Küsse einen wildfremden Mann, sieh dir einen Sonnenaufgang an, verändere das Leben eines anderen Menschen - drei von zw...
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Küsse einen wildfremden Mann, sieh dir einen Sonnenaufgang an, verändere das Leben eines anderen Menschen - drei von zwanzig Aufgaben, die Marissa bis zu ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag erfüllen wollte. Doch dann kommt alles ganz anders: Sie stirbt bei einem Autounfall. June, die Fahrerin des Wagens, ist voller Schuldgefühle und stürzt in ein tiefes Loch. Erst als ihr Marissas Liste unerfüllter Herzenswünsche in die Hände fällt und sie diese zu ihren eigenen macht, sieht sie wieder Licht am Horizont. Nach und nach arbeitet sie alle Punkte auf der Liste ab. Als Marissas Geburtstag naht, hat June alle Wünsche erfüllt, bis auf einen ...
Jill Smolinski Die Wunschliste Roman Aus dem Amerikanischen von Andrea Stumpf und Gabriele Werbeck
Knaur
Titel der Originalausgabe: The Next Thing On My List Originalverlag: Shaye Areheart Books, an imprint of the Crown Publishing Group, a division of Random House, Inc., New York.
Alle Namen, Personen, Orte und Ereignisse des vorliegenden Werkes sind fiktiv.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, Ereignissen oder Orten sind rein zufällig.
Die Folie des Schutzumschlags sowie die Einschweißfolie sind PE-Folien und biologisch abbaubar. Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt.
Bitte besuchen Sie uns im Internet: www.knaur.de
Copyright © 2007 by Jill Smolinski C Copyright © 2007 der deutschsprachigen Ausgabe by Knaur Verlag. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden. Redaktion: Susanne Röckl Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Umschlagabbildung: Alexandra Dohse, www.grafikkiosk.de Satz: Adobe InDesign im Verlag Druck und Bindung: Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany ISBN 978-3-426-66270-0
Der
nächste Punkt auf der Liste: Einen Fremden küssen. »Wie wär´s mit dem? » Susan deutete auf einen Typen, der so umwerfend aussah, dass man sich wunderte, ihn mit Hemd und Krawatte in einer Bar in Downtown Los Angeles zu sehen statt in Modelpose auf einem Webeplakat für Unterwäsche. »Bleib bitte auf dem Teppich. « »Warum? Es geht doch nur um einen Kuss. » Sie hatte Leicht reden. Sie war ja nicht diejenige, die das Küssen übernehmen sollte Es war Donnerstagabend nach Büroschluss, und im Brass Monkey war es rappelvoll. Susan und ich waren schon seit einer Stunde in der Bar, um die Lage auszukundschaften und an Happy-HourMargaritas zu nippen, die leider viel zu schwach waren, um Wirkung zu zeigen. »Was meinst du- auf den Mund? », fragte ich. »Natürlich, aber ob mit oder ohne Zunge, liegt bei dir. » Nach längerem Hin und Her entschied ich mich für drei Männer, die an einem Tisch gegenüber der Bar saßen. Sie waren Mitte bis Ende dreißig, leger gekleidet und wirkten harmlos, was ihre Hauptanziehungskraft ausmachte. Dann mal los. Als ich mich von meinem Stuhl er hob, kam ich mir vor, als zöge ich in eine Schlacht. Mein Plan sah vor, an ihren Tisch zu treten, meine missliche Lage zu erklären und zu hoffen, dass sich einer von ihnen meiner erbarmte und sich freiwillig zur Verfügung stellte. Für den Fall, dass der Plan schief ging - nein, ich wollte lieber nicht darüber nachdenken, was passieren würde, wenn er schief ging. Jedenfalls würde es mit einem schmachvollen Rückzug enden. Ich kippte den Rest meines Cocktails, holte tief Luft und steuerte den Tisch an. Die drei Männer sahen
mich mit unverhohlener Neugier an. Eine Frau, die sich in einer Bar einem Tisch näherte und keine Kellnerin war, musste ein interessanter Anblick sein. Darüber hinaus geizte ich an diesem Abend nicht mit meinen Reizen. Ich trug ein Kostüm mit engem Rock und dazu ein tief ausgeschnittenes Oberteil, und ich hatte großzügig Eyeliner aufgetragen. Meine Haare wallten und lockten sich wie üblich bis zu meinen Schultern. »Hi! Ich bin June!«, sagte ich keck. Nachdem er wahrscheinlich einen Moment lang überlegt hatte, ob ich ihnen etwas verkaufen wollte, sagte einer von ihnen: »Ich bin Frank, und das sind Ted und Alfonso.« »Nett, Sie kennen zu lernen!« Und dann platzte ich mit meiner Geschichte heraus. »Ich hätte eine Bitte an Sie, vielleicht können Sie mir helfen. Ich habe hier eine Liste mit Aufgaben.« Ich hielt die Liste in die Luft, Beweisstück A, ein ganz normales, von Hand beschriebenes Blatt Papier. »Eine besteht darin, dass ich einen Fremden küssen muss. Und da habe ich mich gefragt —« »Sie wollen einen von uns küssen?«, fiel mir Alfonso ins Wort. Frank zog nach: »Ist das eine Art Schnitzeljagd?« »So was Ähnliches«, erwiderte ich. »Ein Kuss auf den Mund?« »Ja.« »Zunge?« »Optional.« Drei Augenpaare musterten mich von Kopf bis Fuß, aber, das musste ich ihnen zugutehalten, sie taten es dezent. »Tja, also«, sagte Alfoso, und er klang, als würde er es tatsächlich bedauern. »Wir sind alle verheiratet.« « Aber das muss man nicht so eng sehen«, ergänzte Ted. Wenn ich Ihnen damit helfen kann ...« Nein, ich verstehe schon«, sagte ich und wandte mich zum Gehen. Warum hatte ich nicht darauf geachtet, ob
sie Ringe trugen?
Warten Sie, wir können Ihnen vielleicht trotzdem helfen. Wir drei scheiden zwar aus, aber da drüben ist ein Kollege von uns, der kann es vielleicht machen. He, Marco!«, rief Frank, und wer drehte sich um? Das Unterwäsche-Model. Toll. »Die junge Frau hier braucht deine Hilfe!« Marco kam zu uns herüber. Wenigstens schien er nicht ganz abgeneigt zu sein. In der Hoffnung, nicht rot zu werden -und in dem Wissen, dass Susan sich wahrscheinlich kaputt-lachte —, wiederholte ich meine Geschichte. Bevor ich fertig war, hatte er mir schon das Blatt aus der Hand gerissen und begann laut vorzulesen. »Dann wollen wir doch mal sehen, was auf dieser Liste steht«, sagte er, » »20 Dinge, die ich vor meinem 25. Geburtstag gemacht haben will.« » Er sah auf und grinste mich an. "Der fünfundzwanzigste?« Sehr charmant. »Na gut, ich bin vierunddreißig, aber bei günstigem Licht gehe ich immer noch für jünger durch. Geben Sie her.« Ich griff nach der Liste. Er drehte sich rasch zur Seite und fuhr zu lesen fort. »Wir wollen doch wissen, was genau da steht. Ah, hier ist es ja: Einen Fremden küssen ...« Da ich Angst hatte, ich könnte die Liste zerreißen, wenn ich sie ihm mit Gewalt abnahm, hielt ich mich zurück und verschränkte meine Arme, obwohl ich zunehmend wütend wurde. Ted versuchte, mir zur Seite zu springen. »Junge, führ dich doch nicht so auf.« »Einen 5-Kilometer-Lauf schaffen ... ins Fernsehen kommen ... hier, das ist das Beste: 50 Kilo abnehmen. Sie waren wohl mal eine richtige Tonne, hm? Aber diesen Punkt haben Sie mit Fug und Recht abgehakt, davon merkt man nichts mehr.« »Die Liste stammt überhaupt nicht von mir!«, fuhr ich ihn an. »Ja, klar.«
»Wirklich. Aber aus einem ganz bestimmten Grund muss ich sie abarbeiten.« Alfonso fragte mich mit unschuldiger Miene: »Und der wäre?« Ich seufzte. »Lange Geschichte. Bitte ...«, ich streckte die Hand aus, »geben Sie sie mir zurück.« Es stimmte. Das war nicht meine Liste. Sie gehörte Marissa Jones. Dessen war ich mir sicher, auch wenn sie keine Unterschrift trug. Ich entdeckte sie, ein paar Tage nachdem ich Marissa umgebracht hatte. Ich hatte gerade das Blut von ihrer Handtasche gewischt, damit ich sie ihren Eltern zurückgeben konnte, und da war sie. Klein zusammengefaltet in ihrer Brieftasche. Ich habe ihnen natürlich alles von ihr zurückgegeben — auch eine Sonnenbrille, die unweit des Tatorts gefunden worden war und die wahrscheinlich mir gehört hatte. Aber die Liste behielt ich. Ich habe sie ihnen gegenüber nicht einmal erwähnt. Es hätte ihnen sicherlich das Herz gebrochen, von den Träumen ihrer vierundzwanzigjährigen Tochter zu erfahren, die nun nie in Erfüllung gehen konnten. Von den zwanzig Aufgaben hatte sie nur zwei erfüllt: 50 Kilo abnehmen und sexy Schuhe tragen. Den ersten Punkt hatte sie selbst durchgestrichen, beim zweiten habe ich es für sie erledigt — als ich ihn auf der Liste entdeckte, wurde mir klar, warum sie silberne hochhackige Sandaletten getragen hatte, als sie starb. Alle hatten mir versichert, dass es nicht meine Schuld gewesen sei. Auf der Beerdigung traten sie einander fast auf die Füße bei dem Versuch, mir beizustehen und mich zu umarmen - was ich als Teil meiner Buße über mich ergehen ließ. Ich hatte am ganzen Körper blaue Flecken. Selbst die sanfteste Berührung ließ mich vor Schmerz zusammenzucken. Und das Schlimmste von allem: Sie war erst seit einem Monat richtig schlank
gewesen. Einen armseligen Monat. Nachdem sie ihr Leben lang dick gewesen war. Wie um mich noch mehr zu quälen, starrte mich vom Altar aus ein riesiges Foto von Marissa an, auf dem man sie in einer Jeans Größe 52 sah - sie passte in ein Hosenbein und hielt den Bund von sich weg. Ihr Lächeln schien zu sagen: »Achtung Welt, ich komme!« Schlimm. Ich bekam kaum etwas von der Predigt mit. Stattdessen zermarterte ich mir den Kopf, was ich ihren Eltern erzählen sollte, welches ihre letzten Wort gewesen waren. Sie würden mich bestimmt fragen. Und ich würde mir eher die Zunge abbeißen, als ihnen die Wahrheit zu sagen: dass sie mir ein Rezept für Taco-Suppe gegeben hatte. Aber diese Sorge hätte ich mir nicht zu machen brauchen. Meine Begegnung mit ihnen beschränkte sich auf einen Händedruck und eine Beileidsbekundung. Zum Leichenschmaus ging ich nicht mit; sicher hätte man meine Anwesenheit - mit dem Bluterguss am Hals und dem riesigen Veilchen — als geradezu unanständig empfunden. Abgesehen davon waren Marissa und ich nicht einmal miteinander befreundet gewesen. Ich hatte sie erst wenige Stunden vor ihrem Tod kennen gelernt. Wir hatten dasselbe Weight-Watcher-Treffen besucht. Ich war neu zu der Gruppe gestoßen, weil ich die fünf Kilo, die sich seit meiner letzten Diät wieder auf meine Hüften gestohlen hatten, loswerden wollte. Sie hatte die lebenslange Ehrenmitgliedschaft erhalten (die gerade einmal ein paar Stunden gedauert hatte), weil sie ihr Traumgewicht seit sechs Wochen gehalten hatte. Normalerweise biete ich Fremden nicht an, sie in meinem Auto mitzunehmen, aber als ich sah, wie sie in ihren »sexy Schuhen« zur Bushaltestelle stakste, dachte ich, warum nicht? Ich fand es erstaunlich, dass sie es geschafft hatte, so viel abzunehmen, und hoffte wohl, dass ihr Erfolg auf mich abfärben würde.
Wir fuhren also gemütlich den Centinela Boulevard entlang und plauderten über Diäten. Ich sagte gerade so etwas wie: »Ich fürchte, es wird nicht klappen, weil ich immer einen Riesenhunger habe, wenn ich auf Diät bin.« Daraufhin sagte sie: »Ich habe ein Rezept für eine Suppe, die einen pappsatt macht.« Und ich sagte: »Ich kann nicht besonders gut kochen.« Und sie sagte: »Das Rezept ist ganz einfach.« Und ich sagte: »Wirklich?« Und sie sagte: »Ich habe es zufällig dabei. Es ist wirklich einfach - man muss eigentlich nur ein paar Dosen aufmachen.« Und ich sagte: »Wenn das so ist, dann her damit!« Und sie drehte sich nach hinten, um ihre Tasche vom Rücksitz zu holen, und das war der Grund, warum sie im Moment des Aufpralls nicht angeschnallt war.
Marissa Jones Taco-Suppe 4 Dosen kleine weiße Bohnen 1 Dose scharf gewürzte Tomaten 1 Dose gewürfelte Tomaten 1 Dose Mais 1 Packung Taco-Gewürzmischung 1 Packung Joghurt-Dressing ohne Fett Alles in einen Topf geben und gut verrühren. Langsam erwärmen. Ergibt 8 Portionen. Soweit ich mich erinnere (ich war mit dem Kopf auf das Lenkrad geknallt, worunter mein Gedächtnis etwas gelitten hat), fiel von dem Laster vor uns ein Küchenschrank auf die Straße, und ich riss das Lenkrad herum, um ihm auszuweichen. Der Rest verschwindet im Nebel. Zeugen berichteten, dass wir gegen den Bordstein prallten und uns ein paarmal überschlugen. »Die haben ein paar hübsche Purzelbäume geschlagen«, hörte ich einen Sanitäter zu seinem Kollegen sagen, als sie mich auf einer Trage in den Notarztwagen schoben. Dann hörte ich noch: »Bei
der brauchen wir uns nicht zu beeilen, die ist tot.« Tot? Ich tastete meinen Körper ab. Ich wusste nicht, welche von uns beiden er meinte. Mich offenbar nicht. Was nur bedeuten konnte ... O nein. Nein, nein, nein! Nach dem Unfall versuchte ich mein gewohntes Leben wieder aufzunehmen, aber ohne Erfolg. An eines hatte ich nicht gedacht, auch wenn es eigentlich auf der Hand lag: Es ist eine furchtbare Belastung zu wissen, dass man einen Menschen getötet hat. Ehrlich, wie sich ein Serienmörder nach getaner Arbeit an den Abendbrottisch setzen kann, als sei nichts geschehen, ist mir ein Rätsel. Ich brachte kaum die Energie auf, ins Büro zu gehen und eine Arbeit zu erledigen, die ich schon so lange machte, dass ich geglaubt hatte, sie sogar im Schlaf noch hinzukriegen. Die Wochen schleppten sich dahin. Die blauen Flecken verblassten, aber die Verzweiflung blieb, und irgendwann wurde mir klar, dass es zwei Arten von schrecklichen Erlebnissen gibt: die einen, die dich bis in die Grundfesten erschüttern und dazu veranlassen, das Leben zu umarmen und es nie wieder als Selbstverständlichkeit zu betrachten, und die anderen, die dich dazu bringen, dich ins Bett zu legen und dir jede Menge Doku-Soaps anzusehen. Meines fiel in die zweite Kategorie. Niemand stand mir nah genug, um mitzubekommen, dass ich mich immer tiefer in mein Unglück vergrub, und daher tat auch niemand etwas dagegen. Kein Ehemann und keine Kinder. Keine Mitbewohnerin. Mein Freund Robert machte Ende August mit mir Schluss, einen Monat nach dem Unfall. Wir hatten ohnehin kurz vor der Trennung gestanden und uns schon seit längerem in dem Stadium befunden, in dem wir beide wussten, dass es vorbei war, und doch
flickten wir an unserer Beziehung herum wie an einem Auto, das man noch nicht verkaufen will, während man nur darauf wartet, dass etwas Großes wie das Getriebe kaputtgeht. Wie sich herausstellte, hatte die Beziehung einen Totalschaden. Robert ertrug den Anblick des Wracks nicht, zu dem ich geworden war, und ich war offen gestanden erleichtert, als er mich verließ. Zu der Zeit waren auf allen Sendern die neuen Staffeln angelaufen, und ich bekam kaum mit, wie er seine Zahnbürste und das Paar Ersatzschuhe, das er unter meinem Bett verstaut hatte, zusammenpackte. Wenn Marissa nur nicht diese Liste geschrieben hätte ... oder wenn ihre Aufgabenliste eher wie meine ausgesehen hätte: eine Aneinanderreihung von Banalitäten, die mich nichtsdestoweniger die letzten dreißig Jahre beschäftigt hatten. Die Sachen aus der Reinigung holen. Ins Fitnessstudio gehen. Mittags einen Freund zum Essen treffen. Einige der Aufgaben waren abgehakt, andere wurden von Liste zu Liste übertragen, bis ich es endlich schaffte, sie zu erledigen, oder zu dem Schluss kam, dass sie doch nicht so wichtig waren, wie ich gedacht hatte. Was könnte einmal in meiner Todesanzeige stehen?
June Parker, ab und an in einer festen Beziehung lebend, mittlere Angestellte und bis zum Schluss auch sonst immer mittelmäßig, starb, während sie darauf wartete, dass etwas passierte. Sie hinterlässt ein neues Paar Socken, deren Kauf die größte Leistung auf ihrer Aufgabenliste darstellte. Bevor ich Marissas Liste in einer meiner Kommodenschubladen verschwinden ließ, hatte ich sie nur einmal kurz überflogen. Ich hätte nicht einmal sagen können, warum ich sie aufgehoben hatte. Natürlich wäre die Familie traurig, wenn sie sie sähe — aber warum machte sie mich so betroffen? Erst als ich wieder in das tröstliche Licht des Fernsehers getaucht war, wagte ich mir die Wahrheit einzugestehen: So schrecklich ich es fand, jemanden getötet zu haben, war ich doch erleichtert, dass nicht ich gestorben war. Aus welchem Grund
auch immer hatte ich eine zweite Chance bekommen. Aber auch diese Chance nutzte ich nicht, und deswegen fühlte ich mich furchtbar. Die Götter, die mich gerettet hatten, saßen wahrscheinlich auf ihren Wolken, kratzten sich am Kopf und sagten: »Man sollte doch annehmen, dass es genügt, sie aus einem Haufen verbeulten Blechs zu retten! Was sollen wir denn noch tun, um diese Frau aufzurütteln? Ihr die Pest schicken? »Eine Heuschreckenplage?« Das Problem war, dass ich keine Ahnung hatte, was ich ändern sollte. Ich gehörte nicht zu den Leuten und hatte nie zu ihnen gehört, die sich hinsetzen, eine Liste der Dinge schreiben, die sie tun wollen, und sie dann tatsächlich tun. Es war also wirklich nötig, dass Marissa Jones auf mich abfärbte. Nicht unbedingt der Teil, der abgenommen hatte, sondern derjenige, der zumindest eine Ahnung davon hatte, was sie danach tun wollte. Offenbar musste ein Wunder geschehen, um mich aus meiner Lethargie zu reißen und auf einen neuen Kurs zu bringen. Aber wie sich herausstellen sollte, war dazu überhaupt kein Wunder nötig, sondern nur ein Mann an der Kreuzung Pico Boulevard und Eleventh Street, der Rosensträuße für zehn Dollar das Stück verkaufte. Es war der fünfzehnte Januar. Auf den Tag genau vor sechs Monaten war Marissa gestorben. Als ich einen Blick auf den Kalender warf und mir klar wurde, dass inzwischen ein halbes Jahr vergangen war, wurde mir ganz mulmig. Es kam mir so vor, als sei es erst gestern gewesen und doch schon eine Ewigkeit her. Ursprünglich hatte ich vorgehabt, zu Ehren Marissas nach der Arbeit nach Hause zu gehen und dann ... na gut, ich hatte nichts vorgehabt. Aber dann hielt ich an der Kreuzung neben dem Rosenverkäufer, und ich hatte eine Idee. Ich würde ihr Grab besuchen. Ich würde mich entschuldigen,
und vielleicht würde ich dann von meiner Last befreit sein. Mit dem Strauß Blumen auf dem Beifahrersitz hielt ich an der Pforte am Friedhofseingang, um mir eine Wegbeschreibung geben zu lassen. Eine Frau reichte mir die Kopie eines Plans und markierte den Weg zu Marissas Grab mit Leuchtstift. Ich stellte mein Auto ab und ging den Rest des Wegs zu Fuß. Auf dem geschmackvollen schlichten Grabstein stand: »Marissa Jones, geliebte Tochter, Schwester und Freundin«, dann folgten Geburts- und Todestag. »Es tut mir leid«, flüsterte ich und legte die Blumen auf das Grab. Danach stand ich eine Weile da, und während ich darauf wartete, dass mich ein Gefühl des Friedens überkam, hörte ich plötzlich eine Stimme hinter mir sagen: »June?« Ich drehte mich um und fand mich in dieser unangenehmen Situation wieder, die jeder schon einmal erlebt hat: Ich erkannte den Typen nicht. Freundliche Augen. Sah aus, als hätte er seine Jugend auf dem Surfbrett verbracht. Um die dreißig. Groß, aber nicht zu groß, von der Sonne gebleichte blonde Haare, eine ausgeprägte Nase und das dazu passende Kinn. Jeans und T-Shirt. »Ach, hallo!« sagte ich und tat so, als würde ich ihn kennen. »Sie erinnern sich wahrscheinlich nicht an mich. Ich bin Troy Jones. Marissas Bruder.« »Natürlich erinnere ich mich an Sie.« Gut, nicht sofort. Bei der Beerdigung hatte er einen Anzug getragen. Und seine Haare waren kürzer gewesen. Darüber hinaus hatte ich ihm nur kurz die Hand geschüttelt. »Ich war mir nicht ganz sicher, ob Sie es sind. Kommen Sie oft hierher?« Kaum hatte er die Worte gesagt, schüttelte er auch schon den Kopf und lachte. »Mann, das klingt wie irgendeine platte Anmache. Als Nächstes werde ich Sie fragen, was eine hübsche junge Frau wie Sie an einem Ort wie diesem tut.«
Statt der naheliegenden Antwort — ich besuche das Grab Ihrer Schwester, die ich auf dem Gewissen habe - sagte ich: »Damit Sie nicht die ganze Litanei runter beten müssen, verrate ich es Ihnen gleich: Ich bin Skorpion.« »Schön.« »Und um Ihre Frage zu beantworten, nein, ich komme nicht oft hierher. Aber da es heute sechs Monate her ist ...« »Ja«, sagte er, »deshalb bin ich auch hier.« Dann legten wir beide eine Schweigeminute ein, jedenfalls standen wir beide da, ohne etwas zu sagen, und gerade als ich mich unter einem Vorwand verabschieden wollte, sagte er: »Hätten Sie Lust, ein paar Schritte mit mir zu gehen?« Wenn ich nur gleich wieder abgezogen wäre, nachdem ich die Blumen auf das Grab gelegt hatte! »Gerne«, sagte ich, weil ich nicht unhöflich sein wollte. »Gute Idee.« Wir liefen langsam den kiesbestreuten Weg entlang, der zwischen den Gräbern hindurchführte. »Sic sehen gut aus«, sagte er und warf mir von der Seite einen Blick zu. »Als ich Sie das letzte Mal sah, hatten Sie ein ziemlich großes Veilchen.« »Stimmt«, sagte ich unverbindlich, und zu meiner großen Erleichterung ging es von da an nur noch um irgendwelche Banalitäten - dass es in letzter Zeit sehr viel geregnet hatte und dass Hunde vor einem Erdbeben zu bellen anfangen. Er sah seiner Schwester sehr ähnlich. Und dadurch wurde gerade das, was ich tief in mir begraben wollte, wieder an die Oberfläche geholt - die Scham, die mich so sehr peinigte wie damals die blauen Flecken. Ich hatte Angst, etwas zu sagen, das ihm verraten konnte, was ich seit Monaten erfolgreich vor aller Welt verborgen hatte. Dass ich äußerlich einen guten Eindruck machte, innerlich aber Wunden trug, die noch längst nicht verheilt waren. Schließlich gelangten wir wieder bei unserem Ausgangspunkt an. »Ich stehe dort drüben«, sagte
ich. Er brachte mich zum Auto. Ich wollte gerade den Schlüssel ins Schloss stecken, als er sagte: »Darf ich Sie etwas fragen?« Mist. Beinahe hätte ich es geschafft. »Ja, natürlich.« »Es ist nur ... Sie waren die Letzte, die Marissa gesehen hat.« DIE Alarmglocken in meinem Kopf fingen an zu schrillen. »Meine Eltern und ich wissen, wie es zu dem Unfall kam, aber eine Sache können wir uns nicht erklären. Warum war sie nicht angeschnallt? Sie hat sich immer angeschnallt. Wir können das einfach nicht begreifen. Es tut mir leid, dass ich Sie damit belästige, aber die Frage lässt uns einfach keine Ruhe.« Die Stunde der Wahrheit war gekommen. Ich musste sagen, was sie in ihren letzten Minuten getan hatte. Klar, ich konnte so tun, als wüsste ich es nicht, aber das schien noch grausamer zu sein als die Wahrheit. »Sie wollte ein Rezept aus ihrer Handtasche holen.« »Ein Rezept?« »Für eine Taco-Suppe.« »Ein Rezept.« Er strich sich über den Nacken. »Das sieht ihr ähnlich.« Er wirkte enttäuscht, und deshalb fügte ich rasch hinzu: »Es hörte sich sehr lecker an.« »Bestimmt.« Ach, warum hatte ich nicht gelogen? Warum hatte ich nicht gesagt, sie hätte mir erzählt, wie sehr sie ihre Familie liebte — besonders ihren Bruder? »Tut mir leid, dass es etwas so Banales ist«, sagte ich verzagt. »Ist schon in Ordnung. Ich weiß auch nicht, was ich erwartet hatte. Es ist nur ...« Er vergrub seine Hände in den Hosentaschen und lehnte sich gegen das Auto. »Es gibt so vieles, was ich nicht weiß und nie wissen werde. Daran denkt man, wenn man nicht schlafen kann. Ich vermisse sie natürlich, aber das ist es nicht allein. Dazu kommt das Bedauern, dass ich ihr nie die wirklich wichtigen Fragen gestellt habe, als ich das noch konnte.« Er blickte zu ihrem Grab und fuhr
fort: »Ein paar Wochen bevor sie starb, waren Marissa und ich bei meinen Eltern zum Abendessen. Wir waren im Garten, haben herumgealbert, ein bisschen Ball gespielt. Ich fragte sie, was sich in ihrem Leben geändert hatte, seit sie so schlank geworden war – abgesehen davon, dass sie mich jetzt mühelos beim Basketball schlagen konnte. Sie sagte, dass sie eine ganze Menge vorhätte, und es klang so begeistert, dass ich sie fragte, was denn zum Beispiel. Aber in diesem Moment rief uns unsere Mutter zum Essen ins Haus, und dann führte eins zum anderen, und ich kam nicht mehr dazu, sie noch mal zu fragen. Es gab aber auch keinen Grund zur Eile, oder? Wir hatten Schließlich alle Zeit der Welt.« O Gott. Bei seinen Worten krümmte ich mich innerlich. Ich hatte die Familie nicht geschont, als ich die Liste behalten hatte. Im Gegenteil, es war falsch gewesen, dachte ich, als jetzt dieser überaus nette Mann vor mir stand, der nur wegen meiner Selbstsucht noch mehr hatte leiden müssen. Ja ... also ...«, stotterte ich. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, nur, dass ich etwas sagen musste. »Da ist noch etwas. Sie hatte eine Liste.« Als er nicht gleich reagierte, platzte ich damit heraus: »Ihre Schwester hatte eine Liste mit Dingen aufgestellt, die sie vor ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag tun wollte. Ich habe sie.« Er drehte seinen Kopf zu mir und bedachte mich mit einem eiskalten Blick. Ich hatte das Gefühl, dass die Temperatur mit einem Schlag unter null gesunken war. »Sie? Es gab eine Liste -,.. und Sie haben sie einfach behalten?« Na ja, wenn man es so sah ... »Ich musste sie behalten«, sagte ich abwehrend. »Warum?« Ja, warum eigentlich? Panik überkam mich, bis mir endlich eine Lüge einfiel, die so überzeugend klang, dass sie fast die Wahrheit zu sein schien. »Weil ich es für sie übernehme.«
Sein Gesicht nahm augenblicklich einen anderen Ausdruck an, wie eines dieser Schiebepuzzles, dessen Teile man so lange verschiebt, bis sie ein Bild ergeben — in seinem Fall war es allerdings noch nicht ganz fertig, und da ich nicht wusste, wie es zum Schluss aussehen würde, redete ich weiter. »Ich dachte mir, wenn Marissa es nicht mehr selbst tun kann, dann ... dann sollte ich es wohl machen. Schließlich bin ich diejenige, die am Steuer saß, als der Unfall passierte. Ich fühle mich verantwortlich.« Und da war es: Das Eis schmolz dahin und wurde durch einen Ausdruck ersetzt, den ich zwar nicht genau deuten konnte, den ich aber mochte. Endlich verspürte ich den ersehnten Frieden. Ich war nicht länger June Parker, die am Tod eines anderen Menschen schuld war und im Begriff stand, ihr Leben zu vertrödeln. Ich war die Sorte Frau, die eine Liste unerfüllter Träume fand und es auf sich nahm, sie zu verwirklichen. Ich schwebte wie auf Wolken. »Das ist ... wunderbar«, brachte er hervor und fuhr dann zu meinem Schrecken fort: »Haben Sie die Liste dabei? Können Sie sie mir zeigen?« »Sie liegt zu Hause«, erwiderte ich hastig. »Und ich fürchte, Sie wären enttäuscht, wenn Sie sie sehen. Ich habe bislang noch nicht viel abgehakt ... aber bis zu ihrem Geburtstag dauert es ja auch noch ein paar Monate.« Der 28. Juli, wie ich gerade auf dem Grabstein gelesen hatte. Weitere sechs Monate. »Lassen Sie uns bitte keine große Sache daraus machen. Ich bin schon aufgeregt genug. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich im Moment lieber nichts weiter dazu sagen.« »Verstehe.« Er nickte. »Kein Problem.« Ich sah demonstrativ auf die Uhr. »Ich muss leider los.« »Klar.« Als ich in mein Auto stieg, zog er seine Brieftasche hervor und nahm eine Visitenkarte heraus. »Rufen Sie mich an, wenn ich Ihnen helfen kann. Egal, um was es geht.« Mir fiel ein, dass er tatsächlich etwas tun konnte.
»Es würde mir möglicherweise weiterhelfen, wenn ich ein wenig mehr über Marissa wüsste. Wenn es Ihnen keine Umstände macht, könnten Sie mir vielleicht ihre alten Jahrbücher aus der Schule oder ein paar Fotoalben schicken. Irgendetwas, was ein wenig Licht darauf wirft, warum sie gerade die Dinge, die auf der Liste stehen, tun wollte.« Er nickte, ohne zu zögern, und ich gab ihm meine Visitenkarte, bevor ich davonfuhr. Das Herz schlug mir bis zum Hals, und ich befürchtete, dass man es pochen sehen konnte. Ich würde es tun. Ich würde die Aufgaben auf Marissa Jones' Liste eine nach der anderen erledigen. Wenn ich schon nichts aus meinem Leben machen konnte, dann konnte ich wenigstens aus ihrem Leben etwas machen. Das erste Mal seit langer Zeit seit dem Unfall und sogar noch davor — spürte ich wieder ein heftiges Gefühl in mir aufwallen, eines, das mir so wenig vertraut war, dass ich die ganze Fahrt nach Hause brauchte, um zu begreifen, was es war. Hoffnung. Ich empfand Hoffnung. Und das hatte mich dahin geführt, wo ich mich gerade befand: in eine Bar, wo mir soeben klar wurde, dass ich diesen Idioten ganz bestimmt nicht küssen würde, gleichgültig, wie sehr es mich drängte, einen Punkt von der Liste zu streichen. »Also«, sagte er und bedachte mich mit einem strahlend weißen Lächeln, als er mir die Liste zurückgab (nebenbei gesagt, man kann es mit dem Zahnweiß auch übertreiben). »Welche Art von Kuss?« Sein Freund Frank klärte ihn auf: »Auf den Mund. Zunge optional.« »Lassen Sie nur«, sagte ich, »ich wollte bloß —« Bevor ich den Satz zu Ende sprechen konnte, hatte er schon seinen Mund auf meine Lippen gepresst und seine Zunge zwischen meine Zähne geschoben. Es war gar nicht einmal so unangenehm. Meine ersten Versuche mit Grant
Smith in der Highschool waren jedenfalls um einiges feuchter gewesen. Aber bei Grant hatte ich einen ganzen Schwärm Schmetterlinge im Bauch gefühlt. Dieser Kuss hinterließ bei mir dagegen das Gefühl, als wäre ich von der Taille abwärts gelähmt. Schließlich trat er einen Schritt zurück und sagte mit einem Zwinkern: »Bitte schön. Allzeit bereit.« Bitte nicht. Wenn er das gesagt hätte, während er mich küsste, hätte ich zugebissen. »Danke«, sagte ich und legte Bedauern in meine Stimme. »Aber leider steht auf der Liste ausdrücklich, dass ich den Kuss geben muss, dass ich küsse und nicht geküsst werde. Ich fürchte, das eben zählt nicht. Kann man nichts machen, aber« - ich zwinkerte den Männern am Tisch kurz zu, bevor ich mich abwandte - »ich danke Ihnen trotzdem für die Mühe.« Auf dem Rückweg zu meinem Tisch stieß ich beinahe mit einem jungen Kellner zusammen. Hm. Er war um die siebzehn und praktischerweise so groß wie ich. »Wenn Sie bitte entschuldigen«, sagte ich. Dann packte ich ihn am Kragen, zog ihn näher an mich heran und - nachdem ich kurz inne gehalten hatte, um ihm Gelegenheit zur Flucht zu geben -gab ihm einen festen Kuss auf den Mund. Ohne Zunge, aber mit viel Wärme und Zärtlichkeit und - ja! - ein paar von den erwähnten Schmetterlingen. Dann sagte ich über das Gelächter der Männer hinweg zu Susan: »Lass uns gehen.« Ich hatte schließlich noch eine ganze Menge Häkchen mehr auf der Liste zu machen und, wie meine Großmutter zu sagen pflegte: »Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.«
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20 Dinge, die ich vor meinem 25. Geburtstag gemacht haben will
1.50 Kilo abnehmen 2.Einen Fremden küssen. 3.Jemandes Leben verändern 4.Sexy Schuhe tragen 5.Einen 5-Kilometer-Lauf schaffen 6.Ohne BH losziehen 7.Buddy Fitch zahlen lassen 8.Die heißeste Frau im Oasis sein 9.Ins Fernsehen kommen 10.In einem Hubschrauber fliegen 11. Eine tolle Idee in der Arbeit präsentieren 12. Boogieboarding ausprobieren 13.In der Öffentlichkeit Eis essen 14.Zu einem Blind Date gehen 15.Mit Mom und Grandma zu einem Konzert Von Wayne Newton gehen 16.Mir eine Massage geben lassen 17.Meine Badezimmerwaage wegwerfen 18.Einen Sonnenaufgang miterleben 19.Meinem Bruder zeigen, wie dankbar ich ihm bin 20.Eine große Summe für wohltätige Zwecke spenden
»Auf meiner Liste steht an erster Stelle Fallschirmspringen«, sagte Susan und knabberte an ihrer Eiswaffel. »Du hast auch eine Liste?« »Keine richtige. Aber es gibt natürlich einige Dinge, die ich tun will, bevor ich sterbe.« »Also ich kann mir nichts Schlimmeres als Fallschirmspringen vorstellen - durch die Luft zu
rasen und keinen Einfluss darauf zu haben, wie schnell man fällt und wo man landet. Es ist mir ein Rätsel, was daran Spaß machen soll.« Wir hatten gerade Pause, saßen in einem Straßencafe und leckten jede an einem riesigen Eis. Das Büro von Los Angeles Rideshare, wo Susan Leiterin der Kundenbetreuung mit zwanzig Untergebenen ist und ich als Texterin eher zu den Arbeitsbienen gehöre, liegt in einem der älteren Teile von Downtown. Die stuckverzierten Bürogebäude, die hier die engen Straßen säumen, lassen ihn für Los Angeles geradezu altertümlich erscheinen. Die Nachmittagssonne wärmte unsere Schultern, und wir beobachteten, wie der Regen auf der gegenüberliegenden Straßenseite herunterprasselte, wo gerade ein Werbespot für Visa gedreht wurde. Riesige Maschinen sprühten Wasser auf getürkte New Yorker Taxis. Touristen in ärmellosen T-Shirts und Shorts standen am Rand und hielten Papier und Stift bereit für den Fall, dass der Typ, der in die Kamera grinste, eine Berühmtheit war. Ich war noch ganz selig über meine erfolgreiche Aktion, dem jungen Kellner einen Kuss geraubt zu haben, aber ich wusste, dass ich noch eine Menge zu tun hatte. Ich hatte die Liste mitgenommen, damit Susan und ich die Regeln festlegen konnten - was gestattet war und was nicht, um die Aufgaben zu erfüllen. So entschieden wir zum Beispiel, dass ich sie nicht der Reihe nach abarbeiten musste. Ebenso, dass ich, wie Susan es formulierte, »dem Geist des Ganzen« zu folgen hatte — nachdem ich laut überlegt hatte, dass ich Nr. 8, Die heißeste Frau im Oasis sein, ganz einfach erledigen könnte, indem ich hinging und mich anzündete. »Wie willst du das alles rechtzeitig schaffen?«, fragte Susan und nahm eine Serviette, um die Eiscreme, die auf ihre Bluse getropft war, abzutupfen. Sie sah wie immer toll aus in ihrem schlicht geschnittenen Hosenanzug aus Seide, war bis auf den roten Lippenstift ungeschminkt und hatte die Haare locker hochgesteckt. So viel lässige Eleganz ließ mich meinen geblümten Rock und die Bluse aus dem
Schlussverkauf mit ein bisschen weniger Nachsicht betrachten als damals im Laden, als die Kassiererin die Preise eintippte. »Also«, ich zog die Augenbrauen zusammen, »ich dachte, ich improvisiere.« »Meinst du, das klappt? Einige der Aufgaben scheinen ziemlich zeitaufwendig zu sein. Zum Beispiel:
Jemandes Leben verändern. Das wirst du kaum in der Mittagspause schaffen.« »Gerade um diesen Punkt musst du dir keine Sorgen machen, das habe ich schon getan. Hast du einen Stift? Den kann ich durchstreichen.« Es klang so düster, dass mich Susan verwundert ansah, bis ich es ihr erklärte: »Marissa hat gelebt. Jetzt ist sie tot. Einschneidender kann man das Leben von jemandem wohl nicht verändern, oder?« »June, wie lange willst du dich deswegen noch quälen?« »Bis die Liste abgearbeitet ist, genau so lange.« »Noch ein Grund mehr, sie ernst zu nehmen.« »Ich hoffe nur, dass ich es schaffe.« Mehr musste ich nicht sagen. Susan und ich hatten uns auf der Universität in Santa Barbara kennen gelernt und waren seither die besten Freundinnen. Sie kannte mich gut genug, um zu wissen, dass es nicht leicht für mich werden würde. Sie hatte alles hautnah miterlebt. Die Urlaubsreisen, die ich geplant, aber vergessen hatte zu buchen. Das abgebrochene Marketingstudium, von dem ich gedacht hatte, dass es meiner Karriere den nötigen Schub geben könnte. Und den Poncho, an dem ich so lange gehäkelt hatte, bis Ponchos aus der Mode waren. »Du weißt, wenn ich dir irgendwie helfen kann, dann tu ich es.« »Das ist nett von dir, danke.« Ich sah auf die Uhr. »Ich geh jetzt wohl besser zurück ins Büro. Lizbeth hat eines ihrer geschätzten spätnachmittäglichen Meetings angesetzt, damit bloß keiner von uns auf die Idee kommt, früher nach
Hause zu gehen. Aber ich will nicht jammern, immerhin habe ich heute eine Aufgabe erfüllt.« Triumphierend hob ich meine Eiswaffel in die Höhe. »Nr. 13, In der Öffentlichkeit Eis essen.« »Wo du es erwähnst, das verstehe ich nicht. Was ist denn schon groß dabei, ein Eis zu essen?« »Dicke Leute dürfen in der Öffentlichkeit nicht essen.« »Machst du Witze?«, sagte sie, ein bisschen von oben herab, wie ich fand. »Ich sehe dauernd dicke Leute essen.« »Eben.« »Wie - eben?« »Man kann sein Essen einfach nicht genießen, wenn man immerzu das Gefühl hat, dass man von allen angestarrt wird und die Leute denken: »Kein Wunder, dass sie so fett ist, wenn sie dauernd frisst.«< »Das glaube ich nicht.« Ich zuckte mit den Schultern. Ich war zwar nie so übergewichtig wie Marissa gewesen, aber ich wusste, wie sehr es das Leben beeinflussen konnte, wenn man sich für dick hielt. Mein ganzes Leben lang war ich ständig im Begriff gewesen, fünf oder zehn Kilo ab- oder zuzunehmen. Ich gehöre zu dem Typ Frau, der überall Kurven hat. Gegenwärtig bin ich so schlank wie schon lange nicht mehr, was auf meine Depressionen nach dem Unfall zurückzuführen ist — eine Diät, die ich übrigens nicht empfehlen kann. Vom Verstand her weiß ich natürlich, dass ich nicht zu dick bin, aber ich habe Angst, dass ich sofort aufgehen könnte wie ein Hefekloß, wenn ich auch nur eine falsche Bewegung mache und nach einem Hamburger oder einer Portion Pommes frites zu viel greife. Susan deutete auf meine Eiswaffel. Ich hatte mich schon durch Stracciatella bis Tiramisu vorgearbeitet. »Genießt du es?« »Ehrlich gesagt, bin ich nicht besonders scharf auf Eis.«
»Wie kann man Eis nicht mögen?« »Es verlangt zu viel von einem.« »Das versteh ich nicht.« »Überleg doch mal. Wenn man sich ein Eis gekauft hat, muss man es auf der Stelle essen. Entweder das, oder man wird es für alle Zeit verlieren. Sieh dir dieses Eis hier an. Es tropft schon. Man kann es nicht wegstellen, um es später aufzuessen, wie beispielsweise ein Stück Kuchen.« »Erzähl mir doch nichts! Hast du jemals in deinem Leben ein Stück Kuchen weggestellt, um es später aufzuessen?« »Darum geht es nicht. Es geht darum, dass ich es könnte, wenn ich wollte.« »Ich glaube, wenn du dieser Aufgabe gerecht werden willst, musst du das Eis genießen. Ohne Schuldgefühle. Ohne Vorbehalte. Dich dem Moment hingeben.« Als ich sie skeptisch ansah, sagte sie: »Das hätte zumindest Marissa getan.« Sie hatte natürlich Recht. Mist. Also schloss ich die Augen und fuhr langsam mit der Zunge über das Eis. Kühl und süß breitete es sich in meinem Mund aus. Ich schmeckte es. Fühlte es. Schließlich schob ich jeden Gedanken an Kalorien und so weiter beiseite, und ich muss gestehen, es war unglaublich. Verführerisch weich und cremig. Voller Begeisterung leckte ich weiter, seufzte und stöhnte genüsslich auf. Und dann öffnete ich die Augen. Peter aus der Buchhaltung stand vor unserem Tisch und grinste mich breit an. »Ich habe gehört, im Pausenraum gibt es Schokoladenkuchen mit Cremefüllung. Sag mir doch Bescheid, wenn du ein Stück essen willst. Ich wäre gern dabei.« Sein Blick wanderte sehnsüchtig zwischen Susan und mir hin und her. »Am tollsten wäre es natürlich, wenn ihr beiden euch ein Stück teilen würdet.« »Hallo zusammen«, sagte ich und setzte mich zu den anderen an den auf Hochglanz polierten Konferenztisch. Eine zwölfköpfige Familie hätte
ohne weiteres daran Platz gefunden. Er war fast so groß wie mein ganzes Büro. Ich stellte meine Cola light ab und beobachtete zufrieden, wie sich ein nasser Ring auf der Tischplatte bildete. Lizbeth Austin Adams' Büro erinnerte mich eher an ein Wohnzimmer als an einen Ort, an dem gearbeitet wurde. Sie hatte Pflanzen und Lampen und alle möglichen anderen Dinge angeschleppt, die es gemütlich machen sollten. Jedes Stück versetzte mir einen neuen Stich, da es bedeutete, dass sie vorhatte, hier Wurzeln zu schlagen. »Ihre Hoheit wird in ein paar Minuten erscheinen«, klärte Brie, Lizbeths Assistentin mich auf, ohne den Blick von der neuesten Ausgabe von Us zu wenden. »Mann, Beyonce tut gerade so, als hätte sie den Knackarsch erfunden.« Sie schlug ihre üppigen Schenkel übereinander und ließ den verstärkten Rand ihrer Strumpfhose sehen. »Ich hatte schon einen knackigen Hintern, als sie noch in Windeln herumlief.« »Moment mal - du bist doch nicht älter als sie«, entgegnete ich. »Das würde bedeuten, dass du damals auch noch Windeln getragen hast.« »Mag schon sein, aber einen knackigen Hintern hatte ich trotzdem schon.« Es war Punkt drei, und die gesamte Marketingabteilung hatte sich versammelt. Ich bekam fast Mitleid mit Lizbeth, als ich meine Kollegen der Reihe nach musterte. Nachdem sie vor zwei Jahren ihre Stelle als Marketingchefin bei L. A. Rideshare, einer Agentur zur Vermittlung von Fahrgemeinschaften, angetreten hatte, führten unerwartete Budgetkürzungen zu einer Reihe von Entlassungen. Das Imperium, das sie hatte leiten sollen und dessentwegen sie von Texas hierhergezogen war, war auf uns vier zusammengeschrumpft. Wie bei Fremden, die sich ein Rettungsboot teilen müssen, war unsere einzige Gemeinsamkeit unser Überlebenswille. Außer Brie und mir gab es noch Greg, den Grafiker, und Dominic Martucci, den alle nur Martucci nannten und der das »Rideshare-Mobil« fuhr. Martucci
zeichnete sich durch ein schmallippiges Lächeln aus und durch die Angewohnheit, an dem dünnen Zopf herumzufummeln, der sich wie ein haariger Regenwurm seinen Nacken herunterringelte. Die Vorstellung, dass er meine Broschüren anfasste, verursachte mir gelegentlich Gänsehaut. »Guten Tag«, sagte Lizbeth, als sie hereingerauscht kam. Martucci und Greg setzten sich gerade hin. Sie hatte auf Männer diese Wirkung. Ich wartete nur noch darauf, dass sie im Chor »Guten Tag, Miss Austin Adams!« riefen. Sie schob mir eine Aktenmappe zu. »Gut gemacht. Ich habe ein paar Bemerkungen an den Rand geschrieben.« Ich blätterte den Entwurf einer Broschüre durch, den ich ihr zum Abzeichnen gegeben hatte. Das Ganze war über und über mit roter Tinte beschmiert, es sah aus, als hätte sie sich beim Lesen die Pulsadern aufgeschnitten. Aber dieses Glück wurde mir natürlich nicht zuteil. »Ganz allgemein fände ich es besser, wenn es weniger nach —« sie bedachte mich mit einem gönnerhaften Blick - »Jane Fonda klingen würde.« »Jane Fonda?« »Na ja, eben nicht so«, sagte sie und zog die Nase kraus, als würde sie etwas sehr Obszönes sagen, »ideologisch.« »Da steht doch nur, dass Autoabgase die Luft verschmutzen.« »Eben.« »Aber das ist doch genau —« »Leute, ich glaube, wir haben heute noch einiges an Arbeit vor uns«, sagte sie, und wie immer ignorierte sie mich und wandte sich stattdessen an alle anderen. »Fangen wir an.« Ich steckte die Broschüre weg. Ich würde die gewünschten Änderungen vornehmen. Es hatte keinen Sinn zu streiten. Wie bei jedem Abteilungsmeeting ließ Lizbeth uns einen nach dem anderen über die Projekte berichten, an denen wir gerade arbeiteten. Als ich an der Reihe war, erwähnte ich eine Broschüre über
Fahrgemeinschaften, an der ich gerade schrieb, und eine Pressemitteilung, in der es um eine neue Monatskarte für den öffentlichen Nahverkehr ging. Selbst mir schliefen bei dem Thema beinahe die Füße ein. Wenn die Leute erfahren, dass ich mein Geld mit Schreiben verdiene, erkläre ich immer sofort, dass ich nicht richtig schreibe. Ich sehe sie große Augen machen — ach, Sie schreiben?! - und versuche, schnell das Thema zu wechseln. Es wäre zwar zu viel gesagt, dass ich mich schäme, aber wir wollen doch ehrlich sein: Meine Arbeit ist ohne jeden Glamour. Fahrgemeinschaften sind einfach nicht sexy. Deshalb kann ich immer noch nicht begreifen, wie jemand wie Lizbeth Austin Adams hier landen konnte. Unser Chef »entdeckte« sie auf einer von ihr organisierten Konferenz. Diese Geschichte wurde bei uns im Büro so ehrfürchtig erzählt wie die von Lana Turners Entdeckung bei Schwabs. Lizbeths Stärke war Event-Management. Bei unserem ersten Abteilungsmeeting vor zwei Jahren hatte sie damit geprahlt, dass sie einen Schwarz-Weiß-Ball für die Bush-Zwillinge organisiert hatte, woraufhin Brie sich auf ihren ewig entblößten Schenkel schlug und rief: »Dass die Schwarze privat einladen, hätte ich nie gedacht!« Lou Bigwood, offenbar beeindruckt von Lizbeths Referenzen — oder von irgendetwas anderem -, hatte ihr auf der Stelle einen Job angeboten. Nur dass es nicht irgendein Job war. Es war mein Job. Gut, er war es nicht offiziell. Aber mein ehemaliger Vorgesetzter hatte ihn mir mehr oder weniger versprochen. Mein Team hätte aus zwölf Leuten bestanden und wäre für Anzeigenkampagnen und Presseveröffentlichungen zuständig gewesen, darüber hinaus für die Organisation von PromotionEvents — Riesenpartys, auf denen wir die Leute mit Hotdogs abgefüttert hätten und ihnen dann, wenn sie satt und zufrieden gewesen wären, erzählt hätten, dass Fahrgemeinschaften eine prima Sache seien. Stattdessen musste ich mich zu einem Lächeln zwingen und klatschen, als Lou Bigwood bei einer
Mitarbeiterversammlung Lizbeth aus dem Hut zauberte und sie als die neue Marketingchefin vorstellte. Vermutlich hätte ich nicht überrascht sein sollen. Er war berüchtigt dafür, gut aussehende Frauen aufzugabeln und ihnen - zum großen Missfallen des Personalleiters - ein gewaltiges Gehalt und die besten Posten anzubieten, ohne sich mit jemandem abzusprechen. In dieser Hinsicht war er ein einsamer Wolf. Lizbeth, blond und Ende dreißig, sah aus wie eine Fernsehansagerin. Das an sich war schon verwunderlich. Bigwood neigte für gewöhnlich zum exotischeren Typ, dunkelhaarigen Schönheiten wie meiner Freundin Susan. Ich erwähne Susan hier nicht nur zu Vergleichszwecken; sie war selbst zu meinem Schrecken eine Zeit lang das Objekt seiner Begierde gewesen. »Willst du damit etwa sagen, dass er dich in seine Schönheitengalerie eingereiht hat?«, hatte ich damals ausgerufen, als Susan beiläufig erwähnte, dass Bigwood sie eingestellt hatte, nachdem sie sich auf einer Konferenz (wo sonst?) kennen gelernt hatten. Ich glaube, ich arbeitete damals erst seit ein paar Wochen bei L. A. Rideshare, nachdem mich Susan als Texterin empfohlen hatte. »Ja, aber wenigstens in die Unterabteilung >schön und schlau