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Scan by Schlaflos HEYNE BUCH Nr. 06/4120 im Wilhelm Heyne Verlag, München Titel der amerikanischen Originalausgabe THE WHITE PLAGUE Deutsche Übersetzung von Roland Fleissner Das Umschlagbild schuf Jobst Teltschik Für die freundliche Nachdruckerlaubnis der Gedichtzeilen aus William Butler Yeats' >Byzanz< auf Seite 662 (deutsch von Richard Exner) danken wir dem Luchterhand Verlag Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 1982 by Frank Herbert Copyright © 1984 der deutschen Obersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Printed in Germany 1984 Satz: Schaber, Wels Druck und Bindung: Eisnerdruck GmbH, Berlin ISBN 3-453-40089-5
VORREDE Es gibt in der >Seele< des irischen Volkes ein Verlangen nach Macht - genau wie bei allen anderen Völkern -, ein sehnsüchtiges Verlangen nach Überlegenheit, die es einem erlaubt, anderen zu befehlen, wie sie sich verhalten müssen. Nur nimmt dies in den Iren seltsame Formen an. Das rührt daher, daß wir unsere uralte Sozialstruktur verloren haben: die unkomplizierteren Gesetze, den Rath und die Familie als Kernstück unseres sozialen Lebens. Regierungsformen eines römisch-imperialen Stils versetzen uns in Angst und Schrecken. Sie werden in aller Regel verwässert zu einem System von sporadisch plazierten Machtinhabern und Untertanen, wobei zwangsläufig die letzteren zahlreicher sind als die ersteren. In manchen Fällen findet der Prozeß unter Wahrung großer Raffinesse statt, so etwa in Amerika: eine langsame, stetige Anhäufung von Macht, ein neues Gesetz nach dem anderen, und sämtlich manipuliert von einer >EliteUntertanen< gleichermaßen die Voraussetzung. Wahrscheinlich blüht das beinahe allen Regierungen, einschließlich dem Sowjet-Marxismus. Schaut man sich die Sowjetunion an, bemerkt man eine recht seltsame Bereitwilligkeit des Menschen, sich manipulieren zu lassen: die Sowjets bauten eine nahezu perfekte Kopie der zaristischen Herrschaft auf, bestimmt von dergleichen Paranoia, mit der gleichen Geheimpolizei, dem gleichen sakrosankten Militär, den gleichen LiquidierungsBrigaden, den Todeslagern in Sibirien, der terroristischen Unterdrückung, wo immer sich schöpferische Phantasie zu regen wagte, und der Deportation für jene Menschen, die man weder umbringen noch kaufen konnte. Es ist wie an Brocken schrecklichen Plastiksprengstoffs in unserem Gedächtnis, in den dunkelsten Ecken unseres Hirns, auf Abruf bereit, sich zu primitiven 5 Mustern zurückzuformen, sobald die Hitzewelle ihn bestreicht. Ich habe Angst, wenn ich daran denke, welche Gestalt die Welt durch die Hitzewellen annehmen könnte, die O'Neills Pest auszulösen imstande sein wird. Wahrhaftig, ich ängstige mich, denn der Druck ist immens. FlNTAN CRAIG DOHENY Für Ned Brown - für die Jahre seiner Freundschaft Der Herdstein der Hölle soll auf ewig sein Kopfkissen sein! Alter irischer Fluch Es war ein ganz gewöhnlicher Ford britischer Bauart, das Modell für den kleinen Geldbeutel, mit dem Steuer rechts, wie es die Regel in Irland ist. John Roe O'Neill würde sich immer an den rechten Arm des Fahrers erinnern, den braunen Pulloverarm, der im diffusen Wolkenlicht des Dubliner Nachmittages im offenen Fensterbogen des Autos lag. Ein abgekapselter, alptraumhafter Erinnerungsfetzen, der alles andere ringsum ausschloß, was sonst noch geschehen sein mochte; da waren nur das Auto und dieser Arm. Mehrere Überlebende gaben an, sie hätten am linken vorderen Kotflügel des Ford das Loch im verbeulten Blech bemerkt. Der Riß war bereits vom Rost angefressen. Auf dem Krankenhausbett gab eine Zeugin zu Protokoll: »Also, das war so ein zerfranstes Ding, und ich hab mir noch gedacht, ob sich da bloß nicht wer verletzt, wenn er da dranstößt.« Zwei der Zeugen, die sich erinnerten, daß sie den Wagen aus der Lower Leeson Street einbiegen sahen, kannten den Fahrer vorher schon beiläufig, aber nur aus der Zeit, als er noch die Postleruniform getragen hatte. Sein Name lautete Francis Bley, Briefträger im Ruhestand, und er hatte einen Teilzeitjob als Wachmann auf einem Baugelände in Dun Laoghaire. Bley fuhr an jedem Mittwoch früh los, um Zeit für ein paar Besorgungen zu haben und vor dem Arbeitsbeginn noch seine Frau, Tessie, abzuholen. An diesem einen Tag der Woche erledigte Tessie am Vormittag >leichte Büroarbeit< in einem Wettbüro in der King Street. Sie hatte die Gewohnheit, den Rest des Tages bei ihrer verwitweten Schwester zu verbringen, die in einem modernisierten Torwächterhaus an der Umgehungsstraße am Dun Laoghaire wohnte, >also bloß ein paar Minuten Umweg für ihn seine Strecken »Er hat halt die vielen Leute da immer so gern gesehen«, sagte Tessie. »Gott gebe ihm die ewige Ruhe, er hat immer gesagt, daß er das am meisten vermißte, seit er von der Post weg ist ... die vielen Menschen.« Bley, ein Leichtgewicht mit zerknitterter Haut, hatte das kadaverhafte Gesicht und jene trommelfellstraff gespannte Haut über den Knochen, wie dies bei gewissen Kelten aus dem Süden Irlands im Alter häufig auftritt. Er hatte einen schmuddeligen braunen Hut auf, fast vom gleichen Braun wie der aus Flicken zusammengestückelte Sweater, und er saß mit der gleichmütigen Geduld am Steuer, die jemand aufbringt, der die Strecke oft fährt. Und hätte er die Wahrheit sagen müssen, dann hätte er zugeben müssen, daß er es eigentlich ganz gern hatte, wenn der dichte Verkehr ihn zum Langsam fahren zwang. Fast den ganzen Frühling hindurch war es naß und kalt gewesen, und der Himmel war zwar noch immer bedeckt, aber die Wolkendecke war schütter geworden, und es hing so eine Ahnung in der Luft, daß bald ein Wetterumschwung eintreten könne. Nur noch wenige Fußgänger schleppten 8 ihre Regenschirme mit. Die Bäume auf dem St. Stephen's Green, rechts von Bley, waren schon vollbelaubt. Während der Ford sich im stockenden Verkehr langsam voranschob, nickte der Mann, der den Wagen von einem Fenster im vierten Stock des Irish Film Society Building aus beobachtete, einmal zufrieden vor sich hin. Genau nach Zeitplan. Sie hatten sich Bleys Ford ausgesucht, weil er immer pünktlich am Mittwoch vorbeikam. Hinzu kam, daß Bley den Wagen in der Davitt Road, wo er und Tessie lebten, nie in die Garage fuhr. Der Ford wurde draußen an einer dichten Taxushecke abgestellt, zu der man sich von der Straße her, gedeckt durch einen parkenden Lastwagen, auf einem schmalen Weg heranschleichen konnte. In der vorangegangenen Nacht war ein Lastwagen auf eben, dieser Schutz bietenden Stelle geparkt gewesen. Nachbarn hatten ihn gesehen, aber keiner hatte sich zu dem Zeitpunkt darüber Gedanken gemacht, keiner hatte etwas gesagt. »Da stehen oft geparkte Wagen«, sagte einer. »Wie hätten wir das ahnen können.« Der Beobachter im Film Society Building hatte viele Namen, doch bei der Taufe hatte man ihm den Namen Joseph Leo Herity gegeben. Er war klein, der Körperbau fest und muskulös, darüber ein langes mageres Gesicht, und seine Haut war bleich, so daß sie fast durchscheinend wirkte. Die blonden Haare waren stramm nach hinten gekämmt und hingen ihm fast bis auf den Kragen. Die hellbraunen Augen saßen tief in den Höhlen, und er hatte eine Stupsnase mit geblähten Nasenflügeln, aus denen Haare sprossen. Von dem Beobachtungsstand im vierten Geschoß aus hatte Herity einen hervorragenden Überblick über den ganzen Schauplatz der Tragödie, die er per Knopfdruck in Kürze zu entfesseln gedachte. Direkt ihm gegenüber bildeten die hohen Bäume des Green eine Laubmauer um den Strom der Fahrzeuge und Fußgänger. Die Statue Robert Emmets stand seinem Fenster gegenüber, und links davon verwies ein Schild mit schwarzer Schrift auf weißem Grund zu den öf9 fentlichen Toiletten. Bleys Ford kam mit dem restlichen Verkehr direkt links von Heritys Fenster zum Stehen. Ein weißer Touristenbus mit blauen und roten Streifen an der Seite ragte vor dem kleinen Ford auf. Der Gestank der Abgase war sogar hier oben im vierten Stock unangenehm dick. Herity verglich die Nummer auf Bleys Nummernschild, um ganz sicher zu gehen. Richtig -JIA-5028. Und da war auch noch der eingedrückte Kotflügel links vorne. Der Verkehr schob sich wieder Zentimeterweise vorwärts und kam wieder zum Stillstand. Herity warf einen kurzen Blick nach links, zur Ecke Grafton Street. Er konnte die Reklameschilder des ToyWorld-Ladens und der Irish Permanent Society im Erdgeschoß des roten Backsteingebäudes sehen, das in Kürze in den Besitz der Ulster Bank übergehen sollte. Es hatte deswegen ein bißchen Protest gegeben - einen schütteren Demonstrationsmarsch mit ein paar Transparenten, aber dann war das alles rasch wieder versickert. Die Ulster Bank hatte ein paar sehr einflußreiche Freunde im irischen Parlament sitzen. Barney und sein Haufen, dachte Herity. Die glauben, wir haben keine Ahnung, daß die vorhaben, sich mit den Ulster-Jungs friedlich zu einigen! Wieder rückte Bleys Ford eine Handbreit auf die Kreuzung zu, und wieder mußte er halten. Wo die Grafton vom St. Stephen's Green abbog, war der Strom der Fußgänger ziemlich dicht. Ein Kahlkopf in dunkelblauem Anzug war fast direkt unter Heritys Fenster stehengeblieben und studierte bedächtig den Eingang zum Kino. Zwei junge Männer schoben ihre Fahrräder an dem Kahlkopf vorbei. Der Verkehr lag noch immer lahm. Herity schaute auf das Dach von Bleys Wagen hinunter. So harmlos sah diese Karre aus. Herity war einer der beiden Männer gewesen, die sich in der Nacht zuvor aus dem von der Taxushecke abgeschirmten Lastwagen zu der Stelle geschlichen hatten, an der Bley seinen Ford abgestellt hatte. In Heritys Hand hatte das Päckchen mit Plastiksprengstoff gele10 gen, das sie dann wie eine plattgedrückte Napfschnecke unter Bleys Auto angebracht hatten. Im Innern des
Päckchens steckte ein winziger Radioempfänger. Der dazugehörige Sender lag vor Herity auf dem Fenstersims. Ein kleiner schwarzer Metallwürfel, mit einer dünnen Drahtrichtantenne und zwei in Vertiefungen sitzenden Kippschaltern - einer gelb angemalt, der zweite rot. Der gelbe setzte das Gerät in Betrieb, der rote Schalter bewirkte die Übertragung des Funkbefehls. Ein Blick auf die Armbanduhr sagte Herity, daß es bereits fünf Minuten nach dem Punkt Null war. Aber das war nicht Bleys Schuld. Es war bloß dieser verdammte Verkehr. »Nach dem Bley kannste dein' verdammten Wecker stellen«, hatte der Anführer des Kommandos gesagt. »Der alte Bock sollte 'ne Straßenbahn fahren.« »Wo steht'n der politisch?« hatte Greaves gefragt. »Wenn kümmert's, wo der politisch steht?« hatte Herity gekontert. »Er paßt perfekt in die Sache, und er wird für eine große Sache sterben.« »Die ganze Straße wird voller Leute sein«, hatte Greaves gesagt. »Und 'ne Menge Touristen unter ihnen, so sicher, wie die Hölle voller Briten steckt.« »Wir haben sie gewarnt, daß sie die Ulster-Jungs stoppen müssen«, hatte Herity gesagt. Der Greaves war wirklich manchmal ein richtiges altes Weib! »Und die wissen genau, was ihnen blüht, wenn sie nicht auf uns hören.« Damit war die Geschichte gelaufen. Und jetzt rückte Bleys Wagen wieder ein paar Zentimeter auf die Ecke Grafton Street zu, näher an den Haufen von Fußgängern heran, unter denen möglicherweise auch Touristen waren. John Roe O'Neill, Mary, seine Frau, und die fünf Jahre alten Zwillinge, Kevin und Mairead, hätte man in die Kategorie >Touristen< einordnen können; allerdings beabsichtigte John immerhin ein halbes Jahr in Irland zu verbringen, weil er eine Forschungsarbeit zu beenden gedachte, für die er sein Stipendium von der Pastermorn Foundation in New Haven, Connecticut, erhalten hatte. »Ein zusammenfassender Überblick über die Genforschung in Irland.« Er selbst hielt den Arbeitstitel für recht geschwollen, aber schließlich stellte er ja nur den Rauchvorhang her. Das tatsächliche Forschungsziel war, herauszufinden, wie eine vom Römischen Katholizismus geprägte Gesellschaft sich der neuen Entwicklung auf dem Sektor Genforschung gegenüber verhalten werde und ob es in einer derartig strukturierten Gesellschaft bereits feste Standpunkte und Präventivmaßnahmen angesichts der explosiven Möglichkeiten gab, wie sie die Molekularbiologie mit sich bringen würde. An diesem Mittwochvormittag kaute er eigentlich ziemlich heftig an den Problemen der Zielbestimmungen seines Projekts herum, aber dann lenkten ihn die nötigen Vorbereitungen ab und forderten seine Aufmerksamkeit. Ganz oben auf seiner Liste der zu erledigenden Dinge stand der Punkt, daß er den Transfer gewisser Summen aus den USA auf ein Konto der Allied Irish Bank in die Wege leiten müsse. Mary wollte auf die Jagd nach Sweatern gehen, >damit unsere Wonnebrocken an 'nem kalten Abend nicht frierenzwecks Transfers ausländischer Summen< mit der Allied Irish Bank vereinbart hatte, war für vierzehn Uhr im Bankgebäude an der Ecke Grafton und Chatham. Knapp hinter dem Eingang zur Bank hing ein Hinweisschild (weiße Lettern auf schwarzem Grund): >Für Nichtkunden unserer Bank - Eine Treppe höher. < Ein Wachmann in Uniform geleitete ihn die Treppen zum Büro des Bankdirektors hinauf, der Charles Mulrain hieß und ein kleiner nervöser Mann mit wergblondem Haar und fahlblauen Augen hinter einer goldgeränderten Brille war. Mulrain hatte die Angewohnheit, sich mit dem Zeigefinger über die Mundwinkel zu streichen, erst links, dann rechts, worauf er hastig die dunkle Krawatte nach unten glattstrich. Er quälte sich einen Witz darüber ab, daß sein Büro im ersten Stock liege, >was Sie im Amerika als den zweiten Stock zu bezeichnen pflegenDieses Haus Wird Modernisiert - G. Tottenham Sons, Ltd.< Bley schaute nach rechts und sah das blau-weiße Schild der Prestige Cafeteria. Er verspürte ein leichtes Hungergefühl. Die schmale Passage für die Fußgänger an seiner Seite war von Menschen verstopft, die darauf warteten, zum St. Stephen's Green überwechseln zu können, andere fädelten sich zwischen den haltenden Wagen durch, die auf der Grafton standen und Bley die Weiterfahrt versperrten. Das Gedränge war um Bleys Ford besonders dicht, vor und hinter ihm schoben sich die Leute vorbei. Eine Frau in einem braunen Tweedmantel, ein weißes Paket hatte sie unter den rechten Ellbogen geklemmt, an jeder Hand hielt sie ein kleines Kind fest, zögerte rechts vor Bleys Wagen, während sie nach einer Lücke in dem andrängenden Menschenstrom suchte. John Roe O'Neill, am Fenster des Bankdirektors, erkannte Mary. Sie war ihm aufgefallen, weil sie diesen wohlvertrauten Tweedmantel anhatte, dann hatte er sie an ihrer Kopfhaltung erkannt und an dem glattanliegenden jettschwarzen Haar. Er lächelte. Die Zwillinge wurden von den drängelnden Erwachsenen verdeckt, doch konnte er aus Marys Haltung erkennen, daß sie die Kinder an den Händen hielt. Eine plötzliche Lücke im Menschenstrom gestattete John einen kurzen Blick auf Kevins Kopf und den alten Ford mit dem braunen Pulloverarm des Fahrers, der aus dem Fenster ragte. Wo bleibt der verdammte Bankmensch? dachte John. Sie kann doch jede Sekunde hier sein. 15 Er ließ den schweren Spitzenstore zufallen und schaute erneut auf die Armbanduhr. Herity, in dem geöffneten Fenster über und hinter Bley, nickte erneut in sich hinein. Er trat vom Fenster zurück und legte den zweiten Kippschalter an seinem Sender um. Bleys Auto explodierte, es riß von unten her auf. Die fast genau unter Bleys Füßen explodierende Bombe schleuderte ihn mit einem großen Stück des Wagendachs in die Höhe, sein Leib wurde zermalmt, die abgerissenen Gliedmaßen und Fleischfetzen in weitem Umkreis verstreut. Der größere Teil des Dachs segelte in einer langsamen Kurve nach oben und fiel krachend auf das Gebäude der Irish Permanent Society, wo er Kaminhauben und Schieferplatten zertrümmerte. Was Bomben angeht, so war diese keine von den großen gewesen, aber man hatte sie sachkundig angebracht. Das alte Auto verwandelte sich in einen Geschoßhagel aus scharfkantigen Metall- und Glastrümmern - es wurde zu einem orangeroten Feuerball, der mit tödlichem Schrapnell gespickt war. Ein Bruchstück der Kühlerhaube riß Mary O'Neill den Kopf ab. Die Zwillinge verwandelten sich in eine blutige Masse, die über die Straße und an die Einzäunung aus Eisenstäben um St. Stephen's Green geschleudert wurde. Später ließen sich ihre Leichen leichter identifizieren, weil sie die einzigen Kinder dieses Alters bei diesem Gemetzel gewesen waren.
Herity verschwendete keine Zeit damit, sich sein Werk anzuschauen; die akustische Information genügte ihm. Er stopfte den Radiosender in eine kleine abgetragene grüne Militärtasche, drückte einen abgetragenen gelben Pullover darüber, schnürte die Klappe zu und warf sich den Sack über den Rücken. Er verschwand durch den Hinterausgang aus dem Gebäude und fühlte sich irgendwie befriedigt und stolz. Barney und sein Gruppe würden nicht umhin können, diese Botschaft zu verstehen! John O'Neill hatte gerade rechtzeitig den Blick von der Armbanduhr gehoben, um mitanzusehen, wie der orangerote Feuerball Mary verschlang. Die schweren Spitzenvor16 hänge bewahrten ihn vor den splitternden Fensterscheiben, nur ein Glasstück wurde nicht von ihnen abgelenkt. Ein kleines Stück Glas zerfurchte ihm die Kopfhaut. Die Druckwelle der Explosion ließ ihn zurücktaumeln, und er stieß rücklings gegen den Schreibtisch. Dann fiel er seitlich zu Boden, war sekundenlang bewußtlos, kam aber rasch wieder auf die Knie, als der Bankdirektor schreiend in sein Büro gerannt kam. »Lieber Himmel, was war denn das?« John kam taumelnd auf die Füße. Er blockte die Frage und die Antwort ab, die wie ein Nachbeben des Explosionsschocks durch sein Hirn grollte. Er drängte sich an dem Bankdirektor vorbei zur Tür hinaus. Sein Denken war noch immer vom Schock beherrscht, doch sein Körper fand den Weg die Treppen hinunter. Er stieß mit der Schulter eine Frau beiseite, die unten am Fuß der Treppe stand, und rannte auf die Straße, wo er sich von der Menschenmenge mittragen ließ, die auf das Explosionszentrum zustürzte. In der Luft hing der Geruch von glühendem Eisen, und da waren diese Laute: wimmernd und kreischend. Sekunden später steckte John mitten in einer dichtgedrängten Menschenmasse, die von Polizisten zurückgehalten wurde, auch von nichtverletzten Passanten, die man schnell zwangsverpflichtet hatte, damit sie mithelfen sollten, die Explosionsstätte freizuhalten. John stieß sich mit den Ellbogen und krallenden Fingern nach vorn. »Meine Frau!« schrie er. »Ich hab sie gesehen. Sie war da! Meine Frau - unsere Kinder!« Ein Polizist packte ihn fest an den Ellbogen und zwang ihn so, sich umzudrehen, damit John das Gewirr von ineinander verkeilten Stoffen und blutigen Fleischfetzen nicht sehen könne, das die Straße bedeckte. Das Stöhnen und Röcheln der Verletzten, die Hilferufe, die Entsetzensschreie trieben John in einen unkontrollierbaren Furor. Mary braucht mich! Er versuchte sich dem Polizisten zu entwinden. »Mary! Sie war da, direkt vor dem ...« 17 »Die Rettungswagen sind unterwegs, Sir! Helfer sind bereits da. Sie müssen ruhig bleiben. Sie können da jetzt nicht durch.« Links von John sagte eine Frau: »Lassen Sie mich durch! Ich bin Krankenschwester.« Diese Stimme vor allem ließ John davon Abstand nehmen, sich weiter gegen den Polizisten zur Wehr zu setzen. Da waren Menschen, die halfen. Da war eine Krankenschwester. »Es dauert nicht mehr lange, dann ist alles wieder klar, Sir«, sagte der Polizist. Die Stimme klang enervierend ruhig. »Das ist ein ganz übler Schnitt, den Sie da am Kopf haben. Ich helf Ihnen mal eben rüber, damit ein Krankenwagen Sie aufnehmen kann.« John ließ zu, daß man ihn durch eine sich in der Menge öffnende Gasse führte; er nahm die neugierig starrenden Blicke wahr, hörte die Stimmen, die rechts von ihm »Ohhh« flüsterten, hörte, wie die Menschen Gott anriefen (»Schau doch mal dorthin!«) - und die vor Angst und Gier bebenden Stimmen sagten John Bescheid über etwas, das er nicht sehen wollte. Aber er wußte, er wußte es trotz allem. Und dann gab es immer wieder den kurzen Blick an dem Polizisten vorbei, der ihm zu einer freigemachten Stelle an einem Haus, gegenüber dem Park, hinüberhalf. »Na also, Sir«, sagte der Polizist. »Gleich wird sich hier jemand um Sie kümmern.« Und dann zu jemand anderem: »Ich glaub, er ist von 'nem rumfliegenden Splitter getroffen worden; aber die Blutung hat wohl aufgehört.« John lehnte mit dem Rücken gegen eine verkohlte Backsteinwand, von der noch immer der Staub von der Explosion rieselte. Unter seinen Schuhsohlen war splittriges Glas. Rechts konnte er durch eine Lücke in der Menschenmasse etwas von dem blutigen Durcheinander an der Straßenecke erblicken, er sah die Leute, wie sie sich hin- und herschoben und sich über zerfetztes Fleisch beugten. Er glaubte hinter einem am Boden knienden Priester Marys Mantel zu erkennen. Irgendwo in seinem Innern gab es da etwas, das diesen 18 szenischen Ablauf begriff. Aber sein Verstand blieb wie gefroren, das Denkvermögen war irgendwie erstarrt und nur zu begrenzten Mechanismen fähig. Wenn er sich gestatten würde, freihin zu denken, zu fühlen, dann würde das Geschehen verfließen - die Zeit, die würde weitergehen ... eine Zeit ohne Mary und ohne die Kinder. Irgendwie war es so, als bewahre irgendwo in seinem Innersten ein winziger Edelstein sich vor dem Zersplittern, ein Brillant des Bewußtseins, des Verstehens, Begreifens ... aber nichts sonst würde sich verändern dürfen, das konnte er nicht zulassen. Eine Hand berührte seinen Arm. Es war wie ein elektrischer Schock. Ein Schrei brach aus ihm hervor - wie der Schrei eines Sterbenden - und hallte die Straße hinunter. Menschen drehten sich abrupt um und starrten zu ihm herüber. Das Blitzlicht eines Fotografen blendete ihn sekundenschnell und schnitt ihm den Schrei in der Kehle ab, aber der Schrei blieb, er
hörte ihn noch immer in seinem Kopf weitergellen. Der Schrei kam aus weiterer Ferne als nur den menschlichen Urzeiten herauf. Er kam aus einer tieferen Tiefe, die er in sich selbst nie vermutet hätte und der gegenüber er schutzlos war. Zwei Weißkittel eines Notarztwagens packten ihn. Er spürte, daß man ihm den Mantel herunterzerrte, den Hemdärmel zerriß. Dann der Stich der Nadel im Arm. Und während sie ihn in den Krankenwagen katapultierten, hüllte eine überwältigende Benommenheit sein Gehirn ein und schwemmte die Erinnerung davon. Noch lange Zeit später weigerte sich sein Erinnerungsvermögen, diese Augenblicke des Schocks zu reproduzieren. Er konnte sich an das kleine Auto erinnern, an den Ellbogen im braunen Pullover im offenen Fenster - aber an nichts, was danach war. Er wußte, er hatte gesehen, was er gesehen hatte: die Explosion, das Blut, die Leichen. Sein intellektuelles Denkbewußtsein rang mit den Tatsachen, kämpfte gegen sie an. Aber ich stand doch an diesem Fenster, ich muß den Feuerball gesehen haben.. Aber wie das im einzelnen gewesen war, das lag hinter einem abschirmenden Vorhang verborgen, den er nicht zu durchdringen vermochte. Das lag wie ein Eisblock in 19 ihm und verlangte von ihm, daß er etwas tue, weil sonst dieser Eisklumpen auftauen und ihn auslöschen würde. Verzweiflung und Gram sind der Keltenseele vertrauter, als es Freude und Sieg sind. Jede keltische Lust hat ihren Beigeschmack von Gram. Jeder Sieg führt in die Verzweiflung. FlNTAN CRAIG DOHENY Stephen Browder hockte auf dem Rasen der Medizinischen Fakultät des University College, Cork, und las den Bericht über den Bombenanschlag in der Grafton Street. Als altes Sechssemester wußte Browder inzwischen genug über den Lehrbetrieb und konnte sich so eine ausgedehnte Mittagspause verschaffen, seine Texte büffeln und noch zwischen zwei Vorlesungen ein bißchen Luft schnappen. Für seine Mittagspause allerdings hatte er sich diese besondere Stelle gewählt, weil sich da auch immer mal die Schwesternschülerinnen einzufinden pflegten und weil Kathleen O'Gara oft unter diesem Mittagbrot essenden Schwärm war. Es war ein warmer Tag, und das hatte viele andere Menschen dazu bewegt, auf den Rasen zu kommen, anstatt in der steinernen mittelalterlichen Scheußlichkeit des Fakultätsgebäudes zu bleiben, das einen oft mehr an das alte Gefängnis erinnerte, das einst an dieser Stelle gestanden hatte, als an eine moderne medizinische Einrichtung. Der Corksche Examiner, den er in den Händen hielt, diente nur als Staffage, aber das Foto eines schreienden Mannes hatte seine Aufmerksamkeit erregt - >US-amerikanischer Tourist verliert seine ganze Familie< - und er hatte den Text gelesen und über den grauslichen Details ab und zu den Kopf geschüttelt. Die Aufmerksamkeit, die Browder der Schwesternschülerin Kathleen O'Gara schenkte, war dem Rest des Schwesternkursus keineswegs entgangen. Gerade wurde sie wieder damit geneckt. 20 »Da isser wieder, Karie! Soll ich dir 'n Taschentuch leihen, damit du's bei ihm fallenlassen kannst?« Kate wurde rot, brachte es aber doch nicht fertig, nicht quer über den Rasen zu Browder hinüberzuspähen. Der junge Mann sah mager aus, wirkte linkisch, und er hatte semmelblondes Haar und weit auseinanderstehende blaue Augen. Seiner ganzen körperlichen Erscheinung nach würde er zweifellos einmal einer jener rundrückigen Feld-, Wald- und Wiesen-Allgemeinpraktiker werden, die ihren Patienten durch ihre überwältigende Güte so großes Vertrauen einflößen. Und er wirkte so hartnäckig in Gedanken versunken, und das gefiel ihr. Die linkische Scheu würde sicherlich bald einer professionellen Zurückhaltung weichen, einer gewissen hochnäsigen Nüchternheit, und das würde gut zu den feingezeichneten Gesichtszügen passen. Browder hob den Blick von der Zeitung in seinen Händen und richtete ihn direkt in Kates Augen - dann schaute er hastig weg. Seit zwei Wochen schon mühte er sich, den Mut aufzubringen, sich auszudenken, wie er sie fragen könnte, ob sie mit ihm einmal ausgehen wolle. Und in diesem Augenblick ging er gerade mit sich selbst ins Gericht, weil er sich nicht einmal traute zurückzulächeln. Er hätte nicht genau definieren können, warum sie ihn so anzog. Ihre Figur war eher jungenhaft, ein wenig untersetzt, aber dabei anmutig. In der Haut zeichneten sich jene feinen Äderchen ab, die dem Teint einen rosigen Schimmer verleihen. Und ihr Haar - das Haar war ein Stückchen rotbraun schimmerndes Wikinger-Erbe, und die dunkelbraunen Augen saßen ziemlich tief unter einer breiten Stirn. Er wußte, daß sie als >prima< in ihrer Arbeit anerkannt war, als gescheit und fröhlich galt, und er hatte eine andere Schwesternschülerin über sie sagen hören: »Also, sie ist nicht grad 'ne Schönheit, aber es reicht. Sie ist hübsch genug, um sich 'nen Mann zu angeln.« Auf ihre Art ist sie schön, dachte er. Wieder warf er einen Blick zu ihr hinüber, und wieder trafen sich ihre Augen. Sie lächelte, und er zwang sich, auch zu 21 lächeln, ehe der Kontakt abbrach. Das Herz klopfte ihm heftig in der Brust. Er beugte sich wieder über seine Zeitung, sozusagen als Ablenkungsmanöver. Das Foto des schreienden Mannes schien ihm entgegenzuspringen, wie etwas Eisiges. Der arme Kerl hatte bei der Explosion seine ganze Familie verloren - die Frau und zwei Kinder. Einen Augenblick lang schwebte vor Browder das Phantasiebild, daß er mit Kate O'Gara verheiratet sei, und natürlich hatten sie Kinder. Und dann waren sie plötzlich einfach nicht mehr da. Alle tot. Was immer Stephen Browder alles dazu bewogen haben mochte, sich diesen Beruf zu erwählen, war durch diesen Bombenanschlag aufs äußerste empört. Ließ sich so eine widerwärtige Tat überhaupt mit irgend etwas
rechtfertigen? Selbst die Wiedervereinigung Irlands, für die er an Gedenktagen inbrünstig betete - konnte sie denn solche Greuel rechtfertigen? In dem Bericht des Examiner stand, daß eine Splittergruppe der IRA, die >ProvosAnnäherung< redeten. Gegenüber den Briten konnte es keine moderate Annäherung geben. Niemals! Aber würde sich durch Bomben jemals irgend etwas ins reine bringen lassen? Über seine Zeitung fiel ein Schatten. Browder blickte auf und sah, daß Kate O'Gara vor ihm stand und ihn anschaute. 22 Hastig stand er auf, das Lehrbuch über Anatomie rutschte ihm von den Knien, ein paar Seiten der Zeitung flatterten um ihn herum ins Gras. Dann schaute er auf sie hinunter und war sich auf einmal bewußt, daß er ja über einen Kopf größer war als sie. »Sie sind doch Stephen Browder, nicht?« fragte sie. »Ja. Ja, natürlich bin ich das.« Ihre Stimme war weich und wunderschön. So kam es ihm vor. Und ganz abrupt wurde ihm bewußt, was für einen enormen Vorzug eine solche Stimme für eine Krankenschwester darstellen müsse. Eine Stimme, die besänftigen, beruhigen konnte ... Ihm jedenfalls verlieh diese Stimme Mut. »Und Sie sind Kate O'Gara«, stammelte er. Sie nickte. »Ich hab gesehen, wie Sie da über den Bombenanschlag gelesen haben. Den in Dublin. Es ist furchtbar.« »Das ist es«, pflichtete er ihr bei. Und dann, ehe sein Mut ihn wieder im Stich lassen konnte, fragte er: »Müssen Sie jetzt gleich wieder in die Vorlesung?« »Ich habe nur noch die paar Minuten.« »Und wann machen Sie Schluß?« Und er wußte, daß er knallrot wurde, als er sie das fragte. Sie senkte den Blick. Was für lange Wimpern sie hat, dachte er. Sie schwebten wie Federn über ihren Wangen. »Ich möcht' Sie halt gern sehen«, sagte er. Und das war bei Gott - die reine Wahrheit! Er konnte die Augen nicht von ihr losreißen. »Ich muß eigentlich um halb fünf zu Hause sein«, sagte sie von unten herauf in sein Gesicht. »Vielleicht können wir unterwegs Tee trinken.« »Dann treffen wir uns also nach der Vorlesung?« bat er. »Gern.« Sie lächelte ihm zu und ging dann rasch zu ihrer Gruppe zurück. Eine der Schwesternschülerinnen, die das Treffen der beiden beobachtet hatte, flüsterte einer Freundin zu: »Lieber Gott! Bin ich froh, daß das geklappt hat!« 23 Das >Heilige Irland< war ein bloßer Name, ein Mythos, ein Traum, ohne Bezug zu irgendeiner Wirklichkeit. Es war unsere Tradition, ein Teil des Rufes, in dem wir stehen, und eins mit dem Mythos, daß wir keine Ehre besitzen, außer der in ruhmreichen Schlachten errungenen. FATHER MICHAEL FLANNERY Ais er aufwachte, sah John Roe O'Neill an seiner Seite einen Priester stehen und einen Arzt am Fuß seines Bettes. Er konnte unter sich das Bett spüren, er roch Antiseptika. Also befand er sich anscheinend in einem Krankenhaus. Der Arzt war ein großer älterer Mann, schon grau an den Schläfen. Er hatte eine grüne Anzugsjacke an, das Stethoskop steckte in der Tasche. Wieso bin ich hier? überlegte John. Er war in einer Krankenstation; er sah: weitere Betten, in ihnen Gestalten. Das Zimmer war von unpersönlicher Kargheit, ein Ort, an dem sozusagen mit böswilliger Absicht die Individualität des darin Befindlichen negiert werden sollte -gerade so, als habe jemand bewußt und mit beachtlichem Haß sich bemüht, einen Ort zu schaffen, der nicht die geringste menschliche Wärme ausstrahlte. Wenn dieser Raum hätte sprechen können, er hätte verkündet: »Du wirst hier nicht lange leben.« John versuchte zu schlucken. Die Kehle tat ihm weh. Er hatte von Mary geträumt. In seinem Traum war sie von ihm fortgeschwommen, ringsum war eine immense blaue Fläche Wassers, kein Laut war zu hören gewesen, obwohl er sah, wie das Wasser spritzte. »Ich geh zu den Kindern«, sagte sie. Das hörte er, aber immer noch kein Laut von ihren Schwimmbewegungen. Sein Traum-Ich hatte gedacht: Aber natürlich. Sie muß zu den Kindern. Kevin und Mary werden sie brauchen. In seinem Traum konnte er Marys Gedanken spüren, als wären es seine eigenen. Ihre Gedanken übermittelten ihm eine merkwürdig kristalline Beschaffenheit, so wie man sie
24 nach einem Fieber erlebt. »Ich kann meinen Körper nicht fühlen«, sagte sie. »Armer John. Ich liebe dich.« Und dann war er wach, und seine Augen brannten, und da waren dieser Priester und der Arzt. Der Raum war grün und stank nach Karbol, und das paßte nicht zu den Erinnerungen an amerikanische Krankenhäuser. Schwestern mit Hauben flatterten herum; und als eine davon merkte, daß er aufgewacht war, rannte sie eilends davon. Die Rollblende an dem einen hohen Fenster links vom Arzt war hochgezogen: vor dem Fenster Dunkelheit. Also war es Nacht. Als Beleuchtung dienten nackte Glühbirnen, die an langen Schnüren von der hohen Decke baumelten. Der Arzt betrachtete eine Tafel, die an einer Schnur und einem Haken am Fuß des Bettes hing. »Er ist wach«, sagte der Priester. Der Arzt ließ die Tafel fallen und schaute über die ganze Länge des Bettes zu John herauf. »Mr. O'Neill, Sie sind bald wieder gesund. Morgen früh sind Sie wieder quietschmunter.« Der Arzt drehte sich um und ging. Der Priester beugte sich zu John herunter. »Sind Sie katholisch, Sir?« »Katholisch?« Die Frage erschien ihm aberwitzig. »Ich bin ... Ich bin ... Pfarrei St. Rose ...« Aber wie kam es, daß er diesem Priester seine Pfarrgemeinde nannte? Der Priester legte John besänftigend die Hand auf die Schulter. »Schon gut, schon gut. Ich habe volles Verständnis.« John schloß die Augen. Er hörte das Scharren von Stuhlbeinen auf dem Fußboden, und als er die Augen wieder öffnete, sah er, daß der Priester sich gesetzt hatte und mit seinem Gesicht ganz nah gerückt war. »Ich bin Pater Devon«, sagte der Priester. »Wir wissen, wer Sie sind, Mr. O'Neill, aus Ihren persönlichen Sachen. Sind Sie vielleicht ein Verwandter von den O'Neills von Coolaney?« »Was?« John versuchte sich aufzurichten, doch davon begann sich ihm der Kopf zu drehen. »Ich ... nein. Ich weiß nicht.« 25 »Es wäre gut, wenn jemand von der Familie bei Ihnen sein könnte, in solch einer Prüfung. Man hat Ihre Frau identifiziert - durch ihre Handtasche. Ich möchte Ihnen die Einzelheiten ersparen.« Was für Einzelheiten? überlegte John. Er erinnerte sich an einen blutigen Klumpen Tweed, aber es gelang ihm nicht, ihn zeitlich und räumlich einzuordnen. »Ich muß Ihnen leider, leider eine sehr schlimme Nachricht überbringen, Mr. O'Neill«, sagte Pater Devon. »Die Kinder ...«, keuchte John, verzweifelt sich an diese Hoffnung klammernd. »Die Zwillinge waren bei ihr.« »Ahhh«, machte Pater Devon. »Also darüber weiß ich nichts. Es ist zwar schon ein paar Stunden her, und das Gröbste ist getan, aber ... Waren die Kleinen bei ihr, als ...« »Sie hat beide an der Hand gehalten.« »Dann würde ich keine große Hoffnung mehr hegen. Was für eine schreckliche Tat! Wollen Sie mit mir für die Seelen Ihrer Lieben beten?« »Beten?« John drehte den Kopf weg, er erstickte fast. Er hörte den Stuhl scharren, Schritte, die näherkamen. Eine Frauenstimme sagte: »Pater ...« Dann etwas, das John nicht verstand. Der Priester antwortete mit einem tiefen unverständlichen Gemurmel. Dann kam die Stimme der Frau deutlich: »Mutter der Barmherzigkeit! Seine Frau und die Kleinen, alle beide! Aaaach, der arme Mensch.« John wandte rechtzeitig den Kopf um zu sehen, wie die Nonne steifnackig fortging. Der Priester stand an seinem Bett. »Waren auch Ihre Frau und die Kinder katholisch?« fragte Pater Devon. John schüttelte den Kopf. Er fühlte sich fieberheiß und schwindelig. Was sollten diese Fragen? »Also 'ne Mischehe, wie?« Pater Devon war zu einer blitzschnellen Fehlinterpretation gelangt; seine Stimme klang ein bißchen vorwurfsvoll. »Nun, also mein Herz trauert trotzdem mit Ihnen. Man hat die sterblichen Oberreste ins Leichenschauhaus gebracht. Wir können ja morgen entscheiden, was mit ihnen geschehen soll.« 26 Überreste? dachte John. Sterbliche Überreste? Er redet von Mary und den Zwillingen! Der Arzt war zurückgekehrt und trat an die andere Seite des Krankenbetts, dem Priester gegenüber. John wandte sich ihm zu und sah, daß auch die Schwester wie durch Magie wieder da war. Über dem grünen Krankenhauskittel trug sie eine weiße Schürze, das Haar steckte unter einem enganliegenden Häubchen. Das Gesicht war schmal, keinen Widerspruch duldend. In der rechten Hand hielt sie eine Spritze. »Damit werden Sie schlafen können«, sagte der Arzt. Pater Devon meldete sich zu Wort: »Die Leute von der Garda werden morgen früh kommen und mit Ihnen reden. Lassen Sie mich rufen, wenn sie wieder fort sind.« »Und jetzt werden wir das Licht ein wenig dämpfen«, sagte der Arzt. »Allerdings, es ist höchste Zeit.« Die Stimme der Krankenschwester klang nörgelig und ziemlich barsch. An diesen Gedanken klammerte er sich, während der Schlaf über ihm zusammenschlug wie eine Decke. Der Morgen bestand aus scheppernden Bettpfannen auf einem Rollwagen. Als John die Augen öffnete, stand ein Polizist in Uniform auf der gleichen Stelle, wo zuvor der Priester gestanden hatte. »Man hat mir gesagt, daß Sie jetzt bald aufwachen werden«, sagte der Polizist. Die Stimme war eine fruchtige Tenorstimme, das Gesicht viereckig mit vortretenden Äderchen. Die Dienstmütze war steif unter den Arm
geklemmt. Links. Er zog aus einer Seitentasche ein kleines Notizbuch und machte sich bereit mitzuschreiben. »Also, ich werd Ihnen ja nicht zu sehr auf die Nerven gehn, Mr. O'Neill. Aber ich denk mir doch, daß Sie Verständnis dafür haben werden, daß wir da so ein paar Dinge erledigen müssen.« »Was wollen Sie von mir?« Johns Stimme war noch immer nur ein Krächzen. Der Kopf fühlte sich noch immer an, wie von Watte vollgestopft. 27 »Würde es Ihnen was ausmachen, mir anzugeben, was Sie in der Republik Irland zu tun beabsichtigten? Sir?« John starrte in das Gesicht des Polizisten. Zu tun beabsichtigten? In seinem bewußten Hirnteil wanderte diese Frage, ohne ein Ziel zu finden, eine Weile umher. Sein Verstand erschien ihm breiig und wie verstopft. Er mußte sich zur Antwort zwingen. »Ich kam ... Forschungsauftrag ... von der Foundation ... wollte eine Forschungsarbeit ...« »Und was war das für ein Forschungsauftrag?« »Gen- ... Genforschung.« Der Polizeibeamte schrieb das in sein Notizbuch, dann fragte er: »Und das ist Ihr Beruf? Genforscher?« »Ich ... Professor ... Molekularbiologie, Biochemie ... auch ...« Er holte Atem, und zitterte dabei. »Auch Pharmakologie.« »Und das wäre dann wohl in Highland Park im Staat Minnesota gewesen? Wir haben uns Ihre Papiere anschauen müssen, wenn Sie verzeihen wollen?« »Nahe da ... In der Nähe.« »Sie haben Verwandte hier in der Republik Irland?« »Wir ... wollten das rausfinden.« »Aha. Ich verstehe.« Der Beamte schrieb in seinem Notizbuch. John kämpfte gegen eine Verkrampfung in der Brust an. Dann konnte er seine Stimme wieder benutzen. »Wer ... wer hat das getan?« »Sir?« »Die Bombe?« Das Gesicht des Polizisten erstarrte. »Man sagt, es sind die Provos, die sich dazu bekennen.« Etwas Eisiges durchfuhr John. Das harte Kissen unter seinem Nacken fühlte sich feuchtkalt an. Bekennen? Die Mörder bekannten sich also dazu wie zu einer Großtat? Viel später sollte John sich an diesen Augenblick erinnern, als an den Augenblick, in dem dieser Zorn geboren wurde, der von da an sein ganzes Leben beherrschen sollte. Es war 28 dieser Augenblick, in dem er seinen feierlichen Schwur ablegte. Ihr werdet dafür bezahlen! Und wie ihr dafür bezahlen sollt! Und in diesem Augenblick war sein Hirn nicht von dem allergeringsten Zweifel geplagt, wie er es anstellen würde, sie bezahlen zu lassen. Ist Ihnen klar, daß dieser eine Mann die politische Landkarte der Erde verändert? GENERAL LUCIUS GORHAM Berater des amerikanischen Präsidenten in außenpolitischen Fragen, im Gespräch mit dem Verteidigungsminister Es war in der Woche vor dem ersten Jahrestag des Bombenanschlags, als in der Grafton Street die ersten brieflichen Warnungen eintrafen. Die allererste war so plaziert worden, daß sie Irland zu spät für eventuelle Gegenmaßnahmen erreichte. Andere waren an die politischen Führer der Welt gerichtet, von denen sie als Briefe eines exzentrischen Spinners abgetan oder als Schwarzer Peter an > Spezialisten weitergereicht wurden. Zu Beginn waren die Briefe zahlreich - an die Nachrichtenstudios von Radio- und Fernsehstationen, an Zeitungen, an Premierminister und Staatspräsidenten, an führende Kirchenmänner. Später ließ sich feststellen, daß einer der ersten dieser Briefe an den Herausgeber einer Zeitung in Dublins O'Connell Street adressiert gewesen war. Chefredakteur Alex Coleman, dunkelhaarig und energiegeladen, versteckte seinen Schwung meist hinter einem Habitus von Milde, auch dann, wenn er gerade besonders scharf vorpreschte. Unter den Kollegen galt er als bizarre Ausnahme, weil er überzeugter Abstinenzler war, doch keiner sprach ihm das scharfe wache Gefühl für eine gute Story ab. Coleman las den Brief mehrmals. Er blickte dabei ab und zu auf und durch das Fenster aus dem dritten Stock auf die Straße hinunter, auf der morgendlicher Verkehr bereits zu 29 dem gewohnten frustrierenden Kriechen zu erstarren begann. Der Brief eines Spinners? Nein, der Schrieb klang nicht danach. Die Warnungen und Drohungen verursachten ihm Gänsehaut. Konnte so was möglich sein? Der Briefstil, die Worte klangen gebildet, wie von einem Intellektuellen. Der Brief war auf Kanzleipapier getippt. Er rieb das Blatt zwischen den Fingern. Teuer, so was. Owney O'More, Colemans Chefsekretär, hatte dem Brief einen Zettel angeheftet: »Ich hoffe, das ist ein Spinner. Sollen wir die Garda holen?« Also hatte der Brief auch Owney beunruhigt. Coleman las den Brief noch einmal durch, in der Hoffnung,
irgendwo einen Grund zu entdecken, aus dem er die Nachricht als unwichtig hätte abtun können. Dann legte er das Blatt Papier flach auf den Tisch vor sich und drückte die Taste des Haustelefons für Owney. »Sir?« In Owneys Stimme schwang immer so ein militärisch brüsker Ton mit. »Überprüfen Sie den Punkt mit Achill Island, würden Sie das tun, Owney? Stochern Sie nicht in Wespennestern rum, aber finden Sie mir raus, ob sich da was Ungewöhnliches tut!« »Mach ich sofort.« Wieder las Coleman sorgfältig den Brief. Das Schreiben war so verflixt direkt, so klar und ohne Umschweife. Dahinter steckte ein potenter Verstand und ... - ja, auch ein bestürzend zielstrebiger Verstand. Zwar stand da auch die übliche Drohung, man müsse den Brief veröffentlichen, »sonst...« doch alles in allem betrachtet ... »Ich werde meine angemessene Rache üben an ganz Irland, Großbritannien und Libyen.« Die Worte der Rechtfertigung dafür ließen in Colemans Gedächtnis eine Alarmglocke schrillen. »Ihr habt mir Böses angetan, indem ihr die getötet habt, die ich liebte. Einzig durch meine Hand werdet ihr nun zur Re30 chenschaft gezogen. Ihr habt meine Frau Mary und unsere Kinder ermordet, meine Kinder, Kevin und Mairead. Zu ihrem Andenken habe ich einen dreifachen Eid geschworen. Und ich werde eine angemessene Rache üben.« Erneut drückte Coleman die Taste der Hausverbindung und trug Owney auf, diese Namen zu überprüfen. »Und wenn Sie schon mal dabei sind, rufen Sie doch das College-Krankenhaus an und versuchen Sie mir 'ne Verbindung mit Fin Doheny zu kriegen.« »Sie meinen Fintan Craig Doheny, Sir?« »Genau den!« Und noch einmal las Coleman den Brief. Das Haustelefon und die Außenleitung störten ihn durch gleichzeitiges Klingeln. Owneys Stimme: »Doktor Doheny in der andern Leitung, Sir.« Coleman hob den Hörer ab. »Fin, bist du's?« »Was gibt's denn so Brandwichtiges, Alex? Owney O'More ächzte, als ob man ihm die Federn versengt hätte.« »Ich habe hier vor mir einen Drohbrief, Fin. Und da steht Fachkauderwelsch drin. Kannst du mir 'ne Minute zuhören?« »Na mach schon!« Dohenys Stimme hatte ein Echo, was auf eine Sprechanlage hindeutete. »Bist du allein?« fragte Coleman. »Ja. Was stinkt dir denn so?« Coleman seufzte. Dann richtete er die Aufmerksamkeit noch einmal auf den Brief und las Doheny die technischen Details aus dem Drohbrief vor. »Nur so aus einem Brief ist das schwer zu sagen«, erklärte Doheny. »Aber ich kann in seinem Hinweis auf das Verfahren der künstlichen Neukombination der DNS keinen Fehler entdecken. Weißt du, Alex, es ist wirklich möglich, damit neue Krankheiten zu schaffen ... aber das ...« »Die Drohung könnte also Ernstzunehmen sein?« »Ich würde sagen, mit Vorbehalt ja.« »Dann soll ich also das Zeug nicht einfach ignorieren?« »Ich würde die Garda hinzuziehen.« »Sonst noch was, was ich tun müßte?« 31 »Ich denk darüber nach und meld mich dann wieder bei dir.« »Noch was, Fin! Kein Wort zu irgend jemand, bis ich meine Chance gehabt hab, es zu verbraten!« »Pfui über euch widerliche Zeitungshyänen!« In Dohenys Stimme schwang ein leises Glucksen mit, das Coleman als beruhigend empfand. Also: ja, unter Vorbehalt. Also war Doheny nicht allzu stark beunruhigt. Und eine gute Story war das immer noch, dachte Coleman, während er den Hörer auflegte. Schreckliche Rache für die Opfer eines Bombenanschlags ... Fachmediziner erklärt, es ist möglich. Über das Intercom hörte er Owneys Stimme: »Sir, diese Bombenexplosion an der Ecke Grafton und St. Stephen's Green - erinnern Sie sich noch dran?« »Scheußliches Gemetzel!« »Sir, drei der Opfer trugen die Namen, die in diesem Brief erwähnt werden. Da war eine Mary O'Neill und ihre Zwillinge, Kevin und Mairead, die dabei umkamen.« »Aus den Staaten, ja, ich erinnere mich.« »Der Mann stand am Fenster einer Bank weiter unten an der Straße und sah genau, wie es passierte. Er heißt ...« Owney brach ab, dann sagte er: »Dr. John Roe O'Neill.« »Mediziner?« »Nein. Professor für irgendwas. Er war herübergekommen mit irgend so einer Stipendiatsgeschichte, so'n Forschungsauftrag, wie sie jetzt grad so beliebt sind - irgendwas mit Genforschung oder so ... ja, genau das steht in unserer Story: Genforschung!« »Genforschung ...«, murmelte Coleman nachdenklich. »So lief damals unsere Story, Sir. Dieser Dr. O'Neill hatte irgendwie was mit Chemopyhsik zu tun - so'n Biophysiker oder so -, und er hat an irgendeiner Uni in den Staaten Pharmakologie gelehrt. Hier steht auch noch,
daß er dort Besitzer einer Apotheke war.« Auf einmal begann Coleman zu zittern. Er hatte das Gefühl, als sei etwas Böses in die Erde seines Landes vorgedrungen, etwas viel übler Giftiges als alle Schlangen, die der 32 Nationalheilige St. Patrick aus Irland vertrieben hatte. Diese von der IRA gezündete Bombe konnte sich sehr wohl als der furchtbarste Rohrkrepierer herausstellen, den es je in der Geschichte der Menschheit gegeben hatte. »Es hat wohl nicht geklappt, nach Achill durchzukommen?« fragte Coleman. »Die Verbindungen sind blockiert, Sir. Sollen wir ein Flugzeug schicken?« »Noch nicht. Verbinden Sie mich mit der Garda. Wenn die Telefonverbindungen unterbrochen sind, wissen die vielleicht was darüber. Haben Sie Kopien von diesem Brief gemacht?« »Zwei, Sir.« »Die werden das Original haben wollen ...« »Ja, sofern sie nicht bereits selber so einen Brief haben.« »Daran hab ich auch schon gedacht. Ich geb nur nicht gern zu früh einen Trumpf aus der Hand. Möglich, daß wir in der Geschichte die Nase vorn haben. Na ja, wir müssen's eben mal wieder riskieren.« Er warf einen kurzen Blick auf den Brief auf dem Schreibtisch. »Ich nehme an, es besteht kaum die Möglichkeit, von dem Fetzen irgendwelche brauchbaren Fingerabdrücke zu nehmen, was?« »Jagen wir die Story gleich raus, Sir?« »Owney, ich habe fast mehr Angst davor, die Sache nicht zu bringen. Da ist was drin. Und überhaupt, daß der Achill Island überhaupt auswählt ... >als Demonstration^ wie er sagt...« »Sie haben doch sicher die Panik bedacht, Sir, die wir möglicherweise ...« »Owney, verbinden Sie mich jetzt rasch mit der Garda!« »Sofort, Sir.« Coleman hob den Hörer ab und rief zu Hause seine Frau an. Er machte es knapp, keinen Widerspruch duldend. »Es wird wegen einer Story, die wir bringen wollen, Ärger geben«, erklärte er. »Ich wünsche, daß du die Jungs nimmst und zu deinem Bruder in Madrid fährst.« Und als sie Einwände zu machen begann, schnitt er ihr ein33 fach das Wort ab: »Die Geschichte wird ziemlich schlimm werden ... Glaube ich jedenfalls. Wenn ihr hierbleibt, dann bin ich erpreßbar. Verschwende keine Zeit mit Reden, sondern pack die Koffer und fahr los! Ruf mich aus Madrid an, dann erklär ich dir alles.« Er legte den Hörer auf. Er kam sich ein wenig dumm vor, aber er fühlte sich erleichtert. Panik? Wenn die Geschichte sich als wahr herausstellen sollte, dann würde es weit schlimmere Reaktionen als nur Panik geben. Und wieder starrte er auf den Brief, konzentrierte sich auf die Unterschrift. >Der VerrückteToteneimerVerrücktenwärmer-alsnormalem< Wetter geweissagt. Weiter unten, das konnte John hören, mähte »Mister Neri« mit seinem Motormäher den Rasen. Schrillend bewegte sich eine Fahrradklingel an seinem Haus vorbei. Kinder, auf dem Weg in den Park, kreischten hektisch. Es war schon September - soviel wußte er. Und er erinnerte sich, wie Kevin und Mairead >laut< gewesen waren, wenn sie vor dem Haus gespielt hatten. Neri würgte seinen Rasenmäher ab. Mrs. Neri, seine Frau, 36 die hatte am hartnäckigsten immer wieder bei ihm geklingelt. »Aber Sie sind ja bald nur noch Haut und Knochen, ach, Sie Ärmster!« Aber da gab es eine jüngere Schwester von Mrs. Neri, und die war unverheiratet und kriegte es allmählich mit der Angst. Und in Mrs. Neris Mondgesicht waren eindeutig kupplerische Anflüge erkennbar gewesen. John beugte sich dichter an den Spiegel und betrachtete sich argwöhnisch. Diese Veränderungen ... noch nicht so recht das Gesicht eines Fremden, aber doch bereits fremd. Von diesem Gesicht haben sie keine Fotos, dachte er. Aber sie würden natürlich Zeichnungen anfertigen lassen und sie überall verbreiten. In diesem Augenblick, als die Idee noch frisch in seinem Hirn steckte, wußte er mit Sicherheit, daß er >es< tun würde, wußte er, daß er dazu fähig sein würde und daß er es ganz gewiß zu Ende führen würde. Der qualvolle Schrei aus seiner Kehle damals, vorhin, am Park, dem St. Stephen's Green, hatte etwas ins Rollen gebracht. Etwas Kleines, so wie eine Schneewächte, die sich auf einmal in eine Lawine verwandelt ... Also, so soll sie doch runterkommen, dachte er. Am selben Morgen noch gab er den Auftrag an einen Makler, sein Haus zu verkaufen, und da Grundstücke in College-Nähe ziemlich gefragt waren, hatte der Besitz zwei Wochen später einen Käufer gefunden, > einen netten jungen Gastprofessor^ wie sich die Frau von der Maklerfirma ausgedrückt hatte. Alle diese Menschen waren für John wie verschwommene Gesichter in einem Traum. Alle seine Gedanken waren bereits weit vorausgeeilt, waren auf der heiligen Suche nach dem Ziel, das er finden mußte. Der >nette junge Gastprofessor hatte wissen wollen, wann Dr. O'Neill wohl seine Aufgaben in der Fakultät wieder übernehmen werde. »Natürlich haben wir von der Tragödie gehört, die Ihnen zugestoßen ist, und wir haben volles Verständnis dafür, daß Sie verkaufen wollen - diese ganzen Erinnerungen loswerden möchten.« Er versteht überhaupt nichts, gar nichts, dachte John damals. Aber durch den Verkauf war Johns Konto um saftige 188 (XX) 37 Dollar schwerer. Die Frau von der Maklerfirma hatte versucht, John mit ihrem Gewäsch über steuerliche Verpflichtungen einzuwickeln, sie war übereifrig bemüht gewesen, ihm ein viel günstigeres Investment aufzuschwatzen, auf einem Grundstück, >nur eine Idee weiter draußenin einem Gebiet, dessen Wert sich in den nächsten zehn Jahren gewaltig steigern wirdein gutes Zeichen dafür< ansehen zu dürfen, >daß John endlich wieder normal wirdund außerdem möchte ich gern, daß der Name McCarthy über der Tür stehenbleibteinem Platz, an dem nicht all diese Erinnerungen hängen. 39 Spät am Abend dieses Tages aß er irgendwas, fast vierhundert Meilen weit von dem Ort entfernt, den er nicht mehr Heimat nennen konnte, in einer Raststätte an der Straße, in der es nach ranzigem Fett stank. Er wählte sich einen Tisch, von dem aus er seinen draußen abgestellten Wagen im Auge behalten konnte. Die graue Staubschicht fiel ihm auf, die das Auto als schäbige alte Karre erscheinen ließ. Das war ihm nur recht. Am Kühler war noch immer die kleine Delle, die Mary gemacht hatte, als sie aus einer Parklücke vor einem Supermarkt herauszumanövrieren versucht hatte. John ließ den Teller halbvoll stehen und ging, und er konnte sich nicht einmal daran erinnern, welches Gericht er bestellt hatte. Später stieß er auf ein Motel, das eine Art Remise zum Abstellen des Wagens dicht bei seinem Zimmer hatte. Er schleppte die feuersichere Kassette hinein und schob sie unters Bett, schob den alten 38. er Colt seines Vaters unters Kissen und legte sich in den Kleidern nieder. Er rechnete nicht damit, daß er Schlaf finden werde. Er konnte diese Kassette unter seinem Bett beinahe körperlich fühlen. Dieses Geld, das bedeutete Treibstoff für die Sache, die er - das wußte er genau - zu erledigen hatte. Das kleinste Geräusch von draußen machte ihn hellwach. Der Strahl von Scheinwerfern, die über den Fenstervorhang glitten, bewirkte, daß sein Herz hämmerte. Im Verlauf der Nacht wurde es draußen stiller, und er versuchte sich zu überzeugen, daß er nun ein wenig schlafen könne. Und dann startete jemand seinen Wagen draußen, und John wachte auf, öffnete die Augen und sah das graue Morgenlicht, wo die Vorhänge nicht richtig schlössen. Auf einmal war er sehr hungrig. 40 »Daß die zwei Kleinen tot sind, das wird uns keine Freunde schaffen. Hättest du nicht noch 'nen Moment warten können?« KEVIN O'DONNELL »Ich war doch weg vom Fenster, ich hab sie da drunten gar nicht sehen können!« JOSEPH HERITY In den Monaten nach ihrer ersten Begegnung auf dem Rasen des Universitätshofes tasteten sich Stephen Browder und Kate O'Gara langsam von behutsamem Bekanntwerden zu dem vor, was Kates Mutter als >ein Einverständnis< bezeichnete. »Also, sie geht mit dem jungen Mann, der auf Doktor studiert«, erklärte Kates Mutter ihrer Nachbarin im nächsten Haus.
»Oh, das ist mal aber ein guter Fang«, sagte die Nachbarin. »Aber schließlich ist ja meine Katie keine Schlampe, und außerdem ist sie ja fast schon Schwester.« »Das stell ich mir prima vor, gleich zwei in der Familie, die was von Medizin verstehen«, schmeichelte die Nachbarin, An einem Freitag Ende Oktober borgte sich Stephen den Wagen eines Komilitonen; er hatte sich mit Kate zu einer Fahrt in den Süden Corks, das Blackwater Hilltop, verabredet, wo sie zu Abend essen und tanzen wollten. Er hatte einen ganzen Monat lang auf diesen Ausflug hin gespart, und die Sache war eigentlich ein ziemlich riskanter Schritt. Das >B-Hheißer Laden< zu sein, aber das Guinness-Bier dort war vom allerbesten, und der Küchenchef zog Gäste bis aus dem weit entfernten Dublin an, die regelmäßig dort aßen. Das Auto war ein sechs Jahre alter Citroen, dessen linke Flanke von langen Kratzspuren verunziert war, die von der Begegnung mit einem Brückenpfeiler herrührten. Ursprünglich war das Vehikel einmal silbriggrau gewesen, aber dann hatte der Besitzer es studentisch-witzig mit einem giftgrünen fluoreszierenden Farbanstrich versehen. Kate verdrängte ihre Schuldgefühle und erzählte ihrer 41 Mutter, sie wolle mit anderen Schülerinnen zum Erntedank-Markt in Mallow fahren und man werde wohl bis zum Feuerwerk und einem späten Abendessen und dem folgenden Tanz bleiben. Ihre Mutter gedachte ähnlicher >Ausflüge< in ihrer eigenen Jugend und mahnte: »Also, Katie! Paß bloß auf, daß dein Verehrer sich nicht zuviel rausnimmt!« »Stephen meint es ernst, Momm.« »Schon. Aber ich auch!« »Aber wir sind um Mitternacht, oder kurz danach, wieder daheim, Momm.« »Das ist sehr spät, Katie. Was sollen denn die Nachbarn denken?« »Ich werde denen nicht den Spaß machen, daß die sich überhaupt was denken können, Momm.« »Aber du bleibst doch die ganze Zeit mit den andern beisammen?« »Aber sicher, die ganze Zeit«, log Kate. Sobald sie dann neben Stephen im Wagen saß, bewirkten ihre Schuldgefühle, daß Kate wütend wurde, und sie hatte nur eine Zielscheibe für ihren Ärger. Der Himmel leuchtete noch von dem langanhaltenden Dämmerlicht, und tief über dem Horizont hing ein großer Mond, fast schon voll, orangerot, er versprach eine helle Nacht. Sie starrte fest zu diesem Mond hinüber, und sie spürte intensiv Stephen an ihrer Seite, war sich stark bewußt, wie intim es hier in diesem Auto war, das dahinschnurrte, und sie roch undeutlich den Geruch von überhitztem öl. Stephen hatte nicht viel Fahrpraxis und bemühte sich, dies durch Langsam fahren wettzumachen. Mehrere andere Autos dröhnten an ihnen vorbei und bogen vor ihnen scharf ein und zwangen sie dadurch zum Ausweichen. »Warum fahren wir so langsam?« fragte Kate. »Ach, wir haben massenhaft Zeit«, antwortete Stephen. Die ruhige, vernünftige Antwort regte sie auf. »Wir dürfen das nicht machen, Stephen, und du weißt das ganz genau!« 42 Er hob die Augen von der Fahrbahn und blickte Kate an, und der Wagen folgte seinem Blick und rollte über die Fahrbahnkante auf den Schotter. Stephen riß das Steuer herum, und sie kurvten wieder auf die Fahrbahn zurück. »Aber du hast mir doch gesagt, daß du willst ...«, begann er. »Das spielt keine Rolle, was ich gesagt hab! Es ist nicht recht!« »Katie, was ist den los mit ...« »Ich hab Momm angelogen.« Zwei Tränen rollten ihr über die Wangen. »Und die sitzt dann da und wartet und macht sich Sorgen. Stephen, es war nämlich nicht leicht für sie, seit mein Vater tot ist.« Stephen bog auf eine Parkspur aus und hielt. Er drehte sich zu ihr herüber und schaute sie an. »Katie, du weißt doch genau, wie meine Gefühle für dich sind.« Er griff nach ihrer Hand, aber sie entzog sie ihm hastig. »Ich laß nicht zu, daß du traurig bist«, sagte er. »Gut, dann fahren wir aber auch wirklich zum Jahrmarkt!« Mit feuchten Augen blickte sie ihn an. »Weil so ist es dann keine richtige Lüge gewesen.« »Gut, wenn du das so willst, Katie.« »Ja, aber ja, das will ich.« »Schön, dann werden wir genau das tun.« »Außerdem helf ich dir dabei noch, dein Geld zu sparen, Stephen«, sagte sie und griff nach seiner Hand. »Dann kannst du dir das Stethoskop früher kaufen, das du so dringend brauchst.« Stephen küßt ihr die Fingerspitzen, und es wurde ihm klar, daß man ihn um den Finger gewickelt hatte und daß diese Methode, aller Wahrscheinlichkeit nach, immer und immer wieder in ihrem künftigen gemeinsamen Leben das Grundmuster bilden werde. Und dieser Gedanke erregte ihn freudiger als alle anderen möglichen Erwartungen ... Er zweifelte nicht mehr daran, daß sie nach seiner Promotion heiraten würden. Und wie gut es doch zu Katie paßte, an das gesparte Geld zu denken und was er damit anfangen konnte. Er hatte 43
ihr gegenüber nur ein einziges mal davon gesprochen, daß er ein neues Stethoskop haben müsse. Aber dann zog sie auf einmal wieder ihre Hand weg. Die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Autos badeten sie kurz in gleißendes Licht, er bekam einen flüchtigen Eindruck davon, wie steif sie neben ihm saß, mit im Schoß geballten Fäusten und fest geschlossenen Lidern. »Ich liebe dich, Katie«, sagte er. »Ach, Stephen«, seufzte sie. »Manchmal halte ich's vor Liebe zu dir nicht aus. Bloß ...« »Ja, das Warten«, sagte er. »Fahren wir jetzt nach Mallow?« fragte sie. Er startete den Motor und wendete; um die Strecke zurückzufahren, die sie vorhin hinter sich gebracht hatten, und er dachte, während er fuhr, was für ein Glückspilz er doch sei, daß er Katie gefunden hatte. »Ach fahr doch um Cork rum«, sagte sie. »Falls uns dann jemand sieht ... nun, wir müßten sowieso aus der Richtung kommen.« »Ich kenne eine Abkürzung zur Mallow Road«, sagte er. Im Dunkel sah er ihr Lächeln nicht. »Aha, da fährst du wohl mit allen deinen Mädchen hin?« »Katie!« »Ach, es ist wirklich schlecht von mir, dich zu necken«, sagte sie. Schweigend fuhren sie weiter, bis Stephen auf einen schmalen Seitenweg mit hohen Hecken zu beiden Seiten abbog. Und so kamen sie bald auf die Mallow Road; bei einem Signalmast, auf dem »18 Kilometer« stand. »Ich halte am Bridge House an. Ich muß tanken«, sagte Stephen. »Da ist auch ein Restaurant.« »Aber am Jahrmarkt gibt es auch was zu essen«, sagte sie. »Hast du denn keinen Hunger?« »Also wenn du mich schon so fragst, ein Sandwich wäre ganz köstlich.« Und billiger, dachte er. Bei Kate setzte offenbar der gesunde Menschenverstand nie aus. Das war ein Zug an ihr, den er 44 bewunderte. Zweifellos würde sie eine gute Hausfrau sein. Im Bridge House kaufte er zwei Sandwiches mit Roastbeef und zwei Flaschen Guinness und reichte sie Kate durch das offene Wagenfenster zu, ehe er für das Benzin bezahlte. »Der Tankwart sagt, der linke Vorderreifen ist ziemlich abgenutzt«, sagte sie. »Ich hab mir Ihren Reservereifen angeschaut«, sagte der Tankwart. »Soll ich ihn für Sie wechseln?« »Nein«, sagte Stephen mit einem Kopfschütteln. »Wir fahren nicht mehr weit.« »Also an Ihrer Stelle würde ich ganz schön vorsichtig fahren«, sagte der Tankwart. Er nahm Stephens Geld und gab ihm das Wechselgeld zurück. »Schön langsam wie'n Lumpenmann, bei dem das Pferd sich zum Abdecker schleppt.« Stephen zögerte, dann sagte er: »Genau. Langsam soll’s sein.« Er steuerte den Wagen vorsichtig von der Spur vor dem Bridge House, zäh hinter einem LKW hängend, der ihn schließlich hinter sich ließ, als er hartnäckig seine vierzig Stundenkilometer beibehielt. Und jetzt, wo es einen stichhaltigen Grund gab, langsam zu fahren, und weil sie in Richtung Mallow fuhren, war Kate mit sich selbst fast wieder im reinen. Sie lehnte den Kopf gegen die Rückenlehne und schaute zu Stephen hinüber. Es war irgendwie angenehm, so hier neben ihm zu sitzen. Sie malte sich ein ganzes Leben voll solcher, ähnlicher >Zwischenfälle< aus. Zuerst würden sie mal damit beginnen, für ein Auto zu sparen, dachte sie. Und damit konnte man gar nicht früh genug anfangen, wo doch die Autos so teuer waren. Sie wollte ihn gerade von ihrem Entschluß informieren, als der linke Vorderreifen den Geist aufgab. Der Wagen rutschte an die Außenseite, hopste über einen Rinnstein und schlitterte seitwärts auf eine Grasfläche, bis er endlich zum Stehen kam. Die Scheinwerfer bestrahlten einen grasbewachsenen Privatweg, eine Zufahrt zwischen zwei zerbröckelnden Torpfosten. Das Tor selbst stand gegen den rechten Pfosten gelehnt. Die Zufahrt war frei. 45 Stephen atmete ein paarmal tief mit offenem Mund ein. »Katie, alles in Ordnung?« fragte er. Die Innenseiten seiner Hände, dort wo er das Steuer umklammert hielt, schmerzten. »Ach, bloß ein bißchen durcheinander«, sagte sie. »Sollten wir nicht lieber von der Straße runterfahren?« Stephen mußte schlucken, dann fuhr er den Wagen auf den grasbewachsenen Zufahrtsweg. Der bog fast unmittelbar nach links ab, und seine Scheinwerfer beleuchteten die ausgebrannte Ruine eines Cottage. Die verkohlten Dachsparren waren nach innen gefallen. Er schaltete den Motor ab, und dann saßen sie einen Moment lang so da und lauschten auf die herbstlichen Insekten und das Gemurmel eines Bachs in der Nähe. Der Mond verströmte sein Licht über die Kämme der Hügel hinter der Cottageruine. Der Ort wirkte verlassen, fast wie aus der Welt gefallen. »Also dann wechsle ich mal besser den Reifen«, sagte er. »Ich möchte aber lieber vorher mein Sandwich«, sagte sie. Es war ihm recht, und er entdeckte hinten im Fond eine alte Decke, die er neben dem Auto auf dem Gras ausbreitete. Dann schaltete er die Scheinwerfer aus. Der Mond war beinahe grell. »Fast wie am Tag«, bemerkte Kate, als sie ihre Abendmahlzeit zu der Decke herüberholte ...
Sie saßen einander gegenüber, kauten sozusagen synchron, stießen mit ihren Guinessflaschen auf den geplatzten Reifen an, auf den Mond, auf die Leute, >die hier mal gelebt haben, als es noch ein glückliches Haus gewesen istwir einander nie-niemals anlügen wollen, wo es um was Wichtiges gehtbloß deshalb ausgesucht, damit man ihre Schönheit um so besser bemerkte In Wahrheit aber waren die beiden Mädchen seit ihrer Kindheit Freundinnen gewesen, von den ersten Tagen in der Grundschule an. Maggie wiederholte ihre Frage und fügte hinzu: »Hat er dir denn keinen Antrag gemacht?« »Maggie, ich weiß nicht, was ich bei der Beichte sagen soll«, sagte Kate. »Was soll ich bloß machen?« »Also, du sagst ganz einfach: >Vater, vergib mir, ich hatte 47 eine sexuelle Erfahrung. < Sag ihm einfach, es war das Trinken und daß der Mann dich halt überwältigt hat, und sag, daß du es nie, nie wieder tun willst.« »Ja ... aber wenn wir es doch tun?« jammerte Kate. »Dann versuch einen anderen Beichtvater zu finden«, sagte Maggie kaltschnäuzig. »Damit ersparst du dir 'ne Menge Erklärungen.« Einen Augenblick lang betrachtete sie Kate sehr genau. »Du, ich kenn dich doch, Katie. Wirst du bald heiraten?« »Ach, sei doch kein Aas!« Kate schrie es fast. Dann sagte sie: »Tut mir leid, Maggie. Aber er hat den ganzen Rückweg lang einfach keine Ruhe gegeben. Und du weißt doch, wir können nicht heiraten, bevor er seinen Doktor gemacht hat, und vielleicht nicht mal, bevor er seinen eigenen Laden aufmachen kann. Wir sind nämlich nicht reich, wie du weißt.« »Dann sei mal schön vorsichtig, Mädchen. Du gehörst zu dem Typ, der heiratet. Und er auch. Und natürlich gibt's da kaum was Besseres als so eine kleine Schwangerschaft, um die Dinge schneller ins Rollen zu bringen.« »Und du glaubst, ich weiß das nicht?« Da gab es mal 'nen irischen Hirnchirurgen ... (Pause für Beifallsgelächter) Standardwitz in britischen Varietes Als er sich am dritten Tag seiner Fahrt St. Louis in Missouri näherte, war John zu einem Entschluß gekommen, hinter welchem Namen er sich zunächst verbergen würde. Später würden dann noch weitere Namensänderungen vonnöten sein, das war ihm klar, doch jetzt brauchte er dringend einen ganz neuen Namen. Es war früher Nachmittag, und von den Laubbäumen entlang der Straße grüßten bereits die ersten Herbstfarben. Die Hügel waren bräunlich, und in der Luft war schon ein Hauch von Frost spürbar. Auf den Maisfeldern sah er Stoppeln und 48 Haufen von geschnittenem Stroh. Auf Reklametafeln wurden >winterfeste< Ausrüstungen angepriesen. Es würde nicht lange dauern, bis die weltweite Hetzjagd nach John Roe O'Neill beginnen würde. Den Namen muß ich loswerden, dachte er. McCarthy - das war der Name seiner Mutter gewesen, und er schien zu ihm zu passen. Sicher, irgend jemand würde bald auf den Zusammenhang stoßen, aber bis dahin würde er auch diesen Namen abgelegt haben. Den Vornamen, also da hatte er das Gefühl, daß er den besser beibehalten müsse; er war zu alt, sich noch auf einen anderen Rufnamen als John umzustellen. Gut, also sollte es John McCarthy sein, und damit auch ja das authentische irisch-amerikanische Flair spürbar werde, entschied er sich für >John Leo Patrick McCarthyFußabdrücke< hinterlassen, denen die Bluthunde dann folgen konnten. Also hielt er Mrs. Pradowski seinen Führerschein unter die Nase, auf dem O'Neill stand, und erklärte ihr, er sei auf der Suche nach einer Stellung als Lehrer. 49 Mrs. Pradowski sagte, er könne das Zimmer am nächsten Morgen beziehen. Sie ließ sich nicht anmerken, ob sie den Namen aus dem Nachrichtenwirbel erkannte, aber schließlich lag das ja schon Monate zurück. Der Bombenanschlag in der Grafton Street war ja nun, weiß Gott, von zahllosen anderen, neueren Tragödien überholt worden, und außerdem hatte die Sache weit entfernt von St. Louis stattgefunden. Im Gespräch ließ Mrs. Pradowski ein vordringliches Interesse an Vorauszahlungen durchblicken, ferner ein striktes Tabu, sich in ihre >Bingo-Nächte< einzumischen. Und nun kam es darauf an, daß er herausfand, ob seine Entscheidung für St. Louis richtig gewesen war. Im letzten Winter hatte ihm ein Kunde seiner Apotheke warnend gesagt: »Die haben dort 'ne richtige Fabrik, in der Ausweispapiere gefälscht werden. Da muß man höllisch aufpassen, wenn man einen Scheck einlöst.« Er brauchte sechs Tage und bezahlte unzählige Gläser Bier in fragwürdigen Kneipen, ehe es ihm gelang, mit der >Fa-brik< in Kontakt zu kommen. Und acht Tage später bezahlte er fünftausend Dollars und erhielt dafür einen Führerschein des Staates Michigan und ein ganzes Paket verschiedener Kredit- und Klubkarten auf den Namen John Leo Patrick McCarthy. Für weitere 3500 Dollars durfte er einen Schnellkurs für die Fälschung von Personalpapieren und Pässen absolvieren und bekam dazu auch noch das für die Änderungen nötige Handwerkszeug. »Also, Sie haben dafür echt Talent«, sagte sein Lehrmeister. »Lassen Sie sich bloß nicht einfallen, in meinem Gebiet ins Geschäft einzusteigen!« Als nächstes gab es das Problem mit dem Auto. Auf dem Auto Row bezahlte ihm die Gebrauchtwagenfirma Honest Andrew's Previously Owned Cars zweitausendzweihundert in bar, und der Verkäufer seufzte über den Scheinen: »Mann, die großen Schlitten laufen auch nicht mehr so heiß.« Am folgenden Morgen bestieg er einen Bus nach Marion und erwarb einen gebrauchten Dodge Power Wagon. Es war eine von Mrs. Pradowskis >Bingo-Nächtenfür die Unannehmlichkeit wurden auf dem Küchentisch zusammen mit dem Hausschlüssel deponiert. Auf dem Zettel stand, er müsse wegen eines familiären Notfalles unerwartet ausziehen. Die Nacht verbrachte John in einem Vorstadt-Motel, am nächsten Morgen holte er sein Geld aus dem Bankschließfach, und dann fuhr John Leo Patrick McCarthy gen Westen. Die Verwandlung war sehr viel müheloser vonstatten gegangen, als er es sich' zuvor ausgemalt hatte. Nun war nur noch ein wesentlicher Punkt zu erledigen, damit das Ganze vollkommen wurde. Im Verlauf der nächsten drei Tage entfernte er die Haare auf seinem Schädel. Es hatte da die Wahl gegeben: rasieren oder sie dauerhafter loszuwerden. Er entschied sich für letzteres, und das war für einen Biochemiker keine unlösbare Aufgabe, obwohl es sich dann als recht schmerzhaft herausstellte und eine dünne Maserung von rosa Narben hinterließ, winzige venöse Haargefäße waren das, aber sie würden mit der Zeit verschwinden, das wußte er ebenfalls. Das Muttermal auf seiner linken Wange verschwand unter dem Betupfen mit flüssigem Stickstoff und hinterließ eine schorfige Wunde, die sich im Laufe der Zeit in ein gekräuseltes Grübchen verwandeln würde. Seine Verwandlung faszinierte ihn. Er betrachtete den Vorgang sorgfältig im Spiegel des Badezimmers in einem Motel in Spokane. Das blinkende Neonlicht von einem Imbißstand in der Nähe warf einen unheimlichen stroboskopischen Schimmer auf die herabgezogene Sichtblende des Badezimmerfensters und auf die eine Gesichtshälfte. Er lächelte. John Roe O'Neill, der ziemlich mollige Typ mit dem dichten Fußabstreifer von braunen Haaren auf dem Kopf, einem deutlichen Muttermal auf der Wange, war auf einmal zu diesem schlanken Kahlkopf geworden, in dessen Gesicht die Augen fiebrig brannten. 51 »Hallo, du, John Leo Patrick McCarthy ...«, flüsterte er sich zu. Vier Tage später, dem ersten Freitag im Oktober, zog er in ein möbliertes, zur Vermietung angebotenes Haus in dem Vorstadtbezirk Ballard in Seattle/Washington. Er hatte einen Jahresvertrag, und das Geschäftliche wurde ausschließlich über eine Bank abgewickelt. Die Hauseigentümer lebten in Florida.
Dieses Haus in Ballard paßte perfekt zu dem, was er plante. Und daß er so ganz ohne Schwierigkeiten auf dieses Haus gestoßen war, nahm er als ein gutes Omen. Die Eigentümer hatten das Haus in einem schmuddeligen Braun mit weißen Kanten streichen lassen, und es lag unauffällig in einer Reihe von anderen, gleichfalls unauffälligen Häusern. Die Häuserzeile stand an einer Böschung, die lang und niedrig war, und es gab ein paar mühsame Versuche in Richtung auf Steingärten und abfallende Rasenflächen. Die meisten dieser Häuser hatten ebenerdige Keller und die Garagen unterhalb des Vordereingangs. John konnte von seiner Garage in das Erdgeschoß gelangen, und es gab da genug Platz für das Entladen seines Wagens. Das Haus war mit Sperrmüllmöbeln bestückt, das Bett hatte eine durchhängende Matratze. Uralte Küchengerüche hingen im ganzen Haus und besonders hartnäckig in den Vorhängen. Das Badezimmer stank nach längst erkaltetem Tabakrauch. Er betätigte die Wasserspülung und ertappte sich dabei, daß er sein Spiegelbild über dem Waschbecken anstarrte. Von seiner früheren Sanftheit war nichts mehr übrig. Dieser Andere in ihm wurde von einem Etwas tief unten in ihm getrieben. Er neigte sich dichter an den Spiegel und betrachtete die schrundige Narbe, die dort anstelle des früheren Muttermales zu sehen war. In diesem Nichts von Grübchen sah er emotional den endgültigen Bruch mit der Vergangenheit, jener Vergangenheit, in der Mary diese Warze als seinen >Schönheitsfleck< bezeichnet hatte. Er versuchte sich daran zu erinnern, wie sich ihr Kuß auf dieser Wangenstelle ange52 fühlt hatte; aber auch diese Hauterinnerung war verschwunden. Die Verschiebung seiner Gedächtnisbilder, die unkontrollierten Dislozierungen, ließen ihn erschauern. Er löste rasch den Blick von dem Spiegel. Es gab Wichtigeres, und er mußte es tun. Während einiger Tage nach seinem Einzug nahm er ein paar grundlegende Veränderungen in dem neuen Haus vor: lichtdurchlässige Folie wurde über die Fenster im Erdgeschoß und in der Garage geklebt, damit er vor neugierigen Augen abgeschirmt war; eine Alarmanlage gegen Einbrecher wurde installiert; ein beträchtlicher Nahrungsvorrat wurde angelegt. Hinter dem Zentralheizungsofen hob er eine Grube aus, steckte die feuerfeste Kassette mit dem Geld hinein und bedeckte das Loch mit Backsteinen. Und erst als dies erledigt war, fühlte er sich unbelastet genug, um sich an die Routinebestellungen von speziellen Apparaten zu wagen, die er für sein Projekt benötigte. Was ihn während der folgenden Wochen am meisten verblüffte, war die Leichtigkeit, mit der er an ausgefallenste Sachen gelangte. Es schien tatsächlich nur erforderlich zu sein, daß da einer telefonisch und mit dem >Doktor< vor dem Namen eine Bestellung aufgab. Er ließ sich die bestellten Waren an Adressen von Lagerhäusern und andere bequeme Lieferadressen senden, gab stets verschiedene Namen an und bezahlte stets bar. Solange er sich damit beschäftigte, verhielten sich seine Erinnerungsfetzen wie sanfte, domestizierte Raubtiere. Aber nachts, wenn er im Bett lag, ließ ihn das sich drehende Kaleidoskop in seinem Hirn oft nicht einschlafen. Es war ganz seltsam - und gar nicht einfach zu erklären ... John O'Neill war es unmöglich gewesen, sich an die Explosion dieser mörderischen Bombe zu erinnern, aber John McCarthy erinnerte sich haargenau daran. Er erinnerte sich an die Zeitungsausschnitte mit dem Gesicht von O'Neill, der lautlos schrie auf dem Foto. Aber der Mensch, der auf diesem Foto war, den gab es nicht mehr. Und dennoch vermochte John McCarthy sich an ihn zu erinnern. Und er konnte sich an das 53 Gerede mit Polizeibeamten erinnern, an die Zeugenaussagen, an die Leichenbittergestalt des Pater Devon, der seinen anfänglichen Irrtum nie bereinigt hatte und unverbrüchlich daran glaubte, daß John der Sünde einer >Mischehe< verfallen gewesen sei. Aber John McCarthy entdeckte, daß er all dies zu vereinen vermochte - die Schwestern im Krankenhaus, die Ärzte. Er konnte sich an sein altes Selbst erinnern, wie es da am Fenster der Bank gestanden hatte, auch an den orangefarbenen Feuerball der Bombenexplosion. Sein Gedächtnis ließ die Szene ablaufen, wenn es auch nur die winzigste Stimulans erhielt: dieses kleine Auto, der Arm im braunen Pullover im Fenster. Da stand Mary, und sie lachte mit offenem Mund, während sie die Zwillinge über die Straße zu führen versuchte, und da war dieses Paket unter ihrem Ellbogen. Merkwürdig, dachte John, daß die das Päckchen nicht gefunden haben, da waren doch wohl die Pullover für die Kinder drin gewesen ... - und dann immer wieder der orangerote Feuerball ... Den Preis für die Sweater hatte er auf der Abrechnung seiner Kreditkarte gefunden - und Marys krakelige Unterschrift auf dem Quittungszettel. Der ganze Zwischenfall auf der Grafton Street nahm in der Zeitverschiebung nahezu die Qualität eines Films an. Das Ereignis war eingefroren in eine Filmsequenz, die er willentlich immer und immer wieder ablaufen lassen konnte ... Dieses Gedränge von Menschen um Mary und die Zwillinge herum ... wie sie neben dem alten Ford stehenblieben ... und immer und immer wieder dieser orangerote Feuerball und die durch ihn hindurchschießenden Splitter von Schwarz. Er fand heraus, daß er den Ablauf kontrollieren konnte, daß er sich auf ganz bestimmte Gesichter konzentrieren konnte, auf Manierismen, auf Gestik, auf Fetzchen von Individualität in diesem makabren Wirbel von gleichermaßen toten Gliedern. Und immer wieder das orangefarbene Feuer der Explosion, und das Krachen, das in seinem Schädel hämmerte. Das waren natürlich - und er wußte dies genau - die Erin54
nerungen des John O'Neill, und sie waren gewissermaßen weit entfernt von John McCarthy. Sozusagen auf Isolationsbasis. Es war nur so, als befände sich da ein Fernsehschirm in seinem Kopf, auf dem klarumrissene Bilder und exakt aufgezeichnete Stimmen erschienen. »Gütiger Gott, was war das?« rief der Bankdirektor. Es war die Aufzeichnung eines geschichtlichen Geschehnisses, genau, aber nicht dazu geeignet, etwas in John McCarthys Seele anzurühren, es sei denn die Stimulierung jener wilden Entschlossenheit, Vergeltung in ebenbürtiger Weise an den Verursachern der Qualen zu üben, die John O'Neill zu erleiden hatte. Je mehr er sich an dieses Spiel mit den Erinnerungen gewöhnte, desto besser fand er heraus, daß es sich zeitlich nach rückwärts ausdehnen ließ, aber auch in die Zukunft. Die Plastikbombe war an ihrem ersten Tag in Dublin explodiert, nachdem sie drei Tage in obligatorischer Quarantäne in einem schloßartigen Gästehaus in der Nähe des Shannon Airport zugebracht hatten. In diesen drei Tagen hatten sich Kopf und Körper nach dem Flug aus den USA an die irische Zeitzone anpassen sollen. »Und jetzt stehen wir auf unsern echt-irischen eigenen Füßen«, hatte Mary gesagt, als sie sich im Sherbourne in Dublin angemeldet hatten. An jenem ersten Morgen in der Stadt am Black Pool wachte John sehr früh auf. Nicht ein Hauch von Vorwarnung hatte ihn gestreift. Ein Gefühl der Andersartigkeit, der Neuheit, mehr war da nicht gewesen. Er war in seinen Tag hineingestiegen mit einem Gefühl von Gesundheit und Glück - und das hatte dann hinterher das Grauen nur noch verstärkt. Persönliche Tragödien von solchen Dimensionen müßten doch eigentlich von düsteren Omina, von Vorwarnungen, begleitet sein, sagte er sich grübelnd später. Aber da war einfach nichts an Warnung gewesen. Er war neben Mary in einem der zwei Zimmer ihrer Hotelsuite aufgewacht. Als er sich zu ihr hinüberdrehte, überfiel ihn das Bewußtsein, die Erkenntnis ihrer liebenswerten 55 Schönheit sehr stark: ihre zerzausten Haare, die Wimpern, die so dicht auf den Wangen lagen, der Gezeitenwechsel ihrer Brüste in dem tieferen Atmen ihres Schlafes ... Das, was O'Neill dachte, war klar und einfach: Was für ein Wunder ist unsere Ehe! An der Peripherie seiner Wahrnehmungen strichen die Fakten vorbei, daß im Nebenzimmer die Zwillinge schliefen, es gab die morgendlichen Straßengeräusche und irgendwo den Duft frischgebackenen Brotes in der Luft. Eine richtige Suite in einem Hotel, mein Gott! Der Großvater von der McCarthy-Seite wäre wahrscheinlich stolz gewesen. »Irgendwann, Junge, irgendwann werden wir in die Heimat zurückgehen«, hatte der alte Herr oft gesagt. »Und wir werden in Ehren heimkommen.« Aber jetzt sind wir hier, und in Ehren, Opa Jack! Leider hast du nicht lange genug leben können, um das noch mitanzuschaun, aber ich hoffe stark, daß du es irgendwo mitkriegst. Es war stets so ein wenig trübselig gewesen, daß der Opa Jack es nie geschafft hatte, auf die heimatliche Scholle zurückzukehren. Zurück, das war wohl kaum das passende Wort, da er schließlich an Bord eines Schiffes nach Halifax das Licht der Welt erblickt hatte. »Das alles für siebenhundert Gewehre!« Das war die stereotype Klage der Familie McCarthy während der >Zeiten der Bedrängnis< gewesen. John hatte nie die Stimme von Opa Jack vergessen, der sich über die Flucht aus Irland klagend äußerte. Die Geschichte war erzählt und wiederkäuend erzählt worden, so daß sie John O'Neill fehlerlos zu erinnern vermochte. Das Silber der McCarthys, irgendwo im Boden vergraben, damit es den Straßenräubern der englischen Steuereintreiber entgehe, war ausgegraben worden, um mit ihm den Erwerb von siebenhundert Gewehren für einen >Aufstand< zu finanzieren. In den Turbulenzen der völligen Niederlage hatte Opa Jacks Vater (mit einem Fangpreis auf seinem Kopf) die Familie unter dem angenommenen Namen Soundso nach Halifax fortgezaubert. Den Namen McCarthy hatten sie erst wieder angenommen, als sie sicher 56 in den Vereinigten Staaten gelandet waren - >und ganz weit weg von den diebischen BritenIrentum< abschütteln wollen und sich immer recht höhnisch über die >McCarthy-
Legenden< von Opa Jack ausgelassen. Aber dessen ungeachtet war der Kopf des Jungen, der John damals war, angefüllt von Geschichten über >Aufruhr< und >ErhebungenUns ist die Information zugegangen, daß .. .< Und dabei handelt es sich nicht um den königlichen Pluralis majestatis, sondern um das >wir< der Bürokratie. Es bedeutet, daß man die Schuld auf jemand anderen schieben kann, oder sie doch mit jemand anderem teilen kann, falls die Geschichte sich als faul herausstellen sollte.« Ruckerman wußte, daß er genug Dampf daruntergesetzt hatte und daß das Kommunikationssystem des Weißen Hauses, als die militärische Operation, die es nun einmal war, Saddler für ihn finden würde. Dann klingelte das Telefon. Saddler, unterrichtete ihn ein diesmal männlicher Telefonist, befinde sich in Camp David. Dann die Stimme des wissenschaftlichen Beraters, nur leicht verschlafen klingend: »Will, was ist denn so verdammt wichtig, daß Sie mich ...« »Ich will Ihnen nicht auf die Nerven gehen, Jim. Ich habe da einen Brief erhalten, der ...« »Von jemand, der sich selber als der >Verrückte< bezeichnet?« »Genau. Und ich ...« »Das FBI kümmert sich schon darum, Will. Bloß wieder mal so'n Verdrehter.« »Jim ... ich glaube, Sie täten sehr gut daran, diesen Brief nicht als den eines der üblichen Spinner abzutun. Seine Nachschrift müßte uns wirklich davon überzeugen, daß ...« »Was für eine Nachschrift?« »Das zweite Blatt, auf dem er ein paar Einzelheiten aufführt über ...« »Bei unserem Brief war kein zweites Blatt. Ich schicke Ihnen einen Mann vorbei, der den Brief abholt.« »Verdammt, Jim! Würden Sie mir jetzt endlich zuhören? Ich bin auch ein Stück weit auf dem Weg gegangen, den dieser Typ beschreibt. Der Mann ist ein Fachmann! Und darum rate ich Ihnen nachdrücklich, nehmen Sie diese Drohungen ernst! Sie sind ganz real! Wäre ich an Ihrer Stelle, ich würde dem Präsidenten raten, zumindest einleitende Schritte zu unternehmen, damit den Forderungen ...« 61 »Aber, nun bleiben Sie mal auf dem Teppich, Will! Haben Sie auch nur 'ne kleine Vorstellung davon, was das politisch bedeuten würde? Der Kerl verlangt eine Quarantäne! Dann verlangt er, daß wir sämtliche libyschen Staatsbürger nach Libyen expedieren, alle Iren nach Irland, alle Engländer nach England - alle ohne Ausnahme, einschließlich der Diplomaten. Aber wir können doch nicht einfach ...« »Und wenn wir es nicht tun, droht er, daß er die USA in ...« Ruckerman hielt inne, dann zitierte er aus dem Brief: »... in das Netz seiner Rache einbeziehen will.« »Hab ich gelesen, und ich geb keinen Furz darauf, daß das ernst ...« »Sie haben einfach nicht zugehört, Jim! Ich sage Ihnen doch die ganze Zeit, was dieser Mann androht, ist möglich!« »Sie reden doch nicht im Ernst?« »Ich meine es verflucht ernst!« Dann rauschte es nur in der Leitung, und Ruckerman konnte ein Stimmengebrabbel hören, das jedoch zu schwach war, als daß er Worte hätte verstehen können. Und dann war Saddler wieder in der Leitung: »Will, wenn mir sonst jemand so was sagte ... also, ich meine, tödlich verlaufende neue Krankheiten, gegen die es keine natürlichen Resistenzen gibt und so ... Wie, zum Teufel, will der Kerl denn die Infektion verbreiten?« »Ich brauche meine Vorstellungskraft nicht anzustrengen, und ich kann Ihnen sofort ein Dutzend ganz einfache Methoden nennen.« »Verdammt! Jetzt machen Sie mir allmählich wirklich Angst.« »Das ist gut! Denn dieser Brief ist so, daß ich mir fast in die Hosen scheiße.« »Will, ich muß diesen Zusatz im Brief sehen, ehe ich ...« »Sie wollen also nicht nur auf meine Warnung hin handeln?« »Aber wie soll ich denn damit so einfach reingehen zum ...«
»Jim ... der Zeitfaktor ist enorm wichtig. Der Präsident 62 müßte unverzüglich informiert werden. Die betroffenen Diplomaten sollten gewarnt werden. Das Militär, die Polizei in Großstädten, Gesundheitsbehörden, Bürgerwehren ... Zivilschutz ...« »Aber dann kriegen wir womöglich eine Panik!« »Der Hauptteil dieses Briefes ist in Ihren Händen. Er sagt da, daß er das Höllenzeug bereits losgelassen hat. Und das heißt nun mal Abschottung. Verdammt noch mal, er sagt es doch klar und deutlich genug: Laßt der Sache ihren Lauf, wo ich sie ausgelöst habe. Bedenken Sie, daß ich das Übel überallhin verbreiten kann, wohin immer es mir beliebt. Sollten Sie versuchen die befallenen Gebiete durch den Einsatz von Atomwaffen zu sterilisieren, werde ich meinen Rachefeldzug auf jedes einzelne Land auf diesem Erdball ausdehnen ... Lesen Sie sich das noch mal genau durch, Jim, und wenn Sie dann noch meine Warnung ernstnehmen, dann werden Sie ganz genau wissen, was Sie zu tun haben. Und zwar sofort...« »Will, wenn Sie sich irren ... Haben Sie auch nur die geringste Ahnung, was für Auswirkungen ...« »Und was ist, wenn Sie sich irren?« »Verdammt, Sie sind aber stark daran, meine Glaubenspotenz zu überfordern.« »Ach, verdammt, Jim, Sie sind doch Wissenschaftler! Sie sollten doch inzwischen begriffen haben, daß ...« »Gut. Aber dann erklären Sie mir mal, Will, wie man eine Seuche geschlechtsspezifisch verbreitet.« »Also gut. Der derzeitige Stand meiner eigenen Forschungsarbeit, und ich bin ziemlich sicher, ich hänge weit hinter dem her, was der >Verrückte< erreicht hat... also, ich bin überzeugt, daß man Krankheiten für viele genetische Varianten sozusagen Maßschneidern kann - zum Beispiel auf Weißhäutigkeit, oder etwa auf die Anfälligkeit für Sichelzellenanämie ...« »Aber, wie könnte denn ein einzelner Mensch ... Ich meine, die enormen Kosten!« »Eine Kleinigkeit. Ich habe mir durchgerechnet, was an Kosten für die nötige Instrumentenausrüstung anfallen 63 könnte - es sind weniger als dreihunderttausend Dollar, und da ist der Computer bereits mit drin. Ein Kellerlabor irgendwo ...« Ruckerman ließ den Satz in der Luft hängen. Dann sagte Saddler: »Ich brauche diese Aufstellung der nötigen Instrumente. Ober die Lieferanten sollten wir in der Lage sein ...« »Ich lese sie Ihnen gleich vor. Aber ich fürchte, es ist zu spät, auch wenn wir sein Laboratorium ausfindig machen können.« »Sie meinen also wirklich ...« »Ja. Ich glaube, er hat es geschafft. Der Brief ... er demonstriert ziemlich genau, daß er über die wesentlichen Punkte Bescheid weiß, und ich habe nicht einen einzigen Fehler entdeckt. Ich glaube, Irland, Großbritannien und Libyen ... und vielleicht wir alle, werden scheußlichen Zeiten entgegengehen. Ich sehe nämlich nicht, wie wir so etwas eingrenzen könnten. Aber als Anfangsmaßnahme sollten wir wirklich die bezeichneten Gebiete isolieren ... zu unserer eigenen Sicherheit, wenn schon nicht aus anderen Gründen.« »Was für anderen Gründen?« »Dieser Verrückte rast immer noch ungehindert durch die Welt. Und wir wollen doch nicht riskieren, daß er auch noch seine Wut auf uns richtet.« »Will, er behauptet, daß kein weiblicher Mensch in diesen drei Staaten überleben wird. Also, ich glaube ... Also wirklich! Wie kann ...« »Ich reiche Ihnen später eine exaktere Analyse ein. Aber jetzt flehe ich Sie an, unternehmen Sie sofort die notwendigen ersten Schritte! Der Präsident sollte bereits an diesem berühmten heißen Draht nach Moskau hängen und mit den anderen wichtigsten Weltpolitikern reden. Er sollte ...« »Will, ich glaube, ich lasse Sie besser mit einem Flugzeug abholen. Ich möchte das dem Präsidenten nicht allein und auf meine Kappe unterbreiten. Wenn wir ihn überzeugen müssen, nun, er kennt Ihren wissenschaftlichen Ruf, und wenn Sie ...« »Louise hat meinen Koffer schon gepackt. Und noch eins, 64 Jim, das allererste, was Sie unternehmen sollten, ist, daß sie so viele junge Frauen wie möglich in dieses Versteck in Denver bringen, auf das unsere Militärs so stolz sind. Frauen! Haben Sie das begriffen? Und nur so viele Männer, wie nötig sind, um die technische Seite eines Überlebensplans in Funktion zu halten.« Ruckerman ließ seine Worte wirken - möglichst viele Frauen, ganz wenige Männer, und das war genau das Gegenteil von dem, was wohl normalerweise in solch einer Zufluchtsstätte der Fall sein würde. Dann sprach er weiter. »Man müßte den Russen und anderen wichtigen Nationen der Welt erklären, daß sie gut daran täten, ähnliche Maßnahmen in die Wege zu leiten. Es wird natürlich recht lang dauern und schwer sein, die Russen davon zu überzeugen, daß wir es ehrlich meinen. Wir wollen ja nicht, daß die denken, es handle sich wieder einmal um irgend so ein teuflisches kapitalistisches Komplott. Und der Himmel weiß, die sind sowieso schon paranoid genug.« »Ich glaube, wir sollten da die diplomatischen Entscheidungen auf so hoher Ebene den Experten überlassen,
Will. Sie sollten im Augenblick nur eins tun, verfrachten Sie Ihren Corpus so rasch wie möglich hierher. Und bringen Sie mir um Himmels willen, genug Beweismaterial mit, um mich zu überzeugen, daß Sie recht haben.« Ruckerman legte den Hörer auf und blickte zu seiner Frau hinüber, die am anderen Ende des Zimmers stand. »Also wird er auf dich warten«, sagte sie. Ruckerman hieb die Faust auf den Ankleidetisch, so heftig, daß das Telefon hüpfte. »Louise, du nimmst den Wagen! Pack nur die allernötigsten Sachen! Kauf soviel Lebensmittel ein, wie du sicher einlagern kannst, und dann fahr rauf zu unserm Landhaus in Glen Ellen! Und nimm die Waffen mit! Ich melde mich dann bei dir.« 65 Ich schwöre dem Herrn des Todes Gehorsam. Formel aus dem Eid einer Geheimgesellschaft in Ulster Achill Island, südlich der Blacksod Bay in der Grafschaft Mayo gelegen, zeichnete sich klar vor einem sturmzerfetzten Atlantikmorgen ab, und die irische Landbevölkerung war schon eifrig tätig, richtete sich auf den ersten Schub von Touristen ein, brachte Saat aus, stach Torf und stapelte die Soden zum Trocknen, und war ganz wie sonst mit ihren Alltagsarbeiten und ihrem normalen Leben beschäftigt. Die Insel spielte in zahlreichen Grüntönen, dazwischen lagen Flecken schwarzer Felsen und weiße Tupfer, wo die Bewohner ihre Gebäude errichtet hatten. Achill Island war von der irischen Landmasse beim Rückzug des letzten eiszeitlichen Gletschers abgeschnitten worden, und es gab nur wenige Bäume auf der Insel. Die steilen Hänge waren von Stechginster bedeckt, der sich längs der Gräben der Torfstecher ausbreitete, die ersten Marschveilchen begannen sich zu zeigen und traten in Konkurrenz zu Brombeergestrüpp und Steinbrech und der allgegenwärtigen Erika. Hie und da sproßte vorsichtig Nabelkraut zwischen den Felsen hervor. Eine Granitruine lag halbverfallen im Gestrüpp auf der Hügelkuppe, dort, wo die Straße von Mulrany eine Kurve machte, ehe sie dann auf die Brücke zu abfiel, die die Zufahrt zur Insel bildete. Die Spitzbogen und die gezackte Mauerwehr waren zu kleinen niederen Haufen zusammengesunken, auf denen kümmerlicher Efeu und Flechten wuchsen. Die schorfige Felsoberfläche bot nicht den geringsten Hinweis auf die schmalen Fensterluken, von denen aus die Verteidiger vergeblich Cromwell zurückzuschlagen versucht hatten. An der Straßensperre, die die Zufahrt zur Insel blockierte, standen zwei höfliche junge Soldaten mit dem Abzeichen der Irischen Harfe auf der Schulter. Zwei Touristenautos hatten sie bereits zurückgeschickt, die auf die Straße zur Insel gelangt waren, ehe die Sperren weiter oben bei Mulrany errich66 tet worden waren. Die Soldaten hatten sich für die Unannehmlichkeit entschuldigt und den Touristen geraten, doch statt dessen lieber nach Balmullet zu fahren, >einem wunderschönen Ort, wo man noch das alte Leben sehen kannIrischen Traum< zugrunde gegangen waren. »Da werden die Priester wieder mal viel zu tun kriegen«, sagte der Unteroffizier. Und dann: »Also, Leute, ihr habt ja gehört, was der Colonel gesagt hat. Bauen wir ein paar Unterstände!« Tief unterhalb dieser Stellung, am inselseitigen Ende der Brücke, wo die Ortsstraße sich zur Landstraße ins Inselinnere verwandelte, hatte sich in Mulvaney's Saloon Bar inzwischen eine Meute von Inselbewohnern und ein paar Touristen eingefunden. Sie gingen mit hochgezogenen Schultern gegen den Regen, stiegen aus Autos und von Fahrrädern und drängten sich in das dunstige Innere des Gasthauses, in dem es schwer nach nasser Wolle und Bier roch. Mulvaney's, ein einstöckiges Haus, weißgekalkt, mit Schieferdach und drei soliden Kaminen, war einer der ganz natürlichen Treffpunkte der Insel. Bald war die Bar voll von Männern, deren Gestikulation abrupt wirkte, voll verhaltener Gewalttätigkeit. Ein kleiner Streifenwagen der Garda fuhr vor dem Gasthaus vor, und die Gespräche verstummten, als sich diese Neuigkeit in der Bar ausbreitete. Aus dem Auto stieg Denis Flynn, der örtliche Vertreter der Garda; ein kleiner blonder Mann mit hellblauen Augen in einem jungenhaften Gesicht, das jetzt bleich war und unter nervösen Zuckungen zu leiden schien. Man machte ihm Platz, als er hereinkam, sich bis an die Westseite des Raumes durchschob und auf einen Stuhl kletterte. Flynns Stimme klang in das erwartungsvolle Schweigen 70 hinein; ein dünner Tenor, der ganz unerwartet sich überschlug: »Sie haben uns unter Quarantäne gestellt«, sagte er. »Sie schicken uns Notärzte per Hubschrauber. Niemand darf die Insel verlassen oder sie betreten, außer dem medizinischen Hilfspersonal und vom Staat autorisierten Personen.« In dem Gebrodel von ihm heftig entgegengebrüllten Fragen hob Flynn seine Stimme und verlangte Ruhe. »Wir müssen einfach Geduld haben. Es wird alles getan, was getan werden kann.«
Mulvaney, ein sanfter Riese mit einem kahlen Schädel, der schimmerte wie seine blankpolierte Theke, drängte sich durch die Menge und blieb vor Flynn stehen. Er wies mit dem Daumen über die Schulter und sagte: »Da hinten liegt meine Molly und ist krank, und es gibt bloß den einen Doktor. Ich will wissen, was da los ist.« »Ich bin hier bloß Garda«, sagte Flynn. »Darauf sollen mal die von der Gesundheitsbehörde antworten.« Mulvaney blickte an Flynn vorbei durch die Fenster in Richtung auf Knockmore und den Weiler Droega, die hinter dem Hügelhang lagen, der sie gegen die schlimmsten atlantischen Sturmböen schützte. Keine zehn Minuten war es her, daß sein Bruder, Francis, ihn von dort aus angerufen hatte, um ihm von einer weiteren Toten zu berichten, und seine Stimme hatte von Tränen gezittert. Mulvaney starrte fest zu Flynn hinauf, als er sagte: »Deine Weibsleute sind sicher hinter Mulrany. Da kannst du leicht dich auf die Seite der Obern stellen. Aber es ist meine eigene Schwägerin Shaneen, die heut morgen gestorben ist.« Ein Mann weiter hinten in der sich drängelnden Menschenmasse rief: »Und meine Katie hat auch die Krankheit! Wir wollen eine Antwort, Flynn, und wir wollen sie jetzt hören!« »Ich hab euch gesagt, was ich weiß«, sagte Flynn. »Mehr kann ich nicht machen.« »Was soll das, daß da Beamte kommen wollen?« fragte Mulvaney. »Vom Gesundheitsministerium in Dublin.« 71 »Und wozu brauchen sie Soldaten, die uns nicht durchlassen?« fragte eine andere Stimme. »Sie haben droben auf dem Corraun sogar Kanonen aufgestellt!« »Es besteht kein Anlaß zur Panik«, sagte Flynn. »Aber die Lage ist ernst.« »Und warum hören wir dann nichts davon im Radio!?« fragte Mulvaney. »Habe ich nicht grad gesagt, wir wollen keine Panik?« »Es ist die Pest, oder?« fragte Mulvaney. Plötzlich lastete Totenstille über dem Raum. Ein kleiner dunkelhäutiger Mann mit verkniffenem Gesicht rechts neben Flynn räusperte sich. »Aber wir haben ja noch unsere Boote«, sagte der Mann. »Das schlag dir mal gleich wieder aus dem Kopf, Martin!« knurrte Flynn und funkelte zu dem Mann hinunter. »Die Marine ist in ein paar Minuten da und sammelt eure Boote ein. Ich hab den Befehl, euch daran zu hindern, Achill zu verlassen - unter Anwendung aller nötigen Mittel!« Mit heiserer Stimme fragte Mulvaney: »Dann werden also alle unsere Frauen sterben? Neunzehn Tote seit gestern, und bloß die Frauen und Mädchen. Warum ist das so, Denis?« »Die Ärzte werden die Antwort herausfinden«, sagte Flynn. Er sprang von seinem Stuhl, hielt sich an Mulvaney fest, um sein Gleichgewicht wiederzufinden, schaute aber dabei dem Mann nicht in die Augen. Flynns vorgesetzter Superintendent hatte vor weniger als einer Stunde genau die gleichen Befürchtungen geäußert, als er sanft, aber bestimmt zu ihm über das Telefon gesprochen hatte. »Wenn alle Frauen dort sterben, dann könnte das sehr schlimm werden, Denis. Und es laufen schon Gerüchte um, daß die Sache geplant war. Aber darüber derzeit kein Wort!« »Absichtlich geplant? Von den Ulstermen oder von den Briten?« »Darüber diskutiere ich nicht, Denis. Ich sage es nur, um Ihnen den Ernst der Lage deutlich zu machen. Sie werden dort für eine Zeitlang allein sein innerhalb der Sperrzone und 72 die Staatsautoriät repräsentieren müssen. Wir verlassen uns auf Sie!« »Aber bekomm ich denn keine Unterstützung?« »Man sucht Freiwillige unter den Soldaten, aber die können erst am Nachmittag anrücken.« »Aber ich habe mich nicht freiwillig gemeldet, Sir!« »Aber Sie haben einen Eid geschworen, Ihre Pflicht zu tun, und genau darum bitte ich Sie, und zwar jetzt!« Während er sich durch die Leute in Mulvaney's zwängte, um ins Freie zu gelangen, erinnerte Flynn sich an dieses Telefongespräch. Es hatte noch weitere Befehle gegeben, und diese Dinge mußte er nun erledigen. Der Regen hätte sich in leichten Dunst verwandelt, als er aus der Gasthaustür trat. Er stieg in seinen Wagen, vermied es, zu den zornigen Gesichtern zurückzublicken, die ihm nachstarrten, er startete den Motor, wendete und fuhr langsam zu der Zementplattform hinab, die über den Achill-Sund hinausragte und über die Fischerboote, die dort vor Anker lagen. Er sah ein Patrouillenschnellboot mit breiter Bugwelle hereinkommen, als es von Bulls Mouth herüber Fahrt zulegte. Es sah so aus, als werde es höchstens noch fünf Minuten brauchen, und dafür war Flynn zutiefst dankbar. Er hielt auf dem Betonschurz an, zog das Gewehr aus der Halterung und saß da und kam sich sehr seltsam vor - er, so da mit einer Waffe in den Händen. Aber der Superintendent hatte seine Anweisungen recht drastisch geäußert. »Ich will, daß Sie mit der Waffe in der Hand auf Posten bleiben, Denis, bis diese kleinen Boote abgeschleppt sind! Und um es klar zu sagen, Sie werden Ihre Waffe einsetzen, wenn das nötig wird!« Flynn stierte trüb übers Wasser zu dem sich nähernden Patrouillenboot. Über dem Strand wirbelten kreischende Seemöwen. Er atmete die vertrauten Salzgerüche ein, den Geruch von Seetang und den schärferen Gestank von Fisch. Wie oft hatte er auf diese gleiche Szenerie hinausgeblickt und sie niemals für fremd und absurd gehalten? Flynn geriet ins Nachdenken ... Jetzt aber ... Die plötzliche Andersartigkeit
73 ließ ihm einen Schauder durch den mageren Leib fahren. Das, was er drüben bei Mulvaney's hatte sagen wollen, das, was ihm wie Sodbrennen in die Kehle gestiegen war, beherrschte sein ganzes Denken. Aber sein Super war wie Eis gewesen, was die Geheimhaltung betraf. »Eine große Zahl von Frauen wird mit Sicherheit sterben, vielleicht sogar alle auf der Insel. Wir verlassen uns auf Sie, daß Sie Ruhe und Ordnung aufrechterhalten, bis Hilfe eintrifft. Es darf keine Panik geben, keine Zusammenrottungen. Sie müssen ganz strikt sein und die Ordnung aufrechterhalten.« »Und ich hätte es ihnen sagen müssen«, murmelte Flynn vor sich hin. »Man sollte die Priester holen. Es ist doch ganz sicher, daß nichts sonst da noch helfen kann.« Er stierte zu den vertäuten Fischerbooten hinüber, und er empfand auf einmal tiefe Einsamkeit und das Gefühl, völlig hilflos zu sein. »Herr, hilf uns in der Stunde unserer Not«, flüsterte er vor sich hin. Seit dem Winter von 1348, als der Schwarze Tod Irland verheerte, hat es keine so furchtbare Epidemie mehr gegeben. FlNTAN CRAIG DOHENY Einen Tag vor der Verhängung der Quarantäne über Achill Island fuhren Stephen Browder und Kate O'Gara einträchtig zum Lough Derg; sie wollten in der Nähe von Killaloe zu Mittag essen und dann zu einem Cottage am See bei Cloononn weiterfahren. Es sollten drei Tage Urlaub werden, die sie zusammen sich sozusagen stahlen, ehe auf Kate das Examen und auf Stephen, der sich nun auf Pressions-Medizin spezialisieren wollte, Wochen eines hektischen sommerlichen Arbeitsplanes zukamen. Das Cottage war ein modernisiertes Bauernhaus und gehörte Adrian Peard, der sechs Jahre vor Stephen promoviert hatte und der bereits den Ruf eines bedeutenden Forschers auf dem Sektor der Pressionsmedizin und der Folgeschäden 74 bei Tauchern genoß. Peard, Sproß einer alteingesessenen, wohlhabenden Familie der Grafschaft Cork, hatte sich in diesem Häuschen am See eine Basis für Wochenenden und Ferienaufenthalte errichtet und außerdem in der Scheune hinter dem Cottage einen großen Stahltank für Kompressions / Dekompressionsversuche installiert. Stephen war früher schon ein paarmal Gast in dem Cottage gewesen und hatte sich etwas Geld als Versuchskaninchen in Peards Experimenten verdient. Seit ihrem ersten >Sexualerlebnis< an der Mallow Road hatte Kate die Wiederholungsfälle auf ein-, zweimal pro Monat >rationiertvorsichtig< zu sein. Kate, die sich nicht ganz klar darüber war, was das heißen sollte, hatte gewarnt: »Wir wollen in unserer Familie keine unehelichen Bastarde haben, Stephen Browder!« Sie hatten den Ausflug sorgfältig geplant. Zum Schein befand sich Kate bei ihrer Freundin, Maggie, und machte Ferien in Dublin. Und Stephen war angeblich auf einem Bootstrip mit Freunden bei Kinsale. Peard, der wohl die wahre Natur der Beziehung zwischen Stephen und Kate vermutete, bot ihnen unaufgefordert an, doch sein Häuschen am Lough Derg zu benutzen, >sofern das nicht meinen Arbeitsplan durcheinander bringtFreiheit< und apolitische Autonomie< und dergleichen mehr. Solche Worte sind in einer Welt ohne Moralbewußtsein ohne Bedeutung. PATER MICHAEL FLANNERY Bis auf zwanzig waren alle Briefe John Roe O'Neills bereits befördert, ehe die FBI-Beamten mit einem Durchsuchungsbefehl in dem Auftragsbüro in Los Angeles erschienen. Die Adresse war ein winziges Büro mit nur einem Raum in einem Backsteinbau an der Figeroa, fast im Zentrum der Stadt. Geführt wurde das Büro von einer Miß Sylvia Trotter, einer knochigen Fünfzigerin, mit wildem hennaroten Haar und fiebrigen Rougeflecken auf den Wangen. Die beiden
81 FBI-Agenten, die einander in ihren ordentlichen blauen Anzügen so ähnlich waren wie zwei Klons, klappten die Brieftaschen auf, ließen sie einen flüchtigen Blick auf die Ausweise werfen, zauberten dann wie Tänzer in einer Synchronnummer die Ausweise zurück in die Taschen und verlangten, sie solle ihnen alles über die O'NeillBriefe sagen. Wie hatte der Kontakt mit dem Schreiber der Briefe stattgefunden? Hatte sie den Inhalt irgendeines dieser Briefe gekannt? Nicht einmal eines einzigen? Welche Adresse hatte der Schreiber ihr angegeben? Sie untersuchten ihre Bücher, nahmen eine Kopie ihres Hauptbuchs mit und ließen Miß Trotter schweißgebadet und verstört zurück. Die FBI-Männer, die sowohl als Juristen wie als Buchprüfer ausgebildet waren, fanden Miß Trotters laxe Geschäftsführung eklig. Sie hatte nicht einmal den Scheck fotokopiert, der von jenem Henry O'Malley an sie kam, der den Auftrag erteilt hatte! O'Malley mit einer falschen Adresse in Topeka/Kansas, hatte mit einem Barscheck einer Bank in Topeka gezahlt. Und noch ehe sie dem nachgingen, wußten die FBI-Agenten, daß sie in Topeka auf kein Wasser stoßen würden. Es gab in der ganzen Bank niemanden, der sich auch nur daran erinnerte, wie dieser O'Malley ausgesehen hatte. Unter den zwanzig beschlagnahmten Briefen, die sie neben dem Hauptbuch von Miß Trotter mitgenommen hatten, waren fünf, aus denen man schließen konnte, daß der Schreiber den offiziellen Besuch der Beamten vorhergesehen hatte. Sie waren an prominente Kirchen- und Sektenführer gerichtet, und der erste Satz lautete: >Warnung an die Mächtigen !< Dann wurde da erklärt, daß der Verrückte mit einer >Totmann-Schaltung< gekoppelt sei, die automatisch die Erde mit weiteren, andersartigen Seuchen überfluten würde, falls irgend jemand mich zu stören versuchte Zu dem ersten Beweismaterial, das das >Team< im Denver Isolation Center untersuchte, gehörten Fotokopien sämtlicher Briefe, soweit sie bekannt wurden, die der Verrückte ge82 schrieben hatte. Die erste Konferenz des Teams fand neunundzwanzig Tage nach der Demonstration des Irren auf Achill Island statt; eine Verzögerung, die auf politische >Decidophobie< in hohen Rängen zurückzuführen war, auf eine Entschlußunfähigkeit, die erst angesichts weltweiter grauenerregender Geschehnisse überwunden werden konnte. Die O'Neillsche Krankheit, die inzwischen als >die Weiße PesU bezeichnet wurde, weil ihre Opfer so erschreckend bleich waren und wegen der weißen Hautflecken, die an den Gliedmaßen auftraten, beschränkte sich offenbar inzwischen nicht mehr nur auf Irland, Großbritannien und Libyen. Die anfänglichen Isolierungsmaßnahmen waren recht locker gewesen und hatten es höheren Beamten leichtgemacht, sie zu umgehen oder zu ignorieren, ebenso den wohlhabenden Kreisen, die ihre Lieben in Sicherheit zu bringen trachteten, und gleichfalls Finanztransferierern, Kriminellen und ihren kriminologischen Verfolgern und zahlreichen anderen. Fälle vom Auftreten der Weißen Pest wurden aus allen Teilen der Erde berichtet. Es gab ein begrenztes Seuchengebiet in der Bretagne. In den USA schnitt die Pest einen Korridor von Boston bis fast nach Weymouth. Die westlichen Vorberge der Cascades von weit bis nach British Columbia hinein und südlich bis nach Kalifornien und zum Pazifik mußten durch brutale Quarantänemaßnahmen abgeriegelt werden. Auf der Liste der Weltgesundheitsorganisation, die die >Brandherde< aufzeigte, standen Singapur, Perth, New Delhi, Santa Barbara, St. Louis, Houston, Miami, Istanbul, Nairobi, Wien ... und dies waren nur die wichtigsten Orte. Das >Team< war im Besitz der neuesten Liste mit Brandherden und der O'Neill-Briefe, als sich die Mitglieder zu ihrer ersten Beratung im DIC trafen. Die Sitzung fand in einem unterirdischen Raum mit dunklen holzgetäfelten Wänden statt. Als Beleuchtung stand zur Wahl ein kaltes indirektes Neonlichtsystem oder eine warme, intim wirkende Lichtbestrahlung, die ausschließlich den Tisch erhellte, um den die Leute sich versammelten. Ein Psychoanalytiker wäre vermutlich in der Lage gewesen, eine tiefere Signifikanz in die Tatsache 83 hineinzuinterpretieren, daß man für dieses erste Treffen die enthüllende Grellheit des indirekten Neonlichtes wählte. Alle sechs Mitglieder des Teams waren sich bewußt, daß sie ebenso deshalb zusammengekommen waren, um einander zu studieren, wie um sich mit dem Problem zu befassen. Die Auswahl des Teams hatte stundenlang gedauert: bohrende Befragungen in abhörsicheren Zimmern, durchgeführt von Leuten, die die Stimme nur zur Betonung bestimmter Punkte erhoben. Die sechs Leute des Teams gehörten verschiedenen Nationalitäten an: je zwei aus der Sowjetunion, aus Frankreich und den USA. Man hatte zwar die Absicht, weitere Nationen später hinzuzuziehen, aber die Umstände hatten das verhindert. William Beckett aus dem amerikanischen Gespann, der den nominellen Vorsitz des Teams übernehmen sollte, fand sich zu diesem ersten Treffen mit ganz spezieller Besorgtheit ein, die durch den verheerenden Ausbruch der Pest an der Westküste seiner Nation bedingt war. Konnte das Gebiet durch >aus einem nicht ganz sicheren Versuchslabor entwischte< minimale Krankheitskeime verseucht worden sein? (Man hegte da bereits die Vermutung, daß der Irre sich mit seinem Labor im Gebiet um Seattle niedergelassen haben müsse.) Die übrigen Ratsmitglieder waren jedoch zu sehr damit beschäftigt, einander abzuschätzen, und so hob er sich seinen Kummerpunkt für später auf. Ruckerman, dessen Student Beckett in Harvard gewesen war, war kaum auf Schwierigkeiten gestoßen, als er
seinen Musterschüler für das Team vorschlug. Das Auswahlgremium war ehrfurchtsvoll beeindruckt von Becketts Fähigkeiten und sonstigen Errungenschaften: Berater der Gesundheitsbehörde für Beulenpest; Weltklassemann in Segelregatten; Pilotenschein für Handelsflugzeuge mit Training in Jets (Major d. Reserve der US Air Force); als Hobby hatte er >hirn-verrenkend schwere< Puzzles, die er selbst zu erfinden und zu lösen verstand; in Beraterfunktion beim >DiascramblerWeiße Pest< eben nur den momentanen übergeordneten Zwang dar. Trotz der Tatsache, daß er die Amerikaner über seine lange gallische Nase verächtlich ansah, genoß Danzas in seiner Heimat den Ruf, ein Experte für alles Yankeehafte zu sein. Schließlich hatte er ja doch vier unendlich lange Jahre als Mitarbeiter an einem Forschungs-Austausch-Programm in Chicago durchgestanden. Und wo besser konnte man die absurde Lebensweise der >Ricains< studieren als in der Welt größter Rinderschlächterei? Danzas vermochte die irritierende Sprunghaftigkeit des Lebens zu akzeptieren, wo sie seine Lebensgewohnheiten beeinträchtigte, nicht jedoch in seiner Laborarbeit. Im Laboratorium erwartete Danzas stets, Augenzeuge der jungfräulichen Geburt, wenn nicht gar einer >unbefleckten Empfängnis< zu werden. Einem derartigen Augenzeugen oblagen bestimmte Verpflichtungen. So konnten zwei Beobachter ein und desselben Ereignisses schlechthin nicht mit zwei voneinander abweichenden Protokollen antanzen. Und dreißig Zeugen mußten unbedingt ein identisches Protokoll liefern. Diese Regel war unumstößlich. Kein Papst hätte sich eine zuverlässigere ausdenken können. In Frankreich kursierte die boshafte Bemerkung, Danzas sei nur in das Team gewählt worden, um einen Kontrasthintergrund für den zweiten Franzosen abzugeben, für Jost Hupp. Die Hornbrille Hupps, die leichte Froschäugigkeit, die jungenhafte Unbekümmertheit seines Gesichts, alles trug zu einem Gesamtbild bei, das zur Teilnahme einlud. Aber die Leute, die Hupp als einen Romantiker bezeichneten, übersa86 hen, daß unter der Oberfläche seiner phantastischen Welt Starkstrom floß. Er setzte seinen Romantizismus genauso ein, wie Beckett es mit seinem verklemmten Zorn tat. Wo Becketts inneres Leitbild ihn zu wütendem geistigen Streben antrieb, besaß Hupp eine angenehme >animabeeindruckendste< anwesende Persönlichkeit. Im Geheimdossier der Franzosen fungierte sie als einer der fünf, sechs besten medizinischen Köpfe der USA für das Fachgebiet, das ihr Großvater und Landarzt seinerzeit als >weibliche Beschwerden zu diagnostizieren gewohnt gewesen war. Unabhängig von den sowjetischen Delegierten, argwöhnten auch die Franzosen, daß sie Angehörige der Central Intelligence Agency sei. Man konnte nicht umhin, darüber nachzudenken, daß sie fünf Sprachen, darunter Französisch und Russisch, fließend beherrschte. Ariane Foss trug die goldblonden Haare über einem kleinen ebenmäßigen Gesicht in kurzen natürlichen Locken. Und obwohl ihr Leib mächtig war, wirkte er doch durchaus wohlproportioniert. Lepikow und Danzas fochten gerade ein Wortduell aus, wer von beiden die Oberhand gewinnen sollte, eine ärgerliche Show von gegenseitigem Überbieten mit wissenschaftlichen Qualifikationen, als wären sie bei einem Kartenspiel und 88 deckten die Karten auf, und dabei waren beide Gegner sich vollkommen im klaren, daß der andere ein paar starke Asse im Ärmel versteckt hielt. Lepikow war kurzgewachsen und untersetzt; die Haare standen wie eine graue Bürste über dem flachen Gesicht, das ein wenig mongolisch wirkte. Er war das bäuerliche Gegenstück zu dem aristokratischen Äußeren von Danzas, und dies war beiden wohl bewußt, und beide hielten es für einen persönlichen Vorteil. Dorena Godelinskij, das zweite Team-Mitglied aus der UdSSR, ließ mehr und mehr Anzeichen der Verärgerung über diesen Männerwettstreit erkennen. Sie war eine schmale Frau mit fast schon grauen Haaren und einer leichten Gehbehinderung, und sie war - wie sie vertrauten Freunden gegenüber oftmals klagte - mit >dem Gesicht einer Aristokratin geschlagenein ziemlich großes Hindernis für den Aufstieg in der Sowjethierarchie, wo man lieber schwere Bauernschädel siehtDorfhengst< tituliert... Was geht hier eigentlich vor - ein Spiel - deine Murmel gegen meine Murmel?« Lepikow funkelte Foss zunächst an, zwang sich aber dann zu einem Lächeln. Er hatte die pflichtgemäße Ochsentour als >Beobachter< an der sowjetischen Botschaft in Washington durchgestanden und glaubte Fosses Stichelei zu begreifen. »Also, hier habe ich die weißen Murmeln«, sagte er. »Bin ich denn nicht der hervorragendste Epidemiologe meines Landes?« Foss grinste ihn direkt und frech an. In dem Dossier der USA über Lepikow stand, daß er auf geradezu absurde Weise mit dem Problem der Funktionsfähigkeit seiner Leber beschäftigt war, und das war angesichts der Unmengen von Wodka, die er zu konsumieren pflegte (auch im Dossier ent89 halten), ein echtes Paradoxon. Seine diesbezüglichen alkoholischen Eskapaden waren dann jedoch stets begleitet von schweren Anflügen von Selbsthaß, von fast pathologischen Zuständen, während derer er sich mit nicht bloß seinem Zustand entsprechenden Spezifika vollstopfte, an die er dank seines Ranges als Mediziner herankam, sondern auch mit volksmedizinischen Hausmitteln und gigantischen Vitamindosen, was alles er in Fläschchen
und Röhrchen mit auf ganz harmlosen Inhalt hinweisenden Etiketten versteckte. Godelinskij murmelte, als sie die Prahlerei gehört hatte: »Du Bauer!« Sie hatte das englisch gesagt, was ihr sofort die Aufmerksamkeit der anderen eintrug. Beckett räusperte sich und zog sich näher an den Konferenztisch heran. In dem Bericht hatte gestanden, daß diese Godelinskij eine der besten Code-Brecherinnen der Sowjetunion sei, zugleich aber auch mit medizinischen Forschungen im Raumfahrtprogramm ihres Landes beschäftigt. Sie galt als hervorragende Diagnostikerin, und ihre Labormethoden galten als >hervorragendhalbe Schritte< waren, weil sie einfach nicht zu Denksprüngen fähig waren, und statt dessen lieber wie für den Abdecker reife Ackergäule weiter die alten Furchen pflügten ... Lepikow ließ den Blick auf Dr. Fosses breiten und recht wohlgeformten Busen gleiten. Was für ein Leib\ Insgeheim schwelte in ihm das Verlangen nach >mächtigen< Weibern, ganz geheim, und er fragte sich nun, ob ... nun, vielleicht ... »Es wäre mir sehr angenehm, wenn Sie aufhören würden, auf meinen Busen zu stieren«, sagte Foss. Lepikow riß sich von dem ausgedehnten Areal los und wandte seine Aufmerksamkeit dem sanften Lächeln in Hupps Gesicht zu. Aber Foss war mit ihm noch nicht fertig. Während sie die Löckchen auf ihrem Kopf betupfte, sagte sie: »Es ist mir durchaus bewußt, Doktor Lepikow, daß ich das größte Exemplar von einer Baby Doll im ganzen Universum bin ...« Lepikow weigerte sich, zu ihr hinzusehen. Unbeirrt fuhr sie fort: »Aber, bitte, Herr Kollege, kommen Sie dadurch nicht auf irgendwelche Ideen. Mein Mann ist nämlich noch stärker als ich. Und das ist auch von einer gewissen Bedeutung, denn ich schaff ihn noch jedesmal.« Diese idiomatische Wendung war Lepikow nicht bekannt. »Schaffen? Ihn?« Und dann wechselte Dr. Foss zu einem erdhaften russischen Idiom, in dem sie ihn wegen seiner mangelhaften Kenntnisse des Englischen abkanzelte. Er habe ja vielleicht eine vage Ahnung von weißen Murmeln und schwarzen, aber wohl sonst von nichts. Danach beglückte sie ihn mit einer detaillierten Beschreibung dessen, was sie mit seinen höchstpersönlichen Attributen zu tun beabsichtige, falls er es sich noch einmal erlauben würde, sie auf derart ungezogene Weise anzustarren. 91 Das bewirkte, daß die Godelinskij in perlendes Lachen ausbrach. Auf russisch mahnte Lepikow: »Würden Sie sich mehr Ihrer Stellung entsprechend verhalten?« Die Godelinskij schüttelte in hilflosem Kichern den Kopf und sagte dann russisch zu Dr. Foss: »Er gehört zu der neuesten Zucht in Rußland. Man züchtet sie auf Fett und unverbrüchliche Hingabe an die Prinzipien der Macht und der sexuellen Leistung.« Beckett mußte sich einmischen: »Es gibt hier Konferenzteilnehmer am Tisch, die kein Russisch verstehen. Außerdem haben wir zu arbeiten!« Immer noch russisch sagte die Godelinskij: »Völlig richtig. Ihr zwei, ihr führt euch jetzt anständig auf! Du, Sergej! Also ich kenne da Geschichten über dich, die du hier nicht so gerne hören würdest. Also sei gewarnt! Und Sie, Mrs. Foss! Es erstaunt mich, daß eine so schöne Frau wie Sie überhaupt Kenntnis von solchen sprachlichen Niederungen hat!« Dr. Foss grinste und zuckte die Achseln. Lepikow gab sich den Anschein, amüsiert zu sein. »Es war nur ein Witz.« Beckett begann aus dem Aktenköfferchen Papiere zu ziehen und sie vor sich auf dem Tisch zu arrangieren. Noch immer in einem leichten Siedezustand, wurde Lepikow sich klar, daß man ihn auf den zweiten Rang verwiesen hatte. Er brütete darüber nach, ob die Foss und die Godelinskij das vielleicht absichtlich getan hatten? Oder dieser Danzas vielleicht? Und der Hupp, der schmunzelte so in sich hinein! Das sowjetische Dossier über Hupp wies darauf hin, daß er sich als Ziel für Subversionsversuche geradezu anbiete. Aber konnte das stimmen? Hupp war ehemaliger Student der UCLA, der University of California in Los Angeles, gewesen, und dort hatte
man ihn oft fälschlich für einen Südamerikaner gehalten, ja er hatte sich sogar einem lateinamerikanischen Politklub angeschlossen. Hupp, in seiner Art von dünnhäutiger peitschenschnurhafter Männlichkeit, war genau der Typ, dem Lepikow mit größtem Mißtrauen zu be92 gegnen gelernt hatte - diese dunkle Haut... diese feuchten, weichen braunen Augen. Die Augen einer Kuh! »Er ist Sozialist mit gewissen Neigungen, den Schwächen des Fleisches nachzugeben«, hatte in dem Dossier über Hupp gestanden. Und weiter hieß es in dem Bericht, er habe auf junge blonde Studentinnen an der UCLA eine nahezu unwiderstehliche Wirkung ausgeübt, die von dem fanatischen Drang besessen waren, das zu tun, was sie als >fuck for the peace< bezeichneten. Lepikow warf der Godelinskij, der man ihr Alter anzusehen begann, einen versteckten Blick zu. Dann der statuenwuchtigen Foss. War es denkbar, daß hinter dem allem mehr steckte, als auf Anhieb sichtbar wurde? Beckett blickte kurz auf ein Blatt Papier, das vor ihm auf dem Tisch lag, und damit hatte er den Vorsitz über das Team übernommen. »Ich bin beauftragt worden, Ihnen zu sagen«, begann er, »daß wir nicht das zentrale Untersuchungsgremium sind.« Die Godelinskij sagte: »Aber man hat uns dahingehend unterrichtet ...« »Warum sind wir das nicht?« fragte Dr. Foss energisch. »Inzwischen arbeiten fünfundachtzig bedeutende Forschungsgruppen in der ganzen Welt an diesem Problem«, sagte Beckett. »Wir haben über Teleprinter und TV-Konferenzschaltungen über Satellit ständig Kontakt. Ungefähr morgen nachmittag wird uns eine Kommunikationstruppe nebst Sekretärinnen hier am Ort zur Verfügung stehen, dazu mindestens dreißig Labortechniker. Allerdings wird es zwei verschiedene ClearingStellen für die Interkommunikation geben, eine in Berlin-Ost für ganz Europa, die andere in Washington, D.C.« »Diese Politiker!« kläffte Dr. Foss. Beckett überging den Ausbruch. »Der erste Punkt auf unserer Liste: wie gehen wir es an, um ein psychophysiologisches Profil von unserem Verrückten zu erstellen? Inzwischen sind die Beweise überzeugend, daß es sich um diesen John Roe O'Neill handelt.« »Was für Beweise?« wollte die Godelinskij wissen. 93 Hupp hob leicht die Hand. »Es paßt doch alles zusammen: die Namen seiner Kinder, und seiner Frau, und dann dieser besondere Erfahrungsbackground als Molekularbiologe.« »Aber wir haben sein Labor noch nicht ausfindig machen können«, sagte Beckett. »Trotzdem, es gibt immer stärkere Beweise dafür, daß es irgendwo im Gebiet von Seattle gewesen sein muß.« »Nicht in Kansas?« fragte Danzas. »Das war ein vorläufiger Bericht«, erklärte Beckett. »Das hat man eliminieren können.« »Sind Sie im Besitz des neuesten Background-Überblicks?« fragte Hupp. Und Beckett ließ die Kopien von einem kleinen Stapel von Texten vor sich herumreichen. »Es wird Ihnen auffallen, daß seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen, genau in dem Jahr, in dem er die Universitätsreife erlangte. Er wurde von den Großeltern mütterlicherseits erzogen. Der Großvater starb, während O'Neill noch auf dem College war. Die Großmutter erlebte es noch, daß O'Neill an der Spitze seiner Klasse maturierte. Sie hinterließ ihm eine bescheidene Erbschaft und den Familienbetrieb der Familie McCarthy.« »So viele Tote«, brabbelte Lepikow in sich hinein, während er auf das Blatt Papier vor seinen Augen blickte. »Ja, eine nicht gerade vom Glück begünstigte Familie«, pflichtete Beckett ihm bei. »Einzige Überlebende, diese Tante in der Seniorenklinik in Arizona. Fast jedesmal war sie überzeugt, daß man sie über ihren toten Mann ausfragen wollte.« Hupp meldete sich: »Es wird also von uns verlangt, daß wir entscheiden, wie weit wir gegen den Verrückten vorgehen können, ohne daß er seinen Zorn auf die übrige Welt losläßt.« Der Bemerkung folgte ein langes Schweigen. »Sie alle haben seine Drohungen gelesen«, sagte Beckett dann. »Eine Totmann-Schaltung«, sagte Lepikow dann. »Ein Schaltmechanismus oder eine technische Anlage, die eine neue Pest über die ganze Menschheit loslassen würde, sollte der Verrückte gefangen oder getötet werden.« 94 »Also sind uns die Hände gebunden?« fragte Dr. Godelinskij. Hupp sagte: »O'Neill weiß doch ziemlich sicher, daß wir nicht so einfach ignorieren können, was er inzwischen angerichtet hat.« »Uns bleibt ein gewisser Freiraum«, sagte Beckett. »Hier, unser ... - ähemm, derzeitiges Arrangement - geheim und hervorragend ausgerüstet.« »Aber er warnt ja gerade vor dem, was wir hier tun«, sagte Lepikow. »Und wir werden >seinen Zorn< zu spüren bekommen, wenn wir ihm nicht gehorchen.« Mit milder Stimme sagte Danzas: »Und genau deshalb halten wir uns ja hier versteckt.« Lepikow sagte: »Meine - Mitarbeiter in der Sowjetunion sind der Überzeugung ... dieses DIC wurde ausgewählt, weil es nicht in Europa liegt, wo die Gefahr einer Ausbreitung der Seuche viel wahrscheinlicher ist.« Danzas spielte mit seinen Pranken, die auf dem Tisch lagen, während er sich an Beckett wandte: »Ich bin mit der Überzeugung hierher gekommen, daß dies hier der ideale Ort sei für einen geheimen und gemeinschaftlich
koordinierten Gegenschlag gegen diese Seuche. Man hat mir versichert, hier würden die Gegenmaßnahmen zentral gesteuert und koordiniert.« »Man hat die Pläne geändert«, sagte Beckett. »Aber ich habe sie nicht geändert.« »Gottverdammte Bürokraten!« fauchte Dr. Foss. Becketts Gesicht blieb nach wie vor ausdruckslos und freundlich. Er sagte: »Das DIC kann sich recht gut zum Mittelpunkt der vereinten medizinischen Bemühungen der Welt mausern.« »Aber zuerst laufen wir selbst mal durch die Filtrierschleuse, was?« fragte Hupp. »Zuerst werden wir uns bemühen, unseren Gegner zu verstehen ... Diesen Mann, nicht etwa seine Seuche«, sagte Beckett. »An welcher Stelle wurde diese Entscheidung gefällt?« fragte Dr. Godelinskij. 95 »Auf höchster Ebene«, sagte Beckett. »Die Mehrzahl der anderen Gruppen arbeiten meiner Information nach ebenfalls auf diese Weise und gleichzeitig an dem Problem, wie der Mann seine Seuche verbreiten konnte. Hier liegt die höchste Priorität. Können wir ihn irgendwie abriegeln und ihn offen auf allen Fronten verfolgen?« »Und morgen, wir beginnen mit der Arbeit auf dem medizinischen Sektor, nein?« wollte Danzas wissen. »Wenn die Techniker kommen?« »Ja, das auch«, sagte Beckett. »Auch!« murrte Dr. Foss. »Ich habe keine dahingehenden Anweisungen erhalten«, sagte Lepikow. »In Ihrem Zimmer gibt es ein Telefon«, sagte Beckett. »Sie dürfen es gern benutzen.« »Und wer sonst wird mir noch zuhören?« fragte Lepikow. »Oh, unsere Geheimdienste und die Ihren«, antwortete Beckett. »Wen kümmert das jetzt schon? Rufen Sie Ihre Chefs an und lassen Sie sich Ihre Befehle geben!« »Geheimhaltung ist unsere einzige Hoffnung«, sagte die Godelinskij. »Wenn der Mann wirklich geistesgestört ist, dann können wir über ihn keine Prognosen aufstellen.« »Aber wer bezweifelt denn, daß er verrückt ist?« fragte Dr. Foss. »Er hat die ganze Erde verrückt gemacht, nicht bloß die Politiker, obwohl die ja sowieso ...!« Es ist ohne Zweifel gefährlicher, in Unwissenheit zu leben als im Besitz von Wissen. PHILIP HANDLER Ganz ohne besonderen Stolz gestand John sich ein, daß sein Laboratorium im Keller des Hauses in Ballard ein Wunder an Erfindungsreichtum war. Die Zentrifuge, die er aus einem Felgenauswuchtungsgerät improvisiert hatte, war ihn weniger als tausend Dollar zu stehen gekommen. Sein Tiefkühlapparat war ein ganz gewöhnliches Markenprodukt für eine 96 Hausbar, das er auf den Rücken gelegt und mit einem Eichthermometer versehen hatte. Es zeigte auf ein Grad Celsius genau an. Er hatte peristaltische Druckpumpen aus Tauchausrüstungen improvisiert. Sein Zellenspalter war ein adaptiertes Sonargerät, gebraucht, von einer Segeljacht. Das Elektronenmikroskop, ein Modell mit zwei Phasen und einer Auflösung von dreißig Angström (ISI), kostete ihn am meisten - an Zeit und Geld. Er erhielt es im Rahmen eines kommissionierten Diebstahls von der Unterwelt in San Francisco und berappte dafür fünfundzwanzigtausend Dollar. Und so ging es mit der übrigen Ausrüstung des Labors weiter. Die Negativdruckkammern bastelte er aus Sperrholz und Plastikfolie selbst. Die Luftschleuse wurde durch zwei kleine Bootsluken abgedichtet, wodurch er sich gezwungen sah, jeweils kriechend die Kammern zu betreten und zu verlassen. Aber dies war die einzige größere Unannehmlichkeit bei der ganzen Sache. Noch ehe sein Labor fertiggestellt war, arbeitete John an seinem Computer, er erstellte die farbechten Grafiken der Molekularmodelle, auf die er sich konzentrieren würde. In parallelen Computerspeicherschaltungen programmierte er alle Daten ein, die er ausgraben konnte, über die Funktionsweise von gängigen Drogen im menschlichen Körper. Besonderes Augenmerk legte er auf die veröffentlichten Fakten über Enzyme und spezifische DNS-Rezeptoren. Er stellte befriedigt fest, daß viele der wichtigsten Erfordernisse für eine Molekularkartographie sozusagen als >Konserven< erhältlich waren - auf Computerscheiben oder als gespeicherte Programme, die man käuflich oder durch Diebstahl an sich bringen konnte. Als dann sein Laboratorium fertig eingerichtet war, hatte er seinen Computer mit den Elementarbausteinen für sein Projekt gefüttert. Er empfand eine fast hypnotische Faszination, wenn er vor dem Kathodendisplay saß und die Doppelspiralen der Primärhelix sich auf seinen Befehl drehen und verdrehen sah. Die roten, grünen, violetten und gelben Linien nahmen da ein Eigenleben an. Sein Hirn und das Display stürzten in eine 97 Art Einheitsraum, innerhalb dessen es schwerfiel, das auseinanderzuhalten, was in seinem Gehirn vorging, was auf dem Bildschirm. Manchmal kam es ihm so vor, als schüfen seine Hände an den Kontrollschaltern des Computers die Bilderfolgen in seinem Kopf, oder aber die Bildhaftigkeit bestünde vorab in seinem Kopf und zeige sich dann, wie durch ein Wunder, auf dem Schirm. Es gab Augenblicke, in denen er wirklich glaubte, daß er in der Sprache des Gencodes rede, daß er auf ganz bestimmte Stellen der DNS-Moleküle einrede ...
In solchen Perioden verblich das Bewußtsein der tatsächlichen Zeitabläufe aus seinem bewußten Denken. Einmal kroch er aus der Luftschleuse, kam taumelnd auf die Füße und stellte fest, daß draußen gerade die Dämmerung angebrochen war. Als er es nachprüfte, fand er, daß er ununterbrochen seit sechsunddreißig Stunden gearbeitet und dazwischen nur hin und wieder einen Schluck Wasser getrunken hatte. Er verspürte schmerzhaften Hunger, und er zitterte so sehr, daß seine Hände mit fester Nahrung nicht zurande kamen, ehe er eine Litertüte Milch ausgetrunken hatte. Die Genstruktur jedoch, die er erkennen und begreifen mußte, begann sich langsam vor ihm zu entschleiern sowohl auf dem Bildschirm wie in den computerüberwachten Ergebnissen seines Labors. Er wußte mit Sicherheit, daß es nur eine Frage der Zeit sein konnte, bis es ihm gelingen würde, den passenden Molekülschlüssel in das entsprechende biologische Schloß einzuführen. Die Antworten warteten hier auf ihn, in seinem Labor und in seinem Gehirn. Sie warteten nur darauf, daß man sie aufbreche und in ihre eigene Realität überführe. Die Nukleotiden-Sequenzen der DNS trugen den gesamten Informationscode für jegliche Biofunktion mit sich, in sich. Es war also nur ein Problem, diesen Code zu brechen. Ohne den Computer wäre er verloren gewesen. Er mußte im Einzelfall vielleicht mit einer Zahl zwischen viertausend und zwanzigtausend Genen arbeiten. Und die kartographierten Anordnungen dieser Gene und der in ihnen gelagerten 98
DNS-Codes konnten sich zu einer Zahl von über einer Million Gene potenzieren. Aber natürlich brauchte er nicht alle diese Gene - nur die Schlüsselgene, deren Codierung in den besonderen Nukleotiden-Sequenzen gespeichert war. Durch Aufspaltung, durch Enzymfraktion und durch wärmekontrollierte Trennung per Kollimatoren und Zentrifuge tastete er sich zu den Bruchstücken vor, die es, wie ihm seine Kombination von Hirn-und-Computer gesagt hatte, da geben müsse. Es dauerte gar nicht lange, und er war in der Lage, verschiedene Ribosomen-RNS und Träger-RNS aus seinen eigenen DNS-Schablonen zu formen, indem er auswählte oder als unbrauchbar verwarf und die Kontrollstellen in den Genomen zu entdecken versuchte. Denn diese und die Regulationsproteine waren die wichtigsten Zielpunkte, auf die er sich konzentrierte. Nach etwa zwei Monaten Arbeit an seinem Projekt erkannte John, daß er einen Sondervorrat an natürlicher DNS für die Polymerisationszyklen benötigen werde. Die DNS würde biologisch aktiv sein müssen, und sie würde genau die Trägersubstanz bringen müssen, die er benötigte. Man konnte sich einfach nicht um die Tatsache herummogeln, daß das DNS-Material sich paarweise übertrug, wobei jedes Teilpaar das Spiegelbild seines Gegenstückes war. Oft hatte er Kopfschmerzen, wenn er über das Problem und die Lösung nachdachte. Trotzdem durfte er nicht die unmittelbar anstehenden Notwendigkeiten außer acht lassen. Er riskierte damit, entdeckt zu werden. Es war gefährlich - aber er sah nirgendwo eine andere Möglichkeit. In nur einer Sitzung mit seiner Fälscherausrüstung produzierte er sich eine fast echte Identität als ein gewisser John Vicenti, Dr. med., vom Staatlichen Gesundheitsamt. Schon vorher hatte er sich in weiser Voraussicht für das, was sein Projekt erfordern würde, eine kleine Handdruckerpresse erworben, und damit stellte er nun recht brauchbare Briefköpfe her. Auf die Papiere tippte er Genehmigungsvollmachten und kritzelte eine unleserliche, bürokratisch-offiziell wir99 kende Riesenunterschrift darunter. Er kaufte sich eine dunkle Perücke, tönte seine Haut olivbraun und kämmte jeden Tag die Zeitungen nach Terminen für Impfaktionen in Schulen durch. Seine Chance kam innerhalb einer Woche, und es handelte sich um die Ankündigung einer Impfaktion in der West Junior High School am folgenden Montag. Er trug einen weißen Kittel, das Stethoskop ragte aus einer Seitentasche hervor, und auf dem Revers prangte ein Namensschild, das ihn als Dr. John Vicenti ausgab, als er ziemlich früh in der Schule erschien. Es war ein kalter Wintermorgen, und in den Gängen drängten sich die Schüler in dicken Winterjacken. Er glitt durch das laute Gebrabbel, ohne daß jemand ihm mehr als nur einen beiläufigen Blick zugeworfen hätte. In der linken Hand trug er ein sorgfältig konstruiertes Holzkästchen, in dem Reihen von sterilisierten Glasträgern verstaut waren und all die anderen für Blutproben nötigen Instrumente und Zubehörteile. In der linken Hand hielt er die Brieftasche mit seinen Ausweisen parat. Mit, dem Gehabe eines vom Staat bestallten Beamten stürmte er in das Zimmer der Schul-Krankenschwester, einer gewissen Jeannette Blanquie, wie aus dem Namensschild an der Tür hervorging. »Hallo«, sagte er, ganz die Harmlosigkeit in Person. »Ich bin Dr. Vicenti. Wo kann ich meine Sachen aufbauen?« »Aufbauen?« Schwester Blanquie war eine schlanke Blondine, und sie sah so aus, als bedrängte etwas sie unablässig. Sie stand hinter einem langen Tisch, auf dem die Impfutensilien ordentlich aufgereiht dalagen. Am Unterende des Tisches stand ein leerer Stuhl, und vor ihm lagen zwei Stapel von Formularen. Auf der Wand hinter der Schwester prangten zwei Dinge: ein Kalender und zwei Grafiken, die eine >jugendfreie< Version der menschlichen Anatomie unter dem Etikett >weiblich< und >männlich< darboten. »Es ist wegen der Blutabnahme«, sagte er und setzte seinen Holzkasten und die Brieftasche daneben auf dem
Tisch ab. Dann zeigte er seine Personaldokumente vor und die (gefälschte) Order. Schwester Blanquie warf nur einen flüchti100 gen Blick darauf, und ihr Gesichtsausdruck wurde noch gestreßter, sofern das möglich war. »Blutproben ...« murmelte sie. »Wir sollen das in Übereinstimmung mit Ihrem Impfprogramm durchführen«, sagte er, »um den Unterricht an der Schule so wenig wie möglich zu stören.« »Man hatte mir versprochen, daß ich zwei klinisch-technische Assistenten kriege, heute morgen, die mir helfen sollen«, sagte sie. »Der eine hat gerade angerufen und gesagt, er sei krank, und die andere hat irgend so einen Notdienst im Good Samaritan. Und jetzt kommen Sie auch noch an! Das fehlt mir grad noch! Wozu diese Blutproben?« »Wir machen eine landesweite Gentypenuntersuchung, um herauszufinden, ob es identifizierbare Korrelationen zwischen bestimmten Krankheitsbildern und Impfungen gibt. Ich soll hier Ihre Identifikationsziffern benutzen, keine Namen. Alles was ich dazu dann noch haben muß, ist, ob die Probe von einem männlichen oder weiblichen Spender stammt.« Die Stimme der Frau klang müde. »Dr. Vicenti, kein Mensch hat mir auch nur das geringste gesagt.« Sie deutete auf ihren Tisch. »Und ich soll heute hier zweihundertundsechzehn Schüler durchschleusen - und morgen noch mehr.« Er knirschte mit den Zähnen. »Verdammt! Das ist jetzt schon der zweite fehlgelaufene Einsatz von denen in zwei Wochen! Also, ich glaube, in dem Amt sollte jemand ganz schnell gefeuert werden!« Schwester Blanquie wackelte mitfühlend mit dem Kopf. Er sagte: »Also, wie kann ich Ihnen weiterhelfen? Vielleicht können wir uns einen Studenten rüberholen, der dann den Papierkram erledigt...« »Darum habe ich mich schon bemüht«, sagte sie. Sie schaute auf die vor ihr liegende Tabelle. »Wäre es Ihnen möglich, Ihre Untersuchungsapparatur hier neben mir aufzubauen? Was für Proben werden Sie nehmen?« Er machte seinen Koffer auf, zeigte ihr die Reihen mit den Reagenzgläsern, Glasträgern, die Tupfer, den Desinfektions101 alkohol, die Nadeln, die Lanzetten. Und alles sah so sehr ordentlich aus. »Oh«, sagte die Schwester. »Also dann werden wir ja nicht übermäßig aufgehalten werden, Doktor. Ich glaube, wir zwei können das ganz gut rasch gemeinsam erledigen.« Als >Dr. Vicenti< an diesem Abend nach Ballard zurückkam, verfügte er über zweihundertundelf Blutproben, in denen jeweils eine winzige Hautgewebeprobe (Zellgewebe) raffiniert miteingeschlossen war. Es wird spezifische Unterschiede geben, sagte er zu sich, während er im Badezimmer die Maske ablegte. Das Bad stank noch immer nach schalem Tabakrauch. Die genetische Information für jede biologische Funktion - so etwa, ob die Person weiblichen oder männlichen Geschlechts ist. Aber da gibt es ein Grundmuster, in das ich einen virulenten Zerstörungsfaktor einbauen kann. Diese positive Wechselformungswirkung der Doppelhelixketten, bei der jede Seite in der Lage war, ihr Gegenstück zu reproduzieren, ja, da lagen die Schlüssel für ihn. Vielleicht in den Peptidbindungen und in den Einzelausläufern, die aus der Spirale hingen. Er nahm die Proben mit in sein Labor hinunter. Die Antworten mußten einfach hier liegen, versicherte er sich selbst. Sie lagen in den DNS-Mustern. Mußten dort sein. Wenn ein bakterielles Virus ein Bakterium infizierte, dann war es die DNS, nicht sein Protein, die in die Bakterienzelle eindrang. Hier hatte er den Träger, den Boten, den er brauchte, um John O'Neills Racheschrei überall Gehör zu verschaffen. Die Technik, wie er seine Ergebnisse überprüfen könnte, war bereits ausgearbeitet. Sie würde äußerst elegant sein. Er würde dazu kurzlebige virusvermittelte Bakterienstämme benötigen, Bakterien, die bei einer ausgewählten Bevölkerungsgruppe sichtbare Wirkungen zeitigen konnten. Die Auswirkungen würden identifizierbar und erkennbar sein müssen, nicht tödlich, jedoch bedeutend genug, um Aufsehen zu erregen. Die Testbazillen würden mit einem automatischen Letalfaktor versehen sein müssen, sie würden sich selbst zerstören und verschwinden müssen. 102 Diese Erfordernisse, die vielleicht ein großes Forschungszentrum entmutigt haben würden, ließen ihn nicht einmal zögern. Er war besessen von einem Gefühl der Unbesiegbarkeit. Das alles war nur ein erster Schritt, eine Stufe zum Gipfel des Erfolges seines Projekts. Wenn er den Schlüssel zu diesem Schloß gefunden hatte, wenn er ihn identifiziert hatte, dann konnte er damit beginnen, diesen Schlüssel zu einer virulenteren Form umzubauen. Und dann - konnte seine Botschaft in die Welt gehen! >Das ist nicht mein Bier.< So lautet das allumfassende Mantra der westlichen Welt. Und nun schaut, was uns das eingebracht hat. FlNTAN CRAIG DOHENY Das Team fand sich an diesem Tag, dem ersten, und die Hackordnung war bereits schön etabliert, nach dem Mittagessen wieder zusammen: Beckett war Leithammel, Lepikow köchelte beleidigt vor sich hin, die Godelinskij schwankte intuitiv durch das Labyrinth ihrer Fragen, Danzas war zurückhaltend und aufmerksam,
Hupp schoß wie ein Terrier hinter jeder neuen Idee her, und die Foss hockte nur wie eine erhabene Göttin da. Es amüsierte Hupp, daß man die intimere Beleuchtung wählte, als man sich wieder versammelte. Das Licht fiel nun nur noch auf den langen Konferenztisch und hüllte den übrigen Raum in vage Schatten. Das Team drängte sich lose an einem Ende des Tischs zusammen, man breitete die Notizen und Aktenköfferchen um sich herum aus. Der Hahnenkampf zwischen Danzas und Lepikow hatte inzwischen subtilere Formen angenommen -eine hochgezogene Augenbraue, ein sanftes Hüsteln im unpassenden Augenblick. Danzas sortierte seine Unterlagen immer wieder neu, während Lepikow redete. Lepikows Animosität gegenüber Dr. Foss hatte sich zu verstohlenen 103 feuchten Blicken aus anklagenden Kalbsaugen gemildert, die es strikt vermieden, sich auf Dr. Foss' üppige Brustpartie zu richten. Die Godelinskij hatte sich offenbar, sozusagen als >Schwester vom selben Geistthe Bloody AmnestyDorieFeigheitPachtfolterangemes107 sener Vergeltung< nehmen in seinen Briefen Gestalt an«, bemerkte Dr. Foss. »Genau!« sagte Hupp. Danzas fuhr fort: »An anderer Stelle definiert unser Verrückter die Terroristen als mit der Schuld des Pilatus beladen.« »Ist das nicht auch, wo er Terroristen als Adrenalinsüchtige bezeichnet?« fragte Beckett. »Ihre Erinnerung täuscht Sie nicht«, sagte Danzas. »Seine genauen Worte sind wie folgt: Sie verursachen Todesqualen und waschen sich dann die Hände in heuchlerischem Patriotismus. Ihr wahres Verlangen geht auf persönliche Macht aus, auf den geheimen Kick einer Adrenalineuphorie. Sie sind einfach Adrenalinsüchtige.« »Aber hat er seine Euphorien?« fragte Hupp. »Eine Diatribe«, sagte Dr. Foss. »Da haben wir O'Neill -und er rast gegen die Mörder seiner Familie.« »Die legitime Anwendung von Gewalt«, murmelte die Godelinskij. Lepikow warf ihr einen bestürzten Blick zu. »Wie?« »Ich zitiere den Genossen Lenin«, sagte die Godelinskij. »Er hat den legitimen Einsatz von Gewalt gebilligt.« »Aber wir sitzen nicht hier, um über Ideologie zu debattieren«, knurrte Lepikow. »Aber genau dazu sind wir da«, konterte Hupp. »Und der ideologische Background des Verrückten sollte uns in jeder wachen Minute beschäftigen!« »Wollen Sie damit andeuten, daß Lenin verrückt war?« fragte Lepikow scharf. »Das steht hier nicht zur Debatte«, sagte Hupp. »Aber wenn man eine Ausprägungsform des Wahnsinns in einem Menschen versteht, dann wirft das auch Licht auf andere Formen und Menschen. In der Wissenschaft gibt es keine heiligen Kühe.«
»Ich gedenke nicht, hinter diesem kapitalistischen Hering als Ablenkungsmanöver herzuschwimmen«, knurrte Lepikow. Hupp grinste. »Sergej, die authentische idiomatische Wendung heißt >roter HeringProvosOststaatlerHereinlegen< von Touristen und anderen Fremdlingen kreisten. 118 Diese plötzliche Erkenntnis verriet Beckett, wie er am besten mit Danzas zusammenarbeiten können würde, wo die Stärken dieses Mannes herauszulösen waren und wie sie am besten eingesetzt werden konnten. Also kein Höflichkeitsgewäsch. Zeig dich als Sympathisant seiner Vorurteile. Übertrage ihm die Organisation von wichtigen Schlüsselfunktionen in unserem Projekt. Ich muß unbedingt herauskriegen, was er am liebsten ißt, dachte Beckett. Ohne daß er sich bewußt darauf konzentriert hätte, war Beckett bereits dabei, seine >Streitkräfte< aufzustellen, das Team zu einem funktionierenden Muster zusammenzustellen, um aus allen das Beste herauszuholen sozusagen in dem Sinn, daß das >Ganze< sich dadurch als größer erweisen möge als die Summe seiner Teile. Preis und Ruhm! Preis und Ruhm! Unsern Freiheitskämpfern von der Fein! Ballade von PEADAR KEARNEY Zwei Wochen vor seiner >Demonstration< auf Achill Island war John schon bereit, seinen Schlupfwinkel in
Ballard aufzugeben. Er war sich darüber im klaren, daß er seine Spuren sorgfältig würde verwischen müssen. Die Suche nach ihm würde gewaltig, ja international sein. Und weil die Nachforschungen so massiv sein würden, bestand die Gefahr, daß sie möglicherweise schon bald auf die Adresse stießen. Der Druck, der auf jede Person ausgeübt werden würde (darunter möglicherweise auch auf seinen Lehrmeister im Paßfälschen in St. Louis), ließ es als garantiert erscheinen, daß nichts auf längere Sicht geheim bleiben würde. Er gab sich keinerlei Illusionen hin, daß Regierungen, die sich seinen Befehlen fügten, ihn nicht auch aufzuspüren versuchen würden. Den neuen Paß fertigte er mit höchster Sorgfalt an. Er benutzte dazu Marys Paß, den er aus ihrer Brieftasche nahm, in 119 der auch John O'Neills Paß und die Ausweise der Zwillinge steckten. Warum er gerade den Ausweis Marys wählte, hätte er nicht zu sagen vermocht. Die nichtbenutzten Ausweise hingegen versteckte er sorgfältig im Futter seines Handkoffers. Aber während er an der Fälschung arbeitete, erinnerte er sich auf einmal, daß Mary gesagt hatte, die Zwillinge würden sich sicher sehr wichtig vorkommen, wenn sie jeder einen eigenen Paß besäßen. Die Erinnerungsstücke standen seltsam verschoben vor ihm. Er kam sich vor wie ein heimlicher Lauscher, oder wie einer, der unerlaubt die geheimen Freuden und Lüste eines Mitmenschen belauert und sich frech in privateste Dinge drängt. Aber er erinnerte sich auch an die Riesenfreude der Zwillinge, wie sie ihre Paßfotos verglichen, mit ihren Lese- und Schreibfähigkeiten angaben und ihren Namen, von der eigenen Wichtigkeit tief überzeugt, genau auf die punktierte Linie schrieben. Als er Marys Paß chemisch gesäubert hatte, überkam ihn das Gefühl, daß er sie nun noch mehr aus der Welt der Lebendigen gestoßen habe. Er griff in das Geheimfach des Koffers und betrachtete sich die drei blauen Büchlein mit dem goldenen Emblem. Die Pässe waren Realität. Aber was von dem Menschen, den sie angeblich erfaßten, war da noch wirklich? Wenn er nun alle löschen würde, würden damit auch die Menschen nicht-wirklich? Er prüfte die Perforation-Codierung in Marys Paß. Das fröhliche Gelächter, die Aufregung, als die Pässe zugestellt worden waren, bildeten einen Teil dieses endlosen Films, der in seinem Schädel ablief. Er sah, wie Mary den beiden Kleinen ihren Paß gab, jedem den seinen, zuerst Kevin, dann Mairead. »Sie sind Personen«, hatte sie gesagt, »und jetzt haben sie den Personalausweis, mit dem das bewiesen ist.« Wie klug sie ist ... Er steckte die drei nichtbenutzten Pässe in ihr Versteck zurück und wandte sich wieder dem zu fälschenden Paß zu. Er fieberte ein wenig und überlegte, ob er sich vielleicht irgend etwas bei seiner Arbeit drunten im Kellerlabor aufgeschnappt 120 haben könnte. Aber, nein. Er hatte seinen Körper sehr genau abgeschirmt. Das gehörte schließlich zu seinem Endziel. Es war tatsächlich so, als hielte ihn nur dieses Endziel im Leben fest. Alles andere wich ihm aus, verdünnte sich zu Projektionen, glitt in diese absurden filmischen Erinnerungsbruchstücke hinüber. Nein, es war nur die Eile, mit der er handeln mußte, die ihn fiebern ließ. Fast konnte er spüren, wie die Zeit ihm im Nacken saß. Die verhängnisschwangeren Briefe lagen fast alle schon bereit und konnten bald auf den Weg gebracht werden. Er knipste die Lampen in dem engen Kellergang an, der von der Küche hinunterführte, und trug Marys Paß in sein Labor hinunter. Die Stufen knarrten unter seinem Gewicht, und er fragte sich, wie spät es sein mochte. Draußen war es dunkel. An den bloßliegenden Pfosten, wo die Treppe eine Biegung machte, hing das Netz einer Spinne. Wie oft bin ich diesen Weg schon gegangen? Er hatte das Gefühl, als habe er immer hier gelebt, als habe er diese knarrenden Treppenstufen schon immer gekannt. Hier war der einzige Ort, an dem John McCarthy jemals lebendig gewesen war, und das Labor im Keller stellte sein Identitätsgefühl wieder hier. Es war zu einem fundamental wichtigen Bereich seines Lebens geworden: die weißgestrichene Arbeitsbank mit den drei Bunsenbrennern, die selbstgemachte Zentrifuge in der Ecke, der Autoklav, der aus einem Dampfdrucktopf gebaut worden war, der Brutofen mit dem Präzisionsthermometer zur Kontrolle einer konstanten Umweltwärme, das Elektronenmikroskop, die Petrischalen, die steril in Tupperware-Boxen vor sich hinbrüteten ... Er konnte hören, wie die Farbkompressorpumpe stotternd ansaugte, um das Vakuumsystem zu aktivieren, das dann von der Pumpeinrichtung des Tauchgeräts stabil gehalten wurde. Aufmerksam beugte er sich über sein Fälschungsobjekt. Jede kleinste seiner Bewegungen war behutsam und präzise. Sein Fälscherlehrmeister hatte recht gehabt. Er besaß das Talent für so etwas. Und dann lag es da, direkt vor ihm: eine neue Identität. Nur die schmerzhafte Verspannung in seinem Rücken ließ ihn erkennen, daß ziemlich viel Zeit verstrichen 121 war. Er schaute auf seinen Unterarm, dann fiel ihm ein, daß er seine Uhr droben neben der Küchenspüle abgelegt hatte. Aber das war unwichtig ... Dieses Fiebergefühl von dringender Eile war verschwunden. Und John Garrett O'Day war soeben geboren worden. Da war er - beweiskräftig in diesem falschen Paß: ein kahlköpfiger Mann mit einer Schnurrbartbürste und dunklen Augen, die einen aus dem Fotoviereck intensiv anstarrten. John starrte auf sein neues Selbst zurück. John Garrett O'Day. Er fühlte sich bereits wohl als John Garrett O'Day.
Auf der O'Neill-Seite der Familie hatte es O'Days gegeben. Und da war er ja schließlich leibhaftig, auf diesem Foto. John hatte das Gefühl, als habe er sich weiter und tiefer in sein Ahnenerbe zurückgezogen, viel weiter fort von John Roe O'Neill ... als habe er diesen Mann nun noch viel endgültiger und schärfer von sich abgetrennt. Man würde Fachleute auf die Spuren O'Neills setzen, und wahrscheinlich noch viel mehr Spürhunde auf das, was John McCarthy getan hatte. Aber diese zwei Männer gab es nicht mehr. Kein O'Neill, kein McCarthy. Es gab nur noch O'Day. Und O'Day, der würde sehr bald weit weg sein. Auf einmal würgte ihn ein Hungergefühl. Er kroch durch die Luftschleuse, versiegelte sie hinter sich und verschloß das Labor. Es war taghell draußen. Auf seiner Armbanduhr auf dem Trockenbord am Spülstein las er die Zeit ab: 9 Uhr 36, und er wußte, das mußte ein Morgen sein. Als er ins Labor gegangen war, war es dunkel gewesen. Ja. Samstagmorgen. Und nur zwei Wochen später war der Zeitpunkt, an dem Achill Island zu einem schrecklichen Tag der Rache erwachen würde. Danach würden dann die Briefe mit der Erklärung und den Warnungen eintreffen. Ja, seine Armee marschierte bereits. So sah er das, was er nach Irland, Großbritannien und Libyen auf den Weg geschickt hatte: Soldaten. Es war unwiderruflich geschehen. Es gab keine Umkehr. In der Gasse hinter dem Haus hörte er Kinder schreien, und plötzlich kamen ihm die Nachbarn um sein Versteck in Ballard in den Sinn. Würden seine Soldaten sich auch hier 122 einfinden? Die Frage tauchte nur kurz in seinem Hirn auf, erregte eine flüchtige Neugier in ihm und war fast sofort wieder verschwunden. Zeit, zu verschwinden ... Und dann spürte er eine kleine Irritation wegen des Hauses. Hatte er vergessen, drunten etwas Bestimmtes zu tun? Er schnallte sich das Uhrarmband an, rannte rasch hinunter ins Labor, kletterte durch die Luftschleusen, die er offen ließ. Jetzt brauchte er sich nicht mehr um die Sicherheit seiner Versuche zu kümmern. Man konnte die peinlich genauen Gewohnheiten des John McCarthy aufgeben. Als er in der ersten Sicherheitskammer stand, fiel sein Blick auf die Arbeitsbank und den an ihr festvernieteten Kücheneinwecktopf. Ihm kam dabei der Gedanke, daß dieses simple Küchenutensil, ein blöder Topf, in dem man Nahrungsmittel haltbar machen konnte, sozusagen den Grundtenor für sein ganzes wissenschaftliches Laboratorium setzte. Zweifellos würden sich die Untersuchungsbeamten höchlichst wundern über eine dermaßen geniale Adaptierung in diesem Raum, über die Maschinen und Apparate, die zu Zwecken eingesetzt wurden, für die sie nie gedacht gewesen waren. Und nun erinnerte er sich, was er zu tun vergessen hatte, an den Grund, der ihn wieder ins Labor hatte eilen lassen. Die Thermitbomben! Natürlich! Behutsam schritt er durch sein Labor, stellte die Zeitzünder ein, dann ging er in den Vorkeller, wo er weitere Kapseln angebracht hatte. Dann zurück in die Küche hinauf. Eine Schüssel trockener Getreideflocken. Die Nahrung machte ihn schläfrig, und er begann Kaffee zu bereiten, entschied aber statt dessen, er würde lieber den Kopf auf die Arme auf dem Küchentisch legen und sich ein paar Minuten ausruhen. Er hatte Zeit bis zum Abend, ehe er fortmußte. Als er erwachte, war es 12 Uhr 11. Er fühlte sich ausgeruht, aber der Rücken schmerzte von der gekrümmten Schlafhaltung. In der Gasse hinter dem Haus konnte er Kinder hören, die dort spielten. Ja, richtig. Es ist ja Samstag. 123 Er warf sich kaltes Wasser ins Gesicht, trocknete sich mit einem Geschirrtuch neben der Küchenspüle ab, ging dann in sein Schlafzimmer und packte seine Sachen fertig. Er trug seine Koffer zum Wagen hinunter, und er war gerade wieder dabei, die Stufen zur Küche hinaufzusteigen, um sich endlich einen Kaffee zu machen, als ihn auf dem Treppenabsatz etwas in eisigem Schock innehalten ließ: der Lärm von etwas, das in der Küche zu Bruch ging. Einbrecher? Unter dieser Furcht hatte John McCarthy die ganze Zeit gelitten, während er an seinem Projekt arbeitete. Wut stieg in ihm auf. Wie konnten die das wagen? Er raste die letzten paar Stufen in die Küche hinauf und stolperte fast über einen Softball. In der Küchenspüle lag ein Haufen Glasscherben. Im Fensterrahmen darüber steckten nur noch ein paar scharfe Splitter. In der Gasse hinter dem Haus konnte er eine Frauenstimme rufen hören: »Jimmmyyy! Ich weiß, wo du bist!« Ein undeutliches Gefühl von Amüsiertheit überkam ihn. Er hob den Softball auf und trat auf die Hinterveranda. Eine junge Frau in blauem Hauskleid kam von der Gasse durch seine Gartentür und blieb abrupt stehen. Sie hielt einen etwa zehnjährigen Jungen fest am rechten Ohr gepackt. Der Mund des Kindes war schmerzverzerrt, und es schien Angst zu haben. Mit schiefgeneigtem Kopf, um dem Schmerz zu entgehen flehte es: »Mammi, bitte! Bitte, Mammi!« Die Frau blickte zu John herauf und ließ das Ohr des Jungen los. Sie schaute auf das zertrümmerte Fenster, dann wieder zu John zurück, dann auf den Softball in seiner Hand. Der Junge ging hinter ihr in Deckung. »Es tut mir schrecklich leid«, sagte die Frau. »Natürlich ersetzen wir Ihnen das Fenster. Ich hab ihm immer und immer wieder gesagt, er darf da nicht spielen, aber er vergißt es immer wieder. Mein Mann besorgt das Fenster auf dem Rückweg von der Arbeit. Er ist sehr geschickt in solchen Reparaturen.« 124 John zwang sich zu einem Lächeln. »Das ist gar nicht nötig, Ma'am. Ich nehme an, ich hab noch ein paar Fenster
aus meiner eigenen Jugend gutzumachen.« Und er warf den Softball auf den Hinterhof. »Na, dann mal los, Jimmy! Aber warum spielt ihr Jungs denn nicht auf dem unbebauten Grundstück am Ende des Blocks?« Jimmy schoß hinter dem Rücken seiner Mutter hervor und nahm seinen Ball wieder in Besitz. Er drückte ihn fest gegen die Brust und schaute zu John herauf, als könne er nicht so recht an sein Glück glauben. Die Frau lächelte vor Erleichterung. »Das ist aber wirklich sehr freundlich von Ihnen«, sagte sie. »Ich bin Mrs. Pachen, Gladys Pachen. Wir wohnen genau Ihnen gegenüber, auf die Fünfundsechzigste raus. Und wir wollen natürlich das Fenster herzlich gern bezahlen. So was sollte einfach nicht...« »Das ist nicht nötig«, sagte John, bemüht, nicht aus der gutnachbarlichen Rolle zu fallen. Was er jetzt am wenigsten brauchen konnte, waren neugierige Nachbarn, die ihre Nasen in seine Angelegenheiten steckten. Er schlug einen leichten Ton an: »Ach, sorgen Sie einfach dafür, daß Jimmy sich jetzt schon darauf vorbereitet, für die Scherben zu bezahlen, die irgendein anderer Junge mal anrichtet, wenn er so alt ist wie ich. Wir Männer vererben die Kosten für das, was wir zertrümmern, von Generation zu Generation.« Gladys Pachen lachte: »Ich muß schon sagen, Sie sind ganz, ganz außergewöhnlich nett. Ich hätte nie ... ich meine ... wir wußten ja gar nicht ...« Verwirrt brach sie ab. Mit Mühe hielt John das Lächeln auf seinem Gesicht fest. »Ich kann mir schon denken, daß ich Ihnen recht seltsam vorgekommen sein muß, all die Monate lang. Aber wissen Sie, Mrs. Pachen, ich bin Erfinder. Und ich habe ziemlich intensiv an einer Sache gearbeitet... an naja, also, ich glaube, ich darf jetzt noch nicht darüber reden. Übrigens heiße ich ...« Er brach ab, weil ihm bewußt wurde, daß er von sich beinahe als von John Garrett O'Day gesprochen hätte, dann sagte er mit einem verlegenen Achselzucken: »John McCar125 thy. Den Namen werden Sie noch einmal als den eines Berühmten zu hören bekommen, glaube ich. Für meine Freunde heiße ich Jack.« Gut gemacht, dachte er. Eine einleuchtende Erklärung. Ein Lächeln. Durch die Preisgabe dieses Namens konnte ihm kein Schaden erwachsen. »Ach, George wird ganz aus dem Häuschen sein«, sagte die Frau. »Der bastelt auch immer die ganze Zeit in seiner Garage herum. Da hat er sich eine kleine Werkstatt eingerichtet. Ich ... ach, wissen Sie, wenn wir unser nächstes Grillfest machen, dann müssen Sie einfach zu uns rüberkommen. Und ich will keine Absage hören!« »Das klingt sehr verlockend«, sagte John. »Manchmal hängt mir meine eigene Kocherei richtig zum Halse raus.« Er schaute zu dem Jungen hinunter. »An deiner Stelle würde ich das Grundstück da unten mal auskundschaften. Das sieht mir ganz wie ein ziemlich guter Platz für ein Baseball-Feld aus.« Jimmy nickte zweimal, sagte aber kein Wort. »Also, Gladys, es ist ja weiter nichts passiert«, sagte John. »Jedenfalls nichts wirklich Schlimmes. Auf die Weise bekomme ich endlich ein sauberes Fenster über der Spüle. Aber jetzt muß ich wieder an die Arbeit. Ich braue da gerade was zusammen.« Er winkte beiläufig und trat in die Küche zurück. Eine begnadete schauspielerische Leistung, dachte er, während er das Fenster provisorisch mit Plastikfolie versah. Es war nicht nötig, neues Glas einsetzen zu lassen. Das Ganze würde noch in dieser Nacht sowieso in Flammen aufgehen. Gladys Pachen kehrte in ihre Küche zurück und lud von dort aus prompt ihre nächste Nachbarin, Helen Avery, zu einer Tasse Kaffee ein. »Ich hab gesehn, wie Sie mit ihm geredet haben«, sagte Helen Avery, während Gladys die Tassen vollgoß. »Wie isser denn so? Ich hab schon geglaubt, mich trifft der Schlag, als ich sah, wie Jimmys Ball die Scheibe zerdepperte.« »Ach, der ist irgendwie süß«, sagte Gladys. »Und ich glau126 be, er ist ziemlich schüchtern ... und einsam.« Sie goß Kaffee nach. »Er ist so ein Erfinder.« »Ach, das treibt er also in seinem Keller! Bill und ich haben uns schon Gedanken gemacht... Tag und Nacht brennt dort unten das Licht.« »Und zu Jimmy war er ausgesprochen nett«, sagte Gladys und setzte sich an den Küchentisch. »Er wollte mich das Fenster nicht mal bezahlen lassen, weil er, wie er sagte, noch ein paar Fensterscheiben schuldig ist aus der Zeit, als er so alt war wie Jimmy.« »Was erfindet er denn? Hat er da was gesagt?« »Das wollte er nicht, aber ich wette, es ist was Wichtiges.« Es hat nie einen schärferen anti-irischen Eiferer gegeben als Shakespeare. Er war der Gipfel elisabethanischen Geckentums, die perfekte Spiegelung britischer Bigotterie. Sie rechtfertigten sich mit religiösen Argumenten. Mit der Reformation! Damit begann ihre Ausrottungspolitik gegenüber den Iren. Und bereits damals mußten wir die bittere Wahrheit lernen: Englands Feind ist Irlands Freund. JOSEPH HERITY Wir müssen uns also darauf konzentrieren, wie er die Krankheit verbreitete«, sagte Beckett. »Die Frage ist noch immer nicht beantwortet.« Es war der dritte Nachmittag seit der ersten Zusammenkunft des Teams, und sie hatten sich als Tagungsraum das kleine Speisezimmer neben der Belegschaftskantine des DIC gewählt. So hatten sie es näher zu den Laboreinrichtungen, Wände und Beleuchtung waren weniger trübselig, und der Konferenztisch war kleiner.
Kaffee oder Tee konnten durch eine Durchreiche mit Schiebetür aus der Küche geliefert werden. Die Sicherheitsbeamten hatten dagegen Einspruch erhoben, und es gab da stets einen gewissen Geräuschpegel von Geschirrgeklapper, mit dem man fertigwerden mußte, 127 aber sie alle empfanden es als ein viel erträglicheres Arrangement. »Wirft jemand die Frage auf, ob unser Irrer im Alleingang handelt?« fragte Hupp. Er rückte ein wenig beiseite, während eine Kellnerin mit weißem Schürzchen die Teller des Mittagessens abräumte. »Also eine Konspiration?« fragte Lepikow. Er blickte der verschwindenden Kellnerin nach. »Gehören diese Dienstboten zu ihrem Militär, Bill?« Dr. Foss antwortete ihm: »Sergej, das ist eines von unseren bestgehüteten Geheimnissen. Nach zwei Jahren Dienst hier leiden die garantiert unter paranoider Mordlust.« Sogar Lepikow stimmte in das gequälte Kichern über die Witzelei ein. Danzas sagte: »Infizierte Vögel? Es gibt die Präzedenzfälle von Psittakose - Papageienfieber. Ist es denkbar, daß er ein modifiziertes Psittakosevirus gebaut hat?« »Also, das kommt mir nicht so recht als sein Stil vor«, sagte Hupp. »Der legt doch keine so leichten Spuren für uns. Nein.« Er blickte auf eine blaue Akte, die vor ihm lag, klappte den Deckel langsam auf, blätterte in den Seiten, bis er gefunden hatte, was er suchte. »Hier ist eine Stelle aus einem der Briefe des zweiten Schubs.« Hupp zitierte: »Ich weiß, daß es Verbindungen zwischen der IRA und den Fedayin gibt, Verbindungen zu japanischen Terroristen, zu den Tupamaros und Gott weiß, wem sonst noch. Ich war in Versuchung, meinen Rachefeldzug auf alle Länder auszudehnen, die solchen Feiglingen Unterschlupf gewähren. Und ich warne alle diese Länder: Führt mich nicht erneut in Versuchung, denn ich habe nur einen Bruchteil meines Waffenpotentials eingesetzt.« Hupp klappte die Akte zu und blickte Lepikow, der direkt ihm gegenüber saß, ins Gesicht. »Wir müssen leider annehmen, daß dies keine leere Drohung ist. Ich bin überzeugt, dieser Mann blufft nicht. Und unter dieser Voraussetzung müssen wir weiter annehmen, daß er mehr als nur eine Verbreitungsmöglichkeit für sein Waffenpotential zur Verfügung hat. Denn wenn es uns gelingt, die Methode oder die Metho128 den zu finden, mittels derer er es im vorliegenden Fall fertigbrachte, könnten wir ihm ja diesen Leitweg versperren.« »Könnten wir das?« fragte Beckett. Lepikow nickte zum Zeichen, daß er seine Skepsis teile. Dr. Godelinskij beugte sich vor, trank einen Schluck Tee und sagte: »Er hat ganz spezifische Gebiete infiziert. Und die Tatsache, daß die Seuche sich weiterverbreitete, kann nur bedeuten, daß auf irgendeine Weise Menschen die Überträger sein können.« »Wieso denn das?« fragte Danzas. »Weil so, wie derzeit alles mit Insektiziden besprüht wird, kein Insekt mehr dafür in Frage käme«, sagte sie, rieb sich die Stirn und zog die Brauen zusammen. Mit gedämpfter Stimme sagte Lepikow etwas auf russisch zu ihr. Dr. Foss bekam nur einen Teil mit, drehte sich aber um und warf der anderen Frau einen forschenden Blick zu. »Was nicht in Ordnung?« fragte Hupp. »Ach, nur ein bißchen Kopfweh«, sagte die Godelinskij. »Ich glaube, es ist der Wetterumschwung. Wenn ich vielleicht noch ein bißchen Tee trinke?« Beckett drehte sich zu dem Schiebefenster in seinem Rücken, schob es auf und sah sich einem Gesicht gegenüber, das vornübergeneigt auf der anderen Seite auftauchte. Ein ausdrucksloses, blondes Männergesicht, mit weißen Zähnen lächelnd. »Wünscht noch jemand etwas aus der Küche?« fragte der blonde Mann. »Bauerntölpel!« sagte Lepikow. »Ach, sie hatten einfach noch keine Gelegenheit, hier auch noch Mikrofone anzubringen«, sagte Dr. Foss. »Morgen geht das sicher alles viel glatter. Ich möchte noch Kaffee. Bitte schwarz!« Beckett blickte sich rings um den Tisch um. Die anderen zögerten noch. Er wandte sich wieder dem Blondgesicht in der Durchreiche zu. »Haben Sie gehört?« »Klar doch, Doc!« Das Schiebefenster glitt wieder zu. Beckett wandte sich wieder der Tischrunde zu. 129 Hupp nahm einen Aktenkoffer vom Boden neben seinem Stuhl, wischte ein Salatblatt davon weg und nahm einen kleinen Notizblock und Stift heraus. »Es muß was ganz Einfaches sein«, sagte er. Das Schiebefenster hinter Beckett glitt auf. »Einmal Tee, einmal Kaffee-schwarz«, sagte das Blondgesicht. Er schob zwei dampfende Tassen herein und schloß die Schiebetür. Ohne aufzustehen, ergriff Beckett die beiden Tassen und schob sie über den Tisch. Als die Godelinskij ihre Tasse anfaßte, bemerkte Beckett eine weiße Stelle auf ihrem linken Handrücken. Der Fleck war nicht besonders deutlich, aber er entging seinem geübten Auge dennoch nicht. Ehe er etwas dazu bemerken konnte, sagte Lepikow:
»Ich bin überzeugt, daß diese Seuche über irgend so eine teuflische amerikanische Erfindung verbreitet wird. Möglicherweise mit irgendeiner Haarspraydose.« Hupp kritzelte etwas auf seinen Notizblock. »Steht bereits auf meiner Liste, aber ich bezweifle das. Ich behaupte nochmal, das wäre für unseren Verrückten viel zu leicht und offensichtlich.« Die Godelinskij schlürfte laut ihren Tee, dann sagte sie: »Ich stimme mit Joe überein. Das ist nicht sein Stil, nicht von von O'Neill.« »Und was ist ihr Stil?« fragte Dr. Foss. Hupp lächelte über die Mahnung, die in Dr. Foss' Verwendung der weiblichen Form enthalten war. »Wie ich schon sagte, ich glaube, es wird etwas bemerkenswert Simples sein. Etwas, von dem wir dann sagen werden: O Gott! Aber natürlich!« »Wie zum Beispiel?« fragte Beckett. Hupp zog nur stark die Schultern hoch, breitete die Hände mit nach oben gestreckten Handflächen weit aus. »Ich beziehe mich hier nur auf die Stilfrage, ich spreche nicht von einer spezifischen Methode.« »Wir wissen nichts über die Inkubationszeit«, sagte die Godelinskij. »Schließlich könnte das Zeug ja schon monatelang herumhängen.« 130 »Verseuchte Geschenkartikel?« fragte Dr. Foss. »Ja, so was in der Richtung«, antwortete Hupp. »Ein Spielzeug, das eine Mutter in die Finger bekommt, ehe sie es ihren Kindern gibt. Wir dürfen nicht vergessen, daß O'Neills Frau und beide Kinder brutal umgebracht wurden. Und er spricht von einer angemessenen RacheBasis< und mit exakt abgestempelten Briefmarken versehen. Alles stimmte völlig mit den Angaben in seinem Paß überein. John Garrett O'Day konnte jeder flüchtigen Überprüfung standhalten. Aber er rechnete eigentlich gar nicht mit solch einem Ereignis. Neben den Pässen in der Flugtasche lag der Fälscherpack, und da steckten auch 238000 US-Dollar in bar. Ferner hatte er 20000 Dollar in Traveller-Schecks (in Scheckhefte von je 5000 Dollar aufgeteilt) in einem Lederbeutel um den Bauch verstaut. In seiner Brieftasche befanden sich 2016 Dollar und 2100 französische Francs, saubere, frischknisternde Scheine vom Deak Perera-Schalter am Flughafen Seattle. Dieses Geld bezeichnete er bei sich selbst als > einsatzbereite Energie< zur Vollendung von O'Neills Rache. Im Charles de Gaulle Airport glitt er durch die ziemlich altmodischen Plastikgänge zur Gepäckausgabe, nahm seinen zweiten Koffer in Empfang und schritt munter unter dem Schild >Nichts zu verzollen< in den dämmrigen Spätnachmittag hinaus. Unter dem Betonvordach über den Haltespuren für Taxen und Busse hing dicke dieselgeschwängerte Luft. Die Motorengeräusche waren laut und mißtönend. Eine dunkle, mittelmeerisch wirkende Frau mit teigigem Gesicht 142 und dicken Lippen stand zwischen Bergen von Einkaufstaschen und zerbeulten Koffern vor ihm in der Schlange am Taxenstand und kreischte in schrillem Italienisch zwei weibliche Teenager an, die offensichtlich keine Lust hatten, hier zu warten, und sie anmaulten. Ihre Stimme nervte John. Sein Kopf fühlte sich wie voller Watte an, er dachte wie in Zeitlupe. Er führte das auf den schnellen Wechsel zwischen den Zeitzonen zurück. Sein Tagesrhythmus war gestört. Er fühlte sich regelrecht erleichtert, als die Italienerin mit ihren Töchtern endlich in ein Taxi kletterte und davonfuhr. Noch besser wurde es, als er selbst in sein Taxi steigen und sich gegen den kühlen Sitz zurücklehnen konnte. Der Wagen war ein schimmernd blauer Mercedes-Diesel, der Fahrer ein dünner Mann mit scharfen Zügen in einer schwarzen Nylonjacke mit einem Riß an der rechten Schulter, aus dem weißes Futter hervorlugte. »Hotel Normandie«, sagte John und schloß die Augen. Er spürte einen Schmerz im Magen und dachte: Ich habe Hunger. Im Hotel würde es Zimmerservice geben. Und ein Bett. Und Schlaf, das war es, was er jetzt brauchte. Er schlief nicht direkt ein während der Taxifahrt, aber er hielt die Augen fast die ganze Fahrt über geschlossen. Im Hintergrund seiner Augen gab es so etwas wie die allgemeine Wahrnehmung der raschen Fahrt über die Autoroute. Hin und wieder drang das schwere Brummen eines Lastwagens in sein Dösen. Der Fahrer stieß
mehrere halblaute Flüche aus. Einmal drang das gellende Blöken einer hochtonigen Hupe in sein Bewußtsein. Und er merkte es, als sie von der Peripheriaue abbogen und durch die Straßen von Paris fuhren: es gab einen veränderten Fahrrhythmus, mehr Stops und neue Starts. Es war fast ganz dunkel, als sie am Hotel anlangten, und es hatte zu regnen begonnen, ein leichtes Nieseln. Er bezahlte das Taxi und gab ein großzügiges Trinkgeld, das ihm ein knurriges »Merci, M'sieur« einbrachte. Es kam kein Gepäckträger. John nahm seine Sachen und drängte sich durch die zwei gläsernen Schwingtüren, wo ihm eilends ein älterer 143 Mann in brauner Hoteluniform mit roten Biesen entgegenkam, der ihm das Gepäck abnahm und ihn englisch begrüßte. »Welcome, Sir. Welcome.« Im Foyer stank es stechend nach Insektiziden. In seinem Zimmer legte er sich Kleidung zum Wechseln für den nächsten Morgen bereit. Dann drückte John die Hand auf den Bauch. Druckempfindlich, fühlte sich hart und geschwollen an. Ich habe nicht die Zeit, krank zu werden! Das Zimmer war deprimierend, viel zu warm, und es roch nach Moder. Er zog die Rolläden vor die zwei hohen Fenster, die auf die Avenue Saint Honore hinausgingen, und betrachtete sein neues Quartier: ein düsteres grüngraues Blumenmuster auf der Tapete. Draußen konnte er den betagten Aufzug knarren und metallisch klicken hören. Der Raum war nicht einmal rechtwinklig; er war ein Trapezoid mit einem Doppelbett am längeren Ende. Von der schmaleren Wand ging die Tür zu dem winzigen Badezimmer, aber man mußte um einen schweren Sekretär herumgehen, um dorthin zu gelangen. Als Kleiderschrank diente eine riesige Scheußlichkeit aus dunklem Holz neben dem Bett: Schubladen in der Mitte, Hängemöglichkeiten für Kleidung zu beiden Seiten hinter knarrenden Türen. Das unterste Schubfach ließ sich ganz herausziehen, und er entdeckte einen schmalen Hohlraum darunter. Er deponierte seine Brieftasche, den Paß und die Reiseschecks dort und schob die Lade wieder ordentlich zu. Und jetzt werde ich mir vom Zimmerkellner ein bißchen Suppe bringen lassen. Bei dem Gedanken spürte er, wie ihm die Magensäure in die Kehle stieg, und er schaffte es gerade noch ins Bad, wo er sich in die Toilette erbrach. Er sank neben dem Becken auf die Knie, umklammerte mit einer Hand das Waschbecken, und sein Magen würgte stoßweise. Verdammt! Verdammt! Verdammt! Im Hinterkopf lauerte eine Furcht, er könne vielleicht einen >Ausreißer< in seinem Labor aufgeschnappt haben, einen zu144 fälligen Ableger seiner musterhaft maßgeschneiderten Pest, etwas, das er im Rausch des Erfolges übersehen hatte. Dann zog er sich wieder auf die Beine, wusch sich das Gesicht über dem Becken und drückte die Toilettenspülung. Vor Schwäche zitterten ihm die Beine. Er taumelte aus dem Bad und warf sich mit dem Gesicht nach unten auf das Bett. Der Überwurf roch nach scharfer Seife, und seine Nase versank in den Gestank seines eigenen Erbrochenen. Ob ich einen Doktor holen lasse? Im American Hospital hatten sie sicher einen zuverlässigen Arzt. Aber ein Arzt würde sich auch mit größter Wahrscheinlichkeit später an ihn erinnern. Und ein Arzt würde ihm Antibiotika verordnen. Und nun dachte John darüber nach, warum er seine Pest so gezüchtet hatte, daß sie Antibiotika als Nährboden brauchte. Aber wenn es wirklich ein Ausreißer aus dem Labor ist? Mit schierer Willenskraft stand er auf, verstaute seinen kostbaren Bordkoffer auf dem Boden des Kleiderschranks und verschloß die kreischende Tür. Einen Augenblick lang blieb er gegen das kühlende Holz gelehnt stehen, um seine Kräfte zu sammeln. Dann stieß er sich vom Schrank ab, fiel auf das Bett zurück und zog kraftlos ein Stück der Überdecke über sich. Am Kopfende gab es einen Lichtschalter. Beim dritten Versuch erreichte er ihn. Wohliges Dunkel erfüllte den Raum. »Nicht jetzt«, flüsterte er vor sich hin. »Nicht schon jetzt!« Er spürte nicht, daß er einschlief, doch als er die Augen wieder öffnete, drang Tageslicht an den Kanten der Fensterdraperien vorbei ins Zimmer. Er versuchte sich aufzusetzen, aber seine Muskeln wollten ihm nicht gehorchen. Panik durchflutete ihn. Sein Körper fühlte sich kalt an und war dennoch schweißgebadet. Er konzentrierte alle seine Willenskraft, und es gelang ihm, eine Hand auszustrecken und das Telefon zu ertasten. Die Zentrale schickte ihm, in der Annahme, er wolle das Zimmermädchen, eine Spanierin herauf, eine dralle ältere Person mit gefärbten grauen Haaren und mächtigen Armen, die die engen Ärmel fast zu sprengen drohten. 145 Sie benutzte ihren Passepartout, kam ins Zimmer geschossen, verzog die Nase, als sie den penetranten Gestank von Erbrochenem wahrnahm, bemerkte dann John und sein bleiches krankes Gesicht über der zerknautschten Tagesdecke, und sagte in stark akzentgefärbtem Englisch. »Sie wollen Doktor, no? Senor?« Zwischen jedem einzelnen Wort nach Luft ringend, brachte John hervor: »Nein ... die ... sind ... zu ... teuer.« »Alles teuer!« stimmte sie ihm zu und trat neben seinen Kopf. Sie legte ihm eine kühle Hand auf die Stirn. »Sie haben das Fieber, Senor, no? Kommt von schrecklichen französischen Soßen. Schlecht für Magen, s*7 Sie sollen
sich fernhalten von reiche Essen. Ich bringe Ihnen etwas, no? Dann sehen wir, wie Sie fühlen in eine kleine Weile, no?« Sie betätschelte ihm leicht die Schulter. »Und ich bin nicht so teuer wie Doktor, si!« Er nahm nicht wahr, daß sie wieder ging, aber dann stand sie auf einmal wieder an seinem Bett und hielt ihm etwas heiß Dampfendes in einer Tasse hin. Er roch Hühnersuppe. »Bißchen Brühe für Magen, no«, sagte die Frau und half ihm, sich aufzusetzen. Die Brühe verbrannte ihm die wunde Zunge, wirkte aber, sobald sie im Magen angelangt war, beruhigend auf die Magenschleimhaut. Er trank die Tasse fast ganz aus, ehe er wieder in die Kissen zurücksank, die das spanische Zimmermädchen für ihn aufgeschüttelt hatte. »Ich bin Consuela«, sagte die Frau. »Ich zurückkomme, wenn mit anderen Zimmern fertig. Ihnen dann geht besser, no? Wir Sie dann stecken richtig in Bett, si.'« Consuela kam später mit noch mehr Brühe wieder, weckte ihn und half ihm, die Beine auf den Boden zu setzen. Sie mußte ihn dabei stützen. »Sie jetzt trinken«, sagte sie. Sie hielt seine Hand mit der Tasse fest und zwang ihn, alles auszutrinken. »Sie schon besser, no?« sagte sie, aber er fühlte sich nicht im geringsten besser. »Wie spät ist es?« fragte er. 146 »Es ist Zeit, Bett zu machen und Sie in Schlafanzug zu stecken«, sagte sie. Sie holte vom Korridor einen Stuhl, zwängte ihn zwischen Schrank und Bett und hob ihn auf den Stuhl, wo er sitzenblieb, während sie das Bett richtete und die Decke zurückschlug. Mein Gott, ist das Weib stark, dachte er. »Sie sind anständiger Mann, no?« sagte sie, vor ihm aufgepflanzt, die dicken Arme in den Hüften abgestemmt. »Wir nur ziehen aus bis auf Unterkleidung, si?« Sie gluckste. »Nicht haben rot im Gesicht, Senor! Ich hab begrab' zwei Gemahle.« Und sie bekreuzigte sich. Zu keinem Widerstand und kaum zu einem Kommentar fähig, ließ John alles mit sich geschehen, während Consuela ihm die Sachen auszog und ihn fast ins Bett hob. Die Laken fühlten sich frisch auf der Haut an. Sie ließ die Jalousien geschlossen, aber er konnte noch immer Tageslicht an den Kanten sehen. »Wie ... spät ... ist ... es?« krächzte er. »Ah, Zeit für Consuela, noch viel, viel andere Arbeit zu machen. Ich komme wieder, bringen mehr Suppe, no? Sie schon hungrig, eh?« »Nein.« Er schüttelte schwach den Kopf. Ein breites Grinsen erleuchtete ihr Gesicht. »Sie glücklicher Mann für Consuela, no? Ich sprechen gute Ingliss, no?« Es gelang ihm zu nicken. »Sehr glückliche Sach. Weil in Madrid, ich bin die Mädchen für Americanos. Mein erster Mann, er ist Mexicano aus Chicago in Estados Unitas. Er mich gelernt.« »Dank«, war alles, was er hervorbrachte. »Gracias a Diös«, sagte sie und ging aus dem Zimmer. Dann schlief John. Im Schlaf quälten ihn Alpträume, in denen Mary und die Zwillinge eine Rolle spielten. »Bitte, hört doch auf mit den O'Neillträumen!« murmelte er. Er wälzte und warf sich im Bett herum, aber er konnte die O'NeillErinnerungen nicht loswerden ... wie Mary vor Freude über ein Weihnachtsgeschenk strahlte. 147 »Sie war so glücklich«, flüsterte er. »Wer dann so glücklich?« Consuela stand an seinem Bett. Hinter den Fenstervorhängen war es finster. Er roch Hühnersuppe. Ein muskelbepackter Arm glitt unter seinen Rücken und wuchtete ihn hoch. Mit dem anderen Arm hielt sie ihm die Brühe so hin, daß er trinken konnte. Die Suppe war nur noch lauwarm, aber sie schmeckte sogar noch besser als beim erstenmal. Er hörte das Porzellan klirren, als sie die Tasse neben dem Telefon auf das Tischchen setzte. »Escusado«, sagte sie und schnippte mit den Fingern. »Der Bad! Sie jetzt wollen in Bad?« Er nickte. Sie mußte ihn halb ins Badezimmer tragen und ließ ihn dort allein, gegen das Waschbecken gelehnt. »Ich warte vor Tür, no?« sagte sie. »Sie rufen, sf?« Dann, als sie ihn wieder in sein frisch gemachtes Bett gepackt hatte, fragte er: »Welchen Tag ...?« »Whitch day to-day? Es ist der Tag, nachdem Sie sind hier hergekommen, Senor O'Day. Es istze day, wo O'Day sich fühlt besser, no?« Ihr Wortspiel ließ sie breit und fröhlich grinsen. Er aber konnte nur mit einem leichten Lippenzucken reagieren. »Sie noch immer nicht wollen teuren Doktor, Senor?« Er bewegte den Kopf von links nach rechts. »Wir sehen morgen«, sagte sie. Ehe sie die Tür hinter sich schloß, rief sie ihm fröhlich »Hasta manana!« zu. Daß es Morgen war, konnte er nur an Consuelas Rückkehr ablesen. Diesmal brachte sie ihm zusätzlich zu der Hühnerbrühe noch ein Schüsselchen mit Eierstich. Wieder stopfte sie ihm die Kissen im Rücken zurecht, und dann steckte sie ihm löffelweise das Ei in den Mund, wischte ihm das Kinn wie einem Säugling, und dann ließ sie ihn die Brühe trinken. John glaubte, sich etwas kräftiger zu fühlen, aber sein Kopf war immer noch wie mit Watte ausgestopft, und
dann war da auch noch diese Unfähigkeit, die ihn fast wahnsinnig machte, Tag oder Tagesstunde festzustellen. Und Consuela frustrierte 148 ihn auch noch, indem sie auf seine Fragen mit Blödeleien antwortete. »Es ist ze day, wo O'Day ißt zwei Eie am Morgen.« »Es ist ze day, wo O'Day bekommt Brot und Fleisch zu Abend.« Es ist ze day, wo O'Day ißt Eiskrem mit sua comida ...« »... day O'day ... day O'Day ...« Das fröhliche Gesicht Consuelas wurde zu einem täglichen berechenbaren, wenn auch verschwommenen Eindruck. Trotzdem, John spürte, daß er wieder zu Kräften kam. An irgendeinem Tag badete er. Er brauchte jetzt schon keine Hilfe mehr, um ins Badezimmer zu gelangen. Als Consuela das Frühstücksgeschirr wegnahm und ging, hob er den Telefonhörer ab und verlangte den Hotelmanager zu sprechen. Die Telefonistin sagte, sie werde ihn immediatement mit Monsieur Deplais verbinden. Und Deplais meldete sich tatsächlich knapp zwei Minuten danach und redete mit einem demonstrativ britischen Akzent. »Ah, Mr. O'Day. Ich wollte mich ja eigentlich bereits mit Ihnen in Verbindung setzen wegen der Rechnung. Normalerweise bestehen wir auf wöchentlicher Begleichung, und es sind inzwischen neun Tage ... - aber natürlich, unter den gegebenen Umständen ...« Der Mann räusperte sich. »Wenn Sie so freundlich sein wollen, jemanden heraufzuschicken, werde ich gern die erforderlichen TravellerSchecks ausschreiben«, sagte John. »Aber sofort, Sir! Ich erlaube mir, die Rechnung selbst zu Ihnen hinaufzubringen.« John zerrte eines seiner Reisescheckhefte aus dem Versteck unter der untersten Schublade und saß wartend im Bett, als Deplais an der Tür klopfte. »Girard Deplais zu Ihren Diensten, Sir.« Der Manager war ein hochgewachsener grauhaariger Mensch mit angenehm ebenmäßigen Gesichtszügen, einem breiten Lächeln, das Pferdezähne zum Vorschein brachte. Er präsentierte die Rechnung auf einem kleinen schwarzen Tablett, ein Kugelschreiber lag säuberlich-diskret daneben. 149 John schrieb zehn Schecks aus und bat, man solle ihm die Restsumme heraufbringen. »Für Consuela«, sagte er als Erklärung. »Ah! Ein Juwel unter dem Dienstpersonal!« rief Deplais. »Ich, für meine Person, ich würde natürlich einen Doktor konsultiert haben, mais - Ende gut, alles gut. Ich darf doch sagen, Sir, daß sie bei weitem besser aussehen?« »Also haben Sie bei mir hereingeschaut?« fragte John. »Angesichts der - hm, Umstände, Sir ...« Deplais ergriff das Tablett und die signierten Schecks darauf. »Aber Consuela hat oft recht avec den Beschwerden von unseren Gästen. Sie ist bei uns schon eine sehr lange Zeit.« »Wenn ich mein Domizil in Frankreich hätte, Monsieur, ich würde versuchen, sie Ihnen abspenstig zu machen«, sagte John. Deplais kicherte. »Das unabänderliche Risiko im Hotelgewerbe, Sir. Wäre es zu impertinent, nach Ihren Geschäftsinteressen in Paris zu fragen?« »Ich bin Investment-Berater«, log John. Er beglückte den Hotelmanager mit einem abwägenden Blick. »Und ich bin schon längst überfällig für eine wichtige Transaktion. Da fällt mir gerade ein: Wäre es möglich, daß mir Ihr Hotel einen Leihwagen nebst englischsprechendem Chauffeur besorgt?« »Für wann, Sir?« John nahm eine hastige Überprüfung seiner versteckten körperlichen Kraftreserven vor - immer noch ziemlich geschlaucht! Aber es waren nur noch vier Tage Zeit... Achill Island ... die Briefe! Es gab noch Dinge zu erledigen, ehe er sich an den nächsten Schritt wagen konnte. Plötzlich spürte er, wie die Zeit ihn bedrängte. Er würde seine Pläne ändern müssen. Stockend holte er tief Luft. »Morgen!« »Aber ist das vernünftig, Mr. O'Day, Sir? Sicher, Sie sehen schon viel besser aus, dank der exzellenten Pflege durch Consuela, aber dennoch ...« »Es ist notwendig«, sagte John. 150 Deplais hob die Schultern demonstrativ und ließ sie wieder sinken. »Dürfte ich dann nach Ihrem Ziel fragen, Sir?« »Luxemburg. Und danach wohl zurück nach Orly. Das kann ich jetzt noch nicht sagen. Ich werden den Wagen für mehrere Tage benötigen.« »Und das alles per voiture!?« Deplais war sichtlich beeindruckt. »Orly? Sie wünschen einen Flug an einen Ort?« »Ich habe mir gedacht, wenn ich etwas mehr bei Kräften sein werde ...« »Man hört, daß die Fluglotsen schon wieder einen Streik in Aussicht stellen«, sagte Deplais. »Nun, dann werde ich mich mit dem Fahrer und dem Wagen nach England bringen lassen.« »Sooo weit!« Aus der Stimme des Managers war zu erkennen, daß er seinen Gast für einen Verschwender hielt. Wie dies wahrscheinlich das restliche Hotelpersonal, einschließlich Consuela, ebenfalls tat. Sie besonders. »Ah! Les - ricains! Er mag nicht zahlen für Doktor! Zu teuer! Aber er mietet sich Auto mit Chauffeur, der
Anglais sprechen muß, für solche Reise! Mein Americano in Madrid, er zeigt auch gleiche Art Verrücktheit! Sie wirbeln große Sturm auf wegen Pesetas, und dann kaufen televisiön so groß, daß nur tecnico ihn kann laufen lassen!« 151 Ich glaube, die Männer waren schon immer ein überwiegend begriffsstutziger, gefühlsarmer Haufen, und ihre Gefühle sind schrundig vor Narben. Sie wehren sich gegen die Empfindungsbreite und Lebensfülle, die von den Frauen auf sie zuströmt - gegen das Bindemittel, das alles zusammenhält. Wenn unsere Beschützer draußen mal die Sprechtaste angeschaltet lassen, höre ich Padraic da draußen murmeln, wen von den Männern er in seinen >Freundeskreis< aufnehmen soll, mal macht er sich Sorgen über den einen, dann über den anderen Namen, abwechselnd. Freundeskreis, ha! Sie suchen alle nur nach etwas, das uns wieder Stabilität verleiht, nach etwas, das sie fest in den Arm nimmt und sie schützend durch diese schreckliche Zeit hindurchträgt. Aus dem Tagebuch der KATE O'GASA BROWDER Völlig angezogen lag Beckett auf der spartanischen Pritsche des winzigen Privatraumes im DIC. Die Hände hatte er hinter dem Kopf verschränkt, er spürte das klumpige Kissen unter den Fingerknöcheln. Einzige Lichtquelle im Zimmer war die Leuchtuhr neben seinem Kopf: 2:33 morgens. Er stierte mit weitoffenen Augen in die Dunkelheit hinauf. Beim Schlucken spürte er den Kloß in der Kehle. Gott sei Dank, meine Familie ist noch in Sicherheit, dachte er. Spezialtruppen hatten das ganze Gebiet in Nordmichigan abgeriegelt. Wir machen es jetzt genau wie Frankreich und die Schweiz: Isolierung ... Fragmentierung ... Zersplitterung. Er wußte, wenn er jetzt die Augen schlösse, dann würden in seinem Gehirn wieder die Erinnerungsbilder auftauchen, die optischen Sequenzen vom Sterbebett der Ariane Foss. »Ich gefriere innerlich!« hatte sie sich beschwert. Immer wieder. Aber dazwischen hatte sie ihnen eine perfekte klinische Beschreibung der Symptome geliefert, sozusagen die Intimwahrnehmungen eines auf feinste medizinische Einzelheiten trainierten Gehirns. '** 152 Die Wände in dem Zimmer der Krankenstation waren hellgrün, der Boden aus irgendeinem Plastikmaterial, das von der häufigen Anwendung von Antiseptika zerschrundet war. Fenster gab es nicht, dafür ein in die Wand eingelassenes Bild mit den Gipfeln der Cascades, überwiegend in Grün- und Blautönen, vermutlich um die Illusion eines weiten Raumes jenseits des sterilen Zimmers zu beschwören. Stränge von grauisolierten Kabeln verliefen unter Dr. Foss' Bett hervor über den Kopfteil des Bettes zu einer Konsole, die die Kontakte zu einem elfenbeinfarbenen Kasten weiterleitete, in dem ein Teil des elektronischen Instrumentariums steckte, das ihre biologischen Signale überwachte. Aus einer Ampulle lief ein einziger Plastikschlauch in ihre rechte Armvene: ein steriler Tropf. Von seinem Stuhl dicht neben dem Bett aus konnte Beckett den Monitor und die Patientin gleich gut im Auge behalten. Ihre Lippen bewegten sich. Ohne Laut. Die Augen waren geschlossen. Wieder bewegten sich die Lippen. Dann: »Da war dieses merkwürdige Gefühl der Desorientierung beim ersten Anfall«, flüsterte sie. »Haben Sie das?« »Ich hab's, Ari.« »Bei Dorena auch? Was sagt sie?« Beckett zog eine Schwinglampe dichter über seinen Notizblock, den er auf den Knien hielt, und machte eine Notiz. »Joe wird uns gleich einen Bericht liefern«, sagte er. »Gleich?« flüsterte sie. »Was heißt das?« »In einer Stunde etwa.« »In einer Stunde oder so bin ich vielleicht nicht mehr da, Bill. Die Sache verläuft schnell, ich spüre das.« »Ich bitte Sie, denken Sie zurück«, sagte Beckett. »Was war Ihre allererste Wahrnehmung, die Sie auf den Gedanken gebracht hat, es könnte ein Krankheitssymptom sein?« »Heute früh sah ich einen weißen Fleck am Spann meines rechten Fußes«, sagte sie. Weiße Flecken an den Extremitäten, notierte Beckett. »Vorher nichts?« Sie öffnete die Augen. Sie wirkten glasig unter den ge153 schwollenen Lidern. Auf ihrer/ Haut lag der fahle blutleere Schein des Todes. Beinahe die Farbe des Kissenbezuges unter ihrem Kopf. Das Puppengesicht wirkte aufgeschwemmt, die Locken zerzaust und schweißnaß. »Denken Sie zurück«, bat er. Sie schloß die Augen, dann: »Aahh, nein.« »Was ist es?« Er beugte sich näher zu ihren Lippen hinab. »Das kann es nicht gewesen sein«, flüsterte sie. »Was denn?« »Vorgestern wachte ich auf und war höllisch scharf.« Er lehnte sich zurück und notierte. »Sie schreiben das auch auf?« flüsterte sie. »Die kleinste Kleinigkeit könnte wichtig sein. Und sonst?« »Ich nahm ein Bad und ... Jesus! Mein Bauch tut so weh!« Er notierte, dann fragte er weiter: »Sie haben also gebadet.« »Es war so merkwürdig. Mir kam das Wasser einfach nicht heiß genug vor. Ich dachte, das sind die verdammten Naturschützer, aber dabei dampfte das Wasser heftig und meine Haut wurde ganz rot. Fühlte mich aber trotzdem kalt.«
Sensorisches Wahrnehmungsvermögen gestört, schrieb er. »Haben Sie auch kaltes Wasser auf den Körper laufen lassen?« »Nein.« Mühsam bewegte sie den Kopf hin und her. »Aber ich war hungrig. Mein Gott, war ich hungrig. Ich aß zweimal Frühstück. Damals dachte ich, es ist bloß die ganze Aufregung und ... Sie wissen schon.« »Haben Sie Ihren Puls gemessen?« »Nein, ich glaube nicht. Kann mich nicht erinnern. Meine Güte, es beunruhigte mich, daß ich dermaßen viel fraß. Ich habe immer Angst, daß ich zuviel Gewicht bekomme. Wohin habt ihr Dorena gelegt?« »Gleich hier ein paar Türen weiter unten am Flur. Wir haben eine Schleuse mit UV-Licht und Antiseptiksprays zwischen euren Zimmern eingerichtet. Wir hielten das für eine gute Idee ... nur so für den Fall ...« »... daß eine von uns es schafft, und die andre nicht. Vernünftig gedacht. Ich glaube nicht, daß ich es schaffen werde, Bill. Was ist das für Zeug in meinem Tropf?« 154 »Nur Flüssigkeit. In ein paar Minuten werden wir es mit frischem Blut versuchen. Sie brauchen eine Stimulation der weißen Zellen.« »Also greift es das Mark an.« »Wir sind nicht sicher.« »Als ich den Fleck auf dem Spann bemerkte, Bill, ich glaube, ich habe es da sofort gewußt. Mein Bauch fühlte sich wie ein Eisklumpen an. Aber ich wollte nicht darüber nachdenken. Sie haben die Verfärbung auf Dorenas Hand bemerkt?« »Ja.« »Macht eine sehr genaue Autopsie«, sagte sie. »Versucht soviel wie möglich herauszufinden.« Sie schloß die Augen, riß sie jedoch sofort wieder auf. »War ich sehr lange bewußtlos?« »Jetzt eben?« »Aber nein! Als ihr mich hierher gebracht habt.« »Etwa eine Stunde.« »Es brach wie eine Tonne Backsteine über mich herein«, sagte sie. »Ich erinnere mich daran, wie ihr mich auf dem Bettrand abgesetzt habt, mir ins Nachthemd geholfen habt und dann - schnapp!« »Ihr Blutdruck ist ganz plötzlich abgesackt«, sagte er. »Dachte ich mir. Was ist mit den anderen Frauen im DIC? Breitet es sich aus?« »Ich fürchte, ja.« »Scheiße!« Sie schwieg kurz. »Bill, ich glaube nicht, daß euer Antiseptikschlauch von großem Nutzen sein wird. Ich ... ich glaube, die Männer sind die Krankheitsüberträger.« »Ich fürchte, Sie haben recht.« Er räusperte sich. < »Wie hoch ist das Fieber?« fragte sie. »Zunächst sehr hoch, jetzt ist es leicht erhöhte Temperatur - 38,4 Celsius.« Er warf einen Blick auf den Monitor. »Der Puls ist hundertvierzig.« »Werden Sie es mit Digitalis versuchen?« »Ich habe Lanoxin verordnet, aber wir debattieren noch darüber. Es hat Dorena nicht viel geholfen.« »Bei der Autopsie«, flüsterte sie. »Achtet auf Fibroblasten!« 155 Er nickte. »Hab 'nen Verdacht«, sagte sie. »Leber fühlt sich wie'n zerknautschter Fußball an.« Beckett machte eine Notiz. »Habt ihr Interferon versucht ... Dorena?« hauchte sie. »Ja.« »Und?« »Hätten genauso gut Wasser spritzen können.« »Fiel mir auf, daß mein Pfleger ein Mann ist«, sagte sie. »Wie schlimm geht es den anderen Frauen?« »Schlimm.« »Was unternehmt ihr?« »Wir haben die Isolationstüren geschlossen. Wir haben Glück, daß der ganze Biberbau hier darauf eingerichtet war, Schutz gegen radioaktive Verseuchung zu bieten.« »Glauben Sie, eine von den andern Frauen wird es schaffen?« »Noch zu früh, dazu was zu sagen.« »Irgend 'ne Idee, wie das Zeug hier hereinkam?« flüsterte sie. »Jeder von uns hätte es mit hereinschleppen können. Lepikow ist überzeugt, daß er es war. Er sagt, er kann sich überhaupt nicht mit seiner Familie in der Sowjetunion in Verbindung setzen.« »Danzas kommt aus der Bretagne«, flüsterte sie. »Aber er hat sich dort nicht lange aufgehalten.« »Lepikow«, sagte sie. »Der hat alle möglichen Instruktionskurse durchlaufen, ehe die ihn herüberschickten. Dr. Godelinskij hat sich darüber beklagt. Spezialisten, Gesandtschaften ...« »Lepikow glaubt, er hat eine leichte Infektion gehabt.« »Irgendwelche Symptome?« fragte sie. »Leichtes Nasentriefen, leichtes Fieber. Aber das vor fünf Tagen. Vielleicht weniger. Vielleicht dauert es ein paar Tage, bevor ein Mann zum aktiven Überträger wird.«
»Also harmlos bei Männern, letal bei Frauen«, flüsterte sie. Dann, mit kräftigerer Stimme: »Dieser Verrückte ist ein ganz 156 kranker Arsch! Glaubt man immer noch, es ist dieser O'Neill?« »Das bezweifelt keiner mehr.« »Glauben Sie - er ist auch ein Oberträger?« Beckett hob die Achseln. Es hätte zu nichts gedient, wenn er ihr über Seattle und Tacoma berichtete. Sie hatte sowieso schon genug zu schlucken. »Ich würde gern noch mal Ihre Symptome mit Ihnen durchgehen.« »Noch einmal ist möglicherweise alles, was mir an Zeit noch bleibt — uns bleibt.« »Bitte geben Sie nicht auf, Ari!« »Das sagt sich leicht für Sie.« Sie schwieg fast eine ganze Minute lang. »An dem Morgen, an dem ich mich so geil fühlte, Durchfall. Dann ziemlicher Durst. Bei Dorena auch?« »Gleiche Symptome«, sagte er. »Der Kopfschmerz. Jesus! Das war eine Weile sehr schlimm. Jetzt nicht mehr so schlimm. Irgendein Schmerzmittel in dem intravenösen Tropf?« »Noch nicht.« »Die Brustwarzen schmerzen«, sagte sie. »Habe ich Ihnen schon gesagt, Sie sollen die verdammt gründlichste Autopsie Ihres Lebens machen?« »Haben Sie.« Danzas kam auf Zehenspitzen herein und flüsterte Beckett zu: »Dorena ist soeben gestorben.« »Ich hab das gehört«, sagte Dr. Foss. »Noch ein Symptom, Bill: Verschärftes Hörvermögen. Alles wird so verflucht laut! Könntet ihr mir einen Rabbiner holen?« »Wir versuchen es«, sagte Danzas. »Ich such mir 'nen schönen Zeitpunkt aus, zu meinem ... zurückzukehren ... O verdammt! Mein beschissener Magen brennt wie Feuer!« Sie stierte an Beckett vorbei Danzas an. »Dieser Verrückte ist ein verdammter Sadist. Er muß doch wissen, was für Qualen er verursacht!« Beckett überlegte, ob er ihr sagen solle, was sie herausgefunden hatten. Daß nämlich die meisten Frauen einfach ins Koma sanken und starben, ohne vorher noch einmal zu er157 wachen. Er entschied sich dagegen. Es war sinnlos, Ariane erklären zu wollen, daß die Bemühungen, sie am Leben zu erhalten, gleichzeitig ihre Qual verlängerten. »O'Neill«, flüsterte sie. »Ich frag mich, ob seine Frau irgendwas gespürt ...« Sie schloß die Augen und schwieg. Beckett legte ihr die Finger auf die Halsschlagader. Er nickte zu dem Monitor über dem Bett hinauf: Blutdruck sechzig zu dreißig. Puls fallend. »Jedes Antibiotikum, das wir bei Dorena versucht haben, hat ihren Zustand nur verschlechtert«, sagte Danzas. »Aber vielleicht sollten wir irgendeine Chemo ...« »Nein!« Die Stimme von Dr. Foss klang erstaunlich laut und grell. »Wir hatten beschlossen ... Beschuß für Dorena ... für mich nichts!« Sie starrte Beckett mit glasigen Augen an. »Sagen Sie bitte meinem Mann nichts ... über die Schmerzen.« Beckett schluckte an einem Klumpen im Hals vorbei. »Ich verspreche es.« »Sagen Sie ihm, es war ganz leicht ... ganz still.« »Wollen Sie Morphium?« fragte Beckett. »Mit Morphium kann ich nicht denken. Wenn ich nicht denke, kann ich euch nicht sagen, was mit mir passiert.« Ein Krankenpfleger in blauem Militärdreß mit weißer Jacke kam ins Zimmer. Ein junger Mann mit flachem, verkniffenem Gesicht. Auf dem Namensschildchen stand >DigginsHab< und >Adam< gewesen. Doch nun saß Adam Prescott fest im Sattel und war Präsident der Vereinigten Staaten. In seiner Stimme war nichts von Kameradschaft zu verspüren. Was beunruhigt ihn bloß, außer dem, was ganz offensichtlich klar ist? fragte Bergen sich. Es mußte etwas sein, was Prescott ihm nicht ohne gewundene Einleitungsfloskeln sagen wollte. Er hatte fast den Eindruck, daß der Präsident unzusammenhängendes Zeug quasselte. Warum redete er über mögliche Prozeduren zur Sterilisierung von seuchenbefallenen Gebieten und brachte im selben Atemzug die Tragödie im Denver-Zentrum zur Sprache? Die Notmaßnahmen waren ausgearbeitet und von allen Beteiligten akzeptiert worden. Gab es etwa neue Kostenfaktoren? 160 »Ich stimme Ihnen zu, Sir, daß die wirtschaftlichen Realitäten vorrangig Beachtung verdienen«, sagte Bergen. Dann hörte er zu, während Prescott sein Gambit spielte. Die Kosten, obgleich inzwischen tausendmal höher als für irgendeine Katastrophe in der Geschichte der Menschheit, waren offenbar nur ein Teil der Sorgen, die den Präsidenten unmittelbar drückten. Denkt er vielleicht daran, den Denverkomplex zu sterilisieren? fragte sich Bergen. Der Gedanke bewirkte, daß seine Hand mit dem Hörer an seinem Ohr zitterte. Bergen, der sich nicht scheute, direkt zu fragen, wenn dies von ihm verlangt wurde, warf seine Frage direkt ins Gespräch. »Die Gebäude, nicht die Menschen«, erklärte Prescott. Bergen stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Es gab überall schon zu viele Tote. Andererseits bedeutete das jedoch, daß den Gerüchten über eine Colorado Plague Reservation, ein abgeschlossenes Pestschutzgebiet in Colorado, Tatsachen zugrunde lagen. Dort sollten von der Pest infizierte Männer in Isolation gehalten werden. Aber warum konnte man dann nicht auch das DIC-Team dorthin schicken? »Würde das Team ohne die Einrichtungen im DIC vernünftig arbeiten können?« fragte Bergen. Prescott hielt das für nicht wahrscheinlich. Bergen wog diesen Faktor für sich ab. Es war klar, Prescott und seine Militärberater brauchten die militärischen Einrichtungen im Denver-Zentrum. Man konnte den DIC-Komplex dort keimfrei machen und ihn erneut für militärische Aufgaben verwenden. Was aber würde dann aus dem Team? »Sie haben uns viele Tage Zeit erspart, indem sie entdeckten, auf welchem Weg die Seuche sich ausbreitet«, sagte Bergen. »Und jetzt, wo wir mit Sicherheit wissen, daß es O'Neill war, könnten doch sicher die vier Männer ...« Der Präsident unterbrach ihn. Er wolle solch brillante Köpfe nicht isolieren. Aber was würde mit ihnen werden, 161 wenn man das DIC in Flammen aufgehen ließ? Im Colorado-Reservat gab es keine vergleichbaren wissenschaftlichen Einrichtungen. Von einer plötzlichen Ahnung befallen, fragte Bergen: »Sollen sie vielleicht in das neue Zentrum in England geschickt werden?«
Der Präsident strömte sofort über von Lob und Preis für diesen exzellenten Vorschlag. Nur ein Genie könne auf so etwas kommen. Bergen nahm den Hörer des roten Telefons vom Ohr und starrte ihn an, dann legte er ihn wieder an die Ohrmuschel. Da quoll noch immer ein Bach von Lob heraus. Er starrte durch den Raum auf das Wandpaneel, die dunkle Holztür. Sein Schreibtischsessel war vom Allerbesten, was dänische Designer hervorgebracht hatten, und er ließ sich, den Hörer fest ans Ohr gedrückt, zurücksinken. Jedes Kind wäre auf die Idee gekommen, diese Männer nach England zu schicken, aber Bergen sah allmählich, vor welchem politischen Problem I der Präsident stand. Wenn die vier infizierten Mitglieder des DIC-Teams mit dem Flugzeug reisten, konnten sie eventuell über einem noch seuchenfreien Gebiet abstürzen. Und das würde für die Absturzstelle die Aktion >Panikfeuer< bedeuten. Bergen warf die Frage auf und lauschte auf eventuelle leise Hinweise in Prescotts Antwort. Ja, es sei doch zu schlimm, daß die Presse und die Öffentlichkeit die offizielle Bezeichnung >Neufeuer< einfach nicht übernehmen wollten. Die Wörter Panik und Feuer hätten ja leider als Verbindung so schädliche Assoziationspotenzen. Aber es sollte noch mehr zutage treten. Selbst wenn ein keimfrei versiegeltes Flugzeug nicht abstürzen sollte, so würde doch möglicherweise jeder neue Ausbruch der Seuche auf dem Flugweg zu starken Befürchtungen führen, daß die Insassen die Verbreiter der Infektion sein könnten, daß das Virus irgendwie entwischt sein könnte und noch mehr unschuldige Opfer überfallen habe. Dann würden die Volksaufwiegler triumphieren, und es gehe ein162 fach nicht an, sie und die fanatischen Randgruppen mit noch mehr Munition zu versorgen. »Ich glaube, die Franzosen könnten sich Bereiterklären, eine Eskorte von Kampfflugzeugen zur Verfügung zu stellen«, sagte Bergen. Er schaute auf die Tür zu seinem Vorzimmer, während Prescott ihn erneut mit Lob überschüttete. Der französische Botschafter wartete dort draußen geduldig in einer Gruppe anderer, um mit ihm zu Mittag zu essen. Ein, zwei Sätze unter vier Augen, vielleicht? »Mr. Präsident, Sie sind mehr als großzügig«, sagte Bergen mitten in den neuen Sturzbach von Schmeicheleien hinein. »Können Sie Freiwillige für die Besatzung der Maschine finden?« Wieder hörte der Generalsekretär zu. Was für ein sagenhafter Glückszufall es doch sei, daß Dr. Beckett vom Team ausgebildeter Pilot sei - Reserveoffizier der Air Force noch dazu! Und die Information lag sozusagen vor Prescotts Nase? Wie gutinformiert der Mann war! Und eine Langstreckenmaschine konnte jederzeit bereitgestellt werden. Die vier Männer würden selbst zum Flugplatz fahren. Sie würden starten, ihre Eskorte mitnehmen - und ihr Auto und die Umgebung würden in einem Panikfeuer-Bad >gereinigt< werden. Oh, da gebe es noch etwas. Ob es dem Generalsekretär vielleicht möglich sein könnte, irgendwie zu arrangieren, daß diese vier Männer im Forschungszentrum in England Positionen >von nützlicher Wichtigkeit zugeteilt bekommen würden? Von nützlicher Wichtigkeit? überlegte Bergen. Er entschloß sich zu einem kleinen Angelversuch. »Ist es wirklich der vernünftigste Entschluß, sie nach England zu schicken? Dieses Labor da in Irland, am Killaloe klingt doch sehr vielversprechend, besonders angesichts der ganzen technischen Einrichtung, die Sie zur Verfügung stellen.« »Aber Sie selbst haben doch England vorgeschlagen«, maulte der Präsident. »Ich habe demzufolge natürlich angenommen, da dies Ihr erster Vorschlag war, daß das britische Forschungszentrum weit überlegen sein muß.« 163 »Für England stimmt das«, gab Bergen zu. Und jetzt war ihm alles ziemlich klar. Sollte etwas an der Geschichte schieflaufen, dann war es die Idee des Generalsekretärs der Vereinten Nationen gewesen. Schließlich war es ja auch Bergen gewesen, der die grundsätzlichen Arrangements vorbereitet und dann das ganze Projekt durchgezogen hatte. Doch das rote Telefon hatte noch mehr Kleinkram zu enthüllen. Prescott mußte unbedingt seine Meinung über O'Neill loswerden. Bergen hörte zu und schaute dabei immer wieder auf die Armbanduhr. Sein Hungergefühl wurde immer stärker. Plötzlich schob er das Kinn vor, er war bestürzt. »Man glaubt, daß O'Neill sich in England aufhält?« fragte der Generalsekretär der UNO. »Wie kommen die darauf?« Und wie Prescott es ihm erklärte, schien das Ganze von einer erschreckenden Logik zu sein. Falls man den Verrückten aufspüren sollte, könnten die Opfer befürchten, daß dieser eine vielleicht noch schrecklichere Pest auf sie loslassen könnte. Schließlich hatte O'Neill gerade damit in einem seiner Briefe gedroht, und ohne gesicherte Kenntnis auf dem Gebiet würde keiner sich die Annahme erlauben dürfen, daß der Mann bluffte. »Aber warum nicht Irland?« fragte Bergen. Ah, aber ja doch. O'Neills Gesicht sei ein paar Leuten in Irland bekannt, und selbst wenn er in Verkleidung auftreten sollte ... also, diese Psychologentypen seien jedenfalls der Überzeugung, daß die Iren mehr als andere Völker zu kopfloser Rache neigten. Und das würde doch O'Neill sicher in Erwägung gezogen haben. Aber es sei logisch, daß er sich in einem anglophonen Land verstecken wolle, wo man ihn kaum kannte und wo er leichter im allgemeinen Background untertauchen konnte. Und da bot sich England an, Chaos und Durcheinander bis zu einem gewissen Maß. Außerdem sei England eines seiner Zielgebiete, und er hatte den >Nichtbetroffenen< ausdrücklich verboten, dort die atomare Sterilisation einzusetzen. Auf eine schreckliche Weise ergab das einen Sinn. Aber, 164
sofern es zutraf, es enthüllte auch die Funktionsmechanismen eines Gehirns, das fähig war, ein Problem wie mit einem Schwerthieb zu lösen. Bergen war sich bewußt, daß er gewissermaßen ebenfalls über diese Qualität verfügte. Zum Teil jedenfalls. Komplizierte Probleme mußte man auf ein handliches Maß, eine handliche Form reduzieren, selbst wenn dies bedeutete, daß man aus einem multivalenten Ganzen sich nur das herauszog, was eben gerade noch manipulierbar war. Dieser O'Neill mochte vielleicht verrückt sein, aber er war auch ein Genie ein ganz authentisches Genie! »Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit bei dieser Idee?« fragte Bergen. Ach ja, das Profil. Das war mehr auf die Arbeit des DIC-Teams zurückzuführen. Prescott, aber nicht nur er selber, glaube, daß das Team >dabei ist, in das Gehirn des Verrückten vorzudringen, zu denken, wie er denktGott, unsre Hilf in alter Zeit< singen. JOSEPH HERITV Präsident Prescott legte den Hörer auf seinen Apparat und dachte noch einmal über das Gespräch mit Bergen nach. Sehr zufriedenstellend. Jawohl, von beiden Seiten gut gespielt. Aber natürlich würde Bergen die Münze einfordern, die er da soeben ausgegeben hatte. Irgendwann würde es einmal ein Quid pro quo geben, ein Gegengeschäft. Aber auch das konnte sich als Vorteil erweisen. Bergen war ein viel zu guter Politiker, als daß er etwas verlangt hätte, von dem er wußte, er konnte es nicht erhalten. Charles Turkwood, persönlicher Adjutant und Vertrauter des Präsidenten, stand ihm am Schreibtisch gegenüber, an dem Prescott saß. Es war sehr still im Ovalen Büro, man hörte nicht einmal eine Schreibmaschine aus einem der Vorzimmer. Das war eine der Veränderungen, die eingetreten waren: nicht mehr soviel Papierkrieg. Viel mehr wurde in direkten Telefongesprächen erledigt, so wie eben mit Bergen. Turkwood war ein kleiner finsterer Mann mit kurzgeschorenem schwarzen Haar. An der ziemlich kurzen Nase blickten weit auseinanderstehende schwarze Augen kalt in die Welt. Die Lippen waren wulstig, das Kinn breit und stumpf. Er wußte, er war häßlich, aber Macht bot da Kompensationsmöglichkeiten. Oft empfand er sich als den perfekten Kontrapunkt zu Prescotts hochgewachsener grauhaariger Würde. Adam Prescott sah aus wie ein wohlwollender milder Kitschfilmopa. Seine Stimme - ein sanfter Bariton. »Er hat also angebissen, wie?« fragte Turkwood, als er sich die ihm zugängliche Hälfte des Gesprächs dechiffriert hatte. Prescott gab keine Antwort. Er beugte sich über den Tisch und las die Kopie eines der Briefe des Verrückten. Turkwood konnte auf dem Kopf stehende Schrift ausgezeichnet lesen, also schielte er auf das Blatt, das die Aufmerksamkeit des Präsidenten erregt hatte. Ach, ja - O'Neills Atomwarnung: »Sie werden daran denken, Atomwaffen zur Sterilisierung in den 166 Zielgebieten meiner Rache einzusetzen. Tun Sie das nicht! Es würde sich gegen Sie wenden, falls Sie es versuchen. Die Pest muß ihren lauf nehmen - in Irland, Großbritannien und Libyen. Ich will, daß die Männer dort am Leben bleiben und wissen sollen, was dies war, was man mir angetan hat. Ich gebe Ihnen die Erlaubnis, sie in Quarantäne zu halten, mehr nicht. Schickt die Angehörigen dieser Länder nach Hause - alle! Laßt sie dort schmoren! Sollten Sie auch nur einen Säugling an der Mutterbrust davon ausnehmen, der zu einer dieser Nationen aufgrund seiner Staatsangehörigkeit oder der Geburt nach gehört, so werden Sie meinen Zorn zu spüren bekommen!« Der Präsident hatte zu Ende gelesen, schwieg aber und starrte aus dem Fenster auf das Washington Monument hinaus. Es war dies eine der frustrierenderen Angewohnheiten des Präsidenten, daß er nach einer Äußerung oder einer Frage von Untergebenen langes Schweigen walten ließ. Man nahm an, der Präsident >denke< während derartiger Perioden nach, was oft auch zutraf. Doch ein ungebührlich ausgedehntes Schweigen bot auch einem Untergebenen ausreichend Zeit, darüber nachzugrübeln, worüber der Präsident nachdenken mochte. Und selbst phantasielose Menschen können unter solchen Umständen sich äußerst finstere Sachen vorstellen. Von allen engen Mitarbeitern des Präsidenten argwöhnte nur Charlie Turkwood, daß es sich dabei um einen bewußten Manierismus handeln könne, den er absichtlich kultivierte, um genau die Wirkung zu erzielen, die sich dann ergab. »Ja, er hat angebissen«, sagte Prescott schließlich und wirbelte zu Turkwood herum. »Wir müssen jetzt höllisch aufpassen. Die Sache ist eine reine Angelegenheit der Vereinten Nationen, und wir sind sozusagen nur Mitläufer.«
»Was wird er als Gegenleistung fordern?« fragte Turkwood. »Zur rechten Zeit«, sagte Prescott. »Alles zur rechten Zeit, Charlie.« »Sir, hat der Generalsekretär die Frage angeschnitten, wer die letzte Kontrolle über >Barrier Command< ausüben soll?« fragte Turkwood. 167 »Nicht ein Wort. Bergen begreift genau, daß wir immer nur jeweils eine heiße Kartoffel herumreichen, sofern das möglich ist.« »Barrier Command bietet aber eine gefährliche Machtbasis, Sir. Ich kann gar nicht nachdrücklich genug betonen, wie ...« »Immer mit der Ruhe, Charlie. Die haben im Augenblick eine Aufgabe zu erfüllen - und nur die eine: Die Abriegelung der seuchenbefallenen Gebiete - Irland, Großbritannien und Nordafrika. Sollten sie über dieses Mandat hinausgehen wollen, dann bleibt uns später noch Zeit genug, damit fertig zu werden. Wir müssen die Geschichte im Griff behalten, Charlie. Darin besteht unsere Hauptaufgabe - die Sache im Griff zu haben.« Er pflügt das wilde Haar der See, Ich bange nicht, daß Wikingerfremdlinge Sich mir übers Wasser nahn. »Der schützende Sturm« (gälisches Gedicht aus dem 8. Jh.) Der leichte Kreuzer des Barrierenkommandos stellte die kleine Schaluppe vor der Courtmacsherry Bay, während sie auf einem Kurs Richtung Old Head of Kinsale zulief. Das Segelboot lag im trüben Dämmerlicht des früh hereingebrochenen Abends dicht am Wind, und plötzlich schnitt ihm die hochragende Wandung des Schnellkreuzers die stürmische Brise ab. Das Kriegsschiff, am Clyde für Südafrika gebaut, als dieses Land noch nicht wegen seiner Apartheidspolitik unter Blockade stand, zeigte die Flagge der Vereinten Nationen am Göschstock. Man hatte das Segelboot schon seit mindestens einer Stunde auf dem Radar verfolgt, während es auf die Küste zustrebte und während Signale zwischen ihm und dem Hauptquartier des Admirals Francis Delacourt hin- und hereilten. Admiral Delacourt war der Leiter des Barrier Command, und seine Basis lag auf Island. »Warnt sie, so sollen abdrehen«, befahl Barrier Command. 168 »Ein Patrouillen-Torpedoboot wird geschickt, um den Typ wegzueskortieren.« »Wahrscheinlich Presse«, hatte einer von Delacourts Adjutanten gesagt. »Blöde Idioten.« Der Kreuzer kam im Wind heran, wendete und ließ die Maschinen im Rückwärtsgang laufen. Wuchtig schaukelte das Schiff über dem schmalen Segelboot, während ein Maat mit einem Megaphon sich in der Öffnung einer Ladeluke mittschiffs zeigte. Die elektronische Verstärkeranlage trug seine Stimme mit abgehackten mechanisch klingenden Silben zu John herüber, der am Ruder des Segelbootes saß. »Sie befinden sich in Sperrgebiet! Drehen Sie ab und nehmen Sie Kurs nach Süden!« John starrte die rostfleckige Wand des Kreuzers hinauf. Er konnte die Fahne der Vereinten Nationen scharf im Wind flattern sehen, aber das Knattern des Tuchs konnte er über dem Brausen der Wellen gegen den Leib des leichten Kreuzers nicht ausmachen. Sein Boot, aus dem Wind gefallen, tanzte jetzt gefährlich. Er hörte das rauschende Wasser in der Bilge unter seinen Füßen. Ganze acht Meter lang war die Schaluppe, und sie hatte ihn sechzigtausend Dollar in Brest gekostet; vierzigtausend für das Boot und zwanzigtausend für Schmiergelder. Nachdem er einhundertvierzigtausend Dollar auf einem Nummernkonto in Luxemburg deponiert hatte, war er der Überzeugung gewesen, seine Reserven würden großzügig ausreichen, um seinen Plan vollends durchführen zu können. Aber die Schaluppe hatte ein schönes Loch in diese Reserve gerissen, und außerdem hatte er auch noch mit weiteren Komplikationen zu kämpfen gehabt. Die größte davon war ein Rückfall von fünfzehn Tagen gewesen, den er in einem Relais in einem der Brester Randbezirke durchgestanden hatte und während dessen er sich nach Consuelas muskelstarker Fürsorge gesehnt hatte. Als es ihm wieder so gut ging, daß er sich bewegen konnte, war die Welt in die ersten Konvulsivzuckungen verfallen, die seine Pest verursachte, und die Preise für nahezu alles waren bestürzend emporgeschnellt. 169 Auch war es keineswegs hilfreich gewesen, daß bei den Verhandlungen über die Schaluppe und die Hafenfreigabe die Franzosen recht wohl bemerkten, unter welchem Zeitzwang er stand, woraufhin sie natürlich alles hinauszögerten. Je mehr er sie zur Eile drängte, desto träger agierten die Franzosen und desto höher war der Preis gestiegen. Es war der >Tag 49< der Weißen Pest, ehe er die Position von fünfzig Grad nördlicher Breite erreichte, von wo aus er nordwärts in die Irische See vorstoßen wollte, und weder das Wetter noch sein störrischer kleiner Richtfunksender hatten sein Spiel mitgespielt. Die Schaluppe war für geschützte Wasser gebaut, keineswegs für den offenen Ozean oder die Irische See. Der Peilsender funktionierte nur nach einem höchst persönlichen Funktionsplan, was bedeutete, er arbeitete eine Stunde lang etwa ohne Störungen und danach nur eine Minute oder so, bevor man ihn aufmachen und die Leitungen und Batterien überprüfen mußte. Und erst als er das Licht am Fastnet Rock ausmachte, weit drüben backbord, in den frühen Morgenstunden, war er sicher gewesen, den richtigen Kurs gesteuert zu haben. Die Dämmerung hatte die Hügel Irlands aus den Küstennebeln auftauchen lassen, und es war kein anderes Fahrzeug in Sicht, und so hatte er geglaubt, er werde es
ohne Zwischenfall bis unter Land schaffen. Aber da lag dieses verfluchte Patrouillenschiff des Barrier Command und versuchte ihm die Durchfahrt zu verwehren. Und während der Maat seinen Befehl wiederholte, stieg wilde Wut in John auf. »Gieren Sie weg, oder wir sind gezwungen, Sie zu versenken!« John hob den kleinen Lautsprecher, den er bereitgelegt hatte, sobald er den Kreuzer ausgemacht hatte. Er preßte den Daumen auf den Knopf und richtete den Trichter des Megaphons auf den Maat, der puppenhaft klein dort oben in der breiten Luke hing. Mit seinem besten irischen Akzent fragte John: »Ihr wollt mich also zu den Mobs zurückschicken?« 170 Das sollte ihnen zu denken geben. Geschichten von aufgewiegelten Massen, die irische und britische Staatsbürger auf dem Kontinent angriffen, waren ein ständiges Thema der Nachrichten. Und Libyer, wenn auch weniger zahlreich, hatten es auch nicht besser. Der Maat drehte sich um und sprach zu jemandem, der hinter ihm sein mußte, dann wandte er sich erneut mit dem Megaphon John zu. »Identifizieren Sie sich!« Es war anstrengend, das Megaphon zu heben. John war noch nicht so recht über die Krankheit hinweg, was immer das gewesen sein mochte, was ihn da erwischt hatte. Und die lange Fahrt seit Brest, fast ohne Schlaf, hatte ihn geschwächt und übermäßig reizbar gemacht. Er ließ seine Verärgerung in der Stimme mitklingen. »Ich bin John Garrech O'Donnel aus dem County Cork, Sie verdammter Arsch! Und ich fahre heim!« Offensichtlich als Reaktion auf jemand hinter ihm blökte der Maat: »Diese Gewässer sind gesperrt!« »Genau wie die ganze übrige Welt, du blöder Britenarsch!« brüllte John. »Wo sonst soll ein Ire hin als nach Irland?« Er ließ das Megaphon sinken und starrte zu der offenen Luke hinauf. Das unregelmäßige Tanzen der kleinen Schaluppe drehte ihm fast den Magen um, aber er zwang sich, das zu unterdrücken. Keine Zeit zum Kotzen! Und diese ganze Begegnung hatte etwas Lächerliches - Lilliput, zeitmodisch zum Leben erweckt. John hörte das Grummeln der Maschinen des Kreuzers, der die Position luv von ihm weiter beibehielt. Die Wellenbewegung vom Bug und Heck des Schiffes ließ die Schaluppe in ständig dwarser See tanzen. Wieder kehrte der Maat John den Rücken zu, und man beriet sich offensichtlich dort oben. Aber dann stieß der Lautsprecher wieder auf John zu; er sah aus wie eine bizarre mechanische Blüte, die aus dem Mund des Matrosen hervorwuchs. »Ich habe den Auftrag, Ihnen zu sagen, daß wir Südafrikaner sind, Sie irischer Schlammbeißer! Ihr Befehl ist, holen Sie die Segel nieder!« 171 John hob sein Megaphon. »Mein Motor reicht dafür nicht aus, du Ableger von 'nem Britenarsch!« Er stemmte die Beine gegen die Plicht und beobachtete den Maat genau, der da oben weit über ihm hing. Um den Bug des Kreuzers schoß eine scharfe Bö, fuhr in das Hauptsegel der Schaluppe und luvte es an. John zerrte das Ruder dicht an den Bauch und glitt erneut unter die Leeseite des Leichtkreuzers. Als er sich wieder der Schiffsluke zuwenden konnte, war der Maat nicht mehr zu sehen. Die dort oben hatten keine große Wahl, das spürte John. Sein Akzent mochte durchgehen, ja, unter diesen Umständen konnte er vielleicht sogar einen echten Iren überzeugen. Wer außer einem von der Pest gehetzten Iren würde schon so verrückt sein, sich in dieser Nußschale hier heraus zu wagen? Wenn sie ihn auf den Kontinent zurückschickten, würde das für ihn den sicheren Tod bedeuten, weil der Mob ihn lynchen würde. In Brest war es ihm nur dank eines übertriebenen amerikanischen Akzents gelungen, sich seine Handlungsfreiheit zu erhalten. Das hatte lange genug gewirkt, so lange jedenfalls, wie er großzügig mit Dollars um sich werfen konnte; aber später, gegen Ende seines Aufenthaltes, hatte er gespürt, daß er immer weniger willkommen war, daß "seine Chancen in dem Schwall von schlechten Nachrichten und wachsendem Argwohn zu ersaufen begannen. Aber er trug ja einen irischen Namen. Nun ja, es ist noch nie die Stärke der Franzosen gewesen, Fairplay zu beweisen, dachte er. Aber vielleicht gab es so was wie Fairplay noch zwischen anglophonen Seefahrern. Ein paar Erinnerungen an diese uralte Kameradschaft auf See mußten doch noch erhalten geblieben sein, besonders angesichts der jetzigen Umstände: ein Rest romantischer Bewunderung seitens der auf Stahlschiffen Fahrenden für den im Wind segelnden Mann ... Die groben Beleidigungen, die er gerufen hatte, würden sie als >typisch irisch< einordnen können und außerdem auf die persönliche Tragödie zurückführen, die er ihrer Überzeugung nach durchlitten hatte. Für diese Männer vom Barrierenkommando ließ sich seine 172 Lage ganz einfach darstellen: Zum Teufel oder zurück nach Irland. Und dem konnten sie sich nicht entziehen. Das ungeschriebene Gesetz der Meere würde in ihren Köpfen herumspuken, zumindest im Unbewußten. Jeder Hafen im Sturm! Und wann hatte es jemals einen derartigen >Sturm< gegeben wie diese Seuche, die in eben diesem Augenblick ihre Welt überfallen hatte? Der Maat tauchte wieder in der Luke auf und richtete das Megaphon zu John herunter. »Was war Ihr Ausgangshafen?«
Diese Frage verriet John, daß er dabei war zu gewinnen. »Jersey«, log er. »Sind Sie in Kontakt mit Seucheinfizierten gekommen?« »Wie, zum Teufel, soll ich das wissen?« John ließ das Megaphon sinken und wartete. Es war zu sehen, daß der Maat den Kopf zurückbeugte und mit jemandem redete. Dann: »Stand-by one! Wir legen ein kleines Boot über, das Sie im Schlepp nach Kinsale reinbringt.« John gestattete sich einen tiefen Seufzer. Er fühlte sich ganz ausgelaugt. Er verstaute das Megaphon in der Halterung unter seinem Sitz. Dann schob sich ein Derrickgalgen aus der Luke, in der der Maat gestanden hatte. An ihm hing eine Motorbarkasse in dem gleichen tristen Grau wie dem der nichtverrosteten Stellen der Schiffswandung. Das Boot schaukelte wild, wurde dann aber mittels Bootshaken stabilisiert. Der Galgen schob sich bis ans äußerste Ende vor. John hörte das Poltern und leise Wimmern der Winsch, während das Boot langsam abwärts sank und dicht über den Wellenkämmen haltmachte. Auf dem Deck der Barkasse tauchten Männer auf. Sie bewegten sich zielstrebig zu den Kabelhalterungen. Plötzlich sackte die Barkasse in ein Wellental ab. Das Wasser spritzte um sie auf, und die Talje schwang frei in der Luft. Das kleine Boot bog von der Flanke des Kreuzers mit stark gekrümmter Bugwelle ab. John beobachtete den Bootsführer an der Ruderpinne. Der Mann legte die Hand über die Augen gegen die 173 Gischt, während er sein Boot zirka dreißig Meter luv von John heranbrachte und dann den Motor drosselte. Das Boot war ein tiefbordiges Fahrzeug mit messingschimmernden Luken und einer kastenförmigen Kabine, aus der soeben ein Offizier kam. Er richtete sein Megaphon auf John. Am Bug machten Männer eine kleine Abschußvorrichtung mit einer Leine bereit. »Wir schießen Ihnen die Leine rüber«, rief der Offizier. »Halten Sie sich beiseite. Läuft Ihr Motor überhaupt?« John hob sein Megaphon. »Manchmal!« »Wir setzen Sie in der Bucht frei«, brüllte der Offizier. »Sollte Ihre Maschine anspringen, steuern Sie die Yachtpier am Südarm an, dann vertäuen Sie sofort Ihr Boot und gehen unmittelbar an Land. Wir versenken es, bevor wir umkehren. Wenn Ihr Motor nicht arbeitet, müssen Sie eben schwimmen!« John richtete das Megaphon zu dem Offizier hin. »Aye-aye!« »Sobald Sie im Schlepp sind, holen Sie die Segel ein! Sollten Sie überbord gehen, werden wir Sie nicht aufnehmen. Bestätigen Sie, daß Sie verstanden haben!« »Verstanden!« Ein Matrose hockte auf der Leeseite der Kabine, dann richtete er sich auf, hob das Katapult, zielte und schoß die Leine sauber an Johns Baum. John vertäute die Pinne, dann zerrte er die Leine nach vorn und machte sie am Betting fest. Er wartete, bis das Schleppseil das Boot gewendet hatte, dann holte er die Segel ein und verschnürte sie lose, bevor er sich wieder ins Heck begab. Als sie aus dem Windschatten des Kreuzers kamen, fuhr ihm die kalte Brise scharf ins Gesicht. Trotz der Kälte war John schweißgebadet. Aber der Wind bewirkte, daß er jetzt zu zittern begann. Nach knapp einer Meile im Schlepptau, das sein Boot springend voranriß, wurde ihm speiübel. Er hustete von dem Gestank der Abgase der Barkasse. Er konnte dort nur den Bootsführer ausmachen, der am Heck stand und das Ruder mit der linken Hand bediente. 174 Als sie um Old Head of Kinsale bogen, begann es zu dunkeln. John bemerkte, daß nirgendwo an der Küste Lichter von irgendwelchen Ansiedlungen zu sehen waren. Aber der Kreuzer, der weiter draußen mit ihnen Schritt hielt, war voll beleuchtet, und John konnte sogar die Radarantenne stetig kreisen sehen. Dann zwängte John sich in eine Ecke der Plicht und dachte darüber nach, welcher Empfang ihm wohl an Land zuteil werden würde. Seine einzige Legitimation war der O'Donnel-Ausweis. Und der lag in einer kleinen Umhängetasche in der Kajüte der Schaluppe, neben einer belgischen Automaticpistole, die er in Brest erworben hatte, einen mehr als mageren Nahrungsvorrat von Trockenrationen, ein paar Kleidern zum Wechseln und einer medizinischen Notausrüstung, die er in Brest auf dem Schwarzen Markt gekauft hatte. Gegen Norden machte John allmählich weitere schimmernde Schiffe aus, ihre Lichter stachen hell aus der dichter werdenden grauen Dämmerung heraus. Das Sechssekunden-Leuchtfeuer bei Bulman kam in Sicht, als sie um das Old Head bogen. Auf dem Dach der Barkassenkabine flammte ein Scheinwerfer auf, und John sah in der Gischt, die vom Bug der Barkasse aufstiebte, die Lichtsignale zucken. Von Hangman's Point blitzte ein Antwortsignal auf. Die Barkasse steuerte nach links, direkt auf die Zufahrt zum Kinsale Harbour zu und gewann jetzt mehr Fahrt, weil sie mit dem auflaufenden Wasser fuhr. An Steuerbord sah John die Markierungslichter unter den Ruinen des Charles' Fort, und dies war eine der Landmarken, die er sich eingeprägt hatte. Es war inzwischen vollkommen dunkel geworden, aber ein sicheldünner Mond verstreute genug Helligkeit, um die vorbeirauschende Küstenlinie undeutlich erkennen zu lassen. Er spürte die Veränderung, als sie in den Südarm der Bucht einbogen, und da war auch das Licht am Zollkai und die Ortspier. John stand auf und hielt sich an der Spiere fest. Das Schlepptau erschlaffte, und er wäre fast abgedriftet. Die Lichter der Barkasse glitten an ihm 175
vorbei, links, dann setzte sich das Boot hinter ihn. Plötzlich zuckte eine lange Lichterkette auf der Pier auf. Der Lautsprecher der Barkasse röhrte: »Klaren Sie das Tau, ehe Sie Ihren Motor starten!« John stolperte zum Bug und holte die Leine ein, die er einfach wirr auf dem Vordeck liegen ließ. Durchnäßt und frierend kroch er in die Plicht zurück, nahm die Schutzdecke vom Motor und begann im trüben Schimmer der einzigen Sechs-Volt-Birne zu arbeiten. Er sah schon vor sich, wie ihn die einlaufende Flut gegen die Pier schleudern würde. Der Vorbesitzer der Schaluppe hatte ihm ein einziges mal gezeigt, wie der Motor zu bedienen war. John gab Vollgas, stellte die Drosselklappe und das Vergaserventil ein, dann riß er die Starterschnur an. Nichts. Er zog erneut. Der Motor hustete, es kam eine Fehlzündung, dann lief er. Abgase drifteten über die Plicht davon. Das Megaphon hinter ihm blökte: »Legen Sie am Schwimmer unter der Pier an! Machen Sie schnell!« John legte den Hebel langsam ein, und der kleine Motor begann zu arbeiten, der Bug wendete sich. Es kam ihm ziemlich langsam vor nach dem Tempo der Barkasse, aber der Schwimmer lag genau und dicht vor ihm. Er sah, daß auf der Pier über dem Schwimmer bewaffnete Männer Posten bezogen hatten, und auf dem Schwimmer selbst standen gleichfalls Männer, ebenfalls bewaffnet. Als sein Boot gegen den Landeplatz stieß, hielten die Männer es dort fest. »Lassen Sie den Motor laufen!« befahl jemand. »Klar.« John holte seinen Rucksack aus der Kabine und sprang auf den Schwimmer. Einer der Männer packte ihn am Arm, um ihm Halt zu geben, aber John verspürte keine Freundlichkeit in dieser Geste. Wie wenn sie so etwas oft und immer wieder getan hätten, machten die Männer am Heck der Schaluppe eine Leine fest und zogen sie herum, bis der Bug auf die Bucht hinauswies. Einer sprang an Bord, vertäute das Ruder und gab Gas. Wei176 ßes Wasser schäumte auf und lief flach über den Schwimmer weg. Der Mann kam von der Schaluppe zurück, und noch während er sprang, hieb ein anderer Mann die Leine mit einer Axt durch. Die Schaluppe schoß hinaus auf die wartende Marinebarkasse zu. Plötzlich sprang ein Flammenbogen von der Barkasse zu der Schaluppe hinüber. Dröhnend versackte der Bug des Segelbootes. Der Mast kippte nach hinten, als das Heck sich hochkantete. Man konnte noch immer die sich drehende Schraube sehen. Dazu reichte das Licht von der Pier her aus. Dann verstummte der Motor plötzlich, und das Boot glitt unter das schwarze Wasser hinab. Die Barkasse kurvte dicht über der Stelle, wo das Boot versunken war, ein Scheinwerfer stach ins Wasser, dann backte die Barkasse und bot dem Schwimmer ihr Heck dar. Wieder ertönte das Megaphon laut: »Da habt ihr einen von euren Leuten, der sich nach euch gesehnt hat, Jungs. Also, bis nächste Woche!« »Also einer von unsern Leuten, was?« Eine dünne Tenorstimme, aber mit einer Färbung, die John einen Schauder den Rücken hinabjagte. John wandte sich zur Pier, dem Mann zu, der da gesprochen hatte, und blickte in die Mündung einer Maschinenpistole. Der Mann mit der Waffe war groß und dürr. Er hatte Cordhosen an, eine bauschige grüne Jacke und trug einen breitrandigen Hut, dessen linke Krempenseite hochgeklappt war, wie man es bei Australiern oft sieht. Er stand am Fuß der zur Pier hinaufführenden Rampe, seine Figur hob sich dunkel vor den grellen Lichtern darüber ab. Im Schatten des Hutes konnte John sein Gesicht nicht ausmachen. »Ich bin John Garrech O'Donnel«, sagte John. Er bemühte sich angesichts dieser Konfrontation nicht, einen irischen Akzent zu spielen. »Klingt wie'n Yank, Kevin«, sagte ein Mann, der hinter John stand. »Und wenn er auch O'Donnell heißt, sollten wir ihn nicht lieber an die Fische verfüttern?« »Die Entscheidungen treffe ich, Muiris«, sagte der Mann 177 mit dem Australierhut. Er ließ John nicht aus den Augen. I »Und was führt Sie in unser schönes Irland, John Garrech O'Donnell?« »Ich habe Fähigkeiten, die jetzt hier gebraucht werden«, antwortete John ein wenig unsicher angesichts der Bedrohung, die er ringsum verspürte. »Also sind Sie ins Land Ihrer Väter heimgekehrt«, sagte der Hutmann. »Aus welcher Gegend in Yankeeland kommen Sie denn?« »Boston«, log John. Der Hutmann nickte. »Ahhh, und im Radio sagen sie, daß die Pest in Boston schlimm ist. Wie sind Sie dort weggekommen?« »Ich war schon in Europa«, sagte John. »Man kann einfach jetzt nicht mehr nach Boston zurück. Sie haben das Feuer | dort eingesetzt.« »Ja, so sagen sie«, gab ihm der Hutmann recht. »Sie haben I Familie in Boston?« John zuckte die Achseln. »Und in Irland vielleicht?« »Ich weiß es nicht«, sagte John. »Also ist Irland der einzige Platz, an den Sie gehen konnten?«
»Sie haben sicher von den Mobs in Frankreich und Spanien gehört«, sagte John. »Zur Hölle oder nach Irland«, sagte der Hutmann. »War's das, was Sie sich gedacht haben?« John schluckte einen Klumpen im Hals hinunter. Dieser Mann mit dem Australierhut - Kevin -, eine Stimme, die wie ein Messer schnitt. Der Mann entschied je nach Laune über Leben oder Tod. »Ich besitze ein Talent, das Irland gerade jetzt nötig hat«, sagte John noch einmal. »Und was könnte das wohl sein?« fragte der Mann mit dem Hut. Es klang ein wenig freundlicher, aber der Lauf der MP zeigte noch immer auf Johns Brust. »Ich bin Molekularbiologe«, sagte John. Er starrte zu dem 178 Gesicht im Schatten hinauf und suchte nach einem Zeichen dafür, daß die Information begriffen worden war. Nichts. »Du bist n Moleku-was?« fragte jemand hinter John. »Wenn wir ein Mittel gegen diese Seuche finden sollen, dann sind meine Spezialkenntnisse dringend nötig«, sagte John. »Mann, schau mal, Kevin«, sagte der Mann hinter John, »der kommt da eigens zu uns herüber, um uns von der Pest zu heilen. Ist das nicht großartig?« Mehrere Männer hinter John auf dem Schwimmer lachten. Aber es klang kein Humor in dem Lachen mit. Plötzlich ließ ein heftiger Stoß in den Rücken John auf den Lauf der Maschinenpistole zutaumeln. Hände packten ihn links und rechts und hielten ihn schmerzhaft fest. »Seht nach, was in dem Sack ist!« befahl der mit dem Hut. Sie entrissen ihm seinen Rucksack und brachten ihn irgendwohin hinter seinem Rücken. »Aber wer seid ihr denn, Leute?« fragte John. »Wir sind die Finn Sadal«, sagte der mit dem Hut. »Die Leute nennen uns die >Strandjungs