Vincenzo Consolo
Die Wunde im April
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Band 977 der Bibliothek Suhrkamp
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Vincenzo Consolo
Die Wunde im April
Bibliothek Suhrkamp
SV
Band 977 der Bibliothek Suhrkamp
Vincenzo Consolo Die Wunde im April Aus dem Italienischen von Bettina Kienlechner und Ulrich Hartmann
Suhrkamp Verlag
Titel der 1963 veröffentlichten Originalausgabe: La ferita dell’aprile © 1977 Giulio Einaudi editore s. p. a. Torino
Erste Auflage 1990 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1990 Alle Rechte vorbehalten Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Printed in Germany
Die Wunde im April
I Von den ersten beiden Jahren, die ich unterwegs verbrachte, bleibt mir die Straße wie ein aufgerolltes Band, das ich abwickeln kann: die Kurven, die Gräben, die teerverklebten Schotterhaufen, das eiserne Wegkreuz, die Sonne auf den Oberschenkeln, die abgefahrenen Reifen, der Geruch von Ziegenfell und der Benzindunst in den Kleidern. An die Schule erinnere ich mich kaum. Doch da ist der Omnibus, der alte Packesel, wie ihn Bitto nannte, weil es ein Wunder war, daß diese Karre überhaupt noch Leute befördern konnte. Außerdem verbrachte ich die beste Zeit in diesem Bus: frühmorgens, auf dem Dorfplatz, wenn ich auf die Fahrgäste wartete – Kranke mit Kopfkissen und Decke, Behördengeher, Eigentümer, die mit dem Grundbuch- oder Katasteramt zu tun hatten, Leute, die an der Küste blieben oder mit dem Eilzug nach Messina fuhren –, und dann, am Bahnhof, wo er Anschluß an den Halbdrei-Uhr-Zug hatte. Ich weiß nicht, wie es anfing, daß ich Bitto half, doch ich sehe mich die schmale Leiter nach oben klettern, auf dem Dach das Gepäck verstauen und ihm auf sein Zeichen hin das Ende des Seils zum Verschnüren zuwerfen. An was sollte ich mich aus jenen Jahren in der Schule und bei den Patres erinnern, wo es mir doch vom ersten Tag an widerstrebt hat, wo mich Bitto doch wegen meiner Bücher aufzog und mit dem Bus, dem Fahren, dem Leben unterwegs lockte? Die schwarze Tasche umgehängt, fragte ich »Fahrkarte?« oder lief mit dem Eimer zum Brunnen, um die Scheiben sauberzuwischen, wenn Frauen und Kinder sich übergeben hatten. »Gehst du eigentlich in die Schule, um zu schuften?« fragte 7
meine Mutter, wenn sie mich mit beschmierten Händen und schmutziger Jacke sah. Wie alle schönen Dinge hatte das Leben im Bus ein Ende; Onkel Peppe wurde geflüstert, daß Bitto mich zum Laufburschen gemacht hatte. Er logierte mich in einem Haus ein, das er vermietet hatte, und von diesem Tag an besuchte ich die Klosterschule. Ein brunnenschachtgroßes Loch verunstaltete das obere Stockwerk an den Fenstern zum Meer hin, über den Blumentöpfen auf den Simsen, von wo aus die Patres sich im Sommer gerne die Leute auf der Straße ansehen und dabei ihr Brevier lesen, hinter den Hibiskusblättern versteckt wie Mädchen, die auf die Liebe warten. Die Dächer sind noch weiß gekalkt, rote Kreuze rechts und links, auf der Kirche und der Aula, um das Gebäude als Krankenhaus auszugeben. Sehr kluge Entscheidung: die Flugzeuge ließen sich täuschen – doch die Schiffe? Die Schiffe sahen die Vorderfront, und das Ergebnis ist dieses Loch, groß wie ein Brunnenschacht. Das Geschoß war beim Rektor eingeschlagen, hatte die gegenüberliegende Wand durchbrochen und sich in den Hof gebohrt. Das E war verschwunden, und das L von SCHULE hing an einem Nagel in der Luft. Damals ging das Gerücht, der ganze Bau sei zu Staub geworden, doch als die Evakuierung vorbei war, stellte man diesen wenig schweren Schaden fest, und da sich die Maurer rar gemacht hatten wie Chinin in Malariazeiten, sind sie noch in diesem Jahr auf dem Gerüst mit Eimern und Mörtel zugange. Der Hof ist abschüssig, am Hang gelegen: der Rundlauf, die Schaukel, die Stelzen, die Spielsteine, das Freischlagen. Die Dorfjungen rennen wie verrückt hinter einem Ball her; die anderen, die unseren, wir vertreiben uns die Zeit mit Würfeln und Monopoly. 9
In der zweiten Dezemberhälfte waren wir in der Kirche, um die Novene zu hören. Eine Kälte bis in die Knochen: Es war wie unter freiem Himmel (Wind vom Land und Wind vom Meer), der Luftzug ließ die bunten Scheiben klirren, und die Säcke, die man hingehängt hatte, schlugen wie Segel an die Wand. Ein Glück, daß schon seit Allerheiligen in den Messen gesammelt wurde für diese Vorkriegsfenster mit dem Lamm und den Palmenzweigen, dem Weinstock und den Reben, dem Felsen und den sieben Bächlein, Lilien und Margeriten. Um neun Uhr in der schönen Jahreszeit ließen sie blaue und rosa Strahlen mitten im Raum zusammentreffen, und mit dem Weihrauch kam es einem, der kommuniziert hatte oder sonstwie im Stande der Gnade war, vor, als wäre er von jenen schönen Wolken umgeben, die auf Heiligenbildchen das Paradies sind. Eine Kälte! Bei der Andacht, die nicht aufhört. Und sich immer ruhig halten. Das einzige war, mit dem Weihrauchfaß herumzugehen, aber es kann sein, daß man es an einem Abend bekommt, und dann wartet man lange, kriegt es vielleicht nie wieder. Denn vor allem muß man ernst bleiben, darf nicht lachen und den Kameraden nicht ins Gesicht schauen, wenn man an die Balustrade tritt; den Arm steifhalten, die Hand wie einen Pinienzapfen: dreimal nach rechts schwenken, dreimal in die Mitte, dreimal nach links. Doch auch die Akoluthen, die je nach Andacht zwischen Kirche und Sakristei hin und her gingen, konnten vom Weihrauchkessel profitieren, und vielleicht vom Teig für die Hostien und vom Wein. Die Chorknaben, immer dieselben, die bei den Proben die Tonleiterprüfung bestanden, reine, silberhelle Stimme, die Schönheit der Seele in Augen und Kehlen: Tano Squillace war hier ganz vorne, dann kam Vittorio Seminara, vor kurzem zum Vorsitzen10
den des Marienvereins gewählt. Das ist vorbei, wenn die Brustwarzen zu Knöpfen werden, die Oberlippe sich dunkel färbt, eine neue, unkontrollierbare Stimme kommt, die den Mann nachahmen will und es nicht kann: »Das schwierigste Problem in den heißen Ländern ist die vieldiskutierte Frage der Keuschheit in der Jugendzeit.« An diesem Abend machte der Weihrauchkessel einen Riesenkrach. Ich hatte mich, als ich ein- oder zweimal an der Reihe war, arg zusammengenommen (ich soll rot geworden sein, aus welchem Grund bloß?), zu Boden geschaut und: »Hier: Alfio, Cirino und Filadelfio, o je, Alfio, Cirino und Filadelfio, armer Alfio, Cirino und Filadelfio.« Geschafft: Verneigung, Umdrehen, Kniebeuge und weg. Costa Benito, der Sohn vom ehemaligen Hausmeister der ehemaligen Gauleitung, tauchte am Nachmittag mit einem neuen grünen Hemd in der Klosterschule auf; dagegen war noch nichts zu sagen, aber er verriet sich durch seine beiden Brüder, die in einem roten und einem weißen Hemd hinter ihm standen (letzteres trug der kleine Dicke, und auf seinen Schultern erkannte man deutlich, wo das aufgestickte königliche Wappen gewesen war): Pa-papapaaa … Stillgestanden! Costa begriff den Wink und schickte die beiden nach Hause. Sie weinten fast, weil ihnen dadurch ein Gutschein im Wert von fünfzig Lire für die ganze Novene entging, einzulösen im Kino Fiat Voluntas Dei Angelo Musco am Weihnachts- oder Silvesterabend. In der Kirche beugte sich Filippo Mústica (wieder er!) aus der ersten Reihe vor, bildete mit den Händen einen Trichter und rief: Und die Fahne mit den drei Farben War stets die schönste zu aller Zeit 10
und so weiter, und Costa, der den Arm vorgestreckt, die Hand wie einen Pinienzapfen gemacht hatte, gerade mit »Hier, Alfio« anfing, wie ich es immer tat, geriet aus dem Konzept: Die goldenen Ketten blieben im Spitzenbesatz seines Ministrantenhemds hängen, und die Glut verteilte sich auf den drei Stufen des Chors. O weh, manche duckten sich unter die Bank, um loszuprusten, andere preßten sich das Taschentuch vor den Mund. Nach einem vergeblichen Versuch, die glühenden Stücke aufzusammeln, floh Costa in die Sakristei. Der Aufseher, verantwortlich für Ordnung und Disziplin, kam gelaufen und machte pst-heda-pst, mit einem Wartet-nur-ich-komme-gleich-Gesicht. Sofort war wieder Ruhe, die Aufmerksamkeit wandte sich zum Rektor, der zelebrierte, und zum Altar, über dem die Grotte aus Pappe errichtet war, verborgen hinter dem violetten Vorhang, der in der Heiligen Nacht beim Gloria in excelsis unter kräftig-frohem Glockengeläut fallen würde. Die Kirche wurde mit einem Mal dunkel, und nur die Kerzen erleuchteten den Altar. Der Harmoniumspieler trat mit voller Kraft in die Pedale, und plötzlich hörte man ein Quietschen, dann die ersten geblasenen Töne und den Wechselgesang von Sopran- und Altstimmen: »Regem venturum Dominum …« »Venite, adoremus.« »Ecce Dominus veniet, et erit in die illa lux magna …« Und das Licht kam nicht, bevor nicht ein weiterer Windstoß am Wackelkontakt rüttelte, doch die Sänger wirkten in der Dunkelheit schöner: Wo hatten diese Stimmen ihren Ursprung, im Himmel, auf der Erde, unter dem Meßgewand, dem Chormantel? »Prope est iam Dominus …« 11
»Veni, Domine, et noli tardare …« »Veni, et ostende nobis faciem tuam …« Der Gesang endete, wie ein Frosch schwoll das Harmonium wieder ab, und in der Stille war ein schwerer Schritt von Nagelschuhen zu hören, bei denen allein schon der Gedanke daran, wie sie über den Fußboden schleifen, Gänsehaut machte; er kam aus dem Dunkel hinten in der Kirche durch den Gang zwischen den Bänken nach vorne. Uuuhhh … blies der Wind, die Flammen am Altar flackerten, und das Licht war mit einem Schlag wieder da. Ein großer, magerer Soldat erschien am Fuße des Chors: Da stand er, alle Augen waren auf ihn gerichtet, aber man sah nur seinen Rücken, die Uniform mit dem breiten Koppel, das von der Taille hinunterhing. Bei der Kniebeuge duckte er sich wie ein Baum im Winter, dann kam er wieder hoch, wandte sich nach rechts, und von seinem Gesicht ging ein Funkeln aus, wegen der Brille. Er drehte sich noch weiter um und zeigte sich von vorn, doch das große rote Kreuz auf der Brust zog die Aufmerksamkeit auf sich und ließ keine Zeit für das übrige. Er kniete sich auf die Stufe des Don-BoscoSeitenaltars, schlug das Brevier auf, steckte seinen Vogelkopf ins Buch und fing an zu murmeln. Der Rektor sang laut im Kanzelton: »Praecursor pro nobis ingreditur … Ipse est Rex iustitiae, cuius generatio non habet fine-e-em.« »Deo gratia-a-as«, antworteten die Sänger. Wer war noch bei der Sache? Wir aus den ersten Bänken musterten verstohlen den Soldaten und mußten dabei die Augen verdrehen, weil der Aufseher uns im Visier hatte. Filippo sagte: »Ein Militärgeistlicher, ein Leutnant. Was sucht der hier, wo der Krieg doch zu Ende ist?« 12
Die Sänger stimmten noch ein Lied an, eine kleine, leichte und rasante Arie, die nicht gregorianisch klang, man hätte wunderbar darauf tanzen können. Und warum auch nicht? In der Sakristei, oh, wie oft, mit den Kerzenstümpfen in der Hand. Ich schloß die Augen, ein bißchen, nur ein bißchen, die Wimpern berührten sich ganz leicht, und die Sänger im Chorraum kamen singend von beiden Seiten auf die Mitte zu, um im Kreis zu tanzen, die schönen roten Soutanen und weißen Chorhemden vom Wind gebauscht, dann ließen sie sich los, wechselten die Plätze, und von neuem, bis zum Amen. Es heißt, daß die Alten tanzten, und es steht geschrieben, daß David die Gebete erfunden hat, wenn er mit der Leier in der Hand sang und tanzte. Aber die Sänger dort am Altar ließen sich genauso forttragen, wiegten die Köpfe im Takt. »In seinen Engeln und seinen Heiligen«: Der Rektor, die Akoluthen und die Sänger gingen nacheinander in die Sakristei, die Gläubigen verließen die Kirche durch die Tür ganz hinten, und wir vom Oratorium und von der Schule blieben auf unseren Plätzen, um die Abendpredigt unseres Aufsehers zu hören. Squillace, Seminara und die anderen Meßdiener hatten ihre Gewänder ausgezogen und kamen in die Bänke. Der Aufseher stieg auf die Kanzel, klammerte sich an das Geländer, wippte vor und zurück, so weit nach vorne, daß er fast runterfiel, schaute einem nach dem anderen fest in die Augen, und sein Mund war so dünn wie eine Linie im Gips: Spricht er jetzt endlich? Das erste Wort würde uns das Herz öffnen, oh, endlich! Unwürdige, Einfältige, Dummköpfe, zu lachen, wo es nichts zu lachen gab, im Gegenteil; sich in der Kirche zu benehmen wie auf dem Schulhof oder in der Aula; sich so schlecht auf die Heilige Weihnacht vorberei13
ten, schlecht. Diesen Sermon kannte man inzwischen, neu war, daß Filippo einzeln aufgerufen wurde. »Du, Mústica«, und er zeigte mit dem Finger auf ihn, »steh auf.« Filippo war keiner, der leicht aus der Ruhe geriet, langsam, ganz langsam stand er auf, als hätte man ihn aus dem Schlaf geweckt. »Und jetzt sage mir: Glaubst du, oder glaubst du nicht, daß hier drinnen unser Herrgott ist?« Was fragte der Aufseher denn da? Filippo breitete die Arme aus, senkte den Kopf und sagte: »Natürlich.« »Und warum«, donnerte der Aufseher, »bist du dann unruhig, sprichst, lachst, ha? Wenn du immer daran dächtest … Du und deine Kameraden!« Der Militärkaplan hatte das Brevier geschlossen, sich hingesetzt und hörte mit einem Lächeln auf den Lippen zu. Der Aufseher löste die Hände von der Kanzel und kreuzte die Arme vor der Brust. »Und jetzt habe ich, obwohl ihr es nicht verdient«, sagte er, »eine gute Nachricht: Zu uns gekommen ist, dieser Schule zugewiesen, ein Mitbruder, Don Sergio.« Er lächelte dem Kaplan zu. »Don Sergio ist ein Heimkehrer, ein Militärgeistlicher, der aus dem Krieg zurückkommt. Der Herrgott hat es gut mit uns gemeint, ihn gerade hierher zu schicken. Wer Don Sergio ist, brauche ich euch nicht sagen. Lernt ihn selbst kennen und lieben. Nun bitte ich ihn, ein paar Begrüßungsworte an euch zu richten.« Der Aufseher verließ die Kanzel, und der Kaplan stieg hinauf. Er begann: »Liebe Jungen …« Wie heiser er war, die Stimme belegt, wie bei einem Verkäufer am Ende vom Jahrmarkt. »Stellt euch vor …« 14
Warum spuckte er nicht? Vielleicht würde er es los. »Der Krieg …« Es heißt, in solchen Fällen hilft ein glühendes Kohlestück in einem Glas Wein und ein Bett mit einem heißen Ziegel unter den Füßen. »Im Schnee Rußlands …« Na Mahlzeit: auch noch Katarrh? Er fing an, sich zu räuspern und zu husten, der Arme, es klang, als hätte er Katzen in der Brust. »… Eure Zuneigung, euer vorbildliches Verhalten, die Frömmigkeit, das Lernen …« Ah, er war es los! Er knüllte das Taschentuch zusammen und steckte es wieder in die Tasche. »Einstweilen wünsche ich euch eine gute Nacht.« Er machte Anstalten, von der Kanzel zu steigen, hielt aber inne. Der Aufseher kam gestikulierend gelaufen, um ihm »Gelobt sei Jesus Christus« zuzuflüstern. Don Sergio: »Gelobt sei Jesus Christus.« Wir alle im Chor: »In Ewigkeit, amen.« Costa war mit der langen Löschstange in den Händen aus der Sakristei gekommen und hatte Mühe, die Kerzen am Hochaltar auszublasen, es sah aus, als wollte er Schmetterlinge fangen. Der Kerzenlöscher schwankte hin und her, und es gelang ihm nicht, das Häubchen ruhig über die Flamme zu halten. Vielleicht zitterten ihm die Hände wegen der Kälte, oder er war noch aufgeregt wegen des Zwischenfalls mit dem Weihrauchkessel. Alle gingen hinaus, geordnet und leise, in einer Reihe, Finger ins Weihwasserbecken, Kreuzzeichen, aber im langen Gang fingen sie plötzlich an zu springen und schreien, zu rennen und zu schubsen, zu schlagen und zu ohrfeigen, wie üblich. 15
Ich blieb an meinem Platz, hingekniet zum Gebet, um Don Sergio weiter zu mustern, dort andächtig in einer Ecke; und vor mir, ebenfalls kniend, Squillace und Seminara. Costa hatte Kerzen und Lichter gelöscht, bei Don Bosco, am Marienaltar und an den Kreuzwegstationen, außerdem den großen Leuchter. Im Lichtkreis des kleinen Lämpchens waren jetzt der Flügel eines Engels, ein Zipfel vom Altartuch mit goldenen Fransen und dem ebenfalls goldenen IHS, das leere Pult und die Gläschen für Wein und Wasser. Der Weihrauch hatte sich verzogen, die letzten Schwaden hingen unter der Decke und verschwanden von dort durch die offenen Fenster in die freie Dezemberluft. Was war noch zu tun? Don Sergio hatte das Dunkel verschluckt, von ihm blieb nur ein schwarzer Fleck, als hätte er schon den Rock angelegt: Es machte keinen Spaß mehr zu schauen. Ich ging, doch Squillace und Seminara blieben. Die beiden hatten eine Ausdauer! Gut möglich, daß sie fünf ganze Gesetze vom Rosenkranz beteten oder den Kreuzweg, was im Advent nicht anstand. Oder »Um einen guten Tod«. Na dann, zum Wohl! Mit mir bis zu einem gewissen Punkt, denn dann geht mir die Puste aus: Luft, Luft!
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II Don Sergio erschien in einer Kutte, die ihm zu kurz war und auch nicht neu, sondern an den Taschen ausgefranst und an Knien und Gesäß glänzend. Sicherlich hatte er sie vom Superior, der stets wie festgenagelt an einem Tisch in der Verwaltung saß und nicht einmal Zeit fand, sich zu kratzen, bei all dem Besitz, unserem Schulgeld, den Pachtabgaben, den Lieferanten und Banken. Er hatte ihm auch seine Klasse abgetreten. Und damit waren die goldenen Zeiten vorbei, wo er immer gerufen wurde, zurückkehrte, wieder ging, erneut kam, müde den schweren Kopf aufstützte: »Wo waren wir stehengeblieben?« – und aufs Geratewohl in seinem Unterricht fortfuhr: »… et complexans eos et imponens manos super illos …« Wer weiß, wie Don Sergio das Ganze anpacken würde. Sicher, an den Superior würde er nie herankommen. Der erste Tag lief ganz glatt, aber man konnte noch nichts sagen, denn sein erster Tag war der zweitletzte vor den Ferien. Einen ganzen Tag nur Erzählungen und Anekdoten, ganz anständig. Rußland und noch einmal Rußland. Vormarsch Kanonen Sturmpioniere Flammenwerfer; Rückzug Steppe Kälte Hunger. »… Sie fielen in die Knie und blieben so, als Statuen aus Eis, Denkmäler des Todes.« Rußland, o Rußland. Es war wie im Kino. Seine Worte waren Musik, mit all ihren Nicht-wahrs, den weichen Zs; er sagte zwar, er sei in der Provinz Agrigent geboren, aber wer einmal geht, dem vergeht’s eben. Gerührt, bis ihm die Tränen kamen, die er aber verbarg. Vielleicht war es der 17
Schnupfen, der, den er sich in Rußland geholt hatte; die belegte Stimme deutete darauf hin. Er trat ans Fenster, schneuzte sich aus tiefer Seele, nahm die Brille ab, fuhr sich mit dem Taschentuch über die Augen, hauchte hah-hah erst auf das eine und dann auf das andere Glas und putzte sie. Er kam lächelnd zurück, um zu zeigen, daß es nicht wahr sei – nichts ist wahr, so wahr ich lache –, aber all die stahlglänzenden Stiftzähne ließen an Geschosse denken, an Kriegsdinge, und es war zwecklos, das Lachen verschwand. Mústica, der ihn so niedergeschlagen sah, meinte: »Auch hier war Krieg.« Er sagte es laut, und wir lachten alle erleichtert. »Hier«, rief Costa und zeigte ihm die Faust, wie um zu sagen, daß sie nun quitt und in Frieden seien. »Halts Maul, du Fahnenbruder!« entgegnete ihm Filippo mit funkelnden Augen. Don Sergio fuhr in einem anderen Ton fort: »O weh, liebe Jungen, die Nachkriegszeit … Das Böse, die Korruption und das Chaos greifen um sich, mehr und mehr. Neue Propheten und Apostel neuer Lehren tauchen auf: Wir haben aber nichts zu befürchten, wir Glücklichen, wir haben die Klosterschule mit den Patres. Was heißt es schon, in einem Krieg zu siegen oder zu unterliegen? Die Nachkriegszeit zählt: Hier werden wir gewinnen, das Böse und die Nachkriegszeit werden wir überwinden. Das Geheimnis liegt in der Reinheit. Eine Losung: Lieber sterben als sündigen, Tugend, Tugend, schöne Jugend. Wir sind die neuen Menschen, mit uns beginnt die neue Welt, alles liegt bei uns: Nicht die Vergangenheit, die Zukunft ist unser, die Hoffnung schreitet mit uns. Die Glocke läutete. Squillace hielt sich ganz dicht an seiner Seite und Seminara 18
wie ein Jagdhund hinter ihm. Auf wen habt ihr’s abgesehen? Ich rupf euch die Haare einzeln aus, wenn ihr überhaupt welche habt. Ich blieb noch etwas, mit der Ausrede, das Allerheiligste zu besuchen, und traf sie an der Eingangstür, als Tano gerade ganz beiläufig und zuckersüß sagte: »Mein Vater meint, daß wir jetzt vor den Bolschewisten Angst haben müssen, er meint, daß sie vielleicht herkommen und uns regieren. Stimmt das wirklich?« »Die Steppenwölfe kommen, um ihren Durst an den Brunnen von Sankt Peter zu stillen.« Und während er diese Worte vor sich hinsang, war Don Sergio ganz versunken, hatte den Blick in eine unbestimmte Ferne gerichtet, wie die Wahrsagerin, die der Bäuerin verkündet: »In Eurem Leben gibt es mißgünstige Frauen, Ihr wollt einen Mann, und er will Euch auch, viele Kinder werdet Ihr haben und viele Krankheiten, aber ein langes Leben, Frieden und Wohlstand, fünfzig Lire.« Doch dann fing er sich und schenkte Tano ein Goldzahn-Lächeln. »Wie heißt du?« fragte er ihn. »Gaetano Squillace«, antwortete er und stellte sich ganz steif hin, fast wie beim Befehl zum Strammstehen. Ah, er hatte es geschafft. Jetzt würde er ihm sagen, daß er der Sohn des Bürgermeisters ist; der Mund wurde ihm schon wäßrig. »Gaetano«, sagte Don Sergio zu ihm, »diese Dinge sind noch zu schwierig für euch, denkt nicht daran. Geht essen, los.« Und er legte ihm eine Hand auf den Kopf und zerzauste seine Haare. »Christus regnat!« grüßte Gaetano und küßte ihm die Hand. 19
»Semper regnat!« grüßten auch wir. »In aeternitas!« entgegnete uns Don Sergio, der ganz oben auf der langen Treppe stand. Hinter der Mauer klemmte Tano die Bücher zwischen die Beine, zog einen kleinen Kamm hervor und striegelte seinen Wilhelm wieder zurecht. Don Sergio begab sich zum Refektorium. Er war noch ungeübt, in der Kutte zu gehen; breitbeinig machte er lange Schritte, als müßte er über Pfützen steigen. Er hob die Kutte bis zu den Knien hoch, und man konnte die graugrünen Wollstrümpfe und die Bundhose sehen. Die genagelten Stiefel hatte er mit leichten, leisen Gummischuhen vertauscht. Die Klasse bekam eine Sonderstellung wie ein vom Schicksal Begünstigter: Schließlich ist es doch etwas, einen Miiitärkaplan zum Lehrer zu haben, der ganz frisch aus dem Krieg kommt! Die von der ersten und zweiten Klasse, die noch hinter dem Mond waren, verstanden so etwas natürlich nicht und achteten auch nicht darauf, im Gegensatz zu den Großen, die uns Scheißer nannten und aus Neid hänselten. »Don Sergiooo …«, sagte einer mit Frauenstimme. »Oh, ooohhh …«, erwiderte ein anderer, auch wie eine Frau. »Heiliges Altarsakrament, das zahl ich ihm zurück!« schwor Costa verärgert. »Du Meisterpetzer, das macht dir wohl Spaß …«, meinte Mústica. »Brauchst gar nicht erst versuchen, mit mir zu reden …« »Wer redet denn mit dir? Ich sage nur, daß du deinem Vater 20
aufs Haar gleichst. Der hat es genauso gemacht: Was er hörte, landete prompt beim Parteisekretär. Und was bekam er dafür? Eine Fahne, um drei Hemden daraus zu machen.« »Was geht dich mein Hemd an? Kümmer dich lieber um das Zeug, das die Amerikaner deiner Schwester gebracht haben!« »Arschloch, Scheißkerl! …« – und Tritte und fünf Hiebe! »Auseinander mit ihnen, auseinander mit ihnen!« »Die Frauen bei uns zu Hause haben nichts damit zu tun«, schrie Mústica, »Das Zeug? Das haben sie meinem Vater gebracht, du Stinksack, der war nämlich gegen die Faschisten, und nach Lipari hat ihn der Parteisekretär geschickt, weil dein Vater so gehetzt hat.« Hier griff Seminara ein, mit seiner Engelsmiene und den Augenlidern, die immer zuckten, weil er doch einen Tic hatte: »Jesus, hört auf. Ist es denn möglich, daß ihr beiden immer wie der Teufel und das Weihwasser sein müßt? Los, gebt euch einen Kuß, und alles ist wieder gut.« Wie lieb Seminara doch war. »Fang du nicht auch noch an … Du bist der mit dem Pfand, das hab ich mir wohl gemerkt«, erwiderte ihm Mústica. Seminara war zumute, als hätte man ihm den Boden weggezogen: Er fuhr mit dem Kopf hoch und konnte sein Zwinkern gar nicht mehr bremsen. »Tano?« rief er. »Komm, wir gehen!« Und sie zogen ab wie die Triebwagen, Costa humpelnd hinterher. Klar, daß sie jetzt auch auf uns einen Zorn hatten, bloß weil wir bei Filippo geblieben waren. 21
»Der hat nur noch Jesus, die Madonna und Italienisch im Kopf. Puh, sich für diesen Scheißdreck so zu verrenken!« Mústica spielte auf das áccipe an, aber daran war Seminara gar nicht so sehr schuld. Mußte man in den Pausen nicht italienisch sprechen? Also gib dir Mühe. Nein. Dickschädel, der er war, sagte er mu, wenn er ma sagen sollte. An diesem Morgen mußte Seminara unserer Gruppe das Pfand weitergeben, er strich um uns herum wie ein böser Schatten, und als Filí die Anordnung, italienisch zu sprechen, mißachtete und Dialekt sprach, schrie er jubelnd »ácippe, áccipe« und warf ihm das Pfand zu, woraufhin Mústica sich umdrehte und »áccipe, hier!« rief. Man konnte bis zum Läuten ruhig ein Pfand kriegen und auch noch ein zweites, aber wegen seiner Antwort wurde die Sache dem Aufseher gemeldet, und er bekam obendrein noch einen ganzen Tag Nachsitzen, wo er sich den Kopf über die Verben zerbrechen mußte. Und hat er es sich jetzt abgewöhnt, das Laster, natürlich zu sprechen? Von wegen, wer weiß, wie viele áccipe es dafür brauchte. Und, so meinte der Aufseher, das Wunder war, daß Mústica gute Aufsätze schrieb, ohne falschen Satzbau und durchdacht, aber was das Italienisch-Sprechen betraf, ach komm, wie sollte man das schaffen? »Ich habe mich schon mit Büchern herumgeschlagen, als ich noch ins Bett machte«, erzählte mir Filí vertraulich. »Auch mit denen, die mein Vater im Backofen versteckt hat, bevor er auf die Insel gebracht wurde, damals das reinste Chinesisch, aber ich hab mich angestrengt, damit ich dem Parteisekretär eins auswischen konnte.« Die Großen, die alles ausgelöst hatten, waren inzwischen wieder zu uns gestoßen. 22
»Was war los, was war los?« fingen sie von vorne an. »Habt ihr euch wegen Don Sergio gezankt?« »Nein, wegen deiner Schwester!« antwortete Mústica, und wenn ich ihn nicht weggezogen hätte, hätte er eine Kopfnuß abgekriegt. »Willst wohl betteln gehen?« sagte ein anderer und rieb sich mit dem Finger unter der Nase. »Geh schon, los. So wie’s steht, zankst du dich heut noch mit dem ganzen Ort«, und ich schob ihn vor mir her. »Pff, pff …« Wenn er sich nicht austoben konnte, schnaufte Filí immer wie eine Dampflokomotive, wobei seine Nase sich dehnte und zusammenzog. Die Palmen auf dem Schloßplatz waren gestutzt worden, jetzt waren sie sauber und glatt, wie Säulen, obenauf das Kapitell, die Fontäne und die Kaskade der Wedel; sie sahen aus wie Brunnen; die abgeschlagenen Äste machten die Jungen zu ihren Pferden, hopp – hopp, und sie schossen sich Pfeile zu. Die Pferde wurden zu Standarten, die Waffen zu Fanfaren und Trompeten, Marsch Nummer soundsoviel, eins, zwei, drei, Angriff! Die Rathaussirene heulte wie eine abgestochene Sau, die Bande machte bei ihrem Marsch halt, die Trompeten und Fahnen wurden gesenkt, während alle zum Himmel aufblickten: O diese Dummköpfe! Der Frieden wollte nicht in ihre Schädel. Da mußten die Glocken der Pfarrkirche läuten, damit sie begriffen, daß es nur Mittag war. Die Ritter der Palmen bestiegen wieder ihre Pferde und galoppierten mit Indianergeheul die Treppen neben dem Kerker zum Hafen hinunter. Der Platzmeister folgte ihnen und vertrieb die Staubwolke mit den Händen. Ein bunter Haufen hatte sich beim Vorbeikommen der kriegerischen Schar hinter dem Denkmal versteckt (denn die waren imstande, mit den Schwänzen ihrer Pferde die 23
Röcke zu lupfen). Jetzt kam der Haufen wieder zum Vorschein und löste sich in Grüppchen auf: Zu viert oder fünft hängte man sich ein. Und da waren sie, aber wer scherte sich darum? Die Großen schon, sie waren vorausgelaufen. Wenn überhaupt, dann trafen wir immer an der gleichen Stelle aufeinander: Zwischen Nonnen und Pfarrern, außerhalb des Zitronengartens, ist der Weg lang; aber drinnen mochten es auf einer geraden Allee mit rosa und weißem Oleander nur gut zweihundert Meter sein. Auf dieser blieben die Mädchen, fest eingehakt, damit sie nicht geraubt würden. Zwecklos, um sie herumzustreichen und irgendwas zu flüstern, um als witzig zu gelten: dabei kam nichts heraus. Diese Großen, bloß weil sie ein paar schwarze Tüpfelchen im Gesicht und lange Hosen hatten, taten in ihrem Geschwätz so, als ob sie es schon gemacht hätten, und wie oft! »Mit der Hand. Und einem Loch in der Matratze«, sagte Filippo, »ich wette, die wissen gar nicht, wo es eigentlich ist.« Alle waren sie in Meri verliebt: Meri, Meri und noch einmal Meri. Aber ihr waren sie völlig egal. Meri Campisi war ganz schön neckisch, die war anders, Mensch!, eine heiße Stute, frisch gewagt, ist halb gewonnen, nur nichts anbrennen lassen, jetzt war sie noch da, aber bald nicht mehr, denn sie war amerikanische Staatsbürgerin, und nach dem Abitur sollte sie mit der Mutter nach Cleveland, Ohio, zum Vater ziehen und hatte schon alle Papiere. Wer sollte es außer ihrem Cousin, der ihr gleichgültig war, schon ausplaudern? Die Nonnen müssen auch den Mund halten. »Wer kriegt sie denn, wer kriegt sie denn?« fragten sich die Großen jeden Tag. Und ich, der immer von ihr reden hörte, stellte sie mir als meine erste vor, allerdings ohne ihre blöde Schnute. 24
Die Signora empfing mich bereits an der Eingangstür. »Mein Junge, wir können dich nicht länger hierbehalten. Ich hab Töchter, die schon erwachsen sind, es tut mir leid, mein Junge.« War es nötig, so bekümmert zu sein? Na gut, sie zahlten dabei drauf. Jetzt müssen sie erstmal wieder so einen wie den Onkel finden, der jedesmal aus dem Ort so viel mitbrachte, daß sie alle davon essen konnten. Diese Entschuldigung mit den erwachsenen Töchtern … Waren sie nicht immer schon alt genug gewesen? Jetzt merkte sie es wohl. Im Zimmer fand ich das Bett mit den bloßen Brettern vor, die Matratze aufgerollt, ein zusammengefaltetes Leintuch lag auf dem Tischchen: Ich erinnerte mich gar nicht mehr daran. Wie sorgfältig sie es bestickt hatten. Wenn man schläft, schläft man. Es heißt, da ist nichts Schlimmes dabei, keine Sünde, auch keine läßliche Sünde, wie wenn dir ein Körnchen ins Auge kommt und es zum Tränen bringt. »Das Essen ist fertig.« Nudeln mit Knoblauch und Öl und Brot mit Weichkäse. Denkt sie eigentlich, ich sei krank, daß ich ein Abführmittel genommen hätte? »Hin und wieder frische Sachen zu essen ist gesund.« »Mmh.« »Es tut mir leid, mein Junge, was soll ich tun?« »Mmh.« »Schreib es deinem Onkel.« Sie hätte ruhig damit aufhören können, sich am Kopf zu kratzen, während ich aß, und zwischen ihren Riesenbusen zu schauen und die Hand reinzustecken, um irgendwas zu suchen. Zwei Zinnsoldaten-Helme hätte ich dafür herge25
geben, damit sie aufhörte, an sich herumzuwühlen und dann mein Brot, den Käse und den Teller anzufassen. »Was ist, willst du nicht mehr? Gib her, dann spüle ich die Teller. Mietze, Mietze, Miiietz … Hier, Mietzchen, hier.« Hau doch ab, Mietze, bist genau wie die Tochter, hast denselben Geruch, das ganze Haus hat denselben Geruch. Friß, süßes Kätzchen, damit du dich vergiftest! Dann hörst du endlich auf, unters Bett zu kacken und Eidechsen ins Klo zu tragen. Obwohl ich das Haus überhaupt nicht liebgewonnen hatte, war ich wütend und traurig und fühlte mich vor die Tür gesetzt, fortgejagt, plötzlich ohne Dach und ohne Bett in diesem großen Ort, ohne Familie. An sowas denkt man nicht, genausowenig wie an die Arme oder Beine, bis man sie einem abnimmt. Der Katze hätte ich am liebsten noch die Gurgel zugedrückt, bevor ich ging. Die Katze. Wer war sie wohl?
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III Tano Squillace starb der Vater. Es war ein Schlaganfall, der zweite. Den ersten hatte er vor einiger Zeit gehabt, danach waren ein Arm und ein Bein gelähmt geblieben und ein Auge halb geschlossen. Der Advokat Squillace war Bürgermeister gewesen, doch seit der Landung der Amerikaner war er in sich zusammengesunken und hatte das Haus nicht mehr verlassen. Mústica verjagte aus dem Eingang die Jungen, die Kleckse und Kritzeleien auf die Kondolenzliste machten. Einer der Burschen hatte mit Sara Mavazza unterschrieben, das war eine, bei der früher die Deutschen hinter der Tür angestanden hatten und später die Amerikaner. Filippo strich Sara durch und schrieb dafür seinen Namen und den von seinem Vater hin, schön groß in Druckbuchstaben, damit es alle lesen konnten, denn es sollte bedeuten, daß sein Vater alles vergessen hatte. Er gab mir den Federhalter: Wozu sollte ich als Fremder unterschreiben, wer kannte mich schon? Das Zimmer mit dem Toten war voller Menschen. Tano stand nahe bei der Bahre neben seiner Mutter, seiner Großmutter und Seminara. Als er uns sah, gingen wir zu ihm hin, um ihm die Hand zu geben, und stellten uns dahinter. Seminara sah aus, als wäre ihm selbst der Vater gestorben, er würdigte uns keines Blickes und machte sich wichtig. Die Großmutter von Tano hatte einen Berg schneeweißer zerraufter Haare, aufgetürmt wie Zuckerwatte, und statt ihr Tuch auf dem Kopf zu lassen, war sie die ganze Zeit damit beschäftigt, es auf den Knien zusammen- und wieder auseinanderzufalten. 27
Den Advokaten hatte ich nie gesehen, schwer zu sagen, ob er Ähnlichkeit mit Tano hatte. Jetzt, so entstellt, wie er war, konnte man das nicht mehr erkennen. Die Großmutter war aufgestanden und sagte: »Sohn, Sohn, mein Herzblatt, schlaf, schlaf: Oh-oh, oh-oh, der Sohn schläft und seine Mutter nicht … Pst! Still, alle miteinander!« Und sie streichelte sein Gesicht unter dem Schleier. Dann sagte sie: »Er ist Cavaliere!« – und schaute alle in der Runde herausfordernd an. Ihre Schwiegertochter zog sie am Rock, damit sie sich wieder hinsetzte. Und mir schien, daß Tano lächelte, was weiß ich, die Alte war ja sonderbar genug. »Der Tod nimmt sich, wen er will!« flüsterte eine hinter mir. »Wenn er sich die Herrin statt des Advokaten geholt hätte, wäre das denn ein Unrecht gewesen?« Als der Polizeimeister mit seiner Frau kam, fuhr die Alte hoch und fing an, sich die Haare zu raufen: »Sie war es, Wachtmeister, diese scheinheilige Person! Er wollte keine Medizin, aber sie hat ihm Blutegel gesetzt, neulich nachts.« Wer konnte sie noch zurückhalten? »Sie war es! Vor Wut hat er wieder einen Schlaganfall bekommen: Das Bett ist voller Blut und Blutegel, kommen Sie schauen, kommen Sie schauen! Meine Schwiegertochter ist die Mörderin!« Man beruhigte sie, brachte sie hinaus, und Tano weinte laut mit seiner Mutter. Die Besucher kamen und gingen, auch Seminara nahm die Beileidsbekundungen und Küsse entgegen, weil er irrtüm28
lich ebenfalls für einen Sohn des Verstorbenen gehalten wurde. »Weiß es Don Sergio?« fragte uns Seminara, ohne sich richtig umzudrehen. »Ich gehe es ihm sagen.« Und Mústica lief hinaus, weil er immer sofort machte, was er sagte. Die alte Hexe kam zurück und sah aus wie verkleidet: der Strohhut mit der Rose, das Gesicht weiß gepudert, das helle Schultertuch, der Koffer. »Ich fahre nach Rom und spreche mit dem Duce«, verkündete sie. »Ich erzähle ihm alles haarklein.« Es gab ein allgemeines Gelächter. Tano verbarg sein Gesicht in den Händen und fing an zu zucken, Seminara lächelte nur ein wenig, die Witwe hielt sich das Tuch vor den Mund. »Kein Tod ohne Lachen, keine Hochzeit ohne Weinen«, sagte hinter mir dieselbe wie vorhin. Die Alte sperrten sie diesmal in die Kammer, mit einer Frau, die sie bewachte. Tano, ganz damit beschäftigt, sein Lachen zurückzuhalten, hatte nicht bemerkt, daß Don Sergio hereingekommen war. Als Seminara ihn mit dem Ellbogen anstieß, stand er schnell auf und warf sich Don Sergio in die Arme. Seine Schultern bebten, und man wußte nicht, ob er noch lachte oder ob er weinte. Doch er weinte und weinte, denn als Don Sergio ihn von sich löste, waren seine Wangen feucht, und die Tränen standen ihm noch in den Augen. Wir gingen alle ins Wohnzimmer, Don Sergio und die Kameraden von Squillace. Auf der Kommode stand Essen wie für ein Gelage: Marsala und Tabletts mit Keksen, Kuchen und Körbchen voller Eier. »Hast du etwas gegessen?« fragte Don Sergio Tano. 29
»Nichts!« antwortete Seminara. »Schlecht. Schlag ihm ein Ei ins Glas.« Seminara füllte ein Glas zur Hälfte mit Marsala, schlug ein Ei hinein, und Tano wehrte ab, doch als man ein wenig nachhalf, schluckte er es mit einem Zug herunter und machte eine Grimasse, als würde ihm schlecht. Dann nahm er süße Stückchen, die mit Kirschen und Kaffeebohnen, Noch ein Glas: Tano wurde rot, zwei leuchtende Flecken auf den Wangen. Im Totenzimmer krachte es laut, man schrie und weinte, nichts wie fort. Zwei Frauen stürzten wie Furien ins Wohnzimmer, durchwühlten die Kommode, zogen aus den Schubladen Lappen und phenolgetränkte Watte: Es hieß, der Advokat sei geplatzt. Ich hatte schon davon gehört, daß Tote platzen können, und an einen großen Knall geglaubt, mit blutigen Spritzern an Wänden und Decke. Doch ich bemerkte nur den Gestank, der durch die Tür drang, ein nie zuvor gerochener Gestank, schwer und fett, den ich mir gelb vorstellte. Tano hatte gerade ein Stück Kuchen im Mund und spuckte es aus, er wurde weiß, als hätte man die Lämpchen in seinem Gesicht ausgeknipst. Don Sergio hielt ihn am Arm fest und hinderte ihn daran hinüberzulaufen. Man öffnete die Balkontüren und die Fenster, rief nach Tischler und Verzinker. Bei uns kam sogar ein Mädchen mit einer Flit-Pumpe vorbei und versprühte ein Parfüm mit Rosenduft. Nachdem sich dieser ganze Aufruhr gelegt hatte, schlug Don Sergio sich zweimal auf die Knie, sagte »Oremus« und erhob sich. Wir taten es ihm nach. Doch wir waren nicht einmal beim zweiten Gesetz vom Rosenkranz, als die Totenglocke schon zum letztenmal läutete und der Leichen30
wagen mit den aufs Pflaster stampfenden Pferden vor den Eingang gefahren kam. Don Sergio und Seminara führten Tano zu seiner Mutter. »Wir bleiben allein zurück, er hat uns allein gelassen. O weh, was für ein großes Unglück in diesem Haus!« Und die Witwe schlug sich an die Stirn und schüttelte den Kopf. »Schon gut, schon gut, meine Liebe«, trösteten die Frauen sie. »Man muß sich schicken.« Vor dem Gittertor hielten vier Burschen die Brennschalen an den Griffen; kaum sahen sie uns kommen, träufelten sie den Zypressenhonig ins Feuer, und dicker Rauch stieg auf. Doch es war nicht alles Gold, was glänzte: Bestimmt hatten sie Lumpen und irgendwelches Papier dazwischengetan, denn es gab zuviel Rauch, und der Geruch war nicht besonders gut. Die Burschen wußten auch, daß der tote Advokat Ländereien besaß, und wollten die Sache ein bißchen in die Länge ziehen. In der Kapelle FAMILIE SQUILLACE, Alpha bis Omega, sang der Erzpriester im schwarzen Meßgewand das Dies irae und schwenkte ein letztes Mal mit dem Weihwedel. Vom Friedhofshügel aus lag uns der Ort zu Füßen: das Gewirr der Gassen und der klare Spalt der Hauptstraße, die winzigen Häuschen und die großen Häuser der Bürger, das Rathaus, die Pfarrkirche, die Klosterschulen, die verrußten Schuppen am Bahnhof. Die Flüsse Inganno und Furiano, mit ihrem breiten Bett und einer Wasserzunge, umschlossen das Dorf von zwei Seiten, an der dritten war es vom Meer begrenzt. Wie eine Insel. Die Gleise liefen zwischen Schilf und Rizinus am Ufer entlang: War der Vier-Uhr-Zug schon vorbei oder nicht? (Einer, der Fischer Elia, war einst zur 31
Hochzeit seiner früheren Braut gegangen, hatte dann auf den Vier-Uhr-Zug gewartet, mit dem Hochzeitskonfekt ADDIO auf die Böschung geschrieben und sich mit dem Gesicht nach oben auf die Schienen gelegt.) Es heißt, auf dem Festland fahren die Züge ohne Rauch, aber wie soll das denn gehen, ohne Rauch? Alles mit Elektrizität. Das paßt doch nicht, wie ein Mann ohne Bart. Ich will es eines Tages sehen, das Festland: Rom, den Papst, das Parlament; Mailand, Mussolini aufgeknüpft; Turin, das Haus mit dem Ordensgeneral. Von dort schien mein Dorf näher, man berührte es fast mit der Hand, oben auf dem Berg, dem Kopf vom schlafend hingekauerten Löwen. Nun gut, es ist ein Dorf, das so alt wie die Welt ist, wir sprechen so, daß uns keiner versteht, doch jeder hat seine Sprache, und wenn die Gebildeten sprechen, klingt es immer, als kämen sie aus dem Norden. Don Sergio fragte mich eines Tages, als ich die Lektion aufsagte: »Sag mal, kommst du etwa aus dem Norden?« Das Gelächter von diesen Dummköpfen trieb mir die Röte ins Gesicht. Ich sagte ihm, daß ich ein Zangle sei, daß ich eine besondere Sprache hätte. Don Sergio war neugierig und kam darauf, daß das Wort von einer französischen Kolonie kommen könnte, Zangle eine Verstümmelung von Lesangle, womit aber nicht die Engländer, sondern die Normannen gemeint wären. Aber ich bin auch kein Zangle, keiner von den Bürgern, die ins Casino gehen, diesen Bohnenstangen mit bleichen Gesichtern; Zarabuino bin ich, wenn er es unbedingt wissen will. »Zarabuini, das sind die Araber«, sagte Don Sergio. »Araber und Normannen: Zwei Rassen, zwei deutlich unterschiedliche Klassen, letztere setzte sich gegen die erste 32
durch, und es kam zu diesem klaren Bruch, der bis heute andauert. Wie heißt das hier?« »Das Brot?« »Pen.« »Die Mutter?« »Mer.« »Die Arbeit?« »Travai.« Er hörte gar nicht mehr auf. »Seht ihr, seht ihr! Warum soll man sich da schämen? Es ist Geschichte, Geschichte.« Ausgerechnet mit mir mußte er jetzt Geschichte machen. Ob Franzose oder nicht, das blieb sich gleich: In diesem Ort und überall in der Umgebung verstanden sie nur Teufel, wenn sie Zangle oder Zarabuino hörten: Wir hatten alle schlimmen Laster, wenn Mussolini es nicht geschafft hatte, dann schaffte es keiner, uns zu Christenmenschen zu machen. Vom ersten Jahr an war ich schon so oft wegen dieser Geschichte wütend geworden. Wenn der Onkel mich besuchen kam, konnte ich es kaum abwarten, daß er wieder ging: Es war ihm nicht in den Kopf gegangen, daß Samtrock, Kappe und Ohrring hier auffielen. Einer, der mich nie Zangle genannt hatte, war Mústica. Er sagte, daß jeder der Sohn seines Vaters ist, und sonst nichts, daß wir alle aus dem gleichen Stall kommen und jeder sich so gut fühlen soll, wie er kann. Und Don Barrajo, der mir geraten hatte: »Wenn sie dich Zangle nennen, antworte mit Schimpfwörtern in deiner Sprache.« Don Barrajo war ein netter Kerl, vielleicht einundzwanzig, wirkte aber wie einer von uns Jungen. Er hatte mich gleich vom ersten Tag an gern, als ich in der Klosterschule auftauchte, so voller Angst, daß ich ohne ihn sofort wieder 33
ins Dorf zurück wäre – und zum Teufel mit der Schule und Onkel Peppes Idee vom Zoll. Schade, daß sie Don Barrajo vor kurzem in die Klosterschule in Randisi versetzt hatten. Mir tat es wirklich leid, an dem Nachmittag, als er abfuhr. Und er selbst kam mir auch nicht besonders glücklich vor. Er hatte zwei Koffer, und den leichten trug ich für ihn. Die Hände auf dem Rücken, stocherte er mit der Schuhspitze im Boden herum und murmelte dabei etwas über die Versetzungen jedes Jahr, nicht einmal die Möglichkeit, sich umzusehen, die jungen und die Leute aus dem Dorf kennenzulernen. Und dann wurde er still, und der Zug kam nicht. Ich war seit der Zeit, als ich mit dem Bus herumfuhr, nicht mehr am Bahnhof gewesen: Es gab immer noch die winzige Palme, die so vertrocknet aussah, den Brunnen ohne Wasser, die zu einem Rechteck gestapelten Schwellen, den Güterwagen auf dem Abstellgleis. Dann stand Don Barrajo am Zugfenster und sagte: »Besuch mich doch einmal, wenn dein Onkel immer durch Randisi kommt. Dort ist der Ätna, und aus dem steigt schwarzer Rauch wie aus einem Kalkofen. Wie bei dem Zug hier …« Und lächelnd vertrieb er mit der Hand den Rauch vor seinem Gesicht, während der Zug sich in Bewegung setzte. Über dem Madonie-Gebirge war eine dicke Wolke zu schwarzen Häufchen aufgebrochen, die aussahen wie Schafe, und eine davon hatte sich vor die Sonne geschoben, die deshalb über den ganzen Himmel lange, vereinzelte Strahlen aussandte, so greifbar, als wären sie aus Messing wie die der Monstranz auf dem Altar. Das Land leuchtete noch grün von Moos und Sauergras. Auf dem Hügel wehte ein Nordwind, so kalt, daß einem die Augen tränten. Wir waren schon mitten im Winter, nichts zu machen, es war 34
schon Weihnachten. Und der Tag war zu kurz: Wintertage, die mit einem Schlag dunkel werden. Don Sergio trieb uns zur Eile an, auf-auf, schnell, die Messe hat angefangen, hört ihr die Glocken? Filippo zupfte mich an der Jacke und gab mir Zeichen zurückzubleiben. »Verdrücken wir uns, los, der merkt es nicht, so gut kennt er uns noch nicht.« Alle Feldwege wußte er, um ein Haar hätten wir mit den Zähnen von einem Hund Bekanntschaft gemacht. Wir kamen zu einem Haus zwischen Olivenbäumen, und Filippo klopfte laut. Eine Frau öffnete uns. »Wer ist da?« fragte sie. »Ich bin’s«, sagte Filí. »Ach du. Tu mir einen Gefallen, ich habe keinen einzigen Tropfen mehr …« Sie langte hinter die Tür und hielt ihm einen großen Krug hin. Wir gingen zum Brunnen, und Filippo wollte nicht, daß ich ihm half, behauptete, es alleine zu schaffen, aber er ging krumm und schnaufte, den Krug auf die Hüfte gestützt. »Wenn du willst, komm mit rein. Aber bleib hinter der Tür, und keinen Mucks«, sagte Filí zu mir. »Stell ihn hin, stell ihn dahin«, sagte die Frau. »Mach Licht, wenn es dunkel ist.« Filippo rieb ein Schwefelhölzchen über den Steinboden, hielt es an die Lampe, und der Gestank nach Petroleum verbreitete sich im Zimmer. Es war alles sauber hier drinnen, ordentlich: die weißen Wände und die himmelblaue Fußleiste, Balken und Schilfrohr an der Decke ebenfalls geweißt; das Bett an der richtigen Stelle und hoch, der kleine Herd unter dem Fenster, die Töpfe und die Pfanne an Nägeln aufgehängt, wie auch Knoblauchknollen, Lorbeer und der Fächer. 35
Die Frau ging zu dem kleinen Tisch in der Mitte vom Zimmer, schob einen Krug weg, schlug das Tischtuch auf eine Seite und kippte ein Sieb voll Kichererbsen auf die Holzplatte. »Komm, bring die Lampe mit und hilf mir, die Kichererbsen auszulesen.« Filippo, mit der Lampe in der Hand, schaute zu mir herüber, nickte mir zu und setzte sich mit ihr an den Tisch, Die Frau war flink beim Lesen, ließ die Kichererbsen durch die Finger gleiten, sonderte aus, wie es Hühner tun, wenn sie Körner aufpicken, fand die Steinchen und warf sie über die Schulter in Richtung Tür. Doch sie schaute nicht auf den Tisch, sie schaute darüber hinweg, die Augen starr nach oben gerichtet, wie schon zuvor, als sie an die Tür gekommen war und mit Filí gesprochen hatte. »Rechne mal was für mich aus«, sagte sie irgendwann. »Dreieinhalb Kilo mal vierzig, weniger fünfundzwanzig, was bleibt da übrig?« Ich machte die Rechnung sofort und schrieb das Ergebnis mit einem Steinchen auf den Krug. »Hundertfünfundzwanzig?« probierte Filí nach einer Weile. »Nie. Hundertfünfzehn muß herauskommen.« Filippo schaute mich an, und ich nickte ihm bestätigend zu. »Richtig«, sagte Filí. Die Frau schob mit einem Arm die Kichererbsen vom Tisch ins Sieb und stellte es auf den Herd. Sie band sich die Schürze los, putzte sich dann die Hände ab, nahm auch das Tuch vom Kopf. Sie war blond, mit einem Zopf, den sie über der Stirn festgesteckt hatte; und ich glaube, sie hatte helle Augen, sehr helle. 36
Sie ging zu Filippo zurück, hinter sich den langen Schatten von der Lampe auf dem Tisch, und legte ihm die Hände auf die Schultern. »Bringst du mir morgen einen Sack mit trockenem Sand vom Strand? Ich muß diese Kichererbsen kochen, für Weihnachen.« Sie legte ihm die Hände auf den Kopf, und Filippo drehte sich zu ihr hin. »Und du mußt mir noch einmal den Brief von Nino vorlesen, ich vergesse ihn immer …« Sie streichelte mit den Fingern über Filippos Gesicht, sanft, über Stirn, Ohren und Mund bis zum Hals. Filippo umfaßte ihre schlanke Taille und legte seinen Kopf an ihre Brust. Dann stand er auf, schloß sie fest in beide Arme und drückte sie gegen den Tisch. Die Lampe schwankte und wäre fast umgefallen, wenn Filippo sie nicht schnell gepackt hätte. »Mach sie aus«, sagte die Frau. Filippo blies oben in das Glasröhrchen, und es wurde stockdunkel im Zimmer. Doch dann fiel durch das Fenster ein breiter Streifen Mondlicht auf den Herd und den Steinboden. Die beiden standen immer noch am Tisch, und die Frau sagte: »Nino, Nino …« Dann gingen sie auf die dunkle Seite, wo das Bett stand. Nachdem der Mond durch das Zimmer gewandert war, verschwand er, jenseits des Fensters, hinter der Hausekke. Ich hielt es nicht mehr aus, wie festgenagelt an der Tür zu stehen, der Krug war beschlagen, und mein Bein wurde naß; ich duckte mich vorsichtig, schob dabei den Türriegel 37
hinunter, der einen Lärm wie das Miauen einer Katze machte. »Wer ist da?« rief die Frau. »Niemand«, sagte Filí. »Wieso – niemand?« »Das war der Wind.« »Ja, der Wind … Geh jetzt, geh und komm morgen wieder.« Filippo öffnete die Tür, packte mich am Arm, und wir waren draußen. »Filí …« »Pst! Sei still. Verdammt, wenn man sich mit kleinen Kindern abgibt. Wenn die drinnen was gemerkt hätte, dann …« »Aber ich …« Bleib doch stehen, du gemeiner Kerl! Er rannte weiter, ich war ihm ganz egal. »Filí, erzähl doch!« »Uh, hör auf zu drängeln …« Er kam mir wie ein anderer vor, innerhalb von einer halben Stunde war er wie die Großen geworden: Hau doch ab, Filippo, kannst mich am Arsch lecken! Als wir aus dem Olivenhain herauskamen, standen wir auf einer bis an den Rand vom Mond beschienenen Lichtung. Es war ein Dreschplatz, wie eine Terrasse, dahinter schwarze Finsternis, bis zum Dorf unter unseren Augen, mit den in der Tiefe versunkenen flackernden Lichtern von Häusern und Straßen. »Wenn ich von hier springe«, sagte Filippo, »lande ich rittlings auf dem Denkmal.« »Laß uns was anderes tun, wird schon einer den Schirm aufmachen.« 38
»Das kannst du in deinem eigenen Dorf machen!« »Das liegt zu hoch, da müßte man bis in den Himmel steigen.« »Dann los, dreh dich um, oder du fängst eine!« Ich war zuerst fertig und verpaßte ihm einen von der Seite: Filippo schwankte und machte sich die Schuhe naß. Gott sei Dank mußte er lachen und lief hinter mir her, um mir’s heimzuzahlen: Er war wieder normal geworden. Vor uns lag das Meer, so hoch wie unsere Augen, mit der Lichterreihe der Boote, die bei leichtem Seegang auf den Wellen schaukelten. Sie sahen aus wie Laternen, die an einem Seil hängen und im Wind schwanken. Morgen würde es Sardinen geben, doch die Signora wartete, bis sie stanken, bevor sie welche kaufte. Der Lichtstrahl vom Leuchtturm in Cefalú blitzte auf, kreuzte den Mond, schnitt hinein, wie ein Messer in ein rundes Brot: Vielleicht fielen Mondkrumen auf das Meer und wurden von einem Boot herausgefischt. Morgen beim Fischhändler gibt es dann Mondkrumen, zweihundert Lire das Kilo, doppelt so teuer wie Sardinen, das Besondere kostet eben was. Lauft, Frauen, lauft, bevor sie schmelzen. »Sie ist blind«, sagte Filí und kam so auf die Frau zurück. »Ich kenne sie über Nino, einen Arbeiter, der nach Argentinien gegangen ist; aber ich habe sagen müssen, daß ich sein Bruder bin und zwanzig Jahre alt.« »Und wegen dem Bart sagt sie nichts?« »Sie sagt, daß ihr Gesichter, die rauh sind wie Schmirgelpapier, nicht gefallen. Außerdem, was glaubst du eigentlich? Ich rasiere mir den Schnurrbart und die Koteletten.« »Wie alt bist du denn?« »Ach, ich bin fünfzehn geworden und bald sechzehn.« 39
»Ich dachte dreizehn … vierzehn … Filí, wie ist sie denn?« »Was?« »Die Blinde.« »Hab sie nie gesehen, die läßt sich nicht anschauen, interessiert mich auch nicht.« »Filí, und … wie ist es?« »Kann man nicht sagen, bei jedem anders … Aber meinst du, sie stecken dich ins Gefängnis, wenn du nicht bis fünfzehn wartest?« Ein Köter schlich sich auf den Platz – einer von diesen Hunden auf dem Land, die aussehen, als hätten sie gerade die sieben mageren Jahre hinter sich gebracht, so traurig und klapperdürr sind sie. Mitten im Mondlicht blieb er stehen und witterte unseren Geruch in der Luft. »Wieviel krieg ich für ’nen toten Hund?« sagte ich und bückte mich nach einem Stein. »Nichts, verdammt!« – und mit einem Sprung packte er mich am Handgelenk, während der Hund das Durcheinander nutzte und im Dunkel verschwand. Filippo konnte man an diesem Abend nichts recht machen, ich weiß nicht, warum. »He, du Oberhäuptling, heute abend bestimmst wohl immer du?« »Bestimmen oder nicht, wenn du mit mir zusammenbleiben willst, mußt du das mit dem Pissen und den Hunden sein lassen …« Er setzte sich hin, legte die Arme um die Knie und stützte das Kinn darauf, wie immer, wenn er seinen Gedanken nachhing. Er kramte in seinen Taschen, holte eine Zigarette heraus und zündete sie an. In der Mitte gab er sie mir, ohne mich anzusehen. 40
»Nächstens«, sagte er, als er aufstand, »rauch ich einfach mitten auf dem Hof.« Am Strand hatten die Frauen Feuer angezündet und bliesen mit aller Kraft in die Muschelhörner: scheinbar drohte Schlechtwetter, und sie riefen die Boote zurück. Es waren die Alten hinter Fenstern und Türen, die das Wetter beobachteten und es verstanden wie das Gesicht eines Menschen; sie waren es, die die Anweisungen gaben. Und wirklich, über den Inseln spaltete sich der Himmel schon unter den Blitzen.
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IV Der Onkel war Händler. Ein Mann wie ein Fels, überall geachtet und durch seine Art mit jedermann gut Freund. Er belieferte die Schankstuben mit Wein; hier gingen abends die Männer hin, die geschuftet hatten, und blieben bis Mitternacht. Der Onkel war nicht so alt, doch weil er diese Arbeit bereits als Junge gemacht hatte, kam er schon in einer Redensart vor. »Der Schlag soll Don Peppe treffen!« riefen sie, wenn der Wein nicht schmeckte. Aber das war nur eine Gewohnheit, wie die Anrufung der Heiligen. Und nicht nur beim Wein, auch wenn sie sich bei der Arbeit in den Fuß hackten oder mit der Sichel in die Finger schnitten, riefen sie: »Der Schlag soll Don Peppe treffen!« Soweit, um zu zeigen, wie bekannt und beliebt er war. Der Fremde, der diesen Spruch nachsagte, dachte vielleicht, Don Peppe hätte anno dazumal gelebt. Geheiratet hatte er nie, er hatte eine Liebschaft mit einer, aber ohne Kinder; nach dem Tod meines Vaters war deshalb ich sein Kind. Als ich Waise geworden war und er sich vorgenommen hatte, mich zu behalten, wollte er meine Zuneigung auf die Probe stellen. Es war ein sehr heißer Tag im August, und er kam vom Land, in Schweiß gebadet. Er rief mich hinein, sagte mir, ich solle ihm die Stiefel ausziehen und mit Essig die müden Füße waschen. Er kam mir vor wie ein König, ein Heiliger, wie er da auf der Truhe thronte, die Hände auf den Oberschenkeln, und auf mich blickte, der ich vor ihm kniete und ihm in der Kupferwanne mit Essigwasser die Füße rieb. Zuerst hatte er die Idee mit dem Barbier, und er schickte mich in den Salon zum Einseifen, dann kam der Schneider, Nadeln einfädeln und Steppnähte auftrennen, dann Schu42
ster Maler Zimmermann, alles leichte Handwerke, dennman sah ja, daß es mir an der Kraft zum Holzfäller oder Köhler fehlte, und erst recht an der Intelligenz zum Weinhändler. Schließlich überredete ihn der Lehrer zur Schule, und er stimmte in der Hoffnung zu, daß ich Zollbeamter würde (und mit dem Hintergedanken, vom Zoll künftig nichts mehr zu befürchten zu haben). Und so hatte er mich in die Klosterschule geschickt. Für die Feiertage sollte er einige Fässer in Passopisciaro abholen, denn da ist der Wein gut und hat ich weiß nicht wie viele Grade, weil er auf Lavaboden wächst. Auf dem Weg nach Passopisciaro kommt man in Randisi bei Don Barrajo vorbei. Sicherlich würde er sich anstellen, er hatte etwas gegen Verwandte, wenn er geschäftlich unterwegs war; er fühlte sich verpflichtet, mit den Besitzern zu reden, oder führte gerne das Spielchen mit der toten Maus auf, die er aus seinem Ärmel in den Weinbottich gleiten ließ, um dann überrascht und angewidert Oh! zu sagen. Wenn ich in Randisi bliebe, war es ihm recht. Wir brachen im Morgengrauen auf: eine Hundekälte. Der Lastwagen gehörte Delfino, der von Gela mit dem Fiat 26 zu uns gekommen war, er hatte ihn bunt angemalt, um das Grüngrau zu übertünchen, und es fehlten nur noch der Rasende Roland und Karl der Große über den Trittbrettern; oben hatte er NEID VERRECKE hingeschrieben und an die Seiten AUF RECHNUNG DRITTER. Wir verloren Zeit, weil die Kupplung schleifte, und kamen mittags in Randisi an. Don Barrajo begrüßte mich sehr freundlich, und man sah, daß es von Herzen kam. Er sagte, ich sei gewachsen und ein 43
völlig anderer geworden, seit er mich das letztemal gesehen habe. In der Küche kasperte er ein bißchen mit dem Koch herum, kniff ihm in den Bauch, kratzte ihn an der Glatze, machte ihn ganz durcheinander und brachte ihn schließlich dazu, mir Gemüsesuppe auszuschöpfen, dann gab’s Rührei, Nüsse und getrocknete Feigen; er sagte: »Trink, das ist gut fürs Blut«, und schenkte mir voll. Dann läutete seine Glocke fürs Refektorium, er sagte mir, ich solle das Institut besichtigen, es sei das älteste auf der Insel, von Patres aus Turin gegründet, und wir würden uns im Hof zum Ausgehen treffen. Der Hof, den sie den Zwergkakteen abgerungen hatten, war von den Kindern gemacht, die seit wer weiß wie vielen Jahren den Boden mit ihrem Fangenspielen festtraten: Die Kalkstriche, der Kreis für den Ball, zwei Steine als Tor, der einsame Rundlauf vor der Bergkulisse; die Ketten quietschten und schlugen gegen den Mast. Zwei Schritte auf dem Boden, dann im Kreis fliegen, die Hände an die Kette geklammert, und sich wieder lösen, um andere dranzulassen, in langen Schlangen vor der Mauer, dazwischen die Patres, die das Karussell anstoßen, in ihren Kutten bis an die Fersen, mit milden Worten, Kopfstreicheln und Bonbons. Noch nie einen stehenden Rundlauf gesehen, man muß sich vorstellen, das ist wie ein fröhlicher Mensch, der schlagartig stirbt, ganz andere Augen und ein anderer Mund, oder wie ein Freund, der ins Priesterseminar geht, und wenn du ihn triffst, ist er verschlossen und zugeknöpft. Ich habe einen Rundlauf immer nur in Bewegung gesehen wie eine offene Sonnenblume, mit Geschrei, Geschimpfe und Geschubse. »Schnell, gehen wir, bevor man mich ruft«, sagte Don Barrajo, als er kam. 44
Randisi ist ein schwarzer Ort, die Häuser sind aus Lavagestein, ohne Verputz, die Kirchen ebenfalls, und schwarz ist der Ätna, bis auf den verschneiten Gipfel. Wir schlenderten und schlenderten, Gassen, bauchige Balkongitter, schwangere Frauen, Äpfel in Drahtkörben, Spierlingsbirnen, Kakteenschaufeln mit ihren Früchten wie Hände mit Rotlauffingern, Obstgirlanden an den Balkonarkaden und Fenstern, wie auf den verrußten Madonnenbildern in alten Kirchen. »Komm, wir setzen uns, du bist bestimmt müde.« Aber nein. Es war kalt. Erzähl mal, erzähl. Was denn? Die Mauer war eisig, die Kälte drang mir in die Knochen, ihm nicht einmal bis an die äußerste Haut, Kunststück! Die Hosen, die Soutane, die Mantille hielten alles ab. Erzähl, erzähl. Also erzähl: Ein Neuer, er heißt Don Sergio und kommt aus dem Krieg: keine Ahnung, nie gehört; Tanos Vater ist gestorben, Schlaganfall: armes Schwein. Und er hörte mir überhaupt nicht zu, war mit dem Kopf in den Wolken … Ein neugieriges Mädchen stand mit verschränkten Armen hinter einem Fenster und beobachtete uns: Natürlich ist es verrückt, wenn nicht gar kindisch, bei dieser Kälte auf der Mauer zu sitzen. »He, Don Barrajo, hören Sie mir eigentlich zu?« »Ja doch, ja …« Der Ätna vor uns war so groß, daß er den ganzen Himmel einnahm; wie konnten die Leute hier bloß atmen? Unter uns war der breite Fluß, und zwei Männer warfen mit Schaufeln den Sand durch ein Sieb. »Don Barrajo.« »Turi.« »Was?« »Turi heiß ich. Sag es: Turi.« 45
»Turi.« »Was ist?« »Gehen wir?« »Warte noch.« Aus der Brusttasche zog er eine Photographie mit einer Gruppe von Leuten vor einem Haus: Da drauf mußte es Hochsommer sein bei all der Sonne und der bloßen, verbrannten Erde. Ein Alter mit einem Schnurrbart, sein Vater, sagte er, inzwischen nicht mehr zu gebrauchen, ein Junge mit einem dunklen Gesicht, im Unterhemd, sein Bruder, schon immer auf dem Feld, eine Frau mit einem geblümten Kleid und einem Knoten auf dem Kopf, seine Schwester, die wie ein Mann schuftet. »Meinst du, das Landleben ist ein Honigschlecken?« Ausgerechnet mir sagte er das: Mein Vater, wenn der in den Wald ging, um Kohle zu brennen, dann schlief er monatelang in einer Scheune, und wenn er dann mit kaputten Knochen und schwarz wie ein Sarazene zurückkam, getraute er sich nicht einmal, mit meiner Mutter in einem Bett zu schlafen. »Woher nehme ich mir die Freiheit, Priester zu werden? Sie sagen kein Wort, lieber würden sie sterben, aber sie schaffen es nicht mehr, und auch zum Weltgeistlichen brauch ich noch drei bis vier Jahre. Die hier« – und er zeigte auf seine Kutte , »die trag ich noch ein Weilchen, dann mach ich die Lehrerprüfung und geh.« »Don Barrajo …« »Turi, Turi heiß ich!« Gut, dann eben Turi. Das neugierige Mädchen war auf den Balkon hinausgegangen; es ließ ihr keine Ruhe, sie schaute und schaute und tat so, als lockerte sie die Erde in den Blumentöpfen. 46
Jetzt sagte Turi, daß seine Hand und meine zusammen so groß wie eine seines Bruders wären, eine Erdhackerhand, so mächtig und hart, daß er, wenn er seiner Freundin über die Wange streicheln wollte, ihr ganzes Gesicht in der Hand hätte. »Und du, hast du eine Freundin?« »Was sagen Sie denn?« »Dieses Mädchen da …«, und er schaute zum Balkon. »Meine Schwester wird vielleicht so alt sein wie sie, aber aussehen tut sie wie ihre Mutter. Die Frauen auf dem Land werden sofort alt, kaum daß man ihnen die Steinpuppe vom Schoß reißt und die Sichel für das Kuhfutter in die Hand drückt.« Und er sprach, ohne seine Blicke vom Balkon zu lösen. Die Luft war schneidend geworden, vom Ätna her wälzten sich dicke Wolken auf den Ort zu. »Begehst du keine Sünden?« »Was denn für Sünden?« »Dann brauchst du ja nicht bekümmert zu sein.« »Ich bin wegen etwas anderem bekümmert.« Es begann zu schneien: In all dem Schwarz wirkten die weißen Flocken noch weißer und schwerer. Das Mädchen vom Balkon war wieder hineingegangen. Jetzt hauchte sie gegen die Fensterscheibe und wischte mit dem Handrücken darüber. Don Barrajo nahm mich unter seinen Mantel, und wir sahen auf der Straße sicher wie ein einziger Mann aus. Wir durchquerten wieder den Ort, ich sah nur den Boden, den Schnee, der mittlerweile die Pflastersteine aus Lava bedeckt hatte. Vor der Eingangstür warteten wir auf Onkel Peppe, der um drei Uhr kommen sollte und auch kam. Er war fröhlich, 47
und man sah ihm an, daß er gute Geschäfte gemacht hatte, der Lastwagen war mit Fässern vollgeladen. Don Barrajo flüsterte mir ins Ohr: »Wenn es soweit ist, schreib ich dir. Ich möchte, daß du mich ohne dieses Ding siehst.« Onkel Peppe nahm die Mütze ab, verbeugte sich, um Don Barrajo die Hand zu küssen: Der sprang aber sofort zur Seite und warf die Arme in die Höhe. »Ich habe die Weihen noch nicht«, sagte er zur Entschuldigung. »Das meinte ich doch gleich, Sie schienen mir noch zu jung.« Und sie drückten sich als zwei Ebenbürtige die Hand. Mir klopfte Don Barrajo auf Schulter und Wange und sagte, ich solle fleißig sein, um vor Onkel Peppe gut dazustehen. »Auf Wiedersehen, gelobt sei Jesus Christus.« »Auf Wiedersehen.« Ade: das sollte ich ihm eigentlich sagen, ade. Ich spürte, daß ich ihn nie wiedersehen würde. Und so war es. Onkel Peppe sagte: »Wegen diesem Mickerling von Priester hast du die ganze Reise gemacht?« Delfino sagte: »Die schmeicheln sich bei den Jungen ein.« »Halt du dein Schandmaul«, fuhr ihn der Onkel an. Gott sei Dank schlitterte der Lastwagen, und sie hörten auf, in diesem Ton miteinander zu reden. Die Straße wurde gefährlich, immer mehr Schnee blieb liegen und wurde fest: Delfino mußte die Kurven und die abschüssige Straße fest im Auge behalten. Bremsen war tödlich, es ging nur mit Schalten, im ersten, zweiten, selten 48
im dritten Gang; die Straßengräben waren regelrechte Fallen, weil man sie unter dem Schnee nicht sah. Der Onkel setzte die Flasche an den Mund und saugte daran wie ein Verdurstender in der Wüste; bei Delfino wurde gezählt, fünfmal und nicht mehr, denn sonst verlor er den klaren Kopf, und dann gute Nacht. Ich kam gar nicht in Frage. »Das ist wie bei den Weibern, je später man sie kennenlernt, desto besser: Ist man erst einmal auf den Geschmack gekommen … Schluß. Einer, der lernt, darf an sowas gar nicht denken.« Batsch! Es ging ganz schnell, wir schlingerten kurz, und dann standen wir quer, die Schnauze in der Luft und der hintere Teil im Graben. »Kruzifix, Don Peppe, jetzt hat’s uns wohl erwischt!« »Kruzifix, was heißt hier Kruzifix, ich versohl dir gleich das Fell!« Wir sprangen in den Schnee, und meine Beine kribbelten, weil ich die ganze Zeit rittlings auf dem Kasten gesessen hatte. Delfino kannte sie alle: Kruzifix – zum Henker – Gottverdammich … Er hatte sie beim Militär gelernt. In ruhigen Momenten konnte der Onkel sowas vertragen, aber nicht jetzt, jetzt war es ihm zuviel, und er versuchte, die Flüche mit seinen eigenen Litaneien zu übertönen. Wir rissen Eichenzweige ab, für unter die Räder, er versuchte anzufahren, nichts: Die Räder drehten durch, und wir hätten eine Eisenstange und außerdem noch vier Männer gebraucht, wenn das überhaupt reichte, und immer vorausgesetzt, daß der Schnee nicht zu seifig wurde. Jetzt hieß es marschieren, Pech gehabt, und wenn wir uns nicht beeilten, würde es auch noch dunkel werden. Nach Cesarò waren es vielleicht vier oder fünf Kilometer: Na los, 49
den Weg muß man wohl oder übel hinter sich bringen. Delfino war wie ein geprügelter Hund, seine Lustigkeit hatte er weggesteckt; der Onkel sprach mit sich selbst, murmelte, ihm solle ja keiner zwischen die Finger kommen (o je, Delfino), er würde ihn in der Luft zerfetzen; Delfino packte mich unter den Achseln und zog mich, kaum daß ich ein bißchen im Schnee versank: Wozu tat er das? Der Onkel sah es sowieso nicht, wenn es das war, was er bezwecken wollte, er ging mit Riesenschritten vorneweg. Die Flasche in der Hand schien dem Onkel nicht recht zu seiner Wut zu passen. Er hob sie über den Kopf, peilte einen dicken Baumstamm an und warf: Plaff! die Flasche versank bis zum Hals im Schnee, rundherum ergoß sich der rote Wein. Aber auch diese Genugtuung, der Krach in der Stille, um ein bißchen Luft abzulassen, brachte es nicht. Delfino fiel zur Entschuldigung ein, daß Priester Unglück bringen, und leierte es hinter meinem Rücken herunter: Wetten, daß ich zum Schluß der Schuldige bin? Er würde besser den Mund halten, fing aber im Ernst an, sich damit rauszureden, mit einer dermaßen idiotischen Entschuldigung … Erstens war ja Don Barrajo noch gar kein richtiger Priester und dann … Sag doch einfach, daß es am Schnee gelegen hat (was ja stimmte), und weiter nichts. Es war das dritte Haus auf der linken Seite mit den roten Lämpchen und dem Zitronenbaum. So mitgenommen, wie wir waren, brauchten wir als erstes ein Feuer. Donna Concetta begann, es eilig anzufachen, mit steifen Beinen stand sie da und beugte sich tief über den Kamin, woran Delfino, der sie von hinten beobachtete, seine Freude hatte und dem Onkel verschwörerisch zuzwinkerte, um ihn wieder in Laune zu bringen. Aber der Onkel antwortete mit 50
einem Achselzucken und bedeutete ihm mit der Hand so etwas wie »Leck mich am Arsch!«, tat außerdem noch sein Bestes und nahm Donna Concetta den Fächer aus der Hand, um sich selbst an die Sache zu machen. »Los, brenn, brenn schon!« Don Blasi richtete den Tisch, er hatte eine Tischdecke ausgebreitet, und Donna Concetta besorgte das weitere. Don Blasi war einer von den Menschen, die Gott uns ersparen möge, weder Fisch noch Fleisch, im Gesicht wie ein altes Weib, gelb und verrunzelt, hängende Schultern und alles darunter ohne Form. Nach dem Essen hatte Onkel Peppe, vielleicht wegen dem Wein, dem vollen Bauch oder dem warmen Feuer, seine gute Laune wiedergefunden. Don Blasi hatte sich zu uns an die Feuerstelle gesetzt, die Füße aufgestützt und begonnen, von den Briganten der Gegend zu erzählen, die sich wieder organisiert hatten, wie damals, vor Mussolini, sogar noch besser; er zitterte schon, wenn er nur von ihnen sprach. Der Onkel rauchte und rülpste, hob eine Arschbacke vom Stuhl, nutzte die Gelegenheit, daß Donna Concetta in der Küche war, und ließ einen fahren. »Don Blasi, wenn Sie wüßten, wie schön das ist!« sagte Delfino mit geschlossenen Augen und tat so, als ob er schliefe. »Was die bloß bei uns armen Christenmenschen suchen?« sagte Don Blasi. »Wenn sie sicher wären, daß einer was hat, aber wenn einer nichts hat …« »Don Blasi, wenn Sie wüßten, wie fein das ist!« Ein-, zwei-, dreimal hatte Don Blasi so getan, als hörte er Delfino nicht, oder er hatte es nicht verstanden, weil er von den Briganten sprach, doch endlich reagierte er: »Was hat der junge Mann bloß, Don Peppe?« 51
»Nichts, achten Sie nicht darauf. Er träumt nur«, und er gab ihm einen Tritt gegen den Knöchel. »Au«, schrie Delfino und langte sich mit beiden Händen an den Fuß. Endlich verstanden wir, worauf Don Blasi mit dem ganzen Vortrag hinauswollte. Er griff sich mit der Hand ins Hemd, unter seinen eingefallenen Brustkorb, zog ein Stück Einwickelpapier hervor und faltete es auseinander. Ganz geheimnistuerisch und in der Gewißheit, daß Donna Concetta nach oben gegangen war, um die Betten zu richten, forderte er Onkel Peppe auf zu lesen; weil ich das besser konnte, reichte dieser mir das Blatt weiter, das von Don Blasis Körper noch warm war. Mit Bleistift und in Druckbuchstaben stand darauf: Lieber don Biaggio und donna Concetta am abend vom donnerstag dem nächsten habt ihr uns die Gevälligkeit zu erwaisen unter dem Pfosten neben dem Fus vom Kirschbaum ander Strasse vom alten Kreuz Lire Fünfzigtausendlire (L. 50 000) hinzulegen. Um gotteswillen vergesst es nicht und drunter zeichne ich eure freunde. »Woher nehme ich das Geld?« winselte Don Blasi mit seiner quäkenden Stimme. Als Donna Concetta ins Zimmer kam, riß mir Don Blasi das Blatt aus der Hand und steckte es sich wieder unters Hemd. Wir blieben zwei Tage in diesem Haus, und da es nicht mehr aufhörte zu schneien, mußten zwei Männer bezahlt werden, um den Lastwagen zu bewachen. Ich schlief mit dem Onkel zusammen, der, groß, wie er war, das ganze Bett brauchte und mich an die Wand quetschte. 52
Da ich ganz ruhig dalag und die Augen geschlossen hatte, dachten sie, ich schliefe, und schwatzten bis spät in die Nacht. Delfino hatte es immer noch auf Donna Concetta abgesehen! Wahrscheinlich ist’s immer noch so: Wer nicht kommt zur rechten Zeit … Er hatte es versucht, in der Küche und – ah! – unter anderen Umständen, da hätte er so richtig losgelegt! … Er zog den Onkel auf, daß er wohl inzwischen eine Stunde und heißes Wasser dazu brauchte, und der Onkel sagte, er solle sich was schämen, Schmutzfink, der er sei … Die Straßenarbeiter schaufelten die Straße frei, halfen, den Lastwagen wieder aufzustellen, und wir fuhren ab. Donna Concetta verabschiedete sich von uns an der Tür, drückte mir – wer hätte das gedacht – zwei dicke Küsse auf die Wangen und sagte seufzend: »Ach, wie sehr hätte ich mir so einen Sohn gewünscht!« Don Blasi ging ins Haus zurück, und Delfino lehnte sich bei laufendem Motor noch einmal zum Fenster hinaus und rief: »Donna Concetta, wir sehen uns! Ich schwirre ständig in dieser Gegend herum.« Im Wald war es dunkel, wegen den dichten Bäumen und dem Nebel, so daß Delfino das Licht anmachte, obwohl Vormittag war. In einer Kurve stand eine Gruppe Männer mitten auf der Straße, und sie gaben Zeichen anzuhalten. »Halt an!« befahl der Onkel. Es waren Briganten, wer weiß, von welcher Bande. Sie hatten doppelläufige Flinten und die Mützen tief ins Gesicht gezogen. »Seid gegrüßt, Leute«, sagte der Onkel und sprang mitten unter sie. 53
»Ach, Don Peppe?« erwiderte einer. »Sie können fahren«, und er befahl den anderen, auf die Seite zu gehen. »Erst müßt ihr ein Schlückchen trinken, sonst bin ich beleidigt«, sagte der Onkel und zeigte auf den Wein. Das ließen sie sich nicht zweimal sagen: Zu zweit stiegen sie auf und luden ein mittelgroßes Faß ab. Einer, der noch recht jung war, schaute in die Kabine rein. »He«, sagte er, »bist du nicht Delfino?« »Und du? Bist du nicht Colicchia?« erwiderte Delfino, machte die Tür auf und warf die Zigarette weg. Sie küßten sich, und das Gewehr von Colicchia, das er in der Faust nach unten hielt, bohrte seine Läufe in den Schnee. »Siehst immer noch gleich aus. Wann bist du denn zurückgekommen?« fragte Colicchia. »Schon ein ganzes Stück her.« »Und der Gaul hier?« »Hab ich mir hergerichtet. Ja?!« »Tüchtig, Delfino!« »Colicchia?« »So ist’s, Delfino. Was?!« »Na, denn …« Und sie küßten sich nochmals. Die Briganten gingen in Richtung Randisi, samt Faß, das sie mit Tritten vor sich herrollten; es hinterließ eine Spur im Schnee, zwischen den beiden anderen der Planen. »Viele Grüße von Donna Concetta aus Cesarò!« schrie der Onkel ihnen hinterher und spitzte die Ohren, um eine Antwort zu hören. Aber sie sagten nichts und verschwanden schweigend hinter der Kurve im Nebel. Kurz bevor wir im Ort ankamen, packte mich Onkel Peppe an den Schultern und sagte: »Sicher wirst du einen schönen Aufsatz über die Fahrt 54
schreiben, wenn du wieder zurück in der Klosterschule bist. Aber das mit dem Papier von Don Blasi und von den Männern mit dem Faß laß weg: Solche Sachen behält man lieber für sich, verstanden?« Worauf hatte mich Onkel Peppe da bloß gebracht. Tatsächlich kam ein Aufsatz über eine Reise dran, und ich kriegte eine ganz schwache Vier. »Was erfindest du nur für Geschichten?« sagte Don Sergio.
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V Sie mußten eine breite Nase haben, dunkle Augen und Haare, derbe Gesichtszüge, also insgesamt potthäßlich sein, die zwanzig Wilden in der Silvesteraufführung. »Geh freiwillig«, sagte ich zu Mústica, »brauchst gar nicht erst zu warten, daß du aufgerufen wirst.« »Meinst du, du bist besser?« »Nein, aber ich schmiere ihn mit meinen blauen Augen an.« »Mústica und Scavone«, sagte Don Sergio und zeigte mit dem Finger auf Filippo und mich. »Bahito« hieß das Singstück, und wir waren Wilde von irgendwoher, wo es auf jeden Fall Missionare gab, denn darum ging es, und Bahito ist unser alter Gott, ein Gott aus Ebenholz mitten im Wald, der Rauch und Feuer aus Mund und Augen speit. Kohlrabenschwarz und mit bunten Fetzen als Unterhosen tanzten wir den Totentanz für die an Bananenstauden gefesselten Missionare. Ende erster Akt. Der Saal konnte die vielen Leute kaum fassen: das Oratorium, die Schülerinnen der Nonnen, die Damen vom Fürsorgewerk, die ehemaligen Schüler, die Mitglieder der Genossenschaft, das zahlende Publikum, die hohen Herrschaften in der ersten Reihe. In der Mitte, in dem Sessel mit Teppich und Fußschemel, saß die Baronessa, diejenige, die den Patres und Schwestern die Schule als Schenkung überlassen hatte, und dazu den ganzen Besitz, was nicht wenig war. Die Baronessa sah aus wie ein altes Gemälde, hager und bleich, weil sie nie an die Luft ging, die Wangen übersät mit kleinen Äderchen, ein langes schwarzes Kleid mit gestärktem Spitzenkragen, das 56
ihr bis zu den Füßen ging. Ihren verschrobenen Bruder, Don Mimillo, ließ sie immer daheim, aus Angst vor einem seiner Auftritte. Neben ihr saß ihr Neffe, vor kurzem auf der Liste der Republikanischen Partei zum Bürgermeister gewählt, einigermaßen zerstritten mit seiner Tante, weil er ihr nicht verzeihen konnte, was sie ihm angetan hatte, ihm, einem Vater von sechs Kindern! Und sie trug alles zu den Patres und den Schwestern, die waren schuld an dem Schlamassel. Im Ernst, zwei Häuser, die Paläste waren, und wer weiß wie viele Hektar Land. Man hatte Zweifel, ob er der Einladung folgen würde oder nicht, und er nahm bestimmt nur an, weil er es als Bürgermeister für seine Pflicht hielt. Außerdem waren da: der Erzpriester und der Amtsrichter, der Gerichtsschreiber, der Staatsanwalt und der Polizeimeister. Die Dorfjungen saßen auf der Tribüne, scharf ins Auge genommen von den auf die Stufen verteilten Oberen. Diese Bastarde hatten die schlechte Angewohnheit, Brotstücke und Kastanienschalen in den Saal, auf die Köpfe der Leute, zu werfen. Der Aufseher packte uns am Kragen, Mústica und mich, weil wir Nase und Augen durch den Vorhang gesteckt hatten und in den Saal schauten. Alle Wilden mußten eng beieinander in der Ecke bleiben, sonst gab es auf der Bühne ein Chaos. Und außerdem ging die schwarze Farbe ab, wenn wir uns bewegten. Der Aufseher wurde gar nicht fertig, uns zu schwärzen, damit wir wie waschechte Eingeborene aussahen, und am meisten hatte er es mit Mústica, der ihm gar nicht schwarz genug sein konnte, obwohl er sowieso schon dunkel war, da mußte man noch mit verbranntem Kork nachhelfen: noch einmal und noch 57
einmal über Brust und Beine, Mústica wurde gedreht und gewendet und warf mir gewisse Blicke zu. Der zweite Akt begann: Darin sah man, wie die Missionare nur deshalb nicht aufgefressen wurden, weil in dem von himmlischem Licht überfluteten Busch plötzlich Seminara, als Madonna verkleidet, erschien, mit blonder Perücke und in einem blauen Mantel. Da trat Tano, der getaufte Sohn des Stammeshäuptlings vor und begann mit seiner wundervollen Sopranstimme zu singen: »O Himmelskönigin …« Wir fielen mit großem Getöse auf die Knie, nur der Medizinmann nicht, dieser Hexenmeister, ein wahrer Satan. Was war das bloß für ein Gemurmel im Saal? Die Leute reckten die Hälse, um etwas zu sehen: Der Bürgermeister war aufgestanden, hatte nichts gesagt, nur eine Verbeugung vor der Baronessa gemacht; mit langen Schritten bahnte er sich eine Gasse und ging raus. Worüber hatte er sich denn geärgert? Er war angeblich Freimaurer, und solche Dinge drehten ihm den Magen um. Aber mit ihm oder ohne ihn, das Stück ging trotzdem weiter. Seminara knipsten sie das Erscheinungslicht aus, und Tano lief, als er mit Singen fertig war, in die offenen Arme seines Vaters: »Mein Vater, mein Vater! …« Und hier brach er in Tränen aus, aber in echte Tränen, so daß er nicht weitermachen konnte. Die Sache schien klar: Tano war frisch in Trauer, und dieses »Vater, Vater« wühlte seinen Schmerz wieder auf. Er bekam brausenden Beifall. Don Sergio rief ihm aus seiner Souffleurecke mit lauter Stimme zu: »Gaetano, Gaetano, nur Mut, faß dich wieder! Von heute an werde ich dich Bruder nennen«; das war das nächste Stichwort. Der dritte Akt endete damit, daß Bahito wütend zerschlagen und zertreten und der Medizinmann aus dem Dorf 58
gejagt wurde. Man errichtete eine Kirche aus Schilf und Lianen, und alle gingen zum Katechismusunterricht und zum Gebet. Tano kleideten sie als Priester ein, und er reiste zum Noviziat nach Europa, worüber sein Vater und der ganze Stamm sich gleichzeitig freuten und weinten. »Ich komme zurück, ich komme zurück zu meinem Volk.« Dann fiel der Vorhang. Über das Stück wurde lange Zeit gesprochen, und auch in der Umgebung hörte man davon. Tatsächlich lud uns der Pfarrer vom Bergdorf Fitalia ein, es am Fest vom heiligen Calogerus dort aufzuführen. Aber das war im Juli und der Tag, an dem Mústica Florestecca begegnete. In dem Dorf herrschte Getümmel, weil dieser Heilige mit dem afrikanischen Gesicht und dem Hirschkalb große Anziehungskraft hatte, besonders auf ledige Frauen. Filippo und ich spazierten über die Kirmes und probierten alle süßen Sachen. Auch die Feigen, die von den Wallfahrerinnen in Körben auf dem Kopf getragen wurden. Mústica sagte zu den jüngeren: »Gute Frau, willst du mein Herz erfrischen?« Dann gingen sie ein bißchen in die Knie und ließen uns zugreifen. An einer Stelle, nahe bei der Wahrsagerin unter dem Schirm und der Riesenhand mit den Linien und Bergen, war eine Bude mit einem Mann, der einen Turban auf dem Kopf hatte und laut rief, um die Leute anzulocken. »Ein Phänomen aus Indien, so etwas haben Sie noch nie gesehen, hereinspaziert, Leute, hereinspaziert, mit zehn Lire seid ihr dabei.« Dazu blies er eine Rohrflöte. Unvorstellbar, daß Mústica sich das Phänomen aus Indien nicht ansehen würde. »Wetten, daß es was Schweinisches ist, siehst du nicht, daß nur Männer reingehen?« 59
Wir pflanzten uns ganz vorne bei der Absperrung hin, direkt unter dem Podest mit dem Vorhang, das so groß war wie eine Wäschetruhe. Als dem Mann mit dem Turban danach war, schloß er den Eingang und trat vor. »Meine Herrschaften, dieses einzigartige Phänomen hat meine Wenigkeit von einer Reise nach Indien mitgebracht, unter großen Gefahren einem Maharadscha geraubt. Sie müssen wissen, daß in jenem Land, dem die christliche Liebe fehlt, Töchter von hohen Herren gleich nach der Geburt in Vasen gesteckt werden, damit sie später kein Ärgernis erregen.« – Hier machte er mit den Fingern das Gehörnt-Zeichen – »Darum wächst bei diesen Frauen nur der Kopf, aber sie sind normale Menschen wie wir. Die Person, die ich Ihnen nun gleich zeige, ist die blendend schöne Prinzessin Florestecca. Eeee … vulà!« Er zog an der Schnur, und das Schaustück erschien: Der mit einer Krone geschmückte Kopf einer Frau, die wie ein Blumenstrauß in einer hohen Vase steckte. Uns blieb der Mund offenstehen, so schön war sie: Ihre großen Augen schauten verträumt, ihr Gesichtchen war weiß, die pechschwarz glänzenden Haare fielen geschmeidig auf die Vase. »Wie heißt Ihr, Prinzessin?« fragte der Mann. »Florestecca.« »Wie alt seid Ihr?« »Zwanzig.« »Wer war Euer Vater?« »Der Maharadscha von Mangipur.« »Zeigt Eure Zunge. Jetzt die Zähne. Bewegt den Kopf ein wenig.« Die Prinzessin Florestecca führte die Anweisungen wie eine Sache aus, die sie schon tausendmal getan hatte und die ihr allmählich lästig wurde. 60
Mústica war hingerissen, noch nie hatte ich ihn so beeindruckt gesehen. »Wenn einer der Herren mit eigener Hand anfassen will, um sich zu überzeugen, daß sie aus Fleisch und Blut ist, so trete er näher.« Flink wie ein Hase machte Filippo einen Satz über die Absperrung und sprang auf die Bühne. Er ging neben der Vase auf die Knie und legte die Hand auf dieses schöne Gesicht, als wollte er es streicheln. Die Prinzessin wandte ihre Augen dem Prüfenden zu, und kurze Zeit schienen beide wie verzaubert. Der Mann mit dem Turban zog Filippo am Arm und stieß ihn beinahe zur Seite. »Erklären Sie den hier anwesenden Herrschaften, ob sie aus Fleisch und Blut ist oder nicht«, sagte er zu ihm. »Ja«, murmelte Filippo mit dünner Stimme. »Meine Herrschaften, die Vorstellung ist zu Ende.« Er zog an der Schnur und ließ die Vase mit dem Kopf verschwinden. Wir zählten nicht, wie oft wir hineingingen, zehn Lire in der Hand, um Florestecca wiederzusehen. Der Budenbesitzer beäugte uns mißtrauisch, weil er glaubte, wir wollten hinter seinen Trick kommen, und ließ Mústica nicht mehr zum Anfassen auf die Bühne. Wir freundeten uns mit Florestecca an, so daß sie uns schließlich ein Lächeln schenkte, die Antworten durcheinanderbrachte und statt der Zunge die Zähne zeigte. Filippo und sie schauten sich unendlich lang an, die beiden liebten sich mit den Augen. Als das Kommen und Gehen der Leute aufgehört hatte und der Budenbesitzer weg war, um sich ein Glas zu genehmigen, gingen wir hintenherum, und Florestecca erschien uns von Kopf bis Fuß. Von wegen: zwanzig, sie sah aus wie ein Kind. Jetzt hatte sie ihre Haare zu Zöpfen geflochten. 61
»Florestecca …«, sagte Filippo. »Ha, ha …«, lachte sie. »Ich heiße Rosa.« »Rosa, Rosetta.« »Und du?« »Filippo, Filí.« Dann erklärte sie uns, daß alles ein vom Budenbesitzer ausgedachter Trick sei, mit versteckten Spiegeln in den Kulissen, so aufgestellt, daß ihr ganzer Körper unsichtbar wurde, außer dem Kopf, der über der Vase schwebte. »Daß ich mir jedesmal ins Gesicht kneifen lassen muß, stört mich ziemlich«, sagte Rosetta und lehnte sich mit den Schultern an die Bude. Ich sagte zu Filippo, daß wir gehen müßten, daß es Zeit für die Vorstellung sei. »Wieso?« fragte Rosetta. »Seid ihr auch Schauspieler?« »Ja«, antwortete Mústica, »Aber für heute abend melde ich mich ab. Wer merkt schon, ob es zwanzig oder neunzehn Wilde sind?« Es hatte keinen Sinn, Mústica zu bearbeiten, er war stur wie ein Maulesel und beachtete mich gar nicht mehr; er saß neben Florestecca, hatte einen ihrer Zöpfe in die Hand genommen und kitzelte sie damit am Hals. Der Aufseher merkte sofort, daß Filippo nicht da war, und fragte mich nach ihm. »Ich habe ihn nicht gesehen.« »Aber ihr seid doch zusammen im Dorf herumgelaufen.« »Ja, für eine Weile, dann haben wir uns getrennt.« Unsere Freilichtvorstellung auf dem Kirchplatz, mit Lampen, die wir von den Fischern geliehen hatten, als Bühnenbild im Hintergrund Nuß- und Kastanienbäume. Seminara erschien diesmal in dem kleinen Fensterchen über dem Portalbogen und mit Orgelmusik im Rücken. 62
Tanos liebliche reine Triller flogen in den Himmel davon und sprangen wie Kristallkugeln über die Berge, die uns im Halbrund umgaben. Vielleicht vernahm man ihn auch in den Dörfern, die dort oben eng beieinanderliegen. Vielleicht hörten auch die Leute in Mirto-Galati-AlcaraAlunzio-Elicona diese klare Stimme. Die Zuschauer auf dem Platz hatten nur für ihn Augen und Ohren, riefen bravo und warfen ihm Süßigkeiten vor die Füße. Don Sergio sagte zu ihm: »Hast du gehört, daß sie dich Caruso genannt haben?« »Warum«, antwortete Tano und lächelte verschmitzt, »bin ich vielleicht kein caruso, kein Junge?« Don Sergio war im Himmel, wenn Tano ihm solche schönen Antworten gab; er zog ihn an sich und tat im Scherz, als wollte er ihn schlagen. Von Tano schien er wie verzaubert. Vielleicht hatte er an dem Tag Zuneigung zu ihm gefaßt, als Tanos Vater starb, doch vielleicht auch schon vorher, denn Tano ragte aus allen heraus, er war begabt: eine außergewöhnliche Intelligenz, eine Stimme, bei der es ein Jammer war, daß er sie nicht auf dem Konservatorium ausbildete, eine Schönheit, bei der, wenn es so weiterging, alle Schauspieler und das Prinzlein einpacken könnten. Die Gaslaternen über den Ständen wurden schon ausgemacht, und wir standen reisefertig am Omnibus, als Filippo wie ein Trottel ankam und behauptete, sich in den Straßen verlaufen zu haben. »Du bist ein begriffsstutziger Dummkopf!« schrie ihn der Aufseher an. »Wenn wir jetzt mitten in Paris gewesen wären!« In unser Gelächter sagte Filippo: 63
»Ich bin kein Dummkopf, denn ich weiß, wer einer ist!« Voller Wut wischte ihm der Aufseher eine mit der ganzen Hand. Filippo betastete sein Gesicht, schaute ihn haßerfüllt an und beschimpfte ihn. Der Priester wurde rot, wollte schon die Hand heben, hielt sich aber zurück, drehte sich um und stieg in den Bus. O weh, Filí, Filí! Das waren scharfe Worte, Worte, für die man bezahlen muß. Nach Silvester waren in der Klosterschule die ersten Lastwagen mit amerikanischen Hilfsgütern angekommen, und Don Sergio organisierte die Speisung und das Verteilen der Päckchen vom Vinzenzverein. Noch nie hatte man ein solches Gedränge gesehen und auch gar nicht gewußt, daß es im Ort soviel Kinderpack gab. Es schien, als hätten die Frauen sie zwischen den Beinen versteckt gehabt und bei der Ankündigung dieser Wohltaten die Röcke gehoben – und husch, husch, alle zu den Priestern, um sich den Bauch vollzuschlagen. Die Sache war, daß diese Kinder nie aus ihren Vierteln herauskamen, weil sie keine Kleider zum Anziehen hatten; sie verkrochen sich im Hafen oder in den kleinen Straßen am Ortsrand. »Ja sind sie denn per Brief von der spanischen-afrikanischen-griechischen-albanischen Front geschwängert worden?« »Ach was, die sind aus der Zeit, als es dafür was gab. Dieser Kerl kannte sich aus, der kapierte den schwachen Punkt der Leute im Süden und wollte sie genau dafür belohnen. Man muß sich das einmal vorstellen, die Leute hier haben sich der Sache mit soviel Eifer angenommen, daß sie nur noch zum Pissen aufgestanden sind.« 64
Da waren Ballotta, Zicaca und Talalà, Focu, Bisquitt und Tonnarello. Sie waren die Anführer in den Vierteln, jeder von ihnen kommandierte ein Dutzend Leute. Ballotta war ein wilder Kerl, mit den hellen Augen eines Mörders oder Verräters, der oberste Boß, unangefochten: den Mantel abgestaubt, den Gruppenführer abgeschaut. Er hatte die Kunst der Klingen erfunden; er stahl Hufnägel bei den Schmieden, und der Rest wurde auf den Schienen erledigt, von der Eisenbahn, wenn der Zug darüberfuhr. Sie glänzten in der Sonne, als wären sie aus Silber. Für fünf Lire verlangst du auch noch einen Griff? Wohl noch grün hinter den Ohren, Kleiner? Zicaca war Vogelleim- und FallenGenie: Ganz leise schlich er durchs Gebüsch, und sein Lockruf war besser als der eines balzenden Vogels. Talalà hatte ein Auge für Tintenfische, mit der blanken Hand fing er die, auch wenn sich einer hinter Algen verkrochen hatte. Und Focu, der auf hundert Meter Pulver und Blindgänger roch und eine Hand dabei verlor, das Gesicht mit violetten Flecken übersät. Bisquitt war wahnsinnig hinter amerikanischen Sachen her. Tonnarello mit dem Brustkorb von einem erwachsenen Mann, beim Schwimmen bis zur Hüfte über dem Wasser. Wenn die Essenszeit kam, veranstalteten sie ein Konzert mit Büchsen und Blechnäpfen, standen in einer Reihe die Mauer entlang. Wir kamen aus der Baracke, die als Küche diente, wo in Fässern das Milchpulver, CONDENSATED MILK – Made in USA, aufgelöst und der Stockfisch gebraten wurde. Der Zug bewegte sich langsam vorwärts, Kessel-Backform-Brotkorb, Don Sergio, der die Schöpfkelle schwang, an der Spitze. Die Spiele hörten mit einem Mal auf, Oratorium, Schüler, Obere, alle stellten sich den Hungrigen gegenüber hin, 65
bildeten eine zweite lange Reihe: Es war sehenswert, ein außergewöhnliches Schauspiel, sie aßen so gierig, daß sie fast erstickten. Und mit niedergeschlagenen Augen: Was war los, schämten sie sich? Jetzt sieh sie dir an, diese krummen Hunde, sieh dir diese Bastarde an, diese Visagen, dieses Saupack. Und sogar Ballotta, der sich beim Besuch von Schulinspektor, Erzbischof, Provinzrat auf dem Erinnerungsphoto mit einer unanständigen Geste verewigt hatte, kriegt einen knallroten Kopf? Jetzt, wo man fertig mit Essen ist, geht man zum Beten in die Kapelle. Dich liebt, o Gott, mein ganzes Herz. Der Aufseher schlägt sich seufzend auf die Brust. Und ist mir dies der größte Schmerz – Fischgeruch steigt wie eine Weihrauchwolke aus den Bänken auf – daß ich erzürnt dich – die Milch stimmt in der Tiefe Gesänge an – höchstens gut – getunktes Brot, gequollenes Brot – ach, wasch mein Herz in Jod und Blut – Schluchzen, Gesänge, Hymnen … Jesus, flammendes Herz auf weißem Grund, schreitet eine himmelblaue, von makellosen Lilien gesäumte Treppe hinab, sein mit einer Wunde geschmückter Fuß auf den Stufen, und es fehlen ihm nur noch drei, um auf die Erde zu kommen, zwischen die Dorfjungen von der Speisung. Don Bosco lächelt mit Augen, Mund und den roten Backen, da mihi animas und auch das Herz dein Jungenleben ist ein Zaubermärchenbuch, Seiltänzer, Jongleur, Preiskletterer, Geigenspieler, Bettler, Bauer. Aloisius, Zierde der Jungfrauen, Herrschersohn. Dominikus, lieber sterben als sündigen, o weh, die Strafe, dein blutleeres Gesicht! Der Vinzenzverein war eine rundum gesegnete Sache. Er hatte sich mit den Marientöchtern abgestimmt und die Arbeit nach Vierteln aufgeteilt, zwei Jungen pro Familie und ein Großer als Aufsicht. Mústica und ich, wir kriegten 66
eine im Hafen und waren einem Studenten von der Universität unterstellt. Da waren eine Großmutter, die nicht mehr aufstand und auf ihren Tod wartete und die samt Nachttopf, Kommode und Schränkchen in ihrem Bett an die Sonne getragen wurde, während die UNRRA den Krieg mit HUDSON PERFECTY Pumpen entschied, dessen Hauptziel die Mükken waren, zum Vorteil von anderen Insekten, Wanzen und Zecken; eine Mutter mit schwangerer Tochter, aber nirgends ein Mann; ein Kind mit einem Wasserkopf, wie ein Tier, das nicht sprechen konnte. Man ging hin und lud das Paket ab, man bekam einen Platz angeboten und redete. Der Student erklärte die göttlichen Dinge, den Katechismus, sagte, sie sollten auf die Todesstunde der Alten achtgeben, wegen der Letzten Ölung, und auf die Entbindung des Mädchens, wegen der Taufe von dem Neugeborenen. Das Kind mit dem Wasserkopf kroch über den Boden, fuchtelte herum und ließ ab und zu ein gepreßtes Lachen hören. »Man muß es irgendwo in Verwahrung geben, dann sehen wir weiter«, sagte der Student. Die Tochter übergab sich einmal. »Das bedeutet, daß es ein Mädchen wird«, sagte die Mutter lachend. Einmal meinte sie, wegen der Magensäure, »daß es gerade Härchen kriegt«, und wie lachte die Mutter, lachte zufrieden und wippte mit ihrem Stuhl hin und her. Und genau hier, im Hafen, mußten Don Sergio und der Erzpriester etwas Bitteres erleben. Eines Tages tauchte ein Ami auf, Sohn eines ausgewanderten Fischers, mit proppenvollen Taschen, nach dem zu urteilen, was er tat. Er hatte uns kaum gesehen, da fing er schon mit Verteilen an, auch an 67
Besitzer von Booten und Fangnetzen. Er machte sich alle zu Freunden, und das fiel ihm nicht schwer, weil er ja einer von ihnen war und außerdem Geld hatte. Am Ende stellte sich heraus, daß er Priester war, aber keiner von denen hier, sondern ein Priester mit Frau, protestantisch. In einer Unterstellhöhle für Boote richtete er eine Kirche ein und zog viele Leute auf seine Seite, auch weil er ihnen zu festen Terminen Pakete von den Brüdern jenseits des Ozeans versprach. Der Erzpriester, der einer vom alten Schlag war, sagte zu Don Sergio: »Tut um Himmels willen etwas! … Seht Ihr das Ergebnis?« Und aus Trotz setzte Sankt Peter, der einzige Heilige, auf den die Fischer nicht verzichten wollten, keinen Fuß in den Hafen. Doch bei Don Sergio stieß der Erzpriester auf taube Ohren, er ließ uns weiterhin im Hafen helfen, weil man daraus nicht gerade jetzt ein Problem machen sollte, weil wir Katholiken und Protestanten alle Christen sind, alle zusammenstehen müssen gegen eine drohende, sehr ernste Gefahr, bald wird man sehen, bei den Wahlen reden wir weiter. Das mit dem Vinzenzverein war der erste Grund für den Streit zwischen Squillace und Seminara. Don Sergio hatte sie getrennt, verschiedenen Familien zugeteilt. »Es ist Unsinn, zwei, die so aktiv sind, zusammenzutun«, sagte er zu Seminara, der aus Rache den Vinzenzverein verließ und von Squillace das gleiche erwartete, mit der Entschuldigung: »Wir haben schon unsere Arbeit im Marienverein.« Dann, am Tage des Ausflugs nach Malacú, verschärfte sich der Streit: Es endete damit, daß sie nicht mehr miteinander sprachen. 68
Die Trillerpfeife im Mund, den Priesterrock geschürzt, radelte Don Sergio an der Spitze, wir hinter ihm her wie Schaluppen im Schlepptau eines Schiffes. Am Bahnübergang kam Seminara mit dem Rad in die Schiene, fiel wie ein Sack herunter und tat sich am Knie weh. Als erstes hörte man Squillaces Gelächter, und so laut, daß es gemein klang. Don Sergio merkte nichts, er fuhr mit einer Gruppe weit voraus. Seminara ließ das Fahrrad im Bahnwärterhäuschen, wollte es auf dem Rückweg wieder abholen, denn da war nicht mehr viel zu reparieren: die Felge verbogen und viele Speichen herausgesprungen. »Laß mich aufsteigen«, sagte er zu Squillace, »wir können abwechselnd treten.« Doch Tano drehte ihm den Rücken zu, setzte sich auf den Sattel und fuhr weiter. »Weg, raus da, ab mit euch, der Zug kommt«, sagte die Bahnwärterin und drehte die Kurbel der Schranke. Seminara war blaß geworden, versetzte irgendwelchen Steinen Fußtritte, riß Rosmarin aus der Hecke. Er wirkte schwer beleidigt, als hätte man die Ehre seiner Schwester gekränkt. Zwischen den Schranken fuhr ein langer Bummelzug durch, beladen mit Salz und Schwefelbrocken. Die Frau aus dem Bahnwärterhäuschen blies das Horn und schwenkte die Fahne. Der kohlrabenschwarze Heizer lehnte sich hinaus, lächelte sie mit roter Zunge und weißen Augen an und rief ihr zu: »Tresuzza, gibst du mir jetzt einen Kuß, ja oder nein?« »So häßlich, wie du bist!« antwortete sie und drohte mit ihrem Horn. In der Ferne hörte man das schrille Pfeifen von Don Sergio, der uns rief. »Triii-triii-triii!« machte Mústica. 69
Seminara tat sich mit einem unscheinbaren Jungen zusammen, so ziemlich dem letzten. In Malacú dann schmollte er, würdigte niemanden eines Blickes; im Dom hörte er die Worte von Don Sergio nicht (elftes Jahrhundert, sikulisch-arabisch-normannische Kunst, Goldgewebe, Augen ein Meter, Arme drei Meter, Heiland Christus Pantokrator, im Stil der Cappella Palatinae und von Monreale), blieb abseits und kaute an den Nägeln. Am Strand, allein, schaute er immer nur aufs Meer, ein Meer so ruhig wie eine Glasscheibe, eine Kette kleiner Klippen zwischen dem Wasser und dem Sand, eine Kasematte auf dem großen Felsen, Igel und Schnecken, eine Sonne wie im Hochsommer. Barfuß wurde Fußball gespielt, Don Sergio, mit aufgeknöpftem Rock, blies aus Leibeskräften die Trillerpfeife. »Dieses Gepfeife sticht einen ja richtig in die Ohren«, sagte Filí, der auf dem Felsen saß. »Filiii …« »Triii-triii! … Die Deutschen, weißt du, wie das geht?« »Er steht abseits. Squillace.« »Weißt du, was mein Vater gesagt hat? Daß er vielleicht schon in Rußland gewesen ist, aber vorher. Jetzt weiß man nicht mehr, wo er herkommt. Er kann Partisan sein, kann Faschist sein.« Am Mittag packten wir das Brot und die Pfannkuchen aus und tranken Sprudel. Seminara, der immer noch seine eigenen Wege ging, warf flache Steinchen aufs Wasser, um sie springen zu lassen; dann vertiefte er sich im Schatten in die Imitatio, klebte fast mit der Nase drauf, weil er schlecht sah: Dieses Buch schleppte er immer mit sich herum. Don Sergio begann mit Kopfnüssen: also, wie viele waren es? Das Pfand, die Buße, drei Paternoster-Ave-Gloria, 70
heute abend gleich nach dem Schlafengehen, das ist ja wie Beichte. Wer meine Knöpfe zählen kann, der bekommt Bonbons. Und Tano fing mit dem ersten unter dem Hals an, drückte mit dem Finger darauf, aber dann, mittendrin, schüttelte Don Sergio den Rock, und man kam durcheinander. Gute Nacht, wieder von vorn. Tano sagt: »Im Sommer, bei brütender Hitze, ufff, was habt Ihr da drunter, Hose, Unterhose oder überhaupt nichts?« Gelächter, Don Sergio gab ihm Ohrfeigen, dem unverschämten Kerl. Mústica fielen diese Pfänderspiele mit Knöpfen und Zahlen auf die Nerven; mit der Entschuldigung, mal zu müssen, ging er weg, warf sich am Fuße einer Agave mit ausgebreiteten Armen in den Sand, auf Sonne so hungrig wie auf Brot. Auf dem Viehweg kam ein singender Mann auf einem Maulesel geritten und schlug den schmalen Pfad zum Strand ein. Als er abgestiegen war, nahm er dem Tier Futtersack, Sattel und Halfter ab, und befreit wälzte es sich auf dem Rücken im Sand, kratzte sich genüßlich, strampelte mit den Hufen in der Luft und schlug sich mit dem Schwanz auf den hellen Bauch; dann fing es an zu laufen, zu springen, sich mit offenen Nüstern im Kreis zu drehen, als wollte es sich selbst in den Hintern beißen. Mústica sprach mit dem Mann und zog sich gleich die Kleider aus. Mit einem Satz war er auf dem Rücken des Esels und ritt im Galopp an uns vorbei, hielt sich mit den Fersen am Bauch fest, die Finger in die Mähne gekrallt. Wir sprangen alle hoch, Don Sergio pfiff und schrie: »Halt, halt, du Wahnsinniger!« Mústica hörte vielleicht nichts, er trieb das Tier an wie ein 71
Feldherr aus den Geschichten von Homer. In der Ferne, wo die Sonne langsam versank, ging er mit seinem Pferd ins Meer, sie badeten, der Schaum spritzte hoch, weiß und in der Sonne glitzernd. Er kam wieder an uns vorbei, mit dem Maulesel, der ebenso glänzte und triefte wie seine Haare, fröhlich und triumphierend, als hätte er eine Heldentat vollbracht. Don Sergio hielt ihm eine Standpauke: »Steig ab, sofort! Verrückt, verrückt bist du, wir sprechen uns in der Schule. Schnell, zieh dich an, du holst dir ja eine Lungenentzündung.« Gelächter, die nasse Unterhose klebte an ihm, man konnte alles sehen, und schlecht gebaut war Filippo auch nicht. »Scher dich fort, schämst du dich nicht? Verschwinde, weeeg! Oder du fängst noch ein paar!« Don Sergio sagte, es sei spät und Zeit zu gehen. Doch Seminara, wo war Seminara? Wir suchten ihn und fanden ihn in der Kasematte auf dem großen Felsen, den Kopf an die Mauer gelehnt, im Licht der Schießscharte zum Meer hin. Nein, er wollte nicht kommen, er hörte uns nicht einmal zu. Don Sergio kam herein und schickte uns weg. Filippo, der sich hinter der Agave anzog, streckte den Kopf vor und sagte: »Das ist vielleicht ein Getue!« Die Sonne wanderte über das Kap, leuchtete durch die Zinnen des Sarazenenturms; das vorher noch strahlende Meer wurde orangerot, dann silbrig, dann violett; braun waren die Felsen, die Küste, die Hügel darüber. Oben beim Leuchtturm tauchten längs der Küste Boote auf, Ruderschläge bewegten das Wasser, Jungen standen im Heck. »He, he, grüß euch …«, riefen sie. 72
»Ohe, ohe, Seeleute …« »Ohe, ohe …« Sie hielten geradewegs auf den Horizont zu, auf den Blaufisch. Für sie ist diese Abenddämmerung Morgenrot, dann wird es Nacht, finster. Vollmond bedeutet Hunger für die Fischer, die Lampen scheinen dann weniger hell. Sie kennen keine andere Zeit als diese, wie die Nachtfalter und die Fledermäuse. Haben sie je das Silber der Sardinen und Sardellen, das Gold der Meerbarben gesehen? Sie kennen sie weiß, weißlich, betäubt unter den Lampen; sie kennen die Schuppen unter den Fingern und den Geruch, den Duft, wenn sie auf der heißen Platte geröstet werden. Don Sergio kam aus dem Betonbunker; er war gereizt. »Los, wir gehen. Wenn jemand auf ihn warten will, kann er es tun.« Der Kamerad vom Hinweg blieb. Don Sergio schaffte es also nicht, nichts ging bei Seminara. Wenn der sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war er durch nichts davon abzubringen: Vorsitzender des Marienvereins werden, in allem erster, den Gebeten und der Imitatio, alles zur Ehre von Christkönig, der junge Katholik liebt das Vaterland, die ewigen Wahrheiten, die mystische Rose, die Stunde der Wache, die Steine in den Schuhen … Squillace war da anders; ein guter Kerl, wie man so sagt, aber auch einer, der gern genießt. Ihm gefiel das Leben, ohne allzu viele Seufzer und Gewissensbisse, Fasten, Kasteiungen und Bußübungen. Vielleicht trennte er sich deshalb schließlich von ihm.
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VI Ein Schrei von Caterina riß mich aus dem Schlaf und brachte mich zum Fluchen. Außerdem das Licht, die Frauen in der Salzküche, die Stimmen von den Booten: Was war es bloß, das Alter oder die Jahreszeit, ich hätte bis mittags schlafen können. Jetzt klapperte sie hinter meiner Tür vorbei, in den Holzschuhen ihrer Mutter, sie trat fest auf, weil sie schlecht Gleichgewicht halten konnte. War es das erstemal? Ach, wenn sie nur eine Stunde lang meine Schwester wäre! »He, Ma …« Und ihre Mutter knallte die Teller in den Spülstein, immer so schlecht gelaunt frühmorgens, immer hatte sie es auf jemanden abgesehen, und nachts legte sie sich wohl mit den Leuten an. »O du Nervensäge!« zischte sie durch die Zähne. »He, Ma …« »Nervensäge!« »Ma, Ma, Maaa …!« und sie stampfte so heftig mit dem Fuß auf, daß die Pflanze in der Vitrine wackelte. »Du Nervensäge!« schrie die Mutter und stürzte sich auf sie, um sie zu packen, »Tod und Teufel nochmal, wart nur, du Miststück, wart nur …« Das Mädchen öffnete die Tür, kam in mein Zimmer geschlüpft und schloß ab. Ich stand im Bett, als sie hereinkam, sie musterte mich von Kopf bis Fuß und drehte mir dann den Rücken zu. Ganz sanft sagte sie: »Du tust ja so, als wär schon Sommer.« Ich legte mich wieder hin, das Bettzeug bis ans Kinn hochgezogen. 74
»Und du, wieso kommst du hier einfach rein?« »Sie schlägt mich.« »Was willst du denn?« »Ein neues Kleid, zu Ostern.« »Mach auf, du Miststück, mach auf! Heut früh wirst du noch was erleben!« schrie die Frau hinter der Tür und rüttelte an der Klinke. »Hau ab.« »Mach auf, hab ich gesagt!« Caterina warf mir einen Blick zu, drehte den Schlüssel um, und ihre Mutter kam ins Zimmer gestürzt, wie eine Furie. »Da, da, du Verrückte! Wie konnte ich nur sowas wie dich in die Welt setzen!« Sie ließ ihrer Wut freien Lauf: Schläge auf den Rücken und auf den Hintern, zerraufte Haare, Schaum vor dem Mund, im Gesicht violett wie eine Witwe hinter dem Sarg oder eine Wallfahrerin, wenn der Heilige vorbeigetragen wird. Caterina, ein Häufchen Elend auf dem Boden, heulte wie eine Sirene oder eine kalbende Jungkuh. Hätte ich Kleider angehabt, wäre ich ihr zu Hilfe gekommen. »Und du steh auf, du Nichtsnutz, meinst du, Don Peppe hat dich hergebracht, damit du dir hier einen feinen Lenz machst? Siehst du nicht, daß es Zeit für die Schule ist?« Caterina blieb dort vor der Tür, ganz erschöpft vom Weinen und Schreien: Es sah aus, als würde sie gleich vom Fußboden verschlungen, so schlaff, verlassen, außer Atem und regungslos, wie sie war. Sie merkte nicht einmal, daß sich ihr Rock um die Taille gewickelt hatte. »Gehst du jetzt mal?« sagte ich. »Nein«, antwortete sie stur. 75
»Ich muß aufstehen.« Sie antwortete nicht. Nachdem ich meine Bücher zu einem Bündel geschnürt hatte, wollte ich über Caterina steigen, um aus dem Zimmer zu gehen, aber diese Rolle um ihre Taille hielt mich zurück, das pralle Weiß über den Knien; und die Schultern, der Hals, der Kopf, vom Kreis der Arme umschlossen. »Caterina.« Sie regte sich nicht, stellte sich tot. Ich berührte ihre Haare, und da zuckte sie, sie merkte es, doch anstatt erstaunt zu sein, anstatt aufzufahren, zog sie langsam mit der Hand das Kleid nach unten und blickte mich dabei fest und herausfordernd an. Ihr Gesicht war weiß, und die Augen waren schwarz-lila: Caterinas Gesicht hatte sich vollkommen verändert. Ich geh und geh, der Hafen, die Straße, der Platz, Kirche, Hof und Schule, und immer dieses pralle Weiß und die schwarzen Pupillen in dem Lila. Vorher war sie mir nie in den Sinn gekommen, nie hatte ich an Caterina gedacht, ja, ich hatte im Zimmer schon mit ihr herumgealbert, gestritten wegen herausgerissener Heftseiten und Kritzeleien auf den Büchern, sie ganz ganz fest um die Taille gefaßt oder am Hals, so daß sie den Kopf vorbeugen und lachen mußte. Was anderes hätte ich nie mit ihr geredet, nur: Zirkel, Füllfederhalter, Winkelmesser, Lineal, Atlas, um das Festland zu suchen, los, mach schon, Caterina. »An was denkst du denn?« fragte mich Pere Salemi während der lecon. »Hast du dir heute morgen das Gesicht gewaschen?« Oui, mon professeur, natürlich! Je te salue Marie, pleine de grâce … Wie sie sich vor meinen Augen verändert hatte, über Nacht groß geworden war und traurig, schmerz76
erfüllt. Und jetzt will sie zu Ostern ein Kleid. Ainsi soit-il. Diese Furie von Mutter, sie könnte ihr den Wunsch ruhig erfüllen, anstatt jeden Abend an Tür oder Fenster zu schmachten, ob der Kerl, den Caterina Onkel nennen mußte, kam oder nicht kam. Qui nous donne son doux, son premier aliment? C’est la maman, c’est la mama, c’est la má … Jetzt Italienisch, Latein und Religion: drei Stunden lang Don Sergio. Er hat eine Neuigkeit, das erkennt man an der Eile beim Hinsetzen, an dem zu breiten Grinsen und daran, wie er mit dem Finger unter das Skapulier fährt, ihn rundherum kreisen läßt, um sich den Hals frei zu machen. Ich stell mir ein Skapulier aus Stahl vor, so scharf wie eine Rasierklinge, und Don Sergio, Pere Salemi, den Aufseher, Superior, Rektor und alle Oberen, voller Angst, auch nur ganz leicht an den Kopf gestoßen zu werden, die ganze Zeit stocksteif, wie sie weder auf den Boden noch links oder rechts schauen und sich bewegen, als wären sie aus Holz. Aber das ist eine komische Vorstellung, irgendwie im Kopf entstanden, wie die, daß es morgens überhaupt nicht hell wird, daß meine Mutter sich die Lippen rot anmalt, die Haare blond färbt und Boogie tanzt, ich mit Caterina aufs Festland fliehe oder nach Frankreich oder Argentinien, wo sie mir nachts auf der Gitarre vorspielt, während ich im Felsen nach dem Schatz grabe, um ihr zu Ostern ein Kleid zu kaufen, glockenweit und ganz aus Taft und Seide. »Diese Verräter!« schrie Don Sergio und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Verräter. Habt ihr die Anschläge an den Mauern gesehen, habt ihr die Plakate gesehen? Erzählt es in den Familien, erzählt es überall, wohin ihr kommt: Das ist nicht der Heilige Josef, das ist nicht der Ewige Vater! Das ist Garibaldi! Die Kommunisten sind das!« 77
Und dann lacht er mit dem Blatt in der Hand, blickt beim Lesen über seine Brillengläser hinweg. Jetzt müssen wir hören, was darauf steht: ein Gedicht, ein Lied. Für mich heißt das: freihaben, bis die drei Stunden endlich um sind. Mústica liest seinen Roman auf den Knien, er erzählt, daß es da zwei, die auf Arbeitssuche sind, neben der sterbenden Großmutter auf einem vollen Lastwagen treiben. Ist das Kapital erst abgeschafft und scheint der Zukunft helle Sonne ist einem jedem Reichtum beschafft und unsagbare Wonne: Von Milch und Honig sind dann alle Flüsse auf den Bäumen hängen schnapsgefüllte Nüsse Auf der Straße zieht eine Hochzeitsgesellschaft vom Land vorbei, in einer Prozession kommen sie aus der Kirche, vorneweg das Brautpaar, noch scheu, weil es hier fremd ist, an der Kreuzung werden sie schon gelassener sein, sich die Schuhe ausziehen, sich dem Gelage hingeben, den Bergen von Pasta, fetter Hammelbratensoße und Prost auf Glück, männliche Nachkommen, Kraft, Protz, Gesundheit, Strotz. Don Sergio lacht sich über das Blatt schief, erklärt es uns ironisch: kapiert, das Kapital, die Sonne der Zukunft, die Schnapsnüsse? Filippo klagt und schnaubt wie ein Stier, und verdammt nochmal, er will arbeiten, richtig ackern, wie die, die in Kalifornien Äpfel pflücken, hacken und säen, und eine Frau im Bett für die Nacht, jede Nacht. Verdammt, diese Kraft, ich halt sie nicht mehr aus. He, gleich zerschlag ich den 78
Tisch, zerschlag die Tafel, ich brech Don Sergio einen Arm, wenn er mit dieser Litanei weitermacht. Jetzt bittet er, austreten zu dürfen. »Beeil dich«, sagt ihm der Lehrer. »Natürlich«, tuschelt mir Filí zu, »nur ein paar Minuten.« »Wollt ihr, daß ich es an die Tafel schreibe?« Na gut, Don Sergio, wenn Sie bloß auf die Spitze spucken, damit es nicht so quietscht, daß man Gänsehaut kriegt. Zwei Frauen mit Besen treten auf den Balkon, die Hand an der Stirn, um sich vor der Sonne zu schützen, eine macht das Kreuzzeichen: irgendwas ist los im Dorf. Mústica kommt keuchend und verschwitzt zurück. »Ist’s vorbei, Filí?« »Ich hab eine Hofrunde auf einem Bein gemacht, das ist unfehlbar, da bist du so richtig erledigt.« »Hättest doch im Hof schnell das Buch überfliegen können.« »Nein, da fliege ich selbst drauf, das hat noch mehr Stellen als die mit dem Lastwagen.« An der Tafel singt uns Squillace lächelnd das Lied vor, weil Don Sergio keine Stimme hat. Ist das Kapital erst abgeschafft … Ein Flugzeug fliegt vorbei, ganz tief, so daß die Fensterscheiben zittern, und die beiden Frauen kommen wieder auf den Balkon, unterhalten sich aufgeregt und blicken nach oben in Richtung Berge: Da ist sicher irgendwas los. Ich kenne die Frauen, ich kenne viele Leute, inzwischen gehöre ich schon zum Ort und hab meine eigene Art, die Schule zu 79
vergessen, wenn gar nichts los ist: Jemand kommt am Fenster vorbei, ich halte ihn im Rahmen fest, ich stell mir vor, was er alles hat, Vater, Frau, Kinder, ob er reich oder arm ist, arbeitet oder nicht arbeitet, das Leid, was ihn plagt, die wichtigsten Dinge in seinem Leben. Das Fenster wird größer und größer, hat Platz für viel Raum und Zeit, den ganzen Ort und andere Orte, zehn, zwanzig, fünfzig Jahre, viele Leute und viele Dinge. Wenn ich gesagt krieg, daß man nicht aus dem Fenster schauen soll, dreh ich mich zur weißen Wand hin, und das ist noch schöner, das Spiel mit den verdrehten Schatten, und ein paar errate ich auch: den Buckligen, den Kaminkehrer, die Post, das Brot, alle Tage zur gleichen Zeit die gleichen Schatten. Dann gibt es noch den Trick mit dem Gesicht geradeaus und den Augen verdreht zu der Scheibe mit der Straße, die sich spiegelt: der Brunnen, die Krüge, die Frauen, die Reihe der Schuppen und Lager. Jetzt sind viele Leute auf der Straße, sie sprechen in Gruppen miteinander, ausladende Handbewegungen, einer liest Zeitung: heute früh ist wirklich irgendwas los. Mensch, diese Schule! An manchen Tagen kommt sie mir wie eine Flasche vor, wie eine Wiege für Säuglinge. Wenn man rauskommt, ist man ganz doof und benommen: Wer zu schwach ist, macht sich gleich in die Hosen und schlüpft in die Flasche zurück; wer schlau ist, hat kapiert, daß es wichtig ist, dem Unterricht redlich zu folgen und ohne Scheu alles aufzusagen, ohne sich erniedrigen zu lassen. Auf den Bäumen hängen schnapsgefüllte Nüsse anstatt Äpfel, Birnen und Kartoffeln Zuckergußkonfekt und Waffeln. 80
»Bravo, Squillace! Jetzt alle zusammen.« Ist das Kapital erst abgeschafft … »Ich halt mein Kapital fest, schau, in einer Hand«, sagt Filí. Ein tiefhängendes, wie aus Gummi gezogenes Wolkengewölbe bedeckte den Mittagshimmel, und klebrige Hitze machte die Augen trübe und die Gesichter ölig. Es war das Wetter, bei dem alles allmählich einzuschlummern, schwer und stumm zu werden schien: Ich erinnere mich an den Todestag meines Vaters, jedes Jahr am Karfreitag um drei Uhr nachmittags, den Tag des Erdrutsches in meinem Dorf, den Tag der zehn mit einer Seemine in die Luft geflogenen Fischer, den Tag des Choleraausbruchs in der Kalsa von Palermo … Die Straße, das sind weit aufgerissene Augen, schwere Stirnen über dem Halbrund der Augenbrauen, gichtige, sich langsam dahinschleppende Beine, gekrümmte Rücken unter dem niederen Himmel, die geschwollene Hand mit gespreizten Fingern; der Hahn im Hühnerhof, der vor dem Hühnerhabicht warnt, der Hund, der ihm aufgeregt antwortet. Dieser Hund und noch ein Hund und alle Hunde: Ja, der Ätna ist ausgebrochen! Spuckt erbarmungslos, vernichtet Felder und Häuser, läßt um die Dörfer in der Tiefe fürchten, Passopisciaro, vor allen anderen. Auf den Viehwegen laufen die Bauern mit Kindern, die Alten mit Sack und Pack: lebtwohl, Gärten, lebtwohl, Weinberge, lebwohl, Arbeit, und lebwohl, Arbeit meines Vaters. Ich denke an die Gräfin Mussomeli, die mit langen Schritten durch den Salon schreitet, sich beim Verwalter nach Neuigkeiten erkundigt und der Madonna drei goldene 81
Fischlein mit Augen aus Rubin verspricht, wenn die Lava aufhört, in ihren Besitz zu fließen, wo sie doch schon ein großes Stück unter sich begraben hat. Wer weiß, ob Onkel Peppe die Gräfin kennengelernt hat, bei ihr hat er damals eingekauft, als er mich nach Randisi mitnahm. Wenn ich wieder heimkomme, will ich eine Flasche von diesem Wein, als Andenken für meine Kinder: Das ist Wein von lavabedecktem Boden, ein besonderer Wein, einzigartig auf der Welt, wie Blut, wie der Sohn eines beerdigten Mannes. Aber vielleicht weiß die Gräfin gar nicht, daß der Berg sich aufgetan hat, oder es ist ihr ziemlich einerlei, weil sie mit den Damen in ihrem Palazzo in der Via Maqueda in Palermo viel zu sehr mit den Vorbereitungen für die Wahlkampagne des Fürsten d’Alcantara beschäftigt ist, Kandidat der Monarchisten, denn dieser Affront war zuviel gewesen, ganz zu schweigen vom Betrug, der mitgespielt hatte. Oder die Gräfin hat andere Ideen im Kopf, wie diejenigen, die mit den Lautsprecherautos durch die Orte fahren, um herumzuschreien, daß heute um 16 Uhr Cipollaro spricht, an alle Bürger, und Achtung, um 18 Uhr Aprile und Maggio. Meri Campisi ist glücklich, flaniert mit ihrem Vater, der zurückgekehrt ist, weil er nicht länger warten wollte; er ganz in Hellblau gekleidet und sie in enger Bluse mit einem wild reitenden Cowboy auf dem Rücken. Meri kaut ständig und schluckt nie, mit ihren roten Lippen, die sie weit öffnet, was selbst die Alten reizt. Im Casino lesen sie die Zeitung, die in einen Zeitungshalter mit einem kleinen Vorhängeschloß geklemmt ist, und aus dem Radio hört man das Prasseln der Lava und das Knarren des Baums, der sich krümmt und fällt. Ich muß Onkel Peppe fragen, ob er mir eine lavaversengte 82
Rebe mitbringt, die ich zusammen mit der Weinflasche aufheben kann. »Der siebenundvierziger Ausbruch war abscheulich und gemein!« werde ich meinen Kindern erzählen. »Im Jahr, in dem die Wahlen waren und Giuliano in Palermo in Hotels übernachtete.« Sonnenfetzen durchbrachen den zugeräumten Himmel, und ein warmer Sturm kräuselte das Meer, das dunkler war als Azol: Das ist Schirokkowetter, wenn er ausbricht, verdorren Blüten und Knospen von Mandel- und Zitronenbäumen. Ein Mann steht mit einem anderen Mann auf einem Mäuerchen, sagt zu einer Gruppe, Genossen, das ist der Genosse Gerolamo La Fauci. Der Genosse nennt es eine Schande, das stillschweigende Einvernehmen mit den Mafiaführern, die Protektion der großen Haie. Und die Bauern, die Schwefelgruben, die Olivenpflückerinnen, der Reichtum der Bürger in den großen Städten, der so unendlich ist wie das Meer. Der Schirokko ist ein Wetter, das einen ermattet, einem die Augen und sonst alles verschließt, jeden Gedanken und jedes Gefühl einschläfert. Die Jungfrauen aus Wachs auf der Kommode schwitzen unter der Glasglocke: Lucia, zwei Augen im Teller, Agata, die Brüste im Korb, Rosalia liegt in der Grotte, die Madonna von Tindari tiefschwarz mit dem Kopf des Kindes zwischen ihren Brüsten. Unter dem hohen Felsen erstreckt sich ein totes Meer und unter dem Meer eine römische Stadt: Zwei Jungen sind hinuntergesprungen, einer tauchte mit einer Amphore in der Hand wieder auf, der andere endete in den Fängen eines Polypen. Auf der Mauer ist eine Frau abgebildet, mit Schlangen als Haaren und drei Beinen am Kopf: Wenn sie sich dreht, wird 83
sie zum Teufelsrad, Mis, die verfluchte Misere muß ein Ende nehmen, das Problem läßt sich mit dem Stern lösen: ein weiterer Stern auf die Fahne, die Brücken der Meerenge von Messina abbrechen; hissen wir ein Segel auf dem Berg und fahren hinaus übers Meer, wählt, Bürger. Meris Vater hat ein Gebiß, viel zu große Schuhe für seine Füße, die Schlangenfrau und die Rosette im Knopfloch der Jacke, die ihm bis über den Hintern geht: Ja, hab einen Laden, ja, hab ein Auto, muß kurz telefonieren … Die Fischer sehen aus wie Ochsen, mit dem aufgerollten Netz auf den Schultern. Hintereinander wie in einer Prozession gehen sie den ganzen Strand entlang, und wenn sie sich im Kreis aufstellen, werden sie zu einem Rosenkranz, um die Gebete zu sprechen: jeder Mann ein Vaterunser, jeder Kreis ein Geheimnis. Caterina hat sich herausgeputzt, ihre Mutter schniegelt und streichelt sie und zupft ihr die Schleife auf dem Kopf zurecht. Sie schaut mich nicht an und spricht kein Wort mit mir, lächelt kaum, als ich ihr von Meri mit dem Cowboy und dem Vater mit den zu großen Schuhen erzähle. Die Mutter drängt sie zum Essen, schlägt ihr mit dem Messer ein Ei auf und füttert sie wie ein Kind. Sie sagt, daß ich sie zu Ostern sehen muß, Caterina, mit dem neuen Kleid, den Schuhen und der Handtasche. Caterina lacht und läuft auf die Terrasse mit einer Orange, um sie in die Luft zu werfen. Oè moè erst der Fuß dann die Hand einmal Klatschen zweimal Klatschen 84
einmal auf den Boden zweimal auf den Boden und das Rad die Mühle das Kreuz der Tod das Paradies das Schicksal. Beim Schicksal läßt Caterina die Arme sinken und: patsch! – die Orange zerplatzt, mit ihrem blutroten Saft und den weißen Kernen, die wie Mark aussehen.
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VII Ein Vorfrühling, der nichts zu wünschen übrigläßt, hat begonnen. Die Brennschale, mit Asche und Zitrone auf Hochglanz poliert, wird in die Abstellkammer gehängt. Lust, auf der Terrasse zu sitzen und Salat zu essen, Lust auf saure Mispeln. Die Alten, das Tuch um die Schultern und die Mütze bis über die Augen, gehen in die Sonne, um ihren Katarrh loszuwerden, den Winter aus den Knochen zu bekommen, zeichnen mit ihren Stöcken auf den Boden, schrecken Vögel und Eidechsen auf. Die Frauen auf den Balkonen, an den Fenstern, die Knoten gelöst, kämmen ihr Haar aus, bis auf die Schultern, bis zur Taille, sie versorgen den falschen Dutt in den Kästchen mit den Papierrosen, Kreuzstichdeckchen, Organza- und Rüschenpuppen. Die Anstreicher, Kappen aus Zeitungspapier, räumen die Kammern aus, Böcke und Tische, Bettgestelle und Matratzen hinaus auf die Bürgersteige; Kalk und Schrubbürsten machen den Frühling, weiß und himmelblau, erdrosa, weizengelb. Caterina sagte mir auf der Terrasse, daß sie die Zitronen sauer mag, mit hartem Stipsel: Stimmt es, daß man zwergenklein bleibt, wenn man den Stipsel mitißt? Mit dem gut geschliffenen Sichelmesser wird alles Dürre abgeschlagen. Stimmt es, daß man von Salz Läuse kriegt? Schäl eine andere, die Schale an einem Stück, mal sehen, ob du heiratest. Du bist schon ganz braun, ohne zu baden, wenn erst Sommer ist, bist du eine Schwarzwurzel. Wieso hast du blaue Augen? Und wieso du braune? Willst du tauschen? Preß deine Stirn gegen meine und schau mir ganz fest in die Augen. Caterina sagte mir auf der Terrasse, daß sie, lieber Himmel, 86
noch nie geküßt hat. Und sie preßte die Zitronenschale ins abgestandene Wasser eines Aronstabs, und es schillerte wie ein Regenbogen. Aber ich, Millionen Frauen habe ich geküßt. Bei Filippo prahlte ich, daß ich jetzt eine Freundin hätte, Caterina. »Wer? Diese Zirpe? Die hat doch gestern noch Himmel und Hölle gespielt.« Filippo kennt sie nicht, er redet einfach so dahin, um was zu sagen. Er hält sich für einen Mann, der hinten und vorne Bescheid weiß, und sagt zu den Frauen, die in der Salzküche arbeiten: »Ich hab eine schöne dicke Sardine in der Tasche, kannst du die mal packen und in Tunke legen?« »Laß es dir doch von deiner Schwester besorgen!« Die Arbeiterinnen im Keller, unter dem Balkon von meinem Zimmer, sind hochnäsig, scherzen immer nur untereinander, wer weiß, was die sich Schönes erzählen: Giuliano gehört zum süßen Obst, dicker Hintern wie ein Advokat, Pisciotta, ja, der gehört zum herben. Die Vorarbeiterin nennt sie kleine Nutten, Hürchen, immer denkt ihr nur an das Eine, und sie singen einen schmachtenden Wechselgesang, Rosa, Sarina und Peppinella haben geheiratet, und ich bin schön und will auch einen Mann. »Das ist ja wie im Puff! Reicht nicht der ranzige Geruch von der Salzlauge, muß auch noch gesungen werden?« sagt die Hausherrin. Und dann, zu ihrer Tochter Caterina: »Wenn ich dich da runtergehen sehe, breche ich dir die Knochen einzeln.« Der Laster von Delfino hielt unter dem Balkon, und Onkel Peppe stieg aus, mit meiner Mutter, die keine Trauerklei87
dung mehr trug. Sie sah ganz anders aus in den Farben und mit der Korallenkette, die ihr den Hals zuschnürte. Sie stand mit gesenktem Kopf da, während der Onkel zu erklären versuchte: wegen mir hätten sie es getan, um mich nicht alleine zu lassen. »Wir ziehen hierher. Delfino lädt schon bei dem Haus ab, das ich letztes Mal gemietet habe.« Bestimmt waren sie weg aus dem Dorf wegen dem Getratsche, das schon lange ging, ewig dieses Geraune, vielleicht sogar schon, als sein Bruder noch lebte. Caterina fing an zu weinen, ihre Mutter verpaßte ihr eine Ohrfeige und schickte sie schlafen. Der Onkel, der am ersten Tag den Samtrock und den Ohrring weggelegt hatte, stellte sich auf Handel mit Orangen und Zitronen um, wurde Zwischenhändler und Schätzer, auch hier hatte er Beziehungen, FIRMA SCAVONE – Südfrüchte-Export, man kauft die Ernte, wenn die Bäume noch in Blüte stehen, und dann muß man sehen, ob es wird, es ist ein blinder Handel, er kann schlecht ausgehen, er kann sehr gut gehen. Diese Handvoll Landbesitzer sind gierig auf Bares, sie geben dir die Blüte mit Handkuß, man darf bloß nicht an Sturm, Schirokko und Hagelschlag denken, muß ruhig bleiben, Zeitung lesen, Tressette und Zecchinetta spielen, im Casino oder in den Sesseln bei ihnen zu Haus. Jetzt, mit Familie und Haus, fühlte ich mich im Ort sicherer, wie Tano, wie Filippo, Costa und Seminara. Und weil es schon kurz vor Ostern war, bereitete ich zum ersten Mal in meinem Ofen den Weizen für das Heilige Grab vor. Ich ging jeden Morgen vor der Schule nachschauen, wie schön er wuchs, man konnte fast zusehen, dichtweiß, und wässerte ihn. Fast tat es mir leid, ihn mit in die Schule zu 88
nehmen, ich hätte ihn gerne zu Ende wachsen sehen, auf dem Feld hoch werden und schließlich Ähren bekommen. Doch das war ein absurder Wunsch, denn nie hätte ein Samen Frucht getragen, der in einem dunklen Ofen in Wasser gekeimt war, ohne Erde und Sonne. Aus diesen Samen konnten nur die weißen Halme werden, die in kurzer Zeit faulten. Schön war er nur, wenn er mit Seidenband und Stanniol die Schale umkränzte, die auf das Heilige Grab gestellt wurde. Nur das und sonst nichts würde ich mit meinem Weizen machen, wie alle anderen Schulkameraden auch. Zu Hause fehlte es uns an nichts, der Onkel versorgte uns gut, kam immer vollbepackt die Treppe hoch und pfiff nach mir, damit ich ihm tragen half. »Gibt’s wieder Krieg oder Hungersnot?« sagte Mutter, die immer nur saubermachte, Wäsche kochte, sie auf der Terrasse aufhängte, ständig mit Besen und Putzlappen durchs Zimmer ging. »Das ist ja wie eine Sucht, ruhst du dich nie aus?« sagte Onkel. Der Zementzuber war groß wie ein Boot, und Sonntag morgens badete ich darin. Don Sergio schaute mich anders an, er bemerkte die Veränderung an meinem Körper, bei den Kleidern, den Schuhen, den Haaren, und nahm mich als Apostel Matthäus für die Fußwaschung. Johannes, der Lieblingsjünger, sieh, das ist dein Sohn, sieh, das ist deine Mutter, blond und den Kopf leicht seitlich nach unten geneigt, war immer die Rolle von Squillace. Alle waren da, von Petrus über Thaddäus bis Simon, nur Judas Ischarioth fehlte, niemand bot sich dafür an, wir taten so, als gäbe es ihn nicht. Mit dem Rücken zum Allerheiligsten saßen wir auf dem Marmor der Balustrade und zogen Schuhe und 89
Socken aus: Die Priester kommen mit Krug, Becken und Tuch, einer gießt Wasser über die Füße, der andere trocknet ab, der Rektor nimmt den Fuß in die Hand und küßt ihn. Dann, im Refektorium, am Tisch in Hufeisenform, essen wir einen Laib Brot und Salat. Der Seminarist erzählt uns vom Pult in der Mitte des Saals die Leidensgeschichte, und jeder spielt seine Rolle. Für Tano war es ganz leicht, er saß neben Jesus Christus, den Kopf an ihn gelehnt und die Augen voller Schmerz. Ich wußte nichts über Matthäus, nur daß er Evangelist und Zöllner war, sollte ich ans Geld denken oder ans Schreiben vom Evangelium? Das Licht fiel durch das Fenster vom Refektorium und warf Kästchen auf den Fußboden, solche, wie sie die Mädchen mit Kreide für Himmel und Hölle zeichnen. Drüben ist der Hof, der Rundlauf mit den Jungen, die sich schnell im Kreis drehen und nichts wissen von dem Mahl hier im Refektorium. Wer von ihnen wird später Matthäus, wer Johannes, wer Philippus sein? Der kleine Blonde, der die Schultern hochzieht und sich vor den Schlägen der Kameraden in Sicherheit bringt, der sich nicht traut, bei der Rauferei mitzumachen, aber von seinem sicheren Platz aus lauter schreit als die anderen, ja, der tritt vielleicht einmal an die Stelle von Squillace. Bei jedem Schritt auf dem Korridor stiegen aus unseren Schuhen Puderwölkchen auf, wie kleine Taubenflügel. Der Aufseher hatte sich ausbedungen, die Füße so sauber zu waschen wie das Gesicht eines Neugeborenen. Die von Squillace waren kurz und dick, wie verwachsen, der große Zeh ohne Nagel und zwei andere gekrümmt übereinandergeschoben; der Rektor schaute ihn einen Augenblick an, bevor er ihn zum Kuß mit den Lippen berührte. Am Donnerstag sind wir mitten in der Passion: Die Hostie 90
wurde in die Urne vom Heiligen Grab gebracht, zwischen die Schalen mit dem Weizen, die Wachslichter in den Gläsern mit gefärbtem Wasser und die mit Seidenpapier beklebten Pappfiguren; alle Glocken wurden angebunden, und die Dorfjungen gehen durch die Straßen mit Klappern, die dumpf wie Nüsse klingen. Don Sergio sagte uns, daß auf dem Platz vor der Pfarrkirche, vom Balkon des Schwesternhauses aus, ein Mönch sprechen würde, Pater Alessandrini. »Er ist Toskaner, predigt gut, ist auf der Durchreise, wir wollen ihn nicht versäumen.« »Aber diesen Jesuiten, diesen einen Jesuiten …«, sagt einer der Großen und schnalzt mit der Zunge. »Den habe ich im Stadion in der Favorita gehört.« »Ja, ja«, sagt Don Sergio. »Aber der Pater ist gefühlvoller, poetischer. Außerdem ist er Toskaner und Franziskaner.« Die Gasse endete auf dem Platz wie Atemnot in einem tiefen Luftholen, wie ein Bächlein, das ins Meer mündet, und die Kirche aus syrakusischem Stein hatte um diese Zeit eine rötliche Färbung und ein flammendes Rund auf dem Giebel mit den Armen Seelen im Fegefeuer. Das Schwesternhaus mit den Gitterfenstern stand am rechten Rand vom Platz, und unter dem einzigen Balkon hing der Lautsprechertrichter. Der Erzpriester beruhigte die Menge mit einer Geste und kündigte Pater Alessandrini an, und da dieser sich gerade auf der Durchreise befindet, nutzen wir die Gelegenheit, obgleich wir nicht würdig sind, gewiß nicht; und so hört ihn, Gläubige. Ein kräftiger Mönch trat vor und sprach laut und abgehackt das Kreuzzeichen ins Mikrophon. 91
»Verbrecher-Übeltäter-Verräter-Schlangenbrut-Denunziantenpack!« brüllte er, die Zeigefinger wie Lanzen auf die Leute gerichtet. Jeder schaute aufs Pflaster, knüllte sein Taschentuch, trat ein bißchen auf der Stelle, von einem Fuß auf den anderen. »Das Rechte, das Gute, das Heilige habt ihr getötet, ihr habt Jesus Christus gekreuzigt, perfide Juden!« Er hielt inne, um seine Kutte am Arm neu zurechtzulegen, und die Leute schauten nach und nach wieder zum Schwesternhaus. Links und rechts vom Balkon, darüber und darunter, überall hinter den vergitterten Fenstern, konnte man das Weiß der Nonnenkragen erkennen; nur noch für kurze Zeit, denn langsam versank der Platz im Dämmerlicht. Der Mönch ließ von seinem barschen Ton ab, zog ein anderes Register: Christus mit Palmen begrüßt, Christus am Ölberg, Christus verzweifelt, dornengekrönt-angespiengegeißelt. Wie eine Musik, die unvermittelt mit BeckenPauken-Triangeln-Trommeln und vollen Trompeten einsetzt und mit einem Mal abbricht, um mit feinem Geigenton fortgeführt zu werden, gefolgt von fernen Harfenklängen, so war seine laute und heftige Predigt leise geworden, ergriffen, betrübt, indem sie Stück für Stück die Leidensgeschichte erzählte. Und es war wirklich Musik in den Ohren, eine Melodie, dieser sanfte Fluß des Toskanischen. Wollt ihr einen gewalttätigen Menschen beschwichtigen, ihm das Messer aus der Hand nehmen, ihn unschädlich machen, wie die Würmer im Bauch von Kindern? Redet, redet wie die vom Festland. Hier, wo alles rauh, stark und hart ist, das Land, die Sonne, die Gesichter und die Worte, die wie rumpelnde Steine klingen, hier begeistern wir uns 92
blind für alles Sanfte, Kinder und Frauen, für Wohlklänge, die wie Seide rascheln. Jetzt im Dunkeln machten sie über dem Pater eine große Lampe an. Ein fast voller Mond tauchte hinter dem Campanile auf und beschien die an einer Seite festgebundenen Glockenklöppel. Zu einer normalen Zeit, an einem anderen Tag hätten die Glocken schon zu Abend geläutet. Der Mönch sprach weiter über die Sünder, verglich die Juden mit den heutigen Feinden der Kirche: Seid wachsam an diesem Tag im April, gebt acht, daß ihr die Gerechten und die Lügner auseinanderhaltet. Er prophezeite eine schlimme Zukunft, wenn die Feinde siegen sollten. Tano Squillace hielt sich am Arm von Don Sergio, steckte ab und zu eine Hand in dessen Tasche, holte sich ein Bonbon heraus und lutschte es. Der Pater kam zum Schluß, hob die Arme in die Höhe und richtete den Blick zum Mond und zum Kreuz auf dem Campanile: »Wir sagen wie Christus, der an diesem Tag gestorben ist« – die Ärmel der Kutte waren bis zu den Achseln hochgerutscht, und am linken Handgelenk seines kräftigen Arms funkelte eine goldene Uhr – : »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.« Die Stille staute sich auf dem Platz: Es war das plötzliche Versiegen dieses Wortschwalls, wie die vom Mund weggezogene Brust, wie ein Lied, das uns zwei Stunden gewiegt hat und mit einem Mal verstummt. Doch sofort gab es Händeklatschen, Schreie, Hochrufe. Auch Don Sergio war aufgewühlt, streckte sich hoch über die Köpfe, mit der Trillerpfeife an den Lippen, blies dreimal hinein und rief dann laut: »Katholische Jugend, zu mir!« Wie der Blitz hatten wir uns um ihn geschart, traten uns auf die Füße, schubsten uns gegenseitig, und auf ein weiteres 93
Pfeifsignal schmetterten wir aus voller Brust einen martialischen Gesang: Wir sind die Streiter für Christus den Erlöser Katholische Jugend, auf in den Kampf … In der engen Gasse, im Gedränge der Leute auf dem Heimweg, verloren wir die Kameraden und Don Sergio. Tano Squillace ging neben mir, er kaute immer noch Bonbons, und Seminara hinter uns, wie stets mit finsterer Miene, gerade fertig mit Weinen und schon wieder kurz davor. Tano, was ganz Neues, sprach mich an, aber zu laut, als redete er zu anderen: »Kommst du mit zu mir nach Hause, und wir gehen dann später in die Schule zur Grabwache?« Ich sagte nein, weil ich mich bitten lassen wollte, doch er achtete nicht auf mich, schielte schräg nach hinten, ob der andere ihn beobachtete. So, Schulter an Schulter, war Tano schätzungsweise zwei Fingerbreit größer als ich. Aber wie er ging, den Kopf hochhielt, immer in Bewegung, sich umzuschauen, sah er eine Handbreit größer aus. »Guten Aaabend …«, sagte er übertrieben zu den Leuten, die er kannte. Wir hatten unseren Spaß mit den Sprüchen auf dem Platz, mit Kalk, Pech, Zinnoberrot geschrieben, weggewischt und neu geschrieben; Stalin muß her, mit der Friedenstaube unter der Nase, Christus der erste Sozialist, Hoch Giuliano, der die Kommunisten niedermacht … Seminara hatten wir verloren, er war mit den anderen zur Klosterschule gegangen. Am Schloß der Lancia di Travia erwartete man den Fürst von Alcantara, Scheinwerfer, Lautsprecher, Fahnen vom kleinen Balkon am Westturm. 94
Im Arbeitszimmer bei Squillace zu Hause schaute sein Vater in Amtstracht von der Wand, das Ganze hergerichtet wie ein kleiner Altar, Konsole, schwarzer Krepp, Zelluloidblumen, ewiges Licht. Seine Mutter erschien an der Tür. »Tanuzzo, soll ich dir ein Süppchen machen?« »Ich habe in der Schule gegessen«, antwortete Tano und spießte mit dem Brieföffner in Form eines Dolches meinen Schatten an der Wand auf. »Dann zwei Eier. Heute morgen habe ich sie dir in die Tasse geschlagen, und du hast sie stehenlassen.« »Ja, ja …« »Ich habe dir auch eine Creme gemacht. Bring deinen Freund mit, dann könnt ihr sie zusammen essen.« »Mama!!« schrie Tano ungeduldig und knallte den Brieföffner auf den Schreibtisch. »Gehst du jetzt endlich!?« »Junge, was bist du so jähzornig … wie der Vater«, murmelte die Mutter und schloß die Tür. Tanos Ausdruck wechselte augenblicklich, er lächelte mich fast verschwörerisch an, als hätte er sich seiner lästigen Mutter meinetwegen entledigt. »Komm«, sagte er, »ich zeige dir die Sachen von meinem Vater.« Er fing an, mir Papiere zu zeigen, Medaillen und viele Photographien: sein Vater als Bürgermeister, sein Vater, der vom Balkon der Gemeinde spricht, auf der Bühne beim Theaterspiel vom Jungvolk, im Afrikakrieg, in Majorsuniform, mit Tropenhelm, neben Graziani, zwischen weißen Soldaten und Askaris. Dann machte er mir ein Zeichen, aufgepaßt: Jetzt kam das tollste Ding. Er wählte aus einem Bund ein Schlüsselchen mit einem Kleeblattgriff, öffnete eine kleine Schublade an der linken Seite vom Schreibtisch, 95
zog ein in Leder gebundenes Album mit eingeprägten Kamelen, Dünen, Palmen und Beduinen heraus. Tano machte das alles ganz hastig, die Augen zur Tür gerichtet, ob sie auch nicht aufging. »Komm mit«, sagte er und schob sich das Album unters Hemd, »gehen wir in mein Geheimzimmer.« Wir gingen im Dunkeln die Treppe hinunter, auf Zehenspitzen, um keinen Lärm zu machen, bis zur Vorhalle des Eingangs. Dort gab es eine Falltür und darunter eine Wendeltreppe; wir stiegen noch einmal nach unten und kamen in einen Keller. Tano tastete an der Wand lang und schaltete eine schwache Milchglasbirne voller Fliegendreck an. An den abgebröckelten und feuchten Mauern waren Rohre und Wasserhähne, der dicke Abfluß vom Klo, das grüne Kupfer der Wasseruhr mit den roten und schwarzen Zeigern unter Glas. An einer Seite standen ein zerwühltes Bett und ein wackliger Nachttisch ohne Platte; Kleider, Rahmen, altes Zeug kunterbunt auf dem Boden verstreut. Wir setzten uns aufs Bett, Tano schlug die erste Seite auf: zwei lächelnde Negerinnen, die sich an der Taille umfaßten, die Busen blank und fest wie zwei Oliven. Blätter weiter, was sieht man da? Eine auf allen vieren wie eine Ziege. Und alles Negerinnen, auf Matten ausgestreckt, allein und in klaren Posen oder mit anderen und nicht so deutlich. Tano war wie von der Tarantel gestochen, er hatte den Veitstanz, sagte schlüpfriges Zeug, mit rotem Gesicht, zappelte, rief, daß das Buch ihm gehöre, als ob er es zum ersten Mal sähe. Ich fror, vielleicht wegen der Feuchtigkeit in diesem Kellerloch, mir lief es kalt über den Rücken. »Das letzte genießen wir Stückchen für Stückchen«, sagte Squillace. 96
Zieh, zieh, zieh – und was kommt zum Vorschein? Ganz anders, als ich es erwartet hatte: aufrecht stehend, bis zum Schmerz gespannt, finster und flehentlich, wie im letzten Augenblick enttäuscht, der nackteste Nackte der ganzen Sammlung, eine Wunde in der Sonne, ein verdrehtes Auge, ein geöffnetes Herz, den Bremsen ausgeliefert. Tano lacht höhnisch, wirft sich rücklings aufs Bett, das Buch auf dem Gesicht. Dann springt er auf, löscht das Licht, kommt zurück und wirft sich wieder aufs Bett, kriecht hinein, unter die rotgelbe, zerrissene Steppdecke, aus der das Futter wie Schleim quillt. »Morgen wird keine Kommunion ausgeteilt«, sagt Tano vom Bett, »es ist Karfreitag.« Man hörte Wasser in dem dicken Rohr rauschen. Auf der Straße, im Licht, packte Tano mich am Arm und fragte: »Wer ist dein bester Freund?« »Weiß nicht, alle.« »Ich meine, der beste, wie früher Seminara und ich.« »Ja vielleicht Filippo, Mústica.« »Erzählst du’s ihm?« »Was?« »Nichts, nichts …«, sagte er und lächelte. Er drückte meine Hand und ging zufrieden Richtung Klosterschule. Zu Hause war der Advokat Sciacchitano, einer, der sich für die Democrazia Cristiana zur Wahl stellte, mit noch zwei anderen. Er sprach leise mit Onkel, so als würde er beichten. Einer legte eine Tasche auf den Eßtisch, öffnete sie und holte drei dicke Packen bunte Flugblätter heraus. 97
Als meine Mutter fragte, sagte Onkel schließlich, daß er tags drauf in unser Dorf wollte und die ganze Bande der Zarabuini herholen, damit sie Werbung für den Advokaten machten. Meine Mutter wollte nicht: »Muß ich sie denn auch hier noch ertragen? Und du«, drohte sie dem Onkel, »wehe, du ziehst dich auch so an!« Und der Onkel lachte auf und sagte, daß er gar nicht daran denke; das war hier nicht angebracht, er hatte den Geschmack daran verloren: War es vielleicht das Alter?
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VIII Onkel änderte seine Gewohnheiten immer mehr und bemühte sich, wie einer von der Küste zu wirken. Im Zitronenhandel hatte er mit den Bürgern zu tun, und von diesen übernahm er gewisse Dinge: die Verbeugung beim Gruß, die Zeitung, die aus der Tasche ragt, das Sie, den langen Nagel am kleinen Finger, die auf Hochglanz polierten Schuhe zum schwarzen Anzug, die fertigen Zigaretten aus dem Tabakladen … Bevor er aus dem Haus ging, stopfte er sich jetzt vor dem Spiegel sein Loch im Ohrläppchen sorgfältig mit Kerzenwachs zu, eine allmorgendliche Prozedur. »Los, komm!« sagte er zu mir. »Gehen wir zusammen, ich muß mich vor der Klosterschule mit dem Advokaten treffen.« Um bei seinen Riesenschritten mitzuhalten, noch dazu mit drei Stößen Flugblättern unter dem Arm, mußte ich keuchend hinterherrennen; ab und zu packte er mich am Schopf, streichelte mich im Nacken, aber gegen den Strich, wie man es bei Katzen tut. Der Advokat saß in seinem Auto und hupte zweimal, um den Onkel zu sich zu rufen; der nahm mir die Zettelpacken ab und schickte mich mit einem Klaps auf den Hintern weg. »Verzeihen Sie mir die Verspätung, Herr Abgeordneter, aber mein Neffe …«, hör ich ihn sagen, während ich in die Kirche schlüpfe. Sie war schon voll, in Stille getaucht, Figuren und Seitenaltäre violett verhangen, der Hauptaltar, nackt und bloß wie Stein, Don Sergio und der Aufseher im Chorhemd, der Rektor in schwarzem Meßgewand am Don98
Bosco-Seitenaltar. Squillace macht mir in seiner Bank Platz, daneben sitzt Mústica und feixt. »Flectamus genua.« Und ich hatte mich, ganz durcheinander, weil ich in die Stille hereingeplatzt war, hingesetzt, um aus dem Blickfeld zu sein … »Levate«, ich bin aus dem Rhythmus, vertue mich und knie nieder. Eine Hand greift mich am Jackenkragen und zieht mich hoch. Ich drehe mich um, es ist Vittorio Seminara. Er blickt mich an, als hätte ich etwas Schlimmes verbrochen, als wäre ich ihm, dem Vorsitzenden, dem Patron der Kirche etwas schuldig; in der Hand hält er das Gesangbuch mit dem Lederfutteral, wie das Brevier der Oberen. Auch ich finde ein Büchlein, »Die Heilige Woche«, im Fach an meinem Platz. Und auch das ist schön, aus Pergament, handgeschrieben mit Tusche. Zwischen den Seiten liegen gepreßte Veilchen, Jasminblüten und silbrige Lanzenblätter von Oliven; aber das Pergament riecht nach Bergamotte. Der Rektor legt sein Meßgewand ab; die Stola darunter ist über der Brust verschränkt, und die Kordel um den Bauch rafft die tausend Falten des weißen Hemdes. Langsam, nach und nach und von oben beginnend, enthüllt er das große Kruzifix, das der Aufseher mit beiden Händen hält: »Ecce lignum Crucis!« »Ecce lignum Crucis!« steht auch im Gebetbuch, aber dann folgende Worte: »Ein Händchen, zwei Händchen, zwei Rosenknöspchen, die im Kelch zwei Schreie ob der spitzen Lanze bewahren. – Ecce lignum Crucis! – Das Köpfchen gesenkt, versiegter Brunnen ohne Adern, mit Steinchen, weiß wie Milch, umrankt von einer Dornenhecke mit roten Brombeeren. – Ecce lignum Crucis! – Eine Schenke hat er geöffnet, Jesus Christus in seiner Brust, dort reicht er den 100
armen Durstenden Wein, Wasser und Minzesaft. Ecce lignum Crucis! – Über seine Knie hängen kristallene Fäden mit angebissenen Granatäpfeln, die verschränkten Füße voller Schmerz.« »Agios o Theòs.« »Agios ischiròs.« »Agios athànatos, eleison imas.« Das sind die Klosterschülerinnen mit Kopfstimme, dort oben auf der Empore versteckt. »Junge, gibst du mir das Büchlein?« »Ja, hier, nehmen Sie«, sage ich, ganz rot im Gesicht. Es gehörte ihm, Doktor Martinez aus Catania, der keinen Tag in der Kirche fehlte. Nachdem die drei Priester das Kreuz auf die Stufen zum Chor gelegt haben, ziehen sie sich die Schuhe aus, gehen bis ans Ende vom Mittelgang, kehren wieder zurück und küssen die Wunden am Kreuz. Danach sind die Gläubigen an der Reihe, und dann wir. Als diese Prozession schon am Ende angelangt schien, kommt doch tatsächlich, den Hut in der Hand und mit neuen, knarzenden Schuhen, von ganz hinten der Advokat Sciacchitano mit hastigen Schritten angetrippelt: Eines seiner kurzen Beine knickt ein, er hat einige Mühe beim Hinknien, weil ihm ein kleiner Wanst gewachsen ist, dann küßt er mehrere Male mit hörbarem Schmatzen, erhebt sich, vor Anstrengung rot bis an die Glatze, und nimmt zerknirscht in einer der ersten Reihen Platz, neben Frau und Tochter, noch so jung und doch schon so alt, knochendürr und frömmlerisch. Während wir hinausgehen, räumen sie wieder den Hauptaltar ab, entfernen das Tuch, wie bei einem Tisch nach beendeter Mahlzeit, ohne eine Blume oder Kerze, der nackte Marmor mit dem leeren Tabernakel. 101
Dicht gedrängt, die ganze Balustrade der Empore entlang, die Köpfe der herunterschauenden Nonnen, im Licht des großen hinteren Fensters sieht es aus, als schwebten sie, wie eine Schar trauernder Cherubinen in Anbetung des Heiligen Kreuzes. Im Hof sind die Ketten des Rundlaufs abmontiert, es hängen nur noch die Haken daran; die Schaukel ist mit einem Vorhängeschloß festgemacht, kein Ball oder Fußball liegt herum, kein Trampolin, heute ruhen alle Spiele. Aber Dorfjungen haben an der Seite, wo die Sakristei ist, die weggeworfenen Blumen vom Heiligen Grab gefunden. Sie rennen herum, schlagen sich die Lilien auf die Köpfe, beschießen sich mit Rosen und färben sich das Gesicht mit den gelben Blüten der Mimosen. Einer hat sich einen Kranz auf den Kopf gesetzt und stolziert auf der Mauer auf und ab: Es ist das in Dunkelheit gekeimte Korn, die miteinander verflochtenen Wurzeln noch im unversehrten Rund, wie in der Schale. Andere tun es dem ersten nach, die Arme ausgebreitet, um das Gleichgewicht zu halten, weiße Halme auf den Köpfen, wie Ricotta in einem Weidenkörbchen: Welches unter allen mag wohl mein Korn sein? Auf der Treppe vor dem Eingang steht Don Sergio, eifrig im Gespräch mit dem Advokaten Sciacchitano, er ist so bei der Sache, daß er nicht einmal Squillace bemerkt. Der Aufseher ruft: »Um drei Uhr, um drei Uhr, seid ihr zurück für die Prozession! Und du«, sagt er zu Filippo, »mach es nur wie üblich und glänze durch Abwesenheit.« Im Auto sitzen schweigend Frau und Tochter und warten auf den Advokaten Sciacchitano. Squiliace grüßt sie, macht ehrerbietig einen Diener, er kennt sie, denn sie sind Besitzbürger, wie seine Familie auch. 102
»Cecilia Sciacchitano ist eigentlich die Reichste im Ort«, sagt Tano. »Den Ertrag von fünfzehn Hektar Oliven bekommt sie von der ledigen Tante, noch als Dreingabe zu dem Wacholder, den zweitausend Fuß Zitronen, dem Wald über Bronte und den Häusern im Ort, die ihr von Seiten der Mutter zustehen.« Ein Schwertfisch hängt an einem im Schlund festgesteckten Haken vom Dach der Fischhandlung, das Maul mit Basilikum gefüllt, in den Augen zwei Nelken und Büschel von Zitronenmelisse in den Kiemen. »Oho-oho-oho, Schwertfisch! Oho, Jungmädchenfleisch, oho, das Allerfeinste!« Und schneide, schneide, schneide mit dem Schlächtermesser, wirf die Stücke auf die Waagschale: Bald wird nur noch der Kopf mit dem Schwert und dem blutigen Haken übrigbleiben. Zu Hause würde ich ihn auch kriegen, das wußte ich. Die Mutter wickelt Oliven, Dörrpflaumen, Pinienkerne und Rosinen aus, nur das Beste für Onkel Peppe, in der Hoffnung, er möge sich damit begnügen, denn heute gibt es nur ein karges Mahl, weder Fleisch noch Nudeln, weil Fasttag ist. Fisch, pfui: Vielleicht ist das das einzige, was beim Onkel von dem Mann aus den Bergen geblieben ist. Als wir schließlich fertig sind, beobachtet Mutter ihn ängstlich, wie er an der einen oder anderen Olive schnuppert, knabbert, sie untersucht und sich eine Weintraube in den Mund schiebt. »Weißt du was?« sagt er. »Koch Nudeln.« Er raucht, geht hin und her, auf den Balkon hinaus und schimpft lauthals über einen Flecken auf der Hose. Er sucht Vorwände, um sich Luft zu machen: Den Käse, der in der 103
Speisekammer hängt, hat sie nicht mit Öl bestrichen, den Speck hat sie vergessen zu salzen, die Oliven sind nicht eingelegt, beim Öl im Tonkrug fehlt der Korken … Onkel Peppe hat heute morgen vielleicht eine Laune! Die Mutter schweigt erschöpft, das Gesicht gerötet, bläst ins Feuer, wischt sich mit der Hand den Schweiß und die Haare von der Stirn. Hastig röstet sie die Zwiebel an, schmelzt das Tomatenkonzentrat, bricht die Nudeln in einem Tuch und wirft sie ins aufschäumende Wasser. Mit einem leichten Lächeln bringt sie schließlich, im Laufschritt, den Teller mit der dampfenden roten Speise an den Tisch. Der Onkel greift mit der einen Hand nach der Reibe, mit der anderen nach einem Stück Käse auf dem Teller, und um ihn herum wird es weiß. Dann führt er den Mund zum Tellerrand, harkt mit der Gabel, und nach zwei saugenden Schmatzern bleibt nur noch ein halber Nudelfaden auf dem Grund übrig. Die nächste Fuhre kommt. Jetzt sitzt Onkel etwas aufrechter, ein paar Bissen wickelt er um die Gabel, legt die eine oder andere Pause ein, ein Schlückchen und ein Rülpser. Zum Schluß ist er entspannt, leert das Glas, raucht eine Zigarette, stützt die Ellenbogen auf den Tisch, legt den Kopf in die Hände und schlummert ein. Vom drohenden Gewitter keine Spur mehr, nur noch das friedvolle, tiefe Schnarchen, wie das Meer in einer Grotte an einem Sommermittag. Hörner und Kettenrasseln sind plötzlich vom Balkon her zu hören. Ich gehe hinaus: Am Strand ist die feuerrot und golden maskierte Judensarabande, der eine ganze Schar Dorfkinder folgt. Sie laufen und springen am Strand herum, die gekräuselte Schaumlinie entlang, dann hocken sie sich hin, ziehen sich Schuhe und Gamaschen aus, nehmen den unter dem Rücken festgemachten Pferdeschwanz ab und 104
rennen zum Planschen. Sie schreien und rudern mit den Armen, glücklich wie Kinder, die das Meer entdeckt haben. Die Dorfkinder versuchen, in die am Strand liegenden Hörner zu blasen, rasseln mit den Ketten und machen einen Krach wie zu Kirmes oder Karneval. Der Onkel schrickt aus dem Schlaf, wirft einen Blick hinaus und sagt: »Ich habe deinen Vetter Salanitro gesehen, er hat mir ein Angebot für das Haus gemacht.« »Mit Verwandten macht man keine Geschäfte«, erwidert Mutter trocken, und man wußte nicht genau, ob sie wegen der Sarabande am Strand verärgert war oder ob sie ans Dorf dachte, daran, daß sie schließlich doch wieder dorthin zurück wollte, wenn diese Zeit der Schande vorbei war. Die Priester in der Klosterschule tragen schon die Kutten, und die Jungen gehen in die Felder hinter der Hofmauer, um Brombeerzweige für die Kronen zu pflücken. Ich halte mich an Filippo, der lachend mit einem Messer die Dornen entfernt, sind die denn nicht genug, die wir jeden Tag haben? Einer nach dem anderen gehen wir am Aufseher vorbei, der die Kronen begutachtet und uns das Brüderschaftsband umlegt, mit der Troddel, die an die Beine schlägt. Auf dem Kirchhof stehen schon die Tragen von den Mitbrüdern um die Wette mit Nelken geschmückt, mit den Geheimnissen, allen Stationen, Gethsemane, das Abendmahl, das Fallen unter dem Kreuz, die Kreuzigung, der Todeskampf, die Grablegung. Zuletzt Maria, der schwarze Mantel, sieben kleine Silberdegen im Halbkreis wie ein Fächer ins Herz gesteckt. Christus im Glasschrein, mit echten Haaren und Zähnen, so 105
finster und sehnig, wie aus dem Holz eines schwarzen Ölbaums geschnitzt; er sieht aus wie ein Mann hier von der Küste, ernährt von Sardellen und Zichorie und von der Sonne verbrannt. Vom Schwesternhaus kommen Mädchen mit Körben voller Rosenblüten und Flügelchen aus Organza am Rücken. Die Marientöchter sind wie Bräute gekleidet mit Schleiern auf den Köpfen und blauen Kleidchen über den knospenden Busen. Diese Marientöchter mit flachen Männerschuhen und den zu dürren Beinen haben heute nachmittag Augen und Gesichter voller Schmerz, selbst die schönsten unter ihnen. Als der Erzpriester am Portal erscheint, heben die Mitbrüder die Tragen mit den Mysterien, die Kapelle spielt den Trauermarsch, und der Zug setzt sich in Bewegung. Auf der Hauptstraße stehen die Juden, dicht gedrängt, in einer Reihe an der Mauer entlang; an ihren Gürteln baumeln die Hörner und Ketten, in den Händen halten sie die Flugblätter vom Advokaten Sciacchkano. Die Leute von der Prozession schauen sie im Vorbeigehen an und können sich nicht so recht erklären, weshalb sie so stumm und starr wie Tarockbuben dastehen. Filippo gibt mir einen leichten Tritt an die Ferse: »Da«, sagt er, »schau dir deine Juden an, mit denen ist nichts mehr los: Ist unter den Kapuzen nur Luft, oder haben die Fleisch und Knochen?« Filí sollte mal in mein Dorf gehen, um zu sehen, wie sie dort sind: Taranteln, Flattervögel, Fledermäuse. Ich habe sie gesehen, wie Marder tauchten sie aus Felsspalten und Schluchten auf, kamen über Balkone und durch Fenster auf die Straße gesprungen, tanzten über den Platz, vollführten Balanceakte wie Marionetten an Fäden, zogen einem die Ketten über den Kopf, bliesen in ihre Hörner, ohne daß 106
man sie sah, wie heimtückische kleine Gespenster. Das habe ich sie alles treiben sehen, in meinem Dorf bei der Karfreitagsprozession. Hier sehen sie aus wie gefesselt, diese Zarabuini, wie Tote an die Mauer geklebt. Vielleicht liegt es an der Luft, an diesem Küstenort in der Ebene, den großen Häusern der Bürger. Oder es sind die Flugblätter vom Advokaten Sciacchitano, die sie unter die Leute bringen sollen. Auf der Küstenpromenade, wo die Straße breit ist, spielt sich die Szene mit der Schmerzensmutter ab, die den toten Christus sucht. Der Schrein wird auf den Boden gestellt, die Brüder in ihren grauen Kutten und Kapuzen stehen in drei Kreisen um ihn herum, sind wie eine Zementmauer, die ihn den Blicken entzieht. Die Schmerzensmutter, gefolgt von den Marientöchtern, kommt von einem Punkt gegenüber bis zum Kreis der Brüder, geht einmal um ihn herum, dann ein zweites Mal, während Musik und Gebete verstummen. Beim dritten Mal bricht der Kreis auf, öffnet sich wie ein Bronzeportal, und die Muttergottes entdeckt den Gesuchten, den Sohn. »Sohn, Sohn, Sohn!« ruft sie, ein dreifacher schriller Schrei voller Qual, als würde in eine Trompete gestoßen, und die Kapelle setzt ein, begleitet vom Chor der weinenden Frauen. Die Schmerzensmutter ordnet sich hinter dem wiedergefundenen Christus ein, und die Prozession zieht weiter durch die Straßen. Wir kommen an der Salzküche und Caterinas Haus mit der Terrasse vorbei. Die Arbeiterinnen stehen alle unten in der Tür. Die schmutzigen und vom Salz rissigen Hände unter der Schürze verborgen: Sie bekreuzigen sich hastig und knien auf dem Boden nieder. Caterina steht am Fenster, fräuleinhaft zurechtgemacht, mit Locken und Dauerwelle. Hinter ihr, im Halbschatten, dieser Mann, der Freund ihrer Mutter. 107
Auf dem Strand liegen die Boote ohne Kiel, halb auf die Seite gekippt, die Masten sind abgewinkelt und zeigen nach Westen, bis auf die wenigen der Protestanten, die aufrecht stehen. Meine Mutter ist hinter der Scheibe, im Rahmen der Balkontür. Am Hals die dünne Korallenkette, über den Schultern das amarantfarbene Wolltuch. Onkel Peppe wird um diese Zeit im Lager sein und die Frauen beaufsichtigen, die die Zitronen einwickeln. Oder beim Advokaten Sciacchitano, um sich das Geld für die Juden geben zu lassen. Hinter den Jalousien der Bürgerhäuser erkennt man einige Frauen, Augen, die durch die Schlitze sehen, die Kinder aber sind auf den Balkons, die Händchen am Geländer, oder mit ängstlichen Gesichtern auf den Armen der Dienstmädchen. »Seminara hat sich mit Brombeersaft angemalt«, sagt Filippo, »er glaubt wohl, in der Schule gibt’s ein Theaterspiel.« Über Vittorios Stirn floß ein Rinnsal bis zu den Augenbrauen. Auf den Kopf hatte er sich einen Kranz gedrückt, der so groß war, daß er wie ein ganzer, gewundener Brombeerbusch aussah. Seminara lief mit kleinen, hinkenden Schrittchen, setzte nur zaghaft den Fuß auf, und man sah, daß es ihn schmerzte, vielleicht ein kleiner Nagel oder Blasen; aber den Oberkörper hielt er wacker aufrecht, als hätte er ihn in ein Gipskorsett gezwängt. Meris Vater hebt einen Arm, geht auf die Trage der Schmerzensmutter zu und sagt: »Plis stop, plis stop!« Er reicht der Tochter, die wie die anderen in Weiß gekleidet ist, grüne, amerikanische Geldscheine. »Steck diese fünf an die Schmerzensmutter!« sagt er. Und Meri, ganz glücklich, 108
steckt das Geld mit einer Nadel an den Mantelsaum. »Caman!« sagt der Amerikaner. »Cleveland kann sich Meri Campisi aus dem Kopf schlagen«, sagt Filí. »Ihr Vater war da bei der Mafia, und sie haben ihn für immer zurückgeschickt.« Inzwischen war es nicht mehr lang bis zum Abend, allmählich ging bei Puntalena die Sonne unter, und die graue Luft wurde langsam schwarz. Die Mitbrüder enthüllen die Gesichter, nehmen die Kapuzen ab, und die langen Zipfel baumeln auf ihren Rücken. Wir sind kurz vor dem Ende, auf dem Kirchhof wird noch auf die letzten Tragen gewartet; auch die ziehen an uns vorbei, voraus in die Kirche, mit den gewundenen Nelken voller Staub und schlaffen, wie Hälse herabhängenden Stielen. Ein leichter Windhauch zieht über den Kirchhof, weht Vanille- und Jasminduft aus dem Garten der Nonnen herüber. Die Menge verläuft sich, während der Küster das Hauptportal schließt, mit einem Knall, der im ganzen Schiff widerhallt. Morgen ist Ostern. Seminara war erschöpft und hinkte immer noch, als er aufs Katheder des Marienvereins stieg. Auf dem Kopf trug er noch den Brombeerstrauch, und über die Stirn zogen sich rote Linien. Als Vorsitzender mußte er uns für die Festzeremonien Anweisungen geben. »Morgen …«, sagt er mit schwacher Stimme, stößt einen Seufzer aus, wird blaß, verdreht die Augen und sinkt ohnmächtig auf dem Stuhl nieder. »Er ist tot, er ist tot!« schreit Costa ganz von Sinnen. »Halt den Mund, du Idiot!« fährt ihn Filippo an. »Lauf lieber schnell und hol den Aufseher.« 109
Wir scharen uns alle um Seminara, Filippo ruft seinen Namen und reißt ihm das Ding vom Kopf. »Es ist Blut!« sagt er, indem er ihm mit den Fingern über die Stirn fährt. Der Aufseher kommt außer Atem angerannt, bahnt sich einen Weg durch die Menge und legt Seminara als erstes flach auf einen Tisch. »Wasser, Wasser«, befiehlt er, »geht und holt eine Flasche Wasser.« Er ruft ihn, schüttelt ihn, knöpft ihm das Hemd auf, die Hosen, zieht das Unterhemd hoch, und was hat er da bloß um den Bauch? Einen breiten Ledergurt, wie ein Stützkorsett. Der Aufseher schnürt ihn auf, nimmt ihn ab und enthüllt einen breiten Streifen geröteter, zerschundener Haut. »Geht, geht hinaus!« schreit der Aufseher. Geduckt und still gehen wir auf den Korridor, kurz danach kommt der Aufseher, Seminara in den Armen, und eilt zur Treppe, die zu den Zimmern der Oberen führt. Wir wissen nicht, was wir tun sollen, keiner spricht, und wir folgen Filippo, der wieder in den Saal geht, um zu schauen. Auf dem Boden liegen die Dornenkrone, der Ledergurt, bespickt mit kleinen Nägeln wie eine Kardätsche, Vittorios Schuhe, gefüllt mit schwarzen, nassen Steinchen. In der Stille hören wir Costas unterdrücktes Feixen, er sitzt auf einer Bank und liest, was Squillace gerade als Sekretär ins Protokollheft schreibt. Filippo rennt hin, reißt das Heft an sich und liest: »Karfreitag 1947. Tod des Vorsitzenden: an einer Passionsdornenvergiftung verendet.« Voller Zorn starrt er Tano an, zerreißt das Heft und schleudert es ihm ins Gesicht. »Du elender Dreckskerl!« schreit er ihn an, spuckt auf den Boden und geht. Tano wird knallrot, legt die Hände vors 110
Gesicht, dreht sich zur Wand, bricht in Tränen aus und heult bitterlich wie ein Kind. Wir lassen ihn allein, auch Costa folgt uns. Aber er ist es dann, der Don Sergio antwortet, als wir ihn an der Tür treffen und er uns nach Squillace fragt: »Wo ist Tano?« Niemand sagt etwas. »Ich habe euch gefragt, wo Squillace ist!« »Drinnen, im Marienverein«, erwidert ihm Benito erschrocken. In der letzten Zeit begegnete man Don Sergio kaum noch in der Klosterschule; er war immer beschäftigt: zu diskutieren, mit Leuten zu verhandeln, Zusammenkünfte zu organisieren, Erklärungen zu verfassen oder den Gegnern in den Zeitungen unter dem Namen »Der gekreuzigte Heimkehrer« zu antworten. Ein haarfeiner, stiller, lichter Regen fiel, durchtränkte und löste die Plakate von den Hauswänden und wusch die Sprüche vom Asphalt. Wir gingen unter den Balkonen entlang, auf den Köpfen Taschentücher mit verknoteten Enden. Unter dem Torbogen der Porta Messina machten Dorfjungen ein qualmendes Feuer mit Velinpapier: Es sind Sciacchitanos Wahlflugblätter, von den Juden in eine Ecke geworfen.
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IX Sara Mavazza, elegant gekleidet, rüstete zum Streit, kam wütend unter dem Verdeck zum Vorschein und schrie: »Macht ihr euch wohl aus dem Weg, he? Ihr Flegel, Mißgeburten!« »Nur die Ruhe, Saruzza, Madam«, riefen die und drängten sich auf der anderen Seite des Karrens, streckten die Hände aus, machten Sprüche und schnalzten mit der Zunge. Sara führte jedesmal diese ganze Komödie mit dem Herumschreien auf, aber man wußte, daß sie auf das Ende der letzten Messe wartete (die Frauen haben sich zurückgezogen, die Männer trödeln noch auf dem Platz herum und warten auf das Essen), um mit der neuen Nutte eine Runde im Karren zu drehen. »Herrgott nochmal, gib dem Esel doch die Peitsche! Hast du keine Kraft, oder bist du schlapp geworden?« »Geht aus dem Weg«, sagte Casimiro lustlos, »hüüü …«; er rührte mit der Peitsche in der Luft herum, und der Esel ging keinen Schritt weiter, blieb wie festgenagelt breitbeinig stehen, gelbe Pisse auf den Asphalt, so als wäre auch er am Geschäft beteiligt. Im Casino saßen die Bürger in der Sonne, auf dem Balkon zum Platz hin; der Kellner ging mit dem Tablett in der Hand hin und her, darauf die dampfenden Täßchen Kaffee. Der Advokat Sciacchitano rief mit einem Zeichen Caminiti, den Platzmeister, zu sich, flüsterte ihm irgend etwas ins Ohr, und der eilte zum Karren. Manchmal sticht Casimiro, ohne Peitschenknallen und ohne »Hü«, dem Esel mit irgend etwas in die Hinterbacke, worauf der einen Satz macht und unter beifälligem Raunen verschwindet. Der Advokat fürchtete, daß seine Tochter zufällig hinter die 112
Fenster seines Hauses treten und, lieber Heiland, dieses Spektakel sehen könnte, mochte sie auch himmelweit davon entfernt sein, Sara Mavazza, den Karren und die darin versteckte Frau mit ihrem Lachen und ihren roten Fingernägeln zu begreifen. Und sie würde sich eh nicht zeigen, o nein: Wer hatte sie je mit freiem Gesicht auf dem Balkon oder auf der Straße gesehen? Immer durch irgend etwas verborgen, im Auto, in der Kirche vom Schleier. Wie heute morgen, verzückt von dem Geschehen im Ostergottesdienst – die Geistlichen bäuchlings auf den Stufen, die in die Osterkerze gesteckten Weihrauchkörner, die Prophezeiungen, die Litaneien, das Vertauschen der violetten Gewänder mit den weißen, das Gloria und das Alleluja –, das sie im Gesangbuch las und mit den Augen sozusagen steuerte. Später, im Hof, zwischen den Damen vom Wohltätigkeitsverein, durch den Rücken ihrer Mutter geschützt, verfolgte sie mit einem unsicheren Lächeln, wie die Armen bei der Speisung mit ihren Gabeln hantierten. »Sollen wir jetzt zum Vorsitzenden gehen oder nicht?« sagte Squillace, damit wir uns bewegten. Ich bemerkte, daß er die Lippen beim Sprechen kaum auseinandermachte, wegen der Kommunion heute morgen; auch wir hielten den Mund schön geschlossen, weil Don Sergio uns keine Zeit gegeben hatte, ihn zu waschen. Als wir in den Hof traten, rief er uns vier vom Marienverein und gab Tano den Schlüssel zu seinem Zimmer. »Lauf«, sagte er zu ihm, »und hol das Päckchen von meinem Bett.« Und zu uns: »Geht mit Tano zu Vittorio Seminara.« Am Brunnen in der Via Consolare blieben wir im Kreis stehen und sahen zu, wie das Wasser aus dem Rohr in den Krug plätscherte. 113
»Wollt ihr trinken?« fragte die Frau. Wir nickten alle gleichzeitig. Sie schob den Krug zur Seite. Einer nach dem anderen nahmen wir einen Schluck in den Mund, hielten das Gesicht in die Sonne, wie es Tauben am Beckenrand tun, machten ein glucksendes Geräusch, gurgelten und schluckten es runter. Jetzt durfte man sprechen. Der Geschmack der Hostie war mit dem Wasser weg, wie der von Zitrone, wenn man Brot kaut. Die Mutter von Vittorio sprach über Essen, Magenverstimmung, wir Jungen sind wie die Schweine, wir stopfen uns irgendwas in den Mund, weil wir schnell zum Spielen wollen. Einmal hat Vittorino auf Milch sauer eingelegte Auberginen gegessen. Jetzt machen wir uns keine Gedanken darüber, aber wenn wir erst mal fünfzig sind wie sie … »Hier, herrjemine, hab ich immer ein Sodbrennen, und da hilft kein Magnesia und kein Natron.« Wir saßen um das leere Bett herum, mit der Mulde, wo Vittorio gelegen hat, der gerade zurückkommt, er war auf dem Klo. »Tano«, sagt er zu Squillace von der Tür aus, als hätte er ihn gerade das erste Mal gesehen, »ja, wir sind uns fremd geworden.« Tano schlug die Augen nieder und antwortete »Mmh«, raschelte dazu mit dem Papier des Päckchens in seinen Händen. »Warte, warte!« schreit die Mutter und springt vom Stuhl auf. Vittorio stand dort, mit nackten Füßen, und balancierte auf den Zehenspitzen; er war weiß und durchscheinend wie das Hemd, das ihm bis an die Beine ging. Er schiebt seine Mutter weg, die sich vor ihm gebückt hat, um ihn 114
huckepack zu nehmen, geht schwankend bis zum Bett, setzt sich darauf und läßt in dem Augenblick, den es braucht, um hineinzuschlüpfen, die Fußsohlen sehen, violett durch die Farbe vom Jod. Farbflecken hatte er auch auf der Stirn, und ich stellte mir das breite, rote Band vor, das er erst um den Bauch haben mußte. Die Mutter deckte ihn eilig bis zum Kinn zu. »Mama«, sagte Seminara zu ihr, »ich glaube, die Soße ist angebrannt. Riechst du nicht, wie es stinkt?« »Heilige Muttergottes!« ruft sie, greift sich an den Kopf und eilt hinaus. Wer sollte sprechen? Niemand sprach. Jeder suchte sich etwas im Zimmer, um darauf zu starren. Die Wand über dem Bett von Vittorio war voll mit Bildchen und kleinen Statuen: Domenico Savio aus Gips, der heilige Aloisius von Gonzaga mit breitem Rundkragen, nimmt man den Rumpf weg, sieht er aus wie ein abgeschlagener Kopf auf einem Kissen, der hl. Sebastian in weißer Unterhose, hundert Pfeile ins Fleisch gebohrt, der hl. Tharsicius im unbefleckten Gewand, mit Steinen bedeckt, der hl. Pankratius, Stiefel-Lanze-Rüstung; ein Krönchen aus himmelblauem Glas hängt an einem Nagel, an dem auch eine Spruchkarte festgemacht ist: »So wenig braucht es, daß die anderen dich lieben? Ein gutes Wort, gesagt zur rechten Zeit, ein bißchen Freundlichkeit, ein Streicheln nur, ein liebes Lächeln, das uns dein Gesicht erhellt …« Glockengeläut drang durchs Fenster, das waren die alte Kirche und die Pfarrkirche, in der Ferne die dumpfen Glocken der Klosterschule, durch Splitter beschädigt. Mittags an Festtagen dauert es so lange wie nachts bei Alarm wegen Feuer oder für die Boote auf See. Seminara setzte sich im Bett auf und gab uns ein Zeichen, uns 115
hinzuknien. Er betete den Angelus vor. Wir waren fertig mit Beten, als die Glocken aufhörten. Beim Summen der Glocken, die noch vibrierten, stand Squillace auf, trat ans Bett, wickelte das Päckchen aus und stellte ein unbeflecktes Osterlamm auf den Nachttisch. Es war eines der größten und schönsten, die in den Schaufenstern der Konditoreien ausgestellt waren. Das Schnäuzchen rosig, die Augen groß wie Fische, der silberne Strahlenkranz von Ohr zu Ohr, die Standarte mit dem roten Kreuz im Rücken, Mandelkonfekt und Zimtstückchen auf dem Untersatz. »Frohe Ostern, Vittorio«, sagte Tano, nahe daran, ihn zu küssen. »Frohe Ostern«, antwortete Seminara und warf sich zurück ins Kissen. »Frohe Ostern«, sagten auch wir. In diesem Augenblick kamen die drei Schwestern von Vittorio herein, eine nach der anderen mit kurzen Schritten: Jäckchen aus feiner Kammwolle, lange Röcke bis über die Knie, die Lippen rot, die Gesichter gepudert, in den geschnörkelten Haaren Spangen und Schleifen. Um Vittorio zu küssen, gingen sie in die Knie, beugten sich nacheinander über das Bett. Sie bewegten den Kopf zusammen mit dem Rumpf, fast so, als hätten sie Genickstarre, wie Bäuerinnen, die einen Krug auf dem Kopf tragen, vielleicht wegen der Haare. Sie lachten untereinander über irgend etwas, das sie auf der Straße oder in der Kirche gesehen hatten, und hielten ihr Prusten mit der Hand vor dem Mund zurück. Seminara schienen sie auf die Nerven zu gehen. »Hört mal, Mama ruft euch!« Die drei Schwestern gingen in einer Reihe hinaus, mit 116
kleinen Schrittchen, lächelnd strichen sie sich mit der flachen Hand vorsichtig über die Haare, so daß sie sie kaum berührten. Die Luft auf der Straße war von Düften durchzogen wie das Meer von Strömungen; es roch nach Braten und Süßspeisen. Im Erdgeschoß der Häuser saßen die Familien still beim Essen am langen Tisch, der bis zur Türstufe reichte, bis an die Grenze zur sonnenbeschienenen Straße. Mústica war auf dem Balkon und hatte ein kleines blondes Mädchen auf den Armen, vielleicht seine Nichte. Er küßte sie, warf sie hoch, ließ sich die Haare in die Stirn ziehen und mit dem Händchen in die Nase kneifen. Als er uns vorbeikommen sah, setzte er sie schnell auf den Boden und grüßte uns verlegen. »Nimm dir nur Zeit, nimm dir nur Zeit!« schrie mich Onkel Peppe an und kam aus der Haustür. »Ich wollte dich gerade in der Klosterschule suchen gehen. Ihr vergeßt alles, wenn ihr dort seid, die Verwandten, die Essenszeit. Tragt doch euer Bett dahin, dann ist endlich Ruhe!« »Mein Junge«, sagt Mutter, »wir warten schon eine ganze Weile auf dich.« Sie geht in die Küche und kommt mit der Schaufel vom Herdfeuer in der Hand wieder: glühende Kohlen darauf. Onkel und ich knien uns hin, Mutter wirft gesegnete Weihrauchkörner in die Glut, führt die rauchende Schaufel über unsere gesenkten Köpfe und spricht die Gebete. Nach der Prozession durch alle Zimmer küssen wir uns und wünschen uns gesegnete Ostern. Mutter und Onkel schauen sich gerührt in die Augen: Es war das erste Fest, das wir zusammen feierten, wie eine Familie. Dann kam es mir vor, als äßen wir in der Kirche, wegen all 117
den Weihrauchschwaden über dem Tisch, und dazu noch die eindringlichen Fragen von meiner Mutter, der ich über die Messe erzählen sollte, die Osterfeier. Wenn sie so viel Spaß daran hatte … o nein, sie war nun einmal so, in die Kirche ging sie nicht. Der Weihrauchgeruch paßte zum Schluß sogar zum Essen: zum Süßsauren, Pfeffer, Minze, Rosmarin, zum Likörwein, zu Zimt, Nelken, Mandarinen und Pistazien in den Cremerollen. Es war alles kräftig, schwer, pikant, auf den Tellern, in den Gläsern, in der Luft vom Zimmer. Mutter hatte mit viel Phantasie gekocht und Stunden um Stunden in der Küche verbracht. »Maruzza«, rief der Onkel mit schwacher Stimme wie von hinter einer Wand, öffnete die Augen mit Mühe und hob den hängenden Kopf. »Maruzza.« »Ja?« antwortete Mutter aus der Küche. »Richte mir das Bett.« Und kurz darauf hob er seinen schweren Leib vom Stuhl und ging schwankend ins Bett. Auch Mutter hatte sich wohl hingelegt, denn ich hörte sie nicht mehr mit dem Geschirr hantieren. Sie mußte sich schlecht fühlen oder sehr müde sein, wenn sie den Tisch so stehenließ (an jedem gedeckten Tisch sitzt ein Engel, und wenn man fertig mit Essen ist, muß man abräumen, sonst kann er nicht aufstehen und bleibt schmollend zurück). Die Fliegen schienen heute keine Flügel zu haben, ruhig spazierten sie über die Süßspeise, über die Soßenflecken und die Brösel. Es hatte keinen Sinn, sie mit der Hand wegzujagen, sie flogen faul und schwer hoch und ließen sich wieder auf die gleiche Stelle fallen. Außer von dem vielen Zucker und Fett waren sie jetzt auch noch von der Sonne ganz benommen, die vom Balkon her bis aufs 118
Tischtuch schien. So heiß war diese Sonne, daß über dem Sandstrand schon die Luft flirrte. Der Strand war verlassen, niemand, der herumlief, keine Jungen, die Drachen steigen ließen, und heute auch keine Fischer, die im Schatten der Boote schliefen. Überflüssig der Schmerz am Daumen, vom Ellbogen aufs Balkongeländer gedrückt, überflüssig und ins Gegenteil verkehrt: schien Spaß zu machen. Zwei Hunde bissen sich in die Ohren und sprangen über die Abfallhaufen, schlugen mit den Pfoten, liefen im Kreis, wie festgebunden an einem nicht vorhandenen Pflock. Diese Sonne. Auf dem umgedrehten Handgelenk war der Kreis der Zähne eine Armbanduhr, die schnelle Sekunden schlug. Es hätte zwei Zeiger gebraucht, eingeritzt mit dem Messer, und Blut, das bis zur richtigen Stelle rinnt. Alicudi und Filicudi lagen nicht am Horizont, sondern ragten aus einem weißen Dunststreifen über dem Meer. Ein Stocken beim Gang über die Straße – Lust zu rennen –, ich nehme die Tüte mit den Cremerollen von der einen Hand in die andere. Da hört man Caterina fragen, wer unten sei, mit lautem Gepolter die Holztreppe herunterkommen, um zu öffnen, dann steht sie da und schaut verträumt, vielleicht wegen der Sonne, die sie in der Tür bescheint, oder vielleicht, weil sie sich erst erinnern muß. Deutlich mußte mir die Lüge im Gesicht geschrieben stehen bei der Antwort auf die Frage, ob diese vier Cremerollen – ja genau vier – meine Mutter der Signora schikken lasse. »Aber das war doch nicht nötig!« sagte sie, und sie lachten verstohlen, sie und der andere mit dem dicken Schnurrbart und den schwarzen Zähnen, der rauchte und so tat, als hätte er mich nicht einmal gesehen. Und Caterina: Sie blieb auf ihrer Seite, verteidigte mich nicht. 119
Mir schien das ein anderer zu sein, der da mürrisch herumsaß, dunkelrot, gegenüber von den Dreien, den Blick auf den Boden geheftet. Das war nicht ich, ich wartete draußen auf den, um ihm ein paar Ohrfeigen zu geben, Riesenarsch zu ihm zu sagen, ihn auszulachen wegen all der Phantasien in seinem Kopf, bevor er klopfte: »Ich führe sie auf die Terrasse, wie damals, flüstere ihr etwas zu und streiche ihr Haar zurück, berühre mit meinen Lippen ihr Ohr, umarme sie ganz fest und drück sie um die Taille, ich küsse sie, ich küsse sie, au, die Mauer, das Knie, Himmel, hör auf …« »Ich gehe«, murmelte ich und stand unvermittelt auf. »Warte, warte eben«, sagte die Signora. Sie stolzierte auf ihren hohen Absätzen, fuhr sich mit der Hand über die Brust, über die Hüften, um das Kleid glattzustreichen, und ging in das andere Zimmer. Sie kam zurück, auf der Hand ein Papier mit vier Stückchen Türkischem Honig. Sie hielt es mir unter die Nase, um mich daran riechen zu lassen. »Für deine Mutter«, sagte sie herablassend, »grüß sie schön von mir.« Bei allen Abwehrversuchen, um es nicht nehmen zu müssen, und nachdem ich grußlos geflohen war, bemerkte ich auf der Treppe, daß das Süßzeug in meiner Tasche steckte. Ich nahm es und schleuderte es gegen die Holzstufen. Sie mußten es gehört haben, weil sie gleich nachschauen kamen. Das Lachen der Mutter übertönte alle. Im Gehen schaute ich auf das glatte Meer unter der Sonne, diese Stille, wenn sich die Hitze staut und den Nachmittag beherrscht; die Spatzen springen von den Ästen auf den Sand und picken in die Disteln. Ich hätte gern einen starken, kalten Wind gehabt, wie im Winter, mit einem 120
stürmischen, aufgewühlten Meer, das auf die Straße schlägt; wenn die Fischer ihre Boote in die Häuser ziehen und die Türen mit Balken verrammeln. Ja, dachte ich, das Leben ist ein Spiel bei leichtem Seegang: ein scharfes Auge haben und den richtigen Moment erwischen, um »Hoch!« zu rufen, und mit dem Schiff über den Wellenkamm gleiten. Ein bißchen zu früh, ein bißchen zu spät, den Zeitpunkt versäumen, weil man ängstlich ist, zweifelt oder zögert, heißt, sich unterkriegen lassen, kentern und auf Grund laufen. Bei Caterina habe ich den richtigen Augenblick verpaßt. An dem Tag, als wir die Zitronen auf der Terrasse aßen, war ich vor lauter Liebe zu gar nichts fähig, nicht einmal zu einem Kuß. – Und so ist es immer: Hoch, hoch! Den leichten Seegang nützen. Einer, der überlegt, einer, der dieses große und furchterregende Meer verstehen will, wird verarscht und angeschmiert. Und diese Geschichte, die zu schreiben ich mir in den Kopf gesetzt habe, dieses Innehalten, um nachzudenken, mich zu erinnern, ist es nicht ein Zeichen für Dummheit, sollte ich statt dessen nicht mutig über die Mauern springen, die ich noch vor mir habe? Onkel sagte: »Ein Mann ist, wer eine Münze in die Luft wirft und zwei auffängt: Ein Tintenkleckser ist nicht so einer.« Mitten auf dem Hof der Klosterschule stand ein kleiner Tisch, darauf ein Stuhl, und auf dem saß der Rektor. Er hatte eine Bambusstange in der Hand, eine lange Angel mit einer Schnur, die von der Spitze nach unten hing, und einen Biskuit als Köder. Die Dorfjungen standen unten, die Hände auf den Rücken gebunden, sprangen mit offenem Mund hoch, um den Köder zwischen die Zähne zu bekommen. Von weitem gesehen, wirkten die Köpfe der Jungen wie Ballons, an die Angelschnur gebunden. Der Rektor spielte 121
mit dem Biskuit, ließ ihn herunter, zog ihn plötzlich wieder hoch, streifte mit ihm über die Haare der Jungen. Ringsumher ein schreiender und lachender Chor. Einer schnappte sich den Keks, der ihm in den Mund bröselte. Jetzt kam eine Jakobsschale, dann ein Pignolikränzchen, eine Zimtstange, Muskazonen und drei Zuckernüsse. Ballotta mit seinen kurzen Beinen flitzte und fauchte wie eine Katze; Focu hielt nur einen Arm auf dem Rücken, der andere, der verstümmelte mit der schwarzen Socke, wirbelte beim Springen durch die Luft. Mústica, den ich nicht einmal bemerkt hatte, trat mir gegen das Knie. Ein Zeichen mit den Augen und dem Kopf, und schon lief ich ihm nach und stand neben ihm im Kreis. Der Seminarist band uns schnell die Hände auf den Rücken. »Gilt nicht, gilt nicht«, schrien die Jungen. »Sie haben Schuhe an.« Na gut, wir ziehen sie aus. Die Kameraden verspotteten uns, machten sich lustig über meine kümmerlichen, ungeschickten Sprünge auf dem Boden voller Steinchen. Mústica dagegen sprang hoch, kam an den Köder, schnappte ihn sich aber nicht, sondern köpfte ihn weit weg, wie man es mit einem Ball macht. Ich sah unter den Umstehenden hier und da die Gesichter der Kameraden, von Squillace, von Costa, ungläubig und abschätzig, mit höhnischem Lächeln auf den Lippen. Die Gesichter der Geistlichen, die zuschauen gekommen waren, von Don Sergio, Pèrre Salemi, dem Superior, dem Aufseher. Zwei Sonnenstrahlen blendeten mich, ich sehe und sehe doch nicht die Schnur, die über meinem Kopf herunterkommt. »Schnapp zu, friß Gebete!« sagt Ballotta aus der Nähe zu mir, als ich springe. 122
Ich habe einen bitteren Geschmack nach Tinte und Pappe im Mund. »Halt«, ordnet Don Sergio an. »Ihr beiden, geht raus.« Sie binden uns los, geben uns die Schuhe wieder, überreichen mir den Preis, den ich gewonnen habe: ein schwarzes Büchlein, Ewige Maximen, Schrift in Golddruck. Filippo und ich, mit den Schuhen in der Hand, gehen uns die Füße unter dem Hahn waschen. »Wascht euch auch das Gesicht und kämmt euch die Haare«, sagt Don Sergio, als er an uns vorbeikommt. Mit der Trillerpfeife ließ er alle Schüler antreten und wählte ungefähr zehn aus, um der Baronessa den Ostergruß zu überbringen. Die Oleanderallee verlief mitten zwischen den Zitronenbäumen durch und endete in einem weiten Rund, wie die Bahn von einem Schöpfwerk, nur daß da kein Esel und kein Brunnen waren, sondern das Goldfischbassin mit den Papyrusschirmchen, den Libellen, die übers Wasser glitten, und darüber die weiße Statue von Don Bosco. Einer nach dem anderen gingen wir dicht am Rand vorbei und steckten die Hand ins Bassin, um einen Fisch zu packen, aber alle holten wir sie wieder mit grünen Fäden zwischen den Fingern raus. An dem Tor aus Blech zog Don Sergio das Klingelband, und es öffnete sich das Gucklock mit dem alten Auge der Schwester Pförtnerin. Der kleine, zementierte Hof war von hohen Mauern umgeben, und mit einem Dach hätte er wie ein Zimmer ausgesehen. Die Klosterschülerinnen wichen uns aus, stellten sich in Gruppen an die Mauer. Eine, die verbundene Augen hatte, kam mit ausgestreckten Armen auf uns zu und hätte Filippo 123
oder mich oder irgendeinen anderen berührt, wenn nicht eilig eine Nonne herbeigelaufen wäre, um sie aufzuhalten. In einem Winkel, unter dem Vordach der Marienkapelle, sprach die Direktorin zu Cecilia Sciacchitano, die verständig und gemessen mit dem Kopf nickte. Im Salon der Baronessa war ein Gemälde, das eine ganze Wand einnahm, mit einem Brautpaar in Pose: ein stattlicher Mann mit einem mächtigen, in der Mitte geteilten Bart, den Zylinder in einer Hand, in der anderen den Stock mit Knauf; die Frau zart, in Damast gekleidet, mit Puff und Quasten, den Ellbogen auf einen Säulenstumpf gestützt, das Kinn auf den Handrücken; ein weißer Spitz auf dem Teppich, die runden Augen wie aus Glas, Schleife um den Hais, bewegungslos und glattgestriegelt, daß er aussah, als wäre er aus Porzellan oder einbalsamiert. Das Zimmer, voll mit Sofas, Sesseln und Tischen, verschossene Samtvorhänge vor den Türen und Fenstern, roch nach eingelagerten Quitten, zwischen Stroh in der Truhe verwahrt. Die Baronessa erschien und blieb in der Mitte des Türvorhangs am Eingang stehen, neben ihr eine Nonne, die ein Körbchen trug. Hagerer und größer, als ich sie mir vorgestellt hatte, in einem langen schwarzen Kleid, ihr Kopf klein und weiß, die Hände durchscheinend. »Wozu seid ihr gekommen, meine lieben Jungen?« fragte sie mit sanfter Stimme. »Eurer Exzellenz den Heiligen Ostergruß zu überbringen.« »Ich danke euch von Herzen, meine lieben Jungen, doch ihr hättet keine Zeit für eine alte Frau opfern sollen. Ihr habt soviel Gutes zu tun, unter den Kameraden, draußen, auf dem Land, das Apostolat, die Gebete, ihr seid der 124
Sauerteig, und zu lernen habt ihr auch. Danke, Kinder. Ich bitte euch nur, ein Ave-Maria in meiner Meinung in euer Abendgebet einzuschließen.« Wir gaben ihr die Hand, aber ganz sachte, weil das Zimmer und die Baronessa uns ein bißchen ängstlich machten. Die Schwester mit dem Korb begann, an uns kleine Figuren des auferstandenen Jesus und Kekse zu verteilen. Don Sergio ging zur Baronessa, um mit ihr zu sprechen. In der Zwischenzeit hatte ein alter Mann mit Stock das Zimmer betreten, auf dem Kopf eine Mütze und in einem braunen Hausmantel mit Kordel. Er schien aus Versehen hier hereingekommen zu sein, so erstaunt, wie er war, uns im Zimmer zu erblicken. Bestimmt war das Don Mimillo, der Bruder der Baronessa. »Ninfa, Ninfa, wer sind denn die? Sind die aus dem Waisenhaus?« fragte er seine Schwester. »Ja, Mimillo. Komm, ich stelle dir den Pater vor.« »Freut mich, freut mich«, sagt der Alte, geht aber nicht zu ihm, sondern wendet sich freudig uns zu. »Tüchtig, tüchtig«, sagt er; und dann zeigt er mit dem Stock auf Filippo: »Du, was machst du?« Filippo begreift nicht, antwortet nicht. »Was für eine Arbeit machst du im Waisenhaus?« Filippo antwortet nicht. »Tischler«, ruft Don Sergio und kommt zu dem Alten gelaufen. »Du, was machst du?« fragt er Squillace. »Buchbinder«, antwortet wieder Don Sergio. »Ja haben denn diese Jungen keinen Mund?« »Sie sind ängstlich, Exzellenz, schüchtern.« »Wecken wir sie auf, wecken wir sie auf, Don Dingsda. Geht rum, geht rum, durchs Dorf, aufs Land.« 125
Die Musterung ging weiter. Du, was machst du? Schneider. Du, was machst du? Drucker. Du-was-machst-du, duwas-machst-du, du-was-machst-du, bis zu mir, dem letzten in der Reihe: Schuhmacher. »Gut, tüchtig!« sagte der Alte. »Das Schustern ist eine edle Kunst, dazu braucht man Phantasie und Intelligenz. Siehst du diese Pantoffeln?« Er zeigte mir seine Filzschuhe, die aussahen wie aufgegangene Brote, frisch aus dem Ofen. »Die habe ich selbst gemacht, mit meinen eigenen Händen. Schuhe sind die Grundlage des Lebens!« Schließlich ging er in die Mitte des Zimmers, neben seine Schwester, die in diesem Augenblick kirschrote Wangen hatte. »Tüchtig, Jungen, tüchtig«, fuhr Don Mimillo fort. »Ein Handwerk braucht man, ein Handwerk: Leute, die arbeiten können, haben wir auf dieser unserer Erde nötig. War auch die Meinung von Papa, heiliges Seelchen, da, der da mit dem Bart«, er zeigte auf das Gemälde, »als er starb, uns entrissen wurde, rief er Ninfetta, Rosetta und mich zu sich und sagte: Wenn ich keine Kinder gehabt hätte, wenn ich euch nicht gehabt hätte, dann hätte ich dies und dies und jenes gemacht. Und wir haben ihn zufriedengestellt, nicht wahr, Ninfetta? Nur eine ist auf Abwege geraten, nachdem sie den Schwur geleistet hatte, und jetzt ist sie auch bei den Toten …« »Mimi!« schrie die Baronessa. »Doch Ninfetta und ich sind – wie soll man sagen? – rein geblieben, jungfräulich. Für euch, für euch, Jungen, für …« »Mimi!« rief die Baronessa noch einmal. Die Nonne, die kurz vorher aus dem Zimmer gegangen war, kommt keuchend wieder herein und sagt laut, als würde sie ein Gedicht deklamieren: 126
»Die Taubeneier auf der Terrasse«, und hier macht sie eine Pause, als hätte sie die Worte vergessen, »sind aufgegangen!« beendet sie den Satz und wird rot. »Jesus, Maria und Josef.« ruft Don Mimillo und springt auf. »Ich habe es ja gesagt: der Mond, der Neumond!« Und er hüpft mit seinem Stock davon.
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X An diesem seltsamen, stürmischen Morgen öffnete Mutter die Balkonläden, betrachtete Himmel und Meer und sagte: »Dieses Jahr fängt der Mai ja schön an!« Es waren Ferien, und ich ließ mir Zeit auf dem Weg zur Schule, schlenderte durchs ganze Hafenviertel. Wir sollten den kleinen Marienaltar im Vereinssaal schmücken, doch wer traute sich schon, vor Squillace, Costa und Seminara etwas daran zu tun, eine Nadel, Tüll oder einen Stanniolstern auch nur in die Hand zu nehmen? Die auf dem Strand ausgebreiteten Netze sahen aus wie Felder mit fetter Erde, gedüngte Beete im grauen Sand. Der dunkle Himmel glitt von den Hügeln über das grüne Meer, und dort stieg, wie von einem Schauder ergriffen, ein dichtes Wolkendach auf, das fern am Horizont endete, wo ein heller, leuchtender Streifen war, wie Sonne zwischen den Schlitzen einer Jalousie: Meer und Himmel waren zwei unendliche, parallele Flächen. Aber ein Wolkenkegel löste sich wie ein Zahn, wie ein Stachel vom Himmel und bohrte sich ins Meer. Fischer und Frauen standen vor den Haustüren und schauten: Dieser Kegel, dieser Zapfen wurde größer und kam näher. Da erhoben sich Stimmen vor den Haustüren, ein Gemurmel, das langsam lauter wurde, ein gegenseitiges Zurufen von Haus zu Haus. Die Fischer liefen zu den Booten, um Lampen, Reusen, die ausgebreiteten Netze und Segel zusammenzupacken, und trugen alles schleunigst in die Häuser. Dann erschien unter der kleinen Brücke des Bahndamms eine Gruppe Männer, auf den Schultern trugen sie einen Stuhl mit einem Loch im Sitz, 128
auf dem eine alte, eine uralte Frau kauerte, die fast im Loch versank; Kinder, Frauen und Fischer kamen hinterhergelaufen. Alle gingen Richtung Meer. Sie hievten den Stuhl mit der Alten in den Bug eines großen Boots, das sie ins Wasser zogen, aber nur zur Hälfte, das Heck steckte noch im Sand. Dort, wo der Kegel das Meer berührte, war das Wasser aufgewühlt, bildete Strudel und stieg in die Luft, wie von einer Pumpe angesaugt. Sie hielten der Alten eine lange Bambusstange und ein Messer hin, diese nahm die beiden Sachen in die Hände, löste ihren gekrümmten Rücken von der Lehne, richtete sich etwas auf, ließ das Kopftuch auf die Schultern fallen und blickte starr geradeaus, in Erwartung des Kegels, der wirbelnd näher und näher kam, auf den Strand zu. Alle waren stumm in diesem Augenblick, niemand rührte sich, bis plötzlich eine Frau hysterisch schrie: »Calòria, sie kommt zu nah, schneidet sie durch!« Die Alte dreht sich langsam um und blickte sie mit funkelnden, vorwurfsvollen Augen an. Dann hob sie auf einmal die Hände mit dem Stock und dem Messer und sagte laut, aufs Meer hinaus: Macht des Vaters Weisheit des Sohns Kraft des Heiligen Geistes Diesen Zauberwind schneid ich entzwei Vom Zauber frei. Und mit einem einzigen Messerhieb schnitt sie das Bambusrohr in der Mitte durch. Die Trombe blieb stehen, zerriß in der Mitte, wurde breiter, löste sich auf und verzog sich wie der Rauch aus einem Schornstein im Wind. Das Wasser hörte auf zu schäumen und wurde wieder ruhig. Rufe erhoben sich am Strand, Schreie und Klatschen. Die Alte zog ihr 129
Kopftuch wieder hoch, versank erneut in ihrem Stuhl und gab den Männern ein Zeichen, sie nach Hause zu tragen. Ave maris Stella oder Auxilium christianorum? Wer würde gewinnen, Squillace oder Seminara? Für die zweite Zeile brauchte man mehr Zeit, um die Buchstaben aus Pappe auszuschneiden und mit Silberstaub zu bestreuen, die erste war kürzer. Außerdem: Gehörte diese Inschrift eigentlich oben über die Krone oder an den Fuß des Altars? Sollen sie es doch untereinander aushandeln, Squillace, Costa, der Aufseher und Seminara, ich werde mir den kleinen Altar anschauen, wenn er fertig geschmückt ist: Ich bleib noch, ich bleib noch hier im Hafen. »He du, he du, holst du mir ein paar Agaveblätter?« fragte mich ein Mädchen. Sie hockte vor einem Wasserkessel, der auf einem Dreifuß stand, unter dem Feuer brannte. »Dazu brauch ich was.« »Ich hol dir ein Messer, warte«, und sie lief ins Haus. Die Agaven wuchsen in der Nähe der Flußmündung, auf dem Damm. Als Kind, im Dorf, sammelte ich die Dornen der Agaven und brachte sie zur Näherin, wo auf den Steinblöcken unter dem Feigenbaum die Mädchen saßen und mit den Dornen Löcher in das Leinen stachen, das in die runden Stickrahmen gespannt war: lauter Vollmonde auf Beinen, genau wie die Mondgesichter der Mädchen. Aber dieses Mädchen hier will Blätter ohne Dornen. Ich brachte ihr ein Bündel. »Was machst du damit?« »In dem Haus dort ist ein Trauerfall, die Mutter ist gestorben.« Ich konnte nicht erkennen, wo, weil über allen Türen ein schwarzes Band hing. »Und die Agaven?« 130
»Die kocht man, und mit dem Wasser färbt man die Kleider.« »Ah. Und wachsen hier Agaven, weil es so viele Trauerfälle gibt, oder gibt es so viele Trauerfälle wegen der Agaven?« »Das kommt aufs selbe raus. Hast du vorhin die Wasserhose gesehen? Im Mai, Heilige Muttergottes, das ist nicht normal …« »Die Alte hat sie doch durchgeschnitten. Der Himmel ist wieder klar, und die Sonne scheint.« »Ja, aber trotzdem stimmt da was nicht.« »Altes Eisen, altes Aluminium, ich kaufe es euch ab …«, sang ein Alter mit einem Karren auf der Straße. In der Tür erschien eine Schwangere und rief nach dem Mädchen. Dann sah sie mich und machte mir ein Zeichen, näher zu kommen. Es war die Tochter der Familie, zu der ich mit dem Vinzenzverein ging. »Die Mutter ist mir gestorben«, sagte sie leise. »Von wegen Letzte Ölung für die Großmutter! Die wird bis in alle Ewigkeiten im Bett liegen«, sie hob einen Arm, fast verwünschend. Dann sagte sie, aber in verändertem Ton: »Kannst du mal in der Klosterschule fragen, mein Lieber, ob sie mir ein paar Sachen für ein Neugeborenes geben? Es dauert nicht mehr lang«, und sie fuhr sich über den prallen Bauch. Das Mädchen von vorhin erschien in der Tür, ganz rot im Gesicht und sagte: »Ich schaff es nicht allein.« »Hilfst du ihr?« fragte mich die Schwangere. Wir gingen ins Haus, das Mädchen und ich, hängten vom großen Bett die schmiedeeisernen Kopf- und Fußteile aus und trugen sie hinaus. Die Mädchen riefen den Mann mit dem Karren und verhandelten über den Preis. 131
»Vergiß nicht, was ich dir gesagt habe«, ermahnte sie mich nochmals, als ich ging. Ich lief am Bach entlang, der direkt hinter der Klosterschule vorbeiführte, und sprang dort, wo das Ufer wegen der vielen Windungen schmal wurde, von einer Seite zur anderen. Brennesseln, Moschuskraut und Salbei verbargen die Krebse und Schnecken. In den zweihufigen Abdrücken der Kühe wimmelte eine schwarze Menge von Kaulquappen. Das Wasser war weiß von Seife, weil weiter oben im Bach die Wäsche gewaschen wurde. Zwischen den Feldern war der Bach eingedämmt, und auf den Dämmen hingen an stacheligen Zweigen die roten Kugeln der bitteren Orangen. Ein Zicklein stutzte, als ich vorbeikam, meckerte zweimal, zerrte am Strick, mit dem es an einem Baum festgebunden war, und lief um ihn herum. Ein kleiner, barfüßiger, struppiger Dorfjunge kam an den Feldrand gelaufen, richtete entschlossen seine Schleuder auf mich, die Gabel senkrecht, das Gummi straff gespannt. Ich hob die Arme und sagte: »Ich ergebe mich, nicht schießen.« »Hier kommt man leicht durch«, erwiderte er, »man braucht gar nicht aufpassen!« Hinter einer Kurve, am Steinbruch in der Ferne, hing etwas Schwarzes an einem Mispelbaum, vielleicht ein Lumpen, um die Vögel abzuschrecken. Ich gehe weiter, aber es war ein Schild mit einem Totenkopf und gekreuzten Knochen, darüber in Großbuchstaben: MINEN. Bei dem Tod konnte man wirklich nur lachen, der sollte erschrecken, hatte leere Augenhöhlen, aber so wenige Zähne, daß sein Gebiß aussah wie ein Lattenzaun. Wer nimmt dem schon die Minen ab, mit denen er droht, wo der Boden dort doch umgegraben und bepflanzt war? Die Minen sind wohl die reifen Mispeln und die prallen Saubohnen- und Erbsen132
schoten, die höchstens die Galle des Besitzers hochgehen lassen, wenn die Dorfjungen nachts einen Plünderzug machen. Ich kletterte die steile Böschung hinauf, zog mich an den Ginsterzweigen hoch und war bereits auf dem Besitz der Klosterschule. Wenn ich den Weg entlangging, würde ich direkt in den Hof kommen. Ich hörte Leute rufen. Es waren Landarbeiter, sie ließen die Hacken fallen, drohten mir mit den Armen und machten mir Zeichen umzukehren, zurück in die Schlucht, wo ich hergekommen war. Ich blieb aber auf dem Weg. Zwei jüngere liefen los, erreichten mich außer Atem, wollten mich an den Armen packen, doch als sie sahen, daß ich kein bißchen erschrocken war, sagten sie, daß der Superior mich dort hinten sprechen wolle. »Du?« fragte mich der Superior, »sag mal, was ist dir bloß in den Sinn gekommen, wo kommst du her, warum durch die Schlucht?« Die Männer blinzelten und grinsten hämisch, als sie sahen, daß mein Gesicht sich verändert hatte. »Ich wohne unten im Ort, und von dort bin ich den Bach entlang heraufgekommen.« »Aha. Und dieser Pfad hier ist wohl ein Spazierweg für jedermann, die Hauptstraße, was? Dies ist Privatgrund, hast du verstanden?! Wo kämen wir hin, wenn hier jeder nach Lust und Laune durchmarschierte. Geh, für diesmal soll es gut sein. Aber daß mir das nicht noch einmal vorkommt.« Die Männer lachten lauthals. »An die Arbeit, Männer!« sagte der Superior. »Ein Tag kostet, ihr merkt das nicht, aber ich spüre es ganz schön«, und er schlug das Brevier auf. 133
Der Hof war voll, wegen der Ferien. Ein Fußballspiel war im Gang, der Rundlauf kreiste, die Schaukel in Bewegung; der Seminarist spielte mit den Dorfjungen Treffball. Einer stand mit dem Gesicht zur Mauer, Arme und Beine gespreizt, und jeder hatte zehn Schuß, die einem ganz hübsche rote Flecken auf die Haut verpaßten. Der Seminarist lachte: Wenn er an der Reihe war, hatte er mit seiner Soutane nicht viel zu befürchten, auch einen kräftigen, gut gezielten Schuß würden die ganzen Falten einigermaßen dämpfen. Mit dem kleinen Altar im Marienverein war noch gar nichts geschehen. Tüll, Papier, Klebstoff flogen überall herum; Squillace, Seminara und Costa knieten auf dem Boden und bastelten schweigend. »Jetzt kommst du?« sagte Benito. »Wo ist Mústica?« fragte mich Tano. »Der ist mit seinem Vater beim Umzug«, sagte Benito und schaute Squillace an. »Welchem Umzug?« fragte ich. »Der vom ersten Mai.« »Na und?« »Die kommen sich wie die Herrn vor nach diesen Wahlen.« »Herren über was?« »Über alles. Es heißt, daß sie sich jetzt auch die Ländereien holen.« »Hast du welche?« »Nein.« »Dann sei doch still!« »He, wollt ihr endlich aufhören!« fuhr Seminara dazwischen. »Helft mir lieber, diese Bänke hier umzustellen.« 134
Don Sergio kam herein, blickte sich um, ging auf mich zu und sagte, ich solle mit ihm kommen. »Der Rektor will mit dir sprechen«, sagte er, »gehen wir.« Ich war ganz nervös, was wollte er bloß? Hatte ihm der Superior schon von der Sache erzählt? Vor der Tür seines Zimmers klopfte mein Herz, noch nie hatte ich mit dem Rektor gesprochen, hatte mich immer vor ihm gedrückt: Oft, wenn ich ihm auf der Straße begegnete, drehte ich mich um, schaute in ein Schaufenster oder las eine Bekanntmachung, und in der Schule ging ich in der Masse meiner Kameraden unter. Ich war sicher, daß der Rektor mich nicht kannte. Don Sergio führte mich, seine Hand auf meine Schulter gelegt, vor den Schreibtisch: »Das ist Scavone.« »Ah«, sagt der Rektor, hebt den Kopf, um mich anzuschauen. Ich begann zu zittern. Schluß, ich sag ihm einfach, ich hätte es nicht gewußt, und ich würde nie wieder den Bach entlanggehen, ich schwöre es, nie wieder. »Setz dich, setz dich.« Wie benommen ging ich rückwärts bis zur Wand: Oh! Ich hatte mir das Sofa höher vorgestellt: Mir war, als plumpste ich in ein Loch. »Ah?« »Der Herr Rektor fragt, woher du bist?« »Ich?« »Ja du, du!« Ich sagte ihm, woher ich kam, und Don Sergio und der Rektor grinsten, wie alle, wenn sie den Namen meines Dorfes hörten. »Aber du wohnst hier.« 135
»Ja.« »Und … deine Familie?« »Auch hier.« »Wie viele seid ihr?« »Ich, meine Mutter und mein Onkel.« »Sag mal, ihr seid aber erst seit kurzem zusammen, oder?« »Ja, sie sind vor Ostern hergekommen.« »Und vorher?« »Im Dorf.« »Aber dein Onkel hatte sein eigenes Haus.« »Ja.« »Wie heißt dein Onkel?« »Scavone, Giuseppe Scavone.« »Und deine Mutter?« »Marianna Salanitro.« Und der Rektor schrieb in ein Buch. Jetzt legt er den Bleistift weg, stützt sich mit den Fingern am Schreibtisch ab, schaukelt mit dem Stuhl und sagt mir, daß er mich ausgewählt hat (mich? mich!) für den Wettbewerb der Diözese in Religionslehre vor seiner Exzellenz dem Bischof (dem Bischof? dem Bischof!). Der Sieger (ich? o Gott!) bekommt … nein, wird nach Palermo reisen … nein, nach Rom. Aber zuvor … zuvor will er mit Onkel Peppe sprechen. »Sag ihm, er möchte herkommen. Heute nachmittag, Punkt vier Uhr, klar?« Er nahm den Bleistift und schrieb wieder in dieses Buch. »Wie steht es mit dem Lernen?« fragt er mich und legt erneut den Bleistift beiseite. »Don Sergio, sagen Sie ihm, wie es steht, hm?« »Mmh, schon recht«, sagt Don Sergio. »Es könnte aber 136
noch besser gehen, wenn er sich wirklich Mühe gäbe.« »Ja, ja, mein Sohn. Willen, den braucht man«, sagt der Rektor gutmütig und lächelnd. »Jetzt geh, geh«, er hält mir eine zur Faust geschlossene Hand hin und füllt meine mit Bonbons. »Geh und statte dem Allerheiligsten noch einen Besuch ab.« Ich küsse ihm die Hand und bin dabei zu gehen, doch weil ich mich jetzt so sicher fühle vor dem freundlichen Rektor, drehe ich mich noch einmal um und sage: »In einer Familie vom Vinzenzverein ist die Mutter gestorben, und die Tochter ist kurz davor, ein Kind zu kriegen. Sie hat mich gefragt, ob ich ihr Sachen für das Neugeborene bringen würde.« Der Rektor schaut mich seltsam an, ohne zu begreifen, so, als kaue er noch an den soeben vernommenen Worten. »Geh, los«, sagt Don Sergio, legt mir eine Hand auf die Schulter und schiebt mich vorwärts, »das betrifft die Nonnen.« »Aber diese Familie gehört doch zu uns, zu dieser Klosterschule. Ich und Mústica haben sie doch betreut.« »Die Nonnen, die Nonnen!« schreit Don Sergio und zerrt mich hinaus. Der Rosenkranz begann: gut; jeden Tag ein kleines Opfer: gut; die Wachslichter abwechselnd, ich bin am Freitag an der Reihe: gut, ja. Läßt er mich, oder läßt er mich nicht, Seminara? »Mit dir kann man nicht reden«, sagt er. »Dann red halt nicht!« 137
Würde ich es nie lernen? Ich konnte den Großen aus dem Weg gehen, argwöhnisch sein, stumm, verkrochen, mich tot stellen wie eine Schildkröte, an der man mit einem Zweig herumstochert, doch sobald einer nett mit mir sprach, ein bißchen lächelte, öffnete ich mich sogleich, redete mehr als gut war und immer mit dem bitteren Ergebnis, daß ich es bereute, mir Vorwürfe machte, zuviel gesagt zu haben. »Ja« und »Nein«, diese zwei Worte genügten bei den Großen, und das war schon viel. Und diesmal, was hatte mich dazu gebracht, was bloß, dem Rektor von der Schwangeren und diesen Sachen zu erzählen? Diese ganzen Fragen nach meiner Mutter, meinem Onkel, dem Dorf und dann die Auswahl für den Wettbewerb, all das hatte mir geschmeichelt, mir Mut gemacht, die Zunge vom Gaumen gelöst: Hatte ich nicht geahnt, daß der Hauptzweck dieses Gesprächs beim Rektor und der ganzen Fragen die Heirat von Mutter mit Onkel Peppe war? Heirat: Wer hatte je daran gedacht? Für mich waren sie meine Mutter und Onkel Peppe und die beiden Schwager und Schwägerin: Aber dem Rektor war daran gelegen, und so geschah es auch, nach zehn Tagen, eines Morgens in der Kirche. Ich tat so, als wäre nichts, als schliefe ich, weil es noch zu früh war, und sah Onkel Peppe am Spiegel, wie er sich das Loch im Ohr mit Kerzenwachs stopfte, und Mutter, die durch das Zimmer eilte und den Schrank öffnete, der so quietschte. Dann, als es Zeit war, ging ich in die Schule, denn es war ein normaler Tag, ein Werktag. Mittags das Essen, die guten Kleider, die Ringe am Finger, die Andeutungen, lauter Dinge, die für sich selbst sprechen sollten. Und am Abend setzte sich Mutter an mein Bett, unter dem Vorwand, sich den Wecker auf fünf Uhr stellen zu lassen, und sagt: 138
»Ach, was für ein Tag! Für morgen ist so viel zu tun geblieben. Auch dein Onkel muß früh aufstehen und ins Lager.« Sie betrachtete ihre Hand, die im Schoß lag, der enge Ring am Finger glänzte, und sie streichelte mit der anderen Hand darüber. »Du kannst Onkel Peppe Vater nennen«, sagte sie leise. »Ich weiß«, erwiderte ich. »Aber es wird eine Weile dauern, bis ich es lerne.« Vater war Onkel Peppe für mich schon vorher gewesen, deshalb war ich froh über diese Hochzeit, die meiner Mutter auch das verschlossene Lächeln von den Lippen nahm, die gerunzelte Stirn hinter der Balkontür, die Manie, nicht aus dem Haus zu gehen, den Groll gegen das Dorf, die Angst davor, an die Zeit mit meinem Vater zu denken. Und für mich änderte sich ja auch nichts, nicht einmal der Name: Ein Scavone war ich und blieb ein Scavone. Einmal fragte ich meine Mutter, weshalb sie es nicht schon früher getan hatten: »Junge«, sagte sie, »ich hab nichts gesagt und er auch nicht. Außerdem gab es in dieser ersten Zeit noch lauter Schwierigkeiten: das Haus, die neue Arbeit deines Vaters …« Jetzt, auf der Straße, wenn ich bloß daran dachte, wie Don Sergio mich fast zur Tür hinausgestoßen hatte, mit diesem Gesicht, das sagen sollte: »Halt den Mund, du Idiot!« schoß mir das Blut in die Adern. Ich kaufte mir zwei Mentholzigaretten, bog von der Hauptstraße ab, die Gassen hinauf bis hinter die Kirche. Ein Junge, fast schon ein Mann, ganz in Weiß, die Schultern und einen Fuß an die Mauer gelehnt, rauchte angeberisch und starrte dabei auf ein Fenster. »Hast du mal Feuer für mich?« fragte ich. 139
»Ist das deine erste?« fragte er, schaute mich an und drückte seine mit leichter Drehung auf meine. Ich zuckte die Achseln. »Ihr von der Schule fangt alle entweder mit Serraglio oder Mentholzigaretten an: haha, kommt mir vor wie Mädchen!« Dieser Ort ist wie ein Gitter, die Gassen über Kreuz, die ebenen laufen quer und die steilen senkrecht hinunter bis ans Meer. Wenn jemand auf einer Querstraße geht, kann er von jeder Ecke aus den hellen Wasserspiegel in der Tiefe sehen, wie blaues Glas am Ende der Gasse. Doch nach oben hin ist das Land wie ein Schutzwall, graugrüne Hügel mit Oliven- und Zitronenbäumen. Dieser Ort sieht aus, als läge er zwischen den Pfoten eines schlafenden Hundes, umschlossen von diesem hügeligen Dreieck an der Meeresküste. Nach der Hälfte wird einem von einer Mentholzigarette übel, sie schmeckt wie Abführschokolade, süßbitter, nach der man sich mulmig fühlt. Ich habe gemerkt, daß man nur auf die Hügel steigen muß, um sich über den Ort zu erheben, über ihm zu stehen, ihn zu beherrschen. Von dort oben kann man einen Felsbrocken hinunterrollen und ein Haus zerstören, man kann auf jemanden spucken, der auf der Straße geht, man kann auf eine Gruppe schießen, die friedlich auf dem Platz steht. Ein alter Ochse lief über ein Süßkleefeld wie ein Salamander durch die Flammen. Die Besitzer hängen an ihren Ländereien und vermachen sie ihren Kindern; und den anderen, die nicht wissen, wo sie sich zum Sterben hinlegen sollen, bleibt nur ein Weg, der einzig offene, das Meer. 140
Hier diese Gasse heißt Via Rotino, sie ist schnurgerade, und wenn sie nicht so holprig wäre und ich ein Brett mit vier Rollen hätte, könnte ich auf ihr bis hinunter zum Platz rasen: Neben dem grünspanigen vorwärtsstürmenden Soldaten, neben den Gedenktafeln mit den Namen – hier! –, im Laufe der Zeit, die darüber vergangen ist, verblaßt, neben den großen Rädern mit den schwarzen, vom Rost angefressenen Speichen und den Kanonenrohren schreien sie mit den roten Fahnen: Der erste Mai und die Arbeiter, hoch sollen sie leben! Viele wurden getötet auf einem Platz (Mütter und Kinder waren dabei), eingepfercht wie Schafe, das Gatter verrammelt. Wie wahnsinnig irrten sie umher, um Schutz zu suchen, aber nieder, nieder, nieder, niedergestreckt von erbarmungslosen Salven in die Brust, in die Schläfen: In den Augen ein ginstergelber Schein, ein grüner Schein, ein schwarzer Schein von Lavastaub, von Wüste. Das Tuch getränkt, rot auf rot, eine Illusion, wieder einmal eine Illusion. Eine Alte stand aufrecht, mit den Beinen fest auf dem Boden, und sagte: »Frauen, was soll dieses Gejammer und das Geschrei mit Schaum vor dem Mund? Das ist nicht das Ende: Schont eure Stimmen und die Kleider für die vielen Toten, die folgen werden!«
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XI Auf Monopoly waren wir so versessen, daß wir manchmal dafür sogar aufs Meer verzichteten. Wir hatten ein Spiel unterbrochen, als es hieß, daß wir gehen sollten, ließen jedoch alles auf dem Tisch liegen, um nachmittags gleich weiterzuspielen, noch ehe die anderen alles durcheinanderbrächten. Ich war am Verlieren, und Costa kam gleich nach mir. Ich hatte nur noch die Turmstraße und die Badstraße und noch ein paar Fünfzigtausender. Nach all den Ereignis- und Gemeinschaftskarten den ganzen Vormittag über war ich ziemlich pleite: »Ein Wechsel wird fällig, zahlen Sie 30 000 Lire«, »In Ihrer Familie findet eine Hochzeit statt, Kosten 50 000 Lire«, »Gehen Sie drei Schritte zurück, Herzliche Glückwünsche!« Ja, Glückwünsche! Ich landete in Squillaces Schloßallee und Parkallee, wo er sechs Hotels stehen hatte, wenn man dort hinkam, zahlte man ein Vermögen, Was sollte ich tun, mich erschießen? Die Häuser verkaufen und eine Hypothek auf die Karten aufnehmen? Der einzige, der mit Tano mithalten konnte, war Filippo, der, was Häuser und Geld betraf, ganz gut dastand. Jetzt würde sich dann herausstellen, wer alle in den Bankrott stürzte, wer gewinnen würde. In der glühenden Hitze um zwei Uhr mittags gingen wir geduckt hinter der niedrigen Hofmauer entlang auf die Felder zu, wo die Hütte mit den Tauben stand. Dort warf die Mauer drei Handbreit Schatten, und wir hockten uns auf den Boden, die Füße und die Beine bis zu den Knien in der Sonne. Hinter uns lag der Hof der Klosterschule, wenn es klingelte, würden wir über die Mauer springen, über den 142
Hof rasen und schnell in den Vereinssaal schlüpfen. Wenn die anderen, die ungeduldig auf der Straße warteten und am Tor klebten, dann hereinkämen, würden wir schon gemütlich dasitzen: Ihr, von woher seid ihr denn gekommen? Die Passionsblume, die über die ganze Mauer wuchs, hing voller Früchte und hatte nur wenige, halb verwelkte Blüten. Tano war verrückt nach diesen Früchten, die so verschrumpelt waren, wie Dörrfeigen. Er pflückte eine mit Stiel, rieb an seinem Hemd den Staub von der wächsernen Schale, spielte ein Weilchen mit ihr, indem er sie mit den Lippen quetschte und formte. Dann machte er ein Loch in die Spitze und saugte an ihr, bis sie ganz leer war, wobei er auch die roten Kerne schluckte. »Du hast vielleicht einen Magen, Junge! Mußt du da nicht kotzen?« fragte ihn Mústica. »Der Saft schmeckt mir einfach!« »Ich glaub eher, dir schmecken die Kerne!« »Die ganze Frucht: schön gequetscht, weich, wenn sie so ist wie das Gelbe von einem gekochten Ei …« Filippo lachte nicht, er betrachtete den blauen Rauchfaden von der Zigarette, der schnurgerade nach oben stieg, bis er sich auflöste. Benito lachte auf seine Art, immer laut, wie ein albernes Mädchen. »Ja, weck nur die Priester!« schimpfte ich. »Ich mag lieber den Nektar«, sagte Benito, schaute hoch und pflückte eine Blüte. Er zupfte die Strahlen ab, die Dornenkrone, die Geißel und die drei Kreuznägel, übrig blieb der nackte Kelch, der Blütengrund mit dem Nektar. Benito steckte ihn in den Mund und spuckte ihn durchgekaut wieder aus. »Hätt ich das gewußt«, sagte Filí neben Tano, »dann hätt ich 143
dir am Abend, wo du in Fitalia gesungen hast, eine direkt in den Mund geschossen.« »Du hast auch nichts Besseres zu tun, als andere auszulachen«, erwiderte Tano und riß wütend eine Handvoll gelbe Ähren ab. Das Feld dort war voller vertrockneter Quecken, ein dichter Teppich, bis weit in die Landschaft hinein, und die Widerhaken der Rispen hingen wie Zecken an den Kleidern. In den weißen Schuhen mit Gummisohle, in denen Costa sich ganz als Tänzer vorkam, steckten sie büschelweise. Uns, mit Sandalen, juckten sie an den Füßen wie Mückenstiche. Ich hatte mich hingekniet und spähte, hinter den Blättern der Passionsblume versteckt, nach unten: Die Ketten am Rundlauf leuchteten, obwohl sie braun waren. Um diese Zeit durfte man sie nicht anfassen, sonst würde man sich ganz schön verbrennen und einen Monat lang die Spuren an den Händen haben. Die rötliche Lehmerde auf dem Hof mußte eine regelrechte Staubwüste sein, man sah es daran, wie tief die Tauben einsanken, wenn sie darüberliefen, und wie sie beim kleinsten Flügelschlag aufwirbelte. Wenn man in diesen Monaten Fußball spielte, kam man mit kniehohen Stiefeln nach Hause. Und wenn der Staub sich erst auf dem Gesicht mit dem Schweiß mischte?! Es gab Dorfjungen, die abends in der Kirche aussahen, als wären sie aus Erde, wie Lehmkinder. Laut öffnete sich im oberen Stock ein Fenster. »Der Aufseher«, sagte ich. Alle knieten sich, um zu schauen. Der Aufseher war gerade aufgestanden: noch ganz zerknittert, ohne Brille, die Haare zerwühlt, die knochigen Schultern unter dem gestreiften Hemd ohne Kragen, so daß man die Brusthaare sah. In der 144
Kutte wirkte er viel strenger. Er warf einen zerstreuten Blick auf den Hof, die Augen halb zugekniffen, wegen des Lichts, öffnete eine kleine Tür neben dem Fenster und verschwand. »Er pinkelt«, sagte Mústica. Kurz danach war er wieder durchs Fenster zu sehen, jetzt wusch er sich, trocknete sich ab, betrachtete sich in einem kleinen Spiegel, der an der Wand hing: zupfte sich mit den Fingern Nasenhaare aus, begutachtete die Zähne, grinste breit, über irgend etwas, das ihm durch den Kopf ging, ärgerte sich mit seinen Haaren herum, die er einige Male zurechtlegte und wieder anders kämmte, schüttete das Wasser aus der Waschschüssel in den Hof, und schwapp, der Staub schlug Wellen. Wir setzten uns wieder hin und warteten. Es fehlte noch fast eine halbe Stunde, die nicht vergehen wollte. Die Felder und Hügel schienen sich in dem Geflimmer über dem Boden aufzulösen: Wenn es so bliebe, wenn es nicht regnete, könnte es Brände geben. Im Sommer brach auf den vertrockneten Stoppelfeldern immer Feuer aus; wenn es nachts geschah und gleichzeitig der Schirokko auf den Ort zuwehte, der kranke, matte Mond mit seinem Licht die Häuserdächer streifte, war es so stickig, daß man sich auf den Steinboden legte. Costa, auf allen vieren, quälte die Ameisen, die Hafer und Weizenrispen wegschleppten, er brachte ihre Straße durcheinander und steckte einen Ast ins Loch von ihrem Bau. Filippo zog sein Hemd aus, legte es aufs Gras und ließ sich der Länge nach darauf nieder, mit der brennenden Zigarette: Inzwischen war er süchtig geworden, er rauchte ständig. Tano, mit einer reifen Passionsfrucht in der Hand, hatte die Augen geschlossen und versuchte zu schlafen. 145
Aber eine lästige Zikade auf dem Johannisbrotbaum sägte, ohne auch nur einen Augenblick Luft zu holen. »Oh, sei doch still!!« rief Tano und warf die Frucht nach ihr. Tanos Rufen wirkte ungeheuer laut in dieser Stille von Feldern und Hof, es schmetterte gegen die Klosterschule und hallte als Echo von den Mauern wider. »Jetzt fang du auch noch an!« sage ich. »Die finden uns noch, und dann schicken sie uns runter vors Tor.« Filippo warf die Kippe weg und drehte sich mit dem Gesicht nach unten. Er war der verbrannteste, der Nacken wie geräuchert und der Rückenansatz schlangenschwarz; oder es wirkte nur so, zwischen dem gelben Gras. Jetzt hatten auch noch die Tauben mit ihrem Gurren angefangen, eintönig, beharrlich, in einer Reihe dort oben auf der Hütte, und ruckartig drehten sie den Kopf und beguckten uns mit ihren runden Augen. Der Johannisbrotbaum warf einen großen, dichten Schatten, doch wenn man sich darunterlegen würde, könnten die von der Klosterschule einen sehen. Diese schöne Kühle, dieser Schutz mitten in der Landschaft, war umsonst: Ich sah mich im Geiste dort ausgestreckt, den Kopf neben dem Stamm, und bis zum Sonnenuntergang schlafen. So runzelig, dunkel und knorrig, wie der Baum war, hatte ich mir immer vorgestellt, er käme aus der Finsternis der Zeiten und seine Wurzeln reichten bis zum Mittelpunkt der Erde; der Stamm kam mir wie aus Tuff vor, und die Früchte schienen mir aus Kohle. Der Olivenbaum und der Johannisbrotbaum, die Reben, der Esel, die Ziegen, die Tonkrüge für den Wein und die Quarkbottiche, manche gichtigen, aber zähen alten Menschen kamen mir uralt und unsterblich vor. Seit langem schon hatte ich keine Johannisbrotschote mehr 146
gegessen. Ich starrte auf eine und dachte an den Geschmack, an das pelzige Fruchtfleisch im Mund und an die Samen, die härter als Steine waren. Nach dem Krieg, als die Truppen durch den Ort gezogen waren und die Leute sich ständig kratzten, hieß es, das käme vom Verzehr des Johannisbrotmehls. Man rieb sich am ganzen Körper mit Schwefelsalbe ein, und wenn man am Sonntag auf dem Platz zwischen all den Leuten stand, hatte man ein Brennen im Hals. »Einmal Kratzen«, bestellten die Männer, die in den Barbiersalon kamen. »Los, Junge«, sagte der Besitzer zu mir. Und ich nahm die Bürste und schrubbte über die Rücken. »Hier, hier, da, da!« sagten sie, »fester, fester!« Und ich striegelte und striegelte und dachte mir: »Die Frauen, wer kratzt eigentlich die?« »Gestern abend bei Sara Mavazza war der Teufel los«, sagte Filippo mit dem Gesicht zum Boden. »Es heißt, wegen einer achtzehnjährigen Kalabresin. Zum Schluß gab’s eine Schlägerei.« »Stimmt es, daß die Kalabresinnen einen um den Verstand bringen, daß sie die Männer in den Tod treiben?« »Die aus Bagnara, die lassen den Mann in der Früh im Bett liegen und gehen arbeiten. Sie füttern ihn mit Ei und Fleisch!« »Ah, wär das schön!« Man sprach und schwieg dann eine Weile, um für sich selbst über das Gesagte nachzudenken. In der Stille war nur das Gurren der Tauben zu hören, das Klagen der Zikade, der ganzen Landschaft unter der Sonne. Während wir so schwiegen, schnellte Costa plötzlich hoch, lief vom Mäuerchen weg und schrie: »Eine Viper, eine Viper!« Wir sprangen alle auf und liefen weg. Eine große Eidechse 147
saß auf einem Zweig der Passionsblume, starr, bloß die Zunge und die Füße zuckten. »Gehen wir weg von hier«, sagte Costa verängstigt, »die saugt einem aus sieben Meter Entfernung das Blut aus.« Filippo aber ging grinsend auf die Mauer zu, spreizte die Beine, bog den Oberkörper nach hinten und stand eine Weile so da, mit geschlossenen Augen. »Aahh«, rief er dann klagend und ließ sich schlaff ins Gras fallen, »ich bin tot, sie hat mich ganz ausgesaugt!« Tot auf dem Boden, wartete er auf das Gelächter, das Gelächter, das uns im Hals steckengeblieben war, als wir sahen, wie der Aufseher hinter einer Ecke der Hütte auftauchte, sich ganz leise näher schlich, schließlich mit verschränkten Armen über Filippo stand und ihn anstarrte. Er war blaß, der Aufseher, mit seiner schmalen Nase und dem Zucken um die Lippen. Filippo drehte den Kopf zu uns, schlug die Augen auf und schaute direkt auf die Schuhe und die Kutte des Geistlichen. »Steh auf!« sagte er gepreßt. »Zieh das Hemd an!« Nachdem Filippo es fertig zugeknöpft hatte, schaute er dem Aufseher ins Gesicht. Sogleich bekam er eine Ladung Ohrfeigen, Hiebe und Tritte. Die Tauben auf dem Dach suchten das Weite. Filippo stand ruhig da, steckte alles mit zusammengebissenen Zähnen ein und schaute ihn an. »Du Schwein, du widerwärtige Giftschlange!« schrie der Aufseher. Das Tor zur Straße war geöffnet worden, und die ganze Flut der Jungen war in den Hof geströmt, wo die Spiele begannen. »Spring, du Mistkerl, spring!« 148
Sie sprangen beide hinunter, er und der Aufseher, der ihn am Arm gepackt hielt und in die Mitte des Hofs zog. Er holte die Pfeife aus der Tasche und blies. Die Jungen unterbrachen ihre Spiele und versammelten sich um Mústica und den Priester. »Seht ihn euch gut an!« sagte der Aufseher. »Er ist nicht würdig, unter euch zu bleiben, er wird keinen Fuß mehr in die Klosterschule setzen.« Filippo ließ ihn nicht zu Ende sprechen, er stieß ihn weg, befreite sich von seiner Hand und rannte schnell zum Ausgang. Der Priester versuchte noch, ihn mit einem zornigen Fußtritt zu treffen, aber der ging ins Leere, er verlor das Gleichgewicht und landete auf allen vieren am Boden. Brille und Pfeife fielen in den Staub. Ich ließ die anderen stehen und schlich mich mäuerlings nach draußen. Ich rannte die Hauptstraße hinunter, über den Platz und auf der anderen Seite zur Talbrücke: von Filippo keine Spur. Ich lehnte mich an ein Haus gegenüber der Klosterschule, das Tor mit den geraden Lanzen stand weit offen. Die weiße Treppe, die grüne Eingangstür. Im oberen Stock, bei den Fenstern der Priesterzimmer mit den Blumentöpfen auf den Simsen, dieser frischere und hellere Kreis, das inzwischen gestopfte Loch von der Kanonenkugel, die Buchstaben von SCHULE waren ausgebessert. Ich suchte Filí am folgenden Tag und noch am nächsten, zu Hause, im Hafen. Seine Schwester sagte mir, während sie über das blonde Köpfchen ihrer Tochter, die sie auf dem Arm hatte, streichelte: »Weiß nicht, der ist heute ganz früh losgegangen, mit Angelschnur und Haken.« Ein Fischer, der sich unter einem Boot langgelegt hatte, sagte mir: »Er wollte den Kahn und ist weit hinaus, noch hinter Puntale149
na«, dann zeigte er mir, wo das Boot seinen Platz hatte, es hieß Maria Bambina, ich setzte mich auf einen Bock: »Wenn er es an Land zieht, dann hierher, und hier warte ich auf ihn.« Ich wollte nicht, daß Filippo denkt, ich sei mit den anderen in der Klosterschule beim Spielen. Freundschaft ist, daß, wenn einer alleine ist, alle gegen sich hat, der andere ihm sagt, schau, hier bin ich, wir sind zu zweit. Ein Boot war im grell glänzenden Streifen der dicht über dem Meer stehenden Sonne auszumachen, ein flink gleitendes Boot, die Ruder tauchten ins Wasser und glitzerten, mehr konnte man nicht sehen. Dann, als die Sonne unterging und über dem ganzen Meer dasselbe Rot lag, erkannte man auf dem Boot Filippo: Er ruderte im Stehen, in langen Zügen. Er sprang ins Wasser, hielt das Boot am Bug, sagte zu mir, ohne sich umzudrehen: »Gib mir einen Bock«, und rammte ihn unter den Kiel. »Nicht auf die Dolle, halt es gerade. Zum Heck, zum Heck!« Das Boot war voller Wasser und schwer zu ziehen. »Noch einen Bock.« Schwitzend und keuchend zogen wir es an Land. Filí verkeilte das Boot mit Steinen und zog den Pfropfen heraus, um das Wasser abzulassen. »Dieser Kahn ist das reinste Sieb«, sagte er, während er seine Sachen zusammenklaubte, »man muß ihn kalfatern.« »Was hast du gefangen?« »Barben und sonst noch Kleinzeug!« Er war so lange draußen auf dem Meer gewesen, daß die Sonne seine Haut tiefrot gebrannt hatte, von der Farbe glühender Kohlen in heißer Asche. Er hatte trockene, rissige, salzverkrustete Lippen und glänzende, weit aufgerissene Augen, in denen das Weiß hervortrat wie bei 150
jemandem, der Hunger hat oder dem der Schrecken in den Gliedern sitzt. »Willst du welche?« fragte er und zeigte mir den Korb mit den Fischen. »Bei uns gibt’s keinen Fisch, Onkel konnte ihn noch nie ausstehen.« »Wer das Meer vor Augen hat, muß sich früher oder später daran gewöhnen, auch an den einfachsten Fisch.« Mit Filí bin ich in diesem Sommer jeden Tag aufs Meer hinaus, an Maria Himmelfahrt haben wir damit noch Geld verdient, weil wir Bäuerinnen herumgerudert haben, auch wenn wir die Hälfte dem Fischer, dem das Boot gehörte, abgeben mußten. Filippo jagte den Frauen Angst ein, brachte sie zum Kreischen, wenn er wie wild mit dem Boot schaukelte. Und wenn sich eine Hübsche an mich klammerte und drückte, rief er: »Genieß es nur!« und schaukelte weiter. Es war in jener Nacht, während die bunten Raketen in den Himmel geschossen wurden und in Trauben ins Meer fielen, brutzelnd wie Fische; wir gingen dahin, wo eine im Sand lag, die zu mir sagte (der letzte Knaller explodierte laut, der dicke Böller): »Bist du schön, Schätzchen, und jung!« Die ganze Nacht blieben mir das Echo dieser Stimme, der Geruch und das dumpfe Dröhnen des dicken Böllers. Am Morgen waren Meer und Strand übersät von angekohlten Pappfetzen, Melonenschalen, Saubohnenschoten und Samenhülsen; im Sand steckten noch eine Reihe Pflöcke mit den Kreisen aus angesengtem Schilfrohr für die Feuerräder. Dann kam das Ende des Sommers. Filippo wurde wieder still und verschwand ganze Tage. Als die Schule anfing, erfuhr sein Vater von der Geschichte und ging in die 151
Klosterschule, um darüber zu reden. Sie sprachen und sprachen im langen Korridor, erhoben die Stimmen, und der Rektor sagte zu ihm: »Tun Sie mir den Gefallen und gehen Sie!« »Ich habe nichts gegen Sie«, erwiderte der Vater von Filí. »Auf die Regierung bin ich zornig, weil sie keine Schulen in den Orten eingerichtet hat.« Filippo landete bei Don Lucio, dem Professor, dem alten Säufer, der Gedichte schrieb, ganz alleine in einer Scheune auf dem Land lebte und jeden Abend in den Ort herunterkam, immer im Mantel, ob es heiß war oder hagelte, um sein Gläschen in der Schenke zu trinken und dann vor der Fassade des Palazzos von Cavalier Cantales, seinem Cousin, seinen mit lateinischen, französischen und spanischen Brocken vermischten Vortrag zu halten. Zuletzt pinkelte er noch, im Vorhof hinter der großen Tür (immer an derselben Stelle, unter der Nische mit der Gipsballerina, die eine Lampe hält), und machte sich wieder auf den Weg. Eines Morgens sagte Onkel zu mir: »Was willst du, zu Don Lucio in die Schule gehen? Pack deine Bücher und mach, daß du in die Klosterschule kommst, sonst befördere ich dich mit Tritten bis ans Tor!« Es war eine komische Schule, die von Filí, er genoß es: Es waren eher Dinge aus dem Leben, die Don Lucio ihm erzählte, nicht so sehr Schulstoff. Aber es ging nicht lange, nur bis zu dem Tag, als sie Don Lucio in einem Kastenwagen nach Messina brachten, denn als er eines Abends vor dem Palazzo seinen üblichen Vortrag hielt, begegnete er am Tor der Cavalieressa, seiner Kusine, stellte sich vor sie hin und schrie: »Oh, schau nur, mit was mich dieser Dieb von deinem Gatten zurückgelassen hat, und staune!« Er knöpfte sich den Mantel auf, und DARUNTER war er nackt. 152
XII ›Er wird drei runde Stellen haben‹, dachte ich, als ich auf seinen Kopf schaute. ›Die eine, die sie ihm mit dem Rasiermesser machen, ist dann der Mond, und die anderen daneben sind die Sterne.‹ Auf dem Kopf von Vittorio Seminara gab es oben in seinen sehr kurz geschnittenen Haaren zwei Punkte, wo sie kreisförmig wuchsen und hochstanden. Die Mitte, wo sie ihm die Tonsur machen würden, war genau zwischen diesen beiden Wirbeln. Vittorio war allein, auf einem Betstuhl in der Mitte, zwischen den beiden Bankreihen. Er trug einen neuen grauen Anzug, lange Hosen und Schuhe, deren Sohlen noch schwarz vom Anilin waren. Er war in sich versunken, gesammelt; er wußte, daß die Blicke sich auf ihn richteten, und rührte sich nicht. Diese Messe vom 8. Dezember, an Maria Empfängnis, war die letzte, die er in der Klosterschule hörte, die Abschiedsmesse. Ein Geistlicher beugte sich über die Tasten, schloß die Augen und entlockte dem Harmonium eine sanfte, leise, bescheidene Musik; der Geistliche richtete sich auf, sein Brustkorb blähte sich, er hob den Kopf zum Himmel, verdrehte die Augen, und die Musik schwoll an, wurde laut, weit, schallend, bis sie die ganze Kirche erfüllte, gegen Decke und Wände drängte. Das Harmonium war ein Gerippe aus Nußholz mit einem grünen Tuch, unter dem die Blasebälge versteckt waren; das Harmonium war ein ewiges Pedalquietschen für ein paar kraftlose Akkorde gregorianischer Gesänge. Doch der fremde Geistliche hatte es verwandelt, dieses Beugen und leidenschaftliche Aufrichten, diese Hände, die über die Tasten liefen, Register 153
schoben und zogen. Ein Instrument ist nur ein Instrument, zu allen Tönen fähig, es hängt davon ab, in welche Hände es gerät, ob wirklich Musik herauskommt. Vittorio Seminara stand von seinem Betstuhl auf, kaum daß der Rektor den Tabernakel geöffnet hatte, und ging zum Fuße des Altars. Bevor er ihm die Kommunion gab, sagte der Rektor, Zeigefinger und Daumen aneinandergelegt, zu uns gewandt, daß Vittorio vom Herrn berufen worden sei und heute nach Catania aufbrechen werde, um ins Vorbereitungskolleg und dann ins Noviziat einzutreten. »Es gibt in einem Gewächshaus immer eine Blume, die stärker duftet als die anderen, eine Blume, die so schön ist, daß der Gärtner sie pflückt und für sich behält.« Ein schwaches Sonnenlicht drang durch die neuen Fenster und beschien die Statuen, die Tücher, die Paramente, die Gesichter, die Palmen; wir waren umgeben von Violett, Grün, Rot, Gelb; wir atmeten Ähren, Trauben, Wasser, Lämmer, Margeriten. Im Hof sagte Seminara uns allen Lebwohl und gab uns mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen die Hand. Der fremde Geistliche stand bei ihm, er war es, der ihn mitnehmen sollte. Doch Vittorio war blaß, hatte ein weißes Gesicht über dem zu weiten grauen Anzug. Und sein kleiner Birnenkopf schien so kahlgeschoren noch heller und noch kleiner. Vittorio ähnelte dem Domenico Savio aus Gips über seinem Bett. Bevor er mit dem Geistlichen die Treppe hinunterging, drehte er sich noch einmal um und winkte uns zu. Er würde nach Hause gehen und dann mit dem großen Pappkoffer voll Bücher und Wäsche den Zug nach Catania nehmen, neben sich den Priester, der ihn während der ganzen Reise vorbereiten würde. Ich dachte an seine Schwestern, aufgestellt auf dem Balkon, 154
um ihn zu verabschieden, wie sie ihn küssen und noch einmal küssen und aus der Fassung geraten würden, ohne an die Locken, an die Wellen in ihrem Haar zu denken. An seine Mutter, wie schlimm ihr Magengrimmen, ihr, herrje, Sodbrennen, durch den starken Schmerz der Trennung würde. Und wieder war einer über die Schwelle des Tors hinaus auf die Straße gegangen, um nie mehr in die Klosterschule zurückzukehren. Und nein, ich ahnte nicht, als ich vom Tor aus diesem grauen Anzug nachsah, der Schritt für Schritt auf der Treppe verschwand, daß nach Filippo und Vittorio ich der nächste sein würde, der die Schule verließ. So jung, wie wir noch waren, das Leben zeichnete uns schon den Weg vor. An einem Tag, als es heftig regnete, fuhr ich mit dem Fahrrad zu einem Garten am Flußufer. Am Lenkrad, mit einer Serviette festgebunden, hing ein Napf mit heißer Pasta, und beim Radeln beugte ich mich schützend darüber. Onkel hatte eine große Partie Sommerzitronen gekauft, und jetzt, wo er ein Angebot dafür hatte, konnte ihn weder Regen noch sonst irgendwas von der Arbeit abhalten. Ich lehnte mein Fahrrad an die schwarzen und weißen Rohre oben auf der Brücke und lief schnell zum Onkel, der sich in der Mulde unter einem dichten Zitronenbaum untergestellt hatte und mit den Pflückern herumschrie. Die Steigen waren auf dem Damm gestapelt, in Erwartung der Karren, die sie fortbringen sollten. »Stell es dahin«, sagte Onkel zu mir. »Wer hat für sowas Zeit? Wenn wir nicht vor dem Dunkelwerden fertig sind, verdammte Hacke …« 155
Der Regen wurde nach und nach immer stärker, und die Pflücker rannten mit den Körben herum, einen Sack als Kapuze über den Kopf gezogen. Einer auf der Treppe, tropfnaß, schnitt statt des Stiels von der Zitrone die Schnur unter dem Haken durch: der halbvolle Korb fiel schwer herunter, und die Zitronen kullerten auf den Boden. »Bist du blind?« schrie ihn der Onkel an. »Hast wohl die Augen am Hintern, was?« Onkel Peppe machte sich mit seinem Messer über einen jungen Feigenbaum her: die Knospen, die kleinen Äste, die Knötchen, dann der Rest; die Kisten mußten nach oben auf den Damm. Einer, der vom Damm herunterkam, sagte im Vorbeigehen: »Das Wasser ist mächtig gestiegen, Don Peppe, es schlägt unter die Kisten, in den Bergen muß es eine Sintflut geben.« »Sie kommen nicht und kommen nicht, diese Hurensohne mit den Karren, die wollen sich wohl ihre Hörner nicht naßmachen?« sagte Onkel. Ich sah das rotkarierte Tuch auf der Erde liegen: Die Pasta ist hin, dachte ich, bestimmt kalt, ein Matsch. Ich holte die Gabel aus der Tasche und legte sie geräuschvoll auf den Napf. Vielleicht hörte Onkel das und erinnerte sich an das Essen. »Geh weg, geh«, sagte er statt dessen zu mir. »Du bist ganz naß.« Sich selbst sah er nicht, die Mütze und die Schultern völlig durchgeweicht. Vielleicht, wenn ich ihm sagte, daß auf der Pasta noch ein Rippchen war … »Geh nach Hause, hast du keine Schulaufgaben?« »Willst du nicht essen?« 156
»Jetzt nimm das Essen mit, geh, sag, daß ich heute abend esse. Hast du denn nichts für den Kopf? Ach, stimmt ja: Schüler tragen keine Mützen. Das erste, was ihr lernt, ist, eigensinnig zu sein. Binde dir wenigstens ein Taschentuch auf den Kopf.« Er band es mir fest, strich mir mit der Hand darüber und gab mir im Nacken eine Kopfnuß. Langsam stieg ich wieder zur Brücke hoch und war gerade dabei, die Serviette an der Lenkstange festzuknoten, als ich unten im Garten die Männer schreien hörte: »Don Peppe, Don Peppe, der Damm ist fortgespült! …« Die Mauer war verschwunden, hatte sich aufgelöst wie Salz, und das Wasser des Furiano brach in den Garten ein. Die Kistenstapel fielen um, die Zitronen schwammen obenauf, eine ganze Reihe floß vor meinen Augen vorbei, unter der Brücke hindurch. »Helft mir, helft mir!« schrie Onkel wie ein wildes Tier und stemmte sich gegen den letzten Kistenstapel mit den Händen, mit der Brust, mit seinem ganzen schweren Körper. Bevor die Männer bei ihm waren, riß ihn das Wasser mit seinen Kisten fort. »Da ist er, da ist er!« schrie ich. »Haltet ihn, haltet ihn!« »Ja, ja«, sagten sie und lösten meine Hände von dem schwarzweißen Rohr oben auf der Brücke. »Komm, ja, ja …« Und sie zogen mir einen Sack als Kapuze über den Kopf. Das Unglück war so groß und unerwartet, daß Mutter es einfach nicht begreifen konnte. Sie sagte zu den Frauen, den Toten noch im Haus: »Dieses Jahr möchte ich Essenz machen, aber wie bloß? Hier habe ich nichts, fehlt mir, was 157
ich brauche: Kessel, Ofen … Dort, im Dorf, habe ich einen großen Ofen, so groß wie dieser Sarg.« Und sie breitete die Arme aus, um zu zeigen, wie groß. Doch dann klagte sie, viele Nächte lang, in ihrem Bett: »Unser Vater, teurer Sohn, geliebter Mann …« Wir verkauften das Haus im Dorf an Vetter Salanitro und schlugen uns mit diesem Geld und der Pacht für die Gerätschaften im Lagerhaus durch; dorthin ging ich arbeiten, nagelte Deckel auf die Kisten mit den eingewikkelten Zitronen. »Der Zoll war der Wunsch von deinem Vater, deshalb sollst du beim Zoll eintreten«, sagte Mutter zu mir, als ich größer war. So war ich viele Jahre unterwegs, kam durch die Dörfer, auf die Inseln, in die Berge und an die Küste, von der Gemeinde Ali bis nach Messina.
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977 »Filí, und … wie ist es?« »Kann man nicht sagen, bei jedem anders … Aber meinst du, sie stecken dich ins Gefängnis, wenn du nicht bis fünfzehn wartest?«