eine Weile nach, nickt, dann aber kommen ihm Bedenken. „Trotzdem bleibt die Sache für Sie gefährlich, Doktor. Die Peruaner sind alarmiert. Man wird künftig jeden Ausländer scharf aufs Korn nehmen. Und vergessen Sie nicht, was Ihnen bevorsteht, falls man Sie faßt!" „Davor habe ich keine Angst und zudem: Man wird mich nicht fassen!" „Haben Sie auch bedacht, daß wir in einem solchen Falle nichts für Sie tun könnten?" entgegnet der hohe Beamte. „Sie handeln als Privatmann. Wir dürften Ihnen nicht einmal Ihr Schicksal erleichtern, da Sie nicht holländischer Staatsbürger sind. Was immer geschieht, Sie werden ganz auf sich allein gestellt sein!" „Das weiß ich", erwidert Dr. Haßkarl. „Schließlich unternehme ich keine Vergnügungsreise. Aber eines müssen Sie mir versprechen, Exzellenz!" Der Minister sieht ihn fragend an. „Im Falle, daß mir etwas passiert, sorgen Sie für meine Familie, meine Frau und die vier Kinder!" „Ich glaube, das versprechen zu können. Das sind wir Ihnen schließlich schuldig für das, was Sie für uns und die Menschheit tun." Dr. Haßkail strafft sich. Seine größte Sorge ist ihm genommen. „Und noch etwas, kein Mensch außer Ihnen darf erfahren, unter welchem Namen ich reise." Damit ist alles gesagt, was zu sagen ist. Dr. Haßkarl erhebt sich. „Dann nehmen Sie zur Kenntnis, daß ich sobald als möglich abreise!" Der Kolonialminister begleitet den Forscher bis an die Tür. „Auf eine gute Reise! Und glückliche Heimkehr!" Er reicht dem 9
Besucher die Hand. „Hals- und Beinbruch . . Herr Doktor Müller!" Alles Weitere ist verhältnismäßig einfach. Zunächst teilt der Doktor allen Bekannten mit, daß er sich unter diesen Umständen in Peru unmöglich gemacht habe. Zwei Tage später verläßt er Amsterdam und läßt seine Freunde in dem Glauben, daß er zu seiner Familie nach Düsseldorf zurückkehre. In Wirklichkeit hat er sich unter seinem neuen Namen ein Schiffsbillet nach London besorgt und nimmt den nächsten Fährdampfer. Am folgenden Morgen ersteht er im Hafenviertel der Weltstadt eine vollständige Tropenausrüstung, dazu alles, was ein „Naturforscher" benötigt, geologisches Arbeitsmaterial und Botanisiergeräte. Dann belegt er als Dr. Müller aus Kassel eine Kabine auf dem Überseedampfer „La Plata". Dr. Müller-Haßkarl durfte hoffen, damit alle Spuren verwischt zu haben. Aber das war ein Irrtum, wie sich im Verlaufe seiner Reise herausstellen sollte. Er hatte nicht mit dem Spürsinn der Engländer gerechnet, deren Kolonialministeriums bereits am Tage seiner Abreise dem britischen Konsul in Peru bekanntgeben konnte, daß ein Dr. Haßkarl untef dem Namen Dr. Müller nach Peru abgereist sei. Diese Meldu.-g sollte nicht ohne Folgen bleiben. Sie war der Schlüssel zu einem höchst bedeutsamen Zwischenfall in einer Zeit, da dem Wagemutigen Hilfe, von welcher Seite sie auch kam, nur recht sein konnte. Aber, wie gesagt, davon ahnte Dr. Haßkarl nichts, während die „La Plata" die Themsemündung verließ. Die Überfahrt verlief ohne Zwischenfall; jedenfalls bis zur Ankunft auf dem südamerikanischen Festland. Im ersten Hafen jenseits des Atlantik hätte die Reise fast ein vorzeitiges Ende gefunden, Haßkarl erkrankte an Malaria und wurde beinahe ihr Opfer. Dieser Krankheitsfall bestärkte ihn in seinem Entschluß, die eigensüchtige, ja grausame Absperrung Perus zu durchbrechen. Unangefochten erreichte er Callao an der Westküste Perus. Ohne Aufenthalt fuhr er nach Lima, der Hauptstadt der Landes, weiter. Dort galt sein erster Besuch dem Bankhaus, wo er die Kreditbriefe vorlegen wollte, mit deren Hilfe er seine Reisekasse aufzufüllen gedachte.
Don Hernando, der Bankier „Herr Dr. Müller?" Don Hernando, der Bankier, hat Dr. Haßkarl persönlich zu sich gebeten. Einen Augenblick überkommt den Forscher erregende! Mißtrauen; vielleicht aber täuscht er sich auch. 10
„Ich hoffe, meine Kreditbriefe sind in Ordnung?" fragt er, als er sich in dem altspanischen Prunksessel niedergelassen hat. „Selbstverständlich? Ich wünschte, ich hätte immer solche Kunden!" Don Hernando lächelt höflich und bietet dem Besucher eine Havanna. „Darf man fragen, wie die Überfahrt war?" „Wir hatten fast ständig Sturm und schlechte Verpflegung. Sie wissen ja, wie die Schiffsgesellschaften den Passagieren den Geldbeutel rupfen!" „Das tut mir leid!" Don Hernando legt sein leicht gerötetes Gesicht in kummervolle Falten. „Außerdem wurden wir durch Gerüchte vom Wechselneber beunruhigt", fährt Dr. Haßkarl fort, um den Bankherrn am Reden zu halten und einem vielleicht vorhandenen Mißtrauen durch scheinbare Unbefangenheit zu begegnen. „Diese Malaria ist wie eine Geißel Gottes", erklärt der Bankier mit dem Brustton der Überzeugung. „Aber das schlimmste war, daß man mir in Barbacoa mitteilte, das Billett der englischen Reederei habe für die Weiterreise keine Gültigkeit mehr", bemerkt Dr. Haßkarl. „Kennen Sie Barbacoa, Herr Bankier?" „Leider nein!" Don Hernando scheint das sehr zu bedauern. „Seien Sie froh!" klärt der Doktor ihn auf. „Ein elendes Nest! Total verseucht von Malaria. Hunderte von Bahnarbeitern sterben dort jährlich am Fieber. Ich hatte meine Passage und alles Nötige bis Lima bezahlt und meine Kreditbriefe nach hier gehen lassen. Ich wurde ohne einen Pfennig Geld in Barbacoa zurückgehalten und tollte nicht nur eine neue Fahrkarte sondern auch den teuren Aufenthalt bis zum Abgang des nächsten Schiffes bezahlen." „In der Tat: äußerst peinlich!" bekundet Don Hernando. „Zum Glück fand ich einen Kaufmann, dertmir 150 Dollar borgte, damit ich weiterkam. Sonst wäre ich in diesem verseuchten Malarianest hängen geblieben und gewiß selber erkrankt." „Das sollten Sie nicht sagen, Herr Doktor . . . jetzt, wo Sie glücklich in Lima sind!" „Sie werden es nicht glauben", setzt Haßkarl das Gespräch fort, „selbst auf dem Schiff, das mich nach Callao brachte, gab es Malariakranke. Man brachte einen päpstlichen Nuntius sterbend an Land. Aber man hat über uns Passagiere keine Quarantäne verhängt, obgleich das Schiff die gelbe Flagge führte." „Da haben Sie Glück gehabt, Doktor!" wirft Don Hernando ein. »Nun . . . dafür werden Sie sich jetzt hier etwas Ruhe gönnen, wie?" 11
Es scheint so, als ob jetzt der Bankier der Aushorchende sei. Hat •r Verdacht geschöpft? „Ich ersehe aus Ihren Papieren, daß Sie Geologe und Botaniker sind", fährt Don Hernando fort. „Exkursionen werden Sie um diese Jahreszeit kaum noch unternehmen können. Die Wege sind jetzt TÖllig grundlos." Er schlägt seinem Besucher leutselig auf die Schulter, „Sie werden •eben, Doktor . . . das Leben kann auch ohne Arbeit ganz unterhalt•am sein! Auch wenn man nicht botanisiert!" Er lacht schallend auf. Don Hernando ist offenbar ganz ohne Argwohn; die kleine Ge•talt des Bankiers in dem blütenweißen Tropenanzug strahlt nicht« als Wohlwollen aus. Als Dr. Haßkarl sich verabschiedet, sagt Don Hernando: „Wenn Sie wollen, führe ich Sie in unseren Klub ein, damit Ihnen die Zeit bis zum Eintritt besseren Wetters nicht zu langweilig wird."
Don Cossio, der Präsident Der Beginn seines Aufenthaltes in Peru scheint unter einem günstigen Stern zu stehen. Soviel Glück gleich in den ersten Tagen hat Dr. Haßkarl keineswegs erwartet und nicht für möglich gehalten. Was er bei seinem Unternehmen vor allem braucht, sind Empfehlungsschreiben von maßgeblichen Persönlichkeiten. Wo aber hätte er diese einflußreichen Männer leichter kennenlernen können als im Klub der einheimischen Prominenz! Schon am nächsten Abend wird Dr. Haßkarl von Don Hernando, dem Obert Casavane vorgestellt. Der Oberst wiederum macht ihn mit Don Cossio bekannt. Don Cossio aber ist der Präsident dea Obersten Gerichtshofes von Peru. Durch ihn lernt er schon bald Innenminister Tirado kennen. Bereits eine Woche nach seiner Ankunft hat er Verbindungen zu allen Persönlichkeiten, die in Lima Rang und Namen besitzen. Geschickt versteht er es, sie für seine angeblichen naturwissenschaftlichen Forschungen zu interessieren. Über Tag streift er durch die Umgebung der Stadt oder stellt sicn in den Lagerhäusern bei den Rinden-Händlern ein, um die verschiedenen Sorten der Cinchonen unterscheiden zu lernen, damit er 6päter mit einem Blick die besten Pflanzen erkennt. Aber die RindenHändler sind jedem Europäer gegenüber äußerst vorsichtig, selbst wenn er als häufiger Gast im Hause des Innenministers bekannt ist. Don Cossio, der Präsident, ist der erste, der Haßkarl warnt, allzn neugierig zu sein. 12
„Hören Sie, Herr Doktor . . ." sagt er, als Dr. Haßkarl wieder einmal bei ihm zu Tisch geladen ist. „Beschäftigen Sie sich lieber nicht soviel mit den Rindenhändlern. Das sind ganz mißtrauische Leute, die in jedem Fremden einen Schmuggler vermuten!" „Einen Schmuggler, wie kommen die Händler auf diese Idee?" „Sie haben Angst, daß einer ihr Rindenmonopol durchbrechen könnte, und darin verstehen sie keinen Spaß", erklärt der Präsident. „Sie wissen, Don Cossio, daß ich Botaniker bin! Die Chinarinde interessiert mich natürlich, wie jede exotische Pflanze", gesteht Haßkarl ohne Zögern und braucht nicht einmal zu lügen. „Ich weiß!" lächelt Don Cossio. „Und es ist selbstverständlich Unsinn, Sie durch solchen Verdacht zu beleidigen, Doktor . . . Trotzdem!" Er zuckt resigniert die Schultern. „Ich würde an Ihrer Stelle nicht mehr zu den Händlern gehen! Man liebt dort allzu große Neugierde nicht." „Da Sie es wünschen, Don Cossio, werde ich meine Besuche künftig unterlassen!" erwidert Dr. Haßkarl scheinbar gleichgültig. „Es ist nur ein guter Rat!" „Wirklich, Don Cossio?" Der Doktor sieht seinen Gastgeber prüfend an. „Schließlich sind Sie ein ernster Forscher! Und kein Abenteurer!" bemerkt er. „Und nun lassen Sie uns kein Wort mehr darüber verlieren! Glauben Sie mir . . . ich persönlich zweifle nicht an Ihrer Redlichkeit." Don Cossio scheint seinem Gast wirklich zu vertrauen. Haßkarl müßte sich darüber freuen; aber er kann es nicht.
Tirado, der Herr Minister Dr. Haßkarl quält das Gewissen, weil er das Vertrauen dieser Männer mißbrauchen muß. Aber immer wieder tauchen vor ihm Bilder aus seinem bisherigen Leben auf, Bilder, die ihm auf den Reisen begegnet sind: Hilflose Malariakranke in denSüdländern Europas, an den afrikanischen Küsten, in Indien, auf den malaiischen Inseln — und jetzt nach seiner Überfahrt auch in den Häfen der Neuen Welt. Er kennt die Statistiken aus vielen Ländern, den vergeblichen Kampf tausender Ärzte und der Missionare gegen die brennende Fieberkrankheit. Und so weiß er, daß sein Tun gerechtfertigt ist, daß er die Mitleidlosigkeit einer kleinen Händlerclique in diesem Lande bekämpfen und überlisten muß. 13
Haßkarl beschließt, möglichst bald ins Innere aufzubreellen, zumal das Wetter den Aufstieg ins Gebirge erlaubt. Auch glaubt er zu spüren, daß man allenthalben im Lande vorsichtiger geworden ist. Da er Klarheit haben will, lenkt er in einem günstig erscheinenden Augenblick — er ist an diesem Tage Gast bei Innenminister Tirado — das Gespräch auf die Chinarinde. Der Minister nimmt das Thema sofort auf. „Es ist gut, daß Sie darauf kommen, Herr Doktor . . ." Er spricht zurückhaltender, als es sonst der Fall ist, sein Blick hat etwas Forschendes. „Es ist wohl nicht nötig, daß ich Ihnen versichere, wie fern mir persönlich jede Verdächtigung liegt, aber —", er macht eine Verlegenheitspause, um dann aufs Ziel loszusteuern: „Kurz und gut: Man beschuldigt Sie, Chinarinde hinausschmuggeln zu wollen!" „Wer beschuldigt mich?" fragt Dr. Haßkarl, man merkt ihm nicht an, wie sehr ihn dieser offene Angriff bestürzt. „Die Händler!" „Weil ich mich als Botaniker für die Chinarinde interessiere?* 4 „Natürlich nur deswegen! Aber man ist hier etwas nervös!", versucht der Minister seine Landsleute zu entschuldigen. „Vor allem jetzt, da ein Raub geplant war!" „Es war ein Raub geplant?" fragt Haßkarl überrascht. „Wer könnte so tollkühn sein?" „Ein gewisser Dr. Haßkarl!", sagt der Minister. „Im Auftrag des holländischen Kolonialministeriums!" Der Doktor zuckt mit keiner Wimper, als sein Name fällt. Dann geht ein Lächeln über sein Gesicht. „Klin%t das nicht etwa reichlich phantastisch", sagt er, „wie aus einer Räubergeschichte?" „Nun, wir haben immerhin Beweise", erwidert der Staatsbeamte. „Uns liegen Zeitungen aus Europa vor, in denen offen davon geredet wird. Übrigens ist dieser Dr. Haßkarl ein Landsmann von Ihnen . . . ein Deutscher, wenn er augenblicklich auch für die Holländer arbeitet!" — Das Gesicht des Sprechers wird überraschend kühl und hart. „Ich schätze, den Rest seines Lebens wird er bei uns arbeiten — als Sträfling!" „Falls Sie ihn fangen!", sucht der Doktor zu scherzen. „Falls er seinen Plan nicht aufgegeben hat, wird das ein leichtes sein", erwidert der Minister. „In unseren Zuchthäusern ist mehr als ein Ausländer, der Cinchonen sammelte und außer Landes schaffen wollte, es ist wohl noch keinem geglückt!" „Ihre Sicherungsmaßnahmen sollen vorzüglich sein, so viel ich 14
hören konnte." Dr. Haßkarl fühlt sich keineswegs mehr wohl bei diesem verfänglichen, so arglos erscheinenden Gespräch. „Ja wir haben vorgesorgt", bestätigt der Innenminister. „Der Weg vom Gebirge zum Hafen ist weit! Jeder Fremde, der aus den Bergen kommt, wird kontrolliert. Jede Ladung, die aus den Häfen gebracht wird, ist vorher von vielen Händen durchstöbert worden. Dieser Haßkarl mag sehr gewitzigt sein, trotzdem wird es ihm nicht anders ergehen als seinen armseligen Vorgängern, die hinter Gittern sitzen."
Aufstieg ins Gebirge Diese Unterredung mit einem der höchsten Beamten Perus konnte Dr. Haßkarl kaum etwas Neues verraten. Er hatte sich inzwischen unauffällig aber sehr eingehend mit den Gegebenheiten des Landes vertraut gemacht. Es war ihm klar, daß das Wegschaffen der jungen Pflanzen das Schwierigste sein werde. Er brauchte einen Vertrauensmann, jemanden, auf den er sich verlassen konnte. Es dauerte nicht lange, und er hatte diese Vertrauensperson gefunden. Es handelte sich um einen deutschen Kaufmann namens Harmsen, der in der Nähe des Hafens Islay große Warenspeicher unterhielt und um der guten Sache willen zur Unterstützung seines Landsmannes bereit war. In diese Speicher ließ Haßkarl mit Hilfe Harmsens heimlich einundzwanzig sargähnliche Holzkisten schaffen, in denen die jungen Pflanzen, sofern er sie bis zur Küste brachte, später transportiert werden sollten. Schließlich sandte er über einen ausländischen Gewährsmann eine verschlüsselte Nachricht an das holländische Kolonialministerium, worin er um Entsendung eines holländischen Kriegsschiffes bat, das zu seiner Sicherheit vor der peruanischen Küste kreuzen sollte. Möglicherweise konnte er auf diesem Schiff die Heimreise antreten. Als Haßkarl diese Zusage erhalten hatte, begann er den Marsch in die Bergwelt. Da er botanische Forschungen dank der „HaßkarlAffäre" kaum noch als Grund angeben konnte, benutzte er den Vorwand, daß er im Innern Siedlungsland für deutsche Auswanderer erkunden wolle. Es waren ja die Jahre der großen europäischen Wanderung nach Übersee. Zu diesem Zweck hatten ihm einige einflußreiche Bekannte Empfehlungsschreiben mitgegeben. Das Maultier war sein einziger Begleiter, als er ostwärts zog. Allmählich hörten die Wege auf, und der Dschungel begann. Tag um Tag streifte er auf schmalen Urwaldpfaden durchs Land, über 15
reißende Flüsse, vorbei an den Herdfeuern einsamer Hirten, bis an den Rand des Gebirges. Hier stieß er zum erstenmal auf Indianer. Er führte viele Geschenke für sie mit: glänzende Perlenketten, blanke Scheren und scharfe Messer. Zum Dank durfte er die Nächte an ihren Lagerfeuern verbringen. Bei einem der Stämme aber erlebte er eine Überraschung. Man wies ihn ab. „Mamam canchu — Es gibt nichts für weiße Mann!" Aus ihrem heftigen Reden entnahm Haßkarl, daß sie den weißen Mann als räuberischen Eindringling und als Feind der Indianer betrachteten. „Weiße Mann soll gehen! Sonst weiße Mann sein toter Mann!" Haßkarl ließ sich nicht beirren und hielt seinen Kurs bei, der ihn weiter nach Osten wies. Zuweilen fand er eine verkommene Hütte der Eingeborenen, saß schweigend zwischen Schmutz, Gestank und Ungeziefer am qualmenden Feuer, aber meist war das Sattelzeug seines Mulus das harte Nachtlager. In all diesen Tagen und Nächten dachte er an seine Aufgabe; wenn er die Entfernungen überschlug, schien sie ihm zuweilen unlösbar. Aber er trottete weiter. Das Flachland der Küstenbreiten lag hinter ihm. Auf steilen Pfaden ging es höher und höher, dann plötzlich wieder abwärts; auf den jähen Abstieg folgte ein um so steilerer Anstieg. Stets folgte die Spur des Eingeborenenpfades dem Hin und Her der Talhänge — eine Schlange ohne Ende. Nur streckenweise konnte Haßkarl die schmale Straße benutzen, die von Lima über die Anden führte. Herabgestürzte Felsen waren zu umgehen, vom Sturm entwurzelte Stämme zu überklettern. Vorsichtig trat das Maultier mit dem Hinterfuß genau in die Spur des Vorderfußes. Sein Gang war von erstaunlicher Sicherheit, obwohl es sich aus unerfindlichen Gründen stets an der äußeren Kante hielt, halbswegs über dem Abgrund. Der Mulus streikte, sobald er in die Mitte des Pfades gezwungen wurde. In der Tiefe des Abgrunds tosten Waldbäche zu Tal. An einer der steilsten Stellen geschah es, daß Haßkarl seine Alforia verlor. Die Alforia ist ein Quersack, ein breites Stück Segelluch, das an beiden Seiten in Beuteln endigt und über den Rücken des Tieres gelegt wird. In den Beuleln hatte der Doktor alle seine Habe verstaut, vor allem auch die Papiere, die Empfehlungsschreiben und auch die Utensilien, die ihn je nach Sachlage als Botaniker und Geologen oder als Siedlungsforscher ausweisen sollten. Der Inhalt 16
Chinabäume in einem Anden-Hochtal der Alforia war für ihn unersetzlich, wenn er nicht zur Umkehr gezwungen sein wollte. Das Glück führte ihm einen Peon über den Weg, und er klagte ihm seine Not. Der Mann blickte über den Abgrund und nahm schweigend sein Lasso. Ein Wurf, und der Quersack kam über die Fclskante. Nichts war aus den offenen Beuteln verlorengegangen. 17
„Jaja . . . u , knurrte der Peruaner, „wenn die Tiere falsch beladen werden! Caramba, diese Sonntagsreiter!" Er pfiff vielsagend durch die Zahne, als er sich mit einem Tippen an die Hutkrempe verabschiedete. Dr. Haßkarls Ziel war die Ostseite eines Andenzuges, dessen Cinchonen als besonders hochstämmig bekannt waren. In der Nähe lagen breite Talgründe, die man ihm als Siedlungsland für Auswanderer zur Erforschung empfohlen hatte. Sein Vordringen in dieses Gebiet erschien deshalb unverfänglich. In dieser Zeit packte ihn in einer feuchtheißen Nacht plötzlich das Fieber. Sein Puls raste in jagenden Schlägen, sein Herz klopfte zum Zerspringen; die Lippen bluteten, Ausschlag bildete sich am ganzen Körper; oft raubte ihm Luftmangel fast die Besinnung. In den Fiebernächten verblaßte die Wirklichkeit und machte wilden Traumen Platz. Er sah sich von Don Cossio verfolgt, und Tirado, der Innenminister, lächelte ihm spöttisch zu, bis sein Gesicht sich zu einer Grimasse verzerrte. In einer Indianerhütte pflegte man den Fiebernden. Der Fieberanfall ging vorüber. Der Forscher konnte seinen Weg fortsetzen. Aber er war noch zu schwach, um weiterhin den Saumpfaden zu folgen. So lenkte er das Maultier auf eine Bergstraße, die nicht hoch über der Sohle eines Flußtales entlang führte. Er konnte nicht ahnen, was ihm die Wahl dieses bequemeren Weges einbringen würde. An einer Straßenkrümmung sah er eine Ansammlung von Blockhäusern vor sich, die offenbar zu einer Militärstation gehörten. Ein Ausweichen war nicht möglich. Würde man ihn passieren lassen? Er hoffte es; aber er war alles andere als optimistisch, als Palisaden vor ihm auftauchten. Der Fortkommandant, dem er sich vorstellen ließ, schüttelte zu all seinen Reden nur temperamentvoll den Kopf. „No, Senor, no . . ." rief er wieder und wieder. „Ihre Empfehlungen fordern jeden Beamten im Lande auf, um Ihr Wohl besorgt zu sein! Und ich kenne die Verhältnisse hier besser als Sie! Mil diablos, Sie wissen nicht, welche Gefahren hier auf Sie lauern!" „Ich bin kein Greenhorn, Kommandante!" sagte Haßkarl. — Was hätte er auch erwidern sollen? „Aber die Empfehlungsschreiben befehlen mir ausdrücklich, mich um ihr Wohl zu kümmern, Dottore! Dios mio! Was verlangen Sie von mir? Nie werde ich Ihnen die Weiterreise erlauben!" War er wirklich nur um das Wohl des Europäers besorgt? Oder 18
hatte er in Bezug auf den Fremden noch besondere Anweisungen? Haßkarl wollte Gewißheit haben. „Und wenn ich selber jede Verantwortung übernehme? Wenn ich auf jeden Schutz verzichte? Warum wollen Sie dann nicht die Erlaubnis zur Weiterreise geben, damit ich meinen Auftrag erfüllen kann?" „Weil ich nicht nur um Ihr, sondern auch um mein Wohl besorgt bin!" erklärte der Kommandant vieldeutig. „Was meinen Sie, was mit mir geschieht, wenn ich nach Lima melden müßte: Dottore von Indianern umgebracht!" Er untermalte seine Rede mit einer bezeichnenden Geste. Dann schüttelte er erneut den Kopf: „No, Senor, no . . . Sie müssen umkehren!" Es half alles nichts: Haßkarl mußte wirklich umkehren. Das heißt, er ritt einige Zeit auf der Straße zurück, bog dann seitlich ein und erreichte eine Hängebrücke, deren Spann- und Halteseile die Eingeborenen nach altüberkommenem Inkabrauch aus Pflanzenfasern gefertigt hatten. Sie schwankte leicht, als der Doktor, das Maultier am Zügel, darüberschritt. Auf diese Weise umging er das Fort. Aber die Landschaft wurde belebter. Haßkarl stieß auf halbverfallene Häuser aus Stroh und Lehm. Hier hausten Weiße, Steuereintreiber, die ihn freundlich aufnahmen, sobald er seine Empfehlungsschreiben vorgelegt hatte. Aber er hielt sich nirgends lange auf. Unverzagt querte er in ein Hochtal ab, an dessen Ende er die Chinarindenbäume vermutete. Mit zunehmender Höhe wurde die Gier nach frischer Luft immer stärker. Längst schon kaute er verzweifelt Kokablätter wie die Indianer. Das allein hielt ihn aufrecht. Und dann glaubte er seinem Ziel nahe zu sein. Bestimmt hatte er das Schlimmste hinter sich gebracht. Sein Gesundheitszustand besserte sich von Tag zu Tag; nur äußerlich sah er jetzt wie ein Tramp aus. Die Kleidung war abgerissen, das Gesicht hager und tiefgebräunt. Zum Glück hatte er bei den weißen „Finanzern" seine Alforia mit neuen Eßvorräten gefüllt. Dazu gehörten auch zwei Flaschen Wein. Sie sollten sich als glücklicher Besitz erweisen, als er sich plötzlich den bolivianischen Soldaten gegenübersah. Ohne daß es ihm bewußt geworden wäre, hatte Haßkarl nämlich inzwischen das Land gewechselt und die Grenze Perus weit hinter sich gelassen.
Gefangen und gerettet Er hatte Zeit genug gehabt, über all das nachzudenken, während ihn die bolivianischen Soldaten als ihren Gefangenen mit sich führten. 19
Er beschloß, gute Miene zum bösen Spiel zu machen; zumal es bald dunkel werden mußte. Die Soldaten begannen, sich ein provisorisches Lager einzurichten. Dr. Haßkarl erfuhr, daß man erst am nächsten Morgen aufbrechen werde, da man das Fort Montana nicht mehr vor Mitternacht erreichen könne. „Dann möchte ich es mir gemütlich machen und erst einmal eine Mahlzeit zu mir nehmen!" wandte sich der Doktor an den Offizier. „Vaya al diablo! Geh zum Teufel!", war die Antwort. Haßkarl ging zu seinem Mulus und holte eine Weinflasche aus der Alforia. „Vielleicht darf ich Sie zu einem Schluck Wein einladen, Capitano?" Er hielt einladend die Flasche hoch. „Wir könnten auf das Wohl Ihres Präsidenten trinken?" Der Offizier nahm ihm die Flasche aus der Hand. „Gut! Trinken wir auf das Wohl von Präsident Belzu! Prost, Dottore!" Er setzte die Flasche an und tat einen tiefen Schluck. Als er wieder absetzte, blickte er vergnügt aus den schwarzen Augen. Haßkarl nutzte die Gelegenheit. „Falls Sie nochmals auf das Wohl Ihres Präsidenten trinken wollen, Capitano . . . " sagte er dienernd, „die Flasche steht zu Ihrer Verfügung. Ich schenke sie Ihnen!" „Sie schenken sie mir?" fragte der Offizier vergnügt. „Muchas gracias, Senor! Aber . ..", er sah den Gefangenen unsicher an, „was veranlaßt Sie, mir ein solches Geschenk zu machen?" „Warum?" lächelte Haßkarl, „weil Sie so freundlich zu mir sind, Capitano. Und . . . weil ich noch eine Bitte habe . . . wegen meines .. . Goldes!" „Gold?" fragte der Offizier. „Canario, Sie haben Gold, Senor?" „Nur einige Unzen Waschgold!" entgegnete der Doktor und blickte »ich vorsichtig um. „Ich möchte sie Ihnen zur Aufbewahrung anvertrauen . . . während meines Abtransportes." In den Augen des Capitano leuchtete es auf. „Bueno! Geben Sie mir das Gold, Senor! Ich werde es hüten wie meinen Augapfel!" „Multo obrigado, Capitano! Ich danke Ihnen!" sagte der Doktor, als er ihm das Beutelchen mit Goldkörnern in die Hand legte. Das Gold führte er mit sich, um sich im Notfall auch als Goldgräber ausgeben zu können; zudem war Gold bei den Indianern ein willkommeneres Zahlungsmittel als die läppischen Noten der peruanischen Banken. 20
Der Capitano hatte es plötzlich eilig. „Buenas noches, Dottore! Gute Nacht!" Die Soldaten hatten inzwischen ein Lagerfeuer entzündet. Die Tropennacht war urplötzlich hereingebrochen. Der Mond stand wie ein riesiges Lampion über dem Gebirge. Die Wälder begannen zu erwachen. In den abenteuerlich umrankten Baumwipfeln regte sich das Leben, das über Tage verstummt war. Haßkarl sah, daß der Offizier seinen Soldaten einen Befehl gab. Hoffentlich hatte der Doktor recht in dem, was sich aller Erfahrung nach zutragen würde.
* Ja, Haßkarl hatte richtig vermutet! Am andern Morgen war der Capitano mit seinen Soldaten verschwunden, samt dem Beutel mit den Goldkörnern, versteht sich. Aber der Doktor trauerte dem Verlust nicht nach. Der Bolivianer war auf einen Trick hereingefallen. Und das Gold stammte aus der holländischen Staatskasse. Für den überraschend aus der Gefangenschaft Entlassenen gab e« nur eines: auf dem schnellsten Wege wieder peruanischen Boden zu erreichen. Noch einmal durfte er sich der gleichen Gefahr nicht aussetzen. Ein zweites Mal würden ihm mit Gewißheit weder ein« Flasche Rebensaft, noch glitzernde Goldklümpchen als Lockmittel Hilfe bringen. Haßkarl fröstelte in der nebelkalten Feuchtigkeit des frühen Tages. Auf Umwegen kehrte er über die Grenze auf peruanische« Gebiet zurück.
Gespräch mit dem Dorfältesten Er war sechs Wochen unterwegs, als er, über den Kamm des Gebirges hinwegreitend, die ersten Chinchonen vor sich hatte. Und nun nahm er sich Zeit. Er mußte eine überlegte Auswahl treffen. Jetzt durfte er nicht die Nerven verlieren! Nur bei den besten Pflanzen durfte er damit rechnen, daß sie die Seefahrt überstanden. Lange wählte er aus. Er kroch auf allen Vieren über Felsen und durch Schlammlöcher. Das Regenwasser, das den Weg ins Tal suchte, rann die Berghänge in breiten Rinnsalen hinab. Mit Moos bewachsene Äste, die der Sturm niedergebeugt hatte, hemmten in wirren Verhauen das Vorwärtskommen. Was nützten die hohen Stiefel, wenn der Schlamm von oben in die Schäfte lief! An den Sohlen setzten sich rutschige Lehmfladen fest, bleischwer und ermüdend. Bei jedem Schritt mußte der Wanderer 21
den Fuß aus dem schlammigen Sud zerren. In dieser Höhe von fast 2000 Meter und in der Schwüle wurde auch das Atmen zur Qual. Der Wald war mit Feuchtigkeit vollgesogen wie ein Kiesenschwamm. Kolibris huschten schwirrend von Blüte zu Blüte. Grillen und Zykaden vollführten ein infernalisches Konzert. Der Wald war ein einziges wildes, lautes Leben, eine urtümliche Symphonie von unbeschreiblicher Tongewalt. Überall das gleiche Bild: Zeichen eines ewigen Kampfes auf Leben und Tod, ein Bingen um den Platz an der Sonne. Lianen umschlangen im Emporstreben zum Licht kräftige Stämme, um sie langsam zu erwürgen, betäubend duftende Orchideen entfalteten im Grün und Braun der Wipfel phantastische Farben. Palmwipfel quälten sich durch die Laubdecke, auf niedergesunkenen Bäumen wimmelte es von seltsamstem Käfervolk. Eine grüne Hölle — das war die Heimat des Chinchon-Baumes. Haßkarl kämpfte sich durch, bis er fand, was er suchte. Chinabäume, hoch und schlank wie Pappeln, mit sattem, immergrünem Laub und glänzenden Blättern an roten Stilen: Königschinehonen! Es fand sich genügend Samen; rings um die Hochstämme hatten sich junge Schößlinge angesiedelt. Aber ehe Samen und Schößlinge im Moos als „Wollballen" verpackt werden konnten, mußte Haßkarl noch einmal umkehren. Er brauchte Tragmulis und hoffte sie in einem der entlegenen Dörfer unter irgendeinem glaubhaften Vorwand zu bekommen. Aber niemand wollte ihm etwas verkaufen. Die Anwesenheit eines Europäers hatte sich herumgesprochen, und die Dorfbewohner, die das Geschäft gewiß gern gemacht hätten, hatten Angst vor den allmächtigen Kindenhändlern. Man ließ durchblicken, Begierungsbeauftragte wären bereits unterwegs, um den verdächtigen Fremden zu verhaften. Haßkarl wußte nicht, ob diese Gerüchte auf Wahrheit beruhten. Es war Eile geboten. Solange das Mißtrauen bestand, nutzte selbst das verlockendste Geldangebot nichts. Die Lage Haßkarls schien erneut fast ausweglos. Wie hätte er ohne Tragtiere die umfangreiche Last zur Küste transportieren sollen? Als er wieder einmal mit den Eingeborenen verhandelte, stand plötzlich der Alkalde, der Dorfälteste, vor ihm, den man ohne sein Wissen heimlich herbeigerufen hatte. Da man ihn in seiner Hütte nicht angetroffen hatte, war ein junger Bursche ausgesandt worden, ihn im Walde zu suchen, wo er die Baumfäller beaufsichtigte. 22
„Diablo, Senor . . . Man sagt, Ihr wollt Chinchonen aus dem Lande schmuggeln! Ich mache Euch darauf aufmerksam, daß die peruanische Regierung und ich, als ihr örtlicher Vertreter, jeden solchen Versuch mit äußerster Strenge ahnden werden!" — Der Dorfgewaltige stand vor dem Doktor wie das personifizierte Recht. Da er weiter nichts mehr zu sagen wußte und auch seiner Sache nicht sicher war, erging er sich in schlimmen Verwünschungen: „Maldito sea, wir —" Er stockte. Sein Wortschatz an Kraftausdrücken schien nicht sehr umfangreich zu sein. Der Doktor nutzte die Pause und spielte den Überraschten. „Ihr tut mir zuviel Ehre an, Alkalde . . . Ich bin Siedlungsbeauftragter und Botaniker, wenn Ihr das begreift." Er zog seine Papiere hervor. „Wenn Ihr Euch überzeugen wollt, ich besitze Empfehlungsschreiben . . ." „Dios mio, Senor . . .", lenkte der andere ein. „Ich habe Euch nur gesagt, was ich jedem Fremden sagen muß, der sich hier in den Revieren sehen läßt. Ich selbst . . . virgen santissima! . . . würde mich freuen, wenn sich die gegen Euch erhobenen Anschuldigungen alt haltlos erwiesen! Außerdem soll ich Euch vom Oberrichter bestellen —" Haßkarl unterbrach den Wortschwall. „Sagt mir lieber, warum man mir die Tragtiere verweigert. I» den Papieren steht, daß man mir jede Hilfe bieten soll." Aber der Dorfälteste ließ sich nicht beirren. „. . . Außerdem soll ich Euch vom Oberrichter'bestellen . . .", begann er seine Rede von neuem. Er schrie plötzlich: „Porqueria! Ihr sollt so schnell wie möglich das Land verlassen!" „Warum das?" fragte der Doktor. „Dios mio!" Der Alkalde verdrehte die Augen. Soviel Begriffsstutzigkeit war ihm sicher in seiner ganzen Amtszeit noch nicht begegnet. Er blickte den Doktor vorwurfsvoll an: „Weil der Oberrichter nicht gern einen guten Freund verhaften läßt, darum sollt Ihr das Land verlassen!" erklärte er. „Schließlich hält er Euch für unschuldig!" „Warum dann die ganze Aufregung?" fragte Haßkarl mit gespielter Ruhe. „Wenn man mich für unverdächtig hält — könnt Ihr mir verraten, warum ich dann das Land verlassen soll?" „Mil diablos!" gab der Alkalde verzweifelt zur Antwort und trat dicht an den Doktor heran. „Weil ich und der Oberrichter Euch für ungefährlich halten, Dottore, werdet Ihr heute vor Anbruch der Dunkelheit nicht weit von hier vier Tragmulis finden, damit Ihr 23
Eure Steinproben und botanischen Sachen nach Lima bringen könnt!" Er zwinkerte Haßkarl vielsagend zu. „Und nun gute Reise, Senor! Hasta la vista . . . oder besser: Vaya al diablo! Geht zum Teufel!" Haßkarl sah dem Alkalden nach, wie er hinter den Bäumen verschwand. Ob er sein Versprechen halten würde? Wenn das tatsächlich der Fall war — ja dann bestand noch immer kein Verdacht gegen ihn, wenigstens nicht bei den Regierungsstellen. Wogegen er sjch dann einzig zu wappnen hatte, war der ihn verfolgende Argwohn der Cascarillos und ihrer Hintermänner.
Marsch zur Küste Noch vor Einbruch der Dunkelheit befand sich Dr. Haßkarl an der angegebenen Stelle. Ein alter Mann wartete bereits mit den Mulis auf ihn. Er entrichtete die geforderte Kaufsumme, ohne die Tiere näher zu prüfen. Schon in den Nachmittagsstunden hatte der Doktor genügend Samen und Schößlinge gesammelt und unter einem Felsen, als „WoIIballen" verpackt, bereitgelegt. Er verteilte die schweren Lasten auf die Tiere und brach sofort auf, um noch in der Nacht möglichst weit aus der Gefahrenzone zu kommen. Für den Rückmarsch wählte er eine ganz andere Richtung und andere Wege als auf dem Herweg. Es ging nur langsam vorwärts, und Dr. Haßkarl begriff, warum Menschen im Urwald den Verstand verlieren können. Jeder Schritt mußte abgetastet werden, jeder Halt erst erprobt werden, ob er auch standhielt. Er ritt vorsichtig der kleinen Karawane voraus. Die Tiere folgten, sie waren mit lockeren Riemenzügen hintereinandergekoppelt. Wie leicht konnte man im Moder versinken oder im Geröll verkommen! Der Mond schwamm verschleiert hinter dem Nachtgewölk. Aber sein spärliches Licht erleichterte die Orientierung. Wildhühner schreckten auf und huschten lärmend davon. Affen folgten, sich von Baum zu Baum schwingend, über weite Strecken dem gespenstischen Zug, kreischten und fauchten und erschreckten die Mulis. Die Tiere drängten sich dicht hintereinander, schlugen mit den Hufen aus oder verharrten bebend auf der Stelle. Der Doktor redete ihnen zu, kraulte ihnen die Hälse Erst als er sein Maultier am Zügel nahm, beruhigten sie sich und folgten ihm, immer noch zögernd. Nach Mitternacht erreichte man einen bequemeren Gebirgspfad. Von jetzt ab gings schneller vorwärts. 24
Gegen Ende der Nacht brach ein Gewittersturm los und zwang erstmals zum Halten. In das Rausehen des Sturzregens mischte sich das dumpfe Grollen des Donners. Im grellen Licht der Blitze leuchtete der Urwald unheimlich auf. Der Höllenlärm tobte lange. Endlich, gegen Morgen, beruhigte eich das Gewitter, der Regen aber prasselte unaufhörlich weiter. Dr. Haßkarl war um diese Stunde schon wieder unterwegs und wagte es, seinen Weg auch über Tag weiter zu verfolgen. Dann aber mußte er «ich und seinen Tieren die verdiente Ruhe gönnen. Er warf die Lasten ab, band die Mulis an Bäume und gab dem Wurzelwerk der mitgeführten Chinchonen frisches Wasser. Unter einem Felsvorsprung verbrachte er dann im Halbschlaf die Nacht. Anderntags lag die Natur wieder friedlich um ihn. Das Wetter blieb ihm treu, bis er im Hügelgelände des Vorgebirges zivilisierte Landstriche erreichte. Hier, außerhalb der unter Beobachtung stehenden Waldzonen, konnte er sich sicherer fühlen. Der Verkehr nahm zu. Mau sah viele Mulikarawanen, die von der Küste dem Gebirge zustrebten oder zur Küste unterwegs waren. Keiner kümmerte sich um den andern. Auch die Beschaffung von Proviant machte keine Schwierigkeiten mehr. Dennoch vermied Haßkarl, soweit es möglich war, größere Ansiedlungen und auch die Herbergen, wo vielleicht irgendein Wirt allzu neugierig sein konnte. In Kleidung und Aussehen glich der „Mulitreiber" jetzt ganz den Eingeborenen. Unangefochten langte Dr. Haßkarl eines Morgens vor der kleinen Hafenstadt Arequipa an und verhielt vor dem Ortseingang in einem Gehölz, um die weiteren Maßnahmen zu überlegen. Er war sich bewußt, daß der schwerste und gefährlichste Teil seines Unternehmens noch vor ihm lag. Aber noch immer vertraute er auf sein Glück. Zunächst galt seine Sorge der sicheren Unterbringung seiner Chinchonenbündel und der Lasttiere. Er fand ein abseits gelegenes Bauernanwesen und mietete sich und die Tiere dort ein. Die Ladung brachte er in einer Scheune unter und überdeckte sie mit Schilfrohr. Dann begab er sich in das Städtchen. Auf der Post lag ein versiegeltes amtliches Schreiben an die Adresse „Dr. Müller". Natürlich hatte der Brief Aufsehen erregt. Haßkarl hätte den Absender, den Kapitän des holländischen Kriegsschiffes, für klüger gehalten. Der Kapitän teilte mit, daß er Dr. Haßkarl-Müller im Hafen von Callao erwarte. Wie aber sollte der Doktor mit seinen Sehätzen nach Callao kommen, das fast 800 Kilometer weiter nördlich lag? So weit war Dr. 25
Haßkarl durch die notwendig gewordenen Umwege von seinem Ausgangspunkt abgekommen. Zwischen Arequipa und Callao lag die belebte Küstenzone, in der Reisende jederzeit kontrolliert werden konnten. Auch der Seeweg schien verschlossen. Weder in Arequipa, noch in sonst einem nahegelegenen peruanischen Hafen hätte ein Reisender ein Schiff betreten können, ohne daß sein Gepäck gründlich durchsucht worden wäre. Dr- Haßkarl ging zum Hafen hinunter. Das Meer lag vor ihm. Das Wasser leuchtete in mattem Gold, und der Himmel spiegelte sich darin in blauem Widerschein. Das Bild war eine einzige Verlockung. Mit Vergnügen wäre er an Bord eines der Schiffe gegangen, die im Hafen lagen. Die Sehnsucht nach einem normalen Leben war nach den langen Wochen der Entbehrung und Gefährdung fast unwiderstehlich. So sehr Haßkarl auch überlegte, er sah keinen Weg, der dahin führen konnte. Er hätte nicht einen einzigen Chinchon durch die Kontrolle schmuggeln können, er besaß fünfhundert Schößlinge und mehrere Bündel mit Samen. Und doch wurde ihm eines allmählich klar: Arequipa und kein anderer Hafen kam für die Einschiffung in Frage. So ließ er sich zunächst einmal die in Callao lagernden 21 „Sargkisten" kommen und bettete Samen und Pflanzen sorgfältig hinein. Und dann geschah etwas, war er am wenigsten erwartet hatte. Der britische Konsul bat ihn um eine Unterredung! . . .
Ein lockendes Angebot Der Vertreter Großbritanniens hielt sich nicht lange bei der Vorrede auf. „Ich bin gekommen, um Ihnen einen Vorschlag zu machen, Mr. Haßkarl —" „Verzeihung, Herr Konsul . . .", berichtigte ihn der Doktor erregt, „mein Name ist Müller, bitte, hier sind meine Papiere!" „Gut, wie Sie wünschen!" lächelte der andere. „Sicher handle ich in Ihrem Sinne, wenn ich gleich zur Sache komme! Wie gesagt, Herr Doktor . . . Müller . . ." Er konnte es sich nicht verkneifen, vor dem Namen eine höchst beredte Pause zu machen. „Meine Regierung hat mich beauftragt, Ihnen Ihre Chinchonen abzukaufen!" Er sah Haßkarl erwartungsvoll an. „Ich muß Sie leider enttäuschen, Herr Konsul", sagte der Doktor, 26
„im kann Ihnen leider keine Chinchonen z u n Kauf anbieten. Man hat Sie anscheinend falsch informiert!" Der Engländer blickte verständnisvoll herüber. „Merken Sie sich eines, mein Lieber: Ein britischer Konsul ist immer richtig unterrichtet! Und . . . wenn ich Sie wäre, würde ich mir das Angebot gut überlegen. Wir sind nicht kleinlich, wir wissen, welche Strapazen Sie hinter sich haben, und wir sind bereit, dafür EU zahlen! Bitte, nennen Sie den Preis!" Als ob Haßkarl durch Geld bestochen werden könnte! „Ich sagte schon einmal, Herr Konsul . . . Ich habe keine Chinchonen zu verkaufen!" beharrte er. „Sie werden es noch bereuen!" Der Konsul sagte es mit Nachdruck, während er angelegentlich den silbernen Löwen betrachtete, der vor ihm stand. Plötzlich hob er den Blick. „Haben Sie schon einmal überlegt, was Ihnen die Chinchonen in diesem Moment nutzen?" fragte er. „Vorausgesetzt, daß wir uns nicht doch noch einigen!" Er lächelte gewinnend. „Sehen Sie, Doktor, der Militärkommandant von Arequipa ist mein Freund. Ein kleiner Wink, und es würde sich augenblicklich feststellen lassen, ob Chinchonen in Ihrem Besitz sind!" „Und Sie glauben, daß Ihnen Ihr Freund, der Militärkommandant, dann diese Chinchonen überließe . . ." „Natürlich nicht!" entgegnete der Konsul gelassen. „Aber er würde — immer vorausgesetzt, daß wir uns einigen — um unserer Freundschaft willen auf die Kontrolle Ihres Gepäcks verzichten, Doktor! Selbstverständlich nur, wenn ich den Inhalt als konsularisches Eigentum betrachten dürfte. Also . . .", wieder traf ein forschender Blick den Besucher, „was kostet Ihr Gewissen? Wollen Sie ein Vermögen? Oder ziehen Sie eine Anzeige vor?" „Vielleicht geben Sie mir etwas Bedenkzeit!" sagte Dr. Haßkarl. Er hoffte, daß ihm inzwischen irgendeine Idee kommen könnte. „Gut! Ich gebe Ihnen fünf Minuten!" erklärte der Konsul. Haßkarl trat in die offene Verandatür. Von hier aus konnte er das Meer und den Hafen überblicken. Aber er nahm kaum etwas wahr von dem, was draußen vor sich ging. Seine Gedanken arbeiteten klar und ruhig. Und plötzlich glaubte er einen Ausweg zu sehen. „Schön! Ich mache das Geschäft!" Er sah den Konsul zufrieden lächeln. „Aber ich bin nicht billig!" „Und wir sind nicht kleinlich!" fiel ihm der Konsul ins Wort. »Sagen wir — eine Million? Einverstanden, Herr Dr. Haßkarl?" 27
„Unter einer Bedingung!" „Und die wäre?" „Daß ich mit meinen Chinchonen auf ein englisches Schiff gehe!" Er durfte jetzt keinen Verdacht erregen, sonst war alles verloren. Und schnell setzte er hinzu: „Die Chinchonen brauchen während .der Überfahrt Pflege! Es wird gar nicht so leicht sein, sie unterwegs am Leben zu halten! Schließlich will ich die Pflanzen wohlbehalten in London abliefern! Das bin ich Ihrer Regierung schuldig bei dem Honorar, das Sie mir anbieten." „Ihr Wissenschaftler seid doch zu gründlich!" Der Konsul schien die Sache sehr lustig zu nehmen. Er zog ein Scheckheft hervor. „Soll ich Ihnen das Geld gleich anweisen?" „Nicht, bevor ich die Pflanzen unversehrt in London abgeliefert habe!" sagte der Doktor. „Ich bin mit Geld noch genügend versorgt." „Wie Sie wünschen!" Der Konsul machte eine leichte Verbeugung. Dann schritt er zur Tür. Dort wandte er sich noch einmal um: „Ich werde dafür sorgen, daß Sie schon morgen reisen können, Herr Dr. Haßkarl!" Ein Glück, daß der Engländer in diesem Augenblick die Gedanken seines Besuchers nicht lesen konnte. Er wäre weniger zuversichtlich und voreilig gewesen.
Dr. Haßkarl findet einen Ausweg Er hielt übrigens Wort! Tatsächlich wurde kein einziges Stück des Gepäcks kontrolliert, als es an Bord gebracht wurde. Alle einundzwanzig Kisten gelangten wohlbehalten an Deck der „Southampton", die noch am gleichen Tage in See stach. Haßkarl entging es nicht, daß dem englischen Kapitän heim Anblick der sargähnlichen Kisten nicht recht wohl war. Er schloß daraus, daß er in das Geheimnis, was sie enthielten, nicht eingeweiht worden war, und das entsprach ganz seinen Wünschen und Absichten. Der Doktor stand an der Reling, als die „Southampton" den Hafen von Arequipa verließ. Zum letztenmal genoß er das märchenhafte Bild des Hafens, der Landschaft und der im Hintergrund blauenden Berge. Das Wasser wimmelte von Booten mit himmelblauen und brandroten Segeln. An den Mast gelehnt, standen dunkelhäutige Männer und schwangen ihren Sombrero. Leuchtende Schmetterlinge flauer28
ten wie lebende Smaragde über das Deck, solange die „Southampton" die offene See noch nicht gewonnen hatte. Noch konnte man jedes Haus an Land erkennen und jeden Baum. Dahinter breitete sich der Urwald wie eine lückenlose Mauer: »chwarz und grün und bläulich zugleich; die roten Flammen daKwischen, das waren Bäume, die in voller Blüte standen. Dann zerfloß das Bild in lauter grelle Farbflecke. Der Ufersaum wurde zum silbernen Streifen. Die unbestimmten Linien weit dahinter waren die Anden. Wie fern lag nun das Abenteuer zurück! Als die Küste versank, stieg Dr. Haßkarl in seine Kabine hinab, um jedem Gespräch zu entgehen. Erst bei der Einfahrt in den Hafen yon Callao kletterte er wieder an Deck. Er hätte laut aufjubeln mögen! Das holländische Kriegsschiff „Prinz Friedrich der Niederlande" lag am Kai. Ein gedrungener, seetüchtiger Kasten, dem die Überfahrt nach Java nicht viele Schwierigkeiten bereiten konnte. Nur mußte Haßkarl erst von Bord der „Southampton" sein! Jetzt würde sich zeigen, ob sein letztes Wagnis gelang. Sein Herz klopfte zum Zerspringen, als er dem englischen Kapitän zurief: „He . . . Käpt'n! Lassen Sie meine Kisten und mein Gepäck drüben iur ,Prinz Friedrich der Niederlande' bringen!" „Aber Sie haben die Passage doch bis London bezahlt, S ' „Ich habe es mir anders überlegt und schenke Ihnen die Reisekosten!" Das war selbst für einen alten Seemann zu viel. Bisher mochte er seinen Fahrgast für einen spleenigen Botaniker gehalten haben. Jetzt bewies der Blick des Kapitäns, daß er Haßkarl für geistesgestört hielt. Und er machte aus seinem Herzen keine Mördergrube; man konnte hören, wie er zu seinem Steuermann sagte: „Wenn einer, der seine Überfahrt schon bezahlt hat, partout auf ein anderes Schiff will, muß der nicht verrückt sein? Oder was meinen Sie, Mr. Wheeler?" „Aye, aye, Sir!" Mochten sie denken, was sie wollten! Haßkarl stürzte in seine Kabine, um seine Habseligkeiten zusammenzupacken. Trotz aller Eile stellte er sich vor, welches Gesicht der britische Konsul von Arequipa wohl machen werde, wenn man ihm die Nachridit von »einem Entweichen in seinen Bungalow überbrachte. Als Haßkarl wieder nach oben kam, hatten sie bereits das Beiboot Ins Wasser gelassen und luden die Kisten ein. Der Doktor überwachte das Entladen, bis das letzte Frachtstück hinunterbugsiert war. Zuletzt kletterte er selbst in das Boot. 29
Aber er fühlte sich erst sicher, als er die Planken des Holländers unter den Sohlen spürte. Kein Hafenbeamter hatte den Vorgang zur Kenntnis genommen.
Das Wagnis gelingt Der Kapitän der „Prinz Friedrich der Niederlande" war über das umständliehe Manöver alles andere als beglückt, obwohl er genau wußte, warum der Schiffswechsel vollzogen wurde. Nach seiner Ansicht tat man diesem einzelnen Manne und seinen merkwürdigen Ghinchonenkisten allzuviel Ehre an. Er hatte es auch nicht eilig, in See zu stechen, obgleich jeder zusätzliche Reisetag auf Kosten der kostbaren Pflanzen ging, deretwegen Haßkarl sein Leben gewagt hatte. Er beschwor den Kapitän, sofort auszulaufen. Aber er erhielt zur Antwort, daß erst noch Proviant für die lange Reise gefaßt werden müsse. Es war nicht zu ermitteln, warum das nicht vorher schon getan worden war Da Haßkarl mit seiner Meinung nicht zurückhielt, herrschte von Anfang an Kriegszustand zwischen dem Kapitän und dem Doktor. Kaum, daß der Schiffsherr für ihn zu sprechen war. Zwei unersetzliche Wochen des Wartens gingen tatenlos vorüber. Der Kapitän nahm sich für die Ausreise Zeit, da ihm und der Besatzung die Gegend behagte. Er ahnte nicht, welche Folgen das haben konnte. Wieder machte Dr. Haßkarl energische Vorhaltungen. Vergeblich! Der Kapitän schnitt alle Einwände mit einer energischen Handbewegung ab. „Ich bin Offizier und kein Schmuggler, Herr! Der Teufel soll Ihre Pflanzen holen!" „Mein Gott, so hören Sie doch!" beschwor Haßkarl ihn. „Die Pflanzen brauchen kühle Temperatur. In dieser Gluthölle Perus werden sie verdorren. Es wird auch das beste sein, wenn wir nicht durch die heißen Breiten des Pazifik fahren, sondern Kurs um Kap Hörn und das Kap der Guten Hoffnung nehmen. Es sind zudem nur 2580 Meilen!" Dann endlich lichteten sich die Anker. Aber es ging nicht mit dem Westwind nach Süden, sondern gegen den Westwind kreuzend in die Unendlichkeit des Stillen Ozeans. Der Weg war weiter. 3300 Meilen betrug die Entfernung Galiao—Java in der Westrichtung — und das bei einer Temperatur von durchschnittlich 30 Grad. 30
Haßkarl mußte daran zweifeln, ob er unter diesen Umständen überhaupt einen einzigen Chinchon lebend nach Java bringen würde. Er tat, was er konnte. Schließlich drohte er dem Kapitän mit einer Klage beim Ministerium. Das half. Der Kapitän gab Anweisung, den Kisten etwas mehr Sorgfalt angedeihen zu lassen, wenn auch die meisten schon wochenlang schutzlos Wellen und Regen ausgesetzt waren. Zu allem Unglück geriet das Schiff in einen Taifun und wurde vom Kurs abgetrieben. Es mußte vor Celebes vor Anker gehen. Wieder gab es eine lange Zeit der Verzögerung. Endlich erreichte die „Prinz Friedrich der Niederlande" glücklich Batavia, die Hauptstadt von Java und Niederländisch-Indien. Das Abenteuer war zu Ende. Was nun begann, war Arbeit — und bittere Enttäuschung . . .
Rettung für Millionen Von den fünfhundert Schößlingen, der Beute aus den peruanischen Anden, sind nach der Ankunft auf Java nur 75 Pflanzen am Lehen. Was an Sämereien gerettet ist, muß erst die Keimprobe ergeben. Im Hochgebirge der Provinz Preanger beginnt Haßkarl die Aufzucht der Chinarindenbäume. Kaum haben die Jungbäume Wurzeln geschlagen, kaum zeigen sich die ersten Keimblätter aus der Saat, als aus Europa die Nachricht eintrifft, daß die Familie Haßkarls, die Gattin und die vier Kinder, die ihm nach Niederländischindien folgen sollten, bei einer Sdiiffskatastrophe vor der englischen Küste den Tod gefunden haben. Dieser furchtbare Schlag und die Strapazen seiner Expedition werfen den Forscher aufs Krankenlager und zwingen ihn, seine Kulturen fremden Kräften anzuvertrauen und nach Europa zurückzukehren. Haßkarl hat seine Pflanzung nicht wiedergesehen. Kaum genesen, gerät er in Amsterdam in das Ränkespiel der Behörden und nimmt unter Verzicht auf alle Anrechte aus seinem Besitz den Absdiied. Mit einer Rente von 85 Gulden im Monat zieht er sich in seine Studierstube zurück und lebt bis zu seinem Tode im Jahre 1894 •einer privaten Forschung. Sein Name aber bleibt mit seinem Werk verbunden. Das Wagnis ist nicht vergebens gewesen. Zwanzig Jahre nach dem peruanisdien Abenteuer sind aus den 75 Jungpflanzen und den Keimlingen seiner Saatbeete mehr als zwei Millionen Chinchonen herangewadisen. Seinem Beispiel sind mehrere kühne Forscher gefolgt, die südamerikanischen Sperrzonen werden immer häufiger durdibrochen. 31
Neben Java kommen Nord- und Südindien, Ceylon, die Insel San Thome in Westafrika, Usambara in Deutsch-Ostafrika als Pflanzungsgebiete hinzu. Immer ertragreichere Chinchon-Arten werden gefunden oder gezüchtet. Java aber bleibt das Hauptanbaugebiet, von der Ernte kommen auf dem Amsterdamer Chinarindenmarkt zuletzt alljährlich 7000 Tonnen Rinde zum Verkauf — das entspricht 4 bis 500 000 Kilogramm Chinin. Der Chiningehalt ist von 23Ai Prozent durch geschickte Auswahl der ertragreichsten Bäume auf 6 bis 11 Prozent gesteigert worden. Die Fieberrinde, der Haßkarl den Weg in die Arzneischränke der Malariaärzte gebahnt hat, wird Unzähligen zur Rettung — wenn sie auch die Seuche nicht ausrotten kann. Denti auch heute noch erkranken alljährlich Abermillionen an dem heimtückischen Fieber und Millionen erliegen ihm. Im Kampf gegen die Massenkrankheit der heißen Länder sind in den letzten Jahrzehnten andere Heilmittel ans der Retorte entwickelt worden: Plasmochin, Atebrin, Paludrin und andere synthetische Medikamente, die auch den Erreger selber unschädlich machen. Seit man den Überträger der Malariabazillen, die Anopheles-Fiebermücke, ausfindig gemacht hat, wendet sich die Wechselfieberbekämpfung auch seiner Vernichtung zu. Aber Chinin aus der Chinchonenrinde bleibt auch weiterhin noch die wirkungsvollste Hilfe im Feldzug gegen die Malaria, und zur Erzeugung des Chinins ist immer noch wie vor 300 Jahren und zu Haßkarls Zeiten die Rinde des ChinchonBaumes unentbehrlich.
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky
L u x - L e s e b o g e n 185 ( N a t u r k u n d e ) - H e f t p r e i s 25 Pfg. Natur- und kulturkundliche Hefte — Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Verlag Sebastian Lux, Murnau, München, Innsbruck, Ölten — Druck: Buchdruckerei Mühlberger, Augsburg
32