Scan by Schlaflos
Buch Der Schlafende König von Aglirta ist erwacht und hat seinen Thron bestiegen. Aber er muss gleic...
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Scan by Schlaflos
Buch Der Schlafende König von Aglirta ist erwacht und hat seinen Thron bestiegen. Aber er muss gleich darauf erneut freiwillig in den Schlaf sinken, um den mächtigen Erzzauberer, der als Schlange bekannt ist, zu dem gleichen Schicksal zu verdammen. Damit kehrt jedoch keine Ruhe in Aglirta ein: Die Anhänger der Schlange streben weiterhin nach der Macht im Land, und ein charismatischer Kriegsherr schart eine stetig wachsende Armee um sich und droht, den Thron an sich zu reißen. Wieder ist es die Bande der Vier (die junge Zauberin Embra, der kleine Dieb Craer, der hünenhafte Krieger Hawkril und der Heiler Sarasper), die sich dem drohenden Verhängnis entgegenstemmt und die Zukunft von Aglirta zu retten versucht. Autor Ed Greenwood, geboren 1959 in Toronto, hat mit den »Forgotten Realms« eine der beliebtesten Welten für die Fantasy-Leser und Rollenspieler erschaffen. Er hat sie in zahlreichen Veröffentlichungen beschrieben und dazu eine Reihe von Romanen verfasst, unter anderem den populären Zyklus »Die Legende von Elminster«. Ed Greenwood ist Bibliothekar und lebt in einem alten Farmhaus bei Ontario. Liste der lieferbaren Titel DIE LEGENDE VON ELMINSTER 1. Der Zauberkuss (24223) 2. Die Elfenstadt (24224) 3. Die Versuchung (24240) 4. Im Bann der Dämonen (24239) DER RING DER VIER 1. Land ohne König (24241) 2. Der leere Thron (24242) 3. Die verzauberte Schlange (24290)
Ed Greenwood
Die verzauberte Schlange Der Ring der Vier 3 Ins Deutsche übertragen von Marcel Bieger BIANVALET Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »A Dragon's Ascension. A Tale of the Band of Four (vol. 3)« bei Tor Books, New York. Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Blanvalet Taschenbücher erscheinen im Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH. 1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung Juli 2004 Copyright © der Originalausgabe 2002 by Ed Greenwood Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2004 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schluck GmbH, 30827 Garbsen. Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Agt. Schlück/Maitz Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: GGP Media, Pößneck Verlagsnummer: 24290 Redaktion: Cornelia Köhler Glossar: Marcel Bieger und Cornelia Köhler UH • Herstellung: Peter Papenbrok Made in Germany ISBN 3-442-24290-8 www.blanvalet-verlag.de
Für Shalyena Lass deine Straße hell leuchten Dein Herz glücklich sein Deine Freunde zahlreich Und die Schatzruhe deiner Erinnerungen voller Glanz Der Feind der Schlange Ist der Drache Keine echte kriechende Viper Sondern ein Magier in schwarzen Roben Sein Herz schwärzer als das Gewand der Nacht Seine Hände triefend von Blut Seine Zauber so tief Kriechen und schleichen Über Tod und dahinschwindende Jahre Könige fallen, Türme stürzen ein Immer wachsam Im Schatten lauernd Schlüpft sie in dunkle Träume Die Schlange, welche sich wieder erheben wird Er flüstert Fürsten ins Ohr Stiehlt sich des Nachts in ihren Geist Und tückische Männer singen seinen Namen Gierige Narren füllen seine Tempel Kronen fallen vor seinen Fängen Man murrt und verbirgt sich vor ihm Der wahren, kriechenden Viper Aber nicht vergeblich steht man gegen ihn auf Das Schwert geschärft, ihn zu verderben Irrt nicht zu Gipfeln tief von Schnee bedeckt Oder vergessenen Ruinen, hallende Grotten Jagd nicht den Lindwurm, der nach Golde strebt . Denn der Feind der Schlange ist Der Drache Haelithe von Ranschree, Barde DER WEG DER TAPFERKEIT niedergeschrieben in den Tagen des Königs Gaur (also vor viel zu langer Zeit) AUS DEN CHRONIKEN VON AGLIRTA Eine Geschichte n der Zeit der Vielen Zauberer, als ganz Darsar nach den Dwaerindim suchte und sich jedes Jahr Königreiche erhoben und wieder vergingen, erschien in Aglirta die Bande der Vier, deren Schicksal es war, dem Land ohne König wieder einen Herrscher zu geben. Aber vielen erschien dies nicht die Erlösung und den Frieden zu bringen, von welchen die Weissagungen gesprochen hatten. Diese Viererbande erhob sich in verzweifelten Zeiten, in den Tagen, nachdem Fürst Schwarzgult versucht hatte, in seinem langen Zwist mit dem rivalisierenden Haus von Silberbaum an Boden zu gewinnen und gegen die reichen Inseln von leirembor in den Krieg zu ziehen. Er hatte es sich zum Ziel gesetzt, sich die riesigen Mengen an Bauholz und Erzen anzueignen, aber er wurde besiegt und musste sich unter großen Verlusten an Soldaten und Rittern zurückziehen, wobei Schwarzgult selbst im Getümmel verschollen ging. Dann bemächtigte sich der grausame Fürst Silberbaum dank der Mithilfe seiner die Dunklen Drei genannten Magier, der Ländereien Schwarzgults und bekriegte anschließend mit Erfolg die Fürstentümer, welche seinen eigenen Besitz umgaben. So großartig war der Aufstieg seiner Macht, dass es ganz danach aussah, als ob er bald der König von Aglirta sein würde, dessen wahrer Herrscher länger, als es sich irgendein lebender Mensch ins Gedächtnis rufen konnte, in einem Zauberschlaf gefangen lag. 11 Dann kehrten zwei verzweifelte aglirtanische Krieger - der große Ritter Hawkril Anharu, der zuverlässigste unter Schwarzgults Männern, obgleich er jeden Rang ablehnte, und sein bester Freund, der scharfzüngige und geschickte Beschaffer Craer Delnbein - als Gesetzlose nach Aglirta zurück und versuchten unerhört kühn, die mit Juwelen besetzten Gewänder der Herrin der Edelsteine - Fürst Silberbaums Tochter - aus deren
Schlafgemach zu stehlen. Die Dunklen Drei hatten die Fürstentochter in mancherlei Zauberkünsten ausgebildet, sie jedoch gleichzeitig versklavt. Die Burg Silberbaum war ihr Gefängnis, und die Pläne der Zauberer sahen vor, die Edle eines Tages in die Mauern der Burg zu bannen, auf dass sie ihnen als lebende Festung diene. Und aus diesem Grund verbündete sich Embra Silberbaum, welche die beiden Diebe mit Leichtigkeit hätte töten können, mit denselben und schloss einen Pakt mit ihnen, gemeinsam zu fliehen. Verfolgt von den Mächten des Fürsten flohen die drei zum Schweigenden Haus, dem verfluchten und seit langem leer stehenden Besitz des Hauses Silberbaum. Dort trafen sie auf einen alten Heiler, Sarasper Kodelmer, welcher unter anderem die Gestalt eines Langzahns von manchen auch Wolfsspinne genannt - annehmen konnte. Craers Freund seit langer Zeit, hatte er sich vor allen Menschen verborgen, da er nicht in die Sklaverei geraten wollte. Die Fürsten trachteten nämlich danach, alle Heiler in Ketten zu legen, da sie ihnen nützlich sein mochten. So entstand die Viererbande, eine Gruppe, so fröhlich wie nur irgendeine Gaunerbande, welche von den Barden besungen wurde. Im Laufe ihrer Bemühungen wurden Fürst Silberbaum und seine Dunklen Drei niedergerungen und der Schlafende König aufgeweckt, auf dass er wieder von Treibschaum aus herrsche. König Kelgrael Schneestern belohnte sie, indem er einem je12 den von ihnen den Titel eines Hochfürsten von Aglirta verlieh, so wie er den zurückgekehrten Fürsten Schwarzgult zum Regenten von Aglirta ernannte, bevor er in seinen Zauberschlaf zurückkehrte. Denn nur wenn Kelgrael schlief, konnte sein Feind seit altersher, der bösartige und höchst mächtige Erzmagier, welchen die Menschen nur als die Schlange kannten, ebenso im Schlaf gefangen und fern von der Welt gehalten werden, welche er so dringend zu beherrschen strebte. Aber während all dem Hader unter den ehrgeizigen Fürsten und Zauberern sowie allen möglichen Leuten, welche nach den vier mächtigen Dwaerindim-Steinen suchten, wurden die Bürger von Aglirta der schlechten Regierung von Herzen überdrüssig. Sie wandten sich der Anbetung der Schlange zu, deren geschuppte Priester welche in Wirklichkeit keineswegs echte Priester, sondern Zauberer waren und, sobald ihre Macht zunahm, mehr und mehr die Gestalt von Schlangen annahmen - die Gläubigen in Verschwörungen verwickelten, welche die Erlangung der Krone von Aglirta zum Ziel hatten. Sie wandten sich ebenso Fürsten zu, welche auch nach der Krone gierten und von denen ein jeder hoffte, der große König zu werden, welcher Aglirta so lange gefehlt hatte und welcher Frieden und Gerechtigkeit ins Land ohne König zurückbringen würde. Das Volk sehnte sich nach Frieden und einem Wiedererblühen des Landes. Und während der ganzen Zeit beäugten fremde Zauberer das Tal von Aglirta und mischten sich in das Getümmel ein, und gleichzeitig lagen die geheimnisvollen Gesichtslosen auf der Lauer. Die Viererbande eilte hierhin und dorthin und versuchte, alle möglichen Fehler zu berichtigen. Aber trotzdem hielten die Schlächtereien und das Suchen nach den Dwaerindim unvermindert an, und keiner unter all denen, welche unbarmherzig hin und her galoppierten, sahen das Große Verhängnis voraus, welches auf sie zuraste. 13 Oder besser gesagt das Jüngste Gericht, welches sie mit ihren eigenen Taten rasch und unbarmherzig über ihr geliebtes Aglirta brachten - und dazu über ganz Darsar. EINES DRACHEN AUFSTIEG Prolog Lampenlicht spiegelte sich auf den glänzend polierten Rändern eines Dutzends Delkamper-Schildern. Ein junger Mann in einem prächtigen seidenen Hemd starrte an üppigen blauen Wandteppichen vorbei in das Blinken und murmelte: »Wenn alle Welt mein Liebchen verriete ... der Wind ihre Lebensflamme mit sich trüge ... mit sich trüge ...« Er seufzte tief, ließ sein Pergament sinken und spießte mit seiner Feder eine unschuldige Wackelfrucht auf. »Oh, wäre ich doch nur der Barde, für den sie mich halten!«, murmelte er düster und blickte mit finster gerunzelter Stirn aus dem offenen Fenster zu den Sternen hinauf. Flaeros Delkamper ließ seine Stiefel krachend auf die glänzende Oberfläche seines besten Schlafzimmertisches fallen und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Der Kampf gegen Drachen war ein Kinderspiel im Vergleich zu dem Schmieden von Balladen. Vom Strand her wehte eine Brise und brachte den vertrauten Geruch von Seetang mit sich. Ruhelos schwang Flaeros die Füße wieder auf den Boden, sprang auf und bewegte sich in der lässigen Parodie eines höfischen Tanzes geschmeidig quer durch den Raum. Dann ließ er seine Handflächen auf das Fensterbrett sinken und starrte über die Bucht von Ragalar, deren Wasser im Licht des aufsteigenden Mondes unter dem vertrauten Sternengewölbe schimmerten. Über Jahre hinweg hatte er hier am frühen Abend gestanden und auf den schmalen, sich vor ihm erstreckenden Streifen von Darsar geblickt, über welchen der Wind blies, ganz gleichgül15 tig, wie hochmütig oder reich die Delkampers sein mochten oder wie laut und belebt es in der grauen Stadt Ragalar zuging.
Sein Ururahn hatte hier gestanden, als er in seinem Alter gewesen war, und ohne Zweifel ebenfalls zu den gleichen Sternen hinaufgestarrt. Diese Burg, Varandaur, der Sitz der Delkampers, ragte seit mindestens vier Jahrhunderten wie ein grimmiges träges Maul aus Stein über dieser Ecke der Bucht von Ragalar auf - der Turm, in welchem er jetzt stand, mit all seinen neun Stockwerken, hing geradezu über den Wassern, da er vorsprang und über die Gischt ragte wie der Bug eines großen Schiffes aus Stein, und Ein melodisches Läuten erklang hinter ihm. Flaeros wirbelte herum. Wer mochte ihn zu dieser nächtlichen Stunde stören? Das Geläut erklang erneut wie das Husten eines sich vornehm zurückhaltenden Dieners. Der Barde der Delkampers lächelte dünn und rief: »Nur herein!« Dann hob er eine Braue. »Janthlin?« »Selbstverständlich, Fürst Flaeros«, kam die achtungsvolle Antwort. Der Barde wandte sich wieder dem Fenster zu, so dass nur die Sterne erkennen konnten, wie sich sein Lächeln zu einem fröhlichen Grinsen verbreiterte. Janthlin klingt immer so, als sei er der Welt überdrüssig und geradezu schmerzlich darum bemüht, die hohen Herrschaften zu erfreuen, welchen er diente. Flaeros machte wieder ein ernstes Gesicht und wandte den Kopf um. »Was bringt euch nach Mondaufgang hierher?«, fragte er die Reihen von Schilden. »Braucht jemand dringend ein Lied?« »Nein, Herr. Unten in der Halle sind wir mit Musik wohl versorgt. Ein fahrender Sänger spielt als Gegenleistung für ein Festmahl bei Kerzenschein und ein Bett für die Nacht auf seiner Harfe. Er ist aus Aglirta hierher gereist, so sagt er wenigstens, ein -« 16 Flaeros wirbelte herum und raste wie ein aufziehender Sturm an dem Diener vorbei. »Ja, Janthlin, das habt Ihr gut gemacht. Vielen Dank! Ja, seid bedankt!« Die letzten Worte hallten von der Treppe her in den Raum zurück, da Flaeros bereits die Stufen hinuntereilte. Der alte Diener drehte sich mit leicht unsicheren Schritten um, schaute zu, wie der Schatten seines jungen Herrn die Wand hinuntereilte, und lächelte jetzt seinerseits ein wenig. \ Der Junge glich so sehr seinem Vater. Flitzt wie ein Vogel umher, hüpft wie eine Flamme ... Janthlins Lächeln verschwand, als ihm zwangsläufig die nächste Zeile der alten Ballade in den Sinn kam. Sein Todesschrei hallt ungehört, und nur sein Name bleibt übrig. Das war so eine Sache mit Balladen. Nur zu oft nahmen sie eine Wendung, die einem nicht gefiel. So wie die Liebe. Wie das Leben. Hmmm. Janthlin langte in den Ausschnitt seines Gewandes, zog die Flasche flüssigen Feuers hervor, welche er dort bereithielt, um solch finstere, immer häufiger auftretende Gedanken einfach wegzuspülen - und benutzte den Inhalt. Das hell klingende, verschnörkelte Harfenspiel endete mit einigen letzten, wehmütigen Tönen, als Flaeros die Urdragon-Treppe hinunter sprang und auf dem Absatz innehielt, von welchem aus man die Hohe Halle überblicken konnte. Unter den Lampen dort unten drängte sich eine große Menge von Dienern und Delkamper-Onkeln in ihren scharlachroten und goldenen Gewändern, und in vielen Händen befanden sich leere Kelchgläser, was einen nicht weiter verwundern durfte, da nirgendwo eine Maid zu sehen war, die herbeigeeilt wäre, sie zu füllen. Alle sprachen gleichzeitig und überschütteten den Mann mit den traurigen Augen und der abgetragenen Lederkleidung, welcher auf einem Stuhl mitten auf der langen Festtafel saß, 17 ganz nahe bei dem großen, zum Meer hin offenen Fenster, mit Fragen. Die Harfe in seinen Händen vibrierte noch immer. Neuigkeiten aus Aglirta waren es immer wert, dass man ihnen lauschte - und hier saß auch noch ein Geschichtenerzähler, welchem man Fragen stellen konnte - das war etwas ganz anderes als das armselige, mit Vorsicht zu genießende Geflüster aus siebenter Hand ... Der Sänger schaute zu Flaeros herauf und schien leise zu nicken, obwohl man wegen seines herabhängenden Schnurrbartes die Bewegung nicht ganz genau erkennen konnte. »Ich bin in dieses glückliche Haus gekommen«, hob der Fremde plötzlich an, und seine Worte schienen eine unerwartete Bresche in das laute Stimmengewirr zu schlagen, »denn unter all dem neuesten Auf und Ab der fürstlichen Prahlereien, der verlorenen Lieben und der Warenknappheiten gibt es eine wirkliche Neuigkeit für einen unter euch: Der Herrscher von Aglirta hat den dringenden Ruf ergehen lassen, mit einem gewissen Flaeros Delkamper sprechen zu wollen!« Köpfe fuhren herum, man runzelte die Stirn, und überall erklang Gemurmel. »Flaeros?«, fragte mehr als einer der Onkel, und zwar so erstaunt, dass es den jungen Barden tief gekränkt hätte, wäre der nicht gerade die letzten Treppenstufen hinuntergehastet mit den Worten: »Hier bin ich!« Der Sänger - die Dreifaltigkeit möge ihn segnen! - vollführte mit der freien Hand eine schwungvolle Bewegung von der Harfe weg, so wie es das Musikervölkchen zu tun pflegte, um einem fahrenden Sänger den Gruß zu entbieten. »Fürst Flaeros, ich heiße Taercever Rotmantel, fahrender Harfenspieler, und es ist mir eine Ehre, Euch zu begegnen. Bevor Ihr eine Frage stellt: Ich weiß auch nicht mehr zu berichten als die schlichte Bekanntmachung,
die ich gerade übermittelt habe. Der Regent hofft, Euch so bald wie möglich in Treibschaum zu sehen, da er eine Unterredung mit Euch führen will.« Flaeros richtete sich hoch auf, da er spürte, dass die Augen al18 ler in Varandaur Versammelten auf ihm ruhten. Dann bemühte er sich um eine möglichst tief und honigsüß klingende Stimme. »Ich danke Euch, Meister der Harfe. Es ist eine Ehre, dass Ihr Eure Musik in unserem Haus erklingen lasst, und ich stelle nur eine Frage, die uns allen auf der Seele brennt: Wie lauten die neuesten Neuigkeiten aus Aglirta?« Der Sänger Taercever lächelte, und ein gewisses Zucken seiner Mundwinkel erinnerte verdächtig an Spott. »Das übliche Gerangel der Fürsten um Macht. Die erwartungsvoll ausgestreckten Hände der Söldner füllen sich wieder mit reichlich Geld, weil die Straßenräuberei gewaltig zunimmt.« »Ist das denn tatsächlich der Fall?«, knurrte der Flaeros am nächsten verwandte Onkel und wedelte dabei mit einem glänzenden Kelch von der Größe zweier Dienerköpfe hin und her wie mit einem missbilligend gereckten Finger. Der Sänger zuckte mit den Schultern. »Wenn bewaffnete Männer ohne Anstellung ein solch reiches Land durchziehen, werter Fürst«, sagte er zu der glänzenden Kurve seiner Harfe, »dann entsteht immer Ärger, und zwar nicht zu knapp. Aber handelt es sich um so viel unaufschiebbaren, unvorhersehbaren Ärger, dass es Dutzender von Lanzenträgern und Zwanzigertrupps von Bogenschützen bedarf, um mit ihnen fertig zu werden?« »Tja«, polterte ein anderer Onkel, »ich verstehe, was Ihr sagen wollt. Das ist eine Melodie, die wir alle schon ein paarmal zu oft vernommen haben. Also bricht früher oder später wieder ein Krieg aus. Sonst noch etwas?« »Auf dem Markt von Ibryn sah man eine sprechende Kuh«, fuhr der Sänger leichthin fort und machte dann eine Pause, um das unvermeidliche und begeistert gewährte Schnauben und missbilligende Brummen entgegenzunehmen. »Oh, und noch etwas: Ein Flüstern wie von ausgeschüttelten seidenen Bettbezügen geht in ganz Aglirta um, dass nämlich der Regent Ausschau hält nach - diesem dal« 19 Aus den Falten seines wetterfesten Umhangs, welcher in einem Bündel neben ihm lag, zog der Sänger etwas Helles, das einem Handspiegel gleich das Flackern des Herdfeuers einfing und widerspiegelte. Er hielt ein Zepter aus purem Gold in der Hand, dem man die Form eines Drachenkopfes mit leicht geöffnetem Maul gegeben hatte, welcher auf dem stolz geschwungenen Bogen eines Halses mit vielen Schuppen prangte. Der Sänger bewegte langsam den Arm, so dass alle, welche um ihn herum standen, die Schönheit des Zepters bewundern konnten. Die Augen, die aus bernsteinfarbenen Edelsteinen bestehen mochten, schienen zu glitzern, als ob der Drache tatsächlich in der Lage wäre, mit ihnen zu sehen. Alles schnappte nach Luft, und so manch einer wich zurück. »Der Feind der Schlange«, murmelte einer in der Menge, noch bevor Flaeros die Worte aussprechen konnte. Und dann löste sich aus der nach vorn blickenden Gruppe der Diener eine Gestalt. Ein gut aussehender Bediensteter stieß den Arm eines Delkamper-Onkels zur Seite, der nach ihm greifen wollte, und seine Finger glichen plötzlich zischenden, zustoßenden Schlangenköpfen. Die Menge keuchte und schrie, aber der Diener verlangsamte seinen Schritt nicht, sondern stürmte vorwärts und sprang auf den Tisch, auf welchem sich der Sänger vorbeugte, um seinen Mantel um seine Harfe zu wickeln. Taercever blickte auf, sah das Unheil nahen und schwang das Zepter in seiner Hand - aber nicht etwa in Richtung des heranstürmenden Dieners, sondern auf Flaeros zu, welcher noch immer am Fuß der Treppe stand. Der junge Barde griff nach dem Zepter und versuchte gleichzeitig, den Diener im Auge zu behalten; das schwere Zepter versetzte seinem Arm einen betäubenden Schlag und fiel dann klappernd auf die Stufen neben seinen Füßen. Ein Messer blitzte auf. Serviermädchen schrien auf. 20 Der Sänger sprang zurück. Ein Onkel schleuderte vergeblich seinen Kelch, ein anderer bellte nach den Wachen, und dann verfing sich Taercever mit einem Absatz in seinem Stuhl. Das Möbel stürzte um, als der Diener sich in einem Hechtsprung nach vorn warf und seine schimmernde Klinge niederfahren ließ und dann wieder hochriss -und sowohl der Schlangenanbeter wie auch der Sänger stürzten gemeinsam aus dem Fenster. Von unten erklang ein donnerndes Platschen - und jeder im Raum setzte sich eilends in Bewegung. »Ergreift den Schlangenkopf!«, brüllte Onkel Hulgor. Seine heisere Stimme übertönte trompetengleich den allgemeinen Aufruhr. »Ich kümmere mich dann schon um ihn!« »Die Dreifaltigkeit möge auf uns niederschauen«, zischte Onkel Sarth Hulgor zu und bedachte seinen jungen Verwandten mit einem Blick, als der Barde das Zepter aufhob und erstaunt anstarrte, »aber der junge Flaeros scheint gezogene Schwerter und die Gefahr wie einen unablässig flatternden Umhang zu tragen!« »Jawohl«, bestätigte Hulgor mit einer gewissen Befriedigung, als beide Onkel ihre schlanken, reich verzierten Schwerter zogen und beobachteten, wie Wachen mit Hellebarden in den Händen in den Raum marschierten. »Der Junge ist zu so etwas wie einer Berühmtheit geworden - jedenfalls in Aglirta.«
»Ja«, bestätigte Sarth säuerlich. »Von dort pflegt auch immer aller Ärger herzustammen.« Und während Hulgor mit der Klinge in Richtung Fenster wedelte und Befehle im Hinblick auf Boote, Laternen, Netze und Haken gab, hielt Sarth Wache über den vom Donner gerührten Barden, welcher immer noch das Zepter in Händen hielt, es wieder und wieder herumdrehte, als könne er eine Bewegung darinnen spüren ...eine Magie, welche dafür sorgte, dass sein Arm klopfte und prickelte. »Der Regent braucht auf der Stelle dieses Ding hier - und 21 meine Anwesenheit noch dazu«, murmelte Flaeros. »Augenblicklich.« Der junge Mann sprang hastig die Treppe hoch, als befolge er eigene Befehle, und eilte in seine Gemächer zurück, um Vorbereitungen zu treffen. Sarth schüttelte den Kopf und rannte, das glitzernde Schwert gezückt, dem Barden nach. Er keuchte und stöhnte aber bereits nach einigen wenigen Stufen, während rings um ihn herum ganz Varandaur in einen lauten Tumult ausbrach. Er wurde allmählich zu alt für solcherlei Ereignisse ... »So wie wir alle«, schimpfte er und köpfte im Vorbeilaufen ein besonders hässliches Gesteck aus Kronenblumen. Die Blüten fielen seinem Schwert ohne Gegenwehr zum Opfer und verstreuten einen Regen goldener Blätter. Sarth stürmte weiter, wobei sich seine Beine schwerer und immer schwerer anfühlten. Jawohl, viel zu alt. Etwas erhob sich tropfend aus der nachtschwarzen See und glitzerte feucht im Licht des Mondes, als aus einer Flosse Finger entstanden und dann ein menschlicher Arm. Der Arm hielt sich an einem feuchten Felsen fest, dann erschien eine gesichtslose Schnauze und gesellte sich dazu. Die Schnauze schob sich höher empor, verdickte sich und wurde zu einem Kopf, welcher eine zweite Kreatur beobachtete, die sich mit gewundenem Schwanz aus dem Wasser erhob und selbst Arme entwickelte, während sich ihr gesichtsloser Kopf zu einem großen Maul spaltete, welches eine in einen feuchten Mantel gewickelte Harfe auf den Fels spuckte. Im Kopf des anderen Gestaltwandlers klaffte ein ähnlicher Spalt auf. Er spuckte das Messer des Dieners auf den Fels neben dem Mantel, dann erschien so etwas wie ein verdrehtes Lächeln auf dem, was eigentlich kein Gesicht war. »Nettes Harfenspiel.« »Ich gebe mir Mühe, Indle. Ich gebe mir Mühe.« 22 Der Koglaur, welcher sich für gewöhnlich Oblarma nannte, hievte sich vollends auf den Felsen. Schwanz und Flossen schmolzen im Mondlicht, bis schließlich eine wohlgeformte menschliche Frau dalag. Neben ihr trieb der Koglaur, welcher sich oft Indle nannte, ein Weilchen länger auf den leise plätschernden Wellen und starrte über die Bucht von Ragalar. Am Strand nahe der dunklen Masse von Varandaurs Türmen bewegten sich zahlreiche Laternen hin und her, und Fackeln flackerten spuckend auf Booten, welche die Wasser durchpflügten wie ein aufgebrachter Schwärm von Glühwürmchen. Ein echtes Glühwürmchen flog schnell wie ein Pfeil an Indles Kopf vorbei. Ein Tentakel schoss nach oben, ringelte sich zusammen und zuckte über Oblarmas Kopf. Nachdem der Fangarm sich zusammengezogen und wieder in Oblarmas neue Finger verwandelt hatte, schimmerte das Glühwürmchen inmitten von Oblarmas neu entstandenen glänzenden Locken. »Hmm«, machte Indle und musterte seine Gefährtin, während er das Kleiderbündel hochhob, welches sie früher am Tag hier verborgen hatten. »Warum ist mir das nicht schon eher eingefallen?« Eines von Oblarmas Augen quoll aus ihrem Kopf. Es saß auf einer Art fleischernem Stängel, welcher sich hochschlängelte und nach hinten verdrehte, so dass sie sich das lautlos grün und blau aufblitzende Insekt auf ihrem Kopf anschauen konnte. »Wie ein kleiner Edelstein«, murmelte sie erfreut und zog eine Weste über bemerkenswerten und seltsamerweise fast trockenen Brüsten zurecht, welche einen Augenblick zuvor noch nicht vorhanden gewesen waren. »Ich möchte gern -« Indle gab ein scharfes Zischen von sich und bedeutete ihr mit wedelnden Händen, still zu sein. Oblarma gab keinen Laut mehr von sich. In der Stille der Nacht hörten sie das Platschen von Rudern, Stimmengemurmel von Boot zu Boot, das dumpfe Geräusch, 23 als ein Boot gegen alte, durchnässte Bohlen stieß - und das Donnern von Hufen. Das klang ganz nach Flaeros Delkamper, der mit zwei Rittern auf den Fersen so schnell wie möglich dahingaloppierte. Binnen weniger Augenblicke verklangen die Geräusche in der endlosen Dunkelheit. Sie mussten tatsächlich in Eile sein. »Zu manch einem kommt das Abenteuer spät«, sprach Indle zufrieden und hievte sich auf die Felsen. Dabei versprühte er so viel Wasser, dass Oblarma sich hastig zur Seite rollte, um ihre Kleidung halbwegs trocken zu halten.
»Anscheinend hat unser kleines Täuschungsmanöver so gut funktioniert wie -« »Ein ganz normaler Tag auf Treibschaum«, erwiderte der andere Koglaur trocken. »Und ganz wie ein Höfling, welcher aus Versehen Verrat begeht und erwischt wird, so wird gerade eben der echte Diener von seiner kleinen Schlangenanbeterversammlung nach Hause schlendern - geradewegs in die Arme all der Delkamperschen Ritter mit den harten Augen, ganz zu schweigen von den vor Wut kochenden Delkamper-Onkeln.« Indle deutete eine kleine Verbeugung an. »Und es ist mir sogar gelungen, Euch nicht zu stechen.« Oblarma kicherte. »Das ist auch besser so. Mir gefällt es, Taercever zu sein.« »Solange Ihr nicht in die Nähe seiner Gläubiger kommt, was?«, meinte Indle und pflückte seine Kleider aus dem hohen Gras über den Felsen. »Er starb vor sechs Sommern einsam und allein irgendwo im Hinterland«, antwortete Oblarma mit einem liebenswürdigen Lächeln. »Ungefähr so erfolgreich wie alle fahrenden Sänger. Glaubt Ihr, dass er überhaupt jemandem viel Geld geschuldet haben könnte?« Indle zuckte mit den Schultern. »Es bedarf nur einer Schuld, einem Mann den Tod zu bescheren - wenn es die falsche ist.« Oblarma antwortete mit einem dünnen Lächeln. »Das ist eine Lektion, welche viele Leute in Aglirta niemals zu lernen scheinen. Ich frage mich, wer als Nächster den tödlichen Preis zahlen muss.« 24 EINS Die - huldvollen Gasigeber Von Aglirla Die Brise wehte viel zu gleichmäßig. Die Blätter auf den Bäumen rings um die vier Reiter raschelten unaufhörlich. Craer runzelte die Stirn und duckte sich ein wenig tiefer in seinen Sattel. Hunderte von Bogenschützen könnten zusammengekauert und in bequemer Schussweite irgendwo in diesem sonnendurchfluteten Wald auf uns warten - bei der Dreifaltigkeit, die Hälfte von ihnen könnte Bäume für Brennholz fällen, während der Rest sie mit lautem Geschrei anfeuert! - und wegen all dem Gezische und Geraschel der Blätter würden Reiter auf der Straße von der Gefahr nichts ahnen, bevor es zu spät wäre und alle von entschieden zu vielen Pfeilen gespickt wären, um sie missachten zu können. Ganz besonders diese vier Reiter: Die Bande der Vier, Aglirtas einzige Hochfürsten. Vier Leute, derer die Fürsten des Reiches, seien sie nun treu ergeben, gut oder was auch immer, Craers Vermutung nach aus tiefstem Herzen satt waren. Er warf einen Blick nach hinten, bemerkte Hawkrils ruhiges Nicken und murmelte seinem sanften Grauen zu: »Bei den Hörnern der Herrin! Ich weiß gar nicht mehr, wohin wir geritten sind! Warum können wir nicht einen Fürsten nach dem anderen aufsuchen, und zwar in einer vernünftigen Reihenfolge, anstatt hin und zurück und kreuz und quer durch das ganze gesegnete Tal zu reiten?« Embras melodisches Lachen durchdrang die Luft neben ihm und bewirkte, dass sein Pferd mit den Ohren zuckte. 27 Craer seufzte; er hatte ihren Flüsterzauber ganz vergessen. Die Vier konnten murmeln und flüstern, und dennoch hörten sie einander so deutlich, als steckten sie in einer stillen Kammer die Köpfe zusammen und ritten nicht durch einen winddurchbrausten Wald, wobei sie Abstand hielten, um kein allzu leichtes, unübersehbares Ziel für Bogenschützen abzugeben. »Auf diese Weise«, erklärte die Fürstin Silberbaum mit geradezu aufreizend süßer Stimme, »werden es meine Mitfürsten einen Hauch zu schwierig finden, den freigebigen Gastgeber zu spielen, der sorgfältig irgendwelche >Unfälle< für uns arrangiert ... oder uns den Preis, nach dem wir suchen, unter der Nase wegstiehlt.« Oh ja, der Preis: der vierte magische Dwaer-Stein. Derzeitiger Aufenthaltsort unbekannt, aber zumindest an dem Tag, an welchem man sie zu Hochfürsten und Embras Vater, Fürst Schwarzgult, zum Regenten ernannt hatte, hatte sich der Stein insgeheim im Besitz eines der Fürsten von Aglirta befunden. Und um ihn ihrerseits zu finden, hatten die Hochfürsten entschieden zu viele Tage damit zugebracht, auf den Straßen entlang des Silberflusses und kreuz und quer durch Aglirta zu reiten und einen Fürsten nach dem anderen zu besuchen. Craer Delnbein fiel während ihrer Besuche nicht einmal die unangenehmste Aufgabe zu, aber hier im Wald, als vorderster Reiter und leichtestes Ziel... »Ich danke Euch, Embra«, erwiderte er mit so seidiger Stimme wie nur möglich. »Wenn Ihr einen Zauber wüsstet, welcher lauernde Bogenschützen abweist, statt mir heimlich zu lauschen ...« »Immer mit der Ruhe«, rügte ihn Saraspers heisere Stimme, als sei Craer ein ungehorsamer, aber gutmütiger Hund. »Immer mit der Ruhe!« Behandelte man ihn etwa wie einen unwillkommenen Wurm? Dann würde er sich auch wie einer verhalten. Craer knurrte wie einer der kläffenden parfümierten Schoß28 hunde, welche die Fürstin Rildra so abgöttisch liebte und deren den Knöcheln nicht zuträgliche Bekanntschaft sie drei Burgen zuvor gemacht hatten. Wenigstens war ihm die Genugtuung widerfahren, unter den bewusst teilnahmslosen Blicken zweier grinsender Wachen eines dieser hartnäckigen, Stiefel zernagenden Geschöpfe aus einem Fenster in den Burggraben zu befördern. Was sahen solch dumme Personen wie die Fürstin nur in solchen -
»Stimmt etwas nicht, Flinkfinger?«, murmelte Hawkril. Craer stieß ein Schnauben aus. »Eine Armee könnte neben uns herstampfen, Bäume fällen, um den Weg freizuhauen, und ich würde sie nicht hören.« Er starrte noch angestrengter nach vorn, als hätte er Fackeln statt Augen, um die ewig tanzenden Blätter zu durchdringen. »Ich bitte um Ruhe für seine Eminenz, den Hochfürsten Delnbein«, meldete sich Sarasper feierlich zu Wort. »Ihr Bäume, stillgestanden! Wind, lege dich!« Als einzige Antwort stieß Craer ein betont rüdes Geräusch aus. Sie befanden sich wenigstens einen Tagesritt von dem nächsten Fürsten entfernt - wo Embra hoffentlich ungestört wieder einmal ihren Dwaerindim-Suchzauber wirken würde, während Hawkril sie aufmerksam bewachte, Craer eine ach so kluge Unterhaltung mit den Dienern, Hauptmännern der Wache und Verwaltern führen und Sarasper seine Magie benutzen würde, um die Bedrohung durch alle Arten von Giften abzuwehren, welche dem Essen oder den Getränken der Vier beigemischt sein mochten. Bis jetzt war es ihnen nicht gelungen, den fehlenden Dwaer aufzutreiben, aber sie hatten zwei Versuche abgewehrt, vergiftet zu werden, und sich dafür entschieden, allen Tötungsversuchen mit einem Lächeln zu begegnen, statt ihre Gastgeber herauszufordern. »Wir erreichen lediglich, uns immer unbeliebter zu machen und uns zudem als willige Ziele darzubieten, nicht wahr?«, er29 klang plötzlich Saraspers Flüstern aus der Luft dicht neben Craers linkem Ohr. »Nun, aber vergesst nicht, dass wir auf diese Weise Aglirtas schöne Landschaft zu sehen bekommen«, brummte Hawkril. »Ich bin schon an übleren Orten eine Zielscheibe gewesen.« »Viel zu viel von Aglirtas schöner Landschaft, wenn ihr mich fragt«, grollte Craer. »Und wir haben uns verirrt und in äußerst schlechter Laune einen zusätzlichen Tag auf den Nebenstraßen verschwendet, nachdem uns ein gewisser Craer Delnbein mit lauter Stimme den falschen Weg gewiesen hatte, wenn Ihr uns schon daran erinnern müsst«, erzählte Embra müßig ihren Fingernägeln. Sarasper kicherte. »Ja, wir sind wirklich ganz besonders großzügig mit Fehlern behaftete Helden.« »Nein, mein guter Mitfürst von Treibschaum, wir waren ganz besonders großzügig mit Fehlern behaftete Helden - jetzt sind wir aufdringliche Hochfürsten«, erklärte Craer dem alten Heiler triumphierend. »Versucht, das im Gedächtnis zu behalten, und die nötige Großspurigkeit wird Euch viel leichter zufliegen.« Etwas summte so nahe an seiner Wange vorbei, dass es brannte. Craers Pferd bäumte sich mit einem erschreckten Schnauben auf, das beinahe einem Schrei glich, und der kleinste der Hochfürsten befreite sich mit einer Eile aus den Steigbügeln, welche plötzlich viel dringlicher geboten zu sein schien als jegliche Art von Großspurigkeit. Die lange erwarteten Pfeile drangen wie ein zischender Sturm aus den Bäumen, flackerten wie von magischem Feuer erfasst auf und verlangsamten sich sichtbar, als sie Embras Schildzauber erreichten. »Schon wieder Straßenräuber!«, zischte Craer und tastete nach den Zügeln, während er gleichzeitig einen Dolch zog und festzustellen versuchte, woher genau die Pfeile kamen und von wie vielen Bögen sie abgeschossen wurden. 30 »Befreit einen Wald von den Ratten, und sie huschen zum nächsten!« Embras Schild flammte gut sichtbar rings um sie herum auf, als die Zauberin ihren Dwaer um mehr Kraft anrief. Die nach ihnen ausgeschickten Pfeile hingen zu Dutzenden im Zauberfeuer des Schutzschildes und glitten nur ganz träge vorwärts durch die Luft. Craer schlug einen mit der Klinge seines Dolches zur Seite und brachte dadurch den Zauber zum Erlöschen - der Pfeil schoss augenblicklich davon und fuhr bebend mitten zwischen die Steine der Straßeneinfassung - und der Beschaffer duckte sich unter der hässlichen Spitze eines weiteren Pfeils hindurch. »Ein Dutzend?«, rief er und starrte in die Bäume, während er versuchte, seinen schnaubenden Grauen unter Kontrolle zu bekommen. »Hier auf der Seite sind noch mehr«, erwiderte Hawkril bedächtig. »Mindestens zwanzig.« »Straßenräuber tun sich dieser Tage zu Armeen zusammen, will mir scheinen«, grunzte Sarasper. »Sollen wir versuchen, ihnen davonzureiten?« Als ob ihnen die unsichtbaren Angreifer zugehört hätten, sprangen in Leder gekleidete Männer mit grimmigen Mienen aus den Bäumen. Wieder andere kamen hinter dunklen Baumstämmen und wucherndem Unterholz zum Vorschein und schickten sich an, die sich vor den Vieren erstreckende Straße zu versperren - und das Gleiche geschah in ihrem Rücken. »Vierzig, wenn nicht noch mehr«, berichtigte sich Hawkril. »Diese Straßenräuber vermehren sich schnell!« Der Ritter beugte sich tief über seinen Sattel, um den Griff seines großen Kriegsschwertes besser packen zu können, welches er quer über seiner Schulter trug - und musste dann hastig an den Zügeln seines Rosses zerren, als das Pferd vor Schreck seitwärts auszubrechen drohte. Weitere Männer brachen aus den in der Nähe wachsenden 31
Bäumen, und eine neue Ladung Pfeile raste aus den raschelnden Zweigen. Embra keuchte vor Schmerz, und ihr Dwaer flammte blendend hell auf. Hawkril riss fluchend sein Pferd herum und schlug mit dem Kriegsschwert wütend Pfeile beiseite, während er seinem Tier die Sporen gab. Wenn seine Herrin verletzt war Die Fürstin Silberbaum schwankte mit verzerrtem Gesicht in ihrem Sattel. Der herannahende Ritter konnte keinen Pfeil erkennen, der ihr diesen Schmerz hätte bescheren können. Auch Sarasper hielt sich den Kopf und stöhnte. Unsichtbare Pfeilzauber, die jene trafen, welche Magie zu wirken vermochten? Also befanden sich auch Zauberer in den Bäumen. Aber das spielte keine Rolle; die Vier mussten sich so oder so aus dieser Falle befreien, sonst würden sie umkommen. Die echten Pfeile glitten immer näher heran und bildeten ein sich zusammenziehendes Netz aus glühenden Punkten rings um Sarasper und Embra herum. Hawkril machte seinem immer stärker anwachsenden Ärger knurrend Luft und griff nach dem Schild, welcher hinter ihm auf und ab tanzte. Er war zu klein, um sie alle zu schützen, aber wenn es dem Hünen gelang, Embra ein paar kostbare Sekunden für ein mächtiges Zauberfeuer zu verschaffen oder sie aus den sich schließenden Fängen dieser Falle zu reißen, dann könnte es durchaus sein, dass Craer sprang aus seinem Sattel, und einen Augenblick darauf bohrten sich nicht weniger als sechs Pfeilspitzen in die Flanken seines todgeweihten Grauen. Craer schlug einen siebten Pfeil beiseite, warf sich in den Straßenstaub und rollte sich eilends aus dem Weg. Binnen eines weiteren Augenblicks würde sein Pferd genau über ihm zusammenbrechen, sich hin und her wälzen, schreien und austreten, und Craer legte keinen Wert darauf, den schmerzvollen Todeskampf des Rosses direkt unter demselben mitzuerleben. Der Beschaffer wollte den Todeskampf von nirgendwo aus 32 beobachten müssen, aber die Dreifaltigkeit schien zu verlangen, dass ihnen eine gewisse Viererbande von Hochfürsten immer wieder einmal eine gewalttätige Unterhaltung lieferte, und ... »Der Tag schreitet voran«, sprach Craer zu dem Dolch in seiner Hand, welchen er gleich darauf in das Gesicht eines brüllenden Bogenschützen schleuderte, der seinerseits ein grausam gebogenes Schwert gezückt hatte, »und wir sind anscheinend hinter unser gewohntes Blutvergießen zurückgefallen. All das friedliche Dahinreiten, das Feiern und die höflichen Gespräche bei einem Glas Wein sind schuld daran. Sterbt, Ihr Hund von einem Pferdeschlächter!« Der Bogenschütze gurgelte, versuchte, den Dolch zu ergreifen, welcher aus seinem Auge wuchs, und stolperte dann vorwärts, ohne eine weitere Antwort zu geben. Pfeile fuhren in die Erde und streiften einander dabei. Von Embras Schild befreit, schössen sie über die Sterne am Boden oder summten mit neuer Energie davon. Craer wölbte sich um einen Schaft herum, holte einen weiteren Dolch aus einer handlichen Scheide und warf sich flach auf den Boden, um einem weiteren Pfeil zu entgehen. Dann rannte er zurück in Richtung der Hufe von Hawkrils gewaltigem Streitross. Erstickte Schreie und Flüche rings um ihn herum sagten ihm, dass es im Gegensatz zu ihm etlichen seiner Angreifer an Beweglichkeit mangelte. »Ha, ich vermute, die sind einfach nicht aus dem Holz gemacht, aus welchem man Helden schnitzt«, murmelte er und rannte weiter. »Craer«, krächzte Embra, und es klang schrecklicherweise so, als schluchze sie, »wollt Ihr endlich Ruhe geben?« Ihr nächstes Wort hätte sie geschrien, sofern sie noch über genug Luft zum Schreien verfügt hätte. Stattdessen kam ein entsetzliches, trockenes Keuchen aus ihrer Kehle - das augenblicklich von Hawkrils Gebrüll übertönt wurde: »Embra! Embra! So sprecht doch, Mädchen!« 33 Jetzt war er mit Gurgeln und Stöhnen an der Reihe. Und Craer riskierte einen Blick nach oben, obwohl er doch vollauf mit seinem eigenen tödlichen Spiel beschäftigt war und sich hin und her wälzte, dann wieder vorwärts hastete und immer wieder nach links und rechts blickte, um nach heranfliegenden Pfeilen Ausschau zu halten. Er sah gerade rechtzeitig hin, um zu sehen, wie sein ältester Freund mit von Pfeilen gespickter rechter Schulter aus dem hohen Drachensattel kippte, während sein sich aufbäumendes Pferd in Todespein mit den Hufen auf die Luft eindrosch, weil aus seiner ganzen rechten Seite ein wahrer Wald aus Pfeilen spross. Embras Schutzschild zerschmolz. Sie würden hier, mitten auf der sonnengesprenkelten Straße unter den schönen Bäumen mit ihren verfluchten raschelnden Blättern sterben, besiegt von dieser Armee aus dem Nichts, und Plötzliche purpurne Blitze zischten spuckend über die Straße und hätten den Beschaffer beinahe geblendet. Craer warf sich flach auf eine Stelle, von der er hoffte, dass kein Pfeil sie finden würde, und fragte sich, welche Magie ihnen wohl jetzt nach dem Leben trachten mochte. Bei den Göttern, Aglirta schien vor Leuten überzuquellen, die auf Mord aus waren. Konnten sie sich nicht an die fürstlichen Gepflogenheiten halten und ein mit ein wenig gutem, altem Gif t gewürztes Festmahl veranstalten? Mussten ihre Mordanschläge immer auf staubigen Straßen stattfinden mit flammenden Zauberbannen und dreimal verfluchten Pfeilen? »Ich kann nur vermuten«, drangen Saraspers angespannte Worte in sein Ohr, »dass Ihr dem gespannt lauschenden Land einmal mehr Eure Beschwerde vortragen wollt. Zu viel Magie, zu viel Wälzerei im Staub, und noch dazu Pfeile - habe ich die Liste vollständig wiedergegeben?«
»Ihr haltet Euch für einen Herold?«, gab Craer flüsternd zurück. »Also habe ich mit der Schreierei angefangen, ja? Bittet 34 um Vergebung ... Embra muss immer noch über genug Bewusstsein verfügen, dass das Fernhören weiterhin funktioniert. Ich liege hier flach auf meinem Gesicht und sehe immer noch purpurne und weiße Blitze, wann immer ich versuche, irgendetwas anzuschauen - wollt Ihr so gnädig sein, mir mitzuteilen, was geschehen ist?« »Später«, sagte der Heiler grimmig. »Und jetzt bleibt still liegen und rührt Euch nicht.« »Wie bitte?« »Haltet den Mund, Beschaffer!« Etwas an Saraspers stählernem, wütendem Ton bewirkte, dass Craer schwieg, jedenfalls fürs Erste. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er den wirbelnden Staub an - welcher gerade eben sichtbar war als träger Schatten hinter dem weißen und purpurnen Feuer, welches immer noch vor seinen verwunderten Augen hin und her tanzte - und wartete, bis seine Sehfähigkeit so weit zurückgekehrt war, dass er ein wenig mehr von dem erkennen konnte, was Sarasper so sehr erschreckt hatte. Was auch immer es sein mochte, es hatte die Bogenschützen mittels der Blitze getötet oder vor Schreck erstarren lassen; die einzigen Laute stammten von dem gedämpften Ausschlagen eines getroffenen Pferdes, das sich im Todeskampf wand. Craer wartete voller Anspannung mit dem gezückten Dolch in der Hand. Er hoffte, den Feind ausmachen zu können, bevor er von einem Schwert oder einem Speer aufgespießt wurde. Ganz nahe bei seinem Kopf knirschte ein Stiefel über die Steine der Straße, und er hörte, wie Embra keuchte. Sollte er sich mit aller Kraft zur Seite werfen oder -? Nicht allzu weit von dem aufgewirbelten Staub und den vielen auf der Straße niedergestreckten Körpern entfernt schloss sich eine Hand behutsam um einen Knoten an einer Stelle, an der einst ein Ast gewachsen war. Der Besitzer der Hand lehnte sich um die Biegung eines dunklen, alten Baumstumpfes und späh35 te durch die raschelnden Blätter auf die wenigen Gestalten, welche sich dort bewegten, wo noch vor wenigen Augenblicken ein Kampf gewütet hatte. Kein Pfeil sirrte durch die Luft, und es stand auch kein Schütze bereit, weitere abzuschießen - aber die Hochfürsten von Aglirta hatten allem Anschein nach keinen Sieg errungen. Der Dieb der Bande lag reglos auf der Straße. Wäre da nicht das verräterische Beben seiner angespannten Schultern gewesen, so hätte man glauben können, er sei tot. Halb zusammengesunken hockte Hochfürst Hawkril Anharu ein Stück weit entfernt stöhnend auf der Straße. Einer seiner Arme war dunkel und nass von Blut und durch eine Vielzahl von Pfeilen an seinen Oberköper geheftet. Der Hüne grimassierte in Richtung einer einsamen Gestalt, die langsamen Schrittes die Straße entlang auf ihn zuschritt. Zweimal versuchte der schwerfällige Ritter, sein Kriegsschwert mit den zitternden, vor Blut triefenden Fingern seines verletzten Armes aufzuheben - und versagte zweimal. Hinter dem Ritter in seiner Rüstung lagen zusammengesunken der Heiler und die Zauberin an einem mit Farnen bewachsenen Wall, welcher die entgegengesetzte Seite der Straße begrenzte. Der alte Mann versuchte, den reglosen Körper der weißgesichtigen Frau mit seinem eigenen zu schützen. Er starrte ebenfalls die sich nähernde einsame Gestalt an. Der Beobachter im Wald zog sich zurück und drückte sich tief hinter den seinen Körper verbergenden Baumstumpf. Aber er schaute nach wie vor genau hin. Roter Nebel des Schmerzes kringelte sich in den Ecken von Hawkrils Blickfeld. Er spuckte Blut und versuchte, seiner Qual Herr zu werden und die klare Sicht auf den Mann zu behalten, der jetzt auf ihn zukam. Groß, schlank, dunkel und jung. Und gut aussehend ...auf seiner linken Wange prangte eine kleine Tätowierung in Form eines auf der Spitze stehenden Dolches, und scharfe - nein, glü36 hende, schwarze Augen brannten darüber. Er trug ein paar Ringe an den langen, schlanken Fingern, und seine Hände wiesen keinerlei Spuren harter Arbeit auf. Im Gürtel steckte ein Dolch, und er trug schwarze, enge Hosen, darüber eine aufwändig gearbeitete Tunika, welche aber keinerlei Abzeichen oder adlige Farben aufwies. Diesen Mann, dessen war sich Hawkril gewiss, hatte er nie zuvor gesehen. Der Neuankömmling hielt knapp außerhalb der Reichweite des Ritters an und schaute auf den vor Schmerz zusammen gekrümmten Krieger. Seine Hände baumelten leer nach unten, waren aber leicht gekrümmt. Fäden purpurfarbenen Rauchs, durchsetzt mit blitzenden weißen Funken, stiegen noch immer zwischen seinen Fingern auf - und die Funken prasselten bedrohlich, als er jetzt die Hände hob und auf Hawkril und Sarasper deutete. »Soll ich Euch alle töten, Ihr Hochfürsten von Aglirta?«, fragte der unbekannte Zauberer mit einer Stimme, welche kaum lauter klang als ein Flüstern. »Oder könnt Ihr mir einen guten Grund dafür nennen, warum ich Euch am Leben lassen sollte?« »Werter Fürst«, sagte der alte Verwalter unruhig, »ein Mann ist gekommen, Euch zu sehen. In voller Rüstung und mit gezücktem Schwert und begleitet von einem Dutzend kampfbereiter Männer. Er gibt als Namen lediglich >Kleine Blume< an.« Fürst Nesmor Glarond lächelte dünn und hob die Hand zu einem Zeichen, welches seine Wachen hier und da im Thronsaal von Glarondar dazu brachte, hastig die Schwerter zu ziehen und dann wieder in einer neuen Position
zu erstarren. Ihr Herr warf einen kurzen Blick hinauf zu den vergoldeten Galerien und gab ein weiteres Zeichen. Seine Pagen sahen die Geste, drehten sich um und bellten leise, aber tödlich kalte Befehle. Die Gesichter der zahlreichen Höflinge, welche täglich Stunde um Stunde damit zubrachten, sich entlang der reich ge37 schnitzten Geländer aufzureihen, auf den Fürst niederzuschauen und auf einen noch so geringen Ausrutscher seinerseits zu warten - oder das kleinste Anzeichen für eine Gunst -, verschwanden von einem Augenblick auf den anderen unter missbilligendem Gemurmel. Glaronds Lächeln verschwand. Lasst sie sich nur darüber wundern, weshalb sie so plötzlich hinweggefegt wurden. Ehrgeiziger Pöbel, einer wie der andere, welchen man am besten von dem fern hielt, über was binnen Kurzem verhandelt werden würde. Nur diejenigen, welche zählten, mussten bleiben - oder erhielten die Erlaubnis dazu. Bei seiner >Kleinen Blume< handelte es sich um einen gefährlichen Mann, und er würde zweifellos ein zäher Verhandlungspartner sein; falls sich die Sache schlecht für den Stolz von Glarond anließ, dann war es besser, wenn so wenig Leute wie möglich zuschauten. Fürst Glarond war sich der Tatsache durchaus bewusst, dass er nicht eben zu den beliebtesten Männern des Landes zählte. Binnen weniger Augenblicke hatte der Verwalter in der Nähe der Tür Haltung angenommen. Er verbeugte sich vor seinem Herrn. Inzwischen hielt sich nur noch so viel Pöbel im Saal auf, wie es den Wünschen des Stolzes von Glarond entsprach. Der Mann auf dem Thron antwortete mit einem Nicken, hob eine Hand und wies beinahe träge auf die Tür. Der Verwalter wandte sich um, öffnete die Türflügel weit und trat dann wieder zurück, ohne anzukündigen, wer da einzutreten im Begriff war. Man hätte beinahe brüllen müssen, um jemanden über all das plötzliche rhythmische Geklapper hinweg ankündigen zu können, welches sich jetzt erhob: Das Geräusch von Männern in voller Rüstung, die rasch im Gleichschritt heranmarschierten. Sie kamen mit entblößten Köpfen und leeren Händen in den Thronsaal von Glarondar, aber mit einem Schritt, als seien sie die Herren dieser Halle. Sie bestiegen das Podest, auf welchem der Thron stand, und kamen dann ebenso selbstverständlich zu einem Halt wie jede förmliche Wache bei einer Parade. 38 Die Wachen des Fürsten versteiften sich und beäugten die Neuankömmlinge voller Unruhe. Es bedurfte nicht des geschärften Auges eines Veteranen, um beurteilen zu können, dass sie in der Minderzahl waren - und vielleicht sogar besiegt. Viele von ihnen bemerkten auch nicht, dass auf den Treppen zu den Galerien und entlang der rückwärtigen Wand der Halle kurze Handgemenge ausbrachen, als sich Beschaffer in Lederharnischen mit gespannten, gegen die Decke gerichteten Armbrüsten ihren Weg durch die Höflinge und Pagen bahnten und auf gewisse Standorte zustrebten, die ihnen einen Vorteil verschafften. Unbekannte Männer, welche mit harten, eifrigen Blicken den ganzen Saal nach Zielen absuchten. »Seid willkommen, Fürst Blutklinge«, sagte Glarond ruhig und erhob sich von seinem Thron. »Euer Ruhm eilt Euch voraus.« Der Mann an der Spitze der Bewaffneten lächelte ein geisterhaftes Lächeln, welches jedoch nicht bis zu seinen Augen reichte, und erwiderte: »Ein Fürst bin ich noch nicht, Glarond, obwohl mich manch einer als Kriegsherrn bezeichnet. Sendrith Duthjack, zu Euren Diensten - sofern wir zu einer Übereinkunft kommen.« Der Fürst neigte den Kopf. »Ich bin kein unvernünftiger Mann.« So manch einer in dem Saal hätte dieser Erklärung mitnichten zugestimmt, aber keiner unter den wie erstarrt dastehenden Anwesenden entschloss sich dazu, dies hörbar kundzutun. Der Fürst galt auch nicht als ein Mann, der leicht vergab. »Und ich«, sagte Duthjack, »halte die Bündnisse in Ehren, welche ich schließe. Ich denke, dass Ihr das wisst.« Wieder neigte Glarond den Kopf. »Das weiß ich in der Tat. Und wie es der Zufall will, halte auch ich mich an geschlossene Übereinkünfte. Sollen wir damit anfangen, dass ich verkünde, wofür ich Euch und die Klingen unter Eurem Befehl anheuern möchte?« 39 »Tut das. Keine Aufgabe ist unannehmbar für mich, sofern wir uns über den Preis verständigen, und meine wird darin bestehen, Euch zu antworten«, erwiderte Duthjack. Seine Soldaten drehten sich wie ein Mann um, obwohl ihr Anführer weder einen Befehl noch ein Zeichen gegeben hatte. Sie blickten die Höflinge zu beiden Seiten des Podestes an - und ihre Panzerhandschuhe klirrten, als sie die Hände fest um die Waffen schlössen. Die Stille, die nun folgte, schien so angespannt zu sein wie eine zurückgezogene Bogensehne. Mehr als ein Mann in dem Saal schluckte - und musste feststellen, dass er eine trockene Kehle hatte. »Mich verlangt danach«, sagte Fürst Glarond ruhig, »König von Aglirta zu sein. Bevor noch der erste Schnee fällt, will ich als unbestrittener Herr über das ganze Tal auf dem Flussthron sitzen, und alle Fürsten sollen mir die Treue geschworen haben oder tot sein. Einfach genug?« Duthjack nickte. »Habt Ihr Zauberer, welche für Euch kämpfen?« Der Fürst schüttelte den Kopf. »Nicht einen«, entgegnete er in einem Tonfall, der nahe legte, dass er noch mehr sagen wollte. Stattdessen schwieg er. Ein Schweißfilm war auf seine Stirn getreten und glitzerte über seinen Brauen, aber er straffte das Kinn und starrte seine gewappneten Besucher an, als sei er bereits König.
Duthjack erklärte tonlos: »Andere werden welche haben. Unsere Verluste werden groß sein. Zweitausend Goldstücke - Sundars aus Ragalar oder karraglanische Zostarrs, keine Münzen aus Aglirta - für jeden Schwertkämpfer, welchen ich Euch bringe. Eine schriftlich niedergelegte Liste der Aufgaben und Ziele meiner Truppe, von welcher wir beide Abschriften erhalten. Die Hälfte der Summe muss ausgezahlt werden, noch bevor eine Klinge gezogen wird; nur Überlebende dürfen die zweite Hälfte einfordern, die bis spätestens in der Mitte des Winters ausgezahlt sein muss.« 40 Glarond nickte langsam. »Und Euer Anteil?« »Einhundert ragalanische Sundars und dazu ein Fürstentum flussabwärts. Hellbanner würde mir gefallen.« »Loushoond«, gab der Fürst entschlossen zurück. Schweigen breitete sich aus, zuerst zögernd, aber dann, als es nicht enden wollte, mit immer stärkerer Anspannung. Die im Saal verbliebenen Höflinge schauten einander an und dann geschwind in eine andere Richtung. Keiner traute sich, die beiden Männer, welche einander im Herzen des Saales gegenüberstanden, länger anzublicken. Langsam nickte Duthjack. Sein Gesicht sah nachdenklich und zurückhaltend aus. Der Fürst konnte kaum glauben, dass alles so einfach sein sollte, und lehnte sich auf seinem Thron nach vorn. Schweiß strömte über seine Stirn, und er fragte eilig: »Also haben wir ein Abkommen?« Der Mann, der oft Blutklinge genannt wurde, lächelte. Er zog seine Panzerhandschuhe aus und übergab sie ohne einen Blick zurück einem seiner Männer, welcher hinter ihm stand. Dann trat er vor und streckte eine Hand aus. Der Fürst erhob sich vom Thron, stieg die einzelne Stufe zum Podest hinunter, wo die Söldner standen, und streckte seinerseits die Hand aus, um Duthjacks Finger zu ergreifen. Die Hände der beiden Männer trafen sich und packten zu, und Glarond verzog schmerzlich das Gesicht. Bevor er auch nur einen Hauch von Unwillen äußern konnte, packte die freie Hand des Kriegsherrn den Fürsten bei der Kehle. Finger aus Eisen schlössen sich, und der Stolz von Glarond gab einen dünnen und erschrockenen, erstickten Ton von sich. Duthjacks Lächeln war ebenso eisig wie seine Stimme. »Nein, werter Fürst Glarond, das haben wir mitnichten. Von den Fürsten abgesehen, habe ich mich auch mit anderen im Tal beraten und mir andere Sichtweisen hinsichtlich der Zukunft des Tals angehört. Warum sollte ich mich damit begnügen, ein 41 Fürst zu werden - unter so vielen fetten, verderbten, überheblichen fürstlichen Narren - wenn ich auf dem Thron von Aglirta sitzen könnte? Ihr braucht mich, werter Glarond ... ich hingegen brauche Euch nicht.« Er drückte die Finger unvermittelt mit aller Kraft zusammen, zermalmte den Knorpel in der Kehle des Fürsten, und Glaronds erstickte Laute erstarben. Geschickt pflückte Duthjack den goldenen Stirnreif vom Kopf des zusammensackenden Mannes -und dann strafften sich seine Schulternmuskeln, und der aus hundert schauerlichen Geschichten als Blutklinge berüchtigte Söldner schleuderte den Leichnam von sich. Schlaff kollerte der Körper die Stufen des Podestes hinunter. Mit den Händen am Schwertgriff und kehlig knurrend stürmten die Wachen des Fürsten vor ... und hielten dann unsicher inne, als sich überall im Saal kleine Armbrüste bedrohlich in Richtung ihrer Kehlen und Gesichter hoben. Der Stolz von Glarond lag inzwischen reglos am Boden, und seine blicklosen Augen starrten aus einem seltsam abgewinkelten, blaurot angelaufenen Kopf mit erfrorenem, ewigem Staunen zur Decke hoch. Aus der Gruppe der entsetzten Höflinge, welche dem Thron am nächsten standen, löste sich ein in reich verzierte rubinrote Seide gehüllter Mann. Er räusperte sich, hob eine mit schweren Ringen geschmückte Hand, brachte ein brüchiges Lächeln zustande und rief: »Gegrüßt sei Fürst Duthjack!« Der Kriegsherr lächelte, schritt auf den Mann zu und meinte kalt: »Nein. Das glaube ich nicht.« Mit einer weichen, bedachten Bewegung zog er sein Schwert - und rammte es dem Höfling in den Leib. Als blutiger Stahl aus dem zuckenden Rücken des Mannes drang und die rubinrote Seide beinahe lautlos durchschnitt, lösten sich überall im Saal Bolzen von Armbrüsten, und Höflinge stöhnten, schrien, keuchten oder gurgelten - und fielen hin und starben. »Fürsten sind schon lange genug der Fluch Aglirtas gewe42 sen«, sagte Duthjack zu einem alten Wachposten, der eine Schwertlänge entfernt Haltung angenommen hatte; Angst ließ den grauweißen Schnurrbart des Mannes beben. »Es ist an der Zeit und eigentlich schon längst überfällig, dass jemand Jagd auf die Fürsten macht. Kein so edler Zeitvertreib wie die Hirschjagd, aber hoffentlich lohnender. Euer Name, alter Krieger?« »Th-Tharim, Fürst Blutklinge«, stammelte der Wächter, fiel auf die Knie und hielt sein Schwert mit dem Griff voran Duthjack hin. »Ihr seid ein kluger Mann, Tharim«, sagte der Kriegsherr mit einem eisigen Lächeln, »und vorsichtig noch dazu. Ich lasse Euch am Leben, sofern Ihr mir versprecht, mir einen kleinen Dienst zu erweisen: Teilt den Rittern von Glarond mit, dass von nun an ich ihr Herr bin. Fürst von Glarond, falls es denn sein muss. Ach, und sagt ihnen noch etwas: Ihr Kriegsherr befielt ihnen, sich zu bewaffnen, sich auf einen Krieg vorzubereiten und binnen zweier Nächte zu Pferde bereitzustehen.«
»Jawohl, Fürst Blutklinge. Zu Pferde und bereit.« Der alte Soldat erhob sich, zögerte und wartete sichtlich ab. Duthjacks kaltes Lächeln verbreiterte sich. »Nein, ich werde Euch nicht sagen, wohin es geht. Sagt ihnen nur, dass wir in den Krieg reiten.« Der Wächter nickte. »Und auf dem Weg dorthin Fürsten jagen«, murmelte er und versuchte seinerseits, ein unstetes Lächeln zustande zu bringen. Blutklinges Lächeln wurde womöglich noch eisiger. »Klugheit wird gern überschätzt, meint Ihr nicht auch?« Während Tharim hastig »Ja, Fürst« murmelte und sich davonmachte, kehrte sein Zittern deutlich sichtbar zurück. ZWEI Im Sattel ins Abenteuer Die Gestalt hinter dem Baum lehnte sich weiter vor und versuchte, sich nicht ein einziges leise gemurmeltes Wort oder einen einzigen Atemzug auf der Straße dort drüben entgehen zu lassen. Über den aufgehäuften, wie Stoffpuppen aussehenden Leichen der Bogenschützen summten bereits Fliegen - und die todbringenden Blitze ringelten sich noch immer um die Finger des Zauberers, welcher auf der Straße stand. »Ihr solltet uns am Leben lassen, falls Euch das Schicksal Aglirtas am Herzen liegt«, krächzte Sarasper. Auf seiner Miene zeichnete sich nicht die geringste Spur von Furcht ab, als er jetzt den Zauberer anblickte. »Viel zu lange hat das Land nicht nur keinen König, sondern auch kein Gesetz gehabt, es sei denn, man bezeichnet die sich ständig verändernden Launen skrupelloser Fürsten und Tersepte als rechtmäßig. Wir streben ein Aglirta an, in welchem alle ohne Furcht einherwandeln können, die Gesetze stark sind und der Friede nicht gebrochen wird, auf dass alle Bewohner die Früchte ihrer Arbeit ernten, ihr Handwerk ausüben und Geld verdienen können, ohne befürchten zu müssen, dass grausame Fürsten und ihre ...« »Zauberer?«, fragte der wohlgestalte junge Mann spöttisch. »Ich glaube, dass wir alle den Frieden wollen und einen guten Herrscher, Heiler. Und Bögen hat man schon immer besser gespannt, um Wild für die Tafel zu schießen, statt das Leben von Männern auszulöschen.« Er stieß den am nächsten liegenden Bogenschützen mit der Spitze seines Fußes an und fügte hinzu: 44 »Aber die da würden, sofern sie noch am Leben wären, für sich in Anspruch nehmen, dass sie der Erhaltung des Friedens dienen unter dem Kommando eines weisen und gerechten Herrschers - und wo ist der Unterschied zwischen ihnen und euch? Ihr seid nichts weiter als vier Gefährten, die großspurig sind wie Straßenräuber, während sie euch zahlenmäßig bei weitem übertreffen und zudem den Befehlen von irgendwem folgen ... und in diesen Tagen der Hochfürsten und Regenten fällt es mir schwer zu glauben, dass Rebellenarmeen durch Aglirta marschieren!« »Wer seid Ihr?«, fragte Sarasper in aller Ruhe, »dass Ihr Euch über uns lustig macht?« In diesem Augenblick keuchte Hawkril vor Schmerz, und die Köpfe des Zauberers und des Heilers wandten sich dem Hünen zu, welcher sich gerade einen Pfeil aus dem Arm zog. Ein Schwall schwarzen Blutes quoll hervor, und der Ritter sackte zur Seite und auf die Straße, wo er sich stöhnend hin und her wand. Sarasper bettete Embra sanft zwischen die Farne, erhob sich und eilte zu Hawkril. »Bleibt, wo Ihr seid!«, gebot der Zauberer barsch und hob eine Funken versprühende Hand. Sarasper kniete sich neben seinen verletzten Freund und erklärte seelenruhig: »Heilen ist das, was ich tue, Herr Zauberer. Die vielen Leute, denen ich während all der Jahre geholfen habe und welche ich, falls ich am Leben bleibe, über die nächsten Jahre hinweg heilen werde, können nur darauf hoffen, dass das Hinwegblasen von allen, die Euch nicht gehorchen, nicht die einzige Kunst ist, welche Ihr beherrscht.« Mit von Hawkrils Blut feuchten Fingern tastete er nach den Schnallen und Riemen, welche die Schulterplatten des Ritters zusammenhielten. »Gehorcht mir, Heiler!«, zischte der Zauberer mit vor Zorn scharfer Stimme. »Ich bin Jhavarr Bogendrachen, und -« 45 Sarasper hob den Kopf, blickte in die Augen des Mannes und nickte. »Ihr seid nach Aglirta gekommen, um den Tod Eurer Schwester zu rächen«, sagte er leise. »Sie starb durch die Hand eines Zauberers, möchte ich hinzufügen.« Helle Blitze rasten kurz um zwei geballte Fäuste und lösten sich rasch wieder auf. Der Magier holte tief und bebend Luft und erwiderte dann so ruhig, als spräche er über das nicht weiter bemerkenswerte Wetter der vergangenen Tage: »Ihr seht die Dinge richtig, Heiler. Cathaleira Bogendrachen war die fähigste unter allen lebenden Magiern unserer Familie, und wir beide standen uns - sehr nahe. Wir sprachen oft über weite Entfernungen hinweg miteinander, und ich weiß sehr wohl, dass sie ihren Meister hier in Aglirta lieben lernte. Soweit mir meine magischen Fähigkeiten enthüllten, schlachtete er sie mit eigener Hand, und ihre Empfindungen wurden Teil eines Ungeheuers, welches er erschuf. Das kann ich kaum glauben, aber ...« Jhavarrs Stimme gewann an Stärke, und er zischte: »Ich habe auch erfahren, dass ihr Vier dabei geholfen habt, das Ungeheuer zu töten, und damit meine Schwester in den kalten, endlosen Schlaf schicktet, aus dem niemand mehr erwacht.« Sarasper seufzte. »Da hat Euch jemand etwas Falsches erzählt. Wir hatten daran keinen Anteil«, erklärte der Heiler. »Diejenigen, welche das Ungeheuer niedermachten, versuchten in dieser Nacht, auch uns zu töten. Tharlorn von den Donnern
verriet Eure Schwester, ja - weil er Eifersucht und Überdruss empfand angesichts ihrer wachsenden Fähigkeiten als Zauberin, dessen bin ich mir gewiss. Vergebt mir meine unverblümten Worte, aber er schnitt ihren Körper auf wie ein Fischhändler aus Sirl, wenn er den größten Fisch des Tagesfanges ausnimmt. Einer seiner geringeren Lehrlinge war anwesend und vertraute sich einem Freund an, weil er hoffte, dass er gerächt würde, sollte Tharlorn ihm das gleiche Schicksal zugedacht haben.« »Und der berühmte und viel gefürchtete Tharlorn ist tot«, 46 sagte Jhavarr grimmig. »Ich wollte, ich könnte mir dessen sicher sein.« Sarasper, der sich zitternd an die Heilung des unter seinen Händen gleichfalls bebenden Hawkril machte, schaute forschend auf. »Habt Ihr einen Grund, dies zu bezweifeln?« Jhavarr Bogendrachen richtete sich auf und sagte langsam und eisig: »Ich bezweifle gar nichts, denn bis jetzt weiß ich zu wenig. Aus dem gleichen Grund kann ich nichts und niemandem trauen. So hört denn dies: Ich werde alle töten, die irgendwie an Cathaleiras Tod beteiligt waren. Ganz gleichgültig, wo sie sich verstecken oder wie sie sich herausreden mögen. Das schwöre ich.« Der Zauberer schritt zwischen ausgestreckten Bogenschützen dahin, seufzte, als sein Blick auf die Fliegen fiel, welche über die gen Himmel gerichteten Augäpfel krochen, und fügte in gemäßigterem Tonfall hinzu: »Ich weiß ein wenig über die Gepflogenheiten von Magiern, Sarasper. Ich suche Tharlorns Lehrling, um sicherzustellen, dass sein Herr wirklich tot ist und niemand anderen in seiner Gestalt in den Kampf schickte ... und ob irgendjemand mitgeholfen hat, das Ungeheuer ins Leben zu rufen.« Er wirbelte herum und flüsterte beinahe schluchzend: »Alle sollen sie bezahlen - und sie werden unter Schmerzen sterben und genau wissen, warum ich ihnen das Leben nehme. Darsar ist ärmer seit ihrem Tod, aber ich werde es noch tiefer und äußerst gründlich in den Ruin treiben, bevor ich meine Aufgabe beendet habe!« Hawkril stöhnte, zog einen weiteren Pfeil heraus und erbebte von neuem. Sarasper nickte dem Zauberer müde zu und fuhr mit der Heilung fort. »Für gewöhnlich ein vergebliches Unterfangen«, murmelte er, »und viel zu oft eines, welches den Rächer beherrscht wie ein Sklaventreiber - aber keiner dieser Gründe macht Euer Unterfangen weniger ehrenwert. Ich hoffe, dass Ihr 47 findet, wonach Ihr sucht, junger Bogendrachen ... und zudem auch noch Euren Frieden.« Die beiden Männer starrten sich für lange Zeit in die Augen, bevor Jhavarr mit nun ruhiger Stimme erklärte: »Danke für Eure Worte, Heiler, aber vernehmt meine ernste Warnung: Sollte ich erfahren, dass einer unter euch Hochfürsten oder der Regent Schwarzgult oder sonst jemand in Aglirta irgendetwas mit dem Tod meiner Schwester zu schaffen hatte, dann werde ich den Schuldigen vernichten - und zwar so qualvoll und grausam, wie ich das nur kann.« Embra richtete sich in eine sitzende Haltung auf und murmelte: »H-Hawkril? Sarassss-? Bogendrachen starrte sie an, lächelte plötzlich, hob die Hände und ließ Blitze zucken. Sein Lächeln wirkte alles andere als freundlich. Blendend helle purpurweiße Strahlen schössen über die Straße und wieder zurück und brandeten über die im Staub zusammen geduckten Gestalten. Sarasper wurde herumgewirbelt, Embra fiel in die Farne zurück ... und dann gab Bogendrachen ein Zeichen, und die Blitze strömten wieder zu ihm zurück. Inmitten der prasselnden Windungen seiner Magie kam etwas auf ihn zu, das noch einen Augenblick zuvor auf Embras Brust gebaumelt hatte: ein gesprenkelter graubrauner Stein. Bogendrachen nahm den Dwaer-Stein, welcher die letzten Fünkchen des Zaubers hinter sich herzog, in die Hand und versuchte, sein Gewicht abzuschätzen. Der Stein war leichter, als es seiner Größe entsprochen hätte, aber der Zauberer hielt unzweifelhaft einen Weltenstein in Händen. Macht durchströmte seinen Arm, und sein Lächeln wurde breiter und endlich aufrichtig. »Der wird nützlich für mich sein - und viel weniger eine Gefahr für Aglirta darstellen, als er es in eurer laxen Obhut gewesen ist, ihr ach so mächtigen Hochfürsten. Keiner der Dwaerin48 dim ist ein Spielzeug, welches sich für jeden eignet, es sei denn, es handelt sich um einen Zauberer ... und noch dazu einen verantwortungsbewussten, besonnenen Magier.« Hawkril versuchte mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht, sich auf die Füße zu kämpfen, wobei er sein Kriegsschwert als Stütze benutzte, um den nur wenige Schritte entfernten Zauberer zu erreichen ... Bogendrachen lächelte und benutzte dieses Mal den Dwaer, um Blitze hervorzurufen. Es würde Spaß machen, einen Mann so weit wegzuschleudern, wie das Auge reicht, und ihn gleichzeitig zu rösten, wo es jetzt so einfach war, solche Kräfte zu beschwören! Über die Hügelkuppe dort drüben ... Man brauchte einige Augenblicke, um ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie der Stein erweckt werden konnte, und während dieser kurzen Zeitspanne warf Jhavarr den Stein versehentlich in die Luft über seiner Handfläche, wo der Dwaer herumspann und eifrig Funken versprühte. Bogendrachen hob lässig die andere Hand, um den taumelnden Ritter zu töten - als plötzlich etwas silberhell Blitzendes und Eiskaltes zwischen seinen Fingern hindurchschoss und einen vor Schmerz keuchenden Zauberer zurückließ, der seine Hand schüttelte... und Blut sah. Er zuckte zusammen und schaute in die Richtung, aus welcher das silbrige Ding gekommen war. Eine schmale Gestalt hatte sich zwischen den Leichen auf der Straße aufgerichtet. Ein zweiter Dolch schoss auf
Jhavarr zu, und ein dritter befand sich bereits in Craers Hand. Bogendrachen zuckte hastig von der vorbeiwirbelnden Klinge weg, griff sich den Dwaer aus der Luft - und versetzte sich selbst an einen anderen Ort und hinterließ nichts als ein paar Fünkchen. Craers dritter Dolch sirrte um einen Lidschlag zu spät durch die Stelle, an der sich gerade eben noch der Magier befunden hatte. Plötzlich herrschte auf der Straße tiefe Stille. Craer rannte hinter seinen Dolchen her für den Fall, dass sich 49 der Zauberer nur ein paar Bäume weiter weg versetzt hatte und beschloss, Blitze zu der Stelle zu schicken, an der sich Craer befand. Er griff sich zwei der Dolche im Laufen, wirbelte herum, duckte sich und erstarrte, um zu lauschen ... und hörte nichts als das Rascheln der Blätter. Vorsichtig spähte der Hochfürst hier und da in die Bäume, hielt nach allem Möglichen Ausschau, sei es nun ein Bogenschütze oder ein mörderischer junger Zauberer. Die Blätter raschelten so fröhlich wie zuvor, sonnige Flecke tanzten im Grün der Bäume, und Craer konnte zwischen all den großen, dunklen Baumstämmen keine bedrohliche Gestalt ausmachen. Unter stummen, aber inbrünstigen Flüchen rannte Craer zurück zur Straße. Hawkril war aufs Gesicht gefallen und hatte dabei einen Laut von sich gegeben, welchen er nur ausstieß, wenn seine Verletzungen wirklich übel waren. Er rührte sich nicht. Genauso wenig wie Sarasper und Embra, und ohne den Dwaer gab es wenig, was sich ein Beschaff er zuzutrauen wagte, falls sie im Sterben lagen ... nicht viel mehr als Gebete. »Urvater Eiche und Gnädige Herrin«, begann Craer unsicher und kletterte dabei hastig über die toten Bogenschützen und durch die summenden Fliegenschwärme zu der Stelle, wo Hawkril zusammengebrochen war, »hört jetzt mein -« »Tanth der Straße! Ihr Hochfürsten, ich komme in Frieden!« Craers Kopf fuhr hoch. Die Stimme war männlich und klang jung, unsicher und anders als die von Jhavarr Bogendrachen, und Tanth bedeutete in der Sprache des Hinterlandes >ich grüße Euch in friedlicher Absicht und wünsche keinen Pfeil zur Antwort«, aber jedermann, der nahe genug herankommen wollte, um sein Ziel sicher zu treffen, konnte einen solchen Ruf ausstoßen! Mit einem einzigen, wütenden Sprung krachte Craer durch Farne und zwischen die Bäume, von wo aus der Ruf gekommen war, und in seinen beiden Händen glitzerten Dolche. 50 »Warum«, fragte Aglirtas neuester Fürst die Ritter sanft, »wollt ihr mit mir reiten? Jetzt sagt mir die Wahrheit.« Der jüngere der Männer errötete und warf einen raschen Blick auf den älteren Ritter, welcher neben ihm stand. Der runzelte die Stirn, musterte Blutklinge mit festem Blick aus grauen Augen und meinte: »Ich habe von Euch gehört, Duthjack, Gutes wie auch Schlechtes, aber Eure Siege übertreffen Eure Niederlagen. Und Ihr lasst Eure Männer nicht im Stich. Das gefällt mir - und das wünsche ich mir von einem König. So, und um Euch die Wahrheit zu sagen, wir sind hier, um eine neue Straße zum Ruhm für Aglirta zu finden. Wir möchten in einem starken und gerechten Reich alt werden, nicht in diesem Land ohne König, dafür aber mit Fürsten, welche endlos aufeinander einstechen und Zauberer anheuern, die ihre neuesten und grausamsten Zauberbanne an den Bewohnern des Tales ausprobieren.« Blutklinge nickte nachdenklich. »Eine neue Straße zum Ruhm für Aglirta.« Er blickte auf und grinste wild. »Das klingt gut - denn das ist genau das, was ich ebenfalls wünsche.« Er erhob sich aus seinem Stuhl und streckte die Rechte aus. »Lasst uns diese Straße gemeinsam bauen.« Der Regent von Aglirta ging zu der Landkarte an der Wand, starrte zum vielleicht vierten Mal an diesem Tag darauf und seufzte. Weder der Schlafende König noch irgendeiner seiner gekrönten Vorgänger hatte je geglaubt, eine Karte von Aglirta sei notwendig - und jetzt wünschte er sich, er besäße deren drei, um mit Steinen und Holzstückchen markieren zu können, welche Winkelzüge und Bewegungen seine ehrgeizigen Fürsten mit ihren Armeen unternahmen. Ja, sie und die Magier von Sirl überschätzten sich so maßlos, dass sie Aglirta als einen zur Lese reifen Weinberg betrachteten - und zwar für ihren eigenen Bedarf - ganz zu schweigen von Aglirtas eigenen Zauberern und 51 den geheimnisvollen Koglaur sowie den feindlichen Priestern der Schlange. Ja, die Schlangenanbeter trieben in jedem Weiler und bei jeder Dorfversammlung ihr Unwesen, und zwar von einem Ende des Landes ohne König bis zum anderen. Ezendor Schwarzgult stieß einen tiefen Seufzer aus. Als er noch unter dem Namen Goldener Greif bekannt gewesen war, als Kriegerfürst und Hauptwidersacher des schurkischen Fürsten Faerod Silberbaum, als >Edler FürstEmDie Götter wollten, dass ich das tue, also tue ich esBeschaffer< sagen.« »Das merkt man überdeutlich«, verdrehte Craer die Augen. »Zu viele Fürsten haben in der letzten Zeit auf ihren Leib-Beschaffer gehört, und seht nur, was sie aus Aglirta gemacht haben!« »Der König ist tot!«, unterbrach sie die bestürzte Stimme Raulins. »Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie er sich entleibt hat!« 302 »Ja, ich auch!«, bestätigte Sarasper vom anderen Ende des Saals. Glarsimber und Craer drehten sich zu dem Heiler um und entdeckten, dass er mit Tschamarra Talasorn dastand und die beiden sich anstarrten, als wären sie gerade Zeugen eines Wunders geworden. »Die Schlangenpriester haben die Bindungen des Königs zerstört!«, rief Embra aus einer ganz anderen Ecke des Saals dazwischen und löste sich von Hawkril. Der Recke trat zu ihr und hielt die Gefährtin, weil sie so sehr zitterte. »Gewiss kommen sie bald hierher. Helft mir, ich brauche alle Magie, derer ich habhaft werden kann!« Die anderen starrten sie an, und die Edle sah sich genötigt, hinzuzufügen: »Mag der König gefallen sein, Aglirta lebt noch. Deswegen sind wir alle - bis auf die Hexe dort natürlich - an unseren Eid gebunden. Meine Herren, tut eure Pflicht!« Ihr Tonfall machte deutlich, dass sie nicht verstand, warum noch niemand die letzte Talasorn-Schwester beseitigt hatte ... und warum die nicht längst mit Blitzen und Zauberspeeren um sich warf. Aber Embra ging nicht weiter darauf ein und fügte sich offenbar ins Unvermeidliche. Immerhin standen wichtigere Dinge an. »Als Faerod Fürst Silberbaum noch dieses Haus regiert hat«, erklärte die Zauberin stattdessen, »haben seine Magier mich durch besondere Banne an dieses Gemäuer gebunden. Daher weiß ich heute, wo die Zauber untergebracht sind. Wenn die Dreifaltigkeit uns gnädig ist und ihr nicht länger dumm herumsteht, finden wir das meiste davon!« »So zeigt uns den Weg, o Herrin!«, äffte Craer ihren Tonfall nach. »Wo sollen wir nachschauen?« »Zunächst an der Rückseite der Tür hinter dem Thron«, antwortete die Edle sofort und zeigte darauf. »In das Zierwerk dort ist ein Zauberstab eingelassen. Den bringt mir rasch!« 303
Nach einem kurzen Moment zeigte Embra in eine andere Richtung. »Den Flur dort hinunter - der dritte Schild rechts birgt ebenfalls einen Zauber Am gleichen Haken hängt ein Armreif. Auf den ersten Blick sieht er aus wie ein Stück Schnur, doch das ist nur Tarnung Den bringt mir auch.« Und weiter ging es ... »Craer, kennt Ihr den Balkon, von welchem man eine ausgezeichnete Aussicht auf die Farne hat? Tretet dort ans Fenster. Das Fensterbrett lässt sich öffnen, indem man die zwei schwarzen Ziersteine daran drückt. Bringt mir alles, was Ihr darin findet.« Die Edle schwieg, ließ aber den Mund offen, so als würde gleich noch etwas folgen. Nach einem Moment winkte sie ab: »Die anderen Gegenstände befinden sich zu weit fort ... die können wir niemals rechtzeitig herbeischaffen.« Der Beschaffer humpelte los und zupfte unterwegs Raulin am Ärmel. Zusammen schritten sie dann hinaus auf den langen Gang, wo sich unter dem Schild der Armreif befinden sollte. Glarsimber machte sich auf die Suche nach dem Zauberstab. Der Weg zur Tür war von herabgefallenen Steinen übersät. Nur mit Mühe konnte man über sie hinwegsteigen. »Na, habt Ihr Euch verletzt, alter Langfinger?«, fragte Hawkril Craer, als er dessen schmerzverzerrte Miene bemerkte. »Was mich nicht umbringt, macht mich nur härter!«, gab der Beschaffer unwirsch zurück und humpelte weiter. Embra hatte sehr dringlich geklungen, und das bedeutete, dass Gefahr im Anzug war. Als Craer die Tür zum Flur aufstieß, erkannte er, wie Recht die Freundin damit hatte. Auf halber Ganglänge näherten sich drei oder vier Dutzend Ritter. Doch sie kamen nicht auf den Dieb zu, sondern gaben einem Feind Raum, mit welchem sie im erbitterten Gefecht standen. Noch während Craer und Raulin hinstarrten, brach ein Mann 304 ächzend zusammen und hielt sich den Hals. Eine Klinge war dort vorn eingedrungen und im Nacken wieder ausgetreten. Der Beschaffer nahm die Feindesschar in Augenschein und erkannte die Wappen von Loushoond, Tarlagar und Ornentar. »Der Tanz geht schon los«, meldete Craer den Gefährten, doch die hatten den Ansturm der Feinde schon mitbekommen. Aus dem Thronsaal ließ sich durch die offene Tür leicht das Getümmel im Gang erkennen. Craer schloss die Tür gleich und suchte vergeblich nach einem Riegel. »Drei Fürsten machen uns ihre Aufwartung. Aber seltsamerweise haben sich Männer gefunden, welche sie und ihre Soldaten aufzuhalten versuchen.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Wie ungewöhnlich für Treibschaum, oder? Schöne Hochfürsten sind wir, was? Aber erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt...« Raulin stolzierte derweil auf die Fürstentochter zu und verkündete fröhlich: »Schild und Armreif, bitte sehr.« »Hawkril!«, rief Glarsimber von der Hintertür, »ich könnte hier Hilfe gebrauchen ...« »Bin schon unterwegs«, entgegnete der Recke und humpelte sichtlich unter Schmerzen zu Hellbanner. Als Sarasper das sah, seufzte er und verwandelte sich in die Wolfsspinne. Die Hexe schaute fassungslos zu, und als die Beine des Alten immer länger wurden und sein Kopf sich verformte, hob die letzte Schwester die Hände, um das vermeintliche Ungeheuer in die Schranken zu weisen. Ein warnender Blick Embras ließ sie jedoch innehalten. Die Spinne kümmerte sich aber auch gar nicht weiter um Tschamarra, sondern krabbelte an einer Wand hoch und dann über die Decke zu der Tür, welche Craer eben geschlossen hatte. Der Beschaffer selbst baute sich gegenüber diesem Eingang auf und tastete seine Stiefel und Ärmel ab, um festzustellen, ob sich alle Wurfmesser noch an Ort und Stelle befanden. Von einem unter einem Stein zerschmetterten Geschmolze305 nen borgte der Dieb sich das Schwert aus und fühlte sich nun ausreichend gerüstet. Nur Tschamarra stand noch an Ort und Stelle. Sie schaute hierhin und dorthin, um alles in sich aufzunehmen, was die Gefährten hier trieben. »Kann ich auch irgendwie helfen?«, fragte die Hexe schließlich unsicher. Embra zog die Brauen hoch, fasste sich aber gleich wieder und deutete stumm auf die Tür, an welcher Ilibar Quelver so viele Jahre lang Wache gestanden und entschieden hatte, wer Einlass in den Thronsaal fand und wer nicht. »Begebt Euch in den dortigen Vorraum«, gebot die Edle. »Von diesem gehen drei Türen ab. Im rechten stehen drei Rüstungen an der Wand aufgereiht. Bringt mir den Helm der hintersten!« Die Hexe verneigte sich und eilte schon los. Embra wandte sich an den Jüngling, welcher immer noch mit Schild und Schnur vor ihr stand. Sie nahm ihm den
Reif ab und zog ihn sich bis über den Oberarm. Danach stellte die Herrin den Schild vor sich und stützte sich darauf. »Berichtet mir kurz und bündig, wie es dem König ergangen ist«, verlangte die Zauberin nun von Raulin zu erfahren. Als die letzte der Schwestern durch die Tür zum Vorraum verschwunden war, fügte Embra hinzu: »Und erzählt mir auch, welche Rolle die Hexe dabei gespielt hat.« »Äh, gern, Herrin«, stammelte Raulin mit der Beredsamkeit eines Jünglings in Gegenwart einer schönen Dame. »Also, die vier Talasorn-Hexen - nun, die Frau, welche Ihr gerade fortgeschickt habt, und ihre drei Schwestern eben jenes Trio, welches zwischenzeitlich den Tod ... die drei, welche gestorben sind -« Der Jüngling hatte sich hoffnungslos verheddert, als die Tür aufflog, an welcher Sarasper und Craer Wache hielten. »Freunde!«, rief Embra ihnen rasch zu. »Haltet sie auf! Sie dürfen noch nicht herein!« 306 Der Beschaffer nickte und zog sich in das Steinmeer zurück. »Da Ihr bis jetzt fast immer Recht gehabt habt, wollen wir Euch auch diesmal glauben«, brummte er vor sich hin. »Edle Herrin!«, rief Glarsimber, der sich noch hinter dem Thron befand. Als die Herrin der Edelsteine sich zu ihm umdrehte, tauchte er hinter dem Herrschersitz auf und warf ihr geschickt den Zauberstab zu. Hinter ihm bemühte sich Hawkril, die Tür wieder zu schließen. Embra fing den Zauberstab auf. Ja, genau den Gegenstand hatte sie haben wollen: einen Metallstab mit einem Kupfermantel. »Hawkril! Lasst die Tür offen. Vielleicht brauchen wir bald einen offenen Fluchtweg!«, rief sie ihm zu. »Oder eine enge Stelle, an welcher auch wir Wenige uns verteidigen können«, meinte Glarsimber. Neben ihm ließ Hawkril einen Steinbrocken fallen und kletterte aus den Trümmern. Nun wurden auch andere Türen aufgebrochen, und Soldaten und Ritter mit den Wappen der abgefallenen Fürsten drängten in den Thronsaal. Sie brüllten »Für Blutklinge! Für Blutklinge! Der Sieg ist unser!«, während das stetig kleiner werdende Häuflein der Verteidiger sie vergeblich aufzuhalten versuchte. Mit einem tierischen Knurren ließ Sarasper sich von der Decke mitten in den Strom der Angreifer fallen und brachte mindestens ein Dutzend von ihnen zu Fall. Er trat mit den langen, behaarten Beinen um sich und brach etlichen weiteren Soldaten die Knochen. Ehe die Schwerter der Angreifer ihn treffen konnten, war er schon wieder zurück unter die Decke gesprungen. Nur um sich kurz darauf wieder zwischen die Ritter fallen zu lassen und ihnen weitere Verluste beizubringen. »Eine Wolfsspinne! Ein Langzahn!«, riefen die Krieger Blutklinges sich jetzt zu. »Mit teuflischer Magie rufen sie die Untie307 re der Hölle zu Hilfe. Erschlagt sie alle! Gewährt keine Gnade! Tötet die Spinne!« Nun drangen sie von allen Seiten auf Sarasper ein. Die Soldaten warfen sich geradezu an seine Beine, um ihn festzuhalten und von den Kameraden erschlagen zu lassen. Doch die Beine einer Wolfsspinne besitzen mehr Kraft als ein durchgehendes Schlachtross. Der Heiler zog sie ein und biss jedem Krieger, welcher sich immer noch daran festklammerte, die Kehle durch. Danach konnte Sarasper wieder austreten und weitere Krieger ausschalten. Dann erreichte er mit einem Satz die Decke und sprang ein Stück weiter erneut in die Menge. Dort wo die Wolfsspinne die Angreifer abwehrte, entrichteten die Krieger Blutklinges einen furchtbaren Blutzoll und konnten nicht durchbrechen. Aber an allen anderen Eingängen hatten sie mehr Glück und drangen in immer größerer Anzahl ein. »Für Blutklinge! Für Blutklinge! Der Sieg ist unser!«, ertönte es bald von allen Seiten. Hawkril zog sein Riesenschwert und sah sich um, wo er am dringendsten gebraucht wurde. Dann verengten sich seine Augen, als er die Gestalten in den kunstvoll verzierten Rüstungen ausmachte, welche von dichten Reihen von Rittern umgeben wurden. Die drei abgefallenen Fürsten selbst hatten sich hierher bemüht. Vermutlich hielten sie diesen Besuch für ebenso spaßig wie eine Jagdgesellschaft. Und wer wusste es schon, vielleicht gab es hier ja eine herrenlose Königskrone zu gewinnen! »Den Zahn werde ich euch ziehen«, knurrte der Hüne. Derweil musste Sarasper wieder einer Flut von Schwertern ausweichen und zog sich, wie schon zuvor, an die Decke zurück. Aber seine blutverklebten Klauen fanden an der glatten Decke keinen Halt. Der Spinnenmann fiel nach unten, und die Krieger schrien begeistert auf. 308 Doch die Freude sollte ihnen rasch vergehen. Sarasper landete um sich schlagend unter ihnen und brach hier ein Rückgrat, da einen Hals und dort das Brustbein eines Soldaten. Die Verwundeten und Toten wurden gegen ihre Kameraden geschleudert, und so geriet der ganze Ansturm in Unordnung.
Von den Verteidigern war mittlerweile niemand mehr übrig, der ihnen mit einer Waffe entgegentreten konnte. Craer hatte alle Hände voll damit zu tun, nicht von den Angreifern umzingelt zu werden. »Sie kriechen durch alle Ritzen!«, schnaufte er Embra zu, als er bis zu ihr abgedrängt worden war. »Ich finde, jetzt geht der Spaß aber langsam ein bisschen weit.« »Für heute haben wir wirklich genug gelacht«, stimmte Glarsimber zu, der eben mit Hawkril erschien, um den Gefährten beizustehen. Dann stürmten alle Soldaten und Ritter gemeinsam gegen die Vier, und diesen blieb keine Zeit für eine Fortsetzung ihrer launigen Unterhaltung. Sarasper hatte sich wieder unter die Decke verzogen, und diesmal hielten seine Klauen ihn oben. Unter ihm rannten die Angreifer. Doch dann blieben einige von ihnen stehen, und der Alte musste zwei Beine von der Decke lösen. Die Soldaten unten stachen nämlich mit langen Spießen nach ihm, und die galt es abzuwehren. Eine ganze Weile später hing der Heiler immer noch so da. Die Gefährten hatten eben dem letzten Angreifer den Garaus gemacht. Hellbanner trat einen Schritt vor und fragte scheinheilig: »Irre ich mich, oder ist das da oben unser Freund Sarasper?« Als Craer nickte, fügte er hinzu: »Was treibt er denn dort oben. Sitzt er gern auf einem Logenplatz und schaut zu, wie seine Freunde die Arbeit tun?« »Tja, so verhält es sich nun einmal mit ihm«, bestätigte der 309 Beschaffer. »Heiler sehen gern, wenn Menschen in Stücke gehauen werden. Dann können sie sie nämlich wieder zusammenflicken. Das verleiht ihnen das Gefühl, wichtig zu sein.« Embra verdrehte die Augen. »Craer, ändert Euch bitte nie. Mir würde die tägliche Dosis Irrsinn sonst wirklich fehlen.« Die Entgegnung des Beschaffers ging im Krachen der Tür unter, an welcher Quelver früher immer Wache gestanden hatte. Eine kreischende Hexe kam hereingelaufen und stürmte auf die Gruppe zu. Sie hatte die Augen weit aufgerissen und schluchzte unbeherrscht. Den Helm, nach welchem Embra sie geschickt hatte, baumelte vom Arm der letzten Schwester. Und mit ihrer Frisur schien etwas nicht zu stimmen ... »Schlangen!«, bemerkte Hawkril schließlich. »Bei den Hörnern der Göttin, in ihrem Haar wimmelt es davon!« Die Herrin der Edelsteine legte die Stirn in Falten, hielt den Zauberstab hoch und murmelte etwas vor sich hin. Der Stab leuchtete kurz auf und verdunkelte sich dann. Mit der freien Hand zeigte Embra auf die kreischende Hexe. Plötzlich brannte hinter Tschamarra die Luft. Sich windende Gebilde fielen aus ihrem Haar und landeten zischend und spritzend auf dem Boden. Die Herrin ließ die Hand erst wieder sinken, als die letzte Schlange vergangen war. Als die heulende Hexe vor ihnen zusammenbrach, fing der Beschaffer sie gleich auf, und in seinen Armen beruhigte sie sich etwas. Embra studierte die Tür, durch welche die letzte Schwester so voller Panik erschienen war. Sie sprach leise einen neuen Bann, und ihr Zauberstab verdüsterte sich, bis ein Teil von ihm abgebröckelt war. Die letzte Schwester schluchzte noch immer an Craers Brust und schniefte ihm alles voll. Der Beschaffer versuchte, sie zu beruhigen. Als Glarsimber den Beschaffer anflaxte, tippte der sich mit 310 Blick auf die Hexe beziehungsreich an die Stirn, und beide Männer grinsten. Wenige Momente später erschienen die, auf welche Embra schon die ganze Zeit wartete. Drei Schlangenpriester zeigten sich in der Tür und schauten mit kaltem Lächeln in den Thronsaal. Die Zauberin schickte die von ihnen geschleuderten Flugschlangen zu den dreien zurück, woraufhin die Priester sich hastig zurückzogen und Schutzzauber wirkten. Tschamarras Tränenstrom versiegte, und sie löste sich von dem Beschaffer. Sie lächelte ihn aus roten Augen an und drehte sich dann zu der Tür um. Gerade noch sah sie einen der Schlangenpriester in der Vorhalle dahinter verschwinden, weil Embra ihm die Flammenkugeln in seiner Hand in etwas anderes verzauberte. Dann aber war es an der Edlen, ein langes Gesicht zu machen; denn nach all den Bannen zerbröselte das letzte kleine Ende des Zauberstabs. Wieder zeigte sich einer der Schlangenpriester in der Tür -und er musste erfahren, dass das Sprichwort »Alles Gute kommt von oben« nicht immer wörtlich verstanden werden darf. Unbemerkt von den Schlangenanbetern war nämlich die Wolfsspinne an der Wand entlang gekrabbelt und lauerte nun über der Tür - mit einem dicken Stein zwischen den beiden Vorderklauen. Das Geschoss sauste nach unten und zerschmetterte dem Priester den Schädel. Er brach zusammen und riss einen seiner Kollegen mit, welcher sich zu weit vorgewagt hatte. Doch damit war längst nicht für Ruhe gesorgt. Inzwischen waren nämlich weitere Schlangenanhänger
eingetroffen, welche endlich wissen wollten, was weiter vorn vor sich ging. Mit Gebrüll stürmten sie in den Thronsaal und verschossen aus den erhobenen Handflächen Feuerkugeln. 311 Sarasper lief über die Decke zu den Gefährten zurück und erklärte Hawkril: »Alle die Waffen gezückt. Es wird nicht mehr lange dauern, ehe Blutklinge selbst hier erscheint - und dann hängt das Schicksal Aglirtas allein von uns ab!« »Lasst Ihr aber lieber Euer Schwert stecken, alter Mann«, entgegnete der Hüne, »und bleibt ein Untier.« »Alter Mann?«, entrüstete sich der Heiler. »Das möchte ich überhört haben!« Hawkril wollte etwas entgegnen, besann sich dann aber und sprach: »Tut mir Leid, mein Freund. Offenbar habe ich Euch mit einer anderen Wolfsspinne verwechselt, die auch hier herumschleicht.« »Bei den Göttern«, bemerkte Craer, »dieser Thronsaal hat wirklich mehr als genug Blut gesehen. Jetzt sind wir offensichtlich an der Reihe.« »Raulin, tretet zu mir«, befahl die Herrin. »Ich brauche jemanden, der alles abwehrt, was man nach mir wirft, und der j mir die Zaubergegenstände in der Reihenfolge anreicht, welche ich ihm nenne.« Tschamarra hielt den Helm vor beide hin. Embra rümpfte erst die Nase, bedeutete dann aber dem Jüngling, den Kopfschutz an sich zu nehmen. Anscheinend traute die Edle der Hexe noch immer nicht. »Sobald die Damen damit fertig sind, Nettigkeiten auszutauschen«, machte sich Hellbanner bemerkbar, »sollten wir uns unweit der Tür hinter dem Thron aufstellen. Gut möglich, dass der Herrschersitz noch einige verborgene Energie enthält.« »Einverstanden«, stimmte der Hüne zu. Doch die Gefährten hatten sich kaum zu einem Halbkreis aufgebaut, als die letzte Tür aufkrachte und sich ein Schwall von Blutklinges Rittern in den Raum ergoss. In ihrer Mitte schritt ein Mann in einer ganz einfachen Rüstung, welche jedoch auf Hochglanz poliert war. »Für Blutklinge! Für Blutklinge! Auf zum Sieg!«, schrie sofort j 312 alles. Schon formierten sich die Ritter neu und marschierten auf den Thron zu. »Nieder mit allen Fürsten!«, verkündete der Kriegsführer jetzt. »Aglirta soll einen neuen König bekommen und mit ihm einen neuen Weg beschreiten!« Er hob sein Schwert, und seine Krieger stürzten sich auf alles, was sich außer ihnen in diesem Raum aufhielt. SECHZEHN Fürst, Schlachten und Blutklinge Die verblichene Inschrift über den ausgetretenen Stufen verkündete: DOLSTAN DREARIHEAD SCHREIBER FÜR ALLE GELEGENHEITEN Irgendwer hatte darunter gekritzelt: AUFTRÄGE ZURZEIT ZWECKLOS, DA VERSTORBEN Ein passender Text, wenn man bedachte, in welche Finsternis die Stufen hinabführten und welche Haufen übel riechender Knochen man unten antraf. Nur wenige in diesem heruntergekommenen Viertel Sirlptars verspürten den Drang, sich durch den knöcheltiefen Unrat am Boden zu wagen, der Dunkelheit zu trotzen und sich dann vor der Tür auch noch an das richtige Klopfzeichen erinnern zu müssen. Wer es dennoch tat, vernahm dort unten die unheimlichsten Geräusche, und die kamen mal von hier und mal von da. Das Quietschen darunter stammte von einem Fensterladen, denn tatsächlich hatte man hier unten ein Fenster in die Wand eingelassen. Dahinter befand sich ein Raum, in dem eine Lampe hing. Wenn sie brannte, was selten genug vorkam, geriet wenigstens etwas Licht in den Keller. Auf der gegenüberliegenden Seite lag ebenfalls ein Fenster. 314 Eine schmale Öffnung, durch welche sich gerade eine Armbrust schieben ließ - und die zielte genau auf denjenigen, welcher im Lichtkegel auf der anderen Seite stand. Die Leichen solcher allzu neugieriger Besucher lagen in den Ecken des Kellers und trugen wesentlich zum Gestank hier unten bei. Gar nicht erst zu reden von dem Fuhrknecht, der im berauschten Zustand die Tür am Ende des Kellers für den Eingang zu seiner eigenen elenden Hütte gehalten hatte. In wachsender Wut hatte er mit allem, was greifbar war, gegen die Tür geschlagen und getreten. Nun lag er unter den anderen Toten und streckte eine erstarrte Hand aus. Die gekrümmten Finger griffen nach dem Umhang eines späten Besuchers, welcher es offenbar sehr eilig hatte. Ärgerlich riss dieser sich los und klopfte in der vereinbarten Folge an die Tür. Zwei Riegel wurden zurückgezogen, und dann öffnete die Pforte sich geräuschlos nach innen. Der Besucher schlüpfte hinein, hielt sich nicht mit Grußworten auf und marschierte gleich auf einen Bogengang zu, hinter dem mehrere Laternen brannten. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, warum diese Verschwörergruppe sich ausgerechnet an einem der
schmutzigsten Orte dieser Stadt treffen musste. Tiefe Keller eigneten sich hervorragend zur Lagerung von Sore oder um Leichen verschwinden zu lassen. Aber Lebende, die etwas zu bereden hatten, konnten dies doch genauso gut an einem warmen Feuer und bei einer guten Flasche Wein tun. So gelangte er in den Lichtkreis, schritt an den beiden Wächtern vorbei, welche ihre Waffen bereithielten, und steuerte den einzigen freien Platz in der Runde an. »Seid mir gegrüßt, lieber Haelbaum, spät kommt Ihr, doch Ihr kommt!«, rief Fürst Kardassa mit aufgesetzter Freundlichkeit. »Ich wurde verfolgt«, entgegnete der Tersept, legte mit großem Schwung den Umhang ab und setzte sich. »Natürlich wie315 der einmal die Zauberer. Glaubt mir, ihre Banne zielen auf jeden Titelträger des Reiches.« »Das überrascht mich nicht«, sprach Maevur von Kardassa. »Sämtliche Magier und Kaufleute von Sirl sind zurzeit ganz versessen darauf, in Treibschaum geeignete Freunde zu finden. Oder sollte ich besser sagen, sie wollen herausfinden, wer am meisten dafür bietet, wenn die Sirler ihm dabei helfen, den Thron zu besteigen.« Die meisten am Tisch nickten säuerlich dazu. Zum überwiegenden Teil handelte es sich um Tersepte, frisch ins Amt bestellt. Auch der neue Fürst von Kardassa trug seinen Titel noch nicht lange. Diese Tersepte waren noch so neu, dass sie nicht einmal den Unterschied zwischen einem Ritter und einem reitenden Soldaten - einem Reisigen - kannten. Während Ersterer dem Fürsten seines Fürstentums persönlich die Treue geschworen hatte, kam Letzterer aus dem Aufgebot, welches das Land zu stellen hatte. Aber was scherte das einen Tersepten, der ja doch niemals freiwillig in eine Schlacht ziehen würde? Auch Fürst Maevur von Kardassa, der Mann mit dem Mondgesicht und dem öligen Haar, hatte nicht vor, seinen Boden mit dem Blut seiner Untertanen zu tränken. Als entfernter Vetter der Alten Krähe hatte er deren Thron bestiegen - nachdem er zuvor ein sorgenfreies Leben in Saus und Braus geführt hatte. In Elmerna, das weit genug von Kardassa entfernt lag, dass die Alte Krähe nichts davon mitbekam, was für ein Stutzer aus seinem Verwandten geworden war. Maevur lächelte Haelbaum jetzt überfreundlich an. »Ich würde jetzt gern fortfahren, wenn Ihr nichts dagegen habt...« Der Tersept spürte, dass der Fürst es darauf anlegte, eine ablehnende Antwort zu hören zu bekommen. Deswegen entgegnete er: »Aber mitnichten. Nur zu.« Maevur griff hinter sich, und sofort trat ein Wächter vor, um 316 ihm ein Bündel in die ausgestreckte Hand zu legen. Mit breitem Lächeln breitete der Fürst das dann vor sich aus. Er wickelte eine Röhre aus dem Tuch und entnahm dieser eine Landkarte. Anfänger im Verschwörerfach waren nichts ohne richtige Landkarte. Die Versammelten kannten bereits jede Biegung des Stroms und dazu jeden Gasthof und jede Pferdetränke auf den Überlandstraßen. Dennoch beugten sich alle vor, als der Fürst die Karte ausrollte. Wie die Kinder zeigten sie sich gegenseitig, wo ihre Heimatstadt oder -bürg lag, so als hätten sie noch nicht so recht begriffen, dass sie jetzt wirklich hohe Herren waren. Nun, dieses Amt und ihren Kopf dazu würden sie rasch verlieren, wenn sie sich in nächster Zeit einen Schnitzer leisteten... Oder auch, wenn Kardassa beschloss, den einen oder anderen von ihnen gegen einen seiner Untertanen auszutauschen. Der würde dann auch nicht unbedingt in Treue fest zum Fürsten stehen, aber wenigstens wäre der Neue zu blöde, um sich an einer Verschwörung zu beteiligen. Und wenn nicht, ein Unfall ließ sich ja immer in die Wege leiten. Haelbaum war so ein Fall. Der Fürst war bereits zu dem Schluss gelangt, dass dieser Mann zu klug war und man ihn im Auge behalten musste. Außerdem neigte der Tersept zum Ungehorsam, und damit stand er endgültig ganz oben auf der Liste derjenigen, welche ersetzt werden mussten. Aber der Gehorsam stellte ja stets ein Problem dar, gleich ob man einen Stall voller Schweine oder ein Fürstentum beherrschte. »Richtet euren Blick nun auf Aglirta«, forderte Maevur die Mitverschwörer auf. »Vor euch seht ihr ein Reich, welches bald schon uns gehören könnte. Wir müssen nur abwarten, bis dieser Emporkömmling Blutklinge und der zu Recht gehasste Regent sich gegenseitig umgebracht haben ... Schon in dieser Stunde tobt zwischen ihnen die Entschei317 dungsschlacht. Selbst wenn einer von ihnen das Gemetzel überleben sollte, so dürfte er viel zu geschwächt sein. Ohne die Erlaubnis eines Magiers ist ihm dann nicht einmal mehr ein Niesen gestattet.« Der Fürst erhob sich nun, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und stolzierte auf und ab, ohne ein Wort von sich zu geben.
Das gab den anderen die Gelegenheit, ihn zu beobachten, und keinem entging, wie sehr sich sein Bauch seit ihrem letzten Treffen gerundet hatte. »Wie man aber weiß«, sprach Maevur Kardassa nun in seiner hochnäsigen Art, »sind Magier immer schon der Fluch des Reiches gewesen - wenn man den alten Geschichten Glauben schenken darf. Immer fand sich ein Fürst oder ein Tersept, welcher meinte, ohne die Hilfe eines Zauberers nicht auskommen zu können. Doch dieser Bannschwinger hat dann in erster Linie danach getrachtet, sich die eigenen Taschen zu füllen. Einer ganzen Reihe von ihnen ist es sogar gelungen, sich zum wahren Herrscher aufzuschwingen und den eigentlichen Fürsten, der Fassade wegen, auf seinem Thron zu belassen, aber unter ihre Fuchtel zu bringen. Natürlich liebt keiner von ihnen sein Land so, wie wir ehrlichen Männer das tun. Sie fördern auch nicht das Land oder mehren seinen Reichtum, denn es geht ihnen nur um ein Leben voller Prasserei für sich selbst und darum, möglichst viele Frauen in ihr Bett zu bekommen.« Erbostes Gemurmel und heftiges Nicken gaben dem Fürsten in seinen Ausführungen Recht - und so kehrte er wieder an die Landkarte zurück. »Wenn nun auch wir die Unterstützung einiger Magier benötigen sollten«, erklärte Maevur mit einem wahrhaft teuflischen Lächeln, »werden wir doch in Wahrheit sie beherrschen - nämlich durch die Frauen, welche wir ihnen zuführen!« 318 Am ganzen Tisch brandeten Beifall und Gejohle auf. Der Fürst nutzte aber diesen Tumult, sich mit seinen Wachen darüber zu verständigen, wer beseitigt gehörte. Als das Gelärme verebbte, fuhr Kardassa rasch fort: »Und damit, meine lieben Freunde, ist unser großer Moment endlich gekommen!« Die letzten Worte brüllte er ihnen entgegen, aber er sah sich getäuscht, als er noch eine Steigerung ihres Jubels erwartete. Diese Holzköpfe waren zu langsam, kamen nicht mit und starrten ihn nur verständnislos an. Natürlich konnte es nicht überraschen, dass Haelbaum als Erster seine Sprache wieder fand. »Großartig! Einmalig! Unerreicht!«, rief der Tersept, und Kardassa hörte deutlich heraus, wie der Mann ihn verhöhnte. Maevur lachte breit, als die anderen sich daraufhin beeilten, ebenfalls ihre Begeisterung über den schlauen Plan zum Ausdruck zu bringen. Er tippte auf die Karte: »Die Gründe dafür, warum ich darum Euch gebeten habe, gerüstet und gespornt zu unserem heutigen Treffen zu erscheinen, dürften auf der Hand liegen.« Der Fürst legte eine kleine Pause ein ... Nein, bei ihnen war der Heller noch nicht gefallen. »Wir brechen noch in dieser Nacht von hier auf und bewegen uns durch geheime Tunnel bis zum Fluss, wo uns Schiffe erwarten. Die besteigen wir gemeinsam mit unseren Kriegern.« Er lächelte in die Runde, denn jetzt sah er die ersten vor Aufregung geröteten Gesichter. »Natürlich tarnen wir uns als Kauffahrer und segeln durch bis nach Treibschaum. Dort steigen wir aus und gehen mit unseren Bogenschützen auf Magierjagd. Und die Wahl, welcher Zauberer erledigt werden soll, dürfte uns nicht schwer fallen - denn nur ein toter Zauberer ist ein guter Zauberer!« Die Verschwörer brüllten vor Begeisterung. Haelbaum schrie 319 mit den anderen, fragte sich aber im Stillen, welche Anweisungen all diese Tersepte in ihrer Burg hinterlassen hatten. Plante der eine oder andere von ihnen gar, sich Kardassas zu entledigen, wenn der nicht mehr gebraucht wurde? Oder waren die Verschwörer wirklich alle mit Feuereifer dabei? Maevur rollte die Karte wieder ein und erteilte die notwendigen Anweisungen. Alle sprangen auf und rannten zu den Stellen, wo Wächter mit brennenden Fackeln standen. Haelbaum schloss sich ihnen an. Ihm war nicht verborgen geblieben, dass es sich bei den anderen Tersepten um Einfaltspinsel handelte. Aber sie verstanden sich auf den Umgang mit der Waffe, und diese Fähigkeit benötigte man in der nächsten Zeit sicher dringender als jede andere. Die halb nackten tanzenden Frauen wanden und drehten sich erneut, als die Instrumente die Weise wieder aufnahmen. Die eine hatte sich mit einem roten Band das lange schwarze Haar wie zu einem Pferdeschweif gebunden. Sie reckte ihre blanken Brüste gegen die andere mit dem blauen Stirnband. Die Blaue stach daraufhin Nadeln in die dargebotenen Fleischhügel. Roter Traum keuchte und ächzte, und die Musik erstarb, damit man jeden ihrer Schmerzenslaute deutlich verstehen konnte. Blaue Leidenschaft, welche die andere an Körpergröße übertraf, beugte sich vor, um sie zu küssen, und darauf schien Roter Traum nur gewartet zu haben. Sie umarmten sich voller Leidenschaft, und die Blaue leckte das Blut der Roten auf. Im ganzen Raum beugten sich die Zuschauer vor und vergaßen ihre Krüge und Becher, um auch ja nichts zu verpassen.
Die Glöckchen, mit welchen die Tänzerinnen behangen waren, klingelten leise, und ansonsten herrschte in dem Raum atemlose Stille. Rot und Blau drehten sich noch einmal im Kreis, damit auch jedermann in den Genuss des Anblicks ihrer entblößten Rundungen käme. Die beiden hatten einen sehr langen Tanz dargeboten und sich dabei selbst übertroffen. Ein Musikant löste durch einen raschen Griff in die Saiten die allgemeine Erstarrung, und das Leben kehrte in das Lokal zurück. Die Kellnerinnen kamen wieder mit gefüllten Tabletts heran, die Gespräche wurden wieder aufgenommen, und die Tänzerinnen verbeugten sich vor den Gästen, um ihren Beifall entgegenzunehmen. Ein paar Männer, welche einen Haufen Gold dafür bezahlt hatten, durften nun nach vorn, um die letzten Blutstropfen von den Brüsten des Roten Traums zu lecken. Die beiden Tänzerinnen drängten sich gegen diese Gäste und reichten ihnen danach den Wein. Schließlich halfen sie ihnen mit ihren Händen dabei, die sichtbare Erregung zum Höhepunkt zu bringen. Nur wenn jemand dem Wirt noch etwas mehr bezahlte, durfte er sich mit den Tänzerinnen in ein Privatgemach zurückziehen. Die anderen erhielten zum Trost die Haarbänder. Die Tänzerinnen verbeugten sich noch einmal vor ihrem Publikum, und das gelöste Haar reichte ihnen jetzt bis über das Hinterteil. Danach zogen sie sich endgültig und in Begleitung von gepanzerten Kriegerinnen zurück. Als sie vor zwei schweren Eisentüren standen, wurde hinter ihnen ein Fallgatter herabgelassen. Die Tänzerinnen verschwanden in dem Raum hinter der linken Tür, schlössen hinter sich ab und fanden endlich etwas Ruhe. Zwei Bäder erwarteten sie, und hier ließen sie sich gern hineinsinken. Blut, Haarpracht und runde Formen vergingen, während sich im warmen Wasser ihre Körper veränderten. 321 »Als Drachentänzerin führt man doch wahrlich ein luxuriöses Leben«, bemerkte die jüngere der beiden Gestalten wohlig und betrachtete ein gefülltes Weinglas. »Aber nur, wenn man wie wir Koglaur ist«, entgegnete die andere, »sonst ist das luxuriöse Leben nur von kurzer Dauer.« »Führen Menschen denn nicht auch solche Tänze auf?«, wandte der Gestaltwandler ein. »Doch, von ihnen habe ich sie ja gelernt und führe sie schon seit einem Dutzend oder mehr Jahren auf.« »So lange?«, entfuhr es dem Jüngeren. »Und ich dachte, nur Schwerverbrecherinnen würden zu jahrelangem Tanz verurteilt ... oder wenn man öfter in Sirl zu tun hat und seinen Geschäftspartnern etwas bieten will...« »Raegrel, nur Totengräber und Giftmischer haben öfter in Sirl zu tun. Doch nun lasst mich Euren Bericht hören.« »Dann steht mir jetzt also meine Strafe bevor.« »Es tut nicht so weh wie die Nadeln vorhin. Beantwortet nur meine Fragen, stärkt Euch am Wein, und dann haben wir es auch schon bald hinter uns - und Ihr mögt Euch in alle Lustbarkeiten stürzen, welche Sirlptar zu bieten hat.« Doch der Jüngere verzog das Gesicht. »Und woher soll ich wissen, dass es sich bei der Schönen in meinem Bett dann nicht um Euch handelt? Oder um einen der anderen Ältesten, die mich auf Schritt und Tritt überwachen wollen?« »Wir zwinkern Euch zu, bevor Ihr uns ins Bett mitnehmt«, entgegnete der Ältere. »Doch nun verratet mir endlich, ob die Schlange sich erhoben hatte.« »Ja, turmhoch ragte sie aus der Erde. Sie war auch bei Bewusstsein und hatte schon ein Auge geöffnet... als alles innehielt.« »Also hat die Bindung gehalten. Nur diejenigen haben falsch gelegen, welche geglaubt haben, mit dem Tod Kelgraels würde auch die Schlange untergehen.« 322 »Ja. Die Große Schlange erstarrte, aber sie war nicht tot. Das schwöre ich bei allem, was mir heilig ist, Thaebred.« »Ich glaube Euch. Die Schlangenpriester treten auf wie immer und rennen nicht wie heulende Wahnsinnige durch die Straßen. Eine gute Nachricht für Blutklinge und all die Fürsten, Zauberer und anderen Wichtigtuer, welche zurzeit nach Treibschaum strömen, um den Thron des Reiches zu ergattern. Wenn die Schlange jemals auch nur in die Nähe des Herrschersitzes kommen sollte, werden die Bürger hier schon begreifen, was Tyrannei und Unterdrückung bedeuten!« »Wie?«, spottete Raegrel. »Und ich Tor glaubte, der Regent sei der Inbegriff des ungerechten, grausamen Herrschers! Wenn man die Aglirtaner über ihn wehklagen hört, könnte man glauben, er würde ihre Frauen und Töchter vergewaltigen und gleichzeitig mit beiden Händen ihre Schatzkammern leeren!« »Wenn Schwarzgult seiner lästigen Herrscherpflichten müde ist, springe ich für ihn ein«, verriet Thaebred ihm. »Doch nun sagt mir frisch an, was aus Blutklinge und seinen drei mutigen Fürsten geworden ist!«
»Loushoond, Ornentar und Tarlagar sind ebenso einfältig wie ehrgeizig - und darüber hinaus die undankbarsten Tröpfe, welche ich je erlebt habe. Da besitzen sie ihr neues Amt gerade mal lange genug, um zu wissen, welche Burg denn nun die ihre ist, und schon verraten sie ihren Wohltäter Kelgrael. Sie sagen sich, der König werde ja doch nicht mehr erwachen, also brauchten sie seinen Zorn auch nicht zu fürchten. Sie sammeln haufenweise Truppen und ziehen bald hierhin und bald dorthin, um neue Heldentaten zu vollbringen. Zum Beispiel fallen sie mit einem Dutzend Rittern über einen dieser gefährlichen Kesselflicker her, oder sie metzeln im Blutrausch einen Hirten mitsamt seiner Herde nieder. Bei Tag und Nacht zeigen sie sich in der kunstvollsten neuen 323 Rüstung, jagen ihre Bediensteten mit dem Schwert hin und her und lassen es sich vor allem gut ergehen. Kaum hatten sie erfahren, dass der Regent gegen Blutklinge gezogen ist, marschierten die tapferen Fürsten sogleich gegen das verlassene Treibschaum. Und anscheinend haben sie keinen Gedanken daran verschwendet, was wohl mit ihnen geschehen würde, wenn der Sieger der großen Schlacht sich in Treibschaum zeigte. Am Hafen vor dem Palast hat ein Zauberer mit seiner Energie alles kurz und klein geschlagen. Danach mussten sie sich dann mit den Hochfürsten um die wenigen Boote prügeln, welche die magische Zerstörungswut überlebt hatten. Die Hochfürsten obsiegten, brachten den Fürstentruppen große Verluste bei und setzten mit den wenigen Booten über. Mit Mühe gelang es Loushoond und den anderen, ihnen etwas später zu folgen. Doch da war auch Blutklinge schon nicht mehr fern, welcher wohl als Sieger aus der großen Schlacht hervorgegangen war. Und damit zum momentanen Stand der Dinge: Sämtliche Heere, welche Aglirta bislang durchzogen und verwüstet haben, befinden sich mittlerweile auf der Insel Treibschaum. Vermutlich kämpft dort jeder gegen jeden, aber bislang wurden keine Leichen gesehen, welche flussabwärts trieben ...« »Das wird noch kommen, keine Bange.« »Kürzlich zeigte sich über dem Palast auch noch in einer Erscheinung die Schlange, aber ich konnte nicht mehr in Erfahrung bringen, hatte man mich doch hierher beordert.« Der ältere Koglaur lächelte und füllte ihre Gläser nach. »Eine ungezogene Bande, nicht wahr«, bemerkte Craer, während er einen Schwerthieb abwehrte, mit dem Dolch in der anderen Hand zustach und sich dann wegduckte, um nicht von dem ganzen Blut bespritzt zu werden. 324 »Wir bringen ihnen Anstand bei«, entgegnete Hawkril, »auch wenn nur die Wenigen davon etwas mit nach Hause nehmen können, welche diese Schlacht hier überleben.« »Wie? Ihr wollt tatsächlich einige von ihnen am Leben lassen?«, rief der Beschaffer in gespieltem Entsetzen. »Einigen gelingt doch immer die Flucht«, erwiderte der Hüne und schlug einem Ritter den Arm ab, mit welchem der nach ihm ausholte. Im riesigen Thronsaal wimmelte es von Kriegern, welche kein größeres Vergnügen zu kennen schienen, als gegenseitig aufeinander einzuhauen. Und stetig strömten neue Kämpfer nach, seien es nun Gefolgsleute der drei Fürsten, Blutklinges Soldaten oder Geschmolzene. Glarsimber und Hawkril wichen immer weiter vor dem machtvollen Ansturm zurück und stießen Raulin hinter sich. Er prallte gegen die Edle und entschuldigte sich gleich bei ihr. »Aber wir sind doch hier in einer Schlacht, und da ist alles erlaubt«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Wenn Ihr mir einen Gefallen tun wollt, dann stellt Euch bitte zwischen mich und die Hexe -und haltet den Helm hoch, aber nicht zu hoch, denn wir müssen ihn noch erreichen können.« Tschamarra wob gerade einen Zauber, welcher sie mit Dornenpfeilen versorgen sollte. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie der Jüngling sich zwischen sie und die Zauberin schob. Aufgrund des ohrenbetäubenden Lärms im Saal hatte sie nicht verstehen können, was die beiden beredet hatten. »Ha!«, rief die letzte Schwester dann, und ihre Dornenpfeile zerrissen die Gesichter der nächsten Angreifer. Ersticktes Röcheln, Schreien und Hilferufe waren die Folge. Einige Soldaten wollten zurück und die Flucht vor der Hexe ergreifen, aber gegen die Wand der Nachrückenden kamen sie nicht an. Embra nutzte die daraus entstehende Verwirrung und rief: 325 »Jetzt, Edle Tschamarra, berührt den Helm.« Beide Frauen hoben eine Hand. Eine Sturmflut magischer Energie überspülte die Frauen, und Tschamarra hätte es beinahe von den Beinen gerissen. Raulin, welcher von den Blitzen unbetroffen blieb, stützte die Hexe - und die Energie sprang von ihr auf ihn über. Der Jüngling zitterte sofort am ganzen Leib. »Nicht loslassen!«, schrie Embra aus Leibeskräften. »Haltet durch, Raulin!« Der Jüngling biss die klappernden Zähne zusammen und staunte nicht schlecht, als die Energie aus den Händen
der beiden Frauen hinausstürzte und sich wie ein Funkenregen über die Angreifer ergoss. Die Soldaten und Ritter in den ersten Reihen schrien fassungslos und sanken nieder. Mit ihren Waffen und Rüstungen waren sie viel zu bepackt, um sich nach hinten durchschieben zu können. Embra und die letzte Schwester sandten den Kriegern Salve um Salve entgegen. Berge von brutzelnden Leichen türmten sich rings um die Gefährten. Bald schien es so, als sei der halbe Saal von Toten und Verwundeten angefüllt. Aber der Strom der Soldaten Blutklinges schien nicht abreißen zu wollen - und der Helm, welchen Raulin und die beiden Frauen hielten, schrumpfte immer mehr zusammen. Als keine Funken mehr stoben und der Zaubergegenstand nur noch spuckte, hörte der Jüngling Craer und Glarsimber im Schwertkampf ächzen. Der Fürst hatte zahllose Wunden davongetragen, und der Beschaffer war es gewohnt, hierhin und dorthin zu springen und seine Wurfmesser zu verschleudern - nicht aber an ein und derselben Stelle stehen zu bleiben und Gegner mit dem Schwert abzuwehren. Embra sah, wie es um ihre Freunde stand, und schleuderte 326 ihre letzten Blitze gegen deren Bedränger, um ihnen eine Atempause zu verschaffen. Als die Hexe das bemerkte, folgte sie dem Beispiel der Zauberin. Der Helm war längst zu Asche zerfallen, und die Edle hielt es für an der Zeit, Tschamarra in ihren Reihen willkommen zu heißen. Das hatte die letzte Schwester sich durch ihren unermüdlichen Einsatz verdient. Embra küsste die neue Freundin und griff dann nach dem Schild. »Den heben wir uns bis ganz zum Schluss auf«, teilte die Herrin den beiden mit und warf einen Blick auf Craer und Glarsimber, die mittlerweile beide wie ein Blasebalg schnauften. »Vorwärts, ihr Tölpel!«, brüllte Blutklinge jetzt. »So macht sie doch endlich nieder! Sie haben ihre Zauberkräfte aufgebraucht! Ihr werdet doch wohl noch mit drei erschöpften Männern, zwei Dirnen und einem Knaben fertig!« Einige Ritter aus den hinteren Reihen ließen sich davon anspornen ... kamen aber nicht weit. Denn zuerst galt es, die Berge von Toten und stöhnenden oder schreienden Verwundeten zu besteigen. Mit einem breiten Grinsen nahm Hawkril sein riesiges Kriegsschwert wie eine Stange in beide Hände und stützte damit den Leichenberg ab, um ihn aufrechtzuerhalten. Als er dann von seinen Gefährten Unterstützung erhielt, erwies sich der Leichenberg als unüberwindliches Hindernis. Embra beobachtete das Treiben über den Rand des Schilds hinweg; denn irgendwann würde den Angreifern einfallen, dass man Hieb- und Stichwaffen auch als Wurfgeschosse einsetzen konnte. Raulin trat neben die Herrin und half ihr, den Schild hochzuhalten wie vorhin den Helm. Embra ließ los und stellte sich mit Tschamarra hinter die Schutzwaffe. »Vorwärts, ihr Elenden!«, donnerte der Kriegsfürst und wandte sich dann an den Hauptmann an seiner Seite: »Wo bleiben denn die Schlangenpriester?« 327 »Vorhin waren noch welche hier, Herr, aber jetzt...« »Und unsere Zauberer? »Alle tot, Herr. Einen habe ich noch beim Übersetzen gesehen. Aber später lag er tot auf der Treppe. Ich befürchte, jemand hat ihn hinterrücks erdolcht.« Blutklinge schnaubte und grollte dann: »In Ordnung! Unsere Schwerter haben uns schon so weit gebracht, jetzt werden sie uns auch noch das letzte Stück Weg bis zum Thron dort drüben bahnen.« Er wandte sich wieder an sein Heer: »Stoßt die Toten und Verwundeten einfach beiseite. Schafft eine Gasse zu den letzten verblendeten Getreuen des Regenten und macht sie endlich nieder!« Auf seinen Befehl folgte ein Blitz nebst grässlichem Krachen. Ein Energiewind kam auf, welcher die Soldaten wie Puppen davonwehte. Zwei Männer erschienen nun mitten in der Luft, und ihre Stiefelabsätze befanden sich über den Helmen der Soldaten. Bei dem einen handelte es sich um Schwarzgult, den Regenten von Aglirta, und um seinen Kopf tanzte ein Dwaer-Zauberstein. Er hatte einen Arm um die Schultern des jungen fahrenden Sängers Flaeros Delkamper gelegt. »Meine Tochter lebt!«, schrie er, als er Embras angesichtig wurde. »Mädchen, hier bin ich, hier oben!« »Der Regent!«, heulte Blutklinge. Dann fasste er sich wieder und hieb mit der flachen Seite seines Schwerts auf die Rücken der Ritter vor ihm ein. »Erschlagt ihn! Tötet ihn, gleich wie, bevor er seine Dunkle Magie gegen uns einsetzen kann!« Die Aussicht auf eine weitere zauberische Flut spornte die Soldaten an wie sonst nichts. Schon stürmten die Gepanzerten los und zogen und zerrten an den Toten und Verwundeten. Die Todesangst verlieh ihnen doppelte Kräfte, und sie warfen 328 mit allem, was sich greifen ließ, auf die beiden Männer in der Luft. Doch der Dwaer wehrte alle Geschosse ab. Als einige Ritter nahe genug heran waren, um mit ihren Lanzen nach Schwarzgult und Flaeros stechen zu können, überzogen sich ihre Waffen mit blauem Feuer, welches auf die
Männer übersprang. Schreiend fielen die Ritter nach hinten. »Da kommen sie!«, rief die Zauberin und zeigte nach oben auf die Galerien, wo Männer mit Glatzen und gegabelten Zungen aufgetaucht waren. »Raulin, haltet den Schild wieder hoch!«, gebot die Herrin der Edelsteine, und einen Moment später regnete es grünes Feuer auf die Gruppe. Tschamarra wehrte es mit ihren eigenen Zaubern ab, musste dann aber erkennen: »Mir ist nicht mehr viel Magie geblieben. Edle, wenn Ihr eine Möglichkeit besitzt, neue Funkenregen oder Blitze zu erzeugen, dann nur zu, ich bitte Euch!« »Aber gern!«, lächelte Embra. »Lassen wir es also blitzen!« Wenige Augenblicke später bildeten die zwei Frauen und der Jüngling wieder eine Einheit. Die Herrin zapfte die Energie des Schilds an. Diese durchströmte sie und verließ sie in Form von Blitzen. Salven von einem Dutzend oder mehr Blitzen sausten zu den Galerien hinauf, wo die Schlangenpriester eifrig damit beschäftigt waren, mit den Händen Abwehrzauber zu wirken. Raulin beschränkte sich darauf, den Schild hochzuhalten, während die beiden Frauen das Feuern besorgten. Mehr als ein Schlangenpriester sank zusammen, und Rauch stieg von seinen Schuppen auf. Die Frauen vernahmen nach einer Weile Schwerterklirren und Hawkrils Schlachtruf. Offenbar hatten Blutklinges Scharen den Leichenwall durchbrochen und drangen nun auf die Gefährten ein. Aber weder Embra noch Tschamarra wagten es, dorthin zu 329 schauen und sich Klarheit zu verschaffen. Denn die Schlangenpriester hatten nun eine Möglichkeit entwickelt, die Blitze abzuwehren. Die Blitze verglühten in den unsichtbaren Abwehrschilden der Feinde, und es hatte den Anschein, als würden Letztere mit jedem Treffer stärker. Die Fürstin Silberbaum runzelte die Stirn und sandte dann ihren letzten Blitz nicht gegen die grinsenden Priester, sondern an die geborstene Decke des Thronsaals. Zunächst tat sich nichts, doch dann brach ein größeres Stück ab und krachte auf den Boden. Unter der Wucht flogen Trümmer und Bodenfliesen hoch und regneten auf die Soldaten herab. Diesmal traf es vor allem die Krieger der drei Fürsten, und denen nützten weder Helm noch Schild gegen die steinerne Flut. Die Trümmer flogen aber auch hinauf in die Galerien, und kreischende Schlangenanbeter stürzten von dort in die Tiefe. Die letzte Schwester half mit ihren verbliebenen Blitzen nach Kräften nach. Tschamarra vermutete nämlich richtig, dass die Abwehrschilde in der Luft vor den Geländern angebracht waren. Während die Priester jetzt kopflos hin und her rannten, beraubten sie sich jeden Schutzes und ließen sich umso leichter erledigen. Embra richtete ihre ganze Aufmerksamkeit aber auf die oberste Galerie. Die dortigen Schlangenmenschen wurden von den aufspritzenden Trümmern kaum getroffen, und wenn überhaupt, war von dort mit dem nächsten Angriff zu rechnen. Als Tschamarra gerade zwei Blitze ebenfalls an die Decke sandte und so dafür sorgte, dass es die Schlangen nun auch von oben traf, schickten die Glatzköpfe auf der obersten Galerie bunte Feuerstöße gegen die Abwehr des schwebenden Regenten. Im Mittelpunkt des Blitzgewitters befanden sich Schwarz330 gult und sein Begleiter. Der Dwaer wurde immer blasser, flackerte und blieb schließlich öfter dunkel als hell. Die beiden sanken langsam zu Boden, und Scharen von Schwertschwingern stachen und hieben bereits nach ihnen. Ezendor Fürst Schwarzgult war schon immer ein Hüne gewesen, und auch jetzt wollte er nicht kampflos untergehen. Mit wuchtigen Schlägen hieb er mit seinem Schwert nach links und nach rechts. Dennoch fand er auch noch die Zeit, den Dolch auf merkwürdige Weise im Auge zu behalten, welchen er in der anderen Hand hielt. Schließlich warf der Regent das Messer in die Luft. Es fiel jedoch nicht nach kurzem Flug zu Boden, sondern schwebte wie der Zauberstein um sein Haupt und verwandelte sich in einen Kranz von zwölf oder mehr Klingen. Die wirbelnden Messer hielten die Krieger auf Abstand. Schwarzgult grinste, griff mit der freien Hand nach oben, bekam den Dwaer zu fassen, rief Embra und warf ihn ihr zu. Noch während der Zauberstein durch die Luft flog, wirkten die Schlangenpriester zischend Banne. Die Fürstentochter aber streckte einen Arm aus, welcher immer länger wurde Und fing den Dwaer aus der Luft. Der Schild, welchen Raulin mit beiden Händen hielt, zerbarst wie bröselige Kohle, Schwarzgults Kranz von Dolchen erlahmte und fiel herab, und Embra presste den Stein mit verzückter Miene an ihren Busen. Da umhüllte sie weißes Feuer, bis sie für alle anderen wie eine weiße Flammensäule aussah. Diese hob vom Boden ab und drehte sich spiralförmig nach oben. Alle, welche sich in der Nähe befanden, wichen vorsichtshalber ein paar Schritte zurück, aber die Flammen taten
niemandem etwas zu Leide. Zu Schaden kam nur ein Schlangenpriester, welcher sich oben auf der Galerie zu weit vorbeugte und das Übergewicht bekam. 331 Er stürzte mitten in das Gefolge von Fürst Tarlagar und erreichte nie den Boden, weil er vorher von vier Schwertern aufgespießt wurde. Craer und Hawkril machten sich natürlich gleich auf, dem Regenten zu Hilfe zu eilen, aber sie kamen nicht weit, denn jedem von ihnen stellten sich ein Dutzend oder mehr Krieger in den Weg. Schwarzgult richtete sich schließlich zur vollen Größe auf, hielt sein Schwert mit beiden Händen und fragte grinsend: »Wer von euch will als Erster sterben?« Die Soldaten hielten zögernd inne, und der Riese stellte ihnen die nächste Frage: »Wie viel von Blut ist der Tod des Regenten wert?« »Nicht nur des Regenten!«, rief Hellbanner, gab dem Ritter den Rest, welcher ihn bis eben aufgehalten hatte, und stellte sich neben Schwarzgult. »Weh uns, zwei alte Männer stehen gegen uns!«, höhnte Blutklinge. »Jetzt schlottern uns aber die Knie! Auf sie mit Gebrüll, Männer!« Er blies in sein Hörn, und die Ritter stürmten mit frischem Mut voran. Hawkril brüllte laut genug, um das Hörn zu übertönen, sammelte seine Kräfte und schob das Dutzend Soldaten, welches sich ihm in den Weg gestellt hatte, gegen deren angreifende Kameraden. Die anschließende Verwirrung nutzten der Hüne und Craer, um Schwarzgult zu erreichen. Tschamarra zog an Raulins Ärmel, führte ihn um die Flammensäule herum, in welcher Embra steckte, und gesellte sich zu den Gefährten. »Nehmt Euch ein Schwert und haltet es vor Euch hin«, gebot sie dem Jüngling. »Ich erledige dann den Rest.« Am anderen Ende der Gruppe befand sich ja bekanntlich ebenfalls ein fahrender Sänger, und der sprach jetzt zu dem Re332 genten: »Ich weiß nicht, ob Ihr etwas damit anfangen könnt... aber wie wäre es hiermit?« Flaeros hielt ihm das Drachenzepter hin. Schwarzgult betrachtete den Gegenstand neugierig und zog ihn dann mitsamt dem Jüngling zu sich heran. »Was soll das denn sein?«, fragte er. Und schon im nächsten Moment erhielt er die Antwort darauf. Die Energie des Stabs sprang auf ihn über. Sie sprang sogar in sein Schwert und ließ es glühend aufleuchten. Das Zepter flammte in der Hand des Regenten auf, und zusammen mit Flaeros verschwand er von einem Augenblick auf den anderen. Das Zepter fiel klappernd zu Boden, und im selben Moment durchbohrten vier Klingen den Fürsten Hellbanner. SIEBZEHN Die Auferstehung der Schlange Glarsimber hatte noch nie solche Schmerzen verspürt. Vier Klingen aus Stahl waren tief in ihn eingedrungen und bohrten in ihm, während die Ritter ihre Schwerter in den Wunden drehten. Dennoch wehrte Hellbanner sich mit letzter Kraft und hieb so heftig um sich, dass die Gegner hastig ihre Klingen aus ihm herauszogen, um nicht im letzten Moment tödlich getroffen zu werden. »Für Aglirta!« ächzte der Waidwunde, taumelte einen Schritt zur Seite und griff sich das Zepter vom Boden. Dann warf er es dorthin, wo die Gefährten fochten. Endlich wurde ihm alles schwarz vor Augen, und er konnte nicht einmal mehr nachsehen, ob sein Vorhaben von Erfolg gekrönt wurde. Fürst Hellbanner kippte vornüber, und einer seiner Gegner rächte sich damit an ihm, dass er ihm mit seinem eisenbeschlagenen Stiefel an den Kopf trat. Aus weißen Höhen zurück in die düsteren Niederungen des Gemetzels. Embra blinzelte, während die gleißende Säule sie sanft auf dem Boden absetzte. Das Erste, was die Edle sah, war das haarige Bein einer Wolfsspinne vor sich. Freund Wolfsspinne war herbeigeeilt, sie zu beschützen. Sein Auftauchen verscheuchte gleich zwei allzu kühne Ritter. Die Edle tötete die beiden, ehe ihr Glarsimber ins Auge fiel und sie sich um ihn kümmern wollte. 334 Doch der Fürst war tot. Wie eigenartig, dachte sie. Mit Hellbanner war ihnen von unerwarteter Seite ein Freund erwachsen - und jetzt lag er in seinem Blut da. Mehrere Ritter sorgten bereits dafür, dass er auch tot blieb, indem sie von mehreren Seiten auf ihn einstachen. Embra beendete diese Art der Leichenschändung und brachte auch diese um. Hinter ihr erkannte Sarasper, dass sein Schutz im Moment nicht benötigt wurde. Er verwandelte sich in den Heiler zurück. Während er das Zepter an sich brachte und Glarsimber betrachtete, schwebte die Herrin bereits wieder in der Luft, begleitet von Schwarzgults Dwaer.
»Ihr Schufte! Ihr Unholde! Ihr Mörder!«, herrschte sie die Kriegsmänner an. »Sterben sollt ihr alle!« Embra ließ die Energie des Zaubersteins in sich einströmen und sandte dann ein Dutzend weiße Blitze in die Reihen der Feinde. Raulin wimmerte ängstlich, als er mit ansehen musste, wie binnen weniger Augenblicke haufenweise gegnerische Soldaten starben. Löcher taten sich in ihren Leibern auf, oder ihr Kopf wurde von den Schultern abgetrennt. Doch bevor der Jüngling voller Panik davonlaufen konnte, hielt der Beschaffer ihn am Kragen zurück. »Mir gefällt sie auch besser, wenn sie gut gelaunt ist«, zwinkerte er dem fahrenden Sänger zu. Dann sprang der Dieb hoch und landete auf der Brust eines Ritters. Er schlang die Arme um dessen Kopf, und bevor der Überrumpelte wusste, wie ihm geschah, sank er schon, mehrfach erdolcht, zu Boden. »Tötet die Hexe!«, feuerte Blutklinge seine Männer an. Ein Hauptmann hob einen Speer, welcher so lang war wie eine Turnierlanze. 335 Hawkril bemerkte das Vorhaben, sprang los und hieb noch in der Luft den Speer entzwei. Die vordere Hälfte nutzte er als Sprunghilfe und versetzte sich mitten in eine Schar Ritter, welche auf einen solchen Angriff nicht vorbereitet waren. Zwei Gegner hatte er schon erledigt, als er zum ersten Mal einer feindlichen Klinge ausweichen musste. Der Hüne stach noch in der Seitwärtsbewegung zu. Und zwar so fest, dass er einen Fuß auf den Schenkel des Sterbenden stellen musste, um sein Schwert herausziehen zu können. Die Zauberin sandte längst weitere Salven in die Scharen der Gegner, und jedes Mal sanken Dutzende getroffen zu Boden. Ihr Einsatz führte bald zum gewünschten Erfolg. An mehreren Stellen gerieten Soldaten in Panik und suchten das Weite. Jedenfalls auf dem Boden des Saals. Etwas höher, auf den Galerien, murmelten übellaunige Schlangenpriester ihre Beschwörungen und ließen dabei die Edle nicht aus den geschlitzten Augen. Die Ritter flohen auch vor Hawkril - bis dieser sich unvermittelt vor dem Krieger wieder fand, welcher eben den großen Speer hatte werfen wollen. Bei seinem Gegner handelte es sich um einen wahren Riesen, und dieser schwang jetzt eine gewaltige eisenbeschlagene Keule. Beim ersten Zusammentreffen von Schwert und Keule fand Hawkril zweierlei heraus. Zum einen, dass sein Gegner ihm an roher Körperkraft überlegen war, und zum anderen, dass er selbst eine Hand frei hatte, mit welcher er dem ungeschlachten Kerl Schaden zufügen konnte. Der Hüne hieb dem Riesen mit der behandschuhten Hand wieder und wieder auf die Stirn, bis dort Blut aus den Wunden strömte und dem Feind über die Augen rann. Beide stürzten gemeinsam, rangen miteinander, und Hawkril ließ ab von seinem Schwert, um den Dolch aus dem Gürtel zu ziehen. 336 Als er sich einen Moment später erhob, brachte er sein Schwert wieder an sich und sah sich nach weiteren Gegnern um. Doch überall rannten alle um ihr Leben ... Nachdem Tschamarra sich vom ersten Schrecken darüber erholt hatte, was sich alles mit einem Dwaer anstellen ließ, wenn der Besitzer nur tüchtig genug verärgert war, suchte sie den Thronsaal nach Hinterhalten und Fallen ab, welche sich gegen die Zauberin richteten. Rasch wurde der letzten Schwester klar, dass Blutklinges Männer keine Bögen mitgebracht hatten. Also richtete sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Galerien. Sie wirkte einen Zauber gegen die Schlangenpriester und stellte fest, dass ihre Energie beinahe aufgebraucht war. Doch davon konnte eine Hexe sich nicht aufhalten lassen. Rasch und geschickt ging Tschamarra zu Werke, und noch ehe die Schlangenanbeter ihre Bannwaffen geschmiedet hatten, wurden sie bereits vom grünen Feuer der Hexe getroffen. Dieser Zauber ließ sich natürlich nicht mit Embras Blitzen vergleichen, reichte aber trotzdem aus, um Tod und Verwirrung unter den Geschuppten auszulösen - und die von ihnen begonnenen Zauber gegen sie zu wenden. Ein Priester fiel über die Brüstung und blieb zuckend unten liegen. Fürst Ornentar eilte sofort zu ihm und zerhackte ihn. Die restlichen Priester zogen sich zum Ausgang zurück und versuchten hastig, Abwehrbanne zu wirken. Die letzte Schwester aber hob nur die Hände, so als wolle sie einen neuen Zauber wirken - da ließen die Schlangen alles stehen und liegen und rannten davon. Die Herrin der Edelsteine kannte kein Erbarmen. Mit ihren Blitzen tötete sie die feindlichen Armeen bis auf den letzten Krieger. Die drei Fürsten sahen, wie ihre letzten Getreuen sich hinter 337 Steinen und anderen Hindernissen in Sicherheit brachten, und sagten sich, dass sie besser diesem Beispiel
folgten. Die letzten Soldaten Blutklinges taten es ihnen nach - vor allem, nachdem sie entdeckt hatten, dass die wahnsinnig gewordene Zauberin im Moment auf alles schoss, was sich durch die Ausgänge bewegte ... Blutklinge hockte hinter einem besonders großen Steinbrocken und verfolgte fassungslos, wie seine Armee Mann für Mann vernichtet wurde. Nur ein halbes Dutzend Männer hatten sich noch um ihn geschart, und die Dreifaltigkeit allein mochte wissen, wohin sich noch weitere hatten retten können. Während der Kriegsführer sich nach einem Ausweg umsah, entdeckte er die Schlangenpriester, welche sich mit mehreren einander überlappenden Abwehrschilden schützten und dem Gemetzel tatenlos zuschauten. Plötzlich tauchte eine Art Zwerg mitten unter den Überlebenden auf. Von diesen fiel gleich einer durch ein Messer, welches ihm unvermittelt aus dem Auge ragte. Der Nächste folgte dichtauf mit durchschnittener Kehle, und drei weitere erlagen den Wurfmessern. Craer Delnbein, diese Ratte, entrüstete sich Blutklinge. Seine Hauptleute sollten ihm eine besondere Behandlung angedeihen lassen. Noch während dem Kriegsfürsten solche Gedanken durch den Kopf gingen, ragte plötzlich ein Hüne vor ihm auf und schwang ein riesiges Schwert. Blutklinge fuhr stolpernd vor ihm zurück, aber Hawkril ließ ihm keine Zeit zu entkommen. Der Fürst schaute hilfesuchend nach oben zu den Schlangen. Doch die blickten voller Gleichgültigkeit auf ihn hernieder. Ein Hauptmann, welcher herbeisprang, fand unter einem mächtigen Schwertstreich Hawkrils sein Ende. 338 Blutklinge konnte den nächsten Hieb des Hünen parieren, doch dann entglitt die Waffe seinen kraftlosen Fingern. »Helft mir!«, schrie der Kriegsfürst den Schlangenmenschen zu; er wusste, dass sein Schwertarm nicht mehr zu gebrauchen war. Aber die Schuppengesichter lächelten ihn kalt an. »Gut möglich, dass Ihr unserer Unterstützung bedürft, aber wir nicht der Euren. Die Schlange dankt Euch. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.« Er lachte wie über einen gelungenen Witz und fügte dann mit wachsender Heiterkeit hinzu: »Die Fürsten des Reiches sind doch eine arge Plage, nicht wahr. Man weiß nie, welcher Lump unter ihnen gerade wieder eine Verschwörung anzettelt. Da bringt man sie doch besser gleich alle um. Und genau das beabsichtigt die Schlange.« »Nein!«, schrie Blutklinge, und im selben Moment durchbohrte Hawkrils Schwert seine Brust. Der Kriegsfürst mit dem Beinamen Blutklinge, welcher auf den Namen Sendrith Duthjack hörte, konnte nichts mehr sagen, weil zu viel Blut aus seinem Mund strömte. Der Hüne aber richtete seinen Blick nach oben. »Dann habt also ihr Schlangenpriester hinter allem gesteckt? Das hätte ich mir j a denken können!« »Das hätte ich mir ja gleich denken können!«, zeterte der Beschaffer. Der Schlangenpriester, welcher Blutklinge so höhnisch abgefertigt hatte, winkte dem Dieb mit einer Hand zu, deren Finger wie Schlangen zuckten. Craers Wurfmesser säbelte der Hälfte von ihnen die kleinen Köpfe ab. Die Fürstin Silberbaum kniete inmitten einer Blutlache und hielt Glarsimbers Kopf in ihrem Schoß. 339 Erst Fürst Silberbaum und nun auch noch Fürst Hellbanner. Dazu Regent Schwarzgult zusammen mit Flaeros verschwunden. Ihr leiblicher Vater hatte ihr seinen Dwaer gegeben und war schutzlos von irgendeinem Zauber fortgeschleudert worden .. Hawkril schüttelte sein Riesenschwert, bis Blutklinge daran hinabrutschte. Dann stach er noch einmal mit aller Kraft zu, um den letzten Rest Leben aus dessen Körper zu vertreiben. »Erwartet keine Gnade, wenn Aglirta noch unter Euren Schlägen leidet. Am liebsten würde ich Euch für jeden Toten einmal umbringen.« Doch stattdessen schlug Hawkril ihm mit dem Eisenhandschuh auf den Nacken, worunter dem Kriegsfürsten das Genick brach. Oben auf der Galerie brachten die Schlangenpriester einen neuen Zauber zustande. Ihr Anführer hob eine Hand, und auf dem Boden des Thronsaals entstand Rauch. Eine ganze Menge Rauch, nämlich überall dort, wo keine Leichen lagen oder Blutlachen sich ausgebreitet hatten. Und aus diesem Qualm schälten sich Schlangen. Bald zischte es überall im Saal, und weitere Kriechtiere fielen dort aus der Luft, wo der Rauch aufstieg. »Hilfe!«, kreischte die letzte Schwester. Schlangen landeten auf ihr, und Schlangen krochen ihr von den Bodenplatten unter die Röcke. Schreiend sprang die Hexe hierhin und dorthin, schlug um sich, als sei sie in einen Mückenschwarm geraten ... bis sie erkennen musste, dass die Schlangen sie umzingelt hatten und ihr kein Ausweg mehr blieb. »Embra!«
Hawkrils Schwert mähte wie eine Sense durch die Kriechtie340 re. Doch aus den abgeschlagenen Köpfen wuchsen neue Körper, und die hauptlosen Leiber entwickelten neue Schädel. Craer griff mit seinen Wurfmessern die Schlangenpriester an. Doch die standen so sicher hinter ihren Abwehrschilden, dass sie den Dieb auslachten. Sie verhöhnten ihn, indem sie seine Dolche in neue Schlangen verwandelten. Endlich wurde auch die Zauberin auf die neue Gefahr aufmerksam. Sie entdeckte die Übeltäter gleich, neue Wut entfachte sich in ihr, und schon fing der Dwaer wieder an zu strahlen. Das grellweiße Feuer fuhr in das Gewimmel der Schlangen, doch deren Masse verging nur zäh darunter. Und kaum waren die Flammen fort, da erstanden die Kriechtiere aufs Neue. »Und nun kommt die berühmte Viererbande doch noch in den Genuss unserer Schlangenfangzähne«, spottete von oben der Priester, welcher vorhin Blutklinge jegliche Hilfe verweigert hatte. Er lächelte Embra frech an, krümmte den kleinen Finger und hatte schon die Krone von Aglirta auf dem Schuppenhaupt sitzen. Gleich darauf streckte er eine Hand nach der Zauberin aus, so als wolle er sie zum Tanz führen. Doch als die Edle genauer hinschaute, entdeckte sie, dass sich in der Schlangenhand ein Dwaer befand! »Herrin, gebt mir Euren Zauberstein!«, verlangte er jetzt von ihr. »Niemals!«, schrie sie voller Wut, so dass man es noch in den entlegensten Winkeln des Palasts hören konnte. In einem feuchten, muffigen Raum richtete sich ein leuchtendes Gerippe in seinem offenen Sarg auf, und zwei Flämmchen erschienen in den leeren Augenhöhlen. Das Skelett wollte etwas sagen, doch dazu fehlten ihm Lunge, Kehlkopf, Zunge und verschiedenes andere. Hilflos hob es eine Hand und sank dann enttäuscht zurück ... 341 Embras Dwaer leuchtete so hell wie ein Stern, und sie sandte die weiße Energie gegen den Schlangenpriester. Doch kurz bevor der Strahl sein Ziel erreichte, teilte er sich davor, ohne dem Priester etwas anhaben zu können. Dafür wütete das weiße Feuer umso schlimmer unter den Gehilfen des Unholds. Diejenigen, welche nur leicht davon getroffen wurden, sanken auf die Knie und hielten sich den schmerzenden Kopf. Der Anführer aber lächelte und sprach eine leise Beschwörung, deren Worte von den anderen wieder und wieder gesungen wurden. Darunter leuchtete sein Dwaer erst rot, dann schwarz und endlich eindringlich rot. Der Gesang der anderen schwoll immer weiter an. Embra musste nicht lange rätseln, um zu erkennen, was dieser Zauber bewirkte, und die anderen Gefährten wussten es auch bald. Nur Raulin sah die Herrin fragend an, und so erklärte sie ihm: »Er ruft die Schlange, und ich vermag ihn nicht daran zu hindern.« Bald schien der Gesang aus dem ganzen Palast zu ertönen, und neue Schlangen glitten in den Thronsaal. Große Ungeheuer von mehrfacher Manneslänge. »Gebt mir Euren Dwaer«, verlangte der Priester noch einmal. »Überreicht ihn mir auf den Knien und gesenkten Hauptes. Oder ich komme herunter, ihn mir zu holen, und dann soll Euer Blut von ihm tropfen.« In diesem Moment explodiert das Dach des Palasts, und die Trümmer flogen weit in das Land und in den Strom. Die sechs Gefährten schauten nach oben und sahen zunächst nur vorbeiziehende Wolken. Doch dann verdunkelte sich das Firmament. Größer als ein Gebirge erschien die Schlange. Ihre Augen leuchteten wie die schwarzen Flammen der Hölle und blickten 342 herab auf den Thron, dessen Inhaber sie so lange fern gehalten hatte. Mit einem wütenden Zischen schnellte der Kopf durch das offene Dach. Hawkril schluckte dreimal, ehe er vortrat und sein Schwert schwang. »Für Aglirta. Ich habe nur ein Leben zu geben. Versucht nur, Bestie, es mir zu nehmen.« Das weit aufgerissene Maul sauste auf ihn zu. »Ihr seht also«, erklärte Tonthan Goldmantel seinem Gast, dem Zauberer aus Elmerna, »dass uns große Möglichkeiten erwarten. Das reichste Land von allen. Natürlich nur, wenn man ihm den Frieden zurückgibt. Aber nach drei Jahren dürfte dort alles wieder im Lot sein. Und eine ganze Baronie soll Euch gehören.« Der Ring an der Hand von Mranrax Arandor blitzte kurz auf. Er untersucht, ob der Wein vergiftet ist, sagte sich Tonthan. Dann meinte der Gast: »Und wie kommt Ihr darauf, dass die braven Bürger Aglirtas einen Magier als ihren Herrn anerkennen? Müsste ich nicht vielmehr ständig befürchten, dass einer meiner Diener mich des Nachts erdolchen will?« »Nun ja, Zauberer haben in der Vergangenheit nicht immer den besten Ruf genossen. Zum Teil war das aber
auch ihre eigene Schuld, weil sie sich zu sehr an den Dorfschönen vergriffen haben - oder weil sie im Dienst irgendeines Fürsten standen, welcher sich an einem Rivalen und dessen Untertanen rächen wollte. Aber wenn Ihr Euren Bürgern zeigt, dass Ihr alles anders angehen wollt, werden Euch ihre Herzen rasch zufliegen!« »Und was halten die Ieiremboraner davon, dass sich wie aus heiterem Himmel ein Erzmagier auf ihre Seite schlägt?«, wollte Arandor jetzt wissen. Goldmantel verkniff sich ein Lächeln, denn sein Gegenüber 343 schien schon so gut wie überzeugt zu sein. »Sie wollen vor allem Kelgrael und Blutklinge beseitigt sehen. Und sie brauchen unser Geld, um ein Heer aufstellen zu können. Da dürften Kleinigkeiten wie die Teilnahme eines Erzmagiers nicht weiter stören.« Tonthan lächelte jetzt auf die gewinnende Art, welche ihm sein riesiges Vermögen eingebracht hatte. »Ein geschickter Erzmagier könnte leicht zwei oder drei Fürstentümer beherrschen ... oder sogar zum Kanzler des Königs aufsteigen ...« »Welche Vorbereitungen sind denn bereits getroffen worden?«, wollte der Elmernaner wissen. »Nun ja, es gäbe da gewisse Dinge zu bedenken ... wie zum Beispiel die Herrin Silberbaum oder die Dwaerindim ...« Der Zauberer wollte etwas sagen, doch in diesem Moment zerriss ein gewaltiger Donnerschlag den Himmel. Finsternis setzte ein. Der Kaufmann und der Magier stolperten zum Fenster. Sie befanden sich auf der höchsten Erhebung Sirlptars, von wo aus man weit in das Stromtal hinunterblicken konnte. Nun konnten die beiden sogar erkennen, wo die Insel Treibschaum lag. Denn über dem Palast befand sich etwas von der Größe eines Wolkengebirges. Ein Wesen, welches sich zusammenrollte wie ... eine Schlange ... Nein, wie Die Schlange! Eben stieß sie mit dem Kopf hinab ... »Und nun?«, fragte Arandor leise, um zu verbergen, wie sehr seine Stimme zitterte. »Sollten wir froh sein, nicht gerade im Palast zu sitzen«, entgegnete Tonthan leutselig und wunderte sich selbst über seine Ruhe. »Was für eine wohlklingende Bemerkung«, ertönte hinter ihm eine Stimme. »Wir werden uns dieser besonderen Fähigkeit erinnern, Tonthan Runthalan.« Niemand, wirklich niemand kannte seinen Nachnamen. 344 Doch als Goldmantel herumgefahren war, war der Platz hinter ihm leer. Als der Kaufmann sich wieder seinem Gast zuwandte, starrte der noch immer voller Furcht auf die Riesenschlange über der Insel Treibschaum. Dem Magier schien der Appetit auf ein eigenes Fürstentum vergangen zu sein. Mehr noch, er wünschte sich offenbar nichts dringender, als wieder zu Hause zu sein. »Die Schlange kommt!«, brüllte jemand. »Sie gleitet auf uns zu!« Ein paar andere Kaufleute gesellten sich zu Tonthan, und er fragte sie mit Blick auf das Ungeheuer: »Nun, meine Herren, was meint ihr? Wie ließe sich daraus Profit schlagen?« Arandor fuhr vor ihm zurück. »Wie könnt Ihr nur? Wisst Ihr denn nicht, um wen es sich bei dieser Schlange da draußen handelt?« Der Kaufmann zuckte die Achseln. »Natürlich weiß ich das. Die Schlange ist endlich erwacht. Sie gilt als eine Schöpferin der Dwaerindim und soll vollkommen wahnsinnig sein. Weiterhin will sie alles und jeden beherrschen, kennt alle Grausamkeiten und kann Menschen mit einem Blick in Tiere verwandeln. Habe ich noch irgendetwas vergessen?« Der Zauberer heulte, drehte sich auf dem Absatz herum und rannte davon. Man hörte sein Schreien und das vieler anderer Flüchtlinge noch lange nachhallen. Tonthan schüttelte den Kopf. Dann würde es eben ohne zauberischen Beistand gehen müssen. Aglirta konnte ihnen schließlich auf die altmodische, wenn auch kostspielige Art in die Hände fallen ... Mulgor war unruhige Schafe gewöhnt. Kein Wunder, wo hier im Bergland so viele Wölfe, Füchse und Bären herumschlichen. 345 Deswegen zog er auch so gern in Uls Senke. Fast nur Grasland; kaum ein Baum oder Strauch, hinter welchem sich ein Raubtier verstecken konnte; an beiden Enden eine Erhebung, von der aus ein Schäfer alles im Griff behalten konnte; und viele Wildvögel, die einen schmackhaften Braten abgaben. Vor zwei Sommern hatte er hier den Wolf mit einem Pfeil erlegt. Seit einiger Zeit war Mulgor hier auch mehr oder weniger allein. Die meisten waren entweder in irgendeinen der vielen Kriege gezogen oder vor deren Wirren geflohen. Seine Tiere wurden dieses Jahr fett, und er würde eine hübsche Stange Geld für sie einstreichen. Dann könnte der Hirte endlich Throrkans Feld kaufen - ein seit fünf Jahren vernachlässigtes Stück Land. Aber seine Schafe
würden schon mit dem Unkraut aufräumen. Und wenn es ging, auch noch die dahinter liegenden Hügel, um darauf Wein anzubauen. Nicht nur für den Eigenbedarf, sondern auch zum Verkauf Ein furchtbarer Knall, und alle Schafe rannten davon... Aber nein, sie befanden sich nicht auf der Flucht, sondern strebten gemeinsam dem Rand der Senke zu. Der Schäfer sprang auf und lief ihnen hinterher - und der Boden unter seinen Füßen bebte, als würde die ganze Welt durchgeschüttelt. Der Himmel färbte sich schwarz, und Mulgor landete unsanft auf dem Rücken. Er musste wieder hoch und die Herde einsammeln, damit sie von dem Unwetter nicht auseinander getrieben würde. Aber was war das? Die Tiere rannten nicht mehr davon. Sie hatten oben am Rand der Senke angehalten, standen in langer Reihe da und starrten hinüber zur Insel Treibschaum. Von dort kam auch die Himmelsschwärze her ... eine Riesenschlange, gewaltiger noch als das mächtigste Raubtier ... Das konnte nur die Schlange aus der Sage sein ... diejenige, welche auf mannigfaltige Weise mit dem König verbunden 346 war ... Und wenn sie jetzt dort auftauchte, konnte das doch nur bedeuten, dass ... Dass das ganze Reich unterginge und man nur noch Schlangenpriester und Sklaven anträfe ... Der Schäfer konnte das goldene Auge des Untiers deutlich erkennen. Jetzt riss die Schlange das Maul auf, und ihr Rachen musste doppelt so groß sein wie Uls Senke. Der geschuppte Kopf stieß in den Palast hinab. Kelgrael musste bereits tot sein, und wer immer noch auf der Insel lebte, würde jetzt von der Schlange gefressen werden. So ein Riesentier konnte eine Menge verdrücken. Mulgor erwachte aus seiner Starre. Er brauchte dringend seinen Bogen. Auch wenn er damit kaum der Schlange gefährlich werden könnte, gäbe er ihm doch das Gefühl, sich wenigstens gewehrt zu haben ... Steine fielen wie Regen, Sprünge zeigten sich in Decken und Böden, und ganze Gemächer fielen in sich zusammen. Die glühenden Gebeine von Gadaster Mulkyn fügten sich in ihre Ordnung zurück - obwohl doch sein einstiger Lehrling In-gryl Ambeiter den Sarg wieder und wieder aufgesucht hatte, um sich an der Restenergie zu laben und wiederherzustellen. Nur den Willen hatte er Gadaster nicht nehmen können. Und deswegen würde in nicht allzu ferner Zeit der Tag kommen, an welchem Ambeiter die andere Seite seines Zaubers zu schmecken bekommen würde. Denn es gab für einen Magier keine größere Gefahr, als mit Bannen herumzuspielen, welche er nicht vollständig verstand. Genauso, wie Gadaster den Zauber nicht begriff, welcher ihn gerade so furchtbar durchgerüttelt hatte. Der ganze Palast bebte ja noch darunter! Neugier ist der Fluch jedes Magiers - auch Gadasters; denn er erhob sich, um die Ursache dieses Ereignisses herauszufinden. 347 Der Flussthron lag in Trümmern da, und das bedeutete, dass alle Verbindungen zwischen Kelgrael und der Schlange Aber das bedeutete ja, dass der König tot war ... Und wo blieb die Schlange? Gadaster bekam es mit der Angst zu tun. Am besten legte er sich wieder in seine Gruft schlafen und betete darum, nicht entdeckt zu werden. Gerade noch rechtzeitig schaffte der alte Zauberer es zurück, löschte das Glühen seiner Knochen und versank in Schlummer Da erschütterte das nächste Beben den Palast. Im höchsten Turm einer Burg weit weg von Treibschaum stand ein Fenster offen. In endloser Folge flogen Fledermäuse hier ein und aus - und das von früh bis spät. In dieser hohen Kammer saß ein Mann in schwarzen Gewändern am Schreibtisch und las in einem Zauberbuch, für dessen Besitz so mancher Bannschwinger gemordet hätte. Immer wieder nickte der Herr der Fledermäuse versonnen und bemerkte nichts davon, wie diese Tiere auf ihm landeten und sich wieder von ihm erhoben. Huldaerus gehörte nicht zu den Magiern, welche große Auftritte liebten und gern die Huldigungen der Menge entgegennahmen. Ihm bereitete es die höchste Genugtuung, alte und seltene Bücher zu studieren. Mit einem Mal erstarrten die Fledermäuse über ihm mitten im Flug, und die Glühkugel, welche er sich als Lesehilfe eingerichtet hatte, erlosch. Der Magier hob den Kopf. Aber er spürte weder einen feindlichen Bann noch einen Eindringling. Was Die Welt rumpelte und grollte, als wollte sie zerspringen ... Huldaerus wusste sofort, dass dieses Getöse in Aglirta seinen Ursprung haben musste. Er lächelte matt, weil ja alles Weltbewegende aus dem Reich kam. Der Magier begab sich zu seiner Kristallkugel, und während
348 er hineinspähte, fingen die Fledermäuse langsam wieder an, sich zu bewegen. Wie durch Zufall war die Kristallkugel auf den Thronsaal von Treibschaum ausgerichtet - und dort ging es offenbar drunter und drüber. Etwas unfassbar Riesiges schob sich über den Palast - und im nächsten Moment tauchte der Schädel der Schlange über der Thronkammer auf. Also war die Große Schlange doch noch freigekommen. Das konnte nur eines bedeuten: Schneestern war tot. Und damit würde das Reich bald nicht mehr wiederzuerkennen sein. Ja, wenn alle Zauberer - von den Erzmagiern bis zu den Heckenmagiern - zusammenarbeiten würden, ließe sich das Unheil unter Umständen aufhalten ... Der Herr der Fledermäuse schüttelte den Kopf. Wann würde so etwas jemals der Fall sein? Nein, rein gar nichts ließ sich jetzt mehr dagegen tun. Huldaerus ließ sich eine kostbare Flasche Wein bringen und genoss sie in seinem Lieblingssessel. ACHTZEHN Zepter, Drachen und Schlange Zu seinem Glück waren nicht alle Zauber schief gegangen. Einer hatte ihn nämlich aus der Silberbaum-Gruft hierher gebracht. Die Kopfschmerzen brachten Ambeiter zwar fast um, aber er wusste dennoch, dass er großes Glück gehabt hatte. Er wusste nicht, wie lange er hier schon lag, und eine vorsichtige Untersuchung ergab, dass auch niemand des Wegs gekommen war und ihn ausgeraubt hatte. Vielleicht würde ihn alle Welt mittlerweile für tot halten, und das wäre ja nicht das Schlechteste. Er musste jetzt dringend an einen Dwaer kommen, aber das war leichter gesagt als getan. Ingryl vermochte, an die Banne von Tharlorn, Sarr und sogar des sagenhaften Eroeha zu gelangen, aber sie alle würden ihm nichts gegen einen Weltenstein nützen. Er zog sich in sein Versteck zurück und beschloss, hier erst einmal zu bleiben. Was hatte er schon mit Aglirta zu schaffen? Vielleicht ließ es sich ja in einiger Zeit leichter an einen Dwaer kommen... »Vergesst mich, ihr Narren ... geh allein deines Wegs, du schnöde Welt. Wenn ich erst einen Weltenstein besitze, komme ich gern zu euch zurück.« Ein Donner ertönte, der beinahe seine Erdhöhle zum Einsturz gebracht hätte. Als der Zauberer sich vom Erdreich befreit hatte, schaute er nach oben - und erstarrte. Der Königspalast lag in Trümmern, und an der Südseite ringelte sich die Große Schlange! 350 Seine Augen spielten ihm keinen Streich, und er unterlag auch sonst keiner Sinnestäuschung. Der fette Körper des Kriechtiers brachte weitere Mauern zum Einsturz. Dann richtete die Bestie sich auf, und ihr Kopf stieg so hoch in den Himmel, dass Ambeiter, ihrer Bewegung mit den Augen folgend, nach hinten überkippte. Die schwarzen und goldenen Augen sahen sich suchend im ganzen Stromtal um, und Ingryl machte sich in seinem Versteck ganz klein. Als das Untier das Maul aufriss und herunterstieß, verkroch sich Ambeiter, so tief es ging, in die Erdhöhle. Der König war tot, die Schlange frei und das Reich dem Untergang geweiht! Er musste jetzt wirklich dringend an einen Dwaer gelangen. Nein, besser noch an alle Dwaerindim, bevor die Schlange an die Steine geriet... »Aber Ihr wart doch schon letztes Mal Roter Traum«, schmollte die wohlgeformte Schöne und brachte das rote Band an sich. Die andere Frau zuckte die Achseln und nahm das blaue Band. »Nun beruhigt Euch wieder, Raegrel. Achtet lieber darauf, dass Ihr beim Auftritt genau wie ich ausseht. Die Haare müssen noch etwas dunkler, die Beine etwas länger werden.« Der Beschaffer, welcher mit dem Kopf nach unten draußen am Fenster hing, schluckte zum wiederholten Male. Er konnte sich einfach nicht dafür entscheiden, welche von den beiden aufregender aussah. Offenbar unterhielten die beiden sich über Brüste. Die eine mit dem blauen Band griff an die der anderen, und sie Es krachte gewaltig, die Scheibe vor ihm zerklirrte, und er landete mitten zwischen den beiden Frauen. Die Blaue streckte einen Arm aus, bis dieser zwanzig Fuß lang war, packte den Eindringling am Nacken und stieß ihn ins Wasserbecken. »Soll ich ihn ersäufen?«, fragte Raegrel. 351 »Hört auf zu spielen, und schaut lieber nach draußen«, gebot Thaebred. »Das scheint die Große Schlange zu sein, welche endlich freigekommen ist.« Der jüngere Koglaur gehorchte und schwieg lange. Dann fragte er: »Und was sollen wir jetzt tun?« »Weglaufen, uns verstecken und beten.« Von unten auf der Straße ertönte ein Platschen und Prusten. Raegrel schaute hinunter und sah den Beschaffer
sich aufrappeln und davonlaufen. »Während Ihr nach Treibschaum geschaut habt, habe ich mir erlaubt, den Eindringling aus dem Fenster zu werfen - auf eine Ladung gefüllter Weinschläuche.« Der Ältere schwieg, bis der Jüngere ihn fragend ansah. »Ich bin einer der wenigen, welche sich noch an das letzte Erscheinen der Schlange erinnern können«, sprach Thaebred. »Und was wird jetzt aus uns?« »Kommt, Roter Traum, unser Auftritt wartet.« »Was war denn das?«, rief Multhas von draußen. Er klang aber weniger erbost als vielmehr verwirrt. »Bringt alle herbei, rasch«, erhielt er zur Antwort. »Jeden Bogendrachen, welchen Ihr antrefft.« Wenig später kehrte Multhas mit Araunder und Ithim zurück nebst allen Kindern. Dolmur sah sie alle ernst an: »Was ihr jetzt zu sehen bekommt, bildet den wichtigsten Grund dafür, warum keiner von euch nach Aglirta laufen darf, um unsere Toten oder unsere Ehre oder was auch immer zu rächen ...« Der älteste Bogendrachen bewegte sachte die Finger, und mitten in der Luft entstand ein Fenster von doppelter Mannshöhe. Darin führte Dolmur seiner Sippe alles vor, was er vorher gesehen hatte. Vom Donnerschlag über die Finsternis bis hin zu der Großen Schlange. 352 Einige der Kinder verbargen die Gesichter, und auch die Größeren erschraken zutiefst. »Das war die Schlange aus der Sage, nicht wahr?«, fragte Araunder ganz gefasst. »Ja, die nämliche. Kein Trugbild, kein Zauber, sondern die echte. Die Große Schlange war einst der mächtigste Erzmagier, welchen das Reich je erlebt hatte ... Selbst wenn wir alle uns mit den anderen Sippen verbündeten und Seite an Seite mit ihnen stünden, vermögen wir mit all unseren gebündelten Zauberkräften kaum, ihr ein Härchen zu krümmen.« »Und deswegen dürfen wir nicht nach Aglirta?«, fragte die halbwüchsige Maedra. »Ehrwürdiger Onkel, Ihr wollt uns doch nicht mit einem so albernen Ammenmärchen dazu bewegen, hier herumzusitzen und Däumchen zu drehen! Damit wir uns zum hundertsten Mal die Geschichte anhören dürfen, warum Euch Eure Frau davongelaufen ist?« »Nein«, entgegnete Multhas, »ich bitte euch nur darum, euer Leben nicht mutwillig fortzuwerfen ... und wenn wir schon sterben müssen, dann mit so viel Würde, wie wir nur aufbringen können.« »Wir müssen sterben?«, fragte das Mädchen ungläubig. »Wann denn?« »Wenn es der Schlange gefällt, hierher zu kommen.« Der Kapitän der Frischen Brise betrachtete Orathlee wieder mit diesem Blick. Sie ahnte, dass er gleich noch einmal fragen würde, warum sie den überteuerten Preis bezahlt habe, um so rasch wie möglich von Sirlptar fortzukommen. Da kam er auch schon. Der Kapitän konnte es sich erlauben, seinen Posten zu verlassen, denn sein Schiff machte gute Fahrt, und der Himmel sah freundlich aus. »Wie schön, Euch an Deck zu sehen«, begann Telgaert. »Die meisten bleiben lieber unten ... in der Nähe eines Eimers.« »Die Reise verlief doch bisher sehr angenehm, und da wollte 353 ich etwas frische Luft um die Nase haben«, antwortete die Frau. »Meine Töchter und ich sind Euch nämlich überaus dankbar, dass Ihr uns ohne viele Fragen an Bord genommen habt.« »Ich bitte Euch, Damen in Not hilft man doch gern. Und Ihr scheint wirklich in großer Not gewesen zu sein.« Orathlee seufzte leise. Warum nicht gleich mit der Erklärung beginnen? »Herr Kapitän, ich will offen zu Euch sprechen: Meine Töchter und ich sind meinem Ehemann und ihrem Vater davongelaufen, einem Saufbold und Schläger. Fürchtet nicht eine Straftat, denn ich habe nichts verbrochen - der Mann lebt noch. Auch bin ich weder vor irgendwelchen Schulden davongelaufen noch eine Prinzessin, welche unerkannt um die Welt reisen will.« Der Kapitän lachte sie nach diesen Worten an, und spätestens damit hatte sie ihn auf ihre Seite gezogen. »Da bin ich aber erleichtert, gute Frau.« »Ihr habt auch wirklich nichts von mir zu befürchten, verehrter Herr.« Während die beiden sich im leichten Plauderton näher kamen, zerriss unvermittelt über ihnen der Himmel. Alle an Bord schraken zusammen, und diejenigen, welche sich auf Deck aufhielten, starrten ins Firmament. Ein ungeheurer Schlangenkopf war dort aufgetaucht und schien die Wolken beiseite schieben zu wollen. Doch dann tauchte er von einem Moment zum anderen weg, so als wolle er eine Beute schlagen ... Das Schiff durchquerte jetzt die Meerenge und fuhr auf die offene See hinaus. Am Horizont zog sich ein Gebirge entlang, und jenseits davon war die Schlange abgetaucht. Der Kapitän wandte sich mit grauem Gesicht an die Frau. »Verratet mir bitte, was das gewesen ist.« »Die Große Schlange«, antwortete Orathlee, denn sie hatte zu diesem Mann Vertrauen gefasst und wollte ihm nicht noch 354
mehr Lügen auftischen. »Nicht irgendeine Märchengestalt und auch sonst kein Kinderschreck Sondern die seit langem geweissagte allmächtige Schlange. Und in Wahrheit fliehe ich vor ihr. Ihr versteht also, dass ich weder eine Anhängerin noch eine Priesterin dieses Ungeheuers bin!« »Damit die Schlange auferstehen kann, muss der König von Aglirta tot sein«, murmelte Telgaert. Dann sah er die Frau noch einmal mit großen Augen an. »Woher wusstet Ihr ...?« Orathlee entblößte ihren Oberkörper, um dem Mann ihre Brandzeichen zu zeigen. »Ich bin eine Weise. Kürzlich habe ich einem Kunden die Tanthor-Karten gelegt und darin gesehen, dass eine große Gefahr dem Reich drohe. Und da wollte ich nicht länger in Sirlptar weilen.« Der Kapitän schüttelte leicht den Kopf. Dann nickte er in Richtung ihres vernarbten Busens und sagte: »Ihr müsst noch ein Kind gewesen sein, als man das mit Euch angestellt habt... Meine Muhme war auch eine Weise, und ihr hat man in jungen Jahren so sehr den Rücken gepeitscht, dass sie zeitlebens nur noch mit krummem Buckel herumgelaufen ist, und das nur, weil man sich vor ihren hellseherischen Fähigkeiten gefürchtet hatte. Gute Frau, Ihr sollt Eure Passage bis auf den letzten Heller zurückerhalten.« Er trat noch einen Schritt auf sie zu. »Ihr müsst jetzt nicht antworten, wenn Euch das zu heikel erscheint... aber wo wollt Ihr hin, nachdem ich in Teln eingelaufen bin?« Sie senkte den Blick und trat unmittelbar vor ihn. »Das weiß ich nicht... vor der Schlange gibt es kein Entkommen ...« »Doch, übers Meer schon«, versicherte der Kapitän ihr. »Telgaert, ich kann kochen, mit Kräutern heilen und nähen. Ich habe als Sklavin gearbeitet, und ich habe noch mehr Narben. Einige sogar an Stellen, welche die Gelüste der Männer wecken. 355 Ich bin bereit, mich jedem Seemann an Bord hinzugeben, solange man nur meine beiden Töchter in Ruhe lässt.« Der Kapitän lächelte und nickte. »Dann nehme ich Euch in meine Besatzung auf. Ich bin mir sicher, dass wir lange gut miteinander auskommen werden.« »Solange die Schlange uns lässt.« Orathlee machte sofort mit den Fingern ein Abwehrzeichen. Telgaert ahmte die Geste genau nach und offenbarte sich: »Auch ich bin ein Weiser, obwohl meine Muhme zu früh verstarb, um mir genug beibringen zu können. Deshalb lade ich Euch für heute Abend nach dem Essen in meine Kabine ein, damit wir uns dort in Ruhe unterhalten und ich Euch meine Weinsammlung zeigen darf.« »Fein«, lächelte sie, »aber nur, wenn ich Euch meine anderen Narben zeigen darf.« »Wissen Eure Töchter von Eurer Entscheidung?« »Sie besitzen ebenfalls die Gaben eines Weisen ... auch deshalb sollte keiner Eurer Matrosen ihnen zu nahe kommen.« Orathlee verabschiedete sich vom Kapitän und begab sich nach unten. Meleira und Talace würden bei ihrem Eintreten entweder die Augen verdrehen - dann hatten sie schon die Gedanken ihrer Mutter gelesen - oder wie erstarrt dasitzen - dann hatten sie die Karten gelegt und daraus gelesen, was dem Reich blühte. Wie dem auch sei, Orathlee wollte bei ihnen von jetzt an die Zügel locker lassen. Sollten sie doch tun, worauf sie Lust hatten. Wer konnte schon sagen, wie viel Leben ihnen noch blieb -jetzt, da die Große Schlange auferstanden war? Scharfe, harte Zähne kreischten über Stein, trafen aber nicht Hawkril oder einen seiner Gefährten, sondern den Thron. Sie bissen ihn mit einer solchen Wut aus dem Boden heraus, dass Hawkril ein ganzes Stück weit fortgeschleudert wurde und einige Schlangenpriester von der Galerie fielen. 356 Als der riesige Kopf sich wieder in die Höhe erhob, fragte der Recke die Herrin der Edelsteine: »Was sollen wir jetzt tun?« »Was bringt Euch darauf, dass ich auch nur die geringste Idee hätte?« Der Beschaffer lächelte die beiden an. »Nun, Ihr seid doch eine Fürstentochter. Hat man Euch denn nicht dazu erzogen, mit allen Schwierigkeiten fertig zu werden und auf alle Fragen eine Antwort zu wissen?« »Craer«, sagte Embra mit zuckersüßer Stimme, »Ihr seid eine solche Landplage, dass man Euch lieben muss weil es sonst mit Euch nicht auszuhalten wäre.« »Jetzt geht es mir schon deutlich besser«, lächelte der Kleine. »Soll die Schlange doch ruhig kommen. Gegen Euer Gift ist sie machtlos.« Im nächsten Keller stank es nach all dem Unrat, welchen die Bürger Sirls in den Fluss kippten und der sich hier sammelte. Vor dem Tersepten rannten zwei Männer ineinander und bedachten einander mit wüsten Beschimpfungen. Haelbaum lächelte. Das war ja eine schöne Verschwörung ... Da kam ein Bote gelaufen und rief nach dem Fürsten. »Hier bin ich, sprecht, guter Mann«, meldete sich Maevur. »Alles steht bereit, Herr«, sagte der Mann. »Aber dem Zauberer ist aufgefallen, dass einer in Eurer Begleitung einen Abwehrschild trägt.« »Fackeln zu mir!«, rief Fürst Kardassa. Während man sie ihm brachte und entzündete, blieben die anderen Verschwörer stehen und unterhielten sich erregt miteinander. Dann trat auch noch der Zauberer hinzu und zeigte ohne Umschweife auf den Tersepten von Shaeltor. »Der da
ist's!« Die Umstehenden wichen vor dem Ertappten zurück, als habe der mit einem Mal eine ansteckende Krankheit. »Ihr erstaunt mich, lieber Tersept«, erklärte Maevur ihm mit ätzender Stimme. »Trefft heimlich solche Vorkehrungen. Habt 357 Ihr denn kein Vertrauen zu uns? Ich muss gestehen, ich bin von Eurem Verhalten ein wenig verletzt.« Shaeltor lief der Schweiß übers Gesicht, als er einen Ring von seinem Finger zog, den er vor sich auf den Boden legte, bevor er wieder einen Schritt zurücktrat. »Bitte, zerstört den Ring nicht. Mein Großvater schenkte mir einst das Stück, und es ist das Einzige, was mir von ihm blieb. Dass es sich dabei um einen Abwehrschild handeln soll, habe ich nicht gewusst. Ich hielt den Ring immer für einen Glücksbringer.« »Nun, jetzt hat er Euch aber kein Glück gebracht«, entgegnete der Fürst und tat so, als würde ihn das bekümmern. Der Zauberer näherte sich dem Ring, hob ihn auf, betrachtete ihn dann und verkündete: »Dieser Mann spricht die Wahrheit.« »Ich bin kein Magier«, beeilte sich der Tersept zu versichern. »Selbst wenn mein Leben davon abhinge, vermöchte ich keinen Zauber zu bewirken.« »Dann wollen wir mal sehen, wie wir dieses kleine Missverständnis aus der Welt -«, begann Kardassa und wurde von einem Donnerkrachen unterbrochen. Für einen Moment drohten alle Fackeln auszugehen, dann trat schlagartig Ruhe ein - doch nur für die Dauer eines Herzschlags. Dann brüllte und schrie alles durcheinander, die sonst eher schlaffen Wellen im Hafen schlugen wuchtig an, und die vertäuten Boote schwangen hin und her. »Was war denn das?«, fragte Maervus und wusste nicht, was ihn mehr bewegte - das, was sich draußen getan haben mochte, oder die Störung seiner Worte. »Der allzu sorglose und allzu unbesonnene Umgang mit Magie«, beeilte sich Tersept Shaeltor zu erklären. »Willkommen in Aglirta«, fügte Haelbaum hinzu. 358 DIE ZEIT DES ABSCHIEDS IST GEKOMMEN »Vergesst mich nicht«, hauchte der alte Sarasper Kodelmer mit bleichen Lippen, »behaltet mich in ehrendem Angedenken ...« Craer hüpfte vor dem Schlangenmaul hin und her, hatte es eben ausreichend abgelenkt, dass Embra einen Ball aus Dwaer-Feuer in den Rachen werfen konnte. Die Schlange zog hastig ihren Kopf zurück. In diesem Moment der Ruhe drehten sich alle zu dem Heiler um. Der nahm mit letzter Kraft das Zepter an sich und verwandelte sich. Dessen Energie drang machtvoll in ihn ein, und für einen Moment wurde ihm speiübel. Doch dann wuchsen seine Glieder an, seine Brust weitete sich, und schon überragte er alle seine Gefährten. Schuppen wuchsen ihm, und er strebte der eingestürzten Decke zu. Das Zepter fiel aus seinen Klauen, er brach durch die Decke Und er war der Drache, welchen er sich immer gewünscht hatte! »Tschamarra!«, schrie Embra, als das Zepter am Boden zerbröselte. »Schleudert alles, was Ihr noch habt, auf die Schlange! Jetzt!« Während die Hexe Flammenspeere verschoss, lehnte die Zauberin sich restlos erschöpft zurück. Aber sie riss sich zusammen und setzte nochmals ihren Weltenstein gegen den Erzfeind ein. Sie mussten Sarasper seinen Zeitvorsprung verschaffen, sonst würde sein Opfer sinnlos sein, und alle Hoffnung für Aglirta wäre zerstoben! Und jetzt hatte ihr alter Freund sich in einen Drachen verwandelt, wie das Reich ihn noch nicht gesehen hatte. Er öffnete sein mächtiges Maul und spuckte Feuer auf die Riesenschlange! Doch der Erzfeind schluckte Embras Flammen und schüttelte sich lediglich. Tschamarras Geschosse konnten ihm überhaupt nichts anhaben. 359 Die Schlange bog den Kopf zurück, ließ ihn rasend flink vorschnellen und bohrte ihre Zähne tief in den Hals des Drachen. Der Zauberin wich alle Farbe aus dem Gesicht, und sie stand bebend da. Ihr blieb nichts zu tun, während die beiden Titanen miteinander rangen. Diese Schlacht mussten die beiden allein miteinander ausfechten. Sarasper wehrte sich, schlug um sich, und sein wogender Schwanz brachte weitere Teile des Palasts zum Einsturz. Er versuchte, sich von dem Feind zu entfernen, doch der schlängelte seinen Unterleib um ihn herum. Der Drache versuchte noch einmal, Feuer zu spucken, doch nur ein Krächzen kam aus seiner Kehle. Er konnte sich nicht einmal mehr zur vollen Größe aufrichten, weil das Gewicht der Schlange ihn nach unten zog. Der Alte kippte nach hinten, und sein Feind nutzte die Gelegenheit, ihm die Beine endgültig zu umschlingen. Wie lange konnte Sarasper das noch aushalten?
Der Heiler ging nun dazu über, der Schlange mit seinen Klauen den Leib aufzureißen. Rauchender Schleim quoll aus den Wunden. Die Schlange kreischte und riss den Kopf zurück. Als sie ihn wieder zustoßen lassen wollte und das Maul weit aufriss, schob Sarasper seine lange Schnauze in ihren Rachen ... Immer tiefer und tiefer, so dass die Kiefer stetig weiter auseinander strebten. Der Feind versuchte wütend zuzubeißen, bekam das Maul aber nicht mehr geschlossen. In ihrer Not versuchte die Schlange, den Kopf zurückzuziehen, aber das gelang ihr nicht weit genug. Sie konnte sich auch nicht von dem Drachen entfernen, weil der ja auf dem Rücken lag und sie ihm die Beine umwickelt hatte. 360 Und die ganze Zeit über atmete Sarasper kräftig genug, um wieder Feuer spucken zu können. Der Flammenstoß fuhr tief den Rachen und den Hals hinunter und traf die inneren Organe des Feindes. Der Widerstand der Schlange schien gebrochen zu sein. Sarasper holte noch einmal aus und blies wieder Feuer in den Leib des Feindes. Die Welt explodierte in einem weißen, lilafarbenen und rotgoldenen Meer von Flammen, die nicht mehr erlöschen wollten. Die Schlange flog in tausend Teile auseinander und Sarasper mit ihr, es regnete blutige Fleischfetzen, und über dem schrillen Geheul der Schlangenpriester konnte man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen. Hawkril richtete sich langsam auf und schüttelte sich, um sich von den Kadaverteilen zu befreien. Dabei fiel sein Blick auf die Galerien, wo die Priester Veitstänze aufführten. Einige von ihnen stürzten sich in den Tod, andere entleibten sich an spitzen Gegenständen, und der Rest fiel schließlich übereinander her, um sich gegenseitig zu zerfleischen. Embra erkannte unter Letzteren den Priester, welcher den Dwaer an sich gebracht hatte, doch dieser gebärdete sich genauso wahnsinnig wie die anderen. Doch ehe die Prinzessin sich zu ihm begeben und ihm den Weltenstein abnehmen konnte, verwandelte sich einer der Priester in einen Soldaten und brachte den Dwaer an sich. Ein Koglaur?, fragte sich die Edle. Craer sprang schon die Trümmerhaufen hinauf und tat einen gewaltigen Satz, welcher ihn auf die Galerie bringen sollte. Doch da flammte der Dwaer auf, und der falsche Soldat war verschwunden. Einen Moment später tauchte der Stein allein wieder auf und sank in den Saal. Craer, der schwer aufgekommen war, rappelte sich wieder 361 auf. Der Anführer der Schlangenpriester war nach dem Verlust des Steins zur Besinnung gekommen und wähnte nun, eine neue Gelegenheit zu erhalten. Er kroch auf den Dwaer zu und verlor dabei alles Schlangenhafte, verwandelte sich in einen Menschen zurück. Craer brauchte einen Moment zu lange. Der Beschaffer war noch einige Schritte entfernt, als der Priester die Hand um den Dwaer schließen konnte. Und kurz, bevor er ihn erreichte, flammte der Weltenstein auf und verschwand mit seinem Besitzer. Embra war zwischenzeitlich vor Erschöpfung zusammengesunken, und der Dwaer war ihr aus der Hand gerollt. Das hatte die letzte Schwester bemerkt. Sie eilte sofort zu der Edlen, kniete sich vor sie hin und sang etwas. »Steht ab, Tschamarra!«, brüllte Hawkril und schleuderte schon sein Kriegsschwert. Die Klinge drang der Hexe tief in den Rücken. Sie brach zusammen, verdrehte die Glieder und stöhnte: »Zieht den Stahl heraus ... sonst kann ich uns beide nicht heilen!« »Was habe ich getan!«, grämte sich der Hüne. Zusammen mit Craer hielt er die letzte Schwester. Lange pulste das Glühen des Weltensteins zwischen den beiden Frauen hin und her, bis Tschamarra seufzend erklärte: »Sie hat es überstanden ... und jetzt zieht endlich das Schwert heraus, ich bitte Euch von Herzen!« Der beschämte Recke erfüllte ihr gleich den Wunsch, und die beiden Freunde hielten die Hexe wieder über den Stein. Bis sie verkündete: »Es ist vollbracht, nun bin auch ich geheilt.« Raulin kam vorbei, und nach einer Weile fragte die Hexe: »Und was unternehmen wir nun? Verstecken wir uns wieder irgendwo, kommen zu Kräften und ziehen dann gegen diejenigen in die Schlacht, welche sich in den Kopf gesetzt haben, den Thron zu gewinnen? 362 Oder treiben wir alle Fürsten und Tersepte zusammen und zwingen sie dazu, einen neuen König anzuerkennen?« »Was schert Euch denn das Schicksal Aglirtas?«, fragte Craer. »Ihr stammt doch aus Sirl.« »Nein, ich bin in Glarond geboren und aufgewachsen. Und ich will bei euch mitmachen. Zum ersten Mal in meinem Leben stehe ich vor einer sinnvollen Aufgabe.« »Seid uns willkommen ... und danke«, sprach die Zauberin matt. Da ertönte ein Hilfeschrei des Jünglings. Raulin stand oben auf den Trümmern, und als die anderen heran waren, zeigte er auf eine rotschwarze Masse zwischen den Steinen. »Das war bis eben die Schwanzspitze der Schlange. Doch gerade hat sie sich in das da verwandelt.«
Ein kleines Männlein lag dort und hatte nur noch einen Arm, welchen es nach oben richtete. Mehr brauchte Hawkril nicht zu sehen. Er holte mit seinem Kriegsschwert aus und wollte den Erzfeind erschlagen. Doch seine Klinge prallte ab, als sei sie auf ein unsichtbares Hindernis gestoßen. Craer warf ihm einen Dolch zu. Der Recke fing ihn aus der Luft und wollte sich damit über den uralten Zauberer hermachen. Doch der schrumpfte bereits zusammen, bis nichts, nicht einmal mehr Asche, von ihm übrig geblieben war. Von Schlange und Erzmagier war rein gar nichts mehr zu erkennen. Er hatte sich aufgelöst wie vor ihm schon Hellbanner und Sa-rasper. NEUNZEHN Wie man die Götter unterhält Das Licht in der Kristallkugel verging, und der Mann, welcher davor saß, knurrte unwillig. Einmal leuchtete es noch auf, zeigte ihm einen Hünen, welcher auf einen schrumpfenden Körper einhieb, und dann gar nichts mehr. »Bei der Dreifaltigkeit«, murmelte er, »da scheine ich ja doch einmal das Richtige getan zu haben -« »Bannmeister!«, ertönte eine Stimme vom Eingang seiner Höhle. Wer hatte ihn denn hier aufgestöbert? Er nahm zwei Zauberstäbe und ließ sie Feuer spucken. Nach einer Weile fragte der Magier dann höflich: »Ja, bitte, Ihr wünscht?« »Ich bin es, Fürst Phelinndar.« Er trat vor, und die letzten Flammen fielen von seinem Abwehrschild ab. Der Fürst war mit einem Dwaer gekommen. »Natürlich verstehe ich mich noch nicht auf die Bedienung dieses Weltensteins«, erklärte Phelinndar, »aber ich habe mich mit ihm vereint. Wenn Ihr mir also etwas antut, wird er sich dafür an Euch rächen. Ich bin gekommen, weil ich Eure Hilfe bei der Eroberung von Aglirta benötige. Und Ihr seid ebenso auf mich angewiesen. Also, wollen wir uns zusammentun?« »Ja, vermutlich ...« Ingryl Ambeiter wies dem Gast einen Sitzplatz zu, schenkte ihm Wein ein, und als ihm dann vollends bewusst wurde, wie sich die Dinge entwickelt hatten, musste er laut lachen. 364 WÄHRENDDESSEN Ezendor Schwarzgult und Flaeros Delkamper stürzten endlos durch Schwärze. »Habe ich irgendwas Falsches angestellt?«, fragte der Jüngling nach einer Weile. »Nein. Das war wohl ich. Das Zepter besitzt die Fähigkeit, jemanden an einen sicheren Fluchtort zu versetzen, und das muss ich wohl irgendwie ausgelöst haben ... Wir befinden uns hier an einem Ort, welcher sich nur durch Magie erreichen lässt, und ... Junger Freund, habt Ihr vielleicht irgendetwas Magisches dabei?« »Nein, äh ... nur das hier.« Er reichte dem Regenten seinen Vodal. Schwarzgult nahm den Ring. »Das dürfte wohl reichen. Es kostet uns wohl sicher auch noch etwas Blut, aber wir dürften bald nach Aglirta zurückkehren. Was meint Ihr dazu, junger Mann?« Flaeros strich liebevoll über den Ring. »Ja, wir müssen zurück«, erklärte er mit großer Entschiedenheit. »Gleich, ob Schlange oder nicht.« Der Regent brachte erst dem Jüngling und dann sich selbst eine Schnittwunde bei. Darauf hielt er den Ring an beide Wunden. »Jetzt nur noch ein Weilchen ...« Aber es dauerte nur einen Moment, dann fanden sie sich inmitten der Farben und Geräusche der Welt wieder. »Lauft! Weg von hier! Die Schlangenpriester!«, zischte Narneth und schob seine Schwester an. Die junge Frau drängte durch die Rindolbeeren-Reb stocke, und ihr Bruder folgte ihr. Beide scherten sich nicht darum, dass die Dornen ihnen die Kleider und die Haut zerrissen und das Haar zerzausten. Zum wiederholten Mal fragte sich Narneth voller Grimm, 365 warum die Schlangenanbeter sich ausgerechnet ihren Weinberg dazu ausgesucht hatten, um einen Altar zu errichten. Und noch ärgerlicher war, dass sie seit einiger Zeit auch auf ihre Trommel verzichteten. Das Dröhnen hatte einen zwar beinahe verrückt gemacht, aber man hatte wenigstens früh genug erfahren, wann diese Wirrköpfe wieder im Anmarsch waren. Außerdem behielten sie ihre Schlangengestalt bei, kamen sogar, halb Tier und halb Mensch, zum Altar gelaufen. Mitten in seinen Überlegungen wurde ihm bewusst, dass seine Schwester kreischte. »Still! Oder wollt Ihr, dass sie uns folgen?« Sie erreichten ihr Versteck unter einem dichten Rankengewirr. Narneth kroch gleich zu der Stelle, von der aus man eine sehr gute Aussicht hatte. Briona aber legte sich flach hin, um wieder zu Atem zu kommen. Und dann kamen die Priester und ihr Gefolge: sieben mit Schlangenkopf und etwa ein Dutzend in unterschiedlichen Stadien der Verwandlung. Zwei der nur leicht Veränderten zerrten eine Jungfer aus dem Dorf mit sich. Sie hatten der Schönen die Hände aneinander gebunden, Narneth musste zweimal hinsehen, tatsächlich, mit lebenden Schlangen! Offenbar wollten sie das Mädchen opfern. Wenn sie als Priesterin auserkoren worden wäre, hätte man sie nämlich nicht gebunden, sondern mit lebenden Schlangen ausgepeitscht.
»Was machen die denn da?«, wollte Briona wissen. Narneth kroch mit ihr ein Stück weiter zu der Stelle, von wo aus man den Altar besser sehen konnte. Die Priester zündeten gerade das Feuer auf dem Altar an, und auch sonst sah alles so aus wie immer ... Bis sie im nächsten Moment allesamt übereinander herfielen, als hätten sie den Verstand verloren! 366 Die beiden Priesterinnen, welche das Opfer trugen, ließen es einfach fallen und gingen fauchend, kratzend und beißend aufeinander los. Ein anderer schlug seinen Kopf rhythmisch auf die Altarplatte, bis sich ihm ein Priester näherte, ihm mit einem Stein den Schädel aufschlug und das Gehirn auf dem Heiligtum verspritzte. Er konnte sich jedoch nicht lange seines Triumphes erfreuen, weil ein dritter hinzusprang und mit einem Dolch aus Schlangenzähnen auf ihn einstach, bis er sich kein bisschen mehr rührte. Andere bissen mit ihren scharfen Fangzähnen aufeinander ein oder rangen miteinander. Einer wurde sogar dabei beobachtet, wie er, im Irrsinn gefangen, sich selbst in den Schlangenschwanz biss und schließlich an einem abgerissenen Stück seiner selbst erstickte. Narneth wurde übel, und er wollte nur noch auf und davon, als ihm das Mädchen aus dem Dorf einfiel. Als er sein Versteck vorsichtig verließ, lagen die Schlangenanbeter bereits sämtlich in ihrem Blut da. Nur das leise Prasseln des Altarfeuers begleitete den jungen Mann bei seinen Bemühungen, die Schlangenfesseln zu durchtrennen. Nach einem köstlichen Mahl lehnten sich Orathlee und Kapitän Telgaert gesättigt zurück. »Ich weiß nicht, ob meine Fähigkeiten als Köchin ausreichen, der Besatzung solch schmackhafte Speisen vorzusetzen.« »Oh, aber das müsst Ihr nicht. Wir haben drei Köche an Bord«, entgegnete der Kapitän. Er hatte bisher mit seinen Füßen die ihren gestreichelt, schaute ihr nun tief in die Augen und wanderte mit den Zehen ein Stück höher. »Wenn ich denn so frei sein darf -«, bemerkte er mit rauer Stimme. 367 »Ihr dürft, wenn ich mir die Freiheit nehmen darf, mich vom Oberteil zu befreien«, erwiderte sie mit rauchiger Stimme. »Wie könnte ich da Nein sagen?«, sprach Telgaert. »Nun, Ihr könntet mir ja helfen ...« Das ließ der Kapitän sich nicht zweimal sagen, ging der Weisen aber zu behutsam vor. »Nur zu, ich bin nicht aus Zucker.« Als ihr Mieder geöffnet war, bestaunte er kurz die entblößte Pracht und bedeckte sie dann mit Küssen. Orathlee geriet ins Stöhnen und machte sich ihrerseits daran, die Bänder seiner Hosen aufzubinden. Doch während er sich sehr eindringlich mit ihren Brustwarzen beschäftigte, riss die Weise sich unvermittelt von ihm los, richtete sich auf und trommelte mit den Fingern auf Holz. »Was ist, gute Frau? Habe ich irgendetwas falsch gemacht?«, fragte Telgaert bestürzt. »Nein«, flüsterte sie und schien ihn dann erst wieder zu erkennen. »Die Große Schlange ist... fort.« Noch ehe der Kapitän etwas dazu sagen konnte, hämmerte es schon an seine Kajütentür. Telgaerts Blick wanderte hinter der entblätterten Schönen und der Störung an der Tür hin und her. Dann gab er Orathlee zu verstehen, sie möge sich rasch wieder anziehen, und rief: »Was gibt's denn, in drei Teufels Namen?« Als sich nichts tat, fiel ihm ein, dass er ja den Riegel vorgeschoben hatte. Noch wütender stand er auf und öffnete. Draußen standen Orathlees Töchter. »Bitte um Vergebung, Kapitän, aber da wäre etwas, welches unsere Mutter unbedingt erfahren muss.« Die Schwestern sahen sich an, und Meleira erklärte: »Ich habe die Karten gelegt, und der Große Tod erschien über der Schlange. Gleich habe ich sie noch einmal gelegt, und wieder das gleiche Ergebnis. Ach so, ja, beide Male ist auch Drachenfeuer aufgetaucht.« 368 »Der Drache hat die Schlange besiegt«, hauchte ihre Mutter und ließ ihren Tränen freien Lauf. Die Töchter rannten zu ihr, und alle drei hielten sich fest. Und dann schlang auch noch Telgaert seine langen Arme um sie. Als Orathlees Tränen versiegt waren, legte sie dem Kapitän eine Hand auf die Schulter. »Meine Mutter hat mir auf dem Totenbett geweissagt, ich würde den Mann finden, welcher für mich bestimmt sei, wenn der Drache die Schlange getötet habe.« Schwarzgult und Flaeros starrten in den Thronsaal von Treibschaum, wo es wie nach einem schweren Erdbeben aussah. Der Palast machte auch insgesamt einen zertrümmerten Eindruck. Hawkril war weiter hinten damit beschäftigt, die letzten Schlangenanbeter zu erschlagen. Sein Weg ließ sich leicht an den enthaupteten Feinden verfolgen, welche auf und zwischen Trümmerstücken lagen. Raulin lief überall herum und prägte sich nach guter Bardenart die Namen der Gefallenen ein, um sie später in einem Lied richtig wiederzugeben. Craer bewachte mit Wurfmessern in Händen die Frauen. Die Hexe beugte sich gerade über die Zauberin und bestrich sie mit dem Glanz des Weltensteins. Der Regent lächelte. »Da habt ihr aber Schindluder mit meinem Palast getrieben.« »Vater!«, rief Embra und richtete sich sofort auf. »Vater, mein Vater, Sarasper ist tot - und Hellbanner ebenso.«
Die Edle hielt ihm die Dwaerindim hin. »Ich weiß nicht, wie man Menschen mit deren Hilfe wieder lebendig machen kann.« Aber Schwarzgult schüttelte den Kopf. Er ging vor ihr in die Hocke, strich ihr über die Wange und erklärte: »Magie hat sie hinfort getragen ... an einen Ort, von welchem man sie nicht zurückholen kann -« Weiter kam er nicht, denn neben ihm brach Tschamarra in 369 Schluchzen aus. Sie ließ den Dolch fallen, welchen sie unvermittelt in der Hand gehalten hatte. »Ich ... ich habe geschworen ... Euch zu töten ... Und jetzt kann ... ich es nicht...« Der Regent trat zu ihr, nahm sie in die Arme und trug sie wie ein Kind zu einer umgefallenen Säule, welche sich nun als Sitzbank anbot. »Meine Liebe«, erklärte Schwarzgult ihr dort, »ich habe viel Blut vergossen und viele Schwüre gebrochen. Aber noch mehr habe ich gehalten ... Ich habe zwei große Fehler begangen, und für beide habe ich den Tod verdient. Zum einen hätte ich den Gemahl von Embras Mutter zuerst umbringen sollen, ehe ich mich mit ihr vergnügte. Und der zweite Fehler bestand darin, die Inseln zu überfallen. Aber für alles andere, was ich getan, unternommen oder angestellt habe, erbitte ich keinerlei Vergebung, denn deswegen verspüre ich keine Schuld. Ich habe getan, was ich eben getan habe.« Er reichte ihr einen Dolch aus seinem Gürtel. »Dass Eure Familie so leiden musste und so viele Tote zu beklagen hat, ist sicher bedauerlich, aber auch ich habe solcherart Schicksalsschläge hinnehmen müssen.« Der Regent nickte in Richtung der Klinge. »Wenn Ihr mich nun erdolchen wollt, nur zu. Ich bin stets bereit, vor die Dreifaltigkeit zu treten - doch bislang scheinen sie mich nie gewollt zu haben.« Hawkril trat zu den beiden und bemerkte: »Darin sind wir alle den Göttern sehr ähnlich.« Und Craer, welcher jetzt hinter der letzten Schwester auftauchte und mit einem Messer spielte, fügte hinzu: »Sie haben eben nur uns, an denen sie sich ergötzen können.« 370 Vier Barken sausten, angetrieben von Magie, über den Silberfluss. Die Tersepte im zweiten Segelschiff warfen immer wieder verstohlene Blicke auf die Zauberer in ihrer Mitte. Fürst Kardassa lächelte und zog sein Schwert aus der Scheide. Es leuchtete grünlich. »Als wir noch in Sirlptar weilten, habe ich diese Klinge erstanden. Sie ist verzaubert und soll durch Rüstungen schneiden wie ein heißes Messer durch Butter.« Der Anführer der Verschwörung warf sich in die Brust: »Mit diesem besonderen Stahl in unserer Hand können wir gar nicht scheitern. Freunde, der Flussthron gehört schon so gut wie uns!« Ool kam jetzt in Sicht, und obwohl die Boote sich so rasend schnell bewegten, hatten sie immer noch einen weiten Weg vor sich. »Noch hurtiger!«, fuhr er die Zauberer an und lachte laut: »Wir können überhaupt nicht scheitern!« Maevur konnte sich endlich aus seiner Selbstberauschung lösen und schaute sich Beifall heischend in der Runde um - und erstarrte, denn alle schauten weg, so als hätten sie ihm gar nicht zugehört. Er drohte den Magiern mit dem Schwert, sich noch mehr anzustrengen. Doch da brach einer von ihnen vor Erschöpfung zusammen. Seine Augen hatten sich schwarz verfärbt. Sofort verlangsamte sich die Fahrt. Die Tersepte sprangen auf, sahen, was mit dem Zauberer geschehen war, und stießen furchtbare Verwünschungen aus. »Nehmt den Dolch wieder an Euch«, erklärte Tschamarra. »Ich werde nichts gegen Euch unternehmen, auch wenn ich damit Hochfürst Craer Delnbein zutiefst enttäusche.« Craer ließ sofort den Dolch im Ärmel verschwinden und setzte eine Unschuldsmiene auf. Schwarzgult half ihr galant auf und meinte: »Ich fürchte, jetzt beginnt die lange und mühselige Arbeit des Wiederaufbaus. 371 Die verehrten Hochfürsten neigen leider dazu, reichlich viel kaputtzumachen.« »Vater«, wandte Embra ein, »Sarasper hat sein Leben gegeben, um uns zu retten.« »Vergebt bitte einem alten Narren«, bereute der Regent seine voreiligen Worte. »Ich fürchte, damit habe ich noch eine Menge zu tun«, entgegnete seine Tochter grinsend. Ein lautes Zischen ertönte, und oben auf einer Galerie stand ein Schlangenpriester und setzte sich gerade die Krone von Aglirta aufs Haupt. »Endlisss hat dasss Reisss wieder einen König!« Damit rannte er los und wich geschickt den Dolchen aus, welche der Beschaffer nach ihm schleuderte. Mit unglaublicher Behändigkeit strebte er dem Dach zu, wohl um sich durch das Loch ins Freie zu begeben. Hawkril holte weit mit seinem Kriegsschwert aus und warf es in Richtung des Feindes. »Viel zu weit nach links«, bemängelte Craer. »Mitnichten, Klugscheißer. Der Bursche muss dort hinübersteigen, wenn er noch weiter in die Höhe will.« Und tatsächlich schob sich der Schlangenpriester jetzt nach links - und die Klinge bohrte sich im selben Moment in seine Schulter. Er kippte nach hinten und stürzte ab. Der Hüne fing die fallende Krone aus der Luft auf.
»Heil König Hawkril! Lange lebe der neue König von Aglirta!«, ertönte es von der Tür, wo die Gärtner und einige Höflinge, welche sich mit ihnen versteckt hatten, aufgetaucht waren. Nun erschienen auch andere an den weiteren Türen und nahmen den Hochruf auf. Der Hüne schüttelte den Kopf und trat zu Schwarzgult, um ihm die Krone zu überreichen, welche nach seiner Meinung allein dem Regenten zustand. 372 Doch Embras Vater wehrte ab. »Die Fürsten würden mich niemals anerkennen. Deswegen brauchen wir einen neuen König, einen Mann wie - Hawkril Anharu!« Nun wandte der Hüne sich an die Zauberin: »Herrin Embra, die Krone gebührt viel eher Euch als mir.« »Aber das Volk hat Euch auserkoren, wie wir gerade hören durften. Wenigstens diesmal soll der Wille des Volkes gehört werden. Deshalb nehmt die Wahl an, Hawkril, und werdet ein guter Herrscher!« »Was, ich soll auf einem Thron sitzen, bis ich alt und klapprig geworden bin - oder bis zu dem Tag, an welchem jemand meint, er habe genug von mir. Nein, jetzt da die Schlange tot ist, wollen wir lieber nach neuen Abenteuern suchen!« Aber die Edle schüttelte den Kopf. »Wie Sarasper vor seinem Tod sagte: >Niemals ist es so einfache« Ein Dutzend Schwerter bedrohte den letzten Zauberer, und im nächsten Moment flogen die Barken wieder nur so dahin. Und nach einer weiteren Flussbiegung tauchte Treibschaum am Horizont auf. »Ich... kann... nicht... mehr ...«, röchelte der Zauberer. Blut rann ihm aus Nase und Mund. Aber ein Tersept hielt ihm die Schwertspitze an die Kehle. »Haltet gefälligst durch. Wartet nur, im neuen Aglirta werden die Zauberer den Platz zugewiesen bekommen, der ihnen gebührt. Wer von ihnen sich weigert, mit dem wird kurzer Prozess gemacht!« »Dann werdet Ihr aber bald an Magier-Verknappung leiden«, krächzte der Alte. Damit verdrehte er die Augen und sackte in sich zusammen. Die Segelschiffe kamen zum Stillstand, drehten sich leise und trieben dann mit der Flussströmung von der Königsinsel fort. »Rudert, wir sind doch schon fast da!«, brüllte Fürst Kardas373 sa und sprang vor Wut auf und ab. Rasend vor Zorn hieb er dann mit seinem magischen Schwert auf den Tersepten ein, welcher den Zauberer zum Schluss bedroht hatte. Und tatsächlich, der magische Stahl durchschnitt die Rüstung des Mannes wie Butter. Er kippte über Bord und wurde sofort von den Fluten verschlungen. »Will hier noch jemand seinen eigenen Kopf durchsetzen?«, fragte der Fürst dann in die Runde. Alle senkten den Blick. »Wer immer über Aglirta herrschen wird, braucht dazu als Erstes den Treueid der Fürsten. Deswegen wollen wir sie nun hier versammeln.« Der Regent hielt seine Hand kurz über den Dwaer, welchen seine Tochter ihm hinhielt. Der Stein leuchtete auf, und Schwarzgult hielt wieder die Rechte darüber. Mit jedem Aufleuchten erschien ein weiterer Fürst im Thronsaal. Die Neuankömmlinge sahen sich verwirrt um. Unter den Ersten befanden sich Maevur Kardassa und die Tersepte. Als mehrere Dutzend versammelt waren, bemerkte der Regent: »Allem Anschein nach hat Phelinndar einen Dwaer an sich gebracht.« Craer lief schon zur Tür. »Wo steht seine Burg? Ich habe unsere eigentliche Aufgabe noch nicht vergessen.« Kardassas Soldaten sahen sich verwundert an, als der Fürst von einem Moment auf den anderen verschwunden war. »Das müssen die Zauberer dort gewesen sein!«, rief einer von ihnen und zeigte auf die beiden zusammengebrochenen Magier. Aber noch ehe er mit seinem Schwert auf sie einstechen konnte, hielt Hauptmann Suldun ihn zurück. »Seid kein Narr. Diese zwei dort können keiner Maus mehr etwas zu Leide tun. Nein, uns droht eine viel größere Gefahr.« 374 »Genug des Geschreis!«, rief Kardassa plötzlich. »Steckt die Waffen wieder weg.« »Ja, habt Ihr denn noch nie davon gehört, dass Treibschaum von einem Bann geschützt wird?«, meldete sich nun auch einer der zuvor verschwundenen Tersepten zu Wort. »Niemand kann sich der Insel mit einer Waffe in der Hand nähern.« Noch während er sprach, kehrten auch die anderen an Bord zurück. Der Fürst und die Tersepte berieten sich, dann befahl Maevur: »Legt dort in dem Fischerdorf an. Man hat uns entdeckt. In Treibschaum werden wir von zwanzig Magiern erwartet, welche uns Übles wollen.« »Ja, sollen wir denn hier darauf warten, dass sie kommen und uns finden?«, rief einer der Soldaten. »Nein«, grinste Kardassa. »Denn wenn ihnen das Warten zu lange wird, fallen sie übereinander her. Und im Thronsaal selbst herrscht große Uneinigkeit. Wir fahren morgen weiter, und wenn wir dann den Palast betreten, fällt uns die Krone wie von selbst zu.« Die Soldaten waren damit nicht einverstanden, gaben aber Ruhe, als sämtliche Tersepten zustimmend nickten.
»Übertreibt Thaebred nicht etwas in seiner Rolle als Kardassa?«, fragte ein Tersept leise den anderen. »Nein, als Maevur kann man gar nicht genug übertreiben«, antwortete Raegrel. Der andere Koglaur lächelte: »Ich bin mir nicht sicher, ob alle Soldaten von meiner Geschichte mit dem Bann überzeugt sind. Sie werden uns sicher im Auge behalten, weil sie vermuten, hier wäre Magie im Spiel.« Immer noch erschienen neue Fürsten im Thronsaal, und über der Versammlung lag der Geruch von Unruhe und Furcht. Denn jeder hier hatte ein mehr oder weniger großes schlechtes Gewissen. 375 »Willkommen, Verräter«, begrüßte der Regent sie schließlich. Zur Antwort erhielt er eisiges Schweigen. Lächelnd fuhr Schwarzgult fort: »Aber lassen wir die Vergangenheit einstweilen ruhen, und stellen wir fest, dass Aglirta sich verändert hat: Der Flussthron und ein Gutteil des Palastes sind während einer Zauberschlacht zerstört worden. Viele haben dabei ihr Leben verloren, und unter den Toten finden sich König Kelgrael Schneestern, der Kriegsfürst Blutklinge, die Große Schlange und der Hochfürst Sarasper Kodelmer.« Er legte eine kleine Pause ein, und als die Versammelten wieder anfingen, miteinander zu tuscheln, fuhr Schwarzgult fort: »Doch wir wollen auch die Ehrung dieser Tapferen auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Wir haben uns hier nämlich versammelt, um aus dem etwas aufzubauen, was die Toten für uns gerettet haben. Als Erstes und Wichtigstes müssen wir nun einen Herrscher wählen und uns als ihm treu erweisen.« Der Regent drehte sich zu Hawkril um und sah ihn auffordernd an. Doch der Hüne schüttelte den Kopf und begab sich zu Raulin, welcher etwas abseits stand. »Dieser hier soll der neue König sein!«, rief er in die Menge. »Aber das ist doch noch ein Kind!«, wandte einer ein. »Wäre das denn nicht ein Vorteil? Ein Junge hatte noch keine Gelegenheit, so viele Fehden und Feindschaften anzuhäufen wie die meisten von euch!«, hielt Craer den Fürsten entgegen. Raulin starrte nach vorn, wurde kalkweiß und erbrach sich. »Ich glaube, wir haben eine sehr gute Wahl getroffen«, verkündete nun Schwarzgult. »Er ist weiser als seine Altersgenossen und auch als wir. Nicht Gier und helle Begeisterung nach dem Thron treiben ihn um, sondern Furcht vor den Aufgaben, welche ihn dort erwarten.« Kardassa trat vor. »So einem soll ich huldigen? Wollt Ihr uns 376 endlos demütigen, oder plant Ihr voller Tücke, Aglirta durch eine solche Wahl endgültig untergehen zu lassen?« »Was redet denn Ihr, Ihr durchtriebener Verschwörer?«, hielt einer der Tersepte ihm entgegen, welcher eben noch mit dem Fürsten über den Strom gefahren war. Ein Wort ergab das andere, und bald schrien und schimpften alle Fürsten im Saal. Diesmal brachte sie ein donnernder Ruf von Flaeros Delkamper zum Schweigen: »Hört mich an, Ihr Herren von Rang und Stand. In meinem jungen Leben habe ich schon so viel Zank und Hader der Fürsten gehört, dass sich damit eine Bücherei füllen ließe. Und ich habe viele brave Bürger und Bauersleute gesehen, welche wegen solcher Zwistigkeiten ihr Leben lassen mussten, obgleich sie doch überhaupt nichts dafür konnten. Aber dass ihr Fürsten euch einmal aufgerafft hättet, etwas Gutes zu bewirken, das habe ich nie gesehen. Wo wart ihr, als Blutklinge herangeritten kam, das Land zu verwüsten und den Thron zu erobern? Wo wart ihr, als die Schlangenpriester die unseren geopfert haben, die Untertanen, welche zu schützen ihr eigentlich geschworen habt?« Die Fürsten winkten ab, weil sie sich von einem Jüngling keine Vorhaltungen machen lassen wollten. »Lasst euch gesagt sein, ihr Herren, dass ich fahrender Sänger bin«, fuhr Flaeros fort, »und das, was ich der Welt zu verkünden habe, wird die Jahrzehnte und mehr überdauern. Alle Welt, ob im Flusstal oder darüber hinaus, soll aus meinem Mund erfahren, wie ihr euch hier und heute verhalten habt. Und davor und davor und davor! Und die Menschen werden meine Lieder weitertragen, sie ihren Kindern weitergeben, und -« »Und wenn Ihr schon gestorben seid, bevor Ihr Treibschaum 377 verlassen konntet ...«, wandte ein Tersept grinsend ein, bis Craer ihm einen Dolch entgegenschleuderte, welcher dem Mann die Kappe vom Kopf riss. »Was scheren uns schon Barden, nichts weiter als Geschmeiß«, knurrte ein anderer Fürst. »Barde, aber auch Tersept des Reiches«, erwiderte Schwarzgult, »denn ich habe Flaeros Delkamper gerade dazu ernannt.« Wieder erhob sich Geschrei und Einspruch. Der Regent öffnete eine Hand, und Embra warf ihm einen der Dwaerindim zu. Das brachte die Versammelten wieder zum Schweigen. Mehr noch, ihnen standen vor Schreck die Haare zu Berge. Und so manche Hand, welche sich heimlich zum Schwertgriff bewegt hatte, zuckte hastig zurück.
»Ich bin immer noch der Regent von Aglirta, ihr Herren. Ein Wink von mir genügt, euch alle enthaupten zu lassen. Oder euch allen Besitz abzunehmen und eurem größten Feind zum Lehen zu geben. Oder ...« Er hob den Dwaer, damit jeder ihn sehen konnte, »Euch zu Asche zu zerblasen. Behaltet das bitte im Gedächtnis, wenn ich euch jetzt noch einmal dazu auffordere, dem neuen König Raulin Burgmäntel eure uneingeschränkte Treue zu schwören und vor ihm das Knie zu beugen!« ZWANZIG Noch einmal die Vier Der »Aalkorb« war kein besonders beliebtes Wirtshaus. Hier fanden keine lauten Feiern statt, und weder edle Damen noch junge Klingen von Sirl legten Wert darauf, dort herumzuspazieren oder gar bei dem Wirtshaus gesehen zu werden. In den Alltagsgesprächen erwähnte man den Namen selten, ebenso wenig wie er bei Geselligkeiten oder auch nur in saftigen Tratschgeschichten eine Rolle spielte. Weder der Besitzer noch die Gäste versuchten, mit anderen Gastwirtschaften wie zum Beispiel der »Drachenrose« wetteifern zu wollen. Das Etablissement verfügte über keinen anheimelnden Spitznamen, noch wäre die feine Gesellschaft von Sirl je auf den Gedanken gekommen, den »Aalkorb« weiterzuempfehlen (aber nicht in Sirl ansässige Leute hätten ohnehin bestritten, dass es dort überhaupt eine »feine Gesellschaft« gab). Aber das Gasthaus hatte auch keinen so üblen Leumund, dass die Nachbarn sich gefürchtet hätten, und es brachen auch nicht in regelmäßigen Abständen Feuer, Messerstechereien oder gar ernsthafte Schlägereien aus. Es handelte sich auch nicht um ein von außen verrammeltes Hintergebäude, dessen Wirt, Schankmägde und sonstigen Frauenzimmer Not litten oder sich üblerer Arbeit zuwenden mussten, um sich den täglichen Napf Haferbrei zu verdienen. Es verhielt sich eher so, dass der »Aalkorb« mit einer ausgewählten Zahl von Kunden, welche größten Wert darauf legten, unerkannt zu bleiben, blühende Geschäfte betrieb. Nur wenige Schritte von der geschäftigen Tharaedastraße entfernt, welche vor Läden mit ihren glitzernden Waren und ge379 rade in Mode gekommenen Häusern wie der »Drachenrose« nur so strotzte, lag der »Aalkorb« in Reichweite der Leute, die vorgeblich ein ganz anderes Ziel hatten. Menschen, welche die Abgeschiedenheit des Ortes nutzten, um andere mit ähnlichen Bedürfnissen zu treffen. Das Wirtshaus war so beliebt, dass zu bestimmten Zeiten die besten Versammlungsräume samt und sonders für Intrigen genutzt wurden, und die Teilnehmer an anderen Verschwörungen sahen sich dazu gezwungen, in dem vergleichsweise öffentlichen Schankraum im Erdgeschoss zu warten und dort an den diskret voneinander abgeschirmten, nur spärlich beleuchteten Tischen und Stühlen leise weniger wichtige Geschäfte miteinander zu besprechen. So kam es, dass an diesem Tag eine Anzahl von Ieiremboranern in der hintersten, dunkelsten Ecke des »Aalkorbes« saßen, außerdem mindestens ebenso viele reiche, allgemein bekannte Kaufleute aus Sirlptar. Tonthan Goldmantel hatte es ohnehin nicht sonderlich eilig, irgendeine der gut verborgenen Treppen zu ersteigen, denn Sathbrar war spät dran, und er bedurfte der tatkräftigen Unterstützung des Seidenhändlers, um seinen Standpunkt unter den hartnäckigen Blicken der Männer von Sirl durchzusetzen, welche glaubten, ihr größerer Reichtum gäbe ihnen das Recht, über alles bestimmen zu können - der Weinhändler Anglurthaul zum Beispiel, von dem man annahm, dass er mehr als einmal Sklaven statt Wein beförderte. Anglurthaul saß am anderen Ende des Tisches, und soweit es Tonthan betraf, war das immer noch nicht weit genug weg. Er hegte keinerlei Zweifel daran, dass der Weinhändler ihm gegenüber ganz ähnliche Gefühle an den Tag legte. Keiner der Verschwörer blickte auf, wenn Neuankömmlinge in die kühle Dunkelheit des Schankraums traten; niemand tat das jemals. Trotzdem konnte sich jeder durch rasche Seitenblicke und gewisse geschickt an den Wänden angebrachte Spiegel 380 jederzeit vergewissern, dass es sich um drei Personen handelte, von welchen die größte - ein Kämpfer, der Stärke seiner Arme und Schultern nach zu schließen und der Art, wie er sich bewegte, und außerdem trug er einen langen Dolch an der Hüfte - einen Umhang mit Kapuze trug und sich geradewegs zu einem freien, kleinen Ecktisch begab. Der Mann setzte sich so, dass er die Ieiremboraner im Auge behalten konnte, welche wie immer die westlichsten Bänke gegenüber ihren Helfern aus Sirl eingenommen hatten. Tonthan hätte ihn eigentlich sofort des Gasthauses verwiesen, wären da nicht seine beiden, ebenfalls von Kapuzen verhüllten Begleiter gewesen. Einmal handelte es sich um einen kleinen, beweglichen Mann - dem Aussehen nach ein Beschaffer - und zudem um eine wunderschöne junge Frau von der groß gewachsenen, schlanken Sorte, die so manch einer als »knochig« bezeichnet hätte, wären da nicht ihre anmutigen Bewegungen gewesen. Die beiden schlenderten beiläufig durch den Schankraum und fragten weder nach Wein noch hielten sie inne, um sich umzuschauen, sondern gingen direkt auf Hardiman Anglurthaul zu, den ohne Zweifel fettesten und am prächtigsten gekleideten Kaufmann von allen. Der Beschaffer blieb gerade eben außerhalb der Reichweite von Anglurthauls Schwert stehen, lächelte freundlich und sagte laut und deutlich: »Neuigkeiten für Euch, guter Mann: Es gibt einen neuen König in Aglirta. Einen,
welcher Wert darauf legt, Frieden mit den Inseln und mit Sirlptar zu schließen und Handel mit ihnen zu treiben. Am besten spart Ihr Euch Euer Geld auf und erobert Märkte, nicht Burgen.« Die Ieiremboraner erstarrten wie ein Mann. Anglurthaul blickte den Beschaffer eisig an. »Wer seid Ihr überhaupt?« Der Beschaffer stellte ein weiteres, unbeschwertes Lächeln zur Schau und verbeugte sich schwungvoll. »Oh, ich vergaß, 381 mich vorzustellen: Craer Delnbein, Hochfürst von Aglirta. Ihr dürft Euch mir zur Verfügung halten, Anglurthaul.« Der Weinhändler grinste höhnisch und machte sich nicht die Mühe zu antworten, sonder winkte beinahe träge über die Schulter nach hinten. Ein an einem Tisch auf der anderen Seite des Raums lümmelnder Mann stand auf, ließ den Umhang von seinen Schultern gleiten, sodass ein Lederharnisch zum Vorschein kam, und warf mit tödlicher Schnelligkeit ein Messer. Lässig pflückte Craer die Waffe aus der Luft und übergab sie seiner weiblichen Begleitung. Die Frau lächelte dünn, umschloss den Dolch mit der Hand, murmelte einen raschen Zauberbann - und überall am Tisch erklangen plötzlich hastig unterdrückte Äußerungen der Überraschung. In der bislang leeren Luft vor jedem der Männer trieb plötzlich ein Messer wie das, welches Anglurthauls Wache geworfen hatte. Die Spitzen dieser kleinen, gefährlichen Todesboten befanden sich ein paar Zoll von den Kehlen eines jeden Verschwörers entfernt. »Nehmt das als Warnung«, sagte die Zauberin ruhig. »Wir könnten euch auch alle einfach töten, und dann hätten wir für alle Zeiten Ruhe vor euren Plänen.« Sie bedachte sie mit einem anmutigen Lächeln, wandte sich zum Gehen und fügte hinzu: »Ich weiß, dass ihr alle vernünftige Männer seid und euch entsprechend verhalten werdet.« Ihr an dem Tisch sitzender Begleiter erhob sich und schob seine Kapuze zurück - und überall an der Ieiremboraner Seite des Tisches stieß man wütende, abfällige Laute aus, als die Kaufleute Ezendor Schwarzgult erkannten, der sie an einem faustgroßen glühenden Stein vorbei, welcher neben seinem Kinn schwebte, kalt anlächelte. Der Stein blitzte plötzlich hell strahlend auf, als sich Schwarzgults Lächeln verbreiterte - und dann waren er, der Beschaffer und die Zauberin auch schon verschwunden. 382 Wie ein Mann kämpften sich die Verschwörer fluchend auf die Füße - nur um plötzlich in Schweigen zu verfallen. Die dahintreibenden Messer waren nämlich keineswegs verschwunden, und wenigstens ein Mann - Hardiman Anglurthaul - machte die Erfahrung, dass sie tatsächlich solide und entsprechend scharf waren. Er tupfte an einer beachtlichen Wunde an seiner Kehle herum und musste sich mit einem Laut des Unbehagens zu seinen Stiefeln niederbeugen, um ein Taschentuch hervorzuziehen, mit welchem er das Blut stillen wollte. Während er dies tat, musste er feststellen, dass die treibenden Messer Tische zu durchdringen vermochten, um ihre bedrohliche Stellung beizubehalten. Tonthan für seinen Teil entdeckte die bemerkenswerten Qualitäten der Weinkeller tief unter dem »Aalkorb«, wo er mit zunehmendem Misstrauen saß, einen Schluck nach dem andern zu sich nahm und über den Verbleib von Sathbrar nachgrübelte. Die Messer verschwanden schließlich, wenn auch erst nach Stunden. Der Wiederaufbau des Palastes von Treibschaum würde lange Zeit in Anspruch nehmen, und die Gärten im Westen und im Süden würden für lange Jahre einer Wüstenei gleichen. Im Osten jedoch, wo sich die Insel zu einer scharfen, dem Bug eines Schiffs ähnelnden Spitze verjüngte, gegen welche der Silberfluss schäumte, wuchsen unversehrt die hohen Ultharnbäume. Sie umstanden einen kleinen moosigen Fleck Rasens, wo Embra Silberbaum einst die wenigen Überreste begraben hatte, welche von ihrer Mutter übrig geblieben waren - einen von der Sonne beschienenen Ort in der Wärme des Mittags über den von hier aus nicht sichtbaren, ihn dennoch umschließenden Mauern der Festung, aber unter den Palasttürmen und von innen abgeschirmt durch die Bäume. Auf dem Rasen gab es jetzt ein weiteres, von der Sonne beschienenes Grab, und eine Gruppe von Menschen mit grimmi383 gen Gesichtern stand dort versammelt. Drei weitere kamen von den höher gelegenen Blumengärten herunter und gesellten sich zu ihnen: Craer, Tschamarra und, ein paar Schritte hinter ihnen, der Fürst Ezendor Schwarzgult. Als sie sich näherten, blickte Embra auf. Ihre Tränen waren inzwischen versiegt, aber ihre Hände trugen noch immer Blutspuren von den langen Stunden sorgsamer Arbeit, welche sie auf Knien rutschend damit verbracht hatte, Zauberbann um Zauberbann zu wirken und mit bloßen Händen auch noch die letzte Spur und den letzten Tropfen dessen aufzusammeln, was einst Sarasper gewesen war. »Nicht mehr vier«, war alles, was sie sagte, als Craer sie umarmte und Tschamarra darauf wartete, sie ebenfalls in die Arme zu nehmen. Auf des Beschaffers Gesicht glitzerten Tränen, als er sie losließ und sich der nächsten Umarmung zuwandte - den Armen von Hawkril Anharu, der mit ernster Miene am Fuß des frischen Grabhügels
stand, welchen Embra so liebevoll mit ineinander greifenden Marmorscherben ausgestattet hatte. Das größte Kriegsschwert, welches sie im Palast von Treibschaum aufgetrieben hatten, war neben Hawkril in den Boden gerammt, und den Schwertgurt hatte er über den Schwertgriff gehängt. Ein Ritter legte seine Waffen ab, wenn er einem seiner Gefährten die letzte Ehre erweisen wollte. Auf der anderen Seite des Grabes stand einsam König Raulin Burgmäntel. Er wusste nicht so recht, was er tun oder sagen sollte, und die Trauer stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Seine Hände zeigten die Spuren seiner ersten Handlung als König - nämlich dieses Grab auszuheben. »Auf Wiedersehen, Herr der Langzähne«, sagte Schwarzgult einfach und ließ Embra endlich los, auf dass sie sich umdrehen und das Grab anschauen konnte, an welchem die anderen mit gebeugten Köpfen standen. »Geht jetzt, und heilt die Dreifaltigkeit, alter Heiler, und macht Darsar dadurch glücklicher.« 384 Dann schaute Schwarzgult Raulin an. Der König nickte und sagte leise: »Verweilt an einem glücklicheren Ort, Drachenfürst. Mögen lange Jahre vergehen, bevor wir hier ein weiteres Grab ausheben müssen.« Die anderen murmelten zustimmend und tauschten weitere stumme Umarmungen aus - denn niemand brauchte zu sprechen, um darin übereinzustimmen, dass sie sich trennen und für eine Weile jeder für sich umherwandeln würden. »Sind sie jetzt fertig?« »Geduld, Lameira. Ich kann nichts sehen, das habe ich Euch doch bereits gesagt.« Die älteste Hofdame spähte noch einmal durch das Fernglas, welches ihr Airesse Delkamper vor sechs Jahren aus Anlass ihres fünfzigsten Sommers des Leinenwendens und Abstaubens geschenkt hatte, und sagte ernst: »Faerla, ich wäre alles andere als erfreut, es Euch noch einmal sagen zu müssen: Hört mit Eurem nach Luft schnappen und Umherflattern auf. Wollt Ihr, dass ganz Treibschaum denkt, dass wir aus Varandaur niemals zuvor feine Dinge zu Gesicht bekommen haben? Oder nicht wissen, wie wir uns in Gegenwart von Mitgliedern des Königshauses benehmen sollen?« »Oh, Edle Orele, es liegt nicht an diesem Palast - obwohl er sich über Meilen erstreckt, nicht wahr? Noch sind es diese hochmütigen Höflinge, welche der Silberfluss schiffsladungsweise auszuspucken scheint. Es ist die mächtige Magie, über welche der Herr Flaeros zu verfügen scheint, die uns im Handumdrehen hierher versetzte!« »Er verfügt nicht über sie, Faerla, er hat sie so eingerichtet. Unser Herr Flaeros mag ja so allerhand sein, aber ein Zauberer ist er ganz gewiss nicht.« Orele richtete sich ein wenig auf und beugte sich dann auf ihren Stock mit dem silbernen Knauf gestützt vor - ein weiteres Geschenk der Delkampers, aber Lameira wusste sehr wohl, dass sie ihn mehr als verdient hatte in den unwillkommenen 385 Umarmungen mindestens dreier feuriger Onkel, deren Vertrauen Orele niemals auch nur im Geringsten enttäuscht hatte -und schaute sich die weit entfernten Gärten genauer an. »Sie habe es ihren Bäumen erlaubt, weitgehend ungehindert zu wachsen«, meinte sie langsam, »so dass es äußerst schwierig ist, das andere Ende des Gartens zu sehen. Sie gehen jetzt anscheinend auseinander - ja, ich glaube, sie sind fertig.« Sie richtete sich auf, wirbelte herum und klatschte in die Hände. »Rasch, ihr Mädchen, rasch! Die Schlafkammern richten sich nicht von alleine her, müsst ihr wissen! Ich bin mir sicher, dass unser Herr Flaeros sich nicht die wahrlich entsetzlich hohen Kosten eines solch mächtigen Zauberwirkens aufgehalst hätte - und bedenkt, Faerla, dass die Kosten die bei weitem erschreckendste Sache bei dieser Magie sind und nicht der verschwommene Moment, welchen Ihr verbracht habt, als Ihr hergebracht wurdet, also hört bitte davon auf -, um uns, wie Ihr sagt, alle auf diese Weise hierher zu bringen, wenn er nicht im Sinn hätte, diesen Aglirtanern zu zeigen, wie wir aus Varandaur die Dinge angehen! Vergesst den Rauch und das Blut und den Schutt; diese Dinge gehen uns nichts an - aber wenn ich sehe, dass der Herr Flaeros auch nur einen Braue runzelt, wenn der König und die anderen Helden aus Aglirta zum Festmahl erscheinen und sich anschließend in ihre Betten zurückziehen wollen, dann werde ich in höchstem Maße verstimmt sein... und merkt euch eins: Ich bin mir sicher, dass meine Verstimmung im Vergleich zu seiner nichts sein wird!« Als seien ihre Worte eine Warnung der Götter gewesen, öffnete sich die Tür, und Flaeros Delkamper stürmte in das Zimmer. »Sie kommen, Orele, sie kommen. Ist alles bereit?« Orele stützte sich auf ihren Stock und vollführte ihren tiefsten Hofknicks. Zwar mochte der jüngste Delkamper ein Tunichtgut und Barde und ewig in die Händel anderer verstrickt sein, aber er war ihres Wissens nach der einzige Delkamper, 386 welcher der Dienerschaft dankte und sich um ihr Wohlergehen kümmerte oder sogar Hilfe anbot, beispielsweise beim Schleppen einer allzu schweren Kiste oder dem Abstauben einer Ecke, wenn diese nur durch gefährliches Herumhantieren mit dem Staubwedel erreicht werden konnte. »Nicht ganz so bereit, wie ich mir das gewünscht hätte, Herr, aber es wird uns keine Schande bereiten, nein ... das hoffe ich jedenfalls.«
Flaeros streckte einen Arm aus, um ihr beim Aufstehen behilflich zu sein, küsste ihre Hand, als ob sie tatsächlich eine hochwohlgeborene Edle sei, und lachte. »Daraus schließe ich, dass alles so bereit ist, wie irgendein ausländischer Ort, welchen Ihr nicht jahrelang in Ordnung zu bringen die Zeit hattet, nur sein kann, edle Dame! Ich wusste, dass Ihr das schaffen würdet!« »A-aber warum?«, sprudelte es aus Faerla heraus. Sie war viel zu aufgeregt, um sich von Oreles wütendem Blick beeindrucken zu lassen. Die jüngste Kammerzofe hatte sich für ihre Aufgabe, nämlich das Abstauben, nicht sonderlich weit entfernt, wie es schien, jedenfalls nicht weit genug. »Es ist ein Vergnügen, Euch zu dienen, gnädiger Herr, und eine Freude, alles zu richten, vor allem an einem solch großartigen Ort - aber warum ein solcher Aufwand für Leute, welche sich halb Asmarand entfernt befinden? Aglirta hat sich unser halbes Leben lang hier befunden, noch zudem die meiste Zeit im Kriegszustand - weshalb also ein solcher Aufwand für einige wenige Leute?« Flaeros Delkamper wandte sich um und sah sie ziemlich steif an, aber anstelle des überwältigenden Zorns, welchen Orele befürchtet und mit einiger Gewissheit erwartet hatte, sahen die Kammerdienerinnen, wie sich seine Augen mit Tränen füllten. Er lächelte und sagte: »Ich bin froh, dass Ihr mir diese Frage gestellt habt, Faerla. Ich bin mir gewiss, dass auch andere ähnliche Gedanken hegen; seid immer kühn genug, so frei heraus zu 387 sprechen, und wir ersparen uns alle Unbehagen und Kummer und verschwendete Zeit.« Er wies mit der Anmut eines Tänzers auf die Fenster und fuhr fort: »Als Barde kam ich nach Aglirta, weil ich den größten Barden von allen hören und sehen wollte, nämlich Sturmharfe, von welchem sich herausstellte, dass er einer der Männer ist, denen ihr heute Abend aufwarten werdet: Fürst Ezendor Schwarzgult, der Goldene Greif. Ich blieb, weil ich solch großartige Geschichten hörte und Menschen sah, welche tapfer kämpften, allen voran die Bande der Vier, von der wir dort drüben gerade ein Mitglied begraben mussten. Aber wir erweisen ihnen jetzt die Ehre - und ganz Darsar sollte sich vor ihnen verneigen, denn sie haben uns allen das Leben gerettet. Die Schlange, die sonst alles einschließlich Varandaur erobert hätte, ist tot - und dieses schlimme Untier wurde getötet von ihrer Hand und durch ihren Heldenmut. Wir sollten sie für immer preisen, aber ich weiß, dass die Leute trotz großartiger Balladen nur allzu schnell vergessen. Es war mir eine Ehre, an ihrer Seite zu kämpfen und zu tun, was ich vermochte - selbst wenn mir das nur in geringem Umfang und nicht sehr geschickt möglich gewesen ist, und ich würde mit Freuden bis zu meinem Lebensende einem jeden von ihnen als Sklave dienen.« Nicht nur Faerla starrte ihn aus großen, ehrfürchtigen Augen an, als er sich vor ihnen verneigte, lächelte und sich in aller Bescheidenheit zurückzog. Oreles Blick wirkte ebenso schockiert wie der der jüngsten und sich am wenigsten gut zu benehmen wissenden Kammerzofe. Schließlich war es an Lameira, ihrer Entrüstung Ausdruck zu verleihen. »Ein - ein Delkamper verneigt sich vor einem Aglirtaner? Und will sein Sklave sein? Ich hätte nie geglaubt, so etwas einmal zu hören zu bekommen!« Die Dame Orele bedachte sie mit einem ernsten Blick. »Hütet Eure Zunge, Mädchen. Wenn der gnädige Herr Delkamper be388 schließt, sein Knie vor jemandem zu beugen, dann könnt Ihr gewiss sein, dass er es wert ist, dass man vor ihm niederkniet! Ich erwarte, dass ich heute Nacht sehe, wie Ihr genau das tun werdet, wenn sie sich in ihre Gemächer zurückziehen!« Lameira hielt dem Blick stand. »Werdet Ihr Euch denn niederknien?« »Selbstverständlich - und ich werde froh sein, auch sonst alles zu tun, um was sie mich höflich bitten, Lameira alles, vergesst das nicht.« Lameira sah aus, als nehme sie Anstoß an diesen Worten. »Wenn ich jemals gedacht hätte -« Orele blickte sie immer noch ernst an, und unter diesem Starren ging der jüngeren Frau die Luft aus, und ihr fiel keine Antwort mehr ein. »So ist es besser, Mädchen«, sagte die älteste Kammerzofe ruhig. »Ihr werdet in Eurem Leben noch so manche Überraschung erleben, wenn Dinge passieren, mit denen Ihr nicht gerechnet habt. Und Eure Erinnerungen werden umso reicher sein, so dass sie Euch vielleicht in einsamen Nächten wärmen mögen.« Sie drehte sich um, machte einen Schritt, welcher den wartenden Kammerfrauen mitteilte, welche Anstrengung ihr Hofknicks vor Flaeros ihre alten Glieder gekostet hatte, und wandte sich dann wieder auf ihren Stock gestützt um und fügte hinzu: »Wenn es Euch tröstet, Lameira, ich habe von nicht weniger als drei Personen gehört - einer von ihnen ist der neue König von Aglirta, die anderen beiden Palastbedienstete wie wir, und wir können ihnen insofern vertrauen, als der gnädige Herr Flaeros vor nicht allzu langer Zeit mit seiner spitzen Zunge jeden einzelnen Fürsten und Tersepten im Königreich in die Schranken wies! Der ganzen glitzernden Meute hat er damit gedroht, dass sie in Ungnade fallen würden, wenn sie sich schlecht benähmen - und es standen ihm ihrer dreißig gegenüber, und ein jeder von ihnen war kriegslüstern! Er hat sie zu389 rechtgestutzt wie die Kinder und ihnen eine Moralpredigt über ihre Pflichten gehalten, so wie der alte Galuster das mit uns zu tun pflegt, wenn er uns zeigt, wie man einen Platz an einer Tafel deckt - und sie haben es sich gefallen lassen! Und diese Leute, welchen wir heute Abend aufwarten, standen bei ihm und hielten es keineswegs für merkwürdig, dass ein Delkamper dem Adel von Aglirta erzählte, wie man sich zu verhalten hat!«
Die Kammerzofen schauten wieder ehrfürchtig drein, und sie wandte sich zufrieden um und machte drei weitere Schritte, bevor sie sich erneut umwandte und in scharfem Ton hinzufügte: »Vergesst nicht: Das gibt uns nicht das Recht, uns über diese armen Leute von Aglirta zu erheben und hochnäsig auf sie hinabzublicken oder verächtliche Reden zu führen. Ich bin hier Höflingen begegnet, welche genau das tun - genauso wie ich schlecht ausgebildete Diener in Ragalar angetroffen habe, die sich nicht anders verhalten ... und es würde überhaupt nicht nett aussehen, wenn ihr das ebenfalls tätet! Behaltet die Gewissheit eures unvergleichlichen Wertes für Euch, so wie ich, und schenkt der Welt ein Lächeln, wenn ihr dient.« Dieses Mal ging sie tatsächlich, und als Lameira hinter ihr herblickte, das Gesicht verzog und murmelte: »So wie ich«, versetzte ihr Faerla einen deftigen Schlag mit dem Staubwedel und schnappte: »Das reicht, Lameira! Ich will nicht, dass sich jemand über diese Frau lustig macht! Wo wären wir - bei der Dreifaltigkeit, wo wären die Delkampers - ohne sie?« Lameira erwiderte hitzig ihren Blick, senkte dann aber die Augen und sagte: »Das stimmt. Flaeros - der gnädige Herr Flaeros - meinte, er wolle die Besten aus Varandaur, weil Aglirta uns brauche ... und dann wählte er unter allen anderen uns aus.« Faerla lächelte. »Ja, das tat er - und - und, oh, Lameira, das ist alles so aufregend! Sie haben mir erzählt, dass die Knochen eines Zauberers in einem Sarg unten in den Kellergewölben lie390 gen, und auf dem Weg nach unten gibt es überall Fallen - deshalb sollen wir auch nicht hinuntergehen -, und dort liegen tote Leute, und es lauern Schlangen so groß wie ein Mann, welche sie bisher noch nicht gefunden haben, und die eine, welche man die Herrin der Edelsteine nennt, hat Kammern voller über und über mit Juwelen besetzten Gewänder, genug, um ganz Ragalar siebzigmal zu kaufen, und sie kann geradewegs in die Steine dieses Palastes hineingehen und dann bewirken, dass sich die Türen öffnen und schließen und Lampen aufleuchten und wieder verlöschen, gerade so, wie sie das will, und -« Lameiera verdrehte die Augen. Feurige und anspruchsvolle Helden oder nicht, der Abend würde lang werden. »Aber, aber«, schnappte Maevur Kardassa, »es gibt keinen Grund, unruhig zu werden. Wir warten einfach ab, bis die Unannehmlichkeiten auf Treibschaum vorüber sind, und dann machen wir unseren Schachzug.« »Hmmmpf« erwiderte ein Soldat und starrte vielleicht zum hundertsten Mal auf das verrottende Durcheinander aus halb verfallenen Fischerhütten. »Können wir nicht heute Nacht wenigstens bis zu den Küchen von Treibschaum vordringen?« Überall erklang zustimmendes Gekicher und Gemurmel. »Nein, das können wir nicht«, erklärte der Fürst in ernstem Ton. »Ich fühle das nagende Hungergefühl ebenso stark wie ein jeder von euch -« »Noch viel stärker, so wie Ihr ausseht«, meinte jemand am anderen Ende des Bootes, und das Gekicher wurde lauter, was der Fürst jedoch nicht zu beachten geruhte. »- und trotzdem bin ich beherrscht genug, hier aufmerksam und geduldig zu warten, bis die Zeit gekommen ist. Wir riskieren hier unser Leben, darf ich euch ins Gedächtnis rufen!« »Wie sollen wir wissen, wann die Zeit gekommen ist?« »Ich - äh - nun, wenn wir sehen, dass bestimmte Leute 391 Treibschaum verlassen«, antwortete Kardassa. »Ich werde euch Bescheid sagen, verlasst euch darauf! Und dann werden wir -« »Wir werden aber nicht viele Leute Treibschaum verlassen sehen, nachdem die Nacht hereingebrochen ist«, überlegte ein anderer Soldat laut. Zu etwa der gleichen Zeit schrie eine vertraute, wütende Stimme von hoch oben am Ufer: »Dort seid ihr also! Bei der Dreifaltigkeit, aber wir standen im Thronsaal von Treibschaum und sahen uns feindlicher Magie gegenüber und Schwarzgult und allen möglichen seiner Gefolgsleute - und wo seid ihr gewesen? Allein standen wir gegen sie, und nur durch unseren kühlen Kopf, unsere Furchtlosigkeit und - nun, Heldenmut, obwohl ich uns nicht selbst loben möchte - gewannen wir die Oberhand! Aglirta hat einen neuen König - einen mutterlosen Jungen, welchen wir mit Leichtigkeit lenken können, wie es uns gefällt - wir können ihn auch töten, wenn er sich als Hindernis erweist, aber im Augenblick besteht keine Notwendigkeit, die Schwerter zu zücken, und -« Maevur Kardassa hatte sich schnaufend und stolpernd seinen Weg um ein paar besonders baufällige Hütten herum zum Ufer herunter gesucht, während er all diese tapferen Worte sprach, und dabei sein verzaubertes Schwert als Stütze benutzte -, aber jetzt hielt er, gefolgt von einer hinter ihm hertrottenden Reihe von Tersepten, ungläubig an. Fürst Kardassa starrte auf - den Fürsten Kardassa. Tersepte starrten auf ihre Ebenbilder, und Bewaffnete und kardassische Leibwächter an Bord des Bootes schauten mit zusammengekniffenen Augen von einer Gruppe zur anderen. »Magie«, knurrte ein Soldat. »Das habe ich mir doch gedacht!« Er und Suldun von der Leibwache zogen gleichzeitig das Schwert und rückten in Richtung der Tersepte und des Fürsten vor, welche dieses Boot mit ihnen teilten. 392 »So«, begann der Soldat und richtete seine Klinge bedrohlich auf den falschen Maevur Kardassa, »wer seid Ihr
und der Rest dieser Männer in Wirklichkeit? Zauberer aus Sirl, welche unseren Griff nach dem Thron verhindern wollen, oder?« » Was für eine Art Verrat ist das?«, blubberte der fette Mann gleich vor der Schwertspitze. »Tut eure eingeschworene Pflicht und greift euch die Hochstapler dort drüben! Ich, Maevur von Kardassa, befehle es euch!« »Was?«, heulte der Fürst am Strand auf. »Was ist das für eine arglistige Täuschung? Diese Männer an Bord sind Betrüger! Tötet sie! Erschlagt sie mit dem Schwert, bevor sie ihre tödlichen Zauberbanne auf euch schleudern können!« »Vielleicht wäre es einfacher, alle zu töten«, meinte jemand säuerlich - einen Moment bevor die Soldaten und die Leibwächter auf dem Boot vorwärts drängten und auf all die Tersepte einhieben - und einige der Angegriffenen sprangen sogleich in den Fluss und gingen unter wie Steine. »Halt!«, schrie jemand hoch oben am Ufer, und dann ertönte ein Kriegshorn. Der Fürst, die Tersepte am Strand und alle auf dem Boot drehten sich um schauten nach oben, nur um festzustellen, dass sie auf etwa hundert Ritter und Soldaten, einige davon zu Pferde, starrten und viele gespannte Armbrüste auf sie gerichtet waren. »Wer«, stammelte am Strand der Fürst Kardassa, und die Furcht ließ seine Stimme schrill klingen, »seid ihr?« »Männer von Blutklinge, dem rechtmäßigen König von Aglirta«, kam die finstere Antwort. »Und für wen schwingt ihr das Schwert?« »Für einen neuen König von Aglirta«, antwortete der Fürst am Flussufer hastig. »Und die anderen?«, wollte Blutklinges Hauptmann nach einem Blick auf die Boote wissen. Ein Stimmengewirr war die Antwort, als Soldaten und Leibwächter die Namen ihrer verschiedenen Herren nannten, und 393 der Hauptmann hörte zu, schaute angewidert drein und senkte in einer schroffen Bewegung den Arm. Armbrüste schnappten in tödlichem Chor, und die Boote waren plötzlich angefüllt mit taumelnden, sterbenden Männern, aus deren Leibern Bolzen ragten. Viele sprangen oder fielen ins Wasser, aber hoch oben am Ufer wurden Armbrüste neu gespannt, als die Schützen ihre Waffen bereitmachten, um erneut feuern zu können - und auf den Booten gab es keinerlei Deckung. Der Fürst und die Tersepte am Strand sahen voller Entsetzen zu, dann drehten sie sich auf dem Absatz um und ergriffen die Flucht. Der Hauptmann gab mit einem Winken ein weiteres Signal, und die Reiter um ihn herum trieben ihre Rösser den Abhang hinunter und zogen im Dahingaloppieren die Schwerter. Die gleich darauf folgenden Schreie kamen erstickt und kurz. Die Armbrustschützen wechselten sich damit ab, auf die Köpfe der wenigen zu schießen, welche in den Fluss sprangen, und dann färbte sich das Wasser an vielen Stellen blutrot, und überall trieben leblose Körper in den Fluten. »Buldrim«, schnappte einer der Leute des Hauptmannes, »eine Menge dieser Boote sind einfach verschwunden. Verschwunden durch Magie, während wir damit beschäftigt waren, die Armbrüste zu spannen und unsere nächsten Ziele auszuwählen.« »Wie viele?« Der Soldat zuckte die Achseln. »Mehr als zwanzig.« Buldrim erbleichte. »So viele Zauberer? Bei den Göttern, wir könnten unser tausend zählen, und sie könnten uns dennoch binnen eines Atemzugs töten! Aber wem dienen sie? Dem Regenten?« »Das mag sein, wie es will, aber wir sollten hier besser verschwinden«, antwortete der Soldat. Und Buldrim nickte. »Reiter!«, schnappte er. »Den Fluss hinauf zur Thuss-Spitze 394 dort drüben! Nehmt diese Kais ein, und dann stellt eure Pferde in den Schuppen dort drüben unter und versteckt euch mit ihnen. Ihr könnt Heu besorgen, aber ansonsten bleibt ihr im Verborgenen. Alle anderen auf die Schiffe wir rudern nach Treibschaum!« »Sollen wir den hier töten? Oder ihn in den Fluss werfen und dem Wasser die Arbeit überlassen?« Buldrim schaute nach unten, und ein von Schmerzen gequälter Suldun erwiderte den Blick. Er blutete heftig aus tiefen Wunden, welche drei Armbrustbolzen hinterlassen hatten. »Nun?«, fragte Buldrim. »Wollt Ihr hier liegen bleiben und zusehen, wie wir Treibschaum erobern, oder von Euren Schmerzen befreit werden?« »Gemach«, flüsterte Suldun heiser. »Wir sind von Zauberern übertölpelt worden ...« Buldrim nickte. »So viel wissen wir auch.« Er starrte nach Treibschaum hinauf, welches jetzt, da sich die Soldaten mit aller Kraft in die Ruder gelegt hatten, dicht vor ihnen aufragte, öffnete den Mund, wollte gerade nach vorne deuten, sich dann umdrehen und dem Rudergänger Befehle erteilen - und prallte zurück. Ein Mann stand an Deck und sah ihn an - und dort, wo er stand, hatte sich, von den Blutflecken abgesehen, noch einen Augenblick zuvor gar nichts befunden. Es handelte sich um Sendrith Duthjack in voller Rüstung, aber ohne Helm, und auf einer seiner Wangen klaffte eine frische Schwertwunde. Sein Blick glitzerte wild, als er jetzt den Hauptmann anschaute und ihn mit einem
Nicken des Wiedererkennens und des Einverständnisses grüßte. »Fürst Blutklinge!«, stammelte Buldrim und fiel auf die Knie. »Fürst, erteilt mir Eure Befehle!« »Kehrt um!«, befahl Blutklinge mit fester Stimme. »Kehrt alle um! Zurück zu den Docks, von welchen ihr gekommen seid!« 395 »Augenblicklich«, stimmte Buldrim hastig zu und gestikulierte in Richtung des Rudergängers, er solle das große Steuerrad herumreißen, »aber warum, mein Fürst?« »Bringt alle vier Boote zusammen, sodass alle mich hören können, und ich werde Euch antworten«, erklärte der Kriegsherr. Als dies vollbracht war und die Boote Reling an Reling dicht nebeneinander trieben, begab sich Blutklinge in die Mitte der aneinander liegenden Decks, schaute sich um und sagte: »Ihr treu ergebenen Aglirtaner, hört mir zu! Ihr seid an der Nase herumgeführt und schrecklich betrogen worden! Man hat euch in die Irre geleitet, auf dass ihr unser Land verratet!« »Wie folgen nur Euch, Fürst Blutklinge« rief einer der Soldaten, und man stimmte ihm eilends zu. »Glaubt ihr das wirklich?« Der Kriegsherr lächelte sie an -und dann veränderte sich sein Gesicht, wurde grün und schuppig - zu einem Schlangenkopf mit gegabelter Zunge! »Wie wäre essss, wenn isss Eusss etwasss ertsssählte, wasss eher der Wahrheit entsssprissst?«, fragte der Schlangenpriester und schaute die verblüfften Krieger auf den schaukelnden Booten einen nach dem anderen an. »WANs, wenn isst eusss sssage, dasss der rissstige Blutklinge sssson vor Jahren umgebracht wurde? Isss nahm mir sssein Gesssissst und ssseine Gessstalt, um Aglirta für die Sssslange ssssu erobern!« Ein Soldat schrie vor Entsetzen und tastete nach seiner Armbrust - und die Hand des Schlangenmannes fuhr hoch, und plötzlich befand sich ein schlanker Zauberstab darinnen. Ein Flammenstrahl schoss nach vorn, und die Soldaten sahen, wie das Gesicht ihres Kameraden wegschmolz und nur noch ein mit Asche bedeckter Schädel übrig blieb. Als der Mann vornüber kippte, fragte der Schlangenpriester in aller Seelenruhe: »Sssonssst noch jemand?« Er wirbelte herum, um sicherzugehen, dass kein Krieger hin396 ter ihm verstohlen seine Waffe bereitmachte, und sagte ihnen: »Jessst issst alles vorüber. Ihr habt gewonnen, weil die Ssslange getötet wurde. Aber ihr habt verloren, weil isss eusss nissst am Leben lasse, damit ihr prahlen könnt!« Und mit einem schrecklichen Gelächter schlug er mit noch mehr Flammenstrahlen auf die Boote ein, feuerte kleine zischende Feuerkugeln in die Gesichter der Krieger, welche sich aufrappelten, um ihre Schwerter oder Dolche zu schleudern, bis überall um ihn herum Flammen auf den Planken des Decks loderten. Und dann verschwand er plötzlich in der dünnen Luft, aus welcher er erschienen war. Männer schrien und schoben die schaukelnden Boote auseinander, während um sie herum Flammen hochzischten; lediglich Buldrims Boot war von den Flammen verschont worden, und Männer versuchten, hineinzuspringen oder in den Fluss einzutauchen - nur um einem neuen Schlächter zum Opfer zu fallen. Der Rudergänger hatte einen eigenen Zauberstab gezogen, welcher lange Nadeln dunkler Macht ausspuckte. Zuerst erwischte eine Nadel Buldrim mitten im Bauch, durchfuhr die Platten der Rüstung, als trüge der Hauptmann keine, und ließ einen auf dem Gesicht liegenden, wimmernden Mann auf dem Deck zurück. Dann wandte er sich den Männern zu, welche im Fluss um sich schlugen oder versuchten, in die Boote zu klettern. Als keiner der sich mühsam über dem Wasser haltenden oder verzweifelt hüpfenden Männer mehr zu sehen war, beharkte der Rudergänger mit seinen tödlichen Nadeln das Boot und ließ sie durch Köpfe fahren, bis kein Mann mehr auf den Füßen stand. Die Boote trieben fröhlich brennend flussabwärts, während der Rudergänger auf seinem Boot umherging und hierhin und dorthin eine Nadel aussandte, wann immer er eine Bewegung sah. Als niemand mehr übrig war, den er hätte töten können, trat 397 er Buldrims Schwert ins Wasser, beugte sich über den gefallenen Hauptmann und drehte ihn herum. Buldrim lag Schulter an Schulter mit dem schlimm zugerichteten Anführer der Leibwache von Kardassa und blinzelte hoch zu dem vertrauten Gesicht über ihm und erblickte ein Lächeln. »W-warum habt Ihr das getan, Ansyarde?«, keuchte Buldrim durch den immer dichter werdenden Nebel des Schmerzes. Der Mann grinste. »Ich bin nicht Ansyarde.« Sein Gesicht schien zu wabern, wegzutreiben - und war plötzlich das von Duthjack mit der Schwertwunde - und dann zerschmolz das Gesicht zu einer glatten Fläche, während Buldrim noch darauf starrte. »Und ich bin auch nicht Blutklinge.« Das Gesicht veränderte sich schon wieder und zeigte auf einmal die schuppigen Züge des Schlangenpriesters. »Und genaussso wenig ein Sssslangenanbeter. Dasss war allesss ein Trick, um eusss daran sssu hindern, noch einen König sssu töten. Thaebred issst ein guter Sssaussspiler, nissst wahr?« »Wer seid Ihr dann wirklich?«, stöhnte Buldrim verzweifelt. Alles um ihn herum wurde dunkler. Der schuppige Schlangenkopf blickte einen Moment auf ihn nieder, und dann hoben sich die Schultern darunter.
»Nun gut, vielleicht sterbt Ihr leichter, wenn Ihr Bescheid wisst, denn wir sind nicht ganz ohne Gnade.« Sein Gesicht veränderte sich schon wieder und wurde vollkommen leer. Ein Mund wie ein Schlitz öffnete sich inmitten der glatten Maske aus Fleisch und lächelte auf ihn nieder. Buldrim und der neben ihm liegende Suldun ächzten gemeinsam den gleichen, Furcht erregenden Namen: »Gesichtslose!« »In der Tat. Koglaur, wie wir uns selbst nennen. Die wahren Hüter von Aglirta.« »Ihr ... Ihr ...« Buldrim kämpfte gegen das Blut und den Schmerz an, dann brach es aus ihm hervor: »Blutklinge sucht 398 nach neuer Glorie für Aglirta, nach einem neuen Weg zur Größe. Ich und die anderen, die mit ihm reiten, können die Straße sehen ... sie schmecken ... Falls ihr Gesichtslosen die wahren Hüter von Aglirta seid, warum bringt ihr uns dann um?« Er hustete, rang nach Luft und fügte dann keuchend hinzu: »Weil wir versuchen, die neue Straße zum Ruhm zu bauen? Deshalb?« Der Koglaur lächelte grimmig. »Friede sei mit Euch, Buldrim. Ihr habt gut gekämpft und nur einen Fehler begangen: Ihr habt Euch die falsche Straße ausgesucht.« Buldrim stöhnte, als er den Kampf gegen die Schmerzen und das ansteigende Blut verlor. Er versuchte zu schluchzen, seine Hand zu heben ... und beides gelang ihm nicht mehr. Sein Kopf rollte zur Seite, und das Letzte, was er sah, waren der Himmel und der endlos dahinfließende Silberfluss ... Sobald der letzte rasselnde Atemzug verstummt war, rollte der Koglaur die Leiche des Hauptmanns in den Fluss. Dann wandte er sich zu Suldun um - welcher zurückzuweichen versuchte und leise, wimmernde Laute ausstieß, aber zum Halten kam, da ihm sein verwundeter Köper den Dienst versagte und Schmerz mit Fingern aus Feuer nach ihm griff. Der gesichtslose Kopf über ihm veränderte sich schon wieder, floss wie Brei um einen Kochlöffel und wurde plötzlich zu ... dem Ebenbild eines reizenden braunäugigen Mädchens. Dem schönsten Mädchen, fuhr es dem betäubten Suldun durch den Kopf, welches er je erblickt hatte. »So«, sagte der Koglaur mit leiser, rauchiger und äußerst weiblicher Stimme, »ist es so einfacher?« Sie - der Koglaur schaute auf Suldun nieder, und während Suldun Großsarn um eine Antwort kämpfte, murmelte sie etwas Unverständliches, das sich zwar wie die Sprache eines anderen Landes anhörte, aber nicht wie eine, welche er auf den Märkten von Sirlptar je gehört hätte. Nun legte die weibliche Gestalt lange, gummiartige Finger 399 auf Sulduns Wunden - genau in die klaffenden Löcher, welche - bei den Göttern! Suldun verkrampfte sich vor Schmerz, zuckte ... und sank dann aufs Deck zurück. Er seufzte, als ihn Kühle durchflutete. Irgendwie wusste er, dass er vollständig geheilt worden war. Dennoch fühlte er sich so schwach, dass er die Schultern nicht einen Zoll von den Planken heben konnte. »Liegt still«, erklang die rauchige Stimme von oben. »Ihr habt viel Blut verloren.« Er hörte Wellen schlagen und ein Plätschern, die Geräusche schwerer Körper, welche sich aus dem Wasser hievten - und da waren sie auch schon: Triefend nasse Gesichtslose, deren Köpfe keinerlei Züge aufwiesen, welche ihn aber anzusehen schienen, als sie auf die Füße kamen, über die Planken liefen und die Ruder eins nach dem anderen übernahmen, um dem Dahintreiben ein Ende zu machen. Sie befanden sich in der Nähe des Fischereihafens, von wo aus sie losgerudert waren, und die gesichtslosen Männer brauchten nur einige wenige Ruderschläge, bevor das Boot sanft gegen die Mole knirschte. Geschickte, gummiartige Hände vertäuten das Boot und verknoteten die Seile. »Lebt wohl, Suldun Großsarn«, sagte der Koglaur, zwinkerte und winkte Suldun zu, ehe sie - er konnte nicht anders, als die Gestalt >sie< zu nennen, wenn er ihren großartigen Körper sah - sich erhob und auf den Kai hinübertrat. »Wa-warum habt Ihr mich geheilt?«, keuchte Suldun. »Was bin ich für Euch?« »Ein Aglirtaner«, sagte sie leise und schaute ihn an. »Wir mögen Aglirtaner und geben nur zu oft unser Leben, um sie zu verteidigen.« Sie beugte sich näher zu ihm herüber und fügte hinzu: »Es gefällt uns, immer ein paar von euch übrig zu lassen, welche uns gesehen haben, um in ganz Aglirta die Gerüchte über uns 400 am Leben zu erhalten. Furcht ist wie eine zweite Waffe in der Hand.« »Und wenn ich erzähle, dass ihr uns verteidigt habt und dass man euch nicht fürchten muss?« Der Koglaur lachte. »Sie würden Euch nicht glauben. Das tun sie nie.« Und sie - er - wandte sich ab und ließ einen Suldun zurück, welcher bis an sein Lebensende fest daran glaubte, dass diese letzten drei Worte so viel Traurigkeit enthalten hatten, wie er sie niemals von einem Menschen gehört hatte. Sie waren doch Menschen, oder? Aber was bedeutete >menschlich< überhaupt? »Ihr hättet König sein können«, murmelte Embra, als sie Hand in Hand langsam und ohne ein bestimmtes Ziel durch den Garten wandelten. Einige Höflinge entzündeten hier und dort Laternen, zogen sich aber zurück, um ihre Zweisamkeit nicht zu stören.
»Ihr hättet Königin sein können«, brummte Hawkril. »Aglirta braucht jemanden Starken und Liebevollen, der noch dazu klug ist. Und warum sollte nicht eine Königin über das Land herrschen? Ihr wärt besser geeignet gewesen als jeder von uns.« Sie hob die Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte sie einfach. »Craer kann, falls er das muss, recht nett in einem Kleid aussehen.« Hawkril prustete. Nach ein paar Schritten sagte er: »Wir machen die ganze Zeit über Scherze, wir vi-drei. Mir gefällt das. Es wärmt mir das Herz und bewirkt, dass ich mich erwünscht und willkommen fühle. Und doch will ich jetzt schlichte Worte gebrauchen, edle Herrin.« »Eure Herrin«, berichtigte sie ihn, und er hielt an und hielt ihre Hand in festem Griff. »Darüber möchte ich mit Euch sprechen«, erklärte der Hüne 401 ruhig und schaute sie unverwandt an. »Ich bin zu sehr ein Aglirtaner von niedriger Geburt, dass ich mir nicht wünschte, eine Frau im Bett zu haben, sei es nun eine Freundin, ein nur für eine Nacht gekauftes Weib oder ein flüchtiges Soldatenliebchen - oder eine, bei der ich bleiben kann, mein Leben lang, und welche ich heiraten sollte. Ihr gehört zur ersten Sorte, und ich werde nie zulassen, dass Ihr zur zweiten und dritten gehört, und ich ich wünsche mir mehr als alles andere, dass Ihr auch die vierte sein werdet.« Embra erwiderte seinen Blick. »Habt Ihr nicht gehört, wie ich vor dem versammelten Hof Kelgraels Antrag ablehnte und mich an Euch klammerte?« »Ja, ja, das habe ich, und ich will, dass die Welt dies weiß. Ich möchte es von allen Zinnen verkünden«, knurrte Hawkril mit plötzlichem Feuer. »I-ich - können wir nicht heiraten? Ich meine ... wollt Ihr mich überhaupt?« Embra lächelte. »Natürlich will ich Euch, Ihr großer Tollpatsch. Ihr musstet mich nur fragen.« Seine Augen blitzten im Licht der Laternen. »Und - und es macht Euch nichts aus, einen >großen Ochsen von einem Ritter< an Eurer Seite zu haben?« »Es macht mir nicht einmal etwas aus, einen >großen Ochsen von einem Ritter< in mir zu haben«, antwortete sie leise, »solange es sich dabei um Euch handelt. Heiratet mich, Fürst - bitte.« »Ah - äh - das wollte ich gerade ... Euch fragen«, erklärte Hawkril einigermaßen verwirrt und wurde flammend rot. »Ja, und ich möchte Eure Frau sein, und zwar so sehr, dass ich Euch darum anflehe ... hier auf meinen Knien.« Sie kniete sich vor ihm nieder, und ein verblüffter Ritter schaute sich um, um nachzusehen, wo die Höflinge geblieben sein mochten. Sie standen erheblich näher, als er geglaubt hatte, schauten aber bemüht in eine andere Richtung. »Sie werden glauben, Ihr - flehtet mich an -« »Das sollen sie auch«, erklärte sie mit funkelnden Augen. 402 »Und wie der Zufall es will, muss ich Euch um noch etwas bitten - und Euch ein Versprechen geben.« »Äh - welches?«, stieß Hawkril mühsam aus in dem Wissen, dass seine Zunge ihm nicht allzu gut gehorchte, ohne jedoch in der Lage zu sein, sich von der plötzlichen Verwirrung zu befreien, die ihn anscheinend ... überwältigt hatte. »Hawkril, bitte vergebt mir«, begann Embra, und ihre Stimme klang plötzlich ganz klein und den Tränen nahe, »dass ich meine Magie benutzt habe, um Euch zu etwas zu zwingen, was gegen Euren Willen geschah. Ich verspreche, das niemals wieder zu tun. Niemals.« »Mich gezwungen? Wann ...?« »In der Nacht unserer ersten Begegnung, als wir aus meines Vaters Haus geflohen sind und ich Euch dazu gebracht habe, mich in das Schweigende Haus zu tragen.« »Ich habe Euch geschlagen«, sagte Hawkril langsam, als es ihm wieder einfiel, und machte Anstalten, ebenfalls auf die Knie zu sinken. Sie presste die Hände mit erstaunlicher Kraft gegen seine Knie, um ihn daran zu hindern, stand dann mit einem angestrengten Stöhnen auf und presste sich gegen ihn, so dass er aufrecht stehen bleiben musste. »Hawkril«, sagte sie und schaute in des Ritters Augen, während sich ihre Nasen beinahe berührten, »tut das nicht. Ich will nicht, dass Ihr wie ein Diener vor mir kniet. Ich will, dass Ihr mir vergebt und mir sagt, dass zwischen uns alles in Ordnung ist.« »Oh«, machte Hawkril und blinzelte. »Nun, das ist es natürlich, meine Herrin.« Sie bedachte ihn mit einem strengen Blick, und er verbesserte sich eilends: »Embra, ich vergebe Euch. Zwischen uns beiden ist alles in Ordnung.« Sie lächelte und gab ihm einen Kuss. »Gut.« Sie ergriff Hawkrils Hände, bevor sich seine Arme um sie schließen konnten, und trat an seine Seite, so dass sie wieder nebeneinander hergingen. 403 Embra führte den Ritter auf einen anderen grasbewachsenen Pfad zu einer Stelle, welche dunkler war. Dann wandte sie den Kopf um, schaute ihm in die Augen und sagte: »Ihr könnt mich schlagen, wann immer Ihr wollt, wenn Ihr Euch dann besser fühlt.« »Hmmm«, antwortete Hawkril und umfasste ihre Finger noch fester. »Und Ihr werdet zurückschlagen, nicht wahr?«
»Selbstverständlich.« Lange Zeit wanderten sie durch den Garten und unterhielten sich, und als sie endlich ins Haus traten, wartete die Kammerfrau Orele schon auf sie. Sie führte das Paar in den Ostflügel und zeigte zuerst der gnädigen Hochfürstin ihre Gemächer -zögerte aber keinen Augenblick, als Embra ihr leise erklärte, sie zöge es vor, die Nacht mit Fürst Hawkril in dessen Räumen zu verbringen. Orele lächelte bloß und geleitete die junge Frau wortlos durch die hohe Halle zu einer anderen Tür. Dort zupfte die alte Dame an Embras Ärmel, und als sich die Hochfürstin zu ihr niederbeugte, flüsterte sie: »Die Dreifaltigkeit soll Euch behüten und bewahren, liebe Dame.« Dann klopfte sie mit dem Silbergriff ihres Stockes an die Tür, und als sie sie öffnete, fügte sie hinzu: »Mögt ihr miteinander glücklich sein - Darsar weiß, dass ihr es verdient habt.« Und dann wandte sich die Hofdame um und ging ohne ein weiteres Wort sehr langsam und auf ihren Stock gestützt davon. »Hatte sie jemals einen Liebhaber?«, fragte ein Wächter leise seinen Kameraden, als Orele an ihnen vorbeihumpelte und sich noch schwerer auf ihren Stock stützte. »Vaevra wird uns das sagen können«, antwortete der andere Wächter, »oder wird ihre Gedanken ausspionieren und es herausfinden. Ihr seid zu weichherzig, Shalace.« »Ich glaube nicht, dass es für unsere Art etwas wie >zu weichherzig< geben kann, Mrivin«, meinte der erste Koglaur mit einem winzigen Hauch von Schärfe. »Sobald wir wissen, wie ihr 404 Mann ausgesehen hat, werde ich seine Gestalt annehmen und zu ihr gehen. Bei den Göttern, das hat sie sich verdient.« »Seid behutsam mit den Herzen der Alten«, warnte ihn Mrivin. »Findet zuerst heraus, was aus ihm geworden ist und ob sie das weiß, und wie sie auseinander gingen. Es sei denn, Ihr wollt den Rest Eurer Tage damit verbringen, Kammerdienerinnen anzugiften und Euch auf einen Stock zu stützen.« Shalace zuckte die Achseln. »Es gibt schlimmere Arten des Dienens.« »Seht Ihr? Selbst die Blumen verbergen sich vor Eurer Schönheit«, erklärte Craer leichtherzig. »Sie schließen sich jede Nacht«, erwiderte die schlanke, große Zauberin ruhig. »Macht Ihr Euch immer solche Mühe bei der Werbung, Hochfürst Delnbein?« »Herrin, Ihr verletzt mich«, seufzte der Beschaffer und schaute hoch, um ihr in die Augen blicken zu können. »Meine Absichten sind ehrenwert - vollkommen ehrenwert.« Tschamarra schenkte ihm ein müdes Lächeln. »Ich bin mir gewiss, dass das immer gilt, wenn Ihr eine Frau umwerbt.« Sie ging weiter, und er musste sich beeilen, um mit ihr Schritt zu halten. Ruhig legte die Edle Talasorn eine Hand auf seinen Rücken und zog ihn an sich heran, so dass sie Hüfte an Hüfte nebeneinander herschritten - oder genauer gesagt Hüfte an Rippen. »Eure Augen leuchten wie das Licht der Lampen dort drüben«, schmeichelte Craer von neuem. »Mit kleinen Flammen darinnen und Motten, welche darum herum flattern? Hoffentlich nicht«, antwortete sie. »Werte Dame, Dir macht es mir nicht leicht«, seufzte er. Ihre Zähne blitzten auf, als sie lautlos lachte. »Ihr bringt mich zum Lachen, Craer. Ich habe nie zuvor einen solchen Meister des verrückten Unsinns getroffen wie Euch, und -« »Werte Dame Talasorn, wollt Ihr mich heiraten?« Die Worte 405 sprudelten fast ungewollt aus ihm heraus, und sie fühlte, wie er sich versteifte und aus dem Gleichschritt geriet. Tschamarra blieb stehen, und seine Hand legte sich um ihre Hüfte. Sie beugte sich nach unten, ergriff diese Hand und drückte sie entschlossen nach unten auf ihr Hinterteil. »Nein, Fürst Craer«, antwortete sie, »jedenfalls nicht für viele Jahre - wenn überhaupt. Ich verspüre nicht das geringste Bedürfnis, mich dem Gesetz nach an irgendeinen Mann zu binden - ebenso wenig wie an eine Frau oder eine gestaltwandlerische Schlange, um Euren Fragen zuvorzukommen.« »Oh«, machte Craer bemerkenswert schlagfertig. »Und genauso wenig möchte ich mich den Vier anschließen, denn ich habe gehört, wie Ihr Embra genau das vorgeschlagen habt - Ihr hättet ein wenig leiser flüstern sollen.« »Ich ...«Er seufzte.« Ich wollte, dass Ihr das zufällig mit anhört.« »Ihr überrascht mich nicht, Craer. Und auch in Zukunft wird mich nichts von dem, was Ihr tut, überraschen. Ich kenne Euch allmählich nur zu gut.« »Zu gut?« »Wie ich sagte, beginne ich allmählich damit - und es ist an der Zeit, einen weiteren Schritt auf dieser Reise zu tun.« Tschamarra verließ den Pfad und betrat den Rasenkreis, unter welchem Sarasper begraben lag. »Ich habe nie zuvor die Umarmung eines Mannes gekannt«, verkündigte die große Hexe ruhig, »und ich möchte das ändern - in dieser Nacht, und mit Euch, Fürst Delnbein.« »Oh?«, fragte Craer und strahlte. »Entfernt Eure Kleider«, sagte sie lebhaft, wies mit einer Hand auf den Boden vor ihren Füßen und hob die andere zu den Schließen ihres Gewandes. »Es gibt keinen Grund, nach drinnen zu gehen, wenn es hier ein
bestens geeignetes weiches Bett aus Moos gibt.« Epilog Die Diener schienen genau zu wissen, wann die beiden Liebenden das Maß an Bereitschaft erreicht hatten, andere Dinge zu tun als aufzuwachen, sich zu recken und den Bettgenossen zu begrüßen. Wunderbare Düfte kündeten davon, dass zugedeckte Tabletts diskret abgestellt worden waren - und dazu warmer, gewürzter Apfelwein, ein Hochgenuss, welcher Tschamarra dazu brachte, die Augen weit aufzureißen und zu erklären, dass von diesem Tag an die letzten überlebenden Frauen der Familie Talasorn den Tag mit keinem anderen Zungenschmeichler begrüßen würden. »Bei den Göttern, das war mal gut!«, murmelte sie Craer ins Ohr, als die Diener das Paar in die Halle mit der gewölbten Decke geleiteten. »Ich meine natürlich den großen Craer ...« Der Beschaffer rang nach Luft, fingerte am Ansatz seines Halses herum und zischte: »Werte Dame, haltet an Euch Ein Mann hat schließlich einen Ruf -« Tschamarra verdrehte die Augen. »Ja, und ich höre immer wieder Einzelheiten über den Euren. Von den Dienern, den Wachen, von einigen der Gärtner - Ihr kennt das Gelände hier recht gut, wie ich glaube -, von etlichen der Höflinge, und ohne Zweifel von vielen unter den guten Menschen von Aglirta, sollten sie mir zufällig über den Weg laufen.« »Oh, ihr Götter«, murmelte Craer. »O ja, Hochfürst Delnbein, ich werde Euch ein lustiges Tänzchen liefern«, flüsterte sie, ergriff seinen Ellbogen und schob ihn durch die Tür, welche zwei mit dem Schwert salutierende Wachen gerade eben öffneten. »Verlasst Euch darauf.« 407 »Ahem«, antwortete Craer wortgewandt, und sein Blick traf den von Embra, die ihm wissend zuzwinkerte. Hawkril schaute kurz zur Decke hoch, und Schwarzgult grinste unverblümt. König Raulin Burgmäntel schaute lediglich erfreut drein, ihn wiederzusehen, und hatte den Blick nicht bemerkt, mit welchem die Edle Talasorn den kleinsten, am besten aussehenden Hochfürsten von Aglirta eben noch bedacht hatte, bevor sie sich trennten und die letzten beiden freien Plätze am Tisch einnahmen. »Schaut Euch den Garten an«, murmelte Embra und wies auf die Fenster. Alle schauten nach Osten über die abfallenden Terrassen, Rasenflächen und Wälder, und Craer seufzte, lächelte und meinte: »Könnten wir nicht wenigstens einmal hier bleiben - nur für ein paar Tage?« »Wie es der Zufall will« erwiderte König Raulin ein wenig zögerlich, »haben Fürst Schwarzgult und ich uns darüber beraten. Ich möchte, dass ihr - es ist meine - es ist Unsere königliche Forderung, dass ihr -« »Raulin«, unterbrach ihn Craer, »sagt einfach nur >ich möchte, dass IhrDas war ein königlicher Befehl, Ihr Narr