Patrick Brogan
Die Unruhe der
Welt
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Patrick Brogan
Die Unruhe der
Welt
Die Enzyklopädie der Krisen und Konflikte unserer Zeit scanned by AnyBody corrected by Yfffi Die Unruhe der Welt bietet einen globalen kritischen Überblick, der überhaupt erst ein Verständnis der Tagesnachrichten ermöglicht. Das Buch zeigt, daß in der heutigen Welt ein Krieg nirgendwo jemandem nützt oder Gewinn bringt. ISBN: 3-552-04219-9
Original: World Conflicts
Aus dem Englischen von Reinhard Deutsch
1990, Paul Zsolnay Verlag Wien œ Darmstadt
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Klappentext Seit dem Ende des Kalten Krieges treten die ‡kleinen—, die regionalen und scheinbar begrenzten Konflikte mehr denn je ins Blickfeld der Öffentlichkeit. In den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg hat es nicht einen Tag gegeben, an dem auf der Welt Friede geherrscht hätte. In rund hundert Kriegen sind mindestens fünfzehn Millionen Menschen ums Leben gekommen, die Folgeerscheinungen wie Flucht, Hunger, Seuchen haben genausoviele Opfer gefordert. Millionen und Abermillionen irren als Flüchtlinge umher. Diese Kriege œ Länder gegen Länder, Völker gegen Völker, Stämme gegen Stämme, Mächtige gegen Ohnmächtige œ haben darüber hinaus ungeheure ökonomische und ökologische Schäden angerichtet. Staatswirtschaften sind zusammengebrochen, der Drogenhandel ist zu einer weltweiten Bedrohung geworden, die Welt stand und steht immer wieder unvermittelt vor Konflikten mit unabsehbaren Folgen. Die meisten dieser Auseinandersetzungen finden keine wirkliche Lösung, sondern schwelen unter der Oberfläche scheinbarer Befriedung weiter mit der Möglichkeit, jederzeit wieder auszubrechen.
Der Autor
Patrick Brogan ist der führende Auslandskorrespondent des Londoner Observer. Die Unruhe der Welt ist das Ergebnis jahrelanger Forschung. Der britische Journalist Patrick Brogan analysiert in dieser umfassenden Enzyklopädie die Krisen und Konflikte der Welt von heute. Seine Erkenntnisse sind verblüffend: Die Welt leidet immer noch unter den Auswirkungen des Kolonialismus. Die willkürlich gezogenen Grenzen, längs und quer durch alle traditionellen Zusammenhänge, sind die Frontlinien vieler immer wieder aufflackernder Konflikte. So erscheint manche politische Lösung am grünen Tisch als hoffnungslos.
Inhalt VORWORT.................................................................................................. 6
VORBEMERKUNG ................................................................................... 23
AFRIKA ..................................................................................................... 26
ANGOLA................................................................................................ 27
ÄTHIOPIEN ........................................................................................... 45
BURUNDIE UND RWANDA. ................................................................. 65
LIBYEN .................................................................................................. 72
MAROKKO ............................................................................................ 84
MOSAMBIK ........................................................................................... 98
NAMIBIA .............................................................................................. 112
SOMALIA............................................................................................. 126
SUDAN ................................................................................................ 136
SÜDAFRIKA ........................................................................................ 148
TSCHAD .............................................................................................. 190
UGANDA ............................................................................................. 203
ASIEN...................................................................................................... 214
AFGHANISTAN ................................................................................... 215
BANGLADESCH ................................................................................. 236
BIRMA ................................................................................................. 242
CHINA.................................................................................................. 260
INDIEN................................................................................................. 282
INDONESIEN ...................................................................................... 310
KAMBODSCHA ................................................................................... 323
KOREA ................................................................................................ 348
MALAYSIA........................................................................................... 359
PAKISTAN ........................................................................................... 364
PHILIPPINEN ...................................................................................... 375
SRI LANKA .......................................................................................... 397
VIETNAM............................................................................................. 412
NAHER UND MITTLERER OSTEN ........................................................ 423
IRAK .................................................................................................... 424
IRAN .................................................................................................... 450
ISRAEL ................................................................................................ 468
JEMEN................................................................................................. 515
DIE KURDEN....................................................................................... 521
LIBANON ............................................................................................. 534
SAUDIARABIEN .................................................................................. 564
SYRIEN ............................................................................................... 572
EUROPA ................................................................................................. 587
DIE VERÄNDERUNGEN IN OSTEUROPA ........................................ 588
SOWJETUNION .................................................................................. 592
DEUTSCHE DEMOKRATISCHE REPUBLIK ..................................... 618
POLEN................................................................................................. 624
TSCHECHOSLOWAKEI œ CSFR........................................................ 636
BALKAN............................................................................................... 644
BULGARIEN ........................................................................................ 650
JUGOSLAWIEN .................................................................................. 654
RUMÄNIEN.......................................................................................... 661
UNGARN ............................................................................................. 671
CHRONOLOGIE DES KOMMUNISMUS ............................................ 680
NORDIRLAND ..................................................................................... 686
ZYPERN .............................................................................................. 717
LATEINAMERIKA ................................................................................... 726
ARGENTINIEN UND DIE FALKLANDINSELN ................................... 727
MITTELAMERIKA................................................................................ 742
EL SALVADOR.................................................................................... 747
GUATEMALA....................................................................................... 768
NLCARAGUA ...................................................................................... 787
PANAM‰.............................................................................................. 827
PERU................................................................................................... 836
DER DROGENKRIEG ......................................................................... 847
SÜDPAZIFIK ........................................................................................... 871
FIDSCHI UND NEUKALEDONIEN ..................................................... 872
DIE AUSEINANDERSETZUNG UM DIE KERNENERGIE ................. 882
TERRORISMUS...................................................................................... 884
TERRORISMUS HEUTE..................................................................... 885
DIE EUROTERRORISTEN ................................................................. 899
NATIONALISTISCHER TERRORISMUS............................................ 925
ARABISCHER TERRORISMUS.......................................................... 937
JAPANISCHER TERROR ................................................................... 976
AUSSICHTSLOSE HOFFNUNGEN.................................................... 981
CHRONIK DES TERRORISMUS ........................................................ 992
ANHANG ...............................................................................................1009
KRIEGE SEIT 1945 ...........................................................................1010
STAATSSTREICHE UND REVOLUTIONEN SEIT 1945..................1016
ATTENTATE SEIT 1946....................................................................1026
LITERATUR.......................................................................................1038
REGISTER ........................................................................................1059
VORWORT
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat es in der Welt niemals Frieden gegeben. Die Paktsysteme in Ost und West sicherten in Europa bis zum Auseinanderbrechen des Ostblocks im Jahre 1989 eine gewisse Ruhe, überall anders aber ging das Morden weiter. Gewaltige Kriege haben Asien und Afrika erschüttert, überall in den übrigen Teilen der Welt kam es zu kleineren Auseinandersetzungen. Manche sind eingeschlafen, andere aber sind zu riesenhaften Feuersbrünsten angewachsen. Rund vierzig Länder dieser Welt hängen im Würgegriff von Krieg, Bürgerkrieg, ausländischer Intervention, Terrorismus oder unausrottbarem Banditentum. In einer ganzen Reihe von Staaten kann der mühsam errungene Friede jeden Moment wieder zusammenbrechen. Die blutigsten der jüngsten Konflikte waren der Krieg zwischen dem Iran und dem Irak und die sowjetische Intervention in Afghanistan. Der eine dauerte acht, die andere neun Jahre, beide endeten aber ohne wirkliche Entscheidung. Nach vagen Schätzungen sind im Iranisch-Irakischen Krieg rund 450.000 Menschen ums Leben gekommen, weit mehr als in sämtlichen anderen Kriegen im Nahen Osten. Der erbitterte Haß zwischen den beiden Ländern hält an. In Afghanistan sind an Kriegsfolgen, Hunger und Krankheit zwischen 400.000 und 1.000.000 Menschen gestorben. Krieg, Seuchen und Hunger fordern im Sudan, in Äthiopien, Somalia und Mosambik jedes Jahr Hunderttausende Menschenleben. Diese sechs Konflikte der Gegenwart haben mehr als 17 Millionen Menschen entwurzelt, von denen mehr als 7 Millionen ins Ausland geflüchtet sind. Auf der anderen Seite des Spektrums der Unruheherde rangiert der œ relativ ‡geringen— Blutzoll fordernde œ Terrorismus in Gebieten wie Nordirland oder dem spanischen Baskenland, hervorgerufen durch die separatistischen Forderungen von Minderheiten. In diesen so schwer nachvollziehbaren und von Generation zu Generation weitervererbten Problemen scheint derzeit keine Lösung in Aussicht. Andere Konflikte schließen den ‡bewaffneten Waffenstillstand— zwischen Israel und seinen Nachbarn ebenso mit ein wie die unabänderlichen -6-
Stammeskriege in Afrika, die Revolten der Landbevölkerung in Mittelamerika und die kommunistische Rebellion auf den Philippinen. Seit 1945 haben rund 80 Kriege stattgefunden, denen zwischen 15 und 30 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind. Millionen und Abermillionen haben ihre Heimat verloren. In der Welt von heute gibt es wahrscheinlich so viele Flüchtlinge wie in den Völkerwanderungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Ende 1989 schätzte das amerikanische Flüchtlingskomitee die Zahl der Flüchtlinge im Ausland auf etwa 15,2 Millionen, die der Entwurzelten im eigenen Land auf 15 bis 20 Millionen. Die größten Kriege seit 1945 waren der Bürgerkrieg in China, der 1949 zu Ende ging, der Korea-Krieg (1950-1953), die IndochinaKriege (von 1946 ohne Unterbrechung bis heute), der algerische Bürgerkrieg (1954-1962), die Kriege gegen die portugiesische Kolonialherrschaft (1961-1975), der Krieg der Armee von Guatemala gegen die Bauern des Landes, die Bürgerkriege in Kolumbien, Nigeria, Uganda, Mosambik, Angola, Sudan, Afghanistan und Libanon, die Kriege zwischen Indien und Pakistan, Israels fünf Kriege gegen seine Nachbarn und der Iranisch-Irakische Krieg. Seit den mörderischen vierziger Jahren ist die Welt in jedem Jahrzehnt gewalttätiger geworden. In Afrika hat nur der Biafra-Krieg mehr Opfer gefordert als die Bürgerkriege der achtziger Jahre. Die Anhäufung von Waffen im Nahen Osten und in Afrika sowie die Verschärfung der Stammesauseinandersetzungen wie der ideologisch bedingten Gewalt haben Uganda und den Libanon zerstört und eine Reihe von Ländern an den Rand des Zerfalls gebracht œ zum Beispiel Angola, Äthiopien, Mosambik, Somalia und Sudan in Afrika, Afghanistan, Birma, Kambodscha und Sri Lanka in Asien. Die Gefährdung Indiens und der Sowjetunion zeichnet sich allmählich ab. Die Aussichten sind nicht überall gleich düster. Zwischen dem Iran und dem Irak kam es 1988 zu einem Waffenstillstand, der bis jetzt eingehalten wird. 1989 endete der Krieg in Namibia, und es gab erste Verhandlungen über Abkommen in West-Sahara und Eritrea. 1988 -7-
erklärten die ausländischen Mächte ihren Abzug aus Angola, Afghanistan und Kambodscha und überließen die Einwohner dieser Länder ihrem eigenen Schicksal respektive der Fortsetzung ihrer Bürgerkriege. 1989 kam es zum plötzlichen Zusammenbruch der kommunistischen Regierungen in Polen, Ungarn, der DDR, der Tschechoslowakei und in Rumänien. Die Regime in Jugoslawien, Bulgarien und vielleicht sogar der Sowjetunion schienen den selben Weg zu gehen. Im Februar 1990 verzichtete die Kommunistische Partei der Sowjetunion auf das Machtmonopol œ die revolutionärste Veränderung in einer an Außergewöhnlichem reichen Zeit. Die Öffnung der Berliner Mauer markierte das Ende des Kalten Krieges: Der Warschauer Pakt zerfiel, und es erscheint derzeit so gut wie ausgeschlossen, daß ein neuer Weltkrieg von europäischem Boden ausgehen könnte. Zur gleichen Zeit verkündete der südafrikanische Staatspräsident die Legalisierung des African National Congress und anderer Organisationen der Schwarzen und die Begnadigung Nelson Mandelas. Wenn schon keine Revolution, die mit den Ereignissen in Europa vergleichbar ist, so bedeutete diese Entscheidung doch zumindest einen Kurswechsel und eröffnete die Aussicht auf eine friedliche Lösung dieses so schwierigen Problems. Anderseits führte das Ende der alten Ordnung in Europa sofort zur Wiederbelebung der alten Auseinandersetzungen auf dem Balkan, in Transkaukasien und Zentral-Asien. Die Rückkehr der Roten Khmer nach Phnom Penh schien ebenso möglich wie der Ausbruch eines Bürgerkrieges in Somalia und das Wiederaufflammen der Stammesmassaker in Burundi. Die Regierung der Philippinen überstand im Dezember 1989 mit Mühe einen Staatsstreich, und die Lage der Regierungen von Kolumbien, Peru und El Salvador wurde immer prekärer. Birma steht nach einer Reihe von Aufständen am Rand der Anarchie, Pakistan und Indien steuern in der KaschmirFrage einmal mehr auf Konfrontationskurs, und der Bürgerkrieg im Sudan wuchs sich aus zu einer der größten Katastrophen der jüngeren Geschichte. Die Menschheit verarbeitet immer noch den Untergang des politischen Systems, das in großen Teilen der Welt den Frieden vor 1945 bewahrt hat œ diese trügerische Ruhe, von Weltmächten mit dem Bajonett erzwungen, sollte die Unterdrückung der Menschen mit -8-
gelber, schwarzer und brauner Hautfarbe durch den weißen Mann legitimieren. Aber die Welt außerhalb Europas ist tatsächlich ein viel weniger friedlicher Platz geworden als zu der Zeit, da Afrika, der Orient, Indien, Zentral-Asien und Südost-Asien von fünf oder sechs europäischen Hauptstädten aus regiert wurden wie auch Südamerika bis 1821. Der Untergang der Weltreiche war unvermeidbar. Es bedurfte nur einer dünnen Bevölkerungsschicht in jeder Kolonie, die sich fragte, warum sie von Ausländern regiert werden sollte, und durch den Ausbau des Bildungswesens gab es diese Oberschicht bald überall. Die Reiche waren mit Gewalt zusammengefügt worden: Die Briten eroberten Indien mit der Muskete und Afrika mit dem GatlingGewehr. Sobald moderne Waffen in die Hände der Einheimischen gelangten, die jeder Garnison der Kolonialtruppen zahlenmäßig weit überlegen waren, veränderte sich das Gleichgewicht der Kräfte, und es war vorbei mit den Imperien. Die Sowjetunion mußte in Afghanistan und jetzt noch einmal in Transkaukasien die Feststellung machen, daß für das Mutterland des Sozialismus die selben Regeln gelten wie für die von Marx und Lenin so heftig angegriffenen kapitalistischen Systeme. Sobald es für die Stämme im Nahen Osten, in Afrika und Indien kein Geheimnis mehr war, daß die Macht aus den Gewehrläufen kommt œ ganz zu schweigen von den europäischen Terroristen œ, griffen die selben zerstörerischen Kräfte, die die Kolonialreiche zu Fall gebracht hatten, auf die neu entstandenen Staaten der Dritten Welt über. Indien, Nigeria und Libanon œ das sind weniger Nationen als vielmehr geopolitische Begriffe. Die Sikhs und die Ibo, genauso wie die Volksgruppen und Sekten im Libanon, betrachten sich als Nationen, und sie haben um ihre Unabhängigkeit gekämpft oder tun dies weiterhin. Und wenn sie besiegt sind, kommen sie wieder, wie das Beispiel der Sikhs lehrt. Die meisten Konflikte in der heutigen Welt bestehen zwischen Völkern und Rassen. Nur wenige herrschen zwischen Nationen und Ideologien. Dieses Muster kann sich ändern: Iran und Irak haben demonstriert, daß nationale Animositäten plötzlich zu einem richtigen Krieg auflodern können; und das Elend der Dritten Welt kann in der kommenden Generation durchaus zu einer Wiederbelebung der -9-
ideologisch begründeten Konflikte führen. Die geringen Aussichten auf Frieden in der Welt von heute sind hauptsächlich auf die erbitterten Streitigkeiten zwischen den Völkern im Nahen Osten, in ganz Afrika, in Indien, der Sowjetunion, Südost-Asien und auf dem Balkan zurückzuführen. Es gab seit 1945 nur wenige umfassende nationale Kriege. Die meisten Opfer haben die Kriege in Korea, Vietnam und der zwischen Iran und Irak gefordert. Europa, dereinst der kriegerischste aller Kontinente, fehlt auf dieser Liste augenfällig. Über dem Kontinent lastet die Erinnerung an die drei Jahrzehnte der Menschenschlächterei, von 1914 bis 1945. Die Trauer über die Opfer des Ersten Weltkriegs hält immer noch an, und in der Sowjetunion wird man täglich an die Verluste des Großen Vaterländischen Krieges erinnert. Aber in den vergangenen dreißig Jahren haben Vietnam, Kambodscha, Uganda, Nigeria, Mosambik und ein halbes Dutzend anderer Länder in Relation zumindest genauso, wenn nicht noch mehr gelitten. Kriege zwischen Nationen werden zumeist durch Gebietsstreitigkeiten verursacht, durch ideologische Rivalität, nackte Eroberungslust oder bisweilen auch durch diplomatische Unfähigkeit. Seit 1945 sind aus all diesen Gründen Kriege ausgebrochen, und die Möglichkeit weiterer schwebt über großen Teilen des Globus. Die Tatsache, daß im Moment so wenige zwischenstaatliche Kriege unmittelbar auszubrechen drohen, bedeutet nicht, daß die Menschheit ihr Verhalten geändert hat. In den vergangenen zwanzig Jahren gab es einige Territorial kriege, darunter den Falkland-Krieg zwischen Großbritannien und Argentinien, den Ogaden-Krieg zwischen Äthiopien und Somalia und den Krieg zwischen Iran und Irak, der durch den Streit ausgelöst wurde, ob die Grenze zwischen diesen beiden Ländern in der Mitte eines Flusses liege oder am Ostufer. Viele andere territoriale Fragen sind ungelöst, darunter die latenten Konflikte auf dem Balkan, die von 1945 bis 1989 durch die ‡Pax Sowjetica— unterdrückt wurden. Die meisten afrikanischen Länder sind ebenso wie viele asiatische anfällig für Forderungen von Irredentisten. China hat zum Beispiel einen lang zurückreichenden Grenzstreit mit der Sowjetunion, und nahezu jedes Land in Südamerika erhebt gegenüber zumindest einem Nachbarstaat Gebietsforderungen. Der Überfall des Irak auf Kuwait hat große -10-
Probleme ausgelöst. Die Zahl der Kriege aus ideologischen Gründen hat in den letzten Jahren stark abgenommen. Die USA sind aus ideologischen Gründen in den Vietnam-Krieg gezogen, und die Sowjetunion hat in Afghanistan interveniert, um einem schwachen kommunistischen Regime den Rücken zu stärken. Beide haben ihre eigene Stärke ebenso überschätzt wie die Bedeutung der Auseinandersetzung. Anderseits waren beide Weltmächte œ ungeachtet wiederkehrender Ankündigungen, den Kommunismus ‡zurückzudrängen— beziehungsweise den Westen zu ‡begraben— œ, im Einsatz ihrer gewaltigen militärischen Macht extrem vorsichtig. Es war auffällig, daß Präsident Reagan eben doch niemals Marineinfanteristen nach Nicaragua geschickt hat. Seine Grenada-Invasion von 1983 und Präsident Bush' Panama-Invasion 1989 waren die Ausnahmen von der Regel, kaum mehr als Polizeiaktionen, kurz, billig und populär. Der marxistische revolutionäre Eifer hat siebzig Jahre nach der bolschewistischen Revolution weltweit Terrain verloren, hauptsächlich wegen des offenkundigen Scheiterns des Modells in der Sowjetunion, ihren Satellitenstaaten und Nacheiferern. Es ist wahrscheinlich, daß, vereinfacht gesagt, in Zukunft weniger Massaker an Unschuldigen im Namen dieses fernen Utopia stattfinden werden als bisher. Die postkolonialen Kriege in Afrika, die oft als ‡Volksrevolutionen— bezeichnet wurden, haben sich allesamt in nackte Machtkämpfe verwandelt. Ideologische Kriege im altmodischen Sinne gehen noch in El Salvador und auf den Philippinen weiter; und der ‡Leuchtende Pfad— in Peru hat, wie die Roten Khmer in Kambodscha, eindringlich bewiesen, daß zumindest an einigen Orten der ideologische Irrsinn all seine Zerstörungskraft austoben kann. Eroberungskriege sind seit Hitler aus der Mode gekommen, aber sie finden nach wie vor statt. Der irakische Präsident Saddam Hussein dachte, daß er die arabischsprachigen und ölreichen Provinzen des Iran erobern könnte œ der erwähnte Streit um die Grenze im Fluß war hauptsächlich ein Vorwand. Die arabischen Staaten haben dreimal geglaubt, sie könnten Israel erobern. Sie haben sich geirrt. Diplomatische Unfähigkeit bleibt eine der größten Gefahren für den Frieden in der Welt. Die Überforderung einer Handvoll Männer in -11-
Berlin, Wien, Sankt Petersburg, London und Paris brachte der Welt den Horror des Ersten Weltkriegs und aller darauf folgenden Katastrophen. Das hätte sich in den Tagen von Molotow und Dulles leicht wiederholen können, wenn nicht die Angst vor einer atomaren Auseinandersetzung die Menschheit vor den Aggressionen und der Dummheit der Regierenden bewahrt hätte. In den Tagen der KubaKrise 1962 stand die Welt am Rand des Abgrunds. Der FalklandKrieg war das Ergebnis diplomatischer Fehleinschätzungen in London und Buenos Aires, und der Sechstagekrieg von 1967 das Resultat von Nassers Irrwitz. Er glaubte ernsthaft, Israel ohne Gegenwehr demütigen zu können. Es gab zwischen 1945 und 1975 viele ‡nationale Befreiungskriege— oder Kolonialkriege. Indochina und Algerien waren die blutigsten, aber in Afrika und Asien haben noch zahlreiche andere stattgefunden. Nun gibt es kaum noch Kolonien und nur mehr zwei Kolonialkriege: jener der Eritreer gegen Äthiopien und der Kampf der POLISARIO gegen Marokko um die Unabhängigkeit der West-Sahara. In beiden kam es 1989 zu einem Defacto-Waffenstillstand. Die sowjetische Intervention in Afghanistan war ebensowenig ein Kolonialkrieg wie das Engagement der Amerikaner in Vietnam, sondern es waren zwei der längsten und blutigsten modernen ideologischen Konflikte. Die Zahl der Bürgerkriege hat seit dem Ende der Kolonialzeit stark zugenommen, nachdem sich die Staatswesen entlang ideologischen, sektiererischen oder ethnischen Linien selbst in Stücke reißen. Der erste und blutigste Bürgerkrieg nach 1945 war der in China, in dem Millionen Menschen getötet wurden. Der Sieg der Kommunisten war eine der großen Katastrophen der Geschichte, er hat unsägliches Leid und den Tod weiterer Millionen Menschen verursacht. Seit dem Ende der siebziger Jahre begann China sich allmählich zu erholen, nachdem die Viererbande besiegt worden war, die das Land mit einem letzten Aufbäumen des ideologischen Wahnsinns terrorisiert hat. Es war Deng Xiaoping vorbehalten, 1989 wieder den Schatten des Todes über China zu werfen. In manchen Ländern ist der Bürgerkrieg unmittelbar nach der Unabhängigkeitserklärung ausgebrochen, nachdem sich die Kampflust der Völker von den Kolonialmächten ab- und den inneren Auseinandersetzungen zugewandt hatte. Überall sind Ströme von Blut -12-
geflossen, von Guatemala bis Biafra, vom Libanon bis Kambodscha, und es gibt kein Anzeichen, daß das irgendwann aufhören wird. Der Terrorismus bleibt ein Hauptproblem, vor allem des Westens. Manche Terroraktionen haben die Geschichte verändert œ die Ermordung von Julius Cäsar ebenso wie die von Abraham Lincoln und Erzherzog Franz Ferdinand. Dennoch haben die meisten Terroristen ihre Ziele nicht erreicht. Die israelische Politik hat sich nicht verändert, ungeachtet aller mörderischen Anschläge. Die Briten bleiben auch nach zwanzig Jahren IRA-Terror in Nordirland. Das Baskenland bleibt ein Teil von Spanien, und auch die Regierungssysteme von Frankreich, Italien und der BRD wurden durch die Terroraktionen nicht in ihren Grundfesten erschüttert. Die ‡bedeutendste Leistung— der Terroristen war ihr Beitrag zur Zerstörung des Libanon, aber in diesem Fall wurde der Terrorismus zu einem Instrument des Bürgerkrieges umfunktioniert. Keiner dieser Konflikte kann ohne Kenntnisse der historischen Hintergründe verstanden werden. In manchen Fällen ist dieser Hintergrund bereits der Konflikt: Die Ursprünge der stammeskriegsartigen Auseinandersetzungen in Belfast können bis zu den Ereignissen von 1689 zurückverfolgt werden, vielleicht sogar noch weiter. Argentinien ist 1982 in den Krieg gegen Großbritannien gezogen, um eine unbedeutende Begebenheit von 1833 zu rächen. Griechen und Türken, Türken und Armenier sind seit mehr als 900 Jahren verfeindet, ähnlich wie Vietnamesen und Kambodschaner. Der extremste Fall des historischen Bewußtseins ist die Wiedererrichtung des Staates Israel. Es gibt nur wenige Fälle einer bewußten Abkehr von historischen Feindbildern. In den fünfziger Jahren beschlossen Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland, aus eigenem Antrieb und ohne äußeren Zwang, ihren jahrhundertealten Streit zu beenden, der innerhalb von 70 Jahren zu drei Kriegen geführt hatte. Diese Entscheidung, deren Ursachen ganz prosaisch in der Errichtung der Montanunion 1951 liegen, ist eine der bedeutendsten Leistungen der Nachkriegsdiplomatie. Als Präsident Sadat mit Israel den Frieden von Camp David schloß, war das ein bedeutendes Ereignis, weil solche Taten so selten sind. Die Regierung von Nigeria unter General Gowon versuchte eine Politik der Wiederannäherung nach dem Ende des -13-
Biafra-Krieges. Es gab keine Verfolgung der Besiegten, keine Wiedergutmachungszahlungen und keine Orden für die Soldaten der siegreichen Armee. Aber Gowons Beispiel fand kaum Nachahmung, und Sadat wurde ermordet. Latente Konflikte können aus allen möglichen Gründen wieder hochflammen. In einigen Ländern, wie Zypern beispielsweise, herrscht ein unsicherer Waffenstillstand. In anderen œ z. B. Uganda, das sich im Augenblick gerade einer Phase der Ruhe zwischen den Staatsstreichen erfreut œ garantieren 20 Jahre Verfolgung, Massaker, Bürgerkrieg und blutige Staatsstreiche zukünftige Auseinandersetzungen. Die Regierungen eines Dutzends Länder, darunter Birma, Somalia, Elfenbeinküste, Guatemala, Haiti und Peru, können jeden Augenblick zusammenbrechen, während einige seit langem herrschende Diktaturen wie China, Libyen, Syrien und Albanien ihnen vielleicht irgendwann folgen werden. In anderen Ländern, wie etwa Saudi-Arabien, herrschte viele Jahre hindurch Friede, aber allmählich gibt es Anzeichen von Unruhe. Wieder andere, wie Indien, wo die regelmäßigen ethnischen Auseinandersetzungen zunehmen, befinden sich wohl im ersten Stadium der Erschütterung. Am bedeutendsten von allen ist die Sowjetunion, wo die einzelnen Republiken die Unabhängigkeit verlangen, und in einem runden halben Dutzend ist es bereits zu schweren Nationalitätenkonflikten gekommen. Eine weitere Gefährdung des Friedens in der Welt beruht auf dem Gegensatz zwischen schwerbewaffneten und kriegslüsternen Ländern der Dritten Welt. Indien hat nukleare Waffen œ wie wahrscheinlich auch Pakistan œ, und beide sind auf der Jagd nach Langstreckenträgerwaffen. Der Konflikt um Kaschmir zeigt, wie gefährlich diese Konfrontation bleibt. Jeder Nahost-Krieg war aufgrund der anwachsenden und verbesserten Arsenale verlustreicher als der vorangegangene. Israel und die Araber verfügen nun über Langstrecken-Boden-Boden-Raketen, und ein weiterer IsraelischArabischer Krieg ist durchaus möglich. Der Irak hat aus dem Krieg mit dem Iran nichts gelernt, und sein Einsatz von Giftgas in diesem Konflikt mag durchaus Nachahmung finden. Die vom Irak ausgelöste Golfkrise zeigt auch die Konsequenz im scheinbar irrationalen Handeln. Libyen und der Tschad, Äthiopien und Somalia sind so -14-
verstrickt, daß der Kampf bei der ersten Gelegenheit wieder ausbrechen kann. Wie ein roter Faden zieht sich durch eine Reihe dieser Konflikte der Einfluß von außen. Die Sowjetunion hat im Namen der Befreiung und des Sozialismus vierzig Jahre hindurch Mord und Zerstörung in den Ländern der Dritten Welt gesät. Junge Afrikaner, Asiaten und Lateinamerikaner gingen zu Tausenden nach Moskau und studierten dort Dialektik und die Kalaschnikow. Die massivsten ausländischen Interventionen gab es in den Kriegen in Korea, Vietnam und Afghanistan. Nur der erste hat zu einer Art Ergebnis geführt, und beide Seiten reklamierten den Sieg für sich. Das westliche Bündnis, angeführt von den USA, rettete Süd-Korea, und China sicherte den Bestand Nord-Koreas. In Wahrheit wollten beide Seiten Korea unter ihrer Patronanz wiedervereinigen, und beide sind gescheitert. Das Korea-Problem, das durch die Einmischung von außen entstanden ist, haben sie zukünftigen Generationen zur Lösung überlassen. Wenn sie keine Armeen entsenden, schicken ausländische Mächte ‡Berater—, oder sie bewaffnen ihre Schützlinge. Die Sowjetunion hat große Mengen Waffen nach Angola (1975) und Äthiopien (1977) hineingepumpt und kubanische Expeditionskorps finanziert, um die neuen Regierungen vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Während kubanische Truppen und sowjetische Berater die angolanische Regierung und Armee in Schwung hielten, taten die Südafrikaner mit ihrer Unterstützung der Unita dasselbe auf der anderen Seite. Südafrika hat die RENAMO-Rebellen in Mosambik unterstützt, während Tansania der FRELIMO im Kampf gegen die portugiesische Herrschaft beistand. Oberst Moammar Gaddafi von Libyen hat seine Soldaten nach Uganda und in den Tschad geschickt, und er liefert Waffen und Geld an eine ganze Zahl von Widerstands- und Terrorbewegungen. Die USA haben sich œ mit Waffen, Geld und Beratern œ in ein Dutzend Konflikte eingemischt. Die Entscheidung der Sowjetunion, sich aus den Positionen, die sie über Jahrzehnte hinweg mühsam aufgebaut hatte, zurückzuziehen, führte 1988/89 zu einer revolutionären Veränderung. Zuerst räumte die sowjetische Armee Afghanistan. Dann wurde den Kubanern der -15-
Abzug aus Angola und den Vietnamesen der Rückzug aus Kambodscha befohlen. Dem folgte ein genereller Rückzug aus Osteuropa, der sehr schnell beinahe zur Flucht wurde. Es ist durchaus möglich, daß die Sowjets bald auch Äthiopien, Süd-Jemen und andere von ihnen abhängig gewordene Staaten aufgeben œ und vielleicht sogar Teile der UdSSR. Fidel Castro mußte zur Kenntnis nehmen, daß die Sowjetunion nicht länger in der Lage ist, Hilfszahlungen in Höhe von 5 bis 7 Milliarden Dollar pro Jahr zu leisten. Diese Veränderung ist zumindest so bedeutsam wie die Auflösung des Empire, die 1947 mit der Unabhängigkeit Indiens begann. Auch andere Staaten haben ihre Einmischung im Ausland 1988 und 1989 reduziert. Südafrika hat seine Truppen aus Angola zurückgezogen und der Unabhängigkeit Namibias zugestimmt, und die USA hatten ihre Plane, die sandinistische Regierung von Nicaragua zu stürzen, aufgegeben. Aber trotzdem waren die USA in El Salvador tief verstrickt, und Südafrika hat offensichtlich die Absicht, seine dominierende Position im südlichen Afrika weiter zu behaupten. Weitaus die meisten der Millionen Menschen, die in den vergangenen Jahrzehnten im Zuge kriegerischer Auseinandersetzungen gestorben sind, wurden nicht durch Bomben, Panzer oder Kampfflugzeuge getötet. Sie fanden den Tod durch Gewehre, Pistolen und Granaten. China, Nord-Korea, Brasilien, Mexiko und Indien haben große Waffenindustrien aufgebaut, und sie alle betreiben intensiven Export. Die Verbreitung leichter Schußwaffen bedeutet, daß es relativ einfach und billig ist, einen Aufstand oder Krieg anzuzetteln. Es gibt überall Gewehre, und die Zahl der Toten, Kämpfer und Zivilisten, ist erschreckend. Auch die USA und ihre westlichen Alliierten unterstützen Aufständische mit Waffen und Ausbildung, wenn auch nicht mit der gleichen Kaltschnäuzigkeit wie die UdSSR. In Afghanistan und Angola haben Boden-Luft-Raketen wie ‡Stinger—, ‡Redeye— oder die britische ‡Blowpipe—, die nur ein oder zwei Mann zu ihrer Bedienung brauchen, das Gesicht des Krieges verändert. Selbst wenn alle ausländischen Einmischungen mit einem Schlag beendet und die Schwertfabriken in aller Welt in Produktionsstätten für Pflugscharen umgewandelt würden, das Kämpfen würde weitergehen. Die Guerillas auf den Philippinen und der ‡Leuchtende -16-
Pfad— in Peru haben von Beginn an ohne ausländische Unterstützung gekämpft. Auch wenn Rajiv Gandhi davon faselt, so ist der Kampf der Sikhs in Indien dennoch nicht das Resultat einer pakistanischen Verschwörung. Jonas Savimbi und die Unita in Angola sowie die anonymen Terroristen der RENAMO in Mosambik werden ihre Kriege auch ohne die Südafrikaner fortsetzen. Die Menschenschlachterei in Uganda wurde durch landesinternen Haß ausgelöst, nicht durch ausländische Einmischung. Die menschliche Fähigkeit zu hassen besteht unvermindert fort. Armenier und Aserbeidschaner, die siebzig Jahre lang friedlich miteinander gelebt haben, beginnen nun, einander mit archaischer Grausamkeit abzuschlachten. Als die US-Marine 1988 eine iranische Verkehrsmaschine abschoß und 290 Menschen getötet wurden, waren die Reaktionen in Amerika durchwegs gefühllos. Obwohl unter den Toten mehr als 60 Kinder unter 10 Jahren waren, wurden sie insgesamt als ‡alles Iraner— abgetan, daher Feinde, und die meisten Amerikaner brachten keine Sympathie für sie auf. Haß kann von Ideologie angefacht sein, wie im Falle der Roten Khmer oder des ‡Leuchtenden Pfad— in Peru; von uralten ethnischen oder religiösen Feindschaften, wie im Falle der Hindus und Mohammedaner, die sich 1947 in Indien abschlachteten, oder wie bei den Protestanten und Katholiken in Belfast; von Rassismus, wie im Falle der Amerikaner in den Südstaaten, wo in den sechziger Jahren schwarze Bürgerrechtskämpfer niedergeschlagen und manchmal ermordet wurden oder wie heute bei Armeniern und Aseris; von Stammesrivalitäten, wie bei den Hutsi und Tutu in Burundi und Rwanda; oder auch von verrückter historischer Aufarbeitung, wie im Falle der Armenier, die sich von Amerika oder dem Libanon aus auf den Weg machen und türkische Diplomaten ermorden œ um Ereignisse zu rächen, die mehr als 70 Jahre zurückliegen. Die Vernichtung der Juden war das extreme Beispiel für das Ausmaß, das Haß erreichen kann. Der Holocaust war nicht nur wegen seiner Monstrosität so besonders, sondern vor allem wegen der Kaltblütigkeit, mit der er von Amts wegen geplant und durchgeführt wurde. Es gibt eine Reihe von Beispielen ähnlicher Grausamkeit: 1978 überschritten kambodschanische Soldaten die vietnamesische -17-
Grenze und töteten in den Dörfern viele vietnamesische Kinder. In Rwanda wurden 1959 10.000 Tutsi von den Hutu massakriert. 1972 wurden weitere 2.000 Tutsi in Burundi getötet, und im Gegenzug brachten die regierenden Tutsi 200.000 Hutu um. Die Massaker wurden 1988 fortgesetzt. Heute und an jedem kommenden Tag werden in Mosambik, Sudan und Äthiopien Zivilisten systematisch ermordet, einschließlich Frauen und Kindern. Die kambodschanische Regierung verfolgte zwischen 1975 und 1979 kaltblütig eine Politik, von der sie wußte, daß sie zum Tod Hunderttausender ihres eigenen Volkes führen würde. Und es ist durchaus möglich, daß die Roten Khmer nach Phnom Penh zurückkehren. Die Holocaustdenkmäler, die jüngst in Washington und New York errichtet wurden, sollten neben den Bildern von Treblinka und Auschwitz Photographien der ‡Killing Fields— von Kambodscha enthalten, wo die Vietnamesen Zehntausende Totenschädel fanden, oder von den Flüssen, die aufgestaut waren von den Leichen der Tutsi und Hutu. Auch Erinnerungen an die Bauern aus der Sowjetunion könnten darin aufbewahrt werden, vor allem an die Ukrainer, die 1931-1933 im Zuge von Stalins Landwirtschaftsreformen zu Millionen umgebracht wurden oder verhungerten. Ganze Bibliotheken sind über das strategische Gleichgewicht zwischen Ost und West geschrieben worden, und in den USA, in Europa wie in der UdSSR beschäftigt sich eine ganze Industrie ausschließlich mit der Analyse dieses Fragenkomplexes. Glücklicherweise waren die politischen Führer auf beiden Seiten zu klug, auf ihre militärischen Berater zu hören oder den wilden Spekulationen ihrer Denkfabriken wirklich Glauben zu schenken. Wenn sie einmal doch genau hinhörten, schlitterte die Welt an den Rand des Desasters. 1962 war das besonders kraß, als Nikita Chruschtschow dem kartographischen Selbstbetrug zum Opfer fiel, der das Schicksal der Menschheit in diesem Jahrhundert so sehr beeinflußt hat. Die Amerikaner hatten versucht, fehlgeleitet von der irrealen Welt der Kartenzeichner, die Sowjetunion und ihre Verbündeten einzukreisen. Das Konzept war chancenlos. Die UdSSR und China sind viel zu groß, um effektiv eingekreist werden zu können. Es war auch sinnlos œ welchen Zweck sollte diese Einkreisung denn erfüllen? Aber für einen Augenblick fiel -18-
Chruschtschow selbst dieser Fehleinschätzung zum Opfer und schickte Raketen nach Kuba, um dieser angeblichen Umzingelung zu entkommen. Für eine Nation von Schachspielern war das ein erstaunlich dummer Zug. Die Sowjets hatten offensichtlich den Gegenzug nicht bedacht. Die Raketen in Kuba veränderten das wahre Gleichgewicht der Macht nicht œ aber sie provozierten die USA so sehr, daß der Atomkrieg als reale Möglichkeit erschien. Und dieser hätte damals wohl nur die UdSSR zerstört, nicht auch die USA. Die Fehlinterpretation der Landkarten hält an. Als die sowjetischen Truppen in Afghanistan einmarschierten, verbreiteten Washingtoner Falken die These, die Rote Armee suche offensichtlich den Zugang zum Persischen Golf, als ob eine 1600-Kilometer-Gewalttour durch den Himalaya irgendeinen Sinn gehabt hätte für einen Staat, der bereits die Gebirgspässe in den Iran vom Norden her kontrolliert. Landkarten wurden veröffentlicht, auf denen aggressive rote Pfeile quer durch Afrika gezogen waren und Europa einkreisten. In den achtziger Jahren wurde die Theorie verbreitet, daß die Sandinistas, sollte man sie nicht aus Nicaragua vertreiben, nächstes Jahr in Texas einmarschieren würden. Auf der Landkarte sieht alles so einfach und nah aus. Die tatsächlichen Geschehnisse sind beinahe das Gegenteil der drohenden Pfeile auf der Landkarte. Die Sowjetunion hat sich in den siebziger Jahren heftig übernommen, als sie in Vietnam, Kambodscha, Afghanistan, Süd-Jemen, Angola, Äthiopien, Mosambik und Nicaragua von ihr abhängige Regierungen an die Macht brachte. Das US-Außenministerium schätzt die sowjetischen Aufwendungen auf etwa 500 Millionen Dollar pro Jahr œ allein in Nicaragua. Neben den gewaltigen Kosten für den Afghanistan-Krieg, den Kosten der Unterstützung für Kuba und jeweils 1-2 Milliarden Dollar für Angola, Äthiopien und Vietnam, hat die UdSSR jährlich rund 20-30 Milliarden Dollar außerhalb Europas bezahlt. Die Kosten für die Garnisonen in Osteuropa mögen etwa doppelt so hoch sein, und die Waffenindustrie ebenso wie die Rote Armee verschlingen weitere riesige Summen. Soweit sich das beurteilen läßt, zieht das sowjetische Volk aus all diesen Ausgaben keinen wie immer gearteten Nutzen. Im Gegenteil. Der Zwang, diesen beeindruckenden Beweis sowjetischer Größe aufrechtzuerhalten, führte eben dazu, daß die -19-
sowjetischen Bürger für tägliche Gebrauchsgüter, die den Menschen im Westen selbstverständlich sind, Schlange stehen mußten. Das Land mit dem weltweit größten Baumbestand hat nicht genug Toilettenpapier für seine Bevölkerung, und den sowjetischen Bürgern werden nach wie vor selbstverständliche Dinge vorenthalten, die ein System mit höherer wirtschaftlicher Effizienz und geringerem imperialistischem Anspruch längst hätte zur Verfügung steilen können. Delegierte zum Moskauer Parteitag im Juni 1988 haben mit Verbitterung festgestellt, daß das Leben in Süd-Korea und Taiwan besser ist als im Mutterland des Sozialismus. Die Funktion als Vorhut der Weltrevolution während der letzten siebzig Jahre bedeutete im Inneren eine politische Unterdrückung, die nicht in alle Ewigkeit aufrechterhalten werden konnte. So wie in anderen europäischen Weltreichen kam der Moment, da die sowjetischen Bürger plötzlich realisierten, daß sie sich nicht länger mit einer unfähigen und tyrannischen Regierung abfinden mußten, und die Regierung entdeckte, daß sie nicht länger die Kraft und die Macht hatte, ihren Willen durchzusetzen. In der Langzeitperspektive der Geschichte ist der Zusammenbruch der Sowjetunion wohl unvermeidlich, aber unter den Gründen dafür œ wenn es tatsächlich dazu kommen sollte œ, sind sicherlich die sowjetischen ‡Siege— der siebziger Jahre zu nennen, die die amerikanischen Hardliner so aufgeregt haben. Wie schon das Britische Empire hat das sowjetische Weltreich nun eine viel zu große Ausdehnung erreicht, um von der heimischen Wirtschaft aufrechterhalten werden zu können, und daher muß jetzt der Rückzug beginnen. Der Rückzug der sowjetischen Macht, und vielleicht die Auflösung der Sowjetunion selbst, wird in der Welt zu großer Instabilität führen und dem Westen hohe Kosten aufbürden. Die Sowjetunion hat erkannt, daß die Kosten der Hegemonie untragbar sind, und überträgt sie den USA und West-Europa. Wenn sich die Sowjetunion aus Mosambik und Angola, Afghanistan und Nicaragua, Äthiopien und Kuba zurückzieht, werden die Amerikaner von ihren Verbündeten plötzlich erhebliche Rechnungen präsentiert bekommen. Die Unita, die Contras, die Mujaheddin und welche Regierung auch immer in Maputo œ sie alle werden nach amerikanischer Hilfe rufen, um mit dem Chaos, das sie erben, fertig zu werden. Es kostet viel mehr, ein -20-
Imperium von innen zu verteidigen als es von außen zu untergraben, und viel mehr, ein zerstörtes Land wieder zu Wohlstand und Stabilität zurückzuführen als es zu ruinieren. Angola und Mosambik, Äthiopien und Indochina spielen in den wahren Interessen von West-Europa und den USA nur eine Nebenrolle. Europa ist der Schauplatz der wichtigsten Konsequenzen des sowjetischen Rückzuges. Der ganze Kontinent muß mit den politischen Problemen der neuerdings unabhängigen Nationen im Osten fertigwerden, allem voran mit der deutschen Wiedervereinigung. In weniger als einem Jahr wurde eine vage, weit entfernte Möglichkeit zur Gewißheit, zur wichtigsten Frage in Europa. Man kann sich kaum eine bessere Gelegenheit dafür vorstellen, und auch jede weitere Verzögerung hätte die Wiedervereinigung nicht leichter gemacht. Natürlich werden Deutschlands Nachbarn dieses Ereignis nicht eben begrüßen, aber 45 Jahre nach dem Ende des Krieges haben diese Nachbarn, die beiden Super-Mächte und außenstehende querulierende Beobachter wie die britische Premierministerin Thatcher in der Sache nichts mehr mitzureden. Sie konnten nur noch zustimmen und sich über die Tatsache freuen, daß die DDR-Bürger ihr Selbstbestimmungsrecht auf diese Weise wahrgenommen haben, während die West-Deutschen den Lohn der Demokratie einfordern. Als sich Anfang 1990 die SED auflöste, wurde es offensichtlich, daß die Russen zuletzt doch ihrer Paranoia, diesem Erbe Stalins, entronnen waren, zumindest im Fall der DDR. Im Atomzeitalter gibt es keine Möglichkeit, daß ein wiedervereinigtes Deutschland Europa und die Welt gefährden könnte wie einst das Dritte Reich. Rußland wird in irgendeiner Form weiterbestehen und immer stärker als Deutschland sein. Aber es ist alles eine Frage der Sichtweise: Die Sowjetunion hat mehr als vier Jahrzehnte über ein revanchistisches Deutschland phantasiert, auch als sie selbst längst zur Supermacht aufgestiegen war. Aber dann bewiesen Gorbatschow und Glasnost, daß das Volk der Sowjetunion weiser ist, als die Propaganda hatte wahrhaben wollen: Vom Westen droht keine Gefahr, und das Volk der Sowjetunion wußte es. Die Frage war in dem Augenblick erledigt, als ein Rotarmist die Hammer-und-Sichel-Fahne auf dem Brandenburger Tor aufpflanzte. -21-
Im Juli 1989 nahm Gorbatschow in einer Rede vor dem Europarat offiziell Abschied von der Breschnjew-Doktrin. Er sagte: ‡Jede Einmischung in innere Angelegenheiten und jeder Versuch, die Souveränität von Staaten œ Freunden, Verbündeten oder anderen œ einzuschränken, ist unzulässig.— Er schloß ‡die Möglichkeit von Gewaltanwendung oder ihrer Androhung œ Bündnis gegen Bündnis, innerhalb eines Bündnisses oder sonstwo ...— aus, und Osteuropa verstand die Botschaft. Sechs Wochen später übernahm die ‡Solidarität— die polnischen Regierungsgeschäfte, und in den folgenden vier Monaten wurden weitere fünf kommunistische Regierungen hinweggefegt, ohne daß die Sowjetunion sich eingemischt hätte. Die Sowjetunion hat zwar ihre osteuropäischen Satelliten kampflos in die Freiheit entlassen, aber das bedeutet noch nicht, daß der Kommunismus in der UdSSR ebenso leicht aufgeben wird. Gorbatschow und seine Reformer versuchen, einen geordneten Rückzug anzutreten. Paradoxerweise macht ihr Erfolg den Ausbruch einer Reihe von Bürgerkriegen wahrscheinlich. Wenn die Regierung in Moskau zusammenbricht, wie schon 1917, werden die äußeren Republiken ihre Unabhängigkeit erklären, und nichts wird sie aufhalten können. Wenn aber die Zentralregierung überlebt, auch falls es eine nichtkommunistische Regierung sein sollte, wird sie vielleicht um den Erhalt des von den Zaren geerbten Reiches kämpfen. Russische Nationalisten könnten sehr wohl fordern, daß den Unabhängigkeitsbestrebungen in Litauen oder Aserbeidschan Einhalt geboten wird, da es andernfalls unweigerlich zur Abspaltung der Ukraine käme. Gorbatschow ist vielleicht der Kerenskij einer neuen Revolution, aber diesmal befehligt die Regierung ein enormes militärisches Potential, schwer bewaffnete und disziplinierte Soldaten, anders als die Heerhaufen von 1917, ganz zu schweigen vom Atomwaffenarsenal. Der Niedergang eines Weltreiches ist immer gefährlich und führt selten zu dem ruhigen Aufschwung, den die Feinde des Reiches vorhersagen. Es ist äußerst unwahrscheinlich, daß sich der Zerfall des größten aller Imperien des 20. Jahrhunderts friedlich vollziehen wird. Patrick Brogan -22-
VORBEMERKUNG
QUELLEN Quellen und weiterführende Werke sind am Ende zu einem Literaturverzeichnis zusammengefaßt. Drei Publikationsreihen waren für dieses Buch besonders nützlich. Erstens die Country Studies der American University in Washington D. C., die für das Pentagon erstellt werden. Jeder Band enthält eine ausführliche Bibliographie. Zweitens die Berichte von Amnesty International über Menschenrechtsverletzungen und drittens die Berichte der Minority Rigths Group. Ich habe reichen Gebrauch von Korrespondentenberichten gemacht: The New York Times, The Washington Post, The New Yorker, The Times, Guardian, Observer und Independent und zahlreiche andere Publikationen waren die Quellen. Die Bevölkerungs- und Bruttonationalproduktszahlen (BSP) basieren hauptsächlich auf den Angaben der Weltbank. In Ländern wie Kambodscha und Afghanistan sind die BSP-Zahlen das Ergebnis von Schätzungen. Die Veränderungen des Dollarkurses mögen zu differierenden Zahlen führen, aber insgesamt ergeben sie ein anschauliches Bild der Einkommensverhältnisse. Die Flüchtlingsstatistiken stammen vom US Committee for Refugees. Diese Kommission legt einen sehr strengen Maßstab an den Flüchtlingsstatus an, der auf der Notwendigkeit von Schutz und Hilfe beruht. Daher schließen diese Zahlen all jene Geflohenen nicht ein, die sich in ihren Aufnahmeländer bereits integriert haben, wie die indochinesischen und kubanischen Flüchtlinge in den USA. Zahlen, die mit einem Stern gekennzeichnet sind (*), werden von den Aufnahmeländern in Frage gestellt, meistens aus politischen Gründen. ANHANG 1 listet die Kriege seit 1945 auf, dazu die geschätzten Opferzahlen. Die Grundlage dieser Schätzungen wird dort erläutert. ANHANG II faßt die Staatsstreiche, ANHANG III die Attentate im selben Zeitraum zusammen. Ich habe die Kriege analysiert, die die Welt von heute in Unruhe halten, also auch eine Zahl von Kriegen und Rebellionen, die zwar der Vergangenheit angehören, deren Auswirkungen aber noch immer das -23-
Geschehen beeinflussen. So habe ich zum Beispiel den Algerienkrieg nicht beschrieben œ er ist aus und vorbei und nur mehr Teil der algerischen und französischen Geschichte. Der Korea-Krieg hingegen findet hier Beachtung, da die Probleme, die er hinterlassen hat, ungelöst sind. Einige Kapitel behandeln Länder, von denen zu befürchten ist, daß sie in naher Zukunft von ernsthaften Krisen erschüttert werden. Den Themen ‡Drogenkrieg— und ‡Terrorismus— sind eigene Kapitel gewidmet. Alle Namen, Daten und Fakten sind mit größter Sorgfalt zusammengetragen, aber ich bin dem aufmerksamen Leser für jede Korrektur meiner Irrtümer dankbar. NAMEN Bei einer großen Zahl von Ländern, Städten und geographischen Begriffen haben sich im Lauf des 20. Jahrhunderts die Namen geändert, öfters mehr als einmal. Dahinter steckt meistens eine politische Ursache: aus Rußland wurde die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, eine Veränderung von besonderer politischer Bedeutung. Saigon wurde Ho Tschi Minh Stadt, St. Petersburg zunächst Petrograd und dann Leningrad. In ganz Afrika veränderten sich die Namen aus der Kolonialzeit: Leopoldville wurde Kinshasa, Lourenco Marques wurde Maputo und so weiter. Manchmal gibt es auch linguistische Ursachen: So änderten die Chinesen, um endlich ein einheitliches Transkriptionssystem ihrer Schrift in westliche Sprachen zu erreichen, die verbreitete Transkriptionsweise 1975 durch einen Erlaß. In diesem neuen PinyinSystem wurde Mao Tsetung in Mao Zedong umgeschrieben, aus Peking wurde Beijing. In der Weit von heute symbolisiert der Gebrauch des Namens oft eine politische Einstellung. Zwischen 1975 und 1978 nannte die Regierung von Kambodscha das Land ‡Demokratisches Kampuchea—. Wer diesen Namen heute noch verwendet, signalisiert zumindest eine stillschweigende Form der weiteren Anerkennung des Pol PotRegimes. Die Türken auf Zypern nennen ihren Teil der Insel ‡Republik Nord-Kibris—. Was die Briten Nordirland nennen, heißt bei den Protestanten Ulster und bei den katholischen Iren ‡Six Counties—. -24-
Seit Jahrzehnten sprechen Araber nicht von Israel, sondern vom ‡besetzten Palästina—. Bei der Darstellung historischer Ereignisse ist es notwendig, die dem jeweiligen Zeitraum entsprechenden Begriffe zu benützen, um Anachronismen und Verwirrung zu vermeiden, gerade dann, wenn die Namensgebung politisch bedeutsam ist. Das heutige Simbabwe war bis 1965 Süd-Rhodesien, von 1965 bis 1980 Rhodesien, und ganz kurze Zeit Simbabwe-Rhodesien. Die Zentralafrikanische Republik war einige Jahre das Kaiserreich Zentralafrika, und aus Ciudad Domingo wurde Ciudad Trujillo. So bedeutet beispielsweise die Verwendung dieser Namen in diesem Buch, daß sich der Text auf die Regierungszeiten von Kaiser Bokassa I. und Generalissimo Rafael Leonidas Trujillo bezieht.
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AFRIKA
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ANGOLA
Geographie: Fläche: 1.246.700 km2, das ist mehr als Spanien, Portugal, Frankreich und die Benelux-Staaten zusammen. Die kleine Exklave Cabinda nördlich des Zaire (Kongo) liefert den Großteil des angolanischen Erdöls. Bevölkerung: 8,9 Millionen, davon 2 Millionen Ovimbundu in Zentralund Süd-Angola, 1,5 Millionen Kimbundu im Nordwesten des Landes um die Hauptstadt Luanda und 700.000 Bakongo im Norden. Die meisten Bakongo leben in Zaire und Kongo. BSP: 772 $/Einw. Rohstoffe u. a.: Erdöl, Diamanten, Kaffee, Eisenerz, Holz, Sisal, Mais. Flüchtlinge: In Angola: 74.000 aus Namibia, 12.300 aus Zaire, 9.400 aus Südafrika. Im Ausland: 310.000 in Zaire, 94.000 in Sambia. Parteien: œ MPLA ‡Movimento Populär de Libertacâo de Angola— (Nationale Befreiungsfront für Angola). Die marxistische Partei findet ihre Hauptunterstützung im Kimbundu-Stamm im nördlichen ZentralAngola. Gegründet 1956. Die MPLA gewann den Bürgerkrieg von 1975/76 und stellt derzeit die Regierung. Sie wird von der UdSSR und Kuba unterstützt. œ FNLA ‡Frente Nacional de Libertacâo de Angola— (Nationale Befreiungsfront für Angola). Gegründet 1960 von Holden Roberto. 1961 spaltete sie sich wegen Stammesstreitigkeiten. Der große Teil stützt sich auf den Stamm der Bakongo in Nord-Angola und Zaire. Wird von Zaire unterstützt. œ Unita ‡Uniao Nacional para a Independencia Total de Angola— (Nationale Union zur vollständigen Unabhängigkeit Angolas). 1966 von Jonas Savimbi als Abspaltung der FNLA gegründet. Sie stützt sich auf den Stamm der Ovimbundu, den größten in Angola, der hauptsächlich in Zentral- und Süd-Angola lebt. Seit seiner Niederlage von 1975/76 führt Savimbi den Bürgerkrieg von seiner Stammesheimat aus weiter, unterstützt von den USA und Südafrika. Verluste: Im Kolonialkrieg 1961-1975 starben rund 90.000 Menschen, im Bürgerkrieg und im Kampf gegen Ausländer 1975/76 waren es -27-
rund 50.000, seit 1976 mehr als 150.000 Tote. Alle diese Angaben beruhen auf vagen Schätzungen. Angola ging, wie Mosambik, aus dem 15 Jahre dauernden revolutionären Kampf gegen den portugiesischen Kolonialismus (1961-1975) direkt in einen Bürger- und Stammeskrieg über, der seither andauert. Die MPLA-Regierung, unterstützt durch 30.000 55.000 kubanische Soldaten und massive Lieferungen der UdSSR, kämpfte gegen die Unita von Jonas Savimbi, der wiederum von Südafrika und den USA unterstützt wird. Unter dem Vorbehalt eines Waffenstillstandsabkommens, von Angola, Kuba und Südafrika im August 1988 grundsätzlich beschlossen und im Dezember unterzeichnet, zog Südafrika seine Truppen aus Angola ab, und Kuba sicherte zu, seine Soldaten etappenweise bis Juli 1991 zurückzuholen. In der Zwischenzeit gibt es zwar einen Defacto-Waffenstillstand zwischen Kuba und der Unita, nicht aber zwischen Unita und MPLA. Dieses Abkommen hat, zumindest derzeit, den Konflikt zwischen Kuba und Südafrika beendet, aber die meisten übrigen Fragen bleiben dennoch offen. So wie in Mosambik haben die Massenauswanderung der portugiesischen Siedler, der Krieg und die marxistisch orientierte unfähige Regierung die Wirtschaft des Landes ruiniert œ mit Ausnahme der Ölindustrie. Im wirtschaftlichen und sozialen Bereich hat das Regime von seiner Anlehnung an die Sowjetunion wenig profitiert. Angola bekam nur minimale Wirtschaftshilfe, und die Erlöse der Erdölfelder mußten für die Bezahlung der kubanischen Söldner und der sowjetischen Waffen aufgewendet werden. (Damit verschlingt der Krieg rund 70 % des Staatshaushaltes.) Wenn sich die Kubaner tatsächlich zurückziehen, wird die Regierung möglicherweise völlig zusammenbrechen. In den achtziger Jahren wurde Angola zum Exerzierplatz der ideologischen Auseinandersetzung zwischen der UdSSR und den USA. Eigentlich hat keines der beiden Länder wirkliches Interesse an Angola, weder wirtschaftlich noch strategisch oder politisch. Wenn Kuba sich zurückzieht, dann deshalb, weil die UdSSR die Lust an diesem Abenteuer verloren hat. Die Sowjetunion hat Milliarden in die MPLA hineingepumpt, weit mehr als die USA in die Unita, aber der Gewinn für sie ist gleich Null. -28-
GESCHICHTE Die Kolonisierung Angolas durch die Portugiesen begann 1575. Damals errichteten sie eine Festung an der Küste, aus der später Luanda hervorging. Die Portugiesen regierten das Land vier Jahrhunderte lang mit einer Mischung aus Unfähigkeit und Grausamkeit. Ehe die britische Kriegsmarine den Sklavenhandel unterband, hatte Portugal rund 3 Millionen Sklaven von Angola nach Brasilien verschleppt. Portugal hat seine afrikanischen Kolonien bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts völlig vernachlässigt. Als dann das übrige Afrika auf die Unabhängigkeit zusteuerte, erhöhte Portugal seine Investitionen in Angola und Mosambik œ mit der Hoffnung, durch die Verpflanzung portugiesischer Bauern nach Afrika ein neues Brasilien zu schaffen. Ungefähr 300.000 Portugiesen wurden in Afrika angesiedelt. Wie in allen anderen Teilen Afrikas entwickelten sich auch in Angola Unabhängigkeitsbewegungen, angeführt von Angehörigen der dünnen Schicht gebildeter Afrikaner. 1956 wurde die MPLA gegründet, 1960 die FNLA. Der Krieg gegen Portugal erschien 1961 erstmals realistisch, da die FNLA nach der 1960 errungenen Unabhängigkeit des Belgisch-Kongo (Zaire) dort Stützpunkte fand. Ihre Mitglieder kamen hauptsächlich aus dem Stamm der Bakongo, der auch in Zaire die Mehrheit bildet. Der Aufstand begann im März 1961. Ungefähr 700 Weiße wurden getötet, davon waren viele Siedler, die auf ihren Farmen massakriert wurden. Die portugiesische Armee und die Siedlermilizen der Weißen warfen den Aufstand innerhalb von sechs Monaten mit großer Brutalität nieder. Dabei kamen rund 20.000 schwarze Angolaner ums Leben. Die Ereignisse von 1961 waren für die portugiesische Regierung unter Antonio Salazar ein Schock, und sie führten zu einer Reihe von Reformen. Es stand allerdings nicht zur Diskussion, ob Portugal sich, wie andere europäische Länder, aus seinen Kolonien zurückziehen würde. 1963 brach der Guerillakrieg in Portugiesisch-Guinea aus, 1964 in Mosambik. Die FNLA wurde von der kongolesischen Regierung und der CIA -29-
unterstützt. Ihr Anführer Holden Roberto war allerdings kein durchschlagskräftiger Mann œ unter anderem schätzte er die Annehmlichkeiten des Lebens in Leopoldville zu sehr. Einer seiner Stellvertreter, Jonas Savimbi, löste sich 1966 von der FNLA und bildete die Unita, die sich auf den Stamm der Ovimbundu stützt, Unita-Kämpfer drangen allmählich in Ost-Zentral-Angola ein. Die andere Rebellengruppe, die marxistische MPLA, wurde 1956 von exilierten angolanischen Intellektuellen gegründet. Ihr Führer Dr. Agostinho Neto war Arzt und Dichter, und sein wichtigster Beitrag war, 1965 Che Guevara zu treffen und die Unterstützung der Kubaner für eine marxistische Revolution in Angola zu gewinnen. Aber obwohl die Kubaner zahlreiche MPLA-Guerillas ausbildeten, blieb sie eine ineffiziente und erfolglose Kampftruppe. Sie hatte ihre Stützpunkte in Zaire, schaffte aber den Durchbruch zu den BakongoGebieten im Norden und dem Stamm der Kimbundu nicht. Diese Gebiete wurden von starken portugiesischen Kräften unter Kontrolle gehalten. 1966 versuchte die MPLA von Sambia aus eine Offensive, die völlig fehlschlug. Die portugiesische Armee fand in ihrem heftig geführten Kampf gegen die Aufständischen die Unterstützung von Südafrika und der Regierung Ian Smith‘ in Rhodesien. Portugal gewann den Krieg in Angola: Die drei untereinander verfeindeten und unorganisierten Guerillaorganisationen waren keine ernstzunehmende Gefahr. Aber in Guinea verlief der Krieg anders, und 1974 wurde er in Mosambik zu einer unerträglichen Belastung der portugiesischen Wirtschaft. Die jüngeren Armeeoffiziere erkannten, daß der Kolonialkrieg nicht gewonnen werden konnte, und am 25. April 1974 übernahmen junge Offiziere in der unblutigen ‡Nelkenrevolution— die Macht in Lissabon. Sie kündeten an, alle portugiesischen Kolonien umgehend in die Unabhängigkeit zu entlassen. In Angola kamen die Rebellen aus dem Busch und steckten ihre Grenzen für die Zukunft ab. Die Portugiesen versuchten, eine Koalitionsregierung der drei Revolutionsparteien zu bilden. Roberto, Neto und Savimbi wurden nach Portugal gebracht und unterzeichneten am 15. Januar 1975 das Alvor-Abkommen. Darin wurde festgehalten, daß die drei eine Koalitonsregierung bilden würden; für den Oktober -30-
wurden Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung angesetzt. Die Unabhängigkeit sollte am Waffenstillstandstag, dem 11. November 1975 beginnen, 400 Jahre nach der ersten Ankunft der Portugiesen in Angola und genau 10 Jahre nach dem Tag, an dem Ian Smith die Unabhängigkeit Rhodesiens ausgerufen hatte. Die drei stimmten überein, ihre militärischen Positionen nicht zu verändern, und jeder Partner sollte für eine neue nationale Armee 8.000 Soldaten beistellen. Die neue Regierung trat am 31. Januar 1975 ihr Amt an, und schon am nächsten Tag brachen zwischen der MPLA und der FNLA Kämpfe aus. Keine der drei Gruppen zeigte die ernsthafte Absicht, mit den anderen zu kooperieren. Holden Roberto hatte seine Armee mit Hilfe von Präsident Mobutu aus Zaire aufgebaut und im Sommer davor die Unterstützung der Chinesen erlangt, während er zur gleichen Zeit seine früheren Kontakte zu den Amerikanern pflegte. Anfang 1975 kommandierte er ungefähr 15.000 Mann. Die MPLA, die zur Zeit der Revolution in Portugal nur rund 3.000 Männer hatte, suchte Hilfe bei ihren Freunden in Kuba. Die UdSSR witterte die Chance, Amerikaner und Chinesen zugleich in die Bredouille zu bringen und begann sofort mit Waffenlieferungen. Die MPLA wurde auch von einer Gruppe Katanga-Gendarmen unterstützt; diese waren nach dem gescheiterten Kampf um die Unabhängigkeit der kongolesischen Provinz Katanga und dem Sturz von Moise Tschombe vertrieben worden und haßten den Staat Zaire und seinen Präsidenten. Savimbi fand zwar in der Bevölkerung die meiste Unterstützung, da sein Stamm der größte in Angola war, aber seine Streitmacht war mit ungefähr 1.000 Mann die kleinste. Er wurde von Sambia und Tansania unterstützt; zunächst brachte er aber die übrigen portugiesischen Siedler auf seine Seite, später auch die USA und Südafrika. Der Bürgerkrieg breitete sich rasch aus. Bald entsandte Kuba 250 Berater, die in Angola Ausbildungslager für die MPLA errichteten. Diese Partei hatte den großen Vorteil, daß ihre Hauptunterstützung vom Stamm der Kimbundu kam, die Luanda und dessen Hinterland beherrschten. Im Juli 1975 vertrieb die MPLA die FNLA und die Unita aus Luanda, und die Koalitionsregierung brach zusammen. Ungefähr 20.000 Menschen starben in diesen Kämpfen. Innerhalb von sechs Monaten flüchteten die verbliebenen 300.000 portugiesischen -31-
Siedler, und Angola versank in der völligen Anarchie. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die USA nicht ernsthaft in den Konflikt verwickelt, und Kuba und die Sowjetunion hatten zwar die MPLA unterstützt, aber keine weitergehenden Interessen gezeigt. Nach den JuliEreignissen allerdings stiegen beide Seiten in den Ring. Die USA hatten eben in Vietnam das Ende eines zwanzigjährigen Engagements erlebt. Außenminister Henry Kissinger behauptete, daß die Etablierung einer kommunistischen Regierung in Angola als eine weitere Niederlage der Vereinigten Staaten betrachtet werden könnte und versuchte alles, das zu verhindern. Die CIA begann œ über Sambia und Zaire œ umfangreiche Waffenlieferungen an die Unita und die FNLA. Die UdSSR reagierte mit Schiffsladungen voller Waffen an die MPLA, was durch die Küstenlage Luandas wesentlich erleichtert wurde. Am Unabhängigkeitstag startete die FNLA von Norden und Osten einen Angriff auf die MPLA. Die Unita, unterstützt von südafrikanischen gepanzerten Einheiten, griff von Süden an und kam bis Novo Redondo, 186 Kilometer südlich von Luanda. Zusätzlich unternahm Mobutu aus Zaire einen œ erfolglosen œ Angriff auf Cabinda. Die FNLA- und Unita-Einheiten wurden von einer gemischten Truppe von MPLA und kubanischen Soldaten unter sowjetischem Kommando besiegt. Als sie auf Luanda vorrückten, flog Kuba 15.000 Soldaten ein, und die Sowjetunion lieferte gewaltige Mengen Waffen, darunter auch schwere Artillerie und Mehrfachraketenwerfer, die ‡Stalin-Orgeln—. Die amerikanische Unterstützung hielt sich durchaus in Grenzen (der US-Kongreß zeigte wenig Neigung, so kurz nach dem Vietnamfiasko wieder in einen Krieg verwickelt zu werden), und Südafrika wollte sich nicht mit der Sowjetunion anlegen. Der südafrikanische Verteidigungsminister P. W. Botha verkündete, daß ihn die amerikanische Doppelzüngigkeit um den Sieg gebracht habe, und schwor Rache. Später wurde er Staatspräsident von Südafrika, ehe er 1989 zurücktrat. Die angreifenden Armeen wurden zurückgeschlagen. Die letzte Stellung der FLNA fiel am 11. Februar 1976, und am selben Tag nahm die MPLA auch Huambo ein, die ‡Hauptstadt— von Savimbi in -32-
der Mitte des Landes. Die Südafrikaner zogen sich eilig zurück. Die MPLA schien einen vollständigen Triumph zu feiern. Im Verlauf dieses Debakels ließ der Kommandant einer Gruppe weißer Söldner der auf Zypern geborene britische Soldat Costas Georgiou, der unter dem Namen Oberst Callan kämpfte œ 14 seiner Männer wegen Feigheit vor dem Feind exekutieren. Er wurde später gefangengenommen und zusammen mit einem Amerikaner und zwei britischen Söldnern hingerichtet. Auch Söldner aus Belgien, Portugal und Frankreich, darunter Oberst Bob Denard, nahmen an den Kämpfen teil; aber auch sie konnten den Verlauf der Ereignisse nicht ändern. DER GUERILLAKRIEG SEIT 1976 Während die FNLA zerfiel, trat Jonas Savimbi mit seinen UnitaEinheiten den geordneten Rückzug in den Busch an, um den Kampf fortzusetzen. Im Dezember 1975 verabschiedete der US-Kongreß ein Gesetz, das dem Präsidenten jede geheime Unterstützung der Unita untersagte, und Savimbis frühere Alliierte in Sambia und Tansania ließen ihn im Stich und anerkannten die MPLA-Regierung in Luanda. So wandte er sich an die weißen Regierungen in Rhodesien und Südafrika um Hilfe. Diese Verbindung brachte ihm einige Probleme ein, stärkte aber seine militärische Schlagkraft. Er errichtete einen dauerhaften Stützpunkt in Jamba, im äußersten Südosten von Angola, nahe der Grenze zu Namibia. Unter dem Schutz der südafrikanischen Luftwaffe wurde Jamba zu einer ausgedehnten Lagerstadt, mit Spitälern, Fabriken und großen Ausbildungseinrichtungen, alles sorgfältig getarnt. Savimbis Streitkräfte sind mittlerweile auf nahezu 30.000 reguläre Soldaten angewachsen, dazu kommen 35.000 Guerillakämpfer. Selbst ohne die Unterstützung von Südafrika (und später den USA) beherrscht die Unita einen genügend großen Teil des Landes, um daraus ihre Einnahmen zu sichern; nicht zuletzt kontrolliert sie einige von Angolas Diamantminen. Savimbi setzte die Taktik fort, die sich im Kampf gegen die Portugiesen bewährt hatte. Er schickte kleine Gruppen von Guerillas los, um Regierungsstützpunkte zu überfallen, -33-
Kommunikationsverbindungen zu unterbrechen, isolierte Regierungstruppeneinheiten anzugreifen und Sabotageanschläge auf wirtschaftlich bedeutende Einrichtungen zu verüben. Am Anfang kochte dieser Krieg auf kleiner Flamme œ die MPLA war vollauf beschäftigt, sich in Luanda einzurichten, und die Kubaner bildeten eine Armee aus, während Savimbi im Busch seine Streitmacht aufstellte. Als schließlich seine militärischen Operationen umfangreicher wurden und auch die Regierung sich zum Kampf bereit fühlte, entwickelte der Krieg bald eine regelrechte Struktur. Jedes Jahr in der Dürreperiode griffen angolanische Truppen Jamba an, und regelmäßig wurden sie von Unita und Südafrikanern zurückgeschlagen. Zur selben Zeit weitete die Unita ihre Aktionen in Zentral-Angola beträchtlich aus; in der Heimat des Ovimbundu-Stammes fand sie sicheren Rückhalt. In dieser Region ist die Benguela-Eisenbahn von großer wirtschaftlicher Bedeutung. Sie führt von den Kupferminen in Zaire nach Benguela an der angolanischen Küste. Während einer Offensive im Januar 1988 verkündete die Unita, daß nunmehr die Eisenbahnlinie in voller Länge unter ihrer Kontrolle stünde, von den Bergen hinter Benguela bis zur Grenze von Zaire œ allerdings ohne die größeren Städte. Wenn es der Unita gelänge, diese Gebietsgewinne zu konsolidieren, würde sie den Großteil des Landes kontrollieren, und die MPLA bliebe auf ein Gebiet längs der Küste und im Norden zurückgedrängt. Auf der Landkarte ergäbe das ein eindrucksvolles Bild, aber die Unita war noch nicht für einen Stellungskrieg gerüstet, mit schweren Waffen gegen die MPLA, ganz zu schweigen von den Kubanern. Würde sie Städte erobern und zu halten versuchen, müßten sie gegen die Gegenangriffe der Regierungstruppen verteidigt werden, und dann hätte die weit besser ausgerüstete Regierungsarmee die militärischen Vorteile auf ihrer Seite. Von dem Zeitpunkt in den späten siebziger Jahren, da die Unita erstmals eine ernsthafte Bedrohung für die Regierung darstellte, bis in das Jahr 1988, war die militärische Situation ein ziemliches Patt. Die MPLA konnte, mit der Unterstützung der Kubaner, eine Offensive nach der anderen gegen Jamba unternehmen, die Stadt aber nicht erobern. Noch weniger konnte sie die Unita-Kämpfer im endlosen Busch des östlichen und zentralen Angola ausrotten. Auf der anderen -34-
Seite mochten Savimbi und seine Verbündeten ihre Kontrolle über weite Landesteile ausdehnen, aber ohne Luanda einzunehmen, konnten sie den Krieg niemals gewinnen, und das war so lange nicht möglich, als die UdSSR die MPLA unterstützte. AUSLÄNDISCHE INTERVENTION Kuba unterstützte Angola mit Ausbildern logistisch und technisch œ einschließlich 9.000 Lehrern, Ärzten und anderen Spezialisten. Bis zu den Kämpfen zu Beginn des Jahres 1988 beteiligten sich die kubanischen Truppen aber normalerweise nicht an den Kämpfen. Dennoch galt der Dienst in Angola als hart und wurde zunehmend unbeliebt. Das war Castros Beitrag zur sowjetischen Außenpolitik. Obwohl die Angolaner verpflichtet waren, für die kubanische Söldnertruppe zu bezahlen œ in US-Dollar aus den Erdölerlösen œ war der Feldzug für Castro kein Geschäft. Ein kubanischer Überläufer, General Rafael del Pino, der im Mai 1987 in die USA flüchtete, behauptete, daß die Kubaner in Angola 10.000 Männer verloren hätten, darunter einige tausend Gefallene. Er sagte, daß der Krieg in Kuba äußerst unpopulär sei und daß nur Fidel Castro und sein Bruder Raul an den Sieg glaubten. Die Sowjets verstrickten sich in Angola ebenso wie im übrigen Afrika ohne vorherige Berechnung der Kosten und des Nutzens der Unternehmung. Die Kosten stellten sich bald als enorm heraus œ der Vorteil als Null. Seit 25 Jahren führte Südafrika einen Kleinkrieg gegen die SWAPO (‡South-West Africa People‘s Organization—), die um die Unabhängigkeit von Namibia kämpfte, und gleichzeitig bekämpfte Südafrika den ANC (‡African National Congress—), die bedeutendste Guerillagruppe in Südafrika. Die SWAPO hatte ihre Basis in Lobango in Süd-Angola, und der ANC konnte sich auf rund 9.000 Südafrikaner stützen, die nach Angola geflüchtet waren. Südafrika hat im südlichen Angola eine Sicherheitszone errichtet, die es mit Hilfe der Unita kontrolliert. In diesem Gebiet liegt ein riesiges Wasserkraftwerk, das noch in der portugiesischen Ära errichtet worden ist, und außerdem möchte Südafrika entlang der Grenze eine kampffreie Zone einrichten. -35-
Südafrika sorgte auch mit Flugzeugen und Artillerie für die notwendige Unterstützung, um die wiederholten angolanischen Angriffe gegen Jamba zurückzuschlagen, und im November 1987 stattete Präsident Botha einen offiziellen und vielbeachteten Besuch bei Savimbi ab. Die USA begannen ihre Unterstützung der Unita bald nach Präsident Reagans Amtsantritt im Januar 1981. Die Regierung setzte die Aufhebung des Kongreßbeschlusses von 1975 durch. Es war eine problematische Entscheidung. Südafrika hatte bereits 1978 der Unabhängigkeit Namibias zugestimmt, und die letzten Details wurden im Januar 1981 auf einer Konferenz in Genf festgelegt. Aber im November 1980 hatte Reagan die Präsidentenwahlen gewonnen, zum Teil sicherlich aufgrund seiner Versprechungen, die kommunistischen Eroberungen der vorangegangenen fünf Jahre zurückzuholen. Südafrika ließ das Abkommen über Namibia wie eine heiße Kartoffel fallen œ das Resultat: weitere leidvolle acht Jahre Krieg für Namibia und Angola. Die amerikanische Unterstützung der Unita lief nach anfänglichem Zögern bald voll an. Savimbi wurde bei einem Besuch in Washington im Januar 1986 wie ein Held empfangen. Am 30. Januar empfing er die ‡höchsten Weihen— œ ein formeller Besuch bei Präsident Reagan im Weißen Haus. Die Unita erhielt jährlich Waffenlieferungen im Wert von 15 Millionen Dollar, darunter ‡Stinger—-Boden-LuftRaketen und TOW-Panzerabwehrraketen. Wie in Afghanistan und Nicaragua rief diese bescheidene Investition der Amerikaner eine gewaltige sowjetische Reaktion hervor: Mitte der achtziger Jahre pumpten die Sowjets jährlich mehr als eine Milliarde Dollar in Angola hinein, um die kubanischen und angolanischen Truppen kampffähig zu erhalten. Für die USA bedeutete die Unterstützung Savimbis ein höchst preiswertes Instrument, Druck auf die Sowjetunion auszuüben œ eine Umkehrung der Situation in Vietnam. Aber nicht alle Amerikaner sind mit dieser Politik einverstanden. Savimbi kam im Juni 1988 wieder in die Vereinigten Staaten, als der Präsidentschaftswahlkampf auf seinem Höhepunkt war. Am 27. Juni besuchte er wieder Präsident Reagan, aber seine Hauptanliegen mußte er den Demokraten vortragen. Und zu seiner großen Bestürzung wurde er von Jesse Jackson, dem schwarzen Spitzenpolitiker der -36-
Demokraten, offen als Werkzeug der Südafrikaner angegriffen. Obwohl die USA die angolanische Regierung niemals anerkannt haben, sind sie der Haupthandelspartner des Landes. Die amerikanischen Ölkonzerne Chevron (Gulf) und Texaco machen glänzende Geschäfte œ im Schutz kubanischer Soldaten œ, und Angola hatte 1986 gegenüber den USA einen Exportüberschuß von 642 Millionen Dollar, mit denen das Land Waffen und Industrieanlagen erwarb. Das ist eine der Merkwürdigkeiten der Welt von heute. Südafrikanische Kommandotruppen griffen im Mai 1985 die Chevron-Anlagen in Cabinda an, wurden aber von den Kubanern zurückgeschlagen; dabei wurden zwei Südafrikaner getötet und einer gefangengenommen. Die UNO versuchte immer wieder zu vermitteln, um die Unabhängigkeit für Namibia und gleichzeitig den Rückzug der Kubaner aus Angola durchzusetzen. Jahrelang verliefen alle Konferenzen ohne Erfolg. Der amerikanische Unterstaatssekretär für Afrika im Kabinett Reagan, ehester Crocker, machte sich das Friedensabkommen im südlichen Afrika zur persönlichen Aufgabe. Seine Anstrengungen blieben erfolglos œ bis zum späten Frühjahr 1988. DER DURCHBRUCH 1987 begann die MPLA eine neue Offensive gegen Mavinga, eine Schlüsselstellung in der Verteidigung von Savimbis Hauptstadt Jamba. Daraufhin entsandte Südafrika zum ersten Mal seit 1975 große Truppenkontingente und Artillerieeinheiten in den Norden zur Unterstützung der Unita. Die angolanische Armee wurde im September in einer gewaltigen Schlacht am Lumba-Fluß besiegt, und dann traten Savimbis Truppen zum Gegenangriff auf die MPLA und die Kubaner in ihrem letzten Stützpunkt im Südosten, Cuito Cuanavale, an. Eine Zeit lang sah es so aus, als würde die Unita ihre Gegner überhaupt aus dem südlichen Angola hinausdrängen. Savimbi belagerte Cuito Cuanavale einige Monate lang und konnte dabei auf die Unterstützung, südafrikanischer Langstreckengeschütze zählen. Er behauptete zwar, die Stadt eingenommen zu haben, aber die Angolaner und ihre kubanischen Verbündeten brachten Verstärkungen -37-
heran und hielten die Stellung. Castro sandte zusätzlich 12.000 Mann; im März 1988 wurde die Belagerung beendet, die Südafrikaner zogen ihre Truppen wieder aus Angola ab und ließen nur ein kleines Kontingent zur Kontrolle der ‡Sicherheitszone— längs der Grenze zurück. Die kubanischen Truppen rückten bis an die Grenze zu Namibia vor, und zum ersten Mal kam es zu ernsthaften Gefechten zwischen Kubanern und Südafrikanern im Grenzgebiet. Am 27. Juni 1988 fielen 12 südafrikanische Soldaten im Kampf gegen angolanische und kubanische Einheiten. Die Kubaner errichteten große Militär- und Luftstützpunkte im südlichen Angola œ gegenüber den südafrikanischen Basen in Namibia œ, und ein regulärer Krieg zwischen den beiden Armeen schien durchaus im Bereich des Möglichen. Die Verluste, die Kuba und Südafrika in diesen Gefechten erlitten, und die Aussicht auf weitere und heftige Kämpfe trugen wesentlich zum Entschluß bei, im August einen Waffenstillstand zu unterzeichnen. Die Entscheidung, die kubanischen Truppen zurückzuziehen, wurde allerdings nicht in Kuba gefaßt, sondern in Moskau. Die Sowjetunion, die zu dieser Zeit etwa 1.000 Militärberater in Angola stehen hatte, zog ihre eigenen Truppen aus Afghanistan zurück und drängte ihre vietnamesischen Verbündeten, Kambodscha zu räumen. Offensichtlich fiel da die Entscheidung, auch das verlustreiche Unternehmen in Angola zu beenden. Michail Gorbatschow hatte die Kernfrage gestellt: Welchen Sinn hatte es für die Sowjetunion, jährlich mehr als eine Milliarde Dollar in ein ewiges Patt im südlichen Afrika hineinzustecken? Die sowjetische Führung fand die Antwort im Frühjahr 1988, nach der plötzlichen Eskalation der Kämpfe in Angola. Auf dem Gipfeltreffen zwischen Reagan und Gorbatschow, im Dezember 1987 in Washington, war der sowjetische Generalsekretär gefragt worden, ob der Rückzug aus Afghanistan bedeuten würde, daß Angola als nächstes dran sei. Er bestand darauf, daß zwischen diesen beiden Vorgängen keine Verbindung bestünde œ außer dem Zufall, daß beider Länder Name mit A beginnt. Diese Aussage war einfach nicht wahr. Die Sowjets waren in Afghanistan viel tiefer verstrickt, moralisch und faktisch, und wenn sie sich aus Kabul zurückziehen konnten, dann erst recht -38-
aus Luanda. Aber zu diesem Zeitpunkt war die Entscheidung offensichtlich noch nicht getroffen. Anfang Juni 1988 flog Reagan nach New York, zum vierten Gipfeltreffen mit Gorbatschow. In einem Statement, das im Schlußcommuniqué unauffällig untergebracht war, vereinbarten sie, daß beide Seiten Anstrengungen unternehmen würden, in der Angola-Frage zu einer Lösung zu gelangen œ als Stichtag wurde der 29. September genannt, der zehnte Jahrestag der Resolution 435 des Weltsicherheitsrates, in der Südafrika aufgefordert wurde, Namibia freizugeben. In der Zwischenzeit hatten die diplomatischen Bemühungen, den Krieg zu beenden, Fortschritte gemacht. Nach einem Treffen in London im Mai kamen Vertreter von Angola, Kuba, Südafrika und der USA in Kairo zusammen, in New York und zuletzt in Genf. In New York wurde am 12. Juni ein Rahmenabkommen erzielt, das den Rückzug Kubas aus Angola und Südafrikas aus Namibia vorsah. Am 26. Juli verkündete Fidel Castro, daß die kubanischen Truppen schrittweise und vollständig abgezogen würden. Das Abkommen wurde am 5. August in Genf unterzeichnet und drei Tage später von den Regierungen von Südafrika, Kuba und Angola ratifiziert. Darin wurde ein Zeitplan für die Beendigung der Kriege in Angola und Namibia erstellt: œ Unverzüglich sollte ein Waffenstillstand zwischen kubanischen und südafrikanischen Truppen in Kraft treten und Südafrika seine in Angola verbliebenen 600 Soldaten bis Ende August abziehen. œ Weitere Verhandlungen sollten über die übrigen offenen Fragen stattfinden, darunter der exakte Zeitplan für den kubanischen Rückzug, die zukünftige Unterstützung der USA und Südafrikas für die Unita sowie die sowjetische und kubanische Unterstützung der MPLA, die angolanische Unterstützung des ANC, und die Finanzierung der aufzustellenden UNO-Friedenstruppen. œ Der UNO-Plan für die Unabhängigkeit Nambias sollte am 1. November in Kraft treten. Diese Entwicklung sollte zu Wahlen für eine verfassunggebende Versammlung in Namibia bis zum 1. Juni 1989 führen. Diese Versammlung sollte eine Verfassung entwerfen und das Datum für die Unabhängigkeit festlegen. œ Die Kubaner sollten sich aus Angola zurückziehen, aber Südafrika -39-
forderte, daß der Rückzug vor der Unabhängigkeitserklärung Namibias abgeschlossen sein müßte. Hiefür einen akzeptablen Kompromiß zu finden, dauerte weitere vier Monate. œ Südafrika sollte seine 50.000 Soldaten aus Namibia abziehen und nur 1.500 Mann in zwei südlichen Stützpunkten behalten. UNOTruppen in Stärke von 7.500 Mann sollten nach Namibia entsandt werden, um den Frieden zu sichern. Das Scheitern dieses ambitionierten Planes hätte niemanden überrascht. Der Schwachpunkt daran war nicht der zeitliche Ablauf; sollten sich wirklich die Kubaner aus Angola und die Südafrikaner aus Namibia zurückziehen, spielen die Details keine Rolle mehr. Die Hauptfrage war die nach der Ernsthaftigkeit dieser Absichten und bis zu welchem Ausmaß die beiden Länder in Zukunft die Unita und die angolanische Regierung unterstützen würden. Die verschiedenen Termine hatten keine Zauberkraft, und der 1. November als Stichtag wurde bald fallengelassen. Zunächst galt es vordringlich, den kubanischen Rückzug aus den vorgeschobenen Positionen längs der Grenzen durchzusetzen und zu gewährleisten, daß Südafrika nach dem kubanischen Rückzug nicht erneut in Angola einmarschieren würde. Diese Punkte wurden im Prinzip am 15. November in Genf beschlossen und von den drei Regierungen angenommen. Ungeachtet ihrer Zustimmung hat die MPLA eigentlich kein wirkliches Interesse am kubanischen Abzug, da sie befürchten muß, daß dann die Unita den Krieg gewinnen könnte. Aber die Sowjetunion und Kuba werden wohl den Wünschen der MPLA nicht mehr Gehör schenken als die Sowjets den Forderungen der afghanischen Regierung, oder Nixon und Kissinger den Bitten der südvietnamesischen Regierung 1972. Angola verweigerte direkte Verhandlungen mit der Unita, so wie die südvietnamesische Regierung Verhandlungen mit dem Vietcong abgelehnt hatte. Die Ernsthaftigkeit der Versprechungen Südafrikas, sich aus Namibia zurückzuziehen, wurde zur Zeit des Angola-Abkommens und in den folgenden Monaten angezweifelt, aber die Entkolonialisierung Namibias verlief friedlich. Die Wahlen in Namibia im November 1989 gewann die SWAPO, und am 21. März 1990 wurde das Land tatsächlich unabhängig. Es war offensichtlich, daß Südafrika alle -40-
Anstrengungen unternahm, in Namibia eine beherrschende Position zu behalten œ und ebenso, die ‡Frontstaaten— in wirtschaftliche Abhängigkeit zu bringen. Die politischen Veränderungen in Südafrika, die Präsident de Klerk bewirkte œ die Legalisierung des ANC und die Freilassung Nelson Mandelas œ haben auf diese Pläne aber wohl keinen unmittelbaren Einfluß. Nach der Unterzeichnung des Abkommens von Genf sah die offizielle Haltung der USA so aus, daß sie weiterhin das Recht beanspruchten, die Unita zu unterstützen, und zwar so lange, wie die UdSSR und Kuba die MPLA mit Waffen beliefern würden. Obwohl die USA wie auch die UdSSR wiederholt die Regierung in Luanda aufforderten, mit der Unita in Verhandlungen zu treten, lehnte diese immer wieder ab. Daraus ergab sich die Perspektive, daß der Bürgerkrieg nach der Namibia-Lösung und nach dem Abzug der Kubaner weitergehen würde. Auf Savimbi würden ohne das Hinterland Namibia ernsthafte logistische Probleme zukommen, aber seine Verbindung mit Präsident Mobutu von Zaire ist stabil, und die Hilfslieferungen würden dann wohl aus dem Osten kommen statt aus dem Süden. Eine stillschweigende Vereinbarung des Waffenstillstandes vom August zwischen Südafrika und Kuba sah vor, daß auch zwischen Kuba und der Unita Waffenruhe herrschen sollte. Die Kubaner stellten ihre Angriffe auf Jamba ein, und die Unita-Truppen ließen die Kubaner in Frieden. Die letzten Details wurden im November bei einem Treffen in Brazzaville vereinbart, aber das Abkommen wurde zu diesem Zeitpunkt nicht unterzeichnet. In Pretoria gab es in letzter Minute eine Verzögerung, und weitere Verhandlungen waren notwendig, ehe der Vertrag endlich, am 13. Dezember 1988, in Brazzaville unterzeichnet werden konnte. Am 22. Dezember wurde er formell in einer Zeremonie vor den Vereinten Nationen bekräftigt. Dieses Abkommen sah vor, daß der Stufenplan, der zur Unabhängigkeit von Namibia hinführen sollte, am 1. April 1989 beginnen würde. In den folgenden vier Monaten zogen 3.000 kubanische Soldaten aus Angola ab, und die übrigen kubanischen Einheiten wurden in das Gebiet jenseits des 15. Breitengrades zurückgezogen, etwa 300 Kilometer nördlich der Grenze. Zum Zeitpunkt der Wahlen in Namibia am 1. November hatten die Kubaner bereits 50 % ihrer Truppen aus Angola abgezogen und die übrigen -41-
nördlich des 13. Breitengrades zurückverlegt, ungefähr auf die Linie der Benguela-Eisenbahn. Bis zum 1. April 1990 sollte ein weiterer Abbau stattfinden und bis zum 1. August 1990 auch dieses letzte Drittel der kubanischen Armee auf etwa 13.000 Mann reduziert werden. Schließlich sollte dieses letzte Kontingent bis zum Juli 1991 das Land verlassen. ANGOLA HEUTE Die angolanische Währung (1 Kwanza = 100 Lwei) ist wertlos, aber aufgrund des Ertrages der Erdölförderung œ 1985 etwa 2,5 Milliarden Dollar œ gilt die Nationalökonomie des Landes von der Weltbank und anderen Organisationen als lebensfähig. Daher ist Angola einer der wenigen bankrotten Staaten, der noch kreditwürdig ist. Unmittelbar nach der Unabhängigkeitserklärung 1975 und der Flucht der 300.000 portugiesischen Siedler kollektivierte die Regierung die Landwirtschaft und verstaatlichte die Industrie œ mit Ausnahme der Ölindustrie. Die Ergebnisse waren katastrophal. Landwirtschaft und Industrie brachen zusammen, und Angola muß Lebensmittel aus Europa und den USA einführen, damit nicht die Hälfte seiner Bevölkerung verhungert. Einst gab es in Luanda eine elegante Strandpromenade, nach dem Vorbild der Copacabana in Rio de Janeiro oder der Promenade des Anglais in Nizza, jetzt ist sie verödet, die Hotels, Geschäfte und Büros sind verlassen und aufgegeben. Die MPLA folgte den Ratschlägen sowjetischer Berater, die von Afrika keine Ahnung hatten, und versuchte ein System einzuführen, das schon in Europa nicht funktioniert hat. 1988 gestand die Sowjetunion offen ein, daß das ökonomische Modell, das sie ihren afrikanischen Schützlingen aufgedrängt hatte, mit deren tatsächlichen Bedürfnissen nichts zu tun hatte. Anatolij Adamishin, Vizeaußenminister für afrikanische Angelegenheiten, der die sowjetische Delegation bei den Verhandlungen mit den USA und Südafrika über die Zukunft von Angola und Namibia leitete, wurde bei einer Pressekonferenz gefragt, ob er meine, daß die SWAPO dem sozialistischen Modell folgen solle. ‡Persönlich glaube ich nicht, daß der Sozialismus in diesem Teil der Welt errichtet werden kann—, antwortete er. ‡Sicherlich gibt es in der Sowjetunion wenige Leute, -42-
die ihnen raten würden, eine sozialistische Gesellschaftsordnung unter den speziellen afrikanischen Bedingungen aufzubauen.— Mehr als 20 Jahre hatte die UdSSR den ‡wissenschaftlichen Sozialismus— als die Lösung aller afrikanischen Probleme angepriesen, und in Moskau wurde sogar die Patrice-Lumumba-Universität errichtet, eine Kaderschmiede, um die zukünftigen Apparatschiks des kommunistischen Afrika auszubilden. Tausende Afrikaner haben ihr Leben dem Sieg einer kommunistischen Revolution in Afrika geopfert, und Hunderttausende sind in den Kämpfen dafür und dagegen getötet worden oder auf Grund des Scheiterns der Revolution an Hunger oder Krankheiten gestorben, jetzt haben die Sowjets den Marxismus auf die Müllhalde der Geschichte geworfen. Die Zukunft für die Marxisten der Dritten Weit sieht plötzlich gar nicht mehr gut aus. Die Wechselkurse in Angola sind ebenso unrealistisch wie die Preiskontrolle hoffnungslos, so daß die wenigen ausländischen Firmen, die noch im Land geblieben sind, ihre afrikanischen Angestellten mit Konsumgütern bezahlen. Ein amerikanischer Journalist hat herausgefunden, daß die beliebteste ‡Währung— derzeit eine Kiste Bier ist. Gegen zwei Kisten Bier kann man genügend Kwanza eintauschen, um damit einen Flug nach Rio oder Lissabon zu bezahlen. Lebensstandard, Lebenserwartung, Kindersterblichkeitsraten, medizinische Versorgung und öffentliche Sicherheit waren vielleicht noch nie so trostlos wie jetzt, seit dem Verbot des Sklavenhandels im 19. Jahrhundert. Nach Angaben der UNICEF leiden 45 % der angolanischen Kinder an Unterernährung, und der Pro-KopfJahresaufwand für medizinische Versorgung ist von $ 10.30 im Jahre 1981 auf $ 0.90 im Jahr 1987 gefallen. Der International Index of Human Suffering, den das ‡Population Crisis Committee— in Washington erstellt, reiht Angola in der Liste der Katastrophenländer auf Platz zwei; nur Mosambik ist noch schlechter dran. Das Versagen des Marxismus ist so offenkundig, daß die Regierung 1987 einen Kurswechsel vornahm und versuchte, den Privatsektor wiederzubeleben. Staatliche Geschäfte, Farmen, Dienstleistungsfirmen usw. wurden verkauft. Zusätzlich kündigte die Regierung etwa einen Monat im voraus an, daß der Kwanza um 100 -43-
% abgewertet werden würde œ mit anderen Worten, sie gab zu, daß der Kwanza völlig wertlos ist und durch eine neue Währung ersetzt werden müßte. Diese radikalen Maßnahmen wurden von internationalen Organisationen und der EG begrüßt, die jetzt wieder ihre Hilfsmaßnahmen für Angola aufnehmen. Die Sicherheitssituation ist beinahe so schlecht wie in Mosambik. Von den rund 7.000 Kilometern befestigter Straße, die die Portugiesen hinterließen, sind ungefähr noch 640 Kilometer sicher. Ausländische Botschaften raten ihren Mitarbeitern, nicht weiter als 40 Kilometer im Umkreis von Luanda zu fahren, nachdem im September 1987 drei schwedische Hilfsorganisationsangehörige 50 Kilometer außerhalb von Luanda von Unita-Guerillas entführt wurden. Einer der drei wurde getötet. Auch die Küstenstraße ist nicht sicher, und derzeit soll man nur in Konvois unter Bedeckung oder mit dem Flugzeug reisen. Die von der Regierung kontrollierten Gebiete sind wie Inseln in einem feindlichen Meer œ wie Kambodscha in den letzten Tagen von Lon Nol. Nach dem Abzug der Kubaner drängt sich diese Parallele noch mehr auf. Die Disziplin der angolanischen Soldaten wird immer mehr zum Problem, wie es in Uganda war, und immer mehr von ihnen gehen zu den Banditen über. Am 24. Juli kamen in Zaire eine Reihe afrikanischer Staatsoberhäupter zu einem Gipfeltreffen zusammen. Dabei trafen Präsident dos Santos und Jonas Savimbi zum ersten Mal seit 1975 zusammen, und sie einigten sich auf einen Waffenstillstand. Allerdings wurden dazu keine Einzelheiten veröffentlicht, und bald wurde das Abkommen überhaupt fallengelassen. Dos Santos behauptete, daß Savimbi zugestimmt hätte, das Land zu verlassen, während Savimbi versicherte, dos Santos hätte zugesichert, die Unita an der Regierungsmacht zu beteiligen. Der Krieg ging weiter. Im Januar 1990 startete die Regierung eine neue Offensive gegen Savimbis Stützpunkte im Südosten. Weitere Verhandlungen zwischen den beiden Streitparteien wurden in Kinshasa zwar vereinbart, aber die einzige Grundlage für Hoffnung war, daß die auswärtigen Mächte, Kuba, die Sowjetunion und Südafrika alle entschlossen schienen, sich aus der verfahrenen Situation in Angola zurückzuziehen. -44-
ÄTHIOPIEN
Geographie: Fläche 1,221.900 km×, ungefähr so viel wie Spanien, Portugal und Frankreich zusammen. Bevölkerung: 43,4 Millionen Einwohner. Davon sind 9 Millionen Amharen, 15 Millionen Oromo, 4 Millionen Somali, 5 Millionen Tigre. In Äthiopien werden mehr als 70 Sprachen und 200 Dialekte gesprochen. BSP: 120 $/Einw. Flüchtlinge: Im Landesinneren: 750.000 bis 1,5 Millionen Äthiopier*; 330.000 aus dem Sudan. Ins Ausland: 430.000* in Somalia; 660.000 im Sudan; 2.200 in Kenia. Im Sommer 1988 strömten 205.000 Flüchtlinge aus Somalia über die Grenze nach Äthiopien. Verluste: Zwischen 1972 und 1988 sind in den Kämpfen der Revolution, in den vier Sezessionskriegen und den Hungersnöten mindestens 2 Millionen Menschen ums Leben gekommen; 300.000 bis 350.000 starben in den Kämpfen in Eritrea. Mitte der siebziger Jahre sah sich die Republik Äthiopien mit vier ausgewachsenen Revolten konfrontiert œ in Eritrea und Tigray, im Ogaden und unter den Oromo in Zentral- und Süd-Äthiopien. Darüber hinaus gab es noch einen kleineren Aufstand unter den Afar im Nordosten. Aber die Regierung überlebte, vor allem dank der massiven Unterstützung durch die Sowjetunion und Kuba. Es gelang der Regierung, eine Invasion aus Somalia abzuwehren und die Aufstände einzugrenzen. Sie gehen aber weiter œ im Ogaden und in den Oromo-Provinzen zwar als kleinere Guerillakämpfe, aber der Guerillakrieg in Tigray und der Krieg um Eritrea bluten Äthiopien aus. Das Regime überstand auch die Hungersnot von 1984, die eine Konsequenz der Dürreperioden der frühen achtziger Jahre war, obwohl eine Million Menschen starben. 1988 gab es erneut eine Hungersnot, nachdem Ostafrika 1987/88 abermals von einer Dürrekatastrophe heimgesucht worden war. Zur selben Zeit erlitt Äthiopien im Eritrea-Krieg empfindliche Niederlagen, und 1989 -45-
rückten die Tigray-Rebellen vor, um die Hauptstadt von der Verbindung zum Meer abzuschneiden. Die UdSSR unterstützt Äthiopien zwar weiterhin militärisch, aber unter Gorbatschow ist ihre Begeisterung für afrikanische Abenteuer weit weniger enthusiastisch als unter seinen Vorgängern. Äthiopien ist wohl einer der Staaten der Welt mit den geringsten Überlebenschancen. GESCHICHTE Äthiopien ist ein gebirgiges Land, mit Hochebenen und unzugänglichen Tälern. Bis in die fünfziger Jahre wurde es Abessinien genannt. Die Amharen, der herrschende Stamm, traten im 4. Jahrhundert zum Christentum über, und seither gehören sie zur Koptischen Kirche, die auch in Ägypten noch weiterbesteht. Die islamische Eroberung des 7. Jahrhunderts schnitt Äthiopien von der Welt der Christenheit ab, und im Mittelalter verbreiteten sich in Europa Legenden über das wundersame Königreich des Priesters Johannes, irgendwo am Ende der Welt. Die Wirklichkeit war weniger großartig. Äthiopien war arm und abgelegen, und seine Herrscher kämpften beständig gegen andere Stämme. Ihr Herrschaftsbereich erreichte manchmal ungefähr die heutige Ausdehnung Äthiopiens, manchmal wurde er auf das Kernland der Amharen in den Bergen zurückgedrängt. Forschungsreisende des 19. Jahrhunderts entdeckten ein Land von extremer Armut und Rückständigkeit, dessen paranoide Herrscher aus Furcht vor einer Revolte ihre Söhne einsperrten. Unter den Entdeckern war der französische Dichter Rimbaud, der von 1882 bis 1891 Somalia, den Ogaden und Abessinien bereiste. Er lebte in Harar, verkaufte Gewehre an Kaiser Menelik (der ihn nie bezahlte) und starb an einer Infektionskrankheit, die er sich dort geholt hatte. Aufgrund seiner Unzugänglichkeit ließen die europäischen Mächte Abessinien bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Frieden. 1868 unternahmen die Briten aus Indien, empört über die Mißhandlungen britischer Bürger in Abessinien, eine Strafexpedition gegen Kaiser Theodoros II. Der Feldzug wurde von Lord Napier geführt, der ihn wie zuvor ein ähnliches Unternehmen in Afghanistan anlegte. Er lud seine Kanonen auf Elefanten, errichtete unterwegs Brücken und -46-
Straßen, marschierte direkt ins Zentrum des Kaiserreichs und belagerte Theodoros‘ letzte Festung. Der Kaiser zog den Selbstmord der Niederlage vor. Nachdem ihre Ehre wiederhergestellt war, zogen sich die Briten an die Küste zurück und segelten davon. Um die Nachfolge des Kaisers zu kämpfen überließen sie den Abessiniern. Auf längere Sicht war der Sieger Menelik II., König von Shoa (1844-1913), der sich selbst 1889 zum Kaiser krönte, nachdem sein Vorgänger Yohannes IV. in einer Schlacht im Sudan gefallen war. Menelik verdoppelte die Größe des Reiches, indem er im Süden und Südwesten fruchtbare Provinzen und im Südosten die Wüste Ogaden, die von nomadischen Somali bewohnt wurde, eroberte. Um diese Zeit hatten die Italiener Eritrea gegründet, und Franzosen, Briten und Italiener hatten sich an der Küste bis zum Kap der guten Hoffnung niedergelassen. Abessinien war der Zugang zum Meer abgeschnitten. Die Italiener versuchten 1895, in einem Anfall imperialen Größenwahns, Abessinien zu erobern. Im Februar 1897 wurden sie in der Schlacht von Adua gründlich besiegt œ die einzige entscheidende Niederlage, die europäische Truppen im Kampf um afrikanische Kolonien je erlitten haben. Der siegreiche Menelik unterzeichnete verschiedene Abkommen mit seinen europäischen Nachbarn, und für die nächsten 37 Jahre blieb Abessinien von kolonialen Ansprüchen verschont. Menelik starb 1913, und nach einer Zeit des Chaos und der internationalen Einmischung folgte ihm sein Cousin Ras Lej Tafari Makonnen, der sich 1916 selbst zum Kronprinz und tatsächlichen Herrscher des Landes ernannte. 1930 krönte er sich selbst zum Kaiser und nannte sich hinfort Hailé Selassié I. Einer der Titel von Hailé Selassié war ‡Löwe von Juda—, denn er betrachtete sich als Abkömmling von König Salomon und der Königin von Saba. 1934 erklärten die Italiener unter Mussolini einen Grenzzwischenfall zum Kriegsgrund und überfielen Abessinien abermals. Diesmal hatten sie Bomben und Giftgas, um die Abessinier zu besiegen, und sie besetzten Addis Abeba im Mai 1936. Dann errichteten sie Italienisch-Ostafrika, das aus Eritrea, Abessinien und Somalia bestand. Hailé Selassié erhob vor der Vollversammlung des Völkerbundes in Genf Klage, daß die Mitgliedsstaaten duldeten, daß -47-
ein Mitglied das andere überfallen und besetzt hatte. Die Briten und Franzosen aber, die immer noch hofften, Mussolini als Verbündeten gegen Hitler zu gewinnen, erkannten 1938 die Annexion an. Zwei Jahre später sollte sich ihre Perfidie rächen œ Mussolini verbündete sich mit Hitler, fiel Frankreich in den Rücken und besetzte BritischSomaliland. Mussolini sollte sich seines Raubes nicht lange erfreuen. Die Briten eroberten Italienisch-Ostafrika in einem sechsmonatigen Feldzug und nahmen dabei 200.000 Italiener gefangen. Nach dem Krieg, getrieben von ihrem Schuldgefühl, Hailé Selassié verraten zu haben und auch beeinflußt durch die Tatsache, daß die USA nun seine Verbündeten waren, übergaben sie ihm 1952 Eritrea und auch den Ogaden, der für kurze Zeit mit dem Rest von Somalia vereinigt worden war. Später wurde Äthiopien die Verwaltung Eritreas von der UNO als Treuhandmandat übertragen. John Foster Dulles, der neue amerikanische Außenminister, stellte fest: ‡Im Sinne der Gerechtigkeit müßten die Bewohner Eritreas befragt werden ... Aber die strategischen Interessen der USA lassen es notwendig erscheinen, daß das Land mit unserem Verbündeten Äthiopien vereinigt wird.— Äthiopien hatte sich mit starken Truppenkontingenten am KoreaKrieg beteiligt und den USA Stützpunkte eingeräumt, vor allem die Fernmeldebasis Kagnew in den Bergen bei Asmara. 1962 annektierte Hailé Selassié Eritrea. Endlich hatte Äthiopien das Meer erreicht. Alle folgenden Probleme und Konflikte, einschließlich der Revolution von 1974 und dem Sturz des Herrschers, resultierten aus diesem Erfolg. DIE REVOLUTION Hailé Selassiés Kaiserreich war im 20. Jahrhundert ein Relikt. Die einzigen Exportgüter des Landes waren Kaffee und Ölsaat, nicht annähernd genug, um die Wirtschaft eines großen und zu entwickelnden Landes zu tragen. Die soziale Ordnung œ wenn schon nicht die Monarchie œ hätte überleben und sich selbst erneuern können, wenn nicht die Regierung so korrupt und unfähig gewesen wäre. Als der Kaiser alterte, verlor er zunehmend die Kontrolle über seine Familienmitglieder und Beamten, die sich mehr um ihren -48-
eigenen Vorteil kümmerten als um die Verwaltung des Landes. Einige wenige Reformen wurden angeordnet, aber die meisten bestanden nur auf dem Papier. Äthiopien war wie Persien unter Schah Reza Pahlewi, nur viel ärmer. Es hatte kein Öl und nur eine ganz dünne gebildete Oberschicht. Hailé Selassié wurde senil, aber er weigerte sich, einen geeigneten Fürsten oder Beamten mit den Regierungsgeschäften zu betrauen. Einer seiner Söhne wurde bei einem Autounfall getötet, ein anderer erlitt einen Schlaganfall und ging in die Schweiz. Hailé Selassié, der im Juli 1892 geboren worden war, ernannte niemals einen Nachfolger, Der Funke, der die Revolution auslöste, war die Dürre von 1972/73 und die darauffolgende Hungersnot, die in den Provinzen Wollo und Tigray mehr als 200.000 Menschen das Leben kostete. Die Regierung traf keine Maßnahmen zu ihrer Rettung und leugnete, daß überhaupt ein Problem bestünde. Tatsächlich wurden zur gleichen Zeit die Getreideexporte aus Provinzen, die nicht von der Dürre betroffen waren, verdoppelt. Die Wahrheit über dieses Desaster wurde im Ausland nur durch einen BBC-Bericht von Jonathan Dimbley bekannt. Im Januar 1974 erschütterte eine Serie von Meutereien die Armee. Die Rebellen in Eritrea hatten Siege errungen und die Armee gezwungen, sich in ihre wenigen übriggebliebenen Stützpunkte zurückzuziehen, und die jüngeren Offiziere waren durch die Unfähigkeit ihrer Vorgesetzten demoralisiert und verunsichert. Die Regierung hatte keine Autorität mehr und gab allen Forderungen der Meuterer nach. Im März gab es einen Generalstreik, und zu Beginn des Frühjahrs nahmen die Meuterer die höheren Offiziere gefangen. Im Juni gründeten sie den Derg, ein Koordinationskomitee mit höchstens 126 Mitgliedern, die alle Armee-Einheiten repräsentierten. In einem schleichenden Staatsstreich übernahm der Derg im ganzen Land die Macht. Der Vorsitzende des Koordinationsausschusses war Major Mengistu Haile Mariam, damals 30 Jahre alt. Er wurde gewählt, da er weder Amhare noch Eritreer ist, sondern aus dem Stamm der Oromo kommt. Hailé Selassié, nun ein zweiundachtzigjähriger kindischer Greis, verlor den Rest seiner Autorität an den Derg, der alle seine Minister festnehmen ließ. Dann strahlte der Derg die BBC-Dokumentation über -49-
die Hungersnot im äthiopischen Fernsehen aus, um der Bevölkerung die Unfähigkeit des Kaisers vor Augen zu führen. Am 12. September 1974 wurde Hailé Selassié abgesetzt, in einem Volkswagen aus seinem Palast gebracht und eingesperrt. Er starb œ vielleicht wurde er auch ermordet œ am 12. August 1975. DAS NEUE ÄTHIOPIEN Das neue Regime ähnelte in vielen Punkten dem alten. Seine Maßnahmen waren undurchschaubar, diktatorisch, brutal und von Unfähigkeit geprägt. Im November 1974 forderte der Armeechef, der de facto die Macht übernommen hatte, General Aman Michael Andorn, ein Eritreer, daß der Eritrea-Krieg beendet und das Land in die Unabhängigkeit entlassen werden sollte. Die anderen führenden Funktionäre des Derg, allen voran der mittlerweile zum Oberstleutnant beförderte Mengistu, wiesen diesen Vorschlag ab, und Aman wurde kurzerhand erschossen. Zwei Tage später, am 23. November, befahl Mengistu die Hinrichtung von 59 Menschen (nach manchen Quellen 82). Dieses Massaker wurde als Abrechnung mit dem alten Regime und Niederschlagung einer Gegenrevolution ausgegeben œ und so wurde auch Amans Ermordung gerechtfertigt. Die meisten der Erschossenen waren die Minister, Prinzen, Generäle und andere Würdenträger, die seit der Revolution eingesperrt worden waren, darunter ein Enkel von Hailé Selassié. Im Mai 1988 begnadigte der Derg sieben überlebende Prinzessinnen, darunter die neunundsiebzigjährige Tochter des Kaisers und die Witwe des ermordeten Enkels. Drei andere blieben eingekerkert. Neuer Vorsitzender des Derg (oder PMAC, ‡Provisorial Military Administrative Council—) wurde Brigadegeneral Teferi Banti. Im Juli 1976, nach weiteren Rückschlägen in Eritrea, gab es im Derg einen neuen Versuch, den Kurs zu wechseln und mit den Eritreern zu verhandeln, aber Mengistu reagierte einmal mehr darauf mit Gewalt und ließ die ‡Dissidenten— erschießen. Im September 1976 stimmten überlebende Mitglieder des Derg dafür, Mengistu seiner Machtfülle zu entkleiden. Unglücklicherweise setzten sie ihn nicht fest, und am 2. Februar 1977 gab es in einer Derg-Versammlung eine Schießerei, bei -50-
der alle seine Gegner ums Leben kamen, einschließlich General Teferi Banti. Zu Beginn der Revolution wurden mehrere politische Parteien gegründet, darunter die ‡Äthiopische Revolutionäre Volkspartei— (EPRP). Der Derg bildete seine eigene Partei, die ‡Arbeiterpartei— (SEDED), zwei Jahre später. Nach dem Coup vom Februar begann Mengistu den ‡Roten Terror— gegen seine Gegner, und städtische Milizkommanden machten Jagd auf EPRP-Mitglieder. Im Zusammenhang damit wurden in Addis Abeba rund 5.000 Jugendliche œ zwischen 12 und 25 œ getötet. Eine andere Revolutionspartei, die ‡Gesamtäthiopische Sozialistische Bewegung— bekannt unter ihrer amharischen Abkürzung MEISON œ versuchte 1977 einen Staatsstreich, verlor, und die Mitglieder wurden von Mengistus Sicherheitspolizei ermordet. Der Terror erreichte einen Höhepunkt im Dezember 1977 und im Januar 1978 danach waren die EPRP und MEISON ausgelöscht. Unmittelbar nachdem der schleichende Staatsstreich erfolgreich abgeschlossen worden war, hatte sich Äthiopien zum marxistischen Staat erklärt, die Industrie verstaatlicht und die Landwirtschaft nach bolschewistischem Modell kollektiviert. Die USA konnten ihre Satellitenstation entbehren, und die Regierung Carter, neu im Amt, verärgert über die Menschenrechtsverletzungen der Äthiopier, stellte die Waffenlieferungen im Februar 1977 ein. Mengistu flog im Mai 1977 nach Moskau und unterzeichnete Freundschaftsverträge mit der UdSSR und anderen kommunistischen Ländern. Die Hauptsorge der Regierung war ihr Überleben. Die ‡Eritreische Volksbefreiungsfront— (EPLF), die die Unterstützung des Sudan und Saudi-Arabiens genoß, obwohl sie sich selbst als marxistisch deklarierte, hatte eine höchst schlagkräftige Guerillaorganisation aufgebaut und ihre Kontrolle über die gesamte Provinz ausgedehnt, außer zwei oder drei größeren Städten. Zwischen 1977 und 1979 verlor die Zentralregierung ein Drittel ihrer Eritrea-Armee und mußte zugleich eine Invasion von Somalia abwehren, das den Ogaden erobern wollte. (Siehe ÄTHIOPIEN, ERITREA und SOMALIA). Zur gleichen Zeit wurde die ‡Volksbefreiungsarmee von Tigray— (TPLF) gegründet, die sehr schnell die Kontrolle über die Provinz -51-
übernahm. Tigray liegt im Norden von Äthiopien, zwischen der Hochebene und Eritrea am Roten Meer. Da alle Straßen nach Eritrea das Gebiet von Tigray queren, war das ein böser Verlust. Im Gegensatz zu Eritrea will Tigray allerdings nicht unbedingt aus dem äthiopischen Staatsverband ausscheiden œ die Tigre waren seit Jahrhunderten Teil des äthiopischen Kaiserreichs und sind nicht auf die Abspaltung aus. Der vierte Aufstand war allerdings wieder eine Sezession, Die ungefähr 15 Millionen Oromo, rund ein Drittel der Bevölkerung Äthiopiens, fordern œ vertreten durch die ‡Oromische Befreiungsfront— (OLF) œ einen unabhängigen Staat. Darin lag für die Regierung die größte Sprengkraft, Die weit größere äthiopische Bevölkerung kann theoretisch Eritrea und den Ogaden unbegrenzt lang besetzen, und selbst wenn ein Regierungswechsel in Addis Abeba zu einer politischen Veränderung führen würde, könnte das Land ihren Verlust überleben. Eritrea und der Ogaden haben keine Bodenschätze und tragen nichts zur Stärkung Äthiopiens bei. Aber die Oromo-Provinzen sind die reichsten des Landes. Ihre Abspaltung würde Äthiopien auf das armselige Hochplateau reduzieren, von dem aus die Amharen im 19. Jahrhundert ihren Aufstieg begonnen haben. Äthiopien hätte all diese Probleme ohne die unerschöpflichen Materiallieferungen der Sowjetunion und ohne kubanische Truppen niemals überstanden. Am Höhepunkt des Krieges mit Somalia, im Herbst 1977, standen 17.000 kubanische Soldaten im Einsatz, und die UdSSR schafften über eine Luftbrücke riesige Materialmengen nach Addis Abeba. Dadurch konnte Äthiopien diese Zeit überstehen, Somalia zurückschlagen und einen Großteil von Eritrea zurückerobern.
ERITREA Die Menschen in Eritrea haben während der letzten fünfzehn Jahre ununterbrochen den Krieg erlebt, und bereits davor gab es zehn Jahre lang einen begrenzten Guerillakrieg. Die ‡Eritreische Volksbefreiungsfront— hat sich zu einer schlagkräftigen Armee entwickelt, mit ungefähr 35.000 regulären Soldaten (darunter viele -52-
Frauen), die von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird. Sie hat die ständige Kontrolle über ungefähr ein Drittel des Landes errungen, im Nordwesten, geschützt durch eine ca. 350 Kilometer lange befestigte Grenze, die die äthiopische Armee bislang nicht überschreiten konnte. In dieser geschützten Zone hat die EPLF Fabriken, Schulen, Spitäler und Waffenwerkstätten errichtet, all das zum Schutz vor der äthiopischen Luftwaffe tief in die Berge eingegraben. Eritrea hat eine Fläche von ungefähr 120.000 km2 und rund 4 Millionen Einwohner. Die Hälfte davon sind Christen, die meisten anderen Moslems. Die Christen besiedeln die Berge im Westen und sprechen Tigrinya; diese Sprache wird auch in Tigray gesprochen und ist mit der Staatssprache Amharisch verwandt. Die Moslems sprechen Arabisch und verschiedene andere Sprachen und leben an der Küste des Roten Meeres. Eritrea ist keineswegs homogener als Äthiopien selbst, und sein Nationalismus ist hauptsächlich das Ergebnis der italienischen Okkupation und des Widerstandes gegen die Zentralregierung in Addis Abeba. Die EPLF kontrolliert den Großteil des Landes, während die Herrschaft der Äthiopier auf einige Städte beschränkt ist; aber bei der Großoffensive im März/April 1988 eroberte die EPLF etliche Städte im Westen und Süden. In dieser Provinz sind derzeit ungefähr 120.000 Soldaten stationiert. Verlustziffern sind unmöglich zu verifizieren. Colin Legum schätzte 1983, daß bis zu 250.000 Menschen in den Kämpfen seit 1974 getötet worden seien, und seit 1983 waren es wohl weitere 50.000 bis 100.000. Die 660.000 Flüchtlinge im Sudan sind hauptsächlich Eritreer und Tigre, und wenn man die Flüchtlinge innerhalb des Landes und die vom Derg Deportierten zusammenzählt, erscheint es durchaus möglich, daß die Hälfte der eritreischen Bevölkerung aus ihrer Heimat vertrieben worden ist. DER KRIEG Die Rebellion begann 1961, noch bevor Hailé Selassié Eritrea formell annektierte. In diesem Jahr wurde die ‡Befreiungsfront für Eritrea— (ELF) gegründet, und sie begann im September mit dem Guerillakampf. Das war eine hauptsächlich Arabisch sprechende -53-
Moslem-Organisation, ihre militanten Kämpfer rekrutierten sich aus der gebildeten Schicht in Asmara und Massawa und aus denen, die in Saudi-Arabien oder Kairo studiert hatten. Von Anfang an wurde die ELF von den radikalen arabischen Regierungen unterstützt. Daher teilte sie auch das wechselnde Glück der Nasseriten und der irakischen und syrischen Baath-Parteien und wurde immer wieder gespalten und neuorganisiert. 1970 wurde eine rivalisierende Organisation gegründet, die EPLF, deren Mitglieder hauptsächlich Tigrinya sprechende Christen aus dem Hochland sind. Ihr Führer ist Isaias Aferworki. Sowohl die EPLF wie die ELF bekannten sich zu einer marxistischen Philosophie, und bald begannen sie sich auch gegenseitig zu bekämpfen. Zwischen 1970 und 1975 wurden mehr als 3.000 Eritreer in diesem ‡Krieg im Krieg— getötet, den schließlich die EPLF für sich entschied. Verschiedene Anstrengungen in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern , die Guerilla-Organisationen zu verschmelzen, scheiterten, zum Teil an der Frage der Beziehungen zur arabischen Welt, zum Teil wegen des Vorschlages, den die UdSSR unterstützte, daß die Eritreer über eine Föderationslösung mit Äthiopien verhandeln sollten. In den frühen Jahren dieser Rebellion, vor der äthiopischen Revolution, bewaffnete die UdSSR die Rebeilen und entsandte kubanische Berater als Teil ihrer Anstrengungen, die Regierung von Hailé Selassié zu destabilisieren. Die USA und Israel, das die Araber von den südlichen Ufern des Roten Meeres fernhalten wollte, unterstützten Hailé Selassié. Aus den gleichen realpolitischen Gründen unterstützt Israel auch weiterhin die äthiopische Regierung. Nach der Revolution von 1974 konnten die Eritreer einen kurzen Augenblick lang hoffen, daß die neue Regierung ihnen die Selbstbestimmung zugestehen würde. Diese Periode endete mit der Ermordung des Staatschefs General Aman Michael Andorn, der Eritreer war. Eritreische Armee- und Polizeieinheiten liefen in Massen zu den Rebellen über, und eritreische Guerillas sickerten in die Provinzhauptstadt Asmara ein und eroberten sie beinahe. Erst nach schwersten Kämpfen mit äthiopischen Armee-Einheiten wurden sie besiegt. Die Entscheidung des Derg, die eritreische Unabhängigkeitsbewegung zu unterdrücken, und seine brutalen Methoden förderten die Rekrutierungskampagnen der EPLF. Zu -54-
Beginn des Jahres 1975 hatte sie 6.000 Guerillakämpfer, aber zwei Jahre später waren es bereits mehr als 40.000. Mengistus Waffe Nummer 1 war der Hunger. Die Dürre hielt an, und der Derg nützte sie skrupellos gegen die Eritreer. Aber das allgemeine Chaos in Äthiopien war so groß, daß die Rebellen den Großteil Eritreas erobern konnten, äthiopische Einheiten in Asmara und in den beiden Hafenstädten Assab und Massawa belagerten und praktisch den ganzen Rest der Provinz kontrollierten. Im Mai 1976 rekrutierte der Derg in letzter Not 40.000 Bauern und schickte sie gegen die Stellungen der Eritreer. Es war ein reines Blutbad. 1977 schien der Sieg für die Eritreer zum Greifen nahe: Äthiopien konnte Asmara und Massawa kaum noch halten; die Somalis waren auf dem Sprung, in den Ogaden einzufallen, und das Regime in Addis Abeba schien am Rande des Zusammenbruchs zu stehen. Die Sowjetunion sah sich mit einer unerfreulichen Entscheidung konfrontiert. Sie hatte mehrere Jahre lang sowohl Somalia als auch Eritrea unterstützt, und nach dem plötzlichen Schwenk der äthiopischen Regierung zum Marxismus fand die UdSSR eine Föderation der drei Nationen höchst wünschenswert, eine Art Sowjetunion am Hörn von Afrika. Auch Aden, jenseits der Straße von Bab el Mandeb, hätte hinzukommen können. Aber keiner der Beteiligten zeigte das mindeste Interesse an diesen sowjetischen Wunschvorstellungen. Eritrea wollte die Freiheit, Somalia wollte den Ogaden, und das marxistische Äthiopien wollte all die Eroberungen der Kaiser behalten. Daher wechselte die UdSSR die Seiten. Schlagartig stoppte sie ihre Hilfslieferungen für Eritrea und Somalia. Stattdessen stellte sie sich mit neuem Schwung hinter Mengistu. Die sowjetische Kriegsmarine beschoß EPLF-Belagerungsstellungen vor Massawa, und gegen Ende 1978 hatte Äthiopien den Großteil seines eingebüßten Gebietes zurückgewonnen. Die Zentralregierung schaffte das mit eigenen Truppen, nur mit der Materialhilfe der Russen und Kubaner. Fidel Castro, der Hailé Selassié jahrelang verbal angegriffen und das unabänderliche Recht der Eritreer auf Selbstbestimmung eingefordert hatte, weigerte sich, kubanische Soldaten zur Unterstützung der Äthiopier in den Norden -55-
zu schicken. Die 14.000 Kubaner, die im Ogaden-Krieg gekämpft hatten, wurden aus Eritrea herausgehalten. Aber die UdSSR hatte so viel Waffen geliefert, daß die Äthiopier nach ihrem Sieg über Somalia den Belagerungsring um Massawa im Juli 1978 durchbrechen und in der Folge den Großteil Eritreas bis November erobern konnten. Die EPLF zog sich in den Norden zurück, ließ ihre Stellungen im Rest des Landes in Stich und bereitete sich auf den langen Marsch vor. 1981 flammte der Konflikt zwischen EPLF und ELF wieder auf, der mit dem Untergang der ELF endete. Zwischen 1973 und 1988 hat die äthiopische Armee acht Großoffensiven gegen die Eritreer unternommen. Jede wurde zurückgeschlagen. Nachdem sie ihre Stellungen wieder zurückgewonnen und ihre Truppen neu organisiert hatte, befahl die Regierung im Februar 1982 das Unternehmen ‡Roter Stern— mit 140.000 Soldaten. Die äthiopischen Verluste waren sehr hoch œ Robert Kaplan berichtet von 40.000 Toten und Verwundeten, und trotz aller Unterstützung durch Kubaner und Sowjets konnten die Äthiopier die Festung der EPLF im Norden nicht einnehmen. Spätere Offensiven hatten keinen größeren Erfolg. Im Winter 1987/88 griff die EPLF die äthiopische Armee mehrere Male an, fügte ihr schwere Verluste zu und stieß durch die äthiopischen Linien. Im Verlauf einer Frontinspektion ließ Mengistu eine Reihe Offiziere verhaften und den kommandierenden General, Brigadegeneral Taiku Taye, im Angesicht seiner Soldaten erschießen œ um den Mut der anderen zu stärken. Die Auswirkungen auf die Kampfmoral der Soldaten waren verheerend. Am 17. März startete die EPLF eine Generaloffensive. In mehreren Schlachten bei denen sie nach eigenen Angaben 18.000 Äthiopier getötet und mehr als 6.000 gefangengenommen sowie eine komplette gepanzerte Brigade zerstört haben will eroberte sie mehrere Städte, vor allem Af Abet: in dieser Garnisonstadt befand sich das zentrale äthiopische Militärdepot im Norden. Die EPLF erbeutete auch riesige Mengen Munition sowie 50 sowjetische Panzer. Unter den Gefangenen waren der Oberste Politkommissar der Äthiopischen Armee und drei sowjetische Offiziere zwei Oberste und ein Leutnant (ein vierter war getötet worden). Die EPLF behauptet, derzeit 16.000 -56-
äthiopische Kriegsgefangene festzuhalten (1982 wurden 3.000 dem Sudan übergeben). Es war der größte EPLF-Sieg in nahezu einem Jahrzehnt. Zur gleichen Zeit machten die Tigray-Rebellen große Fortschritte. Die Äthiopier griffen im Mai wieder an und wurden wieder zurückgeschlagen. Ein Elite-Luftlandekommando wurde ausgelöscht, der Kommandant getötet. Mengistu rief in ganz Äthiopien Freiwillige zum Kampf im Norden auf und forderte, daß jeder Äthiopier ‡freiwillig— einen Monatslohn oder eine Monatsrente als Kriegsbeitrag an die Regierung abliefern sollte. Nach der Unterzeichnung eines Vertrages mit Somalia, um die diplomatischen Beziehungen wieder herzustellen, begann er, auf dem Luftweg Soldaten vom Ogaden, wo Äthiopien seit dem Ende des Ogaden-Krieges ständig 150.000 Soldaten stationiert hatte, in den Norden zu bringen. Mit Ausnahme von Af Abet hielt die EPLF die eroberten Städte nicht besetzt. Das wäre nur eine Einladung an die äthiopische Luftwaffe zum Bombardement gewesen. Statt dessen kehrte sie in ihre nördlichen Befestigungen zurück und verstärkte ihre Kontrolle der Landgebiete. Im Spätsommer 1988 standen die Äthiopier mit dem Rücken zur Wand. Ihre demoralisierte Armee hatte zwar Keren, nordwestlich von Asmara, mühsam gehalten, aber die EPLF hatte die Stadt einfach umgangen. Die letzte Verteidigungslinie der Äthiopier lief von Asmara in den Bergen hinunter nach Massawa am Roten Meer. Die Regierung hat einen Landstreifen längs der Küste nördlich von Massawa zur ‡Feuerfrei—-Zone erklärt œ das heißt, daß alles, was sich darin bewegt, aus der Luft angegriffen wird. Nachdem diese Gegend für die eritreischen Nomaden ein wichtiges Weideland ist, läßt sich klar die Absicht der Regierung erkennen, sie durch Hunger zur Unterwerfung zu zwingen. Eine ähnliche Politik verfolgt die Regierung im Gebiet zwischen Massawa und Keren. Die Regierungssoldaten haben diesen Teil des Landes systematisch zerstört, und eritreische Hilfsorganisationen schätzen, daß zwischen März und August 1988 350.000 bis 500.000 Menschen ihre Häuser verlassen haben. Die Äthiopier unternehmen nichts, um ihnen zu helfen, im Gegenteil: sie sind schuld an ihrer Not. -57-
Der Krieg ist jetzt mit der Flucht vor dem Hunger untrennbar verknüpft. Während der Hungersnot 1984/85, bei der in Äthiopien eine Million Menschen starb, verbot Mengistu seinen eigenen Behörden ebenso wie ausländischen Hilfsorganisationen jede Tätigkeit in Eritrea. Die EPLF transportierte Hilfsgüter vom Sudan ins Land und brachte 100.000 Menschen in Lager an der Grenze, wo sie ernährt werden konnten. Während dieser schrecklichen Jahre rettete Israel, mit Unterstützung der USA und des Sudan, 10.000 äthiopische Juden, Falaschen, aus Tigray und Condar œ und vor Hunger und Untergang. Als die Hungersnot 1988 wiederkehrte, waren in Äthiopien mehr als 7 Millionen Menschen betroffen, 3,5 Millionen in Tigray und Eritrea. Die Regierung hilft nur den Menschen in den von ihr kontrollierten Gebieten und versucht, alle Hilfslieferungen in EPLF-Gebiete zu verhindern. Aber auch die EPLF benützt Lebensmittel als Waffe. Sie sichert sich die Unterstützung der hungernden eritreischen Bauern, indem sie ihnen zu essen gibt, aber dessen ungeachtet haben im Oktober 1987 EPLF-Guerillas vor Asmara einen Regierungslebensmittelkonvoi in die Luft gejagt. 23 Lastwagen der UNO mit genügend amerikanischem Weizen, um 45.000 Menschen einen Monat lang zu ernähren, wurden dabei zerstört. Die USA und internationale Organisationen protestierten vehement, und die EPLF versprach, in Zukunft Lebensmitteltransporte zu verschonen. Trotzdem wurden in den darauffolgenden Monaten 106 Lebensmittel-LKW zerstört, darunter viele von Live Aid gespendete, der Hilfsorganisation, die der irische Popsänger Bob Geldof auf die Beine gestellt hatte. Im März 1988 zerstörten die Tigray-Rebellen zwei der drei von der Regierung betriebenen Lebensmittelverteilungszentren in der Provinz; als sie in Wukro das dritte eroberten, wurde es sofort von der äthiopischen Luftwaffe bombardiert. Zur gleichen Zeit versuchte die Zentralregierung, 1,5 Millionen Bauern aus Tigray und Eritrea im südlichen Äthiopien wieder anzusiedeln. Offiziell, um ihr Leben zu retten, aber sicher auch, um sie von den Guerillas fernzuhalten. Im April 1988 wies Mengistu alle ausländischen Helfer aus den nördlichen Provinzen aus, dabei berief er sich auf Sicherheitsgründe und behauptete, daß die äthiopischen Hilfsorganisationen durchaus in -58-
der Lage seien, mit der Krise fertig zu werden. Die westlichen Regierungen waren anderer Meinung, und drängten ihn, die Wiederaufnahme der internationalen Hilfe zuzulassen. Mengistu erklärte eine 10 Kilometer breite Zone längs der Grenze zum Sudan zum Kriegsgebiet und kündigte an, daß jedes Fahrzeug darin bombardiert werden würde. Später schwächte er seine Maßnahmen ab und erklärte, daß die Ausweisung der Ausländer sich nicht auf die Vertreter der Vereinten Nationen bezöge. Während der Hungersnot von 1984 hatten die USA die Lieferung von Nahrungsmitteln direkt an die EPLF durch den Sudan zugelassen, und im Sommer 1988 kündete das Außenministerium an, wieder so vorzugehen, ungeachtet der Gefahr äthiopischer Luftangriffe. Die EPLF war ursprünglich eine rein marxistische Organisation. Nachdem die UdSSR ihre Hilfslieferungen für Äthiopien ausgeweitet hat und Sudan und Saudi-Arabien die Eritreer unterstützt haben, ist ihre Haltung weniger dogmatisch geworden. Und außerdem war auch das Scheitern des Marxismus in anderen Teilen Afrikas eine eindrucksvolle Warnung. Das Hauptmerkmal der EPLF ist jetzt ihre Unabhängigkeit: Sie wurde verschiedene Male vom Sudan, den arabischen Staaten und der Sowjetunion unterstützt und dann wieder angegriffen, und sie hat gelernt, keinem Verbündeten wirklich zu trauen. Der einzige unerschütterliche Partner ist Somalia. Die USA haben die EPLF nicht unterstützt, teils wegen ihrer marxistischen Haltung, teils weil sie mit der Unterstützung der Rebellen in Nicaragua, Angola und Afghanistan vollauf beschäftigt waren. Diese ungewöhnliche Zurückhaltung hat allerdings nicht geholfen, den Schaden zu begrenzen. Die EPLF erhält alle notwendigen Waffen von anderer Seite, vor allem aus der Kriegsbeute von der äthiopischen Armee. Ende 1988 hielt die äthiopische Armee mit Mühe die Kontrolle über die wichtigen Städte in Eritrea aufrecht. Im März 1989 wurde die Position der Armee durch den Verlust von Tigray gefährlich geschwächt, und die wichtigste Straßenverbindung von Addis Abeba nach Asmara wurde unterbrochen. Mit Mühe konnte ein Waffenstillstand erreicht werden, und im September begann in Atlanta im US-Staat Georgia die erste Runde der Friedenverhandlungen. Jimmy Carters Zentrum für Konfliktlösung übernahm die -59-
Schirmherrschaft. Carters Anstrengungen wurden von der Sowjetunion heftig unterstützt, da die UdSSR die Chance sah, ihren Aufwand für Äthiopien verringern zu können. Die letzten kubanischen Soldaten zogen im September 1989 aus Äthiopien ab, und die UdSSR drohte, ihren Pakt mit Äthiopien 1991 auslaufen zu lassen. Die Verhandlungen hatten keinen wirklichen Erfolg. Beide Seiten verschlossen sich dem Kompromiß: Die EPLF wollte Unabhängigkeit, Äthiopien den Erhalt des Status Quo. Ende des Jahres ließ die EPLF wissen, daß sie den Waffenstillstand beenden würde, sollten die Äthiopier ihre Politik nicht unverzüglich ändern. In den ersten Tagen des neuen Jahres griffen die Eritreer die verbliebenen äthiopischen Stellungen in Eritrea auf breiter Front an. Am 10. Februar stießen die Rebellen auf Massawa vor. Sie nahmen die Stadt nach schweren Kämpfen ein und warfen die Äthiopier auf die der Küste vorgelagerten Inseln zurück, wo sie von der sowjetischen Marine geschützt wurden. Der Hafen wurde geschlossen und Tausende Tonnen Hilfsgüter im Gefecht und durch äthiopische Luftangriffe zerstört. Nach diesem Sieg belagerte die EPLF Keren und Asmara im Landesinneren.
TIGRAY Die Provinz Tigray im nördlichen Teil von Äthiopien hat eine Bevölkerung von rund 5 Millionen Menschen, davon sind 70 Prozent Christen, der Rest Moslems. Die Tigre waren die Hauptgegner der Amhara von Shoa im Süden, mit denen sie eng verwandt sind. Kaiser Theodoros II. und sein Nachfolger Yohannes IV. waren Tigre, und Tigray akzeptierte nur zögernd die Herrschaft des Königs von Shoa, Menelik, als der sich 1889 zum Kaiser krönte. Als Menelik mit seiner Armee von 100.000 Bauern durch Tigray marschierte, den Italienern zur Schlacht von Adowa entgegen, lebten sie aus dem Land; daraus resultierte eine siebenjährige Hungersnot. Die Tigre rebellierten 1943 gegen Hailé Selassié und wurden mit Hilfe der Engländer niedergeworfen, die die Hauptstadt Makalle bombardierten. In der Hungersnot von 1972/73 starben in Tigray und der Nachbarprovinz Wollo mehr als 200.000 Tigre. Die Unfähigkeit und -60-
Trägheit der kaiserlichen Regierung während dieser Katastrophe löste die Revolution von 1974 aus. Im Februar 1975 bildeten oppositionelle Kräfte in Tigray die ‡Volksbefreiungsarmee von Tigray— (TPLF) und begannen einen Guerillakrieg gegen Äthiopien. Ihr Programm war marxistisch geprägt, sie deklarierte sich als ‡antiimperialistisch, antizionistisch, antifeudal, gegen jede Form der nationalen Unterdrückung, und antifaschistisch—. Als ihr Ziel nannte sie die nationale Selbstbestimmung, was nicht unbedingt die Abspaltung von der Zentralregierung bedeutet. In Opposition zur TPLF stand eine konservative Partei, die ‡Äthiopische Demokratische Union—, und von 1976 bis 1978 herrschte zwischen den beiden Fraktionen ein blutiger Bürgerkrieg, der mit dem umfassenden Sieg der TPLF endete. Zur gleichen Zeit besiegte die TPLF die ‡Äthiopische Volksrevolutions Partei— (EPRP), eine radikalkommunistische Partei, die ebenfalls den Derg in Addis Abeba bekämpfte. In diesen Kriegen zwischen den Parteien wurden viele tausend Menschen getötet. In den ersten Jahren nach der Revolution war der Derg durch den Krieg gegen Somalia in Anspruch genommen. Im Sommer 1978 vereinigten die siegreiche TPLF und die eritreische EPLF ihre Kräfte und schlugen eine Regierungsoffensive zurück, in der die beiden Provinzen wieder unter die zentrale Kontrolle gebracht werden sollten. 1979 eroberte die TPLF einige Städte in Tigray und schnitt die Verbindungsstraße von Addis Abeba nach Eritrea ab. Mit Unterstützung der UdSSR und Kubas holten die Äthiopier die Städte zurück, aber das Land haben sie nicht mehr unter Kontrolle bekommen; außerhalb der Städte herrscht hauptsächlich die TPLF. In einer Großoffensive 1981 verwüsteten die Äthiopier Zentral-Tigray, vertrieben die Bauern von ihren Farmen und brannten die Ernte nieder, um sie durch Hunger zu unterwerfen. Das Land wurde verwüstet, Tausende Menschen wurden getötet oder verhungerten, aber es gelang den Äthiopiern nicht, das westliche Tigray zurückzuerobern. Als Mengistus Offensive zusammenbrach, eroberte die TPLF die Gebiete, aus denen sich die Armee zurückziehen mußte, -61-
wieder zurück. Das gleiche geschah während der nächsten äthiopischen Offensive 1983: die Armeen marschierten von Addis Abeba los, verwüsteten das Land, zogen sich dann aber wieder zurück. 1984 verhungerte eine Million Äthiopier. Die Provinz Tigray wurde schwer betroffen, und ohne die internationalen Hilfsmaßnahmen hätte kaum jemand überlebt. Der Krieg raste weiter durch Tigray. Die TPLF kontrollierte den Großteil des Landes, während der Derg größere Städte hielt und seine Anstrengungen auf den Krieg gegen Eritrea konzentrierte. Tigray war für Addis Abeba immer nur ein Nebenschauplatz. Die TPLF setzte ihr sozialistisches Programm in die Tat um und führte Landverteilungen in den von ihr kontrollierten Gebieten durch, um das Überleben der Bauern im Krieg zu sichern. Als 1987 in Nordwesten Äthiopiens wieder eine Hungersnot ausbrach, flammte der Krieg mit Massakern, Hinterhalten und ständigen Kämpfen um Nahrungsmittelverteilungsstellen wieder auf. Aus dem Sudan kamen Nahrungsmittel für die Bauern in die Gebiete unter TPLF-Kontrolle, aber alle Versuche der äthiopischen Regierung, Hilfsmaßnahmen durchzuführen und ihre Kontrolle auszudehnen, sind fehlgeschlagen. Im Frühjahr 1988, während die EPLF die äthiopische Armee in einer Schlacht im nördlichen Eritrea besiegte, startete die TPLF eine eigene Offensive. Sie eroberte mehrere Städte, darunter Aksum, die alte Hauptstadt von Äthiopien, und belagerte Makalle. Im März 1989 nahm sie Makalle ein und vertrieb die Äthiopier aus der gesamten Provinz. Diese Erfolge der TPLF griffen auf die westliche Provinz Gondar mit einem Massaker an den Angehörigen der TutsiMinderheit. Zwischen 1.000 und 4.000 Tutsi wurden getötet, dann kam die Armee œ hauptsächlich Tutsi œ und nahm blutige Rache an den Hutu. Insgesamt wurden mehr als 20.000 Menschen getötet, und etwa 50.000 Flüchtlinge strömten über die Grenze nach Rwanda. Viele von ihnen waren verwundet. Europäische Ärzte in grenznahen Spitälern berichteten von zahlreichen Frauen und Kindern mit schweren Rückenverletzungen. In manchen Dörfern waren alle Bewohner gezwungen worden, sich auf den Bauch zu legen, dann hatten die Soldaten mit Bajonetten auf sie eingestochen. Nur wenige -62-
waren entkommen. Ende 1988 allerdings waren bis auf rund 1.500 alle Flüchtlinge zurückgekehrt. Die Tutsi haben Rwanda vier Jahrhunderte lang beherrscht (außer während eines rund 60 Jahre währenden Kolonialzwischenspiels, als das Land Urundi hieß). Ursprünglich kamen sie aus dem Norden, vielleicht aus Äthiopien. Sie sind auffallend groß und haben nach europäischen Begriffen ein klassisches Profil. Als Minderheit haben sie ihre Herrschaft über die ethnische Mehrheit in Burundi, die Hutu, auf die einzig mögliche Weise aufrechterhalten: mit Gewalt. Die zwei Stämme sprechen jetzt dieselbe Sprache, und es gibt wieder Heiraten zwischen ihnen, aber trotzdem bleibt ihre Trennung besonders streng. Die später eingewanderten Tutsi bilden eine kleine Minderheit, knapp ein Sechstel der Bevölkerung. Es gibt in ganz Afrika nur noch einen anderen Staat mit einem ähnlichen Regierungssystem: Südafrika. Früher herrschten die Tutsi auch im benachbarten Rwanda (in der Kolonialzeit Rwanda), aber in einer Folge von Aufständen 1959-1962 überwand die Hutu-Mehrheit von Rwanda die Tutsi-Monarchie und Herrschaft. Während dieser Ereignisse wurden ca. 20.000 Tutsi ermordet, und 100.000 flohen nach Burundi. 1972, im schlimmsten nachkolonialen Völkermord in Afrika, wurden in Burundi ca. 100.000 Hutu von den Tutsi ermordet. 1988 brachen die Auseinandersetzungen erneut aus. GESCHICHTE Von 1899 bis zur Eroberung durch die Briten 1916 war RwandaUrundi Teil von Deutsch-Ostafrika. Es war eine abgelegene und vergessene Provinz. Die Deutschen, die sich auf die Entwicklung von mehr Erfolg versprechenden Gebieten wie Tanganjika konzentrierten, setzten sich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts fest und waren nicht lange genug an der Macht, um das Land wirklich zu prägen. In den Verhandlungen nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde das Gebiet Belgien zugeschlagen, einerseits als Kriegsentschädigung, anderseits wegen der Nachbarschaft zu Belgisch-Kongo. Die Friedensverhandler hatten wieder einmal die Landkarte falsch gelesen. Rwanda-Urundi war von Leopoldville noch weiter entfernt als von Dares-Salaam, und natürlich wurde die Bevölkerung nicht -63-
befragt. Eine Vereinigung mit Tanganjika wäre weit sinnvoller gewesen. Belgien erhielt ein Völkerbundmandat (und später eines der UNO) zur Verwaltung von Rwanda-Urundi, und die Hutu und Tutsi mußten sich nach wenigen Jahren deutscher Verwaltungssprache nun mit Flämisch und Französisch zurechtfinden. Rwanda und Urundi wurden zwar als eine einzige Kolonie verwaltet, aber trotzdem in ihrer getrennten Struktur belassen, da sie seit Generationen unabhängige
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BURUNDIE UND RWANDA. BURUNDI Geographie: Fläche 27.834 km2. Bevölkerung: 4,8 Millionen. Bei der Unabhängigkeit im Jahr 1962 waren 83 % der Bevölkerung Bantu, vor allem Hutu, 16 % Watussi (Tutsi) und 1 % Twa (Pygmäen). Seither gab es keine Volkserhebung. BSP: 250 $/Einw. RWANDA Geographie: Fläche 26.338 km2. Bevölkerung: 6,2 Millionen. Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit waren ungefähr 10 % Tutsi, 1 % Twa und der Rest Hutu. BSP: 290 $/Einw. Flüchtlinge: Vor den Ereignissen im August 1988: Aus Burundi 20.600 nach Rwanda, 156.000 nach Tansania, 9.600 nach Zaire. Aus Rwanda: 65.800 nach Burundi, 11.000 nach Zaire, 118.000 nach Uganda, 21.000 nach Tansania, 2.000 nach Kenya. Verluste: Zwischen 1959 und 1962 wurden in Rwanda 20.000 Tutsi ermordet; 1972 waren es 100.000 Hutu in Burundi; 1988 starben in Burundi 1.000 bis 4.000 Tutsi und bis zu 20.000 Hutu. Im August 1988 begannen die Hutu im Norden von Burundi ohne geringste Warnung mit einem Massaker an den Angehörigen der Tutsi-Minderheit. Zwischen 1.000 und 4.000 Tutsi wurden getötet, dann kam die Armee - hauptsächlich Tutsi - und nahm blutige Rache an den Hutu. Insgesamt wurden mehr als 20.000 Menschen getötet, und etwa 50.000 Flüchtlinge strömten über die Grenze nach Rwanda. Viele von ihnen waren verwundet. Europäische Ärzte in grenznahen Spitälern berichteten von zahlreichen Frauen und Kindern mit schweren Rückenverletzungen. In manchen Dörfern waren alle Bewohner gezwungen worden, sich auf den Bauch zu legen, dann hatten die Soldaten mit Bajonetten auf sie eingestochen. Nur wenige waren entkommen. Ende 1988 allerdings waren bis auf rund 1.500 alle Flüchtlinge zurückgekehrt. Die Tutsi haben Rwanda vier Jahrhunderte lang beherrscht (außer -65-
während eines rund 60 Jahre währenden Kolonialzwischenspiels, als das Land Urundi hieß). Ursprünglich kamen sie aus dem Norden, vielleicht aus Äthiopien. Sie sind auffallend groß und haben nach europäischen Begriffen ein klassisches Profil. Als Minderheit haben sie ihre Herrschaft über die ethnische Mehrheit in Burundi, die Hutu, auf die einzig mögliche Weise aufrechterhalten: mit Gewalt. Die zwei Stämme sprechen jetzt dieselbe Sprache, und es gibt wieder Heiraten zwischen ihnen, aber trotzdem bleibt ihre Trennung besonders streng. Die später eingewanderten Tutsi bilden eine kleine Minderheit, knapp ein Sechstel der Bevölkerung. Es gibt in ganz Afrika nur noch einen anderen Staat mit einem ähnlichen Regierungssystem: Südafrika. Früher herrschten die Tutsi auch ¡m benachbarten Rwanda (in der Kolonialzeit Ruanda), aber in einer Folge von Aufständen 1959-1962 überwand die Hutu-Mehrheit von Rwanda die Tutsi-Monarchie und Herrschaft. Während dieser Ereignisse wurden ca. 20.000 Tutsi ermordet, und 100.000 flohen nach Burundi. 1972, im schlimmsten nachkolonialen Völkermord in Afrika, wurden in Burundi ca. 100.000 Hutu von den Tutsi ermordet. 1988 brachen die Auseinandersetzungen erneut aus. GESCHICHTE Von 1899 bis zur Eroberung durch die Briten 1916 war RuandaUrundi Teil von Deutsch-Ostafrika. Es war eine abgelegene und vergessene Provinz. Die Deutschen, die sich auf die Entwicklung von mehr Erfolg versprechenden Gebieten wie Tanga-njika konzentrierten, setzten sich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts fest und waren nicht lange genug an der Macht, um das Land wirklich zu prägen. In den Verhandlungen nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde das Gebiet Belgien zugeschlagen, einerseits als Kriegsentschädigung, anderseits wegen der Nachbarschaft zu Belgisch-Kongo. Die Friedensverhandler hatten wieder einmal die Landkarte falsch gelesen. Ruanda-Urundi war von Leopoldville noch weiter entfernt als von Dar-es-Salaam, und natürlich wurde die Bevölkerung nicht befragt. Eine Vereinigung mit Tanganjika wäre weit sinnvoller gewesen. Belgien erhielt ein Völkerbundmandat (und später eines der UNO) zur Verwaltung von Ruanda-Urundi, und die Hutu und Tutsi -66-
mußten sich nach wenigen Jahren deutscher Verwaltungssprache nun mit Flämisch und Französisch zurechtfinden. Ruanda und Urundi wurden zwar als eine einzige Kolonie verwaltet, aber trotzdem in ihrer getrennten Struktur belassen, da sie seit Generationen unabhängige Königreiche gewesen waren. Sie wurden nicht so vereinigt, wie etwa die Briten die Königreiche in Uganda verschmolzen hatten. Die Belgier hatten den Plan, in beiden Ländern Regierungen unter Vorherrschaft der Hutu zu errichten, aber die Geschichte nahm einen anderen Lauf. Als in Rwanda 1959 der Tutsi-König starb, erhoben sich die Hutu gegen seinen Nachfolger. Überall im Land gab es Massaker, und die Leichen Hunderter Tutsi wurden in den Fluß geworfen und trieben in den Tanganjika-See. (Die Regierung von Rwanda bestreitet diese Zahlen.) Derzeit leben ca. 400.000 Flüchtlinge aus Rwanda in den Nachbarstaaten. Unter diesen Umständen traten die Belgier, die bereits den Kongo überhastet aufgegeben hatten, so geordnet wie möglich den Rückzug an. 1961 wurde das Land unabhängig, mit einer Hutu-Regierung unter Präsident Gregoire Kayibanda. Die Tutsi gelangten in Burundi unter dem Mwami (König) Mwambutsa IV. wieder an die Macht. Sein ältester Sohn, Prinz Rwagasore, wurde im Oktober 1961, während der Vorbereitungen zur Unabhängigkeit, ermordet; Mwami Mwambutsa übte bereits in den letzten Monaten der belgischen Herrschaft die absolute Macht aus, und dabei blieb es auch nach der Unabhängigkeitserklärung 1962. Im Mai 1965 errangen die Hutu bei den Parlamentswahlen zwar einen überwältigenden Sieg, aber der Mwami verweigerte die Anerkennung der Wahlergebnisse und ernannte einen Tutsi zum Premierminister. Der erste Hutu-Aufstand im Oktober 1965 kostete zwischen 2.500 und 3.000 Hutu das Leben, darunter mehr als 100 hochrangige Beamte und Offiziere. Der Mwami verließ das Land, und sein zweiter Sohn, Charles Ndizeye, bestieg den Thron im September 1966 als Ntare V. Im November wurde er von seinem eigenen Premierminister, Hauptmann Michel Micombero, gestürzt. Dieser übernahm die Präsidentschaft. Im September 1969 deckte Micombero eine Hutu-Verschwörung auf und ließ mehr als 20 prominente Hutu exekutieren, darunter einen -67-
amtierenden und zwei frühere Minister; andere wurden eingesperrt. Im Juli 1971 flog eine Tutsi-Verschwörung auf, und Micombero ließ eine Reihe prominenter Tutsi hinrichten. Am 29. April 1972 begann ein Aufstand der Hutu in der Hauptstadt Bujumbura und in den südlichen Teilen des Landes. Die rund 10.000 Rebellen wurden von einer kleinen Truppe Exil-Hutu ebenso unterstützt wie von einigen der überlebenden Söldner von Pierre Mulele, der im Bürgerkrieg im Kongo eine gewisse Rolle gespielt hatte. Die Regierung von Burundi behauptete, daß 50.000 Tutsi getötet worden seien, aber die Gesamtzahl der Opfer betrug wohl eher 2.000, davon die meisten Hutu. Die Invasoren, die die Radiostation von Bujumbura angriffen, konnten leicht zurückgeschlagen werden. Präsident Mobutu von Zaire entsandte ein kleines Truppenkontingent in die Hauptstadt, so daß die Armee von Burundi sich auf das Massaker an den Hutu konzentrieren konnte. Eines der ersten Opfer war der frühere Mwami, Ntare V. Er befand sich im März 1972 auf einer Geschäftsreise in Uganda, und Micombero forderte Idi Amin auf, den Ex-König, unter Zusicherung freien Geleites, nach Bujumbura auszuliefern: ‡Wie Sie glaube ich an Gott ... Eure Exzellenz können versichert sein, daß Mr. Charles Ndizeye, sobald er in mein Land zurückkehrt, als ein normaler Staatsbürger behandelt wird und daß sein Leben und seine Sicherheit garantiert sind.— Ntare wurde dann kurzerhand in Micomberos Präsidentenflugzeug geschleppt und gegen seinen Willen nach Bujumbura geflogen. Kurz nach dem Ausbruch der Revolte am 29. April wurde er ermordet. Am 30. April verhängte die Regierung ein Ausgangsverbot von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang. Soldaten und Angehörige der Tutsi-Jugendbewegung schwärmten aus und töteten alle Hutu, die lesen und schreiben konnten, alle Politiker, Lehrer, Geschäftsleute und Zehntausende Bauern. An der Universität von Bujumbura wurde ein Drittel der Studenten ermordet, und in der Mittelschule der Hauptstadt 300 von 700 Schülern, dazu 60 % des protestantischen Klerus œ alles Hutu. Es war ein gründlicher Versuch, jeden Hutu auszurotten, der sich irgendwann an die Spitze einer Oppositionsbewegung gegen die Tutsi hätte stellen können. Es gibt keine genaue Schätzung der Todesopfer, aber 100.000 gelten als gesichertes Minimum. Reginald -68-
Kay schreibt, daß nach vorsichtigen Schätzungen einschließlich der Toten des kurzen Hutu-Aufstands zwischen 80.000 und 100.000 Opfer anzunehmen sind. Aber er führt aus, daß ‡seriöse Quellen 150.000, also 5 % der Bevölkerung, für durchaus möglich halten.— Ungefähr 150.000 Hutu flüchteten ins Ausland. Es gab keine Proteste. Weder von der OAU, der UNO oder von westlichen Staaten, die (Kay) ‡auf Grund ihres schlechten Gewissens an einer tiefverwurzelten Scheu leiden, die Regierungen der Nationen in der Dritten Welt zu kritisieren—. DAS MODERNE BURUNDI Burundi hat sich von diesen schrecklichen Ereignissen niemals erholt. Micombero wurde 1976 in einem Staatsstreich durch seinen Cousin, Oberst Jean-Baptiste Bagaza, ersetzt. Die beiden Männer hatten miteinander in der Präsidentenloge einem Fußballspiel zugesehen, und nebenbei eröffnete Bagaza seinem Verwandten, daß die vielen Soldaten rund um das Stadion zu ihm übergelaufen seien, und nun sei er, Bagaza, Präsident. Micombero wurde in ein Flugzeug gesetzt und ins Exil geschickt. Bagaza war während der Massaker von 1972 außer Landes gewesen und daher frei von persönlicher Schuld, aber er setzte die Politik der gnadenlosen Unterdrückung der Hutu fort. 1987 stellten die Hutu 4 Minister in der Regierung (von 20), einen von 15 Provinzgouverneuren, 7 Hutu saßen in der Nationalversammlung und 2 im 65köpfigen Zentralkomitee der Regierungspartei. Sehr wenige Hutu-Kinder gehen in höhere Schulen, und nur ein Drittel der Studenten sind Hutu. Nachdem die Hutu überwiegend Katholiken sind, erstreckt sich die Unterdrückung mittlerweile auch auf die Kirche. Ausländische Missionare und Priester wurden ausgewiesen, darunter auch der Bischof von Bururui, der 50 Jahre in Burundi gewirkt hatte; kirchliche Schulen wurden geschlossen, und kirchlicher Landbesitz wurde enteignet. Die Regierung war eine ungeliebte Diktatur, ohne Freunde im Ausland, und die Wirtschaft des Landes verfiel. Die Haupteinnahmequelle des Landes war der Export von Kaffee, der hauptsächlich von HutuBauern in den nördlichen Provinzen gepflanzt wird. Große Teile der Ernte werden allerdings über die Grenze nach Rwanda geschmuggelt. Die einzige Unterstützung aus dem Ausland kam von Frankreich, das -69-
alle französischsprachigen Länder unterstützt œ obwohl Französisch als Unterrichtssprache in den Schulen verboten worden war. Im September 1987 fegte ein unblutiger Militärputsch die Regierung hinweg, und ein neuer Präsident, Major Pierre Buyoya, übernahm das Amt. Er war während der Massaker von 1972 in Brüssel gewesen und weniger paranoid als Bagaza. Er begann, die Beziehungen zwischen Tutsi und Hutu wiederherzustellen. Er begnadigte alle politischen Gefangenen, gab der Kirche ihren Besitz zurück, stellte einige Tutsi unter Korruptionsanklage und forderte seine Tutsi-Stammesgenossen auf, den Hutu die gleichen politischen Rechte zuzubilligen. Im relativ entwickelten Norden reagierten die Hutu zwar auf Buyoyas Versprechungen, aber die lokale Tutsi-Verwaltung tat das nicht. In dem Gebiet wurden Gerüchte über bevorstehende Auseinandersetzungen verbreitet. Eine Quelle berichtet, daß der TutsiBürgermeister von Marangara, einer Stadt im Norden, den Hutu in seinem Ort am 28. Juni 1988 zurief: ‡Ihr schleift eure Messer, aber unsere sind bereits geschärft, und sie schneiden besser als eure!— Dann marschierten Regierungstruppen, hauptsächlich Tutsi, in den Norden ein œ zu Manövern und zum Kampf gegen den Kaffeeschmuggel. Die Hutu dachten, die Soldaten kämen, um sie zu ermorden, und manche begannen mit Sabotageakten gegen Brücken, oder sie blockierten Straßen mit umgestürzten Lastwagen, um die Armeefahrzeuge zu behindern. Am 14. August wurde die kleine Tutsi-Bevölkerung von Marangara von Panik ergriffen. Sie flohen in den Norden, in das Dorf Ntega, wo viele in einer Kirche Zuflucht suchten. In den folgenden Tagen wurden 2.000 bis 3.000 Tutsi von den Hutu getötet, darunter auch die Menschen in der Kirche. Die Armee tauchte am 18. August auf und nahm unverzüglich Rache. Die Schätzungen von etwa 20.000 Toten stammen von Entwicklungshelfern und Ärzten in einem grenznahen Spital in Rwanda. An manchen Tagen kamen bis zu 5.000 Flüchtlinge über die Grenze, Ende August hatten rund 50.000 Menschen das rettende Rwanda erreicht. Journalisten, die das Land bereisten, berichteten, daß einst dicht besiedelte Gebiete des Nordens menschenleer waren. Einen Monat zuvor hatten 150.000 Menschen friedlich in ihren Bergdörfern gelebt. Nun war alles vorbei. Die Menschen hatten sich im Busch versteckt, waren geflohen oder tot. -70-
Die Regierung verkündete, daß der Aufruhr von Hutu aus dem Exil in Rwanda und Zaire gelenkt worden sei, und sie spielte die Massaker herunter, so wie ihre Vorgänger es 1972 getan hatten. Im Oktober führte Präsident Buyoya das Amt des Premierministers ein, und er ernannte dazu Adrien Sibomana, einen Hutu. Die Zahl der HutuKabinettsmitglieder, zwischenzeitlich auf 7 erhöht, wurde jetzt auf 11 erweitert. Die Regierungsmaßnahmen sicherten dem Norden vorläufigen Frieden, und die meisten Flüchtlinge kehrten zurück. Die Macht verbleibt aber bei den Tutsi, und beide Stämme leben in Angst vor einer Wiederkehr der Auseinandersetzungen.
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LIBYEN
Geographie: Fläche 1,759.540 km× œ das ist ungefähr die Größe von Westeuropa. Das Land besteht praktisch nur aus Wüste. Bevölkerung: 4,2 Millionen Einwohner. BSP: 7.170 $/Einw. Rohstoffe: Libyen hat geschätzte 21,2 Millionen Barrel Erdölreserven. Bis zur Entdeckung des Erdöls war dieser öde Wüstenstrich eines der ärmsten Länder des Nahen Ostens. In der zweiten Hälfte der siebziger und zu Beginn der achtziger Jahre œ bis zum drastischen Rückgang des Ölpreises œ hatte Libyen eines der höchsten Pro-KopfEinkommen der Welt, und mit einem jährlichen Pro-KopfEinkommen von mehr als 7.000 $ ist das Land auch heute noch reich. GESCHICHTE An der Küste findet man überall die Überreste versunkener Zivilisationen, stumme Mahnmale der Vergänglichkeit von Wohlstand und Ruhm. In der Hauptstadt Tripolis im Westen des Landes gibt es einen kleinen Friedhof, wo einige der US-Marineinfanteristen begraben liegen, die 1804 auf der Jagd nach Piraten die Küste stürmten. Die Wüstenschlachten des Zweiten Weltkriegs haben zahlreiche unübersehbare Spuren hinterlassen: Italiener, Deutsche und Briten kämpften kreuz und quer durch das Land, besonders in der östlichen Provinz, der Cyrenaika, bevor Rommel 1943 endgültig besiegt wurde. Libyen war der letzte nordafrikanische Besitz des Osmanischen Reiches, bis es 1911 von Italien besetzt wurde. Die Italiener schlugen wilde Schlachten gegen die libyschen Stämme; schließlich trieben sie die hartnäckigsten in die Wüste und ließen sie verhungern. Mussolini, der von der Wiedererrichtung des Römischen Weltreichs träumte, vollendete die Eroberung, ließ römische Städte aus dem Wüstensand ausgraben, Bewässerungssysteme wiederherstellen und mitten zwischen Tripolis und Bengasi einen riesigen Triumphbogen errichten œ größer als der von Napoleon. Mussolini siedelte auch 300.000 -72-
italienische Bauern (‡Agrarkolonisten—) in Libyen an, und die Städte waren einige Jahre lang nicht weniger italienisch als Palermo oder Neapel. Mit dem Krieg verloren die Italiener auch ihr afrikanisches Imperium. Die Briten besetzten Libyen bis 1951, dann setzten sie als König Amir Sajd Mohammed Idris ein, den Führer der ‡Islamischen Bewegung— des Senussi-Stammes, der in den zwanziger Jahren den Widerstand gegen die Italiener angeführt hatte. Mussolini hatte Libyens wahren Reichtum übersehen: Das Erdöl wurde erst 1958 entdeckt und wurde sehr schnell Grundlage einer riesigen Industrie. Die britische Präsenz in Libyen wurde rasch abgebaut, aber die USA behielten bei Tripolis den großen Luftwaffenstützpunkt Wheelus Field, hauptsächlich für Trainingszwecke. Mit dem Anwachsen des libyschen Reichtums wie der Zahl der gutausgebildeten jungen Libyer wurde die konservative arabische Monarchie zu einem Anachronismus, um so mehr, als das Land an Nassers Ägypten und Boumediennes Algerien grenzte. Es ist erstaunlich, daß sich König Idris überhaupt so lange halten konnte. Er überstand sogar die Aufstände, die nach der Niederlage Ägyptens im Sechstagekrieg ausbrachen. Eine Anzahl libyscher Juden wurde ermordet, und die etwa 4.500 Überlebenden flüchteten aus dem Land. Idris wurde schließlich am 1. September 1969 abgesetzt, während er auf Staatsbesuch in Athen war, und eine Gruppe junger Offiziere übernahm die Macht œ ihr Anführer war Oberst Muammar al Gaddafi. Das neue Regime riß den italienischen Triumphbogen nieder, schloß Wheelus Field und kündigte Libyens Bündnisse mit dem Westen auf. Die Italiener wurden enteignet und des Landes verwiesen. Gaddafis erster großer Coup war die Verstaatlichung der ausländischen Ölfirmen und die Forderung nach einem marktgerechten Ölpreis. Dieses Beispiel wurde von anderen arabischen Staaten und dem Iran 1973, nach dem Yom Kippur-Krieg, mit Begeisterung nachgeahmt, und Libyen war plötzlich unvorstellbar reich. Der Preis des libyschen Erdöls war von 2,23 $ im Jahr 1961 auf 2,71 $ im Jahr 1971 gestiegen. Im Juli 1971 zog Gaddafi den Preis auf 3,42 $ an und im April 1973 auf 4,00 $ pro Barrel. Nach dem Yom -73-
Kippur-Krieg, als Saudi-Arabien die Ausfuhr einschränkte, hob Libyen den Preis für sein Öl auf 16.00 $ am 1. Januar 1974 und schließlich auf 21.00 $ im Mai an. Nach der Revolution im Iran stieg der Preis schließlich im Januar 1980 noch einmal auf 34.00 $ und erreichte mit 41,00 $ im Jahre 1981 seinen höchsten Punkt. Mit dem Preis steigerte Libyen auch die Förderung. So konnte das Land seine Einkünfte aus dem Erdöl von 3 Millionen Dollar im Jahr 1961 auf 1,7 Milliarden 1969, 2,2 Milliarden 1973, 8 Milliarden 1978 und 22 Milliarden 1980 steigern. LIBYEN UNTER GADDAFI Gaddafi betrachtet sich selbst als den Erben Nassers, mußte aber in seinem Ehrgeiz ständig Rückschläge einstecken. Seine ausländischen Abenteuer waren samt und sonders erfolglos, und obwohl andere arabische Führer stets bereit waren, sein Geld zu nehmen, sind sie nicht bereit, ihn ernst zu nehmen. Gaddafi hat mehrmals Fusionsverträge mit Ägypten, Syrien, Tunesien, Tschad, Marokko und (den bislang letzten) Sudan unterschrieben, und mit den meisten dieser Länder auch Verträge über ewige Freundschaft. Keiner dieser Verträge hat lange gehalten. König Hassan hat die Union mit Marokko im August 1986 aufgekündigt. 1987 hat Gaddafi Niger umworben, eine verarmte Nation südwestlich der Sahara. 1977 hat Gaddafi einen kleinen Grenzkrieg mit Ägypten provoziert. Später fiel er in Tunesien ein, das sich schon weit schlechter selbst verteidigen konnte, und die Franzosen mußten Kriegsschiffe entsenden, um ihn zur Besinnung zu bringen. Libysche Truppen sind im Tschad einmarschiert, wo sie besiegt wurden, und die Truppen, die er zur Unterstützung von Idi Amin nach Uganda schickte, wurden ebenfalls geschlagen (siehe TSCHAD und UGANDA). Und er hat sich wiederholt in die Aufstände und Bürgerkriege im Sudan eingemischt. Libyen war zwar eine Zeitlang mit der Sowjetunion verbündet, hat sich aber stets geweigert, der UdSSR Marine- oder Luftwaffenstützpunkte einzuräumen. Gaddafis Träume von militärischem Ruhm haben ihn dazu gebracht, Milliarden Dollar für sowjetische Waffen auszugeben, weit mehr als seine Armeen -74-
tatsächlich verbrauchen können œ und die Sowjets ließen sich von ihm in baren Dollars bezahlen. Sein einziger enger Verbündeter war Malta, das die libysche Großzügigkeit bereitwillig akzeptierte, seine tiefe Feindschaft gegenüber dem Westen verkündete und trotzdem westlich orientiert bleibt. Gaddafi hat auch seine ewige Bewunderung für Khomeinis Iran verkündet, obwohl er, als gläubiger Sunnit, den schiitischen Glauben als Ketzerei betrachtet. Gaddafi hält sich für einen politischen Theoretiker von höchster Bedeutung, und um das zu untermauern, schrieb er ein ‡Grünes Buch—, das sich an Mao Tsetungs ‡Rotem Buch— anlehnt. Grün ist die Farbe des Islam, und Gaddafis Theorien sind der Versuch, Islam und Marxismus zu verschmelzen. Er hat in Libyen ein strikt islamisches Rechtssystem eingeführt, einschließlich des Alkoholverbotes. 1973, mitten in den Vereinigungsverhandlungen mit Ägypten, mobilisierte er das Volk für einen ‡Arabischen Vereinigungsmarsch— auf Ägypten, um Druck auf Sadat auszuüben. Die Libyer waren von dieser Idee begeistert und fuhren zu Tausenden mit Privatautos, Lastwagen und Landrovern an die ägyptische Grenze. Die Ägypter waren wohl vorbereitet und empfingen sie mit großen Mengen Alkohol, den sie den Libyern gegen harte Devisen verkauften. Gaddafi brach diesen Invasionsversuch ab, und die Libyer gingen fröhlich wieder nach Hause. Einmal hat er eine internationale Konferenz einberufen, um die Theorien des ‡Grünen Buches— und die Probleme der Welt zu diskutieren. Einer der ersten Punkte der Tagesordnung war der dringende Plan, die Große Moschee von Granada dem Islam wiederzugewinnen, die unglückseligerweise seit 1492 von den Spaniern ‡besetzt— ist. Der libysche Sozialismus ist ein glatter Fehlschlag. Gaddafi hat das private Unternehmertum und den privaten Grundbesitz abgeschafft und die traditionellen arabischen Märkte durch staatliche Warenhäuser ersetzt, in denen man oft genug die notwendigsten Grundnahrungsmittel nicht finden kann. Nachdem auch der private Obst- und Gemüseanbau verboten ist, gibt es nur dann frische Früchte, wenn sie aus Europa importiert werden. Diese Mängel sind das Resultat von Unfähigkeit und Doktrinen, nicht von Armut. Allerdings wurden auch die gigantischen Pläne zur Errichtung neuer Städte in der -75-
Wüste und eines Hafens wie eines Industriezentrums bei Misratah an der Syrte nach dem Sinken des Erdölpreises entweder fallengelassen oder zumindest verschoben. TERRORISMUS Gaddafi wäre eine ziemlich uninteressante exzentrische Randfigur der Weltpolitik, hätte er nicht den Terrorismus zu einem Mittel seiner Politik gemacht. Er hat die Ermordung libyscher Exilpolitiker im Nahen Osten, in Europa und in den USA befohlen. Als ein libanesischer Würdenträger, der Schuten-Führer Imam Musa Sadr, 1978 Libyen einen Besuch abstattete, wurde er in krasser Verletzung des arabischen Gastrechts ermordet, und Gaddafi hat auch sprengstoffbeladene LKW nach Ägypten geschickt, um die USBotschaft in die Luft zu jagen, und er hat amerikanische Terroristen, angeführt vom Ex-CIA-Agenten Edwin Wilson, angeheuert, Libyer in diesem Gewerbe zu unterrichten. Er unterstützt die IRA und verschiedene arabische Terrororganisationen und hat Staatsstreiche in Ägypten, Sudan, Tschad und Tunesien unterstützt. Die Regierungen der drei letztgenannten Staaten mußten von ihren westlichen Alliierten gerettet werden. 1973, während der kurzlebigen Union mit Ägypten, charterte eine Gruppe amerikanischer Juden die Queen Elizabeth II für eine Mittelmeerkreuzfahrt und um Israel zur 25-Jahr-Feier seiner Unabhängigkeit zu besuchen. Gaddafi erteilte den Befehl, daß ein UBoot der libyschen Kriegsmarine, auf dem ägyptische Offiziere Dienst taten, den Luxusdampfer versenken sollte. Der Kapitän lief allerdings in Alexandria ein und erstattete Präsident Sadat Bericht. Nach dem Scheitern dieser Union verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Ägypten und Libyen. 1977 schickte Gaddafi eine Gruppe Saboteure nach Ägypten. Etliche wurden am 12. Juli verhaftet. Eine Woche später gab es ein Grenzscharmützel, bei dem nach ägyptischen Angaben 20 libysche gepanzerte Fahrzeuge zerstört und ihre Besatzungen getötet wurden. Sadat entschied, daß es an der Zeit sei, Gaddafi eine Lehre zu erteilen, und eine ägyptische Panzereinheit griff den libyschen Stützpunkt Masaad an, 8 Kilometer jenseits der Grenze. Dabei wurden 40 libysche Panzer zerstört und 42 -76-
Libyer gefangen. Ägyptische Jagdflugzeuge schossen zwei libysche Maschinen ab. Am nächsten Tag flog die ägyptische Luftwaffe einen regelrechten Angriff auf den wichtigen libyschen Flugplatz El Adem bei Tobruk; dabei sollen drei sowjetische Berater getötet worden sein. Sadat gab die Schuld an dem Angriff ‡diesem höchst merkwürdigen Menschen— Gaddafi und meinte, ‡gestern und heute haben unsere Streitkräfte ihm eine Lektion erteilt, die er nicht vergessen wird.— Bei weiteren ägyptischen Luftangriffen am 23. und 24. Juli wurden viele libysche Flugzeuge zerstört, während die Ägypter nur zwei Maschinen einbüßten. Libyen mobilisierte 30.000 Reservisten, und Ägypten verlegte eine gepanzerte Division an die Grenze. Am 24. Juli rief Sadat dann aber einen einseitigen Waffenstillstand aus. Nach seinen Problemen mit Ägypten ‡vereinigte— Gaddafi sein Land mit Tunesien. Diese Union brach 1978 auseinander, und am 27. Januar 1980 unternahm ein Kommandotrupp von rund 50 Libyern und Exiltunesiern einen Angriff auf Gafsa im südlichen Tunesien. Die Attacke war gut vorbereitet und gut durchgeführt. Die Soldaten kamen von Algerien über die Grenze und griffen die Polizei Station, ein Armeelager und eine Milizkaserne an, wobei 41 Menschen, vorwiegend Soldaten, ums Leben kamen. Dann zogen sie sich nach Libyen zurück. Die Franzosen schickten für den Fall weiterer libyscher Feindseligkeiten ein Marinedetachement nach Tunis, worauf am 4. Februar libyscher Mob die französische Botschaft in Tripolis und das Konsulat in Bengasi niederbrannte. Danach kam es zu keinem weiteren Angriff mehr, vielleicht auch dank der französischen Präsenz. Libyens Reaktion folgte einem Muster. Wann immer Libyen Probleme mit einem anderen Staat hat, tritt der Mob auf den Plan und brennt die jeweilige Botschaft in Tripolis nieder œ die britische und die US-Botschaft gingen in Flammen auf, ehe die beiden Länder ihre diplomatischen Beziehungen mit Libyen abbrachen. Gaddafi hat seine eigene Botschaften für verschiedene Zwecke mißbraucht. Die in London wurde in einen Stützpunkt für Terroristen umgewandelt, und als am 17. April 1984 eine Gruppe Exil-Libyer gegen Gaddafi und die öffentliche Hinrichtung zweier Studenten am Galgen in Tripolis demonstrierte, eröffnete ein Mann aus der Botschaft heraus das Feuer, tötete eine englische Polizistin und verwundete 11 Menschen. -77-
Im Juli 1984 wurden im Roten Meer Seeminen gefunden. Sie beschädigten mehrere Schiffe und mußten mit großem Aufwand von einer internationalen Minensuchflotte geräumt werden, der amerikanische, britische, sowjetische und französische Marineeinheiten angehörten. Unmittelbar vor dem Auftauchen der ersten Mine hatte ein libysches Schiff das Rote Meer passiert, und es erscheint mehr als wahrscheinlich, daß die Verminungsaktion von Gaddafi ausging und gegen Ägypten gerichtet war. Gaddafi war der Ansicht, dank der geographischen und politischen Gegebenheiten ein gesichertes Leben zu führen, in Wahrheit ist Libyen eines der strategisch verwundbarsten Länder der Welt, die Städte und Ölanlagen sind an der rund 2.400 Kilometer langen Küste aufgefädelt, und seine Armee und Luftwaffe sind außerstande, das alles zu verteidigen. Die anderen Staaten, die unter schwerem Verdacht stehen, den Terrorismus zu unterstützen œ Syrien und Iran œ sind geographisch und militärisch weit besser geschützt, wie die USA herausgefunden haben. Darüber hinaus würde keiner von Gaddafis gekauften Alliierten einen Finger zu seiner Unterstützung rühren. 1981 verkündete die Regierung Reagan in einem etwas komischen Anfall von Panik, daß Gaddafi Terrorkommandos aussenden wolle, um amerikanische Politiker zu ermorden. Sandgefüllte Lastwagen wurden hastig rund um das Weiße Haus und das Capitol postiert und später durch massive Betonsperren ersetzt, um diese Gebäude gegen eingebildete Bombenattentäter zu schützen. Es gab niemals wirkliche Beweise dafür, daß Gaddafi solche Mordkommandos losgeschickt hatte, obwohl er derartiges in Tunesien und Ägypten eindeutig getan hatte. Er unterstützte auch Abu Nidal, den skrupellosesten der palästinensischen Terroristen. Im Mai 1981 behaupteten die Vereinigten Staaten, die libysche Botschaft in Washington sei ein Terroristenstützpunkt, und schlossen sie. Später entsandte Präsident Reagan die Sechste Flotte als Warnung für Gaddafi dreimal in die Syrte. Am 9. August 1981 schossen Jagdflugzeuge von einem US-Flugzeugträger zwei libysche Maschinen ab, die sie erfolglos mit Luft-Luft-Raketen angegriffen hatten. Es gab im Februar 1983 einen weiteren Zwischenfall zwischen amerikanischen und libyschen Kampfflugzeugen im Golf, und die USA entstandten AWAC-Flugzeuge nach Ägypten, zur -78-
Früherkennung aller etwaigen Angriffe des Oberst Gaddafi auf den Nachbarn. Im März 1986 schickten die Amerikaner eine gewaltige Flotte mit drei Flugzeugträgem in den Golf. Gaddafi proklamierte eine ‡Todeslinie— im Golf, den er als libysches Territorium beansprucht, und schickte mit erstaunlicher Hartnäckigkeit kleinere Marineeinheiten zum Angriff auf die amerikanische Flotte. Die Amerikaner zerstörten zumindest zwei libysche Schiffe und eine libysche SAM-Raketenstellung an der Syrte, nachdem die Libyer sechs SAM auf sie abgefeuert hatten. Offiziell wurden dabei 72 Libyer getötet. Am 5. April 1986 explodierte in einer West-Berliner Bar, die hauptsächlich von amerikanischen Soldaten besucht wurde, eine Bombe. Sie tötete einen Amerikaner und eine Türkin. Die Amerikaner gaben bekannt, daß sie Beweise hätten, daß dieser Angriff in Libyen geplant worden sei œ Beweismaterial, das aus abgehörten Funksprüchen zwischen Tripolis und der libyschen Botschaft in OstBerlin bestand, die als Angriffsbefehl auf die amerikanische Bar gedeutet wurden und danach als Glückwünsche zur Durchführung. Später stellte sich heraus, daß dieser Anschlag von libanesischen Terroristen durchgeführt worden war, die möglicherweise von Syrien gesteuert wurden. Am 14. April befahl Präsident Reagan den Angriff auf Libyen. Aus niemals geklärten Gründen wurde die Sechste Flotte als ungeeignet für diesen Angriff eingeschätzt. (Wenn eine komplette Trägergruppe einen Gegner wie Libyen nicht angreifen können soll, welchen Stellenwert soll sie dann in einem richtigen Krieg gegen einen richtigen Feind haben?) Die Flugzeuge des Trägerverbandes wurden mit F-111 verstärkt, die in Großbritannien stationiert waren. Frankreich und Spanien, beide NATO-Partnerstaaten, verweigerten die Überfluggenehmigung, und daher mußten sie 4.500 Kilometer über Atlantik und Mittelmeer zurücklegen, ehe sie am Zielort ankamen. Während der ganzen Aktion, die 14 Stunden dauerte, mußten sie mehrmals in der Luft betankt werden. Die Angriffe zerstörten eine Reihe libyscher Militäranlagen in und um Tripolis und Bengasi, eine F-111 und die zweiköpfige Besatzung -79-
gingen verloren. Eines der ausgewählten Ziele war Oberst Gaddafis persönliches Hauptquartier im Stützpunkt El Azziziya in Tripolis. Dabei wurden große Schäden angerichtet, und unter den Toten war eine kleine Tochter Gaddafis; zwei andere seiner Kinder wurden verwundet. Sein eigenes Zelt allerdings, das mitten in dem Lager aufgeschlagen war, blieb verschont. Das Pentagon bestritt, Gaddafi persönlich nach dem Leben getrachtet zu haben, ein Dementi, das nicht allzu ernst genommen werden sollte. Bei dem Angriff wurde auch die französische Botschaft zerstört, Diplomatenhäuser Rumäniens, Österreichs, der Schweiz und Japans wurden beschädigt œ sehr zum Erstaunen des Pentagons, das von der Zielsicherheit seiner ‡intelligenten Bomben— überzeugt war und zunächst auch französische Meldungen über diese Schäden bestritt. Später stellte sich heraus, daß fünf der achtzehn F-111 -Bomber und zwei der 15 A-6, die diesen Angriff flogen, ihre Bomben gar nicht abgeworfen hatten, nachdem all die hochentwickelte Elektronik versagt hatte und sie über ihre Ziele im unklaren waren. Innerhalb weniger Wochen nach dem Luftangriff hatten die Libyer die Radaranlagen und die SAM-Stellungen ersetzt. Militärisch bewies dieser Angriff, daß die US-Luftwaffe zwar durchaus in der Lage ist, ein Ziel anzugreifen, das weit von ihren Stützpunkten entfernt ist, daß aber die Präzision lange nicht so groß ist, wie immer behauptet worden war. Niemand, der die Behauptungen verschiedener Luftwaffen im Zweiten Weltkrieg und in Vietnam kennt, war darüber im mindesten erstaunt. Politisch war der Angriff für die USA ein Erfolg. Oberst Gaddafi wurde offensichtlich durch sein knappes Entkommen ernsthaft erschüttert und spielte in den folgenden 18 Monaten in der Weltpolitik nur eine geringe Rolle. Libyen feuerte zwei Raketen auf den amerikanischen Küstenwache-Stützpunkt auf der Insel Lampedusa vor Sizilien ab, die nicht trafen; ein amerikanischer Techniker in der USBotschaft in Khartum wurde angeschossen und schwer verletzt; und Gaddafis libanesische Verbündete beantworteten den Angriff auf Libyen mit der Ermordung dreier Geiseln , die sie festhielten, zwei Briten und ein Amerikaner. Mrs. Thatchers Popularität überstand auch die Kritik der Labour Party, die britischen Luftwaffen Stützpunkte zur Verfügung gestellt zu haben, und die Verstimmung der Amerikaner -80-
über Frankreichs Nicht-Hilfe-Leistung wurde von den Feiern des 100. Geburtstages der Freiheitsstatue überdeckt. Am 4. Januar 1989 kamen zwei libysche MIC einer Fliegerpatrouille der 6. US-Flotte zu nahe und wurden abgeschossen. Der Zwischenfall fiel zeitlich mit einer internationalen Debatte über einen amerikanischen Bericht zusammen, daß Libyen eine Fabrik errichte, die zur Herstellung von Giftgas tauglich sei. Einige Tage schien eine weitere ernsthafte Auseinandersetzung zwischen den USA und Libyen möglich, aber diesmal entschlossen sich beide Seiten zur Mäßigung als der klügsten Entscheidung. Es war zwei Wochen vor dem Präsidentenwechsel in den Vereinigten Staaten, und offensichtlich wollte Gaddafi abwarten, wie Präsident Bush reagieren würde. Die Libyer öffneten später die Fabrik einer internationalen Inspektion, die weder Beweise noch eine tatsächliche Entlastung erbrachte. Die Libyer scheinen die Produktion fortgesetzt zu haben, aber im März 1990 kam es zu einem spektakulären Großbrand, der die Fabrik zerstörte. Der amerikanische Verteidigungsminister gab grinsend eine Erklärung ab, daß die USA mit diesem Feuer nichts zu tun hätten. Im April hieß es dann, der Brand sei vielleicht nur ein Bluff der Libyer gewesen. LIBYEN HEUTE Es gab verschiedene Versuche, Oberst Gaddafi zu ermorden, und zumindest einen Staatsstreichversuch am 8. Mai 1984: Ein Kommandotrupp versuchte, das Lager El Azziziya zu stürmen, wurde aber entdeckt. Die Angreifer suchten in einem Gebäude in Tripolis Zuflucht, wo sie alle getötet oder gefangen wurden. Die wiederholten Versuche Gaddafis, sich in die Politik der Nachbarstaaten einzumischen, und gewiß auch die demütigende Niederlage im Tschad-Krieg 1987 haben in der Armee offensichtlich Widerstand erzeugt. Vielleicht wird Gaddafi eines Tages das Schicksal so vieler anderer arabischer Potentaten erleiden, obwohl man in Betracht ziehen muß, daß Ägypten und die anderen nordafrikanischen Staaten eigentlich keine Tradition darin haben, ihre politischen Auseinandersetzungen durch Staatsstreiche oder Attentate zu lösen. Libyen ist nicht Libanon, Syrien oder Irak. -81-
Derzeit muß man wohl annehmen, daß Gaddafi seine Stärke wiedererlangen und seine Freude an der Einmischung im Ausland wieder finden wird. Bereits 1987 nahm er die umfangreichen Waffenlieferungen an die IRA wieder auf. Am 30. Oktober brachte die französische Kriegsmarine vor der britischen Küste den Frachter Eksund auf, der 150 Tonnen Waffen für die irischen Terroristen geladen hatte, darunter 20 SAM-7, zehn 12,77-mmMaschinengewehre, Panzerabwehrraketen und 1.000 Kalaschnikows AK-47. Der US-Angriff scheint Gaddafis bizarre Persönlichkeit nicht beeinflußt zu haben. Bei einem arabischen Gipfeltreffen in Algerien im Juni 1988 trug er ständig einen weißen Handschuh, wie der Popsänger Michael Jackson, so daß er seine Hand niemals durch den Kontakt mit dem marokkanischen König Hassan beflecken mußte, der zuvor den israelischen Premierminister Schimon Peres zu Gesprächen über die Nahost-Situation getroffen hatte. Der libysche Führer zog auch stets eine Kapuze über den Kopf, wenn König Hussein von Jordanien sprach und blies König Fahd von Saudi-Arabien, der neben ihm saß, Zigarrenrauch ins Gesicht. Bei einem früheren Gipfeltreffen in Addis Abeba war es Gaddafi gelungen, die konservativen arabischen Führer zu brüskieren, indem er ständig mit einer Leibwache von wohlgeformten Soldatinnen herumlief, die ihn offensichtlich vor den männlichen Bodyguards der traditionelleren Herrscher beschützen sollten. Im Laufe des Jahres 1988 versuchte Gaddafi, die Beziehungen zu manchen seiner Widersacher zu verbessern. Er öffnete die Grenze zu Tunesien wieder und nahm den Waffenstillstand im Golfkrieg zum Anlaß, seine Grenzzäune zum Irak auszubessern. Er stellte die diplomatischen Beziehungen zum Tschad wieder her, und im August 1989 stimmte er der Suche nach einer friedlichen Lösung der restlichen offenen Fragen zu œ ebenso wie dem Vorschlag, die Entscheidung über den Aouzou-Streifen dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu übertragen. Er versuchte auch, die Kontakte mit den Staaten Europas neu zu knüpfen. Im November schickte er seinen Stellvertreter Major Abdul Salaam Jalloud nach Rom, um dort das durch den Raketenangriff auf Lampedusa gestörte Verhältnis zu bereinigen œ in der Hoffnung, daß dann nach Italien -82-
auch der Rest von Europa wieder normale Handelsbeziehungen mit Libyen aufnehmen würde. Vielleicht plante er auch zu versuchen, sein Verhältnis zu Großbritannien und den USA zu verbessern. Allerdings zeigten beide Länder daran kein Interesse.
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MAROKKO
Geographie: Fläche 446.550 km2 (einschließlich West-Sahara 710.850 km2). Bevölkerung: 25,4 Millionen Einwohner. BSP: 590 $/Einw. Flüchtlinge: Rund 165.000 aus der West-Sahara und dem südlichen Marokko in Algerien. Verluste: Seit 1975 waren es ungefähr 10.000 Tote. Von 1975 bis 1988 führte Marokko ununterbrochen Krieg um die Herrschaft über die West-Sahara (das frühere Spanisch-Sahara), ein Gebiet an der Atlantikküste im Süden von Marokko. Marokko hatte nach dem Rückzug der Spanier die Herrschaft übernommen, in eklatanter Verletzung von UNO-Resolutionen und unter völliger Mißachtung des Willens der Einwohner. Nach der marokkanischen Besetzung floh ein Großteil der Bevölkerung nach Algerien, und ihre politische Organisation, die ‡Frente POLISARIO—, stellte eine Armee auf, um die Eindringlinge zu bekämpfen. Die POLISARIO wurde in diesem Kampf von Algerien unterstützt. Bald kam es zu einem dauernden Patt zwischen den Kontrahenten: Die Marokkaner hielten die Städte und die Gewinnungsanlagen für die Rohstoffvorkommen des Landes; die Kämpfer der POLISARIO beherrschten die Wüste. 1988 entzog Algerien plötzlich der POLISARIO seine Unterstützung und nahm wieder diplomatische Beziehungen mit Marokko auf. Die UNO rief einen Waffenstillstand aus, dem ein Referendum über die Zukunft der West-Sahara folgen sollte; diese Volksabstimmung sollte organisiert und überwacht werden von einer 2.000 Mann starken UN-Friedenstruppe. Dieser Friedensplan von Perez de Cuellar wurde von beiden Seiten im August prinzipiell angenommen. GESCHICHTE Die Ebene von Marokko an der Küste des Mittelmeeres wie des Atlantiks sind seit der Antike besiedelt. Marokko war eine Römische -84-
Provinz. Im Inneren des Landes war das anders. Das Atlas-Gebirge und die Wüste Sahara wurden von den Sultanen in Marrakesch oder Fes nur zeitweilig beherrscht, und die befestigten Städte waren fortwährend von Stammeskriegern bedroht, die aus der Wüste oder von den Bergen herab kamen. Im 17. Jahrhundert eroberte die Alawiten-Dynastie aus der südlichen Wüste Marokko und dehnte ihre Herrschaft bis nach Timbuktu am Niger und auf das Gebiet des heutigen Mauretanien aus. Dieses Reich ging bald unter, und die Alawiten wurden auf die Atlantikküste von Marokko und in die größeren Städte zurückgedrängt, aber die heutigen Alawiten-Sultane œ jetzt Könige œ haben die Eroberungen ihrer Vorfahren immer wieder zur Grundlage ihrer Ansprüche auf die Herrschaft über die gesamte West-Sahara gemacht. Über die Jahrhunderte hinweg hatten die marokkanischen Herrscher fortwährend den Übergriffen von Europäern oder Osmanen zu widerstehen. 1415 besetzten die Portugiesen Ceuta, die südliche der beiden Säulen des Herkules, die den Eingang zum Mittelmeer bilden (die nördliche ist Gibraltar). Spanien übernahm Ceuta 1578 und beherrscht es seither. Weiter östlich liegt Melilla, ein anderes ‡Presidio—, seit 1496 ebenfalls unter spanischer Herrschaft. Marokko hat seine Unabhängigkeit bis ins späte 19. Jahrhundert bewahrt. Zu dieser Zeit hatte Frankreich Algerien bereits kolonialisiert, und Frankreich, Spanien, Großbritannien und Deutschland streckten die Hand nach Marokko aus. Frankreich und Großbritannien kamen überein, Deutschland auszuschließen, und Marokko wurde zwischen Spanien und Frankreich aufgeteilt. Spanten stieg bei diesen Verhandlungen schlecht aus, sein Besitz bestand nur aus drei kleinen Gebieten. Ein schmaler Streifen entlang der Nordküste, der vom Rif-Gebirge beherrscht wird, mit dem Hauptort Tetuan; eine kleine Enklave an der Atlantikküste, Ifni, auf dem Boden einer kurzlebigen spanischen Kolonie des 16. Jahrhunderts, und Rio de Oro, ein Wüstenstreifen in Süd-Marokko, der an die bereits existierende spanische Kolonie Spanisch-Sahara angrenzte. Tanger im äußersten Nordwesten wurde zur internationalen Zone erklärt und genoß ein halbes Jahrhundert den Ruf der Schmuggelhauptstadt der Welt. -85-
In den frühen zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts begann im RifGebirge unter Mohammed Abd al-Krim der Aufstand, und Spanien mußte eine halbe Million Soldaten einsetzen, um ihn niederzuschlagen. Der spanische Militärputsch von 1936 ging vom Befehlshaber der Truppen in Marokko aus, General Francisco Franco. Während des Bürgerkrieges setzte Franco marokkanische Eingeborenen-Truppen in Spanien ein œ der einzige erwähnenswerte Beitrag des marokkanischen Kolonialreiches für das spanische Mutterland. Frankreich zog die Grenzen zwischen Algerien und Marokko œ sehr zum Vorteil Algeriens, das ein Teil Frankreichs blieb, während Marokko nur als Protektorat eingestuft wurde. Frankreich eroberte auch die Sahara und legte die Grenzen zwischen Spanisch-Westafrika und Mauretanien fest, das ein Teil von Französisch-Westafrika war. Nachdem die spanische Kolonie Rio de Oro nur aus der heruntergekommenen Küstensiedlung Villa Cisneros bestand, mußte Frankreich etwaigen spanischen Eroberungsgelüsten auch kein besonderes Augenmerk schenken und überließ die Sahara großzügigerweise sich selbst. 1926 zählte ein Reisender in Villa Cisneros 20 Häuser und 28 Zelte. Die Bevölkerung bestand aus 150 Eingeborenen und 35 Soldaten, dazu ein Gouverneur im Hauptmannsrang, ein Leutnant, ein Arzt, ein Polizist, ein Kaplan und ein Repräsentant der Trans-AtlanticSchiffahrtsgesellschaft. Im Wettrennen um Afrika hatte Spanien den letzten Platz belegt. Die Wüste war reicher, als irgend jemand vermutet hätte. Unter französischer Anleitung wurde in Algerien Öl und Eisenerz (in Tindouf) gefördert, und in Mauretanien wurde Eisen in Zouerate gefunden. Schließlich entdeckte man in Spanisch-Sahara die enormen Phosphatlager von Bou-Craa. Marokko hatte großes Verlangen nach all diesen Reichtümern, ungeachtet der Tatsache, daß es bereits die größten Phosphatlager der Welt besaß. Eine Quelle des Reichtums der West-Sahara ist seit Jahrhunderten bekannt: Vor der Küste liegen einige der reichsten Fischgründe der Welt, mit einer Fangkapazität von 2 Millionen Tonnen pro Jahr. Während der Herrschaft der Spanier war dieses Fanggebiet -86-
ausschließlich Fischereiflotten aus Europa und von den Kanarischen Inseln vorbehalten. DIE ZEIT NACH DER ENTKOLONISIALIERUNG Nach den Zweiten Weltkrieg sah sich Frankreich im Nordafrikanischen Reich mit großen Schwierigkeiten konfrontiert. Im November 1954 nahm die ‡Algerische Nationale Befreiungsfront— (FLN) den Kampf auf, und in Marokko bildete sich im Atlas-Gebirge und in der südlichen Wüste eine antifranzösische und antiroyalistische Befreiungsarmee und begann mit Kampfhandlungen gegen französische Stellungen. Die Franzosen ersetzten im August 1953 den Sultan von Marokko, Mohammed V., durch einen willfährigeren Monarchen. Aber das Land wurde rasch unregierbar, und im Oktober 1955 wurde der Marionettensultan wieder abgesetzt, und Mohammed kehrte am 6. November auf seinen Thron zurück. Aufstände in Marokko und Tunesien waren unerwünschte Ablenkungen von dem für die Franzosen wesentlichen Problem œ dem Algerienkrieg œ, und 1956 entließ Frankreich Marokko und Tunesien in die Unabhängigkeit. Spanien sah sich gezwungen, dem französischen Beispiel zu folgen und gab seinen Kolonialbesitz in Marokko auf. Mit Ausnahme der ‡presidios— in Ceuta und Melilla verließen die Spanier unverzüglich den Norden und stimmten auch zu, daß der Süden von Marokko übernommen würde, sobald es dazu in der Lage sei. Die Befreiungsarmee dehnte ihre Angriffe auf Ifni, Spanisch-Südmarokko und Spanisch-Sahara aus, quer über die völlig künstliche internationale Grenze. Die spanische Armee gab alle Stellungen innerhalb dieser Gebiete auf und blieb nur in Ifni, einem 20 Kilometer-Streifen rund um die Stadt Sich Ifni, die 24.000 Einwohner hatte. Das neue Königreich Marokko war zunächst nicht in der Lage, im Süden staatliche Autorität auszuüben, wo die Befreiungsarmee für die Königliche Regierung zumindest eine solche Bedrohung darstellte wie für Spanien und Frankreich. Sie griff auch weiterhin französische Stellungen in Algerien und Mauretanien an, und im Februar 1957 beschloß Frankreich die ‡Operation Hurrikan—, um die -87-
Befreiungsarmee in ihren Lagern in Mauretanien und Spanisch-Sahara zu zerstören. Die Aktion war ein voller Erfolg. 1958, als die marokkanische Armee stark genug war, die Spanier zu ersetzen, zogen diese aus Südmarokko ab. 1968 gab Spanien seine zentralafrikanischen Kolonien Rio Muni und die Insel Fernando Poo auf (daraus entstand Äquatorialguinea), und 1969 trat es Ifni an Marokko ab. Schon früher hatte Marokko Tanger beansprucht und 1960 wieder in Besitz genommen. Aber Spanien behielt SpanischSahara und begann mit der Ausbeutung der Phosphatlager, die 1945 entdeckt worden waren. Als Frankreich 1960 Mauretanien die Unabhängigkeit gab, erhob der neue Staatspräsident Mokhtar Ould Daddah Anspruch auf Spanisch-Sahara. Marokko begann eine enorme diplomatische Kampagne, um seine eigenen Ansprüche auf dieses Gebiet zu sichern œ das Süd-Marokko genannt wurde œ, und dehnte diesen Anspruch gleich auf ganz Mauretanien aus. Es versuchte, Mauretaniens Beitritt zur UNO zu verhindern und später den zur OAU, und verweigerte dem Staat bis 1969 die Anerkennung. Die Arabische Liga unterstützte Marokko, aber die anderen ehemaligen französischen Kolonien standen auf der Seite Mauretaniens. Marokko war auch mit Algerien, das 1962 die Unabhängigkeit erlangte, in einen Konflikt verstrickt. Marokko erhob Anspruch auf einen erheblichen Teil von West-Algerien; in diesem Gebiet um Tindouf liegen einige der reichsten Eisenerzvorkommen der Welt. König Hassan war darüberhinaus besorgt, daß das nasseritische radikale algerische Regime eine Bedrohung für die marokkanische Monarchie darstellen könnte. Er schickte Truppen los, um algerische Armeestützpunkte an der Grenze zu besetzen, unmittelbar nachdem die Franzosen abgezogen waren, aber die Algerier warfen sie wieder hinaus. Im September 1963 versuchte Hassan es noch einmal und sandte marokkanische Truppen in das umstrittene Gebiet. Der marokkanische Vorstoß wurde erst wenige Kilometer vor Tindouf zum Stehen gebracht. Nach Intervention der OAU wurde entlang der Grenze eine entmilitarisierte Zone eingerichtet. Später akzeptierte auch Marokko die Grenzziehung der Franzosen, aber die Beziehungen blieben kühl. -88-
In den sechziger Jahren wurden im Bergbau in Mauretanien und in Spanisch-Sahara große Investitionen getätigt. In Mauretanien wurden die Minen von Zouerate œ an der Grenze zu Spanisch-Sahara œ ausgebaut, und eine 650 Kilometer lange Eisenbahnstrecke wurde für den Erztransport an die Küste errichtet. Sie verläuft Richtung Süden, dann nach Westen, parallel zur Grenze. Die Phosphatvorkommen in Bou-Craa in Spanisch-Sahara wurden von einem staatseigenen Unternehmen abgebaut, das ein 100 Kilometer langes Förderband errichtete, um das Erz zu einem neu gebauten Hafen an der Küste zu transportieren. Die ersten Schiffsladungen gingen 1972 hinaus, und das Unternehmen plante, ab 1980 ein Jahresexportaufkommen von 10 Millionen Tonnen zu ereichen. DIE ENTSTEHUNG DER FRENTE POLISARIO Marokkos Anspruch auf Spanisch-Sahara kam bis 1974 nie zum Ruhen. Dann wurde von jungen Saharaui eine antikoloniale Bewegung gegründet. Sie waren an marokkanischen Schulen und Universitäten ausgebildet und mit der revolutionären Gesinnung radikaler Araber geimpft worden. 1972 gründeten sie die ‡Frente POLISARIO—, die ‡Frente Populár para la Liberation de Saguia elHamra y Rio de Oro—. (Der Sagui el-Hamra ist ein Fluß, nach dem der nördliche Teil von Spanisch-Sahara benannt ist; Rio de Oro ist der südliche Teil.) Die POLISARIO startete ihren Guerillakrieg 1973 œ mit Hilfe kleinerer Waffenlieferungen aus Libyen œ, und im Oktober 1974 sabotierte sie das Bou-Craa-Förderband. Franco war bereits senil. Er hatte den Sturz des faschistischen Regimes in Portugal im April und den Zusammenbruch des portugiesischen Kolonialreiches miterlebt. Er und Spanien entschieden, daß es ihren Interessen am dienlichsten sein würde, Spanisch-Sahara die Unabhängigkeit zu geben, in Nachahmung des neokolonialen Beispieles, das Frankreich in Westafrika gegeben hatte. Spanien erwartete, daß ein unabhängiges Spanisch-Sahara weiterhin spanische Investitionen schützen und seiner Führerschaft folgen würde, so wie die früheren französischen Kolonien sich an Frankreich orientierten. So kündigte Spanien für den August 1974 ein Referendum über die Zukunft von Spanisch-Sahara an. -89-
Diese Ankündigung ließ König Hassan handeln. Er brauchte dringend einen Erfolg; schließlich hatte er mit knapper Not zwei Militärputsche 1971 und 1972 überlebt. Beim ersten hatten rebellische Soldaten ein Gartenfest des Königs angegriffen und die Gäste massakriert. Der König hatte sich in einem Pavillon versteckt und mitangehört, wie Soldaten beklagten, daß diese Schurken den König getötet hätten. Er schlüpfte hinaus, gab sich zu erkennen und brachte die verwirrten Soldaten dazu, ihre Vorgesetzten zu verhaften. Und am 16. August 1972 hatten zwei Jagdflugzeuge der marokkanischen Luftwaffe versucht, König Hassans Maschine abzuschießen. Hinter diesem Putschversuch stand der Innenminister, General Mohammed Oufkir. Sie verfehlten ihr Ziel. Oufkir wurde gestattet, sich selbst zu erschießen. KÖNIG HASSANS GRÜNER MARSCH Der König mißtraute weiterhin dem Militär und der Opposition. Er appellierte an ihren Chauvinismus und forderte sie auf, sich gemeinsam hinter seinen Anspruch auf Spanisch-Sahara zu stellen. Dabei versuchte er Zeit zu gewinnen, indem er den Streit vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag brachte. Er bedrängte Spanien, das angekündigte Referendum zu verschieben und später vielleicht abzusagen. Und er suchte militärische und politische Unterstützung bei seinen zwei Hauptverbündeten, den USA und Frankreich. Diesen beiden Staaten war die Stabilität Marokkos wichtiger als alles andere. Nachdem König Hassan sein ganzes Prestige in den Kampf um Spanisch-Sahara eingebracht hatte, fürchteten sie, daß eine Niederlage ihn den Thron kosten würde. Außerdem lehnten der USAußenminister Henry Kissinger und der französische Staatspräsident Valery Giscard d‘Estaing die POLISARIO wegen ihrer Linkslastigkeit grundsätzlich ab. Spanien, immer noch unter einer faschistischen Regierung, kam zu einem gegensätzlichen Schluß. Es wollte seine Investitionen vor den Marokkanern schützen und fand nach geheimen Verhandlungen heraus, daß es ganz gut mit einer POLISARIO-Regierung zurecht kommen würde. Zugleich warf Algerien sein ganzes Gewicht für die -90-
Befreiungsfront in die Waagschale. Die Vereinten Nationen entsandten eine Ermittlungskommission in die Wüste, um die Wünsche der Bewohner zu erforschen; überall stieß sie auf Demonstrationen zu Gunsten der POLISARIO. Im Sommer 1975 zog Marokko 20.000 Soldaten an der Grenze zusammen. Schließlich verkündete die UNO-Kommission am 15. Oktober das Ergebnis ihrer Untersuchungen: ‡Die Mehrheit der Bevölkerung von Spanisch-Sahara wünscht offensichtlich die Unabhängigkeit.— Das Land hatte sich eindeutig für die POLISARIO entschieden. Am nächsten Tag verkündete der Internationale Gerichtshof, daß ‡kein Band nationaler Souveränität zwischen dem Territorium der West-Sahara und dem Königreich Marokko oder Mauretanien bestünde—. König Hassan reagierte auf diese beiden Niederlagen mit einem sensationellen Beispiel der ‡großen Lüge—. Er verkündete einfach, daß der Gerichtshof zu Gunsten Marokkos entschieden hätte. Dann rief er 320.000 Freiwillige auf, in einem ‡Grünen Marsch— über die Grenze die West-Sahara wieder in Besitz zu nehmen. Die Marokkaner reagierten auf diesen Aufruf mit großer Begeisterung, und am 21. Oktober hatten sich bereits 524.000 Menschen in Zeltlagern an der Grenze versammelt. Auf dem Höhepunkt der Krise, am 17. Oktober 1975, brach Franco während einer Kabinettssitzung zusammen. Er lag offensichtlich im Sterben, und die Regierung in Madrid war viel mehr mit der Planung eines reibungslosen Übergangs beschäftigt als mit dem Schicksal von Spanisch-Sahara. Die USA und Frankreich unterstützten Hassan, und Spanien brach seine Vereinbarungen mit der POLISARIO. Am 21. Oktober nahmen die Spanier Verhandlungen mit Marokko auf, und sieben Tage danach begannen sie mit dem Abzug aus dem Territorium. Alle Zivilisten wurden evakuiert. Der spanische Friedhof in Villa Cisneros wurde aufgelöst, und 1.000 Leichen wurden auf die Kanarischen Inseln gebracht; die Tiere aus dem Zoo von Ai-Ayoun wurden nach Spanien geschickt. Spanische Militäreinheiten wurden von den Außenposten abgezogen und durch POLISARIO-Soldaten oder marokkanische Truppen ersetzt, die bald gegeneinander um die -91-
Herrschaft kämpften. Schließlich begann am 6. November 1975 tatsächlich der ‡Grüne Marsch—. Rund 200.000 Menschen überschritten an mehreren Stellen die Grenze, drangen 10 Kilometer tief in das Gebiet ein und hielten an. Am 8. November kapitulierte Spanien und stimmte zu, seinen Teil der Sahara an Marokko und Mauretanien abzutreten. Im Gegenzug garantierten die beiden afrikanischen Regierungen die Wahrung der spanischen wirtschaftlichen Interessen. Die Marschierer wurden nach Hause geschickt. Am 12. November wurden die Verhandlungen mit Spanien wieder aufgenommen, und am 14. November wurde ein Abkommen zwischen Spanien, Marokko und Mauretanien erreicht, demzufolge Spanien sich bis Ende Februar 1976 zurückziehen und die Verwaltung der Kolonie an Mauretanien und Marokko übergeben würde œ ohne allerdings den Souveränitätsanspruch aufzugeben. Franco starb am 20. November. Die Marokkaner erreichten AlAyoun am 11. Dezember, und Mitte Januar hatte Spanien die Evakuierung abgeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt hatten bereits rund 40.000 Saharauis ihr Heim verlassen. DER KRIEG König Hassan und Präsident Ould Dadah hatten offensichtlich gewonnen. Allerdings hatte Marokko bei dieser Teilung alle Vorteile in die Hand bekommen, also die ertragreichen Gebiete von SpanischSahara, während Mauretanien sich mit der Tiris al-Charbia begnügen sollte, wertloser Wüste im Süden des Gebietes, und Villa Cisneros, nunmehr umbenannt in Dachla. Aber Marokko und Mauretanien hatten die POLISARIO unterschätzt und die Interessen Algeriens vernachlässigt. Präsident Boumedienne hatte Ould Dadah gewarnt, daß er die POLISARIO unterstützen würde. Die Bewohner von Spanisch-Sahara flohen vor den Marokkanern. Mehr als die Hälfte der Wüstenbewohner waren bald Flüchtlinge in Algerien, wo sie rund um Tindouf angesiedelt wurden, mit dessen Bevölkerung sie eng verwandt sind. Die POLISARIO steigerte ihre Guerillatätigkeit und konzentrierte sich dabei auf Mauretanien als den schwächeren Gegner. Die Streitkräfte der POLISARIO, die ‡Saharauische -92-
Volksbefreiungsarmee— (SPLA), führte verwegene Angriffe über Hunderte Kilometer Wüste hinweg durch, wie die Stammeskrieger der Antike oder die ‡Wüstenfüchse— im Zweiten Weltkrieg. Die SPLA griff auch Nouakchott an, die mauretanische Hauptstadt, 1.500 Kilometer quer durch die Wüste. Der Gründer und Generalsekretär der POLISARIO Al-Ouali Mustapha Sayed wurde beim ersten dieser Kommandounternehmen im Juni 1976 getötet. Ihm folgte Mohammed Abdel Aziz, der auch heute noch Generalsekretär der POLISARIO ist. Die SPLA rekrutierte bald alle kampffähigen Saharaui-Flüchtlinge œ insgesamt 20.000 œ, die von den Algeriern bewaffnet und ausgebildet wurden. Sie griffen die Eisenbergwerke in Zouerate an und beinahe jeden Monat die Eisenbahnlinie an die Küste. Im Mai 1977 besetzten sie Zouerate. Der Erzabbau kam bald zum Erliegen, und die Nationalwirtschaft Mauretaniens, ohnehin durch die Auswirkungen der großen Trockenheit in der Sahel schwer in Mitleidenschaft gezogen, drohte zusammenzubrechen. Marokko sandte Truppen zur Unterstützung, die Dachla besetzten, um es vor SPLA-Angriffen zu schützen, und die Franzosen schickten wieder einmal ihre Luftwaffe los. Französische ‡Jaguar—-Jagdbomber griffen mit großer Wirkung SPLA-Marschkolonnen an, und sie zwangen die Rebellen, sich in kleinere Gruppen aufzuteilen und nur bei Nacht zu marschieren. Die Situation Mauretaniens verschlechterte sich trotzdem fortwährend, und am 9. Juli 1978 stürzte die Armee Ould Dadah in einem unblutigen Putsch. Die POLISARIO verkündete am nächsten Tag einen Waffenstillstand. Die neue Militärregierung wollte den Krieg beenden, konnte das aber aus Furcht vor den Marokkanern nicht tun. Dieses Zögern hielt an, bis die POLISARIO den Waffenstillstand nach einem Jahr, am 12. Juli 1979, brach. Wieder einmal legte sie die Erzeisenbahn lahm. Am 5. August verzichtete die mauretanische Regierung auf Tiris al-Charbia und unterzeichnete einen Friedensvertrag mit der POLISARIO. Marokko verstärkte seine Garnisonen in dem Gebiet, einschließlich Dachla, und verkündete am 14. August die Annexion von Tiris al-Gharbia. DER KAMPF DER POLISARIO GEGEN MAROKKO -93-
Während der ersten zwei, drei Jahre nach dem Staatsstreich in Mauretanien nahm der Krieg für Marokko einen üblen Verlauf. Die SPLA errang eine Reihe wichtiger Siege durch Überraschungsangriffe auf abgelegene Garnisonen. Im August 1979 überrannte sie einen Stützpunkt im südlichen Marokko und eroberte eine gewaltige Menge Kriegsmaterial, darunter siebenunddreißig T-54-Panzer. Bald wurden die SPLA-Einheiten von Algerien mit modernen Waffen ausgerüstet. Sie bekamen Raketen, sogar Stalin-Orgeln auf Lastwagen, und griffen an, wo sie wollten. Die marokkanische Armee erlitt solche Verluste, daß 80 Prozent des umstrittenen Gebietes aufgegeben wurden. 1980 hatte Marokko einen Verteidigungsring um das ‡nützliche Dreieck— der West-Sahara errichtet, darunter auch AlAyoun, die Phosphatminen von Bou Craa und einen kurzen Küstenstreifen einschließlich des neuen Hafens von Al-Ayoun Playa. Eine Enklave umschloß auch Dachla im Süden. Die Verteidigungsanlagen bestanden aus Sandwällen, waren zwei oder drei Meter hoch und ungefähr 1.600 Kilometer lang, geschützt von Minenfeldern und Stacheldrahtverhauen, mit elektronischen Horchanlagen und ständigen Patrouillen, um Eindringversuche abzuwehren. Ungefähr 150.000 marokkanische Soldaten verteidigten diesen Wall. Dahinter wurden 1982 die Phosphatminen und das Förderband wieder in Betrieb genommen. Alles andere wurde der SPLA überlassen. Die größte Stärke der POLISARIO war und ist die Unterstützung, die sie bei den Wüstenbewohnern der West-Sahara findet. Zerstreut wie die Kurden in Vorder-Asien lebten die Saharauis in allen vier Staaten der Region, während sie sich selbst als eine einheitliche Nation betrachten. Als der Krieg begann, hatte die Mehrheit ihre nomadische Existenz aufgegeben, aber an ihrer Tradition hielten sie fest, und sie nannten sich selbst ‡Söhne der Wolken—. Bald lebten mehr als 100.000 Flüchtlinge im Gebiet um Tindouf, die aus Marokko ebenso wie aus der West-Sahara kamen, beträchtlich mehr als die übriggebliebene Bevölkerung von Marokkos ‡nützlichem Dreieck—. Die Flüchtlinge wurden durch Marokkaner ersetzt, die für ihre Übersiedlung in den Süden von der Regierung großzügig belohnt wurden und in den Phosphatminen Arbeit fanden. Die POLISARIO war auch von der ständigen algerischen Unterstützung abhängig. -94-
Algerien war zu stark, daß Marokko es hätte angreifen können, und so hatte die POLISARIO einen sicheren Rückhalt jenseits der Grenze. Algerien, dessen Nationalwirtschaft zweieinhalb mal so groß ist wie die Marokkos, ist auch reich genug, die Guerillas zu bewaffnen und ihren Familien Nahrung und Erziehung zu bieten. Zuletzt genoß die POLISARIO auch weitgehende diplomatische Unterstützung. Am 27. Februar 1976 rief sie die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) aus und begann eine umfassende diplomatische Offensive gegen Marokko. Bald erkannte die Mehrzahl der Mitgliedstaaten der OAU die DARS an und stimmte dafür, ihr einen Sitz in der Organisation einzuräumen. König Hassan versuchte 1981, in der OAU nicht an Terrain zu verlieren und versprach ein Referendum. Es fand niemals statt. Im Februar nahm die DARS ihren Sitz bei einem OAU-Gipfeltreffen ein, aber daraufhin zogen 34 Mitglieder im Protest aus, und das Treffen war beendet. Es ist Marokko gelungen, seine diplomatische Stellung in der OAU und in der UNO mit der Unterstützung einer außergewöhnlichen Allianz von arabischen und westlichen Mächten beizubehalten. Mit der selbstverständlichen Ausnahme von Algerien standen die meisten arabischen Länder aus einem Geist arabischer Solidarität auf der Seite Marokkos. 1984 wechselte Libyen, das bis dahin heftig gegen Marokko eingetreten war, plötzlich die Seite, und Oberst Gaddafi und König Hassan unterzeichneten einen Vertrag zur Vereinigung der beiden Länder. In Libyen herrschte zu dieser Zeit eine Phase der antialgerischen Einstellung. Zwei Jahre später, nachdem Gaddafi wieder einmal seine Haltung geändert hatte, kündigte Hassan den Vertrag auf. Die Unterhaltskosten der mehr als 100.000 Soldaten in der WestSahara wie auch die Kosten der Errichtung und zur Aufrechterhaltung des Walles sind weit höher als die Einnahmen Marokkos aus dem Phosphatabbau- In den frühen achtziger Jahren war Marokko einer der relativ meistverschuldeten Staaten der Welt geworden. Der Internationale Währungsfonds (IWF) verknüpfte mit der Gewährung weiterer Kredite an Marokko einschneidende Bedingungen, die die Regierung zwangen, die Nahrungsmittelsubvention zu kürzen. Im Juni 1981 gab es daher in Casablanca heftige Ausschreitungen, bei denen mehr als 600 Menschen getötet wurden, und weitere Kämpfe zu -95-
Beginn 1984 in Marrakesch. Großzügige US-Hilfe hat Marokko geholfen, diese Situation zu überstehen, aber es zahlt nach wie vor einen hohen Preis für die West-Sahara. Es gibt immer wieder Gerüchte von Unruhen in der Armee, und im Januar 1983 starb der ranghöchste Offizier, General Ahmed Dlimi, unter mysteriösen Umständen. Die offizielle Todesursache war ein Autounfall. DIPLOMATIE Im Mai 1988 nahmen Marokko und Algerien wieder diplomatische Beziehungen auf, die sie 12 Jahre zuvor abgebrochen hatten, als Marokko zum ersten Mal die West-Sahara annektiert hatte. Der algerische Staatspräsident Chadli Ben Jedid wollte die Anwesenheit von König Hassan bei einem arabischen Gipfeltreffen in Algier im Juni 1988 sicherstellen. Bei diesem Treffen trug Oberst Gaddafi ständig einen weißen Handschuh, um seine Hand nicht an König Hassan œ und anderen œ zu ‡verunreinigen—. Obwohl Hassan einmal mehr versprach, ein Referendum in der West-Sahara abzuhalten, bedeutete das Abkommen zwischen Marokko und Algerien einen schweren Schlag für die POLISARIO und ließ zumindest eine drastische Kürzung der algerischen Unterstützung erwarten. Und selbst wenn König Hassan zu diesem Zeitpunkt ein Referendum abgehalten hätte, wäre die Korrektheit der Durchführung wohl zu bezweifeln gewesen. Jetzt leben mehr Marokkaner als Saharauis in der West-Sahara, und Hassan sagte nichts über die Wiederansiedlung der Flüchtlinge. Aber immerhin blieb Marokko unter weiterem ständigen Druck seiner westlichen Verbündeten, diesen Konflikt zu lösen. Das Patt in diesem Krieg hatte Jahre gedauert. Die SNLA war nicht in der Lage, den Sandsack-Wall zu überwinden, aber Marokko konnte in seiner Anspannung nicht nachlassen, konnte niemals seine Truppenansammlungen verkleinern œ auch wenn die Soldaten die Hitze und Langeweile, einen gigantischen Sandwall in der ungastlichen Wüste zu bewachen, verabscheuten. Beide Seiten waren kriegsmüde, aber es blieb offen, ob eine der beiden Seiten bereit sein würde, die für den Frieden notwendigen Kompromisse einzugehen. Im August 1988 schlug UNO-Generalsekretär Javier Perez de -96-
Cuellar einen sofortigen Waffenstillstand zwischen Marokko und der SNLA vor, gefolgt von einer Volksabstimmung in der West-Sahara. Dabei blieb eine ganze Reihe von Verfahrensschwierigkeiten ungelöst, vor allem die grundsätzliche Frage œ Unabhängigkeit für die West-Sahara oder Anerkennung ihrer Zugehörigkeit zu Marokko œ, die nur gelöst werden könnte, wenn eine der beiden Seiten den Kampf aufgäbe. Aber es deutete nichts darauf hin, daß einer von beiden dazu bereit wäre. Die Verfahrensfragen umfaßten die Forderung der POLISARIO, daß die marokkanischen Truppen vor dem Plebiszit aus der WestSahara abgezogen werden müßten, und die weitere Forderung nach Direktverhandlungen mit Marokko. Die UNO schlug vor. eine 2.000 Mann-Truppe zu entsenden, um die Ruhe in dem Gebiet während der Volksabstimmung zu bewahren. Die marokkanische Armee sollte in ihren Lagern und die SNLA jenseits des Sandwalles bleiben. Am 27. Dezember 1988 verkündete König Hassan, daß er Gespräche mit der POLISARIO aufnehmen würde œ ein Signal, daß er seine Weigerung, die POLISARIO anzuerkennen, nach 13 Jahren aufgab. Im Januar 1989 traf eine Delegation der POLISARIO unter Führung des Ministerpräsidenten der DARS, Mahfoud Ali Beiba, in Marrakesch mit Hassan zusammen. Der UNO-Vermittlungsvorschlag beruhte auf der Hoffnung, daß Marokko und die POLISARIO einer Form der begrenzten Autonomie der West-Sahara zustimmen würden, einer Zwischenstufe zwischen voller Unabhängigkeit und Eingliederung in Marokko. Die Flüchtlinge in Tindouf und die marokkanischen Zuwanderer hinter dem Sandwall warteten fatalistisch auf den Ausgang dieser Verhandlungen.
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MOSAMBIK Geographie: 799.380 km2 Bevölkerung: 14,1 Millionen BSP: 95 $/Einw. Flüchtlinge: Im Landesinneren sind es mehr als 3,5 Millionen. Mehr als 1.137.000 sind ins Ausland geflohen. Im Sommer 1988 lebten in Malawi rund 640.000 mosambische Flüchtlinge, und jeden Monat kamen 10.000 bis 20.000 weitere. In Tansania sind es rund 72.000, 180-000 in Süd-Afrika, 171.000 in Simbabwe, 30.000 in Sambia und 64.000 in Swasiland. Verluste: Krieg und Hungersnot haben seit 1975 mehr als 400.000 Menschenleben gefordert. Die Kindersterblichkeit ist mit 35 % die höchste der Welt. Der International Index of Human Suffering, herausgegeben vom ‡Population Crisis Committee— in Washington, bezeichnet Mosambik als die unglücklichste Nation der Welt œ ein trauriger Wettstreit, in dem Angola, Afghanistan und der Tschad seine schärfsten Konkurrenten sind. Die schrecklichen Zustände in Äthiopien, im Libanon oder in Uganda œ Völkermord, Hungersnot, Bürgerkrieg und Terrorismus œ sind in der Welt besser bekannt, aber sie werden von der Situation in Mosambik in den Schatten gestellt. Mosambik liegt in den letzten Zügen des staatlichen Zerfalls. Die Regierung hat offiziell die größeren Städte unter Kontrolle, aber sie kann keine der Leistungen bieten, die man von einer Regierung erwarten kann. Die Hauptstadt Maputo hieß früher Lourenco Marques, ein schäbiges, heruntergekommenes Zentrum unwichtiger internationaler Intrigen. Im Zweiten Weltkrieg wurde sie von Malcolm Muggeridge ‡entdeckt— und für eine Weile zum Las Vegas des Indischen Ozeans œ zumindest dem Anschein nach. Vor allem Südafrikaner wollten sich von den puritanischen Zwängen der Apartheid im Rassengemisch von Lourenco Marques erholen. Seit der Unabhängigkeitserklärung im Jahr 1975 ist Lourenco Marques eine Geisterstadt. Die Trinkwasser- und Stromversorgung ist unregelmäßig, ungenügend und unvorhersehbar. Krankenhäuser -98-
können oft nur einem Teil ihrer Patienten die notwendige Behandlung und Pflege angedeihen lassen, und die schwer bewaffneten Geleitkonvois bieten maximal im Umkreis von 50 Kilometer außerhalb der Stadt Schutz. 1987 wandte sich die Regierung von Mosambik in ihrer Verzweiflung von der strikten marxistischen Ideologie ab und ließ das freie Unternehmertum mit Einschränkungen wieder zu. Der Internationale Währungsfonds und westliche Staaten boten zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit Wirtschaftshilfe, und in manchen Geschäften Maputos gab es plötzlich wieder Lebensmittel und Kleidung. Allerdings hat nur die kleine zahlungskräftige herrschende Schicht Zugang zu diesen Dingen, die Klasse der Nutznießer der Revolution, für den Rest der Bevölkerung bleiben die Hotels verschlossen und die Läden versperrt, und die Bevölkerung versucht mit Tauschhandel zu überleben. Mosambische Bauern können nur 6 Prozent des Getreides erwirtschaften, das notwendig wäre, um die Stadtbevölkerung zu ernähren œ inklusive 2 Millionen Flüchtlinge. Seit 1981 sind laut Angaben des Erziehungsministeriums 2.518 Schulen zerstört worden œ das sind zwei Drittel aller Ausbildungsstätten des Landes, aber wahrscheinlich sind es in Wahrheit noch mehr. Rund 600 Landspitäler und medizinische Stationen wurden zerstört oder aufgegeben. Plantagen, Bergwerke und Fabrikanlagen wurden verwüstet. Eisenbahnlinien, Brücken, Überlandstromleitungen und die gesamte Infrastruktur des Landes wurden beschädigt oder völlig zerstört. Das Pro-Kopf-Einkommen ist zwischen 1986 und 1988 von 210 $ auf 95 $ gefallen. Mosambik war bereits bitterarm, als es von Portugal unabhängig wurde. Nun hat es jeden wirtschaftlichen Fortschritt der letzten hundert Jahre eingebüßt. Ausländische Hilfsorganisationen unternehmen verzweifelte Anstrengungen, rund 6,5 Millionen Bewohner Mosambiks am Leben zu erhalten œ etwa die Hälfte bis zwei Drittel der Gesamtbevölkerung, je nach Auslegung der unzuverlässigen Volkszählungsdaten. Anfang 1988 lebten 3,2 Millionen Menschen ausschließlich von internationaler Hilfe, weitere 3,3 Millionen zumindest zum Teil. Aber der Zusammenbruch der Sicherheit im Landesinneren läßt kaum Hoffnung auf eine Verbesserung der Situation. Mosambik steht vor -99-
weiteren Hungerkatastrophen, ähnlich der von Äthiopien 1984. GESCHICHTE Portugal errichtete im frühen 16. Jahrhundert Stützpunkte an der ostafrikanischen Küste. Lourenco Marques und Beira überdauerten den Verlust des portugiesischen Kolonialreiches in Asien, und als die europäischen Mächte Ende des 19. Jahrhunderts Afrika aufteilten, wurde Portugal ein Gebiet zugestanden, das ungefähr so groß ist, daß es sich auf einer Landkarte von Europa von Stockholm bis Rom erstrecken würde. Die Portugiesen vernachlässigten ihre Kolonie die meiste Zeit völlig. Es gab zwar keine offizielle Rassendiskriminierung œ anders als bei den Briten oder Franzosen œ, aber 1975 hatten in ganz Mosambik nur 4.500 schwarze Einwohner gesetzlichen Anspruch auf die portugiesische Staatsbürgerschaft. In diesem Jahr gab es etwa 30.000 Mischlinge und in den Städten etwa 250.000 Menschen mit einem Mindestmaß an Schulbildung. Nach dem Zweiten Weltkrieg träumte die Regierung Salazar von einem neuen Brasilien in Ost-Afrika und förderte die massenweise Ansiedlung portugiesischer Bauern. 1955 kamen 50.000 Siedler aus Europa, in den folgenden 20 Jahren weitere 200.000. Das geplante Herzstück der wirtschaftlichen Entwicklung sollte das größte Wasserkraftwerk Afrikas sein, an einem riesigen Staudamm am Sambesi bei Cabora Bassa, nahe der Grenze zu Nyasaland, dem heutigen Malawi. Als weitere Grundlagen des Reichtums der Kolonie waren die Eisenbahnverbindung von Beira nach Salisbury in SüdRhodesien (jetzt Harare/Simbabwe) und der Handel mit Südafrika geplant. Mosambiks Häfen waren damals die Umschlagplätze für rhodesische und südafrikanische Ausfuhren. Es war alles Chimäre. Die Annahme, Portugal könne bei einer Bevölkerung von rund 8 Millionen eine Million Bauern nach Afrika schicken, war pure Phantasterei, ebenso wie der Traum vom Überleben des portugiesischen Kolonialreichs. Ende der fünfziger Jahre erhob sich ein Sturm der Veränderung in Afrika, als Briten, Franzosen und Belgier von ihren Kolonialimperien Abschied nahmen. In allen portugiesischen Kolonien entstanden -100-
Widerstandsbewegungen. Die ‡Frente de Libertacao de Mosambique— (FRELIMO, Front zur Befreiung Mosambiks) wurde 1962 gegründet und begann ihren Guerillakampf 1964. Von ihren Stützpunkten in Tansania griff sie Armeestationen, Konvois und andere Wirtschaftsziele an. Ihre Hauptunterstützung fand sie im Stamm der Makua im Norden des Landes, aber im Rest des Landes konnte sie etliche Jahre keinen Zugewinn erzielen. Die meisten Soldaten der portugiesischen Armee waren Afrikaner, und die Armee baute mit großem Erfolg befestigte Dörfer, um loyale Afrikaner gegen die Guerillas zu schützen. Bis 1972 beherrschten die Portugiesen das Land tatsächlich, und in diesem Jahr gelang es der Armee sogar, in der Operation ‡Gordischer Knoten— die FRELIMO über die tansanische Grenze zurückzudrängen. Portugal wurde in seinem Kampf in Angola und Mosambik von Südafrika und der weißen Regierung in Süd-Rhodesien unterstützt, die 1965 die Unabhängigkeit des Landes ausgerufen hatte. Aber nach dem ‡Gordischen Knoten— wendete sich das Blatt. Die FRELIMO eröffnete eine zweite Front, schickte ihre Einheiten durch Sambia, Malawi und das unwegsame Grenzland zwischen Rhodesien und Mosambik und griff die Provinz Tete an. In diesem wirtschaftlichen Schlüsselgebiet näherte sich der Cabora Bassa-Staudamm seiner Vollendung, dort brachte die Beira-Eisenbahnlinie rhodesische Exportgüter ans Meer, und dort wurde die Mehrzahl der portugiesischen Einwanderer angesiedelt. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Portugiesen den Krieg in Angola gewonnen und die zersprengten und zerschlagenen Widerstandskämpfer an die Grenzen oder in die Nachbarstaaten getrieben. Anders stand es in Portugiesisch-Guinea (jetzt GuineaBissau), wo die Guerillas den Großteil des Landes unter Kontrolle hatten und die portugiesischen Garnisonen auf dem Luftweg versorgt werden mußten. Nun nahm der Krieg in Mosambik an Heftigkeit zu, Portugal verlor zusehends die Kontrolle über das Land. Mit Unterstützung von Tansania und Sambia beherrschte die FRELIMO den Norden des Landes, und die portugiesische Armee zog sich aus den Provinzen an der Grenze zurück. Aber immer noch kontrollierte sie den Süden, wo es keine FRELIMO-Einheiten gab und hielt œ mit rhodesischer Hilfe œ Tete und den Beira-Korridor. Militärisch wurden -101-
die Portugiesen nicht besiegt, kaum anders als die Franzosen in Algerien oder die Amerikaner in Vietnam. Der Hauptfaktor für den plötzlichen Zusammenbruch des portugiesischen Kolonialreiches war der Widerstand innerhalb der portugiesischen Armee, der die Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung in Portugal widerspiegelte. Die im Mutterland rekrutierten Bauern hatten zum Überseereich keine Beziehung, und sie waren nicht gewillt, für ein neues Brasilien am Indischen Ozean zu leiden oder zu sterben. Portugal unterhielt in Afrika eine Kolonialarmee von 140.000 Mann, in Relation siebenmal so viele Soldaten wie die USA nach Vietnam schickten, und 40 Prozent des Staatshaushaltes flossen in den Kolonialkrieg. 1974 erkannte das portugiesische Heer, daß das Kolonialreich nicht zu halten sein würde, und Offiziere der Kolonialarmee stürzten im April die Regierung in Lissabon. Innerhalb eines Jahres überließen sie die Kolonien Portugiesisch-Guinea, Angola und Mosambik ihrem eigenen Schicksal. Mosambik wurde am 25. Juni 1975 unabhängig. Die portugiesischen Kolonialisten flüchteten œ 200.000 mit einem Schlag und 40.000 in den folgenden Jahren. Sie hinterließen ein völlig verarmtes Land. Als die FRELIMO in den Süden auf Lourengo Marques zumarschierte, gab es keine Techniker, um die notwendigsten öffentlichen Aufgaben durchzuführen, keine Lehrer, keine Handwerker. Die Plantagen, Bergwerke, Fabriken und Kraftwerke waren alle verlassen. Der große Staudamm war vollendet und nutzlos: Es gab keinen einzigen Mann, der die Generatoren hätte bedienen können. DAS UNABHÄNGIGE MOSAMBIK Die FRELIMO, wie die MPLA in Angola, wandte sich um Hilfe an die Sowjetunion. Die UdSSR bot geringe Unterstützung und Waffen für die neue Armee, aber es war bei weitem nicht genug. Die Sowjetunion war kaum imstande, Angola und Äthiopien am Leben zu erhalten, und obwohl sie Mosambik durchaus in ihr Lager ziehen wollte, war sie nicht in der Lage oder vielleicht auch nicht willens, genügend Unterstützung zu bieten, um die Wirtschaft des Landes zu konsolidieren. -102-
Die FRELIMO, voller Dankbarkeit für das Wenige, folgte dem schlechten Beispiel anderer afrikanischer Staaten wie Tansania oder Sambia und erklärte sich zur marxistisch-sozialistischen Volksrepublik. Sie verstaatlichte die bankrotten und heruntergekommenen portugiesischen Unternehmen und Industrien und kollektivierte die Landwirtschaft nach bestem sowjetischem Muster. Daraufhin sank die Industrie- und Agrarproduktion um 50 Prozent. Die Schwierigkeiten des Landes wurden durch die Dürreperioden der späten siebziger Jahre verschärft. Statt sich als Massenbewegung zu etablieren, blieb die FRELIMO eine kleine, straff organisierte Kaderpartei, die vor allem in den Stämmen des Nordens verankert war. Sie bezeichnete sich selbst als ‡Partei des Bündnisses der Vorhut der Arbeiter und Bauern, in deutlicher Anlehnung an Lenins Bolschewiki. Präsident Samora Machel versuchte, eine marxistische Diktatur zu errichten, einschließlich Umerziehungslager für unwillige Stadtbewohner. Am Höhepunkt der Kampagne sollen in diesen Lagern 10.000 Gefangene geschmachtet haben œ die ideale Rekrutierungsbasis für die RENAMO. Die UdSSR bildete die mosambischen Streitkräfte aus; Mitte der achtziger Jahre waren etwa 600 sowjetische und ostdeutsche sowie rund 1.000 kubanische Berater im Land stationiert. Mosambische Piloten wurden in der UdSSR und der DDR ausgebildet. Die UdSSR schickte gewaltige Mengen Waffen, einschließlich Kampfpanzer und Düsenjäger, beides ziemlich sinnlos in einem Guerillakrieg. Aber darum ging es der UdSSR wohl gar nicht; sie bildete die mosambische Armee zum späteren konventionellen Krieg gegen Südafrika aus. DER BEGINN DES KRIEGES Zugleich mit der Unabhängigkeit des Landes erklärte die FRELIMO-Regierung auch ihre Feindschaft mit Südafrika und Rhodesien, schnitt die rhodesische Eisenbahnlinie nach Beira ab und gestattete den rhodesischen Widerstandsbewegungen die Errichtung von Stützpunkten in Grenznähe. Rhodesien beantwortete diese Aktionen mit der Unterstützung des Kampfes gegen die FRELIMO, den weiße portugiesische Siedler und schwarze Ex-Soldaten der -103-
portugiesischen Armee führten, vor allem solche, die nicht dem Makua-Stamm angehörten. Die ‡Resistencia Nacional Mocambiquana— (RENAMO, Mosambische Nationale Widerstandsbewegung) wurde 1976 vom rhodesischen Geheimdienst gegründet. Ihre Aufgabe war, die mosambische Armee zu attackieren und die ‡Zimbabwe African National Union— (ZANU) auszuspionieren, deren Streitkräfte, die ‡Zimbabwe African National Liberation Army— (ZANLA), nach der Unabhängigkeit Mosambiks von Tansania nach Mosambik übergetreten waren und von dort rhodesisches Gebiet angriffen. Unter den Portugiesen, die die RENAMO gründeten, waren Jörge Jardim, ein Geschäftsmann; Orlando Christina, ein früherer Geheimpolizist; und Domingos Arouca, ein Plantagenbesitzer. Auch ehemalige FRELIMO-Kärnpfer schlossen sich an, darunter Andre Matzangaissa und Alfonso Dhlakama, die später die wichtigsten Führer der RENAMO wurden. Die mosambische Regierung behauptete, daß die beiden wegen Diebstahls aus der mosambischen Armee ausgestoßen worden seien. Die RENAMO errichtete Stützpunkte in Rhodesien und jenseits der Grenze in Mosambik, und Rhodesien baute ihr einen Radiosender. In dieser Anfangsphase ihrer Operationen war die RENAMO nicht sonderlich erfolgreich. Im Oktober 1979 gelang der mosambischen Armee ein Angriff auf die wichtigste RENAMO-Basis innerhalb des Landes, im Naturschutzpark Gorongosa. Dabei starb Matzangaissa. Daraufhin brach ein blutiger Streit über das Kommando der RENAMO aus, der zuletzt von Dhlakama gewonnen wurde. Sein Stellvertreter wurde Leutnant Adriano Bomba, ein früherer Pilot der mosambischen Luftwaffe. Die RENAMO unterhält ein internationales Büro. Ihr erster Generalsekretär Orlando Christina wurde vor seinem Haus in Pretoria 1983 ermordet. Ihm folgte Evo Fernandes, der seinen Sitz in Lissabon hatte und im April 1988 entführt und getötet wurde. Simbabwe wurde im April 1980 unabhängig, und die RENAMO mußte ihre Stützpunkte nach Südafrika verlegen. Der Afrikanische Nationalkongreß (ANC) begann Guerillaoperationen gegen Südafrika von Stützpunkten in Mosambik, worauf Südafrika seine Unterstützung -104-
der RENAMO wesentlich erhöhte. Diese griff tief bis in mosambisches Gebiet an, die Kommandotruppen wurden oft von südafrikanischen Flugzeugen, Hubschraubern oder Schiffen transportiert, und die mosambische Armee war nicht in der Lage, diesen Angriffen wirkungsvoll zu begegnen. Dann errichtete die RENAMO Stützpunkte in Mosambik und Malawi. Die Regierung von Malawi leugnet entschieden, der RENAMO Unterstützung angeboten zu haben, aber diese Äußerungen werden von anderen afrikanischen Staaten nicht sonderlich ernstgenommen. Als Präsident Samora Moises Machel bei einem Flugzeugabsturz in Südafrika getötet wurde, fanden die Südafrikaner in den Trümmern der Maschine Aufzeichnungen über ein Treffen afrikanischer Führer, von dem er eben kam, wo Angriffe auf Malawi wegen der Unterstützung der RENAMO diskutiert worden waren. Nach übereinstimmenden Berichten hat diese Unterstützung jetzt aber geendet. Vom ersten Tag seiner Unabhängigkeit an hatte Mosambik seine Unterstützung für den ANC erklärt, der seit den sechziger Jahren den Kampf gegen die Apartheid in Südafrika führt. Als Antwort auf diese Steigerung seiner Unterstützung für die RENAMO verhängten die Südafrikaner wirtschaftliche Sanktionen über Mosambik, schränkten die Zahl der mosambischen Bergleute von 100.000 auf 40.000 ein und stoppten die Direktzahlungen in Gold an Mosambik. Diese Maßnahmen bedeuteten für Mosambik einen jährlichen Verlust von 2,5 Milliarden Dollar. Südafrikanische Sicherheitskräfte trugen den Krieg nach Mosambik, indem sie das ANC-Büro in Maputo überfielen. Die Stadt liegt nahe an der Grenze und ist verwundbar. Bei der ersten dieser Aktionen töteten südafrikanische Ranger in mosambischen Uniformen 11 Mitglieder des ANC, ehe sie mit Hubschraubern herausgeflogen wurden. Es gab weitere Bombenangriffe auf ANC-Stellungen, die die Mosambier nicht verhindern konnten, und im Dezember 1982 zerstörte ein anderer Kommandotrupp die Ölvorratstanks in Beira. 1982 wurde Ruth First, eine südafrikanische Kommunistin und die Ehefrau des ANC-Kommandanten Joe Slovo, in Maputo durch eine Briefbombe getötet.
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DER BÜRGERKRIEG 1984 hatte die RENAMO mindestens 12.000 Guerillas unter Waffen, und bis 1988 war diese Zahl auf 15.000-20.000 angestiegen, während die mosambische Armee von 40.000 auf 30.000 zusammengeschmolzen war, unterstützt durch die gleiche Anzahl Soldaten aus Tansania und Simbabwe. Die RENAMO wurde für das Land so bedrohlich, daß Präsident Machel am 16. März 1984 in Nkomati an der Grenze zwischen den beiden Ländern ein Abkommen mit dem südafrikanischen Ministerpräsident P. W. Botha unterzeichnete. Das NkomatiAbkommen hielt fest, daß Mosambik alle Unterstützungen für den ANC und Südafrika die Unterstützung der RENAMO beenden würde. Mosambik schloß prompt die ANC-Büros und durchsuchte die Flüchtlingslager nach Waffenlagern. Es war ein großer Sieg für Südafrika; jetzt gestattete keiner der Frontstaaten œ außer Angola œ dem ANC weiterhin, von seinem Territorium anzugreifen. Für Mosambik allerdings hat sich die Lage verschlechtert. Man nimmt an, daß Südafrika ungeachtet des Vertrages die RENAMO weiterhin unterstützt. Im März 1988 gab der RENAMO-Überläufer Paulo Oliveira, der frühere Vertreter der Organisation in Europa, eine detaillierte Beschreibung der Verbindungen zwischen RENAMO und Südafrika. Er beschrieb RENAMO-Stützpunkte in Südafrika, vor allem den in Phalaborwa im nördlichen Transvaal, und berichtete, wie die südafrikanische Armee die RENAMO-Kämpfer ausbildete und unterstützte. RENAMO-Kommandos und bewaffnete Banditen, hauptsächlich Deserteure der FRELIMO, beherrschen nun den Großteil des Landes. Ihre Taktik besteht aus schnellen Hit-and-Run-Angriffen auf wirtschaftliche Ziele, vor allem Eisenbahnen, Pipelines und Stromleitungen. Sie verfolgen eine Politik der verbrannten Erde, brennen die Ernte nieder, zerstören Lebensmittellager, entwurzeln Dorfbewohner und jagen sie in Flüchtlingslager. Sie überfallen Lastwagen auf der Landstraße und stecken staatliche Farmen und Dörfer in Brand. Sie zerstören Spitäler, Regierungsgebäude, Schulen und Fabriken, als ob sie in Feindesland den totalen Krieg führen würden. Es gibt etliche gut dokumentierte Falle von Massakern. In der -106-
ersten Zeit überfielen sie Entwicklungshilfeprojekte und entführten europäische Fachleute. Jetzt gibt es kaum noch Entwicklungshilfeprojekte. Üblicherweise kommen sie zu Fuß, aber sie benützen modernste Funkgeräte, die von den Südafrikanern zur Verfügung gestellt werden. (Zumindest bis 1984 und wahrscheinlich auch noch später unterstützte sie die südafrikanische Luftwaffe mit Zielaufklärung und Verfolgung der mosambischen Truppenbewegungen.) Wenn die Armee zurückschlägt und die RENAMO aus einem Bezirk hinausdrängt, ziehen sich die Guerillas in den nächsten zurück und führen ihren Zerstörungsfeldzug weiter. Es hat sie wenig Mühe gekostet, ständige Stützpunkte zu errichten und Gebiete für ‡befreit— zu erklären, so wie die UNITA den Südosten Angolas ‡befreit— hat. Das Hauptziel der RENAMO-Angriffe sind die Eisenbahnlinien und die Überlandleitungen vom Cabora Bassa-Kraftwerk. 12.000 simbabwesche Elitesoldaten, von Briten ausgebildet, halten den BeiraKorridor frei, die Eisenbahnlinie, die Simbabwe mit der Küste verbindet. Andere Kontingente tansanischer und sambischer Truppen, unterstützt von einer kleinen britischen Einheit, sind weniger erfolgreich, die Eisenbahnlinie in den Norden freizuhalten, die von Malawi nach Nacala führt. Die RENAMO bedroht jetzt auch die Verbindung von Simbabwe nach Maputo. Andere ausländische Einheiten bewachen die Hunderte Kilometer langen Überlandleitungen, die durch ein Gebiet führen, das von der RENAMO kontrolliert wird. Zwischen 1984 und 1988 wurden mindestens 100.000 Menschen getötet, weitere 300.000 starben an Hunger. Und die Zahlen steigen schnell. Das Ziel der RENAMO scheint zu sein, Mosambik in die bitterste Armut zu treiben und die Regierung in die völlige Hilflosigkeit. Im August 1988 lebten in Malawi mehr als 640.000 Flüchtlinge aus Mosambik, und jeden Tag überschritten Hunderte die Grenze: Im Mai und Juni 1988 kamen 130.000 Flüchtlinge herüber. Mehr als 1,4 Millionen mosambische Flüchtlinge lebten in den Nachbarstaaten, und 3,5 Millionen waren innerhalb des Landes auf der Flucht, drängten in überfüllte Flüchtlingslager und in die Städte. Die RENAMO beabsichtigt, Maputo völlig vom Rest des Landes -107-
abzuschneiden, und dieser Plan kann durchaus aufgehen. Maputo liegt im äußersten Süden des Landes, und die Hauptstützpunkte der FRELIMO sind im Norden bei den Makua. Dies ist die Umkehrung der Verhältnisse in Angola, wo die Stärke der MPLA-Regierung im Mbundu-Stamm des Nordens und der Hauptstadt Luanda begründet liegt. Die RENAMO zielt auf den Zusammenbruch der Regierung ab und will dann die Macht übernehmen. So ähnlich liefen die Ereignisse im Tschad 1982 und in Uganda 1986 ab. Allerdings ist es eine Sache, Maputo von der Außenwelt abzuschneiden, eine andere, die Stadt einzunehmen. Die FRELIMOArmee mag außerstande sein, die RENAMO zu besiegen und das Land von Banditen zu säubern, aber sie kann die Hauptstadt so lange verteidigen, wie ausländische Mächte sie unterstützen. Diese Unterstützung kommt über das Meer. Im Juli 1988 wurden vier amerikanische Journalisten zu einem Gespräch mit Alfonso Dhlakama, dem RENAMO-Führer, zu einem Stützpunkt tief in Mosambik gebracht. John Battersby von der New York Times schrieb: Eine Atmosphäre des Surrealen beherrscht den verborgenen Rebellenstützpunkt. Ausdrucke hereinkommender Botschaften von Truppenkommandeuren kamen aus einem neuen Laptop-Computer, der an ein mobiles Funkgerät angeschlossen ist. Traditionelle Tänzerinnen unterhielten Rebellen-Beamte auf einer kleinen Lichtung, und die schrillen Töne eines Frauenchors erklangen zwischen den majestätischen Panga-Panga-Bäumen. Dhlakama versicherte seinen Besuchern, daß all die Schauergeschichten von Massakern und Verbrechen Lügen seien und daß ‡wir einen Krieg führen, um den Feind zu demoralisieren und sein Ansehen zu schädigen—. Über seine Taktik sagte er, ‡unser Ziel ist nicht, den Krieg militärisch zu gewinnen, sondern die FRELIMORegierung dazu zu bringen, unsere Bedingungen anzunehmen. Die westlichen Länder träumen, wenn sie glauben, daß die FRELIMO ihre kommunistische Ideologie ändern wird.— Die RENAMO behauptet, daß sie alle ihre Waffen von der mosambischen Armee erobert hat, und daß sie keine direkte Unterstützung von Südafrika erhält. Sie gibt zu, Hilfe von -108-
verschiedenen amerikanischen Gruppen zu bekommen, von reichen Geschäftsleuten und Baptistenmissionaren (die Reise der Journalisten war von einer amerikanischen Gruppe namens ‡Freedom Inc.— finanziert worden) und ähnlichen Leuten in Europa und Südafrika. DIE GEGENWÄRTIGE SITUATION Am 19. Oktober 1986 starb Samora Machel beim Absturz seiner Maschine auf dem Flug von Lusaka nach Maputo. Das Flugzeug stürzte in Südafrika ab, und viele Afrikaner hielten Sabotage oder einen Abschuß durch die Südafrikanische Luftwaffe für die Ursache. Eine internationale Untersuchungskommission kam allerdings zu der Erkenntnis, daß der Absturz auf einen Irrtum des sowjetischen Piloten zurückzuführen war, möglicherweise in Verbindung mit mangelhafter Wartung der Maschine durch das sowjetische Personal. Der Nachfolger Machels als Präsident wurde Generalmajor Joaquim Alberto Chissano. Die Sowjetunion hat aus ihren riesigen Investitionen in Mosambik bisher keinen politischen, kommerziellen oder ökonomischen Gewinn irgendwelcher Art gezogen. Sie setzt ihre Waffenlieferungen und Wirtschaftshilfe zwar fort, aber die FRELIMO nähert sich behutsam dem Westen an. Bereits 1980 begann Machel mit der Abwendung von der ‡Ultralinken— und ließ schrittweise wieder privates Unternehmertum zu. Es scheint immer wahrscheinlicher, daß die Sowjetunion sich überhaupt aus ihren afrikanischen Abenteuern zurückzieht, die nichts als gewaltige Kosten verursachen und die Beziehungen zum Westen empfindlich stören. Die Regierung Reagan widerstand dem Druck rechtsgerichteter Lobbyisten der Republikanischen Partei und verweigerte strikt jede Unterstützung der RENAMO. Diese amerikanischen Kreise argumentieren, daß die FRELIMO sich als marxistisch bezeichnet und von der UdSSR unterstützt wird, daß daher die USA die RENAMO fördern müßten, die sich zur freien Wirtschaft bekennt. Im Jahr 1987 blockierten republikanische Senatoren œ geführt von Senator Jesse Helms, aber durchaus unterstützt von gemäßigteren, darunter Senator Robert Dole, dem Oppositionsführer die Ernennung eines neuen Botschafters in Maputo, um dadurch Unterstützung für die RENAMO -109-
zu erzwingen. Schließlich gelang es Präsident Reagan, die Ernennung durchzubekommen. Die neue Botschafterin, Melissa Wells, macht kein Hehl aus ihrer Ablehnung der RENAMO. Im April 1988 veröffentlichte das US-Außenministerium einen Bericht, demzufolge die RENAMO mehr als 100.000 Zivilisten ermordet hat. Die FRELIMO versucht, ihre Beziehungen zum Westen zu verbessern, und sucht verzweifelt nach Hilfe, um das Volk vor dem Hungertod zu bewahren. Washington hat humanitäre Hilfe fürs erste zugesagt, weitere Unterstützung aber von der Abkehr Mosambiks vom Marxismus abhängig gemacht. Nachdem der Marxismus in Mosambik so hoffnungslos versagt hat œ und in ganz Afrika der Sozialismus an Glanz verliert œ scheint es durchaus möglich, daß die Amerikaner mit dieser Forderung Erfolg haben werden. Am 12. September 1988 hat der südafrikanische Staatspräsident P. W. Botha Mosambik einen Staatsbesuch abgestattet, seinen ersten überhaupt in einem afrikanischen Staat mit Ausnahme eines Besuches in Swasiland. Er traf Präsident Chissano beim Cabora BassaStaudamm. Südafrika hatte der Wiedererrichtung der 900 Kilometer langen Überlandleitung zugestimmt, die von dem Kraftwerk nach Südafrika verläuft und 1982 von der RENAMO zerstört worden war. Auch südafrikanische Truppen werden sie gegen die RENAMO verteidigen. Das Wasserkraftwerk könnte genug Strom für ganz Mosambik und 10 Prozent des südafrikanischen Bedarfs erzeugen, aber nur, wenn es vor Anschlägen geschützt ist. Botha nützte die Gelegenheit, die RENAMO zu drängen, ein Amnestieangebot der mosambischen Regierung zu nützen. ‡Wir sind für Zusammenarbeit und gute Beziehungen zwischen Nachbarn—, sagte er. Chissano war ähnlich bereitwillig. Nicht nur begrüßte er Botha, sondern er zog auch die Anschuldigung zurück, daß Südafrika für Machels Tod verantwortlich sei, und stellte mehrmals auch in der Öffentlichkeit fest, daß er nach dauerhafter Zusammenarbeit mit Südafrika strebe. Im August 1989 traf der RENAMO-Führer Alfonso Dhlakama in Nairobi mit Kirchenführern aus Mosambik zusammen, ein erster Schritt hin zu Friedensverhandlungen. Diese Gespräche wurden von den Präsidenten Daniel arap Moi und Robert Mugabe von Kenja und -110-
Simbabwe unterstützt. Dhlakama forderte Wahlen und eine Koalitionsregierung mit RENAMO-Ministern und bestand darauf, daß die FRELIMO sich vom Sozialismus abwenden, eine Marktwirtschaft wiedererrichten und die Stellung der Stammeshäuptlinge respektieren müsse. Zu diesem Zeitpunkt hatte die FRELIMO-Regierung bereits die meisten marxistischen Grundsätze über Bord geworfen und offensichtlich begriffen, daß sie, wie die Regierung von Angola und wohl auch Äthiopien, nicht länger auf sowjetische Unterstützung zählen könne. Die Verhandlungen von Nairobi ergaben noch keinen wirklichen Durchbruch, aber sie waren das erste Anzeichen von Hoffnung für Mosambik seit vielen Jahren. Wie in Angola, Äthiopien, Nicaragua, Vietnam, Kambodscha und Laos bieten die Sowjets Mosambik zwar militärische Ausrüstung, aber völlig ungenügende wirtschaftliche Hilfe. Aue diese genannten Länder verarmen zusehends. Mosambik scheint dazu bereit, aus diesem sowjetischen Satellitenstatus auszuscheiden, zurück in die Arme von Südafrika, das es ja schon vor der portugiesischen Kolonialperiode beherrschte. Sollte das geschehen, und sollten Angola, Äthiopien, Kambodscha und all die anderen diesem Beispiel folgen, würde es das sowjetische Ansehen ebenso verbessern wie die budgetäre Situation. Den USA würde dieser Wandel eine enorme politische und moralische Verpflichtung zu einem riesigen Hilfsprogramm aufbürden. Wie die Sowjets entdecken mußten, sind Hegemonien teuer.
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NAMIBIA
Geographie: 823.168 km2. Es liegt in Südwest-Afrika, im Süden grenzt es an Südafrika, im Osten an Botswana, im Norden an Angola, Ein schmaler Ausläufer im Nordosten, der Caprivi-Streifen, gibt dem Land eine gemeinsame Grenze mit Sambia und einen Berührungspunkt mit Simbabwe. Bevölkerung: 1,16 Millionen. 50 Prozent der Bevölkerung sind Ovambos, 10 % Kavangos, etwa 100.000 Weiße. BSP: 1.020 $/Einw. Diese Zahl gibt allerdings keinen Hinweis auf die große Ungleichheit zwischen weißen und schwarzen Einkommen. Auf die 7 % der weißen Einwohner entfällt ein Anteil am BSP von 50 %, rund 9.000 $ pro Kopf. Auf die schwarze Bevölkerung entfällt ein Pro-Kopf-Anteil von 229 Rand im prosperierenden Süden und 61 Rand im rückständigen Norden. Diese Zahlen stammen zwar aus dem Jahr 1965, dürften aber zumindest in der Relation noch annähernd stimmen. Verluste: Die Kämpfe der SWAPO um die Unabhängigkeit haben zwischen 1966 und 1989 zu 20.000 bis 25.000 Toten geführt. Parteien und andere Organisationen: SWAPO ‡South-West Africa People‘s Organization— gegründet 1960, die politische Organisation der schwarzen Opposition. Hauptsächlich Ovambo. PLAN ‡People‘s Liberation Army of Namibia—: der militärische Flügel der SWAPO. SWANU ‡South-West Africa National Union—: gegründet 1959, hauptsächlich Herero. Zerfällt in eine Pro-SWAPO- und eine AntiSWAPO-Fraktion. DTA ‡Democratic Turnhalle Alliance—: gegründet 1978. Allianz der ethnischen Parteien, die nicht der SWAPO angehören, und der Stammesführer, die bei der Turnhallen-Konferenz dabei waren, einschließlich der weißen ‡Republican Party— unter Dirk Mudge. MPC ‡Multi-Party Conference— gegründet 1983, eine Allianz von DTA, SWANU und anderen demokratischen Nicht-SWAPOOrganisationen. -112-
‡National Party of South West Africa—: die konservative Afrikaaner-Partei. siehe auch ANGOLA, SÜDAFRIKA. Namibia war die letzte weiße Kolonie in Afrika. Einst als Südwestafrika eine deutsche Kolonie, wurde es von Südafrika und Großbritannien 1915 erobert und Südafrika vom Völkerbund als Mandat überantwortet. Die Vereinten Nationen entzogen Südafrika dieses Mandat 1947, aber bis 1990 weigerten sich die Südafrikaner, das Land zu verlassen. Als aber die Kubaner dem Abzug aus Angola zugestimmt hatten, machten der internationale Druck und die Probleme im eigenen Land einen weiteren Verbleib unmöglich. Die ‡South-West Africa People‘s Organization— (SWAPO) begann 1966 mit ihrem Aufstand. Er dauerte 22 Jahre, einer der längsten Kriege im Afrika des 20. Jahrhunderts. Es war ein ununterbrochener Kleinkrieg, der im Schatten des weit blutigeren Bürgerkrieges in Angola stattfand. Nach dem Waffenstillstand von 1988 kehrten die SWAPO-Führer aus dem angolanischen Exil zurück. Bei den Wahlen im November gewann die SWAPO die Mehrheit, und Namibia machte sich bereit für die Unabhängigkeit am 21. März 1990. DAS LAND UND DAS VOLK Namibia besteht hauptsächlich aus Wüste. Der Name kommt von der Wüste Namib, die sich längs der Küste über das ganze Land erstreckt. Hinter der Namib liegt ein Savannengürtel, und dahinter die Wüste Kalahari. Namibia ist reich an Bodenschätzen œ darunter die größten Diamantenvorkommen der Welt, Uran, Beryll, Lithium, Wolfram, Kupfer und Vanadium œ und es ist das bedeutendste nichtkommunistische Ursprungsland einiger dieser seltenen und strategisch wichtigen Rohstoffe. Der enorme Gewinn, den Südafrika aus deren Abbau gezogen hat, ist einer der beiden Hauptgründe für sein langes Festhalten an Namibia gegen den einstimmigen Beschluß der UNO; der andere war der Wunsch, die Guerillaoperationen soweit wie möglich vom weißen Herzland entfernt zu halten. Bis zum letzten Jahr des Krieges in Angola, in den Südafrika eingetreten war, um seine Stellung in Namibia zu stärken, blieb Namibia eine höchst profitable Kolonie. Dann stiegen die Kosten auf eine Milliarde Dollar -113-
im Jahr, und Südafrika suchte einen diplomatischen Ausweg aus dem Dilemma. Der bedeutendste afrikanische Stamm in Namibia sind die Ovambos im Norden, nach der Schätzung von 1986 rund 587.000 Menschen. Die Kavanos, ein verwandtes Bantuvolk, zählen rund 110.000 Menschen. Die übrigen Stämme sind viel kleiner, am bekanntesten sind wohl die Hereros (ca. 89.000), die von den Deutschen im Laufe eines der brutalsten Kolonialkriege zu Anfang des 20. Jahrhunderts beinahe ausgerottet wurden. Jetzt, da es viel zu spät ist, müssen die Südafrikaner es bereuen, daß es ihnen nicht vor 70 Jahren eingefallen ist, die willkürliche nördliche Grenze zu korrigieren, die den Ovambostamm halbiert, und Ovamboland an Portugal abzutreten: ein Streifen von 160 Kilometer Breite weniger hätte die schwarze Bevölkerung Namibias halbiert und Südafrika den Besitz des Restes garantiert. GESCHICHTE Bei der Teilung Afrikas unter den europäischen Mächten wurde Südwestafrika dem Deutschen Reich zugestanden, da die Briten keinen Wert darauf legten. Die Grenzen hatten keinen Bezug zu Stammesgebieten oder der Topographie: Sie wurden von Kartographen in Berlin gezogen, die niemals in Afrika waren und fast nichts über die Gegend wußten. Reichskanzler Leo von Caprivi forderte Zugang zum Sambesi, und daher wurde der Caprivi-Streifen dem deutschen Territorium hinzugefügt- An seiner Spitze stoßen fünf afrikanische Staaten aneinander. Der deutsche Gouverneur, der die Verfolgung der Namas, einem Hottentotten-Volk, und der Hereros begann, die mit dem Tod der Hälfte der Hereros und drei Viertel der Namas endete, war Heinrich Göring. Sein Sohn Hermann sollte seine ‡Leistung— im Völkermord noch übertreffen. Den Briten blieb der einzige Hafen der Region, Walfischbaj, den sie bereits vor der Aufteilung des Kontinents in Besitz genommen hatten. Während des Ersten Weltkriegs war er der Ausgangspunkt für ihre erfolgreiche Invasion und Okkupation der Kolonie. 1920 deklarierte der Völkerbund Südwestafrika zum Treuhandgebiet und folgte damit einem der Vorschläge Präsident -114-
Wilsons bei den Verhandlungen von Versailles. Südafrika wurde mit dem Mandat betraut. Weder war es eine südafrikanische Kolonie, noch hatte Südafrika das Recht zur Annexion. Mit diesem Mandat, Teil der Charta des Völkerbunds, wurde das Prinzip fortgesetzt, daß ‡das Wohlergehen und die Entwicklung solcher Völker eine heilige Aufgabe der Zivilisation bilden—. Die Vereinten Nationen, Nachfolger des Völkerbundes, forderten 1947 von Südafrika das Mandat zurück œ Südafrika ignorierte diesen Akt. Am 27. Oktober 1966 entzog die UNO-Generalversammlung in einer Resolution der Republik Südafrika formell das Mandat; 1969 erklärte der Sicherheitsrat die Okkupation Namibias als illegal und forderte den unverzüglichen Abzug aller Südafrikaner. Im Dezember 1974 beschloß er, daß Namibia Ende Mai 1975 unabhängig werden sollte, schließlich, im September 1978, wurde Südafrika in der Resolution 435 befohlen, dem Gebiet die Unabhängigkeit zu geben und einen detaillierten Plan für diesen Prozeß zu erstellen. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag hat diese Entscheidungen der UNO für gesetzmäßig erklärt und als bindend für Südafrika. Südafrika hat sich bis 1990 geweigert, sie zu befolgen. DIE URSPRÜNGE DES KRIEGES Die Apartheidsgesetze wurden in Namibia niemals so streng beachtet wie in Südafrika, aber trotzdem hatten schwarze Namibier keine politischen Rechte und ihre sozialen und wirtschaftlichen Freiheiten waren stark eingeschränkt. Der größte Teil des Landes war im Besitz von Weißen, die die enormen Bodenschätze zu ihren Gunsten ausbeuteten. Als die meisten Länder Schwarzafrikas in den sechziger Jahren die Unabhängigkeit gewannen, ereichte die Befreiungsbewegung bald auch Namibia. Die SWAPO wurde 1964 gegründet, eine politische Bewegung, die der marxistischen Revolution verschrieben war. Ihr Führer Sam Nujoma und die meisten anderen Mitglieder waren Ovambos, aber zu Beginn gab es auch einige radikale Weiße darunter. Peter Fraenkel und Roger Murray hielten in ihrem Minority Rights Group Report über Namibia fest, daß ‡die SWAPO von anderen Stämmen unterstützt wird, während die südafrikanischen Behörden -115-
meinen, daß 95 Prozent der SWAPO-Mitglieder aus dem OvamboStamm kommen—. (Nach dem alten Prinzip ‡teile und herrsche— versuchten die Südafrikaner alles, die anderen Stämme gegen die Ovambos auszuspielen.) 1967 klagte Südafrika 37 Namibier wegen terroristischer Beihilfe an. Einer von ihnen war Herman Toivo ja Toivo, einer der Gründer der SWAPO. Er wurde zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt und auf die Robben-Insel deportiert. Nach seiner Freilassung im Jahr 1989 schloß er sich Nujoma an, der nach Angola geflohen war. Der zentrale Faktor der Situation in Namibia war der Bürgerkrieg in Angola, Als Portugal 1975 seine afrikanischen Kolonien aufgab, eroberte die marxistische MPLA, die ihre Hauptunterstützung in den Stämmen des Nordens Angolas findet, die Hauptstadt Luanda. Die Sowjets pumpten Waffen und Wirtschaftshilfe hinein, und die MPLARegierung schlug die Angriffe ihrer Widersacher zurück. Ihr Hauptgegner war die UNITA, geführt von Jonas Savimbi, die ihre Basis im Stamm der Ovimbundu in Süd- und Ost-Angola hatte. Die MPLA hat die UNITA niemals besiegt und der Bürgerkrieg ist weitergegangen. Südafrika unterstützte die UNITA, die Sowjetunion und Kuba die MPLA. (Ausführlich siehe ANGOLA). Die SWAPO wurde von den meisten schwarzafrikanischen Staaten anerkannt und galt vor der UNO als der gesetzmäßige Vertreter Namibias. Sie hat eine vage marxistische Ideologie, so wie andere Befreiungsbewegungen auch, und bleibt der MPLA-Regierung in Angola eng verbunden, die ausdrücklich kommunistisch ist und deren Überleben von der UdSSR und Kuba abhängt. Bis zu dem Waffenstillstand vom August 1988 wurden mehr SWAPO-Soldaten für den Kampf gegen die UNITA eingesetzt als für Aktionen in Namibia. Die Grenze zwischen Angola und Namibia ist militärisch bedeutungslos: Der Krieg zwischen UNITA und Südafrika auf der einen Seite und Angola, Kuba und der SWAPO auf der anderen Seite hat sich hauptsächlich in Angola abgespielt, aber immerhin hat es die SWAPO geschafft, Guerillas in Namibia einsickern zu lassen. Und als die kubanischen Truppen sich südwärts an die angolanische Grenze zurückzogen, gab es im namibischen Grenzbereich Gefechte. Wegen der häufigen südafrikanischen Angriffe auf Angola und da -116-
die UNITA den Großteil des südlichen Angola beherrscht, hatte die SWAPO ihr Hauptquartier nach Lubango verlegt, 290 Kilometer nördlich der Grenze. Das schwächte ihre Effizienz als militärische Macht. Sam Nujoma, der Führer der SWAPO, lebte in Luanda, der Hauptstadt von Angola, so weit wie möglich vom Schlachtfeld und außer Reichweite der südafrikanischen Kommandotruppen. DER KRIEG Die SWAPO gründete die ‡People‘s Liberation Army of Namibia— (PLAN) und begann mit dem bewaffneten Aufstand. Nachdem Angola noch portugiesische Kolonie war und Süd-Rhodesien eine weiße Regierung hatte, waren die Kommunikationsverbindungen der SWAPO zu sympathisierenden schwarzen Regierungen zu lang, einen ernsthaften Guerillakrieg gegen die südafrikanischen Streitkräfte in Namibia zu führen. Daher konzentrierte sie sich in den Anfangsjahren auf politische Arbeit unter den Ovambos und einige kleinere Terroranschläge. Nach dem Abzug der Portugiesen aus Angola 1975 konnte die SWAPO einen richtigen Guerillakrieg aufziehen. Ihre Streitkräfte wuchsen schnell. Die Südafrikaner schätzen, daß 1978 die SWAPO in Angola 18.000 Männer unter den Waffen hatte und circa 800 Guerillas in Namibia einsetzen konnte. In diesem Jahr begann Pretoria mit der Politik, über die Grenzen hinweg SWAPO-Stützpunkte in Angola anzugreifen. Als bei einem Raketenangriff der SWAPO aus dem Caprivi-Streifen jenseits der Grenze zu Sambia 10 südafrikanische Soldaten ums Leben kamen, fielen die südafrikanischen Truppen in Sambia ein, erreichten die Vororte von Lusaka und richteten große Schäden an. Von da ab verdächtigten die Südafrikaner Sambia, die SWAPO zu unterstützen. In einer Reihe von Angriffen zerschlug Südafrika SWAPOStützpunkte in Angola und trieb die SWAPO rund 320 Kilometer zurück. Durch diese Angriffe geriet die südafrikanische Armee in den Kampf mit regulären angolanischen Truppen. Die erste Schlacht zwischen ihnen fand 1981 statt, und Südafrika meldete, zwei angolanische Brigaden vernichtet und zwei sowjetische Generäle mit ihren Ehefrauen getötet zu haben. -117-
Rund 10.600 SWAPO-Guerillas sind seit 1966 getötet worden œ nach südafrikanischen Angaben œ, darüber hinaus eine unbekannte Zahl Zivilisten, in Namibia wie in Angola. Wenn diese Schätzung der Verluste der Guerillas annähernd stimmt, dann haben sicherlich mehr als 20.000 Menschen das Leben verloren, als offiziell zugegeben wird. Die südafrikanischen Sicherheitskräfte veröffentlichen ihre eigenen Verlustziffern nicht, aber es werden 600 bis 800 sein, die meisten von ihnen Schwarze. Bis zur plötzlichen Eskalation der Kämpfe 1987/88 haben die Südafrikaner rund 60 Mann pro Jahr verloren. 1980 hatte die SWAPO (nach südafrikanischen Angaben) eine Armee von rund 16.000 Mann. 1988 war diese Zahl auf 8.700 zusammengeschmolzen, von denen sich nicht mehr als 800 in Grenznähe aufhielten. Die Südafrikaner hatten 10.000 bis 12.000 Mann der ‡Southwest African Territorial Force— in Nord-Namibia stationiert, davon 80 Prozent Schwarze. (Gegen Jahresende 1987 kam es in einem der schwarzen Regimenter zu einer Meuterei, aber sie wurde rasch unterdrückt.) Es gab Polizeisondereinheiten œ die Koevoet, aus Ortsansässigen rekrutiert und von schlechtem Ruf œ und eine Miliz, zusammen etwa 30.000 Mann, genug, um mit örtlichen Angriffen der SWAPO von jenseits der Grenze fertigzuwerden, aber einem kubanischen Angriff hätten sie nicht standgehalten. Die südafrikanische Armee führte im Ovamboland die übliche AntiGuerilla-Taktik der Wehrdörfer ein, in denen die Ovambo-Bauern leben mußten. Dahinter stand die Idee, den Kontakt zwischen Guerillas und den Einheimischen zu verhindern. Es war eine effiziente Methode, aber sie vertrieb Leute, die keine Lust hatten, in diesen Siedlungen quasi hinter Schloß und Riegel zu leben. 1990 lebten mehr als 75.000 Flüchtlinge, hauptsächlich Ovambos, in Angola. Im Jahr 1987 geriet eine Einheit der südafrikanischen Armee in Angola in einen Hinterhalt. In dem Feuergefecht töteten die Südafrikaner mindestens 190 Soldaten, die meisten Angolaner. Am 1. November meldete die südafrikanische Armee, daß sie in einem Präventivschlag gegen einen SWAPO-Stützpunkt in Angola mehr als 150 Guerillas getötet habe. 11 Südafrikaner kamen dabei ums Leben. Ihre Rasse wurde zwar nicht verlautbart, aber wahrscheinlich waren die meisten von ihnen schwarz. -118-
Der langwierige Bürgerkrieg in Angola erreichte im Jahre 1987 eine Krise. Mit südafrikanischer Unterstützung brachte die UNITA der MPLA-Armee, die ihren Hauptstützpunkt im Südosten angegriffen hatte, eine schwere Niederlage bei. Bei einem Gegenangriff belagerte die UNITA den Hauptstützpunkt der Regierung in diesem Landesteil, Cuito Cuanavale. Südafrika sandte zur Unterstützung dieser Belagerung Artillerieeinheiten, und daraus ergab sich ein heftiges Artilleriegefecht zwischen Kuba und Südafrika. Die Kubaner führten rasch Verstärkungen heran und nahmen zum ersten Mal seit vielen Jahren direkt am Kampf teil. Im Frühjahr 1988 wurde die Belagerung abgebrochen, die Kubaner entsandten weitere 10.000 Soldaten mit schweren Waffen und verlegten zum ersten Mal große Armeeeinheiten an die Grenze. Plötzlich entstand die ernsthafte Möglichkeit der direkten Auseinandersetzung zwischen kubanischen und südafrikanischen Verbänden. Am 19. Februar 1988 tötete eine SWAPO-Bombe in einer Bank in Oshakati, einer kleinen Stadt im Ovamboland, 21 Menschen, hauptsächlich Ovambos, die ihre Lohnschecks einlösten œ der ernsteste Terroranschlag seit Jahren. Am nächsten Tag griff die südafrikanische Luftwaffe SWAPO-Stützpunkte in Angola bei Lubango an, dem größten angolanischen Militärstützpunkt im Süden des Landes, während Kampfhubschrauber Einsätze gegen SWAPOStützpunkte in Grenznähe flogen. Im August wendete sich das Blatt. Auf der angolanischen Seite der Grenze gab es eine massive kubanische Truppenpräsenz, und es kam zu regelmäßigen Guerillaangriffen auf südafrikanische Stützpunkte und Einrichtungen in Namibia. Die Südafrikaner verzichteten auf ihre gewohnten Gegenschläge, aus Angst, eine richtige Schlacht mit den Kubanern zu provozieren, die eine hervorragend ausgerüstete Armee in Angola unterhielten. DIPLOMATISCHE MANÖVER Südafrika hatte verschiedene Pläne für die Zukunft Namibias erstellt. Der erste wurde unter dem Namen Odendaal Report bekannt, vorgelegt von einer Kommission, die die Situation in den sechziger Jahren untersuchte. Er empfahl die Aufteilung des Landes in -119-
‡Bantustans— und weiße Gebiete, nach südafrikanischem Vorbild. Im Dezember 1974, als der UN-Sicherheitsrat bestimmte, daß Namibia bis zum 30. Mai 1975 die Unabhängigkeit erhalten müsse, reagierte Südafrika, indem es die ‡Turnhallenallianz— einsetzte, um die Zukunft zu diskutieren. Sie eröffnete ihre Verhandlungen am 1. September, benannt nach einer früheren deutschen Turnhalle in Windhuk, der Hauptstadt Namibias, wo die Versammlungen abgehalten wurden. Die SWAPO war zu dieser Konferenz nicht eingeladen. Während die Parteien fast zwei Jahre lang über mögliche Wege zur Unabhängigkeit diskutierten, errichtete die Regierung Vorster weiterhin eine Zahl Hornelands, die noch weniger unabhängig waren als die südafrikanischen Bantustans. Die ersten wurden für Ost-Caprivier, die Buschmänner und die Namas errichtet. Im Juni 1977 verwarf Vorster den ‡Turnhallen—-Vorschlag von einer interimistischen Regierung und setzte einen südafrikanischen Generaladministrator ein. Schrittweise wurden die verschiedenen Regierungsfunktionen von Pretoria auf den Generaladministrator in Windhuk übertragen. Wahlen für eine verfassunggebende Versammlung für Namibia wurden im Dezember 1978 abgehalten, allerdings unter sehr speziellen Zulassungsbedingungen. Die SWAPO, die ‡Namibia National Front— (NNF) und die ‡Nambia People‘s Liberation Front— (NPLF) nahmen daran nicht teil. Aus diesen Wahlen ging die ‡Demokratische Turnhallenallianz— (DTA) unter ihrem Führer Dirk Mudge als Sieger hervor, dem Chef der weißen Republikanischen Partei. Ein faktisch mit exekutiven Rechten ausgestatteter Ministerrat unter Mudge wurde eingesetzt, allerdings unter der Oberhoheit des Generaladministrators. Mudge hatte keine Verfügungsgewalt in Fragen der Verteidigung, Sicherheit oder Außenpolitik, und der Generaladministrator hatte das absolute Vetorecht über alle Beschlüsse dieser Regierung. Es gab eine weiße Nationalversammlung, ebenso Nationalversammlungen zweiter Klasse, die fünf der elf ethnischen Gruppen in Namibia repräsentierten. Im November 1980 wurden Wahlen für diese Versammlungen abgehalten, aber die meisten namibischen Parteien boykottierten sie. Die DTA gewann drei davon, wurde aber in der Versammlung der Weißen von den Nationalisten besiegt. Mudge resignierte im Januar 1983, und der Generaladministrator löste die -120-
Nationalversammlung auf. In den achtziger Jahren wurde entsprechend der UNO-Forderung eine Kontaktgruppe der westlichen Staaten gebildet, einschließlich der USA und Großbritanniens, die Druck auf Südafrika ausüben sollte, Namibia die Unabhängigkeit zu geben. Die USA übernahmen in diesen Verhandlungen die Führungsrolle in der Person von Cheston Cracker, Unterstaatssekretär für Afrika, und bald kristallisierte sich die Junktimierung des Abzugs der Kubaner aus Angola mit der Freiheit für Namibia heraus. Angola zeigte seine Bereitschaft, in diese Forderung nach einer gewissen Übergangszeit einzuwilligen, und auch Südafrika bekundete sein Einverständnis zur namibischen Unabhängigkeit œ allerdings erst nach dem vollständigen Abzug der kubanischen Truppen. Beide Seiten spielten nicht mit offenen Karten; Die MPLA befürchtete, einen kubanischen Truppenabzug nicht zu überleben, und Südafrika hatte in Wahrheit gar keine Lust, Namibia in die Unabhängigkeit zu entlassen. Die Situation schien hoffnungslos festgefahren. Im April 1985 wurde eine weitere Konferenz in Namibia abgehalten, und sie brachte die Einsetzung einer verfassunggebenden Versammlung, die zu einer neuen Verfassung hinführen sollte. Der Generaladministrator ernannte eine achtköpfige Interimsregierung unter dem schwarzen Vorsitzenden Andrew Matjila. Dirk Mudge wurde Finanzminister, und die Interimsregierung verbrachte drei Jahre mit der Suche nach einer generellen Zustimmung zu einer neuen Verfassung. Der grundlegende Streit zwischen dem Generaladministrator und der Übergangsregierung war die Frage, ob Wahlen auf ethnischer Basis oder nach allgemeinem Stimmrecht abgehalten werden sollten. Der Gedanke des allgemeinen Stimmrechts lief den südafrikanischen Vorstellungen grundsätzlich zuwider œ wie auch die gemischtrassige Zusammensetzung der namibischen Übergangsregierung. Die Rassengesetze und auch die politischen Gesetze waren in Namibia weit weniger rigoros als die Notstandsmaßnahmen, die in Südafrika nach den Unruhen von 1986 eingeführt worden waren. So blieb die SWAPO eine legale Partei, und die Presse erfreute sich einer weit größeren Freiheit als in Südafrika. im April 1988 kündete Präsident Botha an, daß Südafrika wieder mehr -121-
direkte Kontrolle über Namibia ausüben würde. Die Kompetenzen des Generaladministrators wurden stark ausgeweitet, und er bekam die Autorität, die Presse zu zensurieren und Notstandsbestimmungen zu erlassen, die im Prinzip die gleichen waren wie in Südafrika. Das Hauptziel der Pressezensur war The Namibian, eine Wochenzeitung, die regelmäßig die Regierung angriff. Im Juni 1988, als schwarze Gewerkschaftsführer einen Generalstreik ausriefen, nützte die Regierung die Gelegenheit, die Chefredakteurin des Namibian zu verhaften, Gwen Lister. Sie wurde beschuldigt, einen Artikel veröffentlicht zu haben, in dem sie unterstellte, daß die südafrikanische Notstandsgesetzgebung auf Namibia ausgedehnt würde. DER WAFFENSTILLSTAND 1988 beschleunigten sich plötzlich die Verhandlungen zwischen Südafrika, Angola und Kuba unter der Ägide der USA. Dabei spielte eine ganze Reihe von Faktoren eine Rolle. Auf der kommunistischen Seite war der Hauptgrund unzweifelhaft sowjetischer Druck. Die UdSSR hat zumindest eine Milliarde Dollar im Jahr ausgegeben, um die MPLA zu unterstützen, und kein Ende war in Sicht. Die Sowjetunion hatte überhaupt keinen Vorteil von diesem andauernden Krieg, und die neue Regierung in Moskau ging dazu über, Kosten und Nutzen ausländischer Verwicklungen aufzurechnen. Die USA steckten jährlich 15 Millionen Dollar in die UNITA. Offensichtlich kamen die USA bei diesem Geschäft besser weg. Auf der anderen Seite waren die südafrikanischen Ausgaben stark angestiegen ein Ergebnis der verschärften Kämpfe in Angola. Noch wichtiger war, daß auch die internationale Isolation des Landes zunahm. 1987 hatte der US-Kongreß Sanktionen gegen Südafrika beschlossen, die über Präsident Reagans Veto hinweg als Gesetz verabschiedet wurden, und im August 1988 kamen weiter verschärfte Sanktionen zur Abstimmung. Der Rückzug aus Namibia würde diesen Druck sicher abschwächen, und Südafrika konnte hoffen, die Bedingungen der Unabhängigkeit zu beeinflussen, die südafrikanischen Wirtschaftsinteressen zu wahren und später sogar auszubauen. Ein unabhängiges Namibia würde unauflöslich -122-
wirtschaftlich mit Südafrika verbunden sein. Außerdem wollte Südafrika Walfischbaj behalten, die niemals gesetzlich Namibia eingegliedert worden war. Die Briten, deren Kolonie die Bucht gewesen war, hatten sie 1920 an Südafrika abgetreten. Walfischbaj ist der einzige Hafen im Land, und der weitere Besitz würde Südafrika die Kontrolle jedes Zuganges auch eines unabhängigen Namibia zur Außenwelt einräumen. Das Abkommen wurde schließlich angenommen und am 8. August 1988 in Genf verkündet. Es führte zu einem unmittelbaren Waffenstillstand zwischen Kuba, Angola und der SWAPO auf der einen und Südafrika auf der anderen Seite. Südafrika sicherte zu, alle seine Soldaten aus Angola bis zum 1. November zurückzuziehen nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 600 und 2.000 Mann. Der nächste Schritt, die Festsetzung des Unabhängigkeitsdatums für Namibia, wurde von dem Zustandekommen eines Zeitplanes für den kubanischen Abzug aus Angola abhängig gemacht. Weitere Verhandlungen zwischen Südafrika, Kuba und Angola, initiiert von den USA, gipfelten am 15. November in einem Übereinkommen über den kubanischen Abzug. Einige Details blieben noch offen, aber das war der Durchbruch. Am 13. Dezember wurde das Abkommen in Brazzaville bestätigt, und am 22. Dezember gab es bei den Vereinten Nationen die formelle Vertragsunterzeichnung. Das Abkommen sollte am 1. April 1989 in Kraft treten: Zu diesem Datum würde der Unabhängigkeitsprozeß für Namibia beginnen, und Kuba würde ab diesem Tag seine Truppen aus Angola abziehen. 3.000 Kubaner sollten das Land sofort verlassen, und die kubanischen Streitkräfte an der Grenze sollten am 11. August auf den 15. Breitengrad zurückgezogen werden; am 1. November schließlich wurden sie auf den 13. Breitengrad zurückgenommen. Südafrika stimmte dem Truppenabzug aus Namibia ab 1. April zu, nur 1.500 Mann sollten in zwei Garnisonen in Grootfontein und Otjiwarango zurückbleiben, zwischen Windhuk und der angolanischen Grenze. Die UNO entsandte eine Friedensstreitmacht, um die Wahlen am 1. November zu überwachen. Die volle Unabhängigkeit sollte Namibia ein Jahr später erlangen. Unmittelbar nachdem das Genfer Abkommen unterzeichnet war, -123-
nahmen die Parteien in Namibia ihre Tätigkeit wieder auf. Die SWAPO und andere Oppositionsparteien blieben voll tiefer Skepsis über die südafrikanischen Absichten, sie nahmen an, daß Südafrika sich irgendwie aus seinen Verpflichtungen herauswinden oder zumindest sicherstellen würde, daß die SWAPO an der Macht nicht teilhaben würde. Die USA und die UdSSR lehnten beide den Kostenvoranschlag für die geplante UNO-Truppe in Namibia ab, so daß aus den ursprünglich geplanten 7.500 Mann nur 360 wurden und die Zahl der Wahlbeobachter zur Überwachung der Stimmenauszählung auf 800 reduziert wurde. Südafrika sorgte während dieser schrittweisen Veränderung weiter für die Sicherheit. Die SWAPO-Flüchtlinge wurden von der UNO nach Angola zurückgeflogen. Sie wurden mit Freudenfesten empfangen, unter den unfreundlichen Blicken der Südafrikaner. SWAPO-Führer wiederholten mehrfach ihre Absicht, den Besitz oder die Rechte weißer Namibier nicht antasten zu wollen, und die Positionskämpfe um die Teilhabe an der neuen Regierung gingen so richtig los. SWAPO-Guerillas lehnten das UNO-Angebot ab, in Lagern nahe der Grenze zusammengezogen zu werden, da diese Lager von den Südafrikanern kontrolliert wurden, und die Zukunft der südafrikanischgeführten paramilitärischen Streitkräfte, der Koevoet, war Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen. Die SWAPO und ihre Anhänger fürchteten, daß die Koevoet unter einem anderen Namen weiterbestehen und als südafrikanische Ersatzarmee in Namibia fungieren würde. Die Südafrikaner erlaubten dem UN-Kommissar, in Windhuk zu amtieren und das Land trat in eine schwierige Periode mit drei wetteifernden Obrigkeiten, in Vorbereitung auf die Wahlen und danach auf eine eventuelle Machtübergabe. Südafrika hatte offensichtlich ernsthaft die Absicht, sich an den vereinbarten Abzugsplan zu halten und vielleicht sogar früher die Macht zu übergeben, falls das möglich wäre. Die Wahlen fanden zwischen dem 7. und dem 11. November 1989 statt, und 97 Prozent derer, die sich zuvor als Wahlberechtigte hatten registrieren lassen, gaben ihre Stimme ab. Die SWAPO gewann mit 57 % der Stimmen 41 von 72 Parlamentssitzen, die DTA, die natürlich zur Ovambo-dominierten -124-
SWAPO in Opposition stand, bekam 28 % und 21 Sitze, und zwei neue Parteien teilten sich den Rest. Es war klar, daß die SWAPO die Regierung bilden und Nujoma der gewählte Präsident des unabhängigen Namibia sein würde. In der Interimsverfassung war aber eine parlamentarische Zwei-DrittelMehrheit vorgesehen, um die neue Verfassung anzunehmen, und die Oppositionsparteien bestanden auf dem Einbau jedes möglichen demokratischen Sicherungsinstrumentes, einschließlich eines strikten Menschenrechtekatalogs und eines Artikels, daß die Verfassung in Zukunft nur mit parlamentarischer Zwei-Drittel-Mehrheit abgeändert werden dürfe. Die SWAPO mag die Mehrheitspartei sein, aber ihrer Macht sind Grenzen gezogen. Das Land erlangte seine formelle Unabhängigkeit am 21. März 1990. Die Auseinandersetzung um Walfischbaj blieb ungelöst und wurde Teil der umfassenden Frage nach den Beziehungen zu Südafrika. Namibia ist ein unabhängiges Land, aber seine gesamte Wirtschaft liegt in der Hand von südafrikanischen oder weißen namibischen Firmen, und alle Verkehrsverbindungen zur Außenwelt verlaufen durch Südafrika. Entweder es wird daraus ein neues Bantustan, wie die Ciskei oder die Transkei, oder ein halb unabhängiger Staat wie Botswana oder Lesotho. Der Unterschied ist die Geschichte seines Widerstandes und die Präsenz von 100.000 Weißen, von denen die meisten einer schwarzen Regierung ablehnend gegenüberstehen. Am bedeutsamsten ist, daß Namibia als Modell für die Zukunft von Südafrika selbst dienen kann. Das Schicksal der Reformen von Präsident de Klerk und die Zukunft von 27 Millionen Südafrikanern kann von den Ereignissen in den dünn besiedelten Wüsten von Namibia wesentlich beeinflußt werden.
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SOMALIA
Geographie: 637.657 km2, aber die Grenzen sind umstritten. Das Land liegt am Horn von Afrika. Es beherrscht den Eingang zum Roten Meer und den nordwestlichen Abschnitt des Indischen Ozeans. Bevölkerung: 5,6 Millionen. BSP: 280 $/Einw. Flüchtlinge: 600.000 im Landesinneren, 430.000 Flüchtlinge aus Äthiopien. 400.000 somalische Flüchtlinge kamen im Sommer 1988 aus Äthiopien. Somalia ist ein armes Wüstenland am Horn von Afrika. 1977/78 kämpfte und verlor es einen Krieg gegen Äthiopien um den Ogaden (ein von Somal bewohntes Stück Äthiopiens). Seine Ansprüche auf dieses Gebiet und ähnliche Ansprüche auf Teile Kenias und Dschibutis ruhen derzeit, können aber jederzeit wieder belebt werden. Somalia war mit der UdSSR verbündet, solange die USA den äthiopischen Kaiser Hailé Selassié unterstützten, wechselte aber die Seiten, als Äthiopien den marxistischen Weg einschlug und ins Lager der Sowjetunion einschwenkte. Im Mai 1988 gab es im nördlichen Somalia einen Aufstand gegen die Regierung, und jetzt leben rund 400.000 somalische Flüchtlinge in Äthiopien. Die Vereinigten Staaten setzten ihre Hilfe für das Land wegen der fortgesetzten Menschenrechtsverletzungen aus. Das Regime von Präsident Siad Barre steht ziemlich weit oben in der Liste der Regierungen, die jeden Augenblick gestürzt werden könnten. GESCHICHTE Die Stämme des wilden Landes am Horn von Afrika weideten ihre Herden und fochten ihre Stammeskriege bis tief ins 19. Jahrhundert ungestört von äußeren Einflüssen aus. Araber errichteten Handelsstationen an den Küsten und gingen im Hinterland auf Sklavenfang, aber sie begründeten niemals ein Herrschaftssystem. In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts dehnte Ägypten seine Macht an der nördlichen Küste aus, zog sich aber zur Zeit des Mahdi -126-
Aufstandes, im Sudan 1881, zurück. Die Briten, besorgt über die Sicherheit ihrer Kolonie Aden auf der anderen Seite des Roten Meeres, folgten der üblichen imperialistischen Praktik, in leere Räume vorzustoßen, und errichteten in den Gebieten, die Ägypten geräumt hatte, ein Protektorat. 1883 errichtete Frankreich, verärgert über die britische Präsenz in Aden, eine kleine Kolonie am Roten Meer, eine Bunkerstation in Dschibuti, In der Zwischenzeit hatten die Italiener Eritrea annektiert, ein nicht von Somal bewohntes Gebiet in Norden von Dschibuti, und übernahmen schrittweise die Ostküste am Hörn, die dem Indischen Ozean zugewandte Seite, das spätere ItalienischSomaliland. Das waren übliche europäische Manöver in der Zerstückelung Afrikas. Durch Abessinien allerdings war die Situation am Horn anders als im übrigen Afrika. (Siehe ÄTHIOPIEN). Kaiser Menelik II. verdoppelte die Größe seines Reiches in den siebziger und achtziger Jahren, indem er den abessinischen Einfluß in Gebiete im Ogaden ausdehnte, die von Somal bewohnt waren. Dieses große Wüstengebiet, das sich bis zum Südosten des abessinischen Kernlandes erstreckt, war von Nomaden bewohnt. So kam es unausweichlich zum Konflikt mit europäischen Mächten. 1896 kam es in Eritrea zum Krieg mit Italien, und die Italiener wurden in der Schlacht von Adowa empfindlich geschlagen. Danach unterzeichneten Italien, Frankreich und das Britische Reich Verträge mit Menelik, in denen die Grenzen ihrer Kolonien vorwiegend zu Abessiniens Vorteil festgelegt wurden. Damit lebte das Volk der Somal unter fünf verschiedenen fremden Regierungen: In Französisch-, Britisch- und Italienisch-Somaliland, in Abessinien und auch in der britischen Kolonie Kenia, in deren nördlichem Grenzdistrikt (NFD) eine große Somai-Gruppe lebte. 1899 führte der Imam Mohammed ibn Abdullah Hassan einige Wüstenstämme zum Aufstand gegen die Briten, aber das war ebenso sehr ein Bürgerkrieg wie ein Antikolonialkrieg. Mohammed Abdullah wollte wie viele islamische Reformer vor und nach ihm die Städte von den Ungläubigen reinigen. Nur eine Minderheit der Somal folgte ihm. Der Rest unterstützte die Briten. Diese nannten ihn verächtlich ‡verrückten Mullah", schafften es aber mit vier Strafexpeditionen zwischen 1901 und 1910 nicht, ihn niederzuwerfen. Die Briten -127-
überließen das Landesinnere von Britisch-Somalia dem Mullah, und Mohammed Abdullah kämpfte einen erbitterten Krieg, um die Stämme zu unterwerfen. Ungefähr ein Drittel der männlichen Somal dürfte in diesen Kämpfen ums Leben gekommen sein. Nach dem Ersten Weltkrieg erlangten die Briten wieder die Kontrolle und besiegten schließlich Mohammed Abdullah; die Hälfte von Kenias NFD traten sie an Italien ab. In den dreißiger Jahren wollte Mussolini das armselige italienische Territorium ausweiten und schob die Grenzen von Italienisch-Somaliland in den Ogaden in Abessinien vor. Im November 1934 kam es zu einem Scharmützel bei den Brunnen von Wal Wal, tief im abessinischen Gebiet, und Mussolini nützte diesen Zwischenfall als Casus Belli. Im Oktober 1935 begann von Eritrea und Somalia die Invasion in Abessinien, und die Italiener eroberten Addis Abeba im April 1936. Abessinien wurde 4 annektiert und Teil von Italienisch-Ostafrika. Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs befreiten die Briten Abessinien und eroberten Italienisch-Somaliland und Eritrea. 1948 planten sie Britisch- und Italienisch-Somaliland zu vereinigen, wurden daran aber von den USA gehindert, die zum Beschützer von Abessinien, jetzt wieder in Äthiopien umbenannt, geworden waren, und auch von der UdSSR, die die Interessen Italiens verteidigte, da sie auf eine kommunistische Machtübernahme in Rom hoffte. Großbritannien gab den Forderungen seiner Alliierten nach. Der Ogaden wurde an Äthiopien zurückgegeben, zusammen mit einem Stück von Britisch-Somaliland, genannt Haud. Italien wurden zehn Jahre zugestanden, Italienisch-Somaliland wieder rückbenannt in Somalia œ auf die Unabhängigkeit für 1960 vorzubereiten. Großbritannien entschied, das NFD bei Kenia zu belassen. Die Franzosen blieben in Dschibuti. Somalia wurde tatsächlich am 1. Juli 1960 unabhängig œ eine Union zwischen (Italienisch-) Somalia und Britisch-Somaliland. Abgesehen von den Stammes- und Sippenrivalitäten der Eingeborenen ist es eine homogene Nation, anders als die meisten Länder in Afrika. Aber trotzdem steht nun die Hälfte des Gebiets, das von den Somaliern beherrscht wird, und ungefähr ein Drittel des Volkes unter fremder Herrschaft, und das unabhängige Somalia hat seither immer wieder -128-
seine irredentistischen Forderungen an die Nachbarstaaten gerichtet. DAS UNABHÄNGIGE SOMALIA Somalia trat in die Eigenstaatlichkeit als demokratisches Mehrparteienland, aber bald verkam das Regime wie in vielen anderen afrikanischen Ländern in Korruption und Unfähigkeit. 1969 wurde der Staatspräsident Shermarke von einem entlassenen Polizisten ermordet, und eine Woche später nützte die von der Sowjetunion ausgebildete und bewaffnete Armee die Gelegenheit zur Machtergreifung. Die Armeeführer setzten eine Revolutionsregierung ein, verkündeten eine neue marxistische Politik und gingen energisch an die Probleme heran, die sie geerbt hatten. Ihre Verbindung mit der Sowjetunion beruhte mehr auf der engen Verbindung zwischen Äthiopien und den USA als auf einer ernsthaften ideologischen Zuwendung. Als Äthiopien sich nach dem Sturz Hailé Selassiés 1974 dem Kommunismus zuwandte und sich mitten im Krieg gegen Somalia mit der UdSSR verbündete, wechselte Somalia funk die Seite und wurde ein überzeugtes prowestliches Land. DIE SOMALIA-FRAGE Irredentismus ist für moderne afrikanische Staaten ein tabuisiertes Thema, da praktisch alle Forderungen gegenüber ihren Nachbarn erheben könnten. Daher findet Somalia nur wenig Unterstützung für seine Ansprüche an Äthiopien, Kenia und Dschibuti. Bereits vor der Unabhängigkeit begannen somalische Stammesmitglieder in der NFD mit der Agitation für den Anschluß an ihre Stammesgenossen im Norden, und bald entwickelte sich daraus ein weitgreifender Guerillakrieg. Die Kenianer nannten die Guerillas ‡Shiftas—, Banditen, die Vorstöße durch die Wüste und vereinzelte Angriffe auf keniatische Polizisten unternahmen. Als Kenia 1963 unabhängig wurde, nahmen die Kämpfe sofort zu. Der Krieg endete 1964 mit der Erklärung Somalias, keinen Anspruch mehr auf den NFD zu erheben. Kenia schenkt diesen Behauptungen keinen Glauben und unterstützte daher Äthiopien während des Krieges von 1977/78, -129-
aus Furcht, daß Somalia im Falle eines Sieges seine Armeen nach Süden wenden würde. 1980 gab es ein Aufflammen der Guerillatätigkeit im NFD (jetzt die nordöstliche Provinz von Kenia), und die Shiftas bildeten eine NFD-Befreiungsfront. Somalia bestreitet, diese Bewegung zu unterstützen. Dschibuti wurde 1977 nach einer Volksabstimmung, die von Frankreich organisiert wurde, unabhängig, und Somalia anerkannte seinen neuen Nachbarn. Ungefähr die Hälfte der rund 320.000 Einwohner des Staates sind Somal, die hauptsächlich in der Hauptstadt Dschibuti leben. Zur Zeit der Unabhängigwerdung Dschibutis war Somalia tief in seinen Krieg mit Äthiopien verstrickt und außerstande, zur gleichen Zeit die Konfrontation mit Frankreich zu suchen. Mit der Niederlage im Äthiopienkrieg begann eine Phase des Rückzugs und des Wartens, aber Dschibuti bleibt verständlicherweise nervös über Somalias Ambitionen und ist weiter abhängig von seinem Bündnis mit Äthiopien, das seine Unabhängigkeit garantiert. DER OGADEN-KRIEG Die Somal im Ogaden begannen in den frühen sechziger Jahren mit kleineren Guerillaaktionen, und 1961 und 1964 gab es kurze Grenzkriege zwischen Somalia und Äthiopien, die Äthiopien mühelos gewann. Danach hörte Somalia auf, Äthiopien herauszufordern, bis die Revolution von 1974 die Zentralregierung in Addis Abeba massiv schwächte. Der somalische Präsident Mohammed Siad Barre forderte vom neuen Regime das Selbstbestimmungsrecht im Ogaden. Als das 1975 abgelehnt wurde, begann er, die ‡Westsomalische Befreiungsfront— (WSLF) aktiv zu unterstützen. Die WSLF wurde mit Ausrüstung sowjetischer Fabrikation und ‡Freiwilligen— aus der regulären Armee Somalias massiv aufgerüstet, und sie überrannte bald den Großteil des Ogaden. Im Sommer 1977 schnitten die Somalier die Eisenbahn von Dschibuti nach Addis Abeba ab, die Hauptlandverbindung nach Äthiopien. Die Eisenbahnlinie verläuft nördlich eines Gebirgszugs, der sich von Zentraläthiopien östlich zum Meer erstreckt. Im Juli, als ihm die Zeit reif schien, befahl Siad Barre auf breiter Front die Invasion Äthiopiens, und seine Armeen stießen -130-
gleichzeitig nördlich des Gebirges, Richtung Dire Dawa, und südlich auf Harar vor, den äthiopischen Stützpunkt im Osten. Die beiden Städte bilden das Tor durch das Gebirge, und ihr Fall hätte Äthiopien im Süden und Osten komplett abgeschnitten. Die Somalier, die 50.000 Soldaten in den Kampf warfen, wurden bei Dire Dawa zurückgeschlagen; das ist ebenso ein bedeutender Luftwaffenstützpunkt wie eine Schlüsselstadt an der Eisenbahn. Südlich der Berge eroberten sie hingegen nach einer großen Panzerschlacht Jijiga. Der Ort ist weniger als 100 Kilometer von Harar entfernt, und sie drohten, energisch auf die Stadt vorzustoßen. Äthiopien war noch schwer gezeichnet von den Auswirkungen der militärischen Niederlage, der Revolution und der Aufstände in Eritrea und anderen Provinzen, und Mitte September kontrollierten die Somalier 90 Prozent des Ogaden. Und doch hatte Siad Barre sich überschätzt. Er benötigte unbedingt neue Waffen und Munition, um die Offensive fortzusetzen, und wandte sich mit dringenden Hilferufen an seinen Verbündeten, die UdSSR. Die Sowjets sahen sich mit einem Dilemma konfrontiert. Ihr Langzeit-Verbündeter Somalia lag im Krieg mit ihrem neuen Verbündeten in Addis Abeba, der die Amerikaner aus ihren Stützpunkten ausgewiesen und sich Moskau zugewandt hatte. Die Sowjets mußten sich entscheiden, und sie entschlossen sich für den größeren und reicheren Alliierten. Sie stellten alle militärischen Lieferungen für Somalia ein, riefen ihre 4.000 Berater zurück und sandten sie geradewegs nach Äthiopien, zusammen mit gewaltigen Mengen Waffen. Im November kündigte Somalia sein Abkommen mit der UdSSR auf und wies alle übrigen Sowjetbürger im Land aus. Seit der Schließung der Dschibuti-Eisenbahn und der Blockade der Straße von Massawa nach Assab durch eritreische Guerillas brachten die Sowjets Waffen und Ausrüstung für die Äthiopier auf dem Luftweg direkt nach Addis Abeba. Sie stellten neue äthiopische gepanzerte Divisionen auf und stützten sie durch 17.000 kubanische Soldaten ab. Die Somalier verstärkten den Druck auf Harar und dann auf Dire Dawa bis Januar, aber sie konnten keine der beiden Städte einnehmen. Dann flogen die Sowjets eine komplette schwere Division der -131-
Äthiopier über die Berge und setzten sie hinter dem somalischen Belagerungsring um Harar ab œ eine höchst eindrucksvolle Demonstration der Leistungsfähigkeit der sowjetischen Luftwaffe. Die Somalier saßen in der Falle. Im Februar 1978 traten die Äthiopier und Kubaner zur Gegenoffensive an und fügten den Somaliern eine schwere Niederlage zu. Siad Barre kündigte am 9. März den Rückzug aller somalischen Truppen aus dem Ogaden an. DIE NACHWIRKUNGEN Die Somalier verloren 8.000 Mann, 75 Prozent ihrer Panzer und die Hälfte ihrer Kampfflugzeuge. Aber die WSLF setzte den Guerillakampf fort, und entgegen Siads Ankündigung wurde sie dabei von der somalischen Armee weiter unterstützt. Während der nächsten zwei Jahre kontrollierten die Aufständischen das Land außerhalb der Städte, während die Äthiopier durch den Krieg in Eritrea blockiert waren. Aber 1980 gewannen die Äthiopier die Oberhand und besiegten abermals die Somalier, die schließlich ihre letzten Truppen aus dem Ogaden zurückzogen. Wahrend der Kämpfe flüchteten 650.000 Somalier aus dem Ogaden nach Somalia, wo sie in Lagern untergebracht wurden. Das Land wandte sich an die Vereinten Nationen um Hilfe. DIE GEGENWÄRTIGE SITUATION Die äthiopische Armee, größer und besser ausgerüstet als die Somalias, hat etwa 320,000 Soldaten, bei einer Einwohnerzahl von rund 44 Millionen gegenüber 5,6 Millionen Somalias. Zusätzlich hat einerseits die Sowjetunion Äthiopien mit allem beliefert, was das Land an militärischer Unterstützung braucht, während anderseits die Budgetbeschneidungen in Washington jede größere amerikanische Hilfe für Somalia verhindert haben. So warten und hoffen die Somalier. Die äthiopische Regierung bleibt sehr gefährdet. Ihre Unfähigkeit und der doktrinäre Marxismus sowie die destabilisierende Wirkung der ständigen Unruhe in Eritrea und anderen Provinzen lassen die Vermutung zu, daß sich das Regime in Addis Abeba nicht ewig halten wird. Weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung gehört anderen Stämmen an als die vorherrschenden -132-
Amharen und spricht eine andere Sprache als die Staatssprache Amharisch. Diese Stämme haben wiederholte Aufstände unternommen. Der einzige Gewinn der Sowjetunion für ihr Engagement ist wahrscheinlich das Vergnügen, die Amerikaner ersetzt zu haben, und daher werden sie vielleicht ihre Unterstützung irgendwann einstellen. Somalias ökonomische und politische Situation hat sich im Verlauf der achtziger Jahre ständig verschlechtert, als Barre immer tyrannischer und unberechenbarer wurde. Die Wirtschaftspolitik seiner Regierung hat anscheinend keine positiven Auswirkungen für die Bevölkerung, und die amerikanischen Hilfsprogramme haben nicht ausgereicht, die Not des Landes zu beseitigen. Die USA benützten den früheren sowjetischen und ursprünglich britischen Marinestützpunkt Berbera, spielten aber sonst im Leben des Landes keine große Rolle. Ausländische Besucher wurden abgeschreckt, und Journalisten erhielten grundsätzlich keine Einreisegenehmigung. Somalia sah sich einer höchst unerfreulichen Zukunft gegenüber, als ein unaufhörlich verarmendes Dritte-Welt-Land mit sehr wenig Rohstoffen, ständig bedroht von der Dürre und von Flüchtlingen aus Äthiopien. Obwohl Somalia ethnisch eine homogene Bevölkerungsstruktur aufweist, betrachten die Sippen einander mit Mißtrauen und haben der Zentralregierung gegenüber die gleichen Vorbehalte wie in der Kolonialzeit. Die Menghistu-Regierung erkannte 1982 die Vorteile, die Stämme gegeneinander auszuspielen, und gründete die ‡Somalische Nationalbewegung— (SNM), die sich auf die Issas im ehemaligen Britisch-Somaliland stützt. Siad und die meisten Mitglieder seiner Regierung sind Marhanen. Siad Barre ist mittlerweile 80 Jahre alt und steht vor dem Ende seiner langen Präsidentschaft. Amnesty International berichtete im Juni 1988, daß die Regierung echte und vermutete Oppositionelle seit 1981 foltern läßt und daß widerrechtliche Verhaftungen, Folter und Hinrichtungen von Zivilisten, die der Kollaboration mit der SNM verdächtigt werden, ständig vorkommen. Im April 1988 willigte die äthiopische Regierung œ nach schweren Verlusten in Eritrea und Tigray œ ein, die diplomatischen Beziehungen -133-
mit Somalia wieder aufzunehmen, ohne zuvor einen Friedensvertrag zu unterzeichnen, der die Grenzen festschreibt. Dadurch konnte sie Truppen aus dem Ogaden abziehen und nach Eritrea verlegen. Siad Barre hat möglicherweise kalkuliert, daß, sollten sich die Äthiopier im Norden erholen, die Somalier zumindest einen Defacto-Frieden hätten, ohne nominell ihre Ansprüche auf den Ogaden aufgeben zu müssen. Die WSLF setzte allerdings ihren Kleinkrieg im Ogaden fort, und sollte Äthiopien in Eritrea verlieren und auseinanderfallen, ist Somalia in den Startlöchern, die Offensive wieder aufzunehmen. Einer der Punkte des Abkommens zwischen Äthiopien und Somalia besagte, daß die SNM-Mitglieder im Exil nach Hause zurückkehren dürften. Sie brachten große Mengen moderner, von Äthiopien gelieferter Waffen mit, und am 26. Mai 1988 griffen sie die Regierungsgarnisonen im Norden an und besiegten zwei schwache somalische Divisionen. Dann griffen sie Hargeisa und Burao an, die zwei Hauptorte des nördlichen Landesinneren. Sie eroberten Burao, aber es gelang der Regierung, Hargeisa zu halten und Burao später zurückzuerobern. Gerüchte aus Somalia meldeten Massenhinrichtungen von Issas in Hargeisa und die BeinaheEroberung von Berbera durch die SNM. Nach manchen Quellen wurden bei den Kämpfen im Mai und Juni 10.000 Menschen getötet; der Bürgerkrieg sei mit großer Grausamkeit weitergeführt worden. Hargeisa und Burao sollen Geisterstädte sein, die von ihren Bewohnern aufgegeben wurden. Zu Beginn des Juni wurden 167 Mitarbeiter ausländischer Hilfsorganisationen auf dem Luftweg evakuiert, und im Kampfgebiet wurden keine weiteren Ausländer geduldet. Täglich kamen 4.000 bis 5.000 Flüchtlinge über die äthiopische Grenze, und Mitte August waren 300.000 in Äthiopien, die meisten in Lagern nahe Jijiga, aber zumindest 100.000 in abgelegenen Teilen des Ogaden. Bis zum Ende des Jahres stieg die Zahl auf 400.000. Die Wirren griffen bald auf den Süden des Landes über. Im Verlauf des Jahres 1989 wurden Meutereien in verschiedenen Armeeeinheiten und Kämpfe zwischen Angehörigen rivalisierender Clans gemeldet. Im September 1989 berichtete das US-Außenministerium, daß die somalische Armee bei Angriffen auf SNM-Stellungen im Norden mindestens 5.000 Zivilisten getötet hatte. Die USA stellten aus Protest -134-
gegen die Menschenrechtsverletzungen der Regierung ihre
Hilfszahlungen an Somalia (55 Millionen Dollar jährlich) 1988 ein,
und dann kam auf das schwergeprüfte Land eine neuerliche Dürre zu.
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SUDAN
Geographie: 2,505.813 km× œ ungefähr die halbe Fläche von Europa. Bevölkerung: 25 Millionen. 14 Millionen im Norden sind Moslems und sprechen Arabisch; 8 Millionen im Süden sind Animisten oder Christen, gehören einer Vielzahl Stämmen an und sprechen viele verschiedene Sprachen BSP: 320 $/Einw. Flüchtlinge: 2 Millionen Flüchtlinge im Land: 667.000 aus Äthiopien, 90.000 aus Uganda, 25.000 aus dem Tschad, 5.000 aus Zaire. 1988 lebten in Äthiopien 330.000 Flüchtlinge aus dem Sudan; jeden Monat gehen 8.000 bis 10.000 über die Grenze. Verluste: Im 1. Bürgerkrieg (1963-1972): ungefähr 400.000 Tote; im 2. Bürgerkrieg (seit 1983): bis jetzt sind mindestens 400.000 Menschen umgekommen, davon 250.000 an der Hungersnot im Jahre 1988. GESCHICHTE Der Sudan ist ein unermeßlich weites Land, das von der großen Verwerfungslinie, die quer durch Afrika lauft, geteilt wird. Zwei Drittel der Bevölkerung leben im Norden, von ihrer Religion her sind sie Moslems und von ihrem kulturellen Selbstverständnis Araber. Sie orientieren sich nach Norden, nach Ägypten, und nach Osten, gen Mekka. Ihr Land ist trocken, heiß, zum Teil Wüste, und sie haben eine schriftliche Überlieferung bis zurück in die Antike. Der Südsudan ist heidnisch oder christlich. Es ist ein grünes, fruchtbares Land, größer als beispielsweise Texas, ein Bestandteil des schwarzen, äquatorialen Afrika, und seine Bevölkerung blickt nach Zentral- und Ostafrika. Die zwei so verschiedenen Teile des Landes sind heute zu einem Staat vereinigt, da zum Ende des 19. Jahrhunderts die Franzosen den Rückzug antraten und den Briten das Gebiet überließen, das damals als der östliche Sudan bezeichnet wurde. Es war eine jener Episoden, die die Hochblüte des europäischen -136-
Imperialismus kennzeichnete. Weder Frankreich noch Großbritannien konnte mit dieser endlosen Weite von Wüste und Sümpfen irgend etwas Vernünftiges anfangen œ und schon gar nicht ein moralisches Recht anmelden, das Land zu annektieren œ, aber jeder der beiden Kontrahenten fühlte sich dazu aufgerufen, es zu besitzen, da der andere es haben wollte. Der Sudan wurde 1819 von den Ägyptern erobert, die ihn von Khartum aus beherrschten und den Sklavenhandel im Süden weiterhin zuließen. In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts war Ägypten seinerseits selbst beherrscht und kontrolliert von Großbritannien. Der britische General Charles Cordon wurde der ägyptischen Armee beigegeben, um den Sklavenhandel zu unterdrücken œ eine Aufgabe, der er sich mit großem Eifer unterzog. Da revoltierten die Sudanesen. Sie folgten einem religiösen Führer, Mohammed Ahmed, der sich selbst als ‡Mahdi— ausrief. Der militärische Führer der Sekte, Abdullah ibn Mohammed, erklärte sich zum Kalifen, dem Herrscher des Sudan. Seine Armee, von den Briten als ‡Derwische— gefürchtet, warf die Eindringlinge hinaus, und 1883 entschieden die Briten, daß es für die Ägypter besser wäre, sich völlig zurückzuziehen. Im Januar 1884 wurde Cordon entsandt, um den Rückzug zu leiten, aber sobald er Khartum erreicht hatte, weigerte er sich, den Rückzug tatsächlich durchzuführen. Er wurde ab dem 15. März 1884 belagert und hielt die Stadt zehn Monate gegen eine gewaltige Übermacht. Im Dezember schickten die Briten schließlich eine Entsatzarmee nilaufwärts, aber sie erreichte die Vororte von Khartum erst am 27. Januar 1885 œ zwei Tage, nachdem Gordon und seine Männer überwältigt worden waren. Er selbst wurde auf den Stufen seines Palastes getötet und zu einer legendären Figur des Empire. 1898 entsandten die Briten eine große Streitmacht nilaufwärts, um Gordon zu rächen und den Sudan zu erobern œ und um die Franzosen zu ärgern. Letzteres war der Hauptgrund. Am 2. September wurden die Sudanesen in der Schlacht von Omdurman besiegt œ die letzte Schlacht, die durch einen Kavallerieangriff entschieden wurde, Leutnant Winston Churchill von den 21. Lancers machte die Schlacht und auch den Angriff mit œ später schrieb er darüber ein hervorragendes Buch. Ein Jahr später wurde der Kalif getötet. -137-
Nach der Schlacht bei Omdurman segelte General Kitchener, der Kommandeur der britischen Truppen, den Weißen Nil stromaufwärts bis nach Faschoda, tief im Süden. Eine französische Expedition, die auf einem Wüstenmarsch die Weite Afrikas durchquert hatte, richtete sich dort eben ein. Kitchener erreichte mit seiner mächtigen Armee Faschoda am 19. September. Das französische Expeditionskorps, angeführt von Major Jean-Baptiste Marchand, bestand aus nur acht französischen Offizieren und 120 afrikanischen Soldaten. Sie hatten für den Weg nach Faschoda zwei Jahre gebraucht, und nun wurde ihnen höflich, aber unmißverständlich mitgeteilt, daß sie nach Hause gehen könnten. Die daraus resultierende Krise hätte beinahe zu einem Krieg zwischen den beiden Ländern geführt, doch schließlich mußten die Franzosen nachgeben. Auf Seite 2 seiner Memoiren listet General de Gaulle die Niederlagen auf, die ihn dazu bewogen haben, sein Leben der Glorie Frankreichs zu weihen: Nummer eins auf dieser Liste ist die Faschoda-Krise. Er bekam seine Revanche 65 Jahre danach, als er sein Veto gegen den Beitritt Großbritanniens zur EWG einlegte. Die Briten errichteten eine neue Herrschaft und nannten das Land den ‡Anglo-Ägyptischen Sudan—, aber es bestand niemals ein Zweifel, wer in dieser Partnerschaft den Ton angab. Während der nächsten fünfzig Jahre gelang eine vernünftige wirtschaftliche Entwicklung, vor allem durch die Einführung von Baumwoll- und Zuckerrohrplantagen. Der Norden des Landes wurde in arabischer Amtssprache von Khartum aus regiert, der Süden, ziemlich abgesondert, in englischer Amtssprache von Iuba aus. DIE UNABHÄNGIGKEIT 1953, als die Briten zögernd ihren Rückzug aus dem Nahen Osten antraten, veranlaßten sie auch die Ägypter, den Sudan zu verlassen. Die letzten britischen Kolonialbeamten verließen das Land 1954; formell wurde es 1956 unabhängig, aber da hatten die Katastrophen schon begonnen. Im Juli 1955 hatte ein Streit über Arbeitsbedingungen in der südlich gelegenen Stadt Nzara zu Aufständen geführt, die von Polizeikräften niedergeschlagen wurden œ dabei starben 20 Menschen. Im August meuterte das südliche Armeekorps und kontrollierte bald mit Ausnahme von Juba die Äquatorialprovinzen. Juba wurde von loyalen Truppen des Nordens -138-
gehalten. Hunderte Geschäftsleute und Beamte aus dem Norden starben, ehe Ruhe und Ordnung wiederhergestellt und die Meuterer besiegt werden konnten. 1958 wurde die von den Briten eingesetzte Zivilregierung durch einen Militärputsch weggefegt. General Ibrahim Abboud ernannte sich zum Präsidenten und unterdrückte sofort jede Opposition, besonders im Süden. Er setzte Arabisch als alleinige Staatssprache durch, erklärte den Freitag statt des Sonntags zum arbeitsfreien Tag, auch im Süden, verwies christliche Missionare 1962 des Landes und jagte Politiker aus dem Süden ins Exil. DER ERSTE BÜRGERKRIEG 1963 bildeten einige Exilanten die Widerstandsbewegung ‡Anya Nya— (in einer der südlichen Sprachen heißt das Giftschlange). Die Bewegung gewann die Unterstützung der Dinka-Stämme; ihre Waffen bezog sie von Rebellen im Kongo, von Äthiopien (das damit die Unterstützung ausgleichen wollte, die der Sudan den äthiopischen Aufständischen geboten hatte) und von Israel, das grundsätzlich jede Gruppe unterstützte, die unter den Arabern Zwietracht säen mochte. Bald wurde aus der Auseinandersetzung ein erbarmungsloser Kampf zwischen Arabern und Afrikanern, wie die alten Sklavenkriege. Es wurden grundsätzlich keine Gefangenen gemacht, und 400.000 Tote gelten als wahrscheinlich. Natürlich waren die meisten von ihnen Zivilisten. Die Anya Nya kontrollierte bald die meisten Provinzen des Südens; sie besetzte immer wieder kleine Städte und belagerte Regierungsgarnisonen. In diesem ungleichen Krieg hatten die Truppen des Nordens Zugang zu allen Waffen, die sie brauchten, waren besser ausgebildet als die Kämpfer des Südens und hatten auch die kriegerischen Traditionen des Mahdi geerbt. Aber in einem so riesigen Land war es unmöglich, jedes Dorf und jeden Wald unter Kontrolle zu halten. Keine der beiden Seiten konnte diesen Krieg gewinnen. Am 25. Mai 1969 gab es neuerlich einen unblutigen Staatsstreich. Abboud wurde abgesetzt und durch Oberst Dschafar Numeiri ersetzt. Dieser wurde im Laufe seiner folgenden langen Amtszeit einer der bemerkenswertesten afrikanischen Staatsführer. Er wanderte gerne am -139-
frühen Morgen durch die Märkte von Khartum, hörte den Arbeitern zu und ermunterte sie zur Arbeit. Er war ein enger Verbündeter Ägyptens, vor allem Anwar as-Sadats, und begrüßte dessen Friedensverhandlungen mit Israel. Er war auch ein unversöhnlicher Gegner des libyschen Staatschefs Gaddafi, der immer wieder Verschwörungen gegen ihn unterstützte und einmal sogar ein Kampfflugzeug losschickte, um Khartum zu bombardieren. Gaddafi hatte ein Auge auf die nordwestliche Provinz des Sudan geworfen, auf Nord-Dafur, das er als Operationsbasis gegen den Tschad (siehe TSCHAD) haben wollte. Numeiri beschloß, den Krieg im Süden zu beenden. 1972 lud er die Rebellenführer des Südens zu einer Konferenz nach Khartum ein. Dabei machte er ihnen verschiedene Zugeständnisse. Die drei südlichen Provinzen wurden zu einer verschmolzen, mit einem Regionalparlament in Juba, das beinahe völlige Autonomie haben sollte. Die Zentralregierung behielt sich nur die Belange der Verteidigungs- und Außenpolitik vor, in allen anderen Bereichen sollte der Süden seine eigenen Wege gehen. Den Rebellen wurde eine Generalamnestie zugesichert, und die Anya Nya-Soldaten wurden in die reguläre sudanesische Armee übernommen. Es war eine der staatsmännisch klügsten und erfolgreichsten Aktionen, die je in Afrika stattgefunden haben, nur noch vergleichbar mit der vollständigen Wiederherstellung des Friedens in Nigeria nach dem Biafra-Krieg. Unglücklicherweise hielt diese Vereinbarung nicht stand. Politische und ökonomische Entwicklungen in Khartum in Verbindung mit der Verrottung der Regierung Numeiri erweckten im Süden den Aufstand wieder zum Leben. In den Jahren nach dem Ende des Bürgerkriegs gab es in Khartum immer wieder Putschversuche, die meist von Libyen oder anderen Staaten unterstützt wurden. 1975 wurde ein Putschversuch von mit libyschem Geld bezahlten Söldnern mit großer Härte abgewehrt: Numeiri ließ 98 Männer hinrichten. Sein hauptsächlicher politischer Gegner, Sadiq al-Mahdi œ ein Urgroßenkel des Mahdi, dessen Name er alle Ehre machte, und einmal unter Numeiri Ministerpräsident œ stand 1975 und 1976 an der Spitze von zwei Staatsstreichen und wurde des Landes verwiesen. Jahre später wurde er amnestiert und kehrte zurück; er lebte friedlich in Khartum und spielte gelegentlich -140-
mit Numeiri Tennis. So großartig auch Numeiris Befriedungsaktion des Südens war, so vollständig versagte seine Regierung in allen anderen Belangen. Vor allem mit der Wirtschaft ging es ständig bergab. Zur Zeit seiner Unabhängigkeit war der Sudan ein relativ prosperierendes Land mit einer hinreichenden Zahl gebildeter Menschen, um das Land vernünftig regieren zu können, und hatte ein enormes Potential. Er war einer der weltführenden Baumwollproduzenten und konnte seinen Bedarf an Getreide und Zucker selbst decken. Das war nun alles vorbei. Der Sudan leidet unter allen Übeln des postkolonialen Afrika, verstärkt durch die Größe des Landes und den Gegensatz zwischen Nord und Süd. Die Regierung hält die Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse so niedrig, daß kein Bauer Gewinn aus dem Ertrag seiner Ernte zieht. Die Subventionen der Regierung sind an den Bedürfnissen der Stadtbewohner ausgerichtet, während die Menschen auf dem Land verhungern. Die Baumwollindustrie ist zusammengebrochen, und der Sudan muß jetzt Zucker importieren. Mit den Jahren wurde Numeiri immer selbstherrlicher. Er entwickelte sich auch zu einem ausgeprägten islamischen Fundamentalisten, der die Sharia, die Gesetzgebung auf der Grundlage des Korans, im Land einführte. Ehebrecher wurden zu Tode gesteinigt, Dieben wurde die Hand amputiert, und die Prohibition gegen Alkohol erstreckte sich sogar auf medizinischen Alkohol in den Spitälern. Im Januar 1985 wurde Mahmoud Mohammed Taha, ein Führer einer laizistischen Partei, der ‡Republikanischen Bruderschaft—, in Khartum öffentlich gehängt, da er die Weisheit von Numeiris religiösem Fanatismus kritisiert hatte. Numeiris Autorität schwand im Süden, der auf der Einhaltung der Autonomiezugeständnisse von 1972 beharrte, und bald kam es zu Kämpfen zwischen Stammeskriegern und Truppen des Nordens. Die Dürrekatastrophe, die ganz Ostafrika und die Sahel œ das Gebiet südlich der Sahara œ betraf, hatte im Sudan besonders verhängnisvolle Auswirkungen. Millionen verhungernder Menschen flohen in überfüllte Flüchtlingslager, und protestierten, daß die Zentralregierung nichts zu ihrer Rettung unternahm. -141-
1983 flammte der Bürgerkrieg wieder voll auf. Eine neue Organisation œ die ‡Volksarmee zur Befreiung des Sudan— (SPLA) œ wurde gegründet, angeführt von Oberst John Garang, einem in Amerika ausgebildeten christlichen Dinka. Die SPLA begann Angriffe auf Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, und im Februar 1985 verließen die meisten ausländischen Helfer den Südsudan. Die USA pumpten Hunderte Millionen Hilfsgelder in den Sudan, um sich seiner Loyalität zu versichern œ die Wirtschaftshilfe betrug 67 Millionen Dollar im Jahr 1988, und 1989 waren es rund 77,4 Millionen Dollar. Das war genug Geld, um die Regierung zu retten, aber nicht genug für die Verhungernden. Zu Beginn des Jahres 1985 stellten die USA, Großbritannien, die BRD und Saudi-Arabien ihre Hilfsprogramme ein und wollten sie erst dann wieder aufnehmen, wenn Numeiri umfangreiche Reformpläne vorlegte. Der Internationale Währungsfonds stellte harte Bedingungen für seine Unterstützung, allen voran die, daß die Lebensmittelsubvention eingestellt würde. Ohne die Wiederbelebung der Landwirtschaft hatte die Wirtschaft des Landes keine Chance auf Besserung. Numeiri stimmte zu und stoppte die Nahrungsmittelsubventionen im März 1985. Dann ging er auf eine Auslandsreise, deren Höhepunkt ein Besuch bei Präsident Reagan in Washington am 1. April war. Die Amerikaner sicherten ihm 67 Millionen Dollar Hilfszahlung zu. Aber es war zu spät. Während Numeiris Abwesenheit gab es Aufstände gegen die Brotpreiserhöhung, einen Generalstreik und Massendemonstrationen gegen die Regierung. Numeiri setzte seine Reise fort. Am 6. April verkündete das Armeekommando seine Absetzung. DER NEUE SUDAN Die neue Regierung führte die Nahrungsmittelsubventionen wieder ein. Die Nationalwirtschaft des Sudan steuert weiter den Kurs in die Katastrophe, wird von ausländischer Hilfe am Leben erhalten, ist aber dem Zusammenbruch geweiht. Die Regierung wagt nicht, Wirtschaftsreformen einzuführen, aus Furcht, Numeiris Schicksal zu teilen. Die Armee rief im April 1986 Wahlen aus, ein Jahr nach dem -142-
Staatsstreich, und übergab die Macht an Sadiq al-Mahdi, dessen Umma-Partei die meisten Sitze im Parlament gewann. Er blieb drei Jahre als Ministerpräsident einer Reihe instabiler Koalitionsregierungen im Amt. Die neue Regierung lockerte als erstes die strengen Gesetze Numeiris. Mahdi hatte es nicht notwendig, seinen religiösen Fundamentalismus irgend jemandem durch Maßnahmen zu beweisen, sein Name war Zeugnis genug. Vielmehr bestärkte er Presse und rivalisierende politische Parteien in ihrer Eigenständigkeit. Eine kurze Zeit lang war der Sudan zusammen mit Botswana von allen afrikanischen Staaten einer wirklichen Demokratie am nächsten. Unmittelbar nach dem Krieg nahm der Sudan die diplomatischen Beziehungen mit Äthiopien und Libyen wieder auf und akzeptierte großzügige libysche Unterstützungen. Diese Hilfe hatte ihren Preis: Gaddafi mischte sich immer wieder hemmungslos in die sudanesischen Angelegenheiten ein. Nach einem Grenzzwischenfall, bei dem libysche Truppen sudanesische Grenzsoldaten angriffen, gab es in Khartum Demonstrationen gegen Libyen. Der Sudan ist nicht gewillt, Gaddafis Marionette zu werden. Die Beziehungen zu den USA und Ägypten waren weniger herzlich als zu Numeris Zeiten. 1986 wurde ein Funker der amerikanischen Botschaft angeschossen und ernsthaft verwundet œ offensichtlich als Racheaktion für den amerikanischen Bombenangriff auf Libyen. Die USA evakuierten prompt 200 Angehörige ihres Botschaftspersonals, aber bis Mai 1988 gab es keine weiteren Zwischenfälle. Dann griffen Araber mit libanesischen Pässen ein Hotel und einen Klub in Khartum an und töteten sieben Menschen. Der Angriff richtete sich offensichtlich gegen Ausländer: Die Toten waren eine britische Familie œ die Eltern und ein drei- sowie ein einjähriges Kind œ, ein zweiunddreißigjähriger Schullehrer und zwei Sudanesen. Die Täter wurden verhaftet. Später stellte sich heraus, daß sie von Abu Nidal gedungen worden waren. DER KRIEG Der Krieg ging weiter. Es gab verschiedene Anläufe zu Verhandlungen zwischen der Regierung und der SPLA, aber ohne -143-
Erfolg. Im Juli 1986 traf Mahdi in Addis Abeba mit Garang zusammen, brach die Gespräche aber im folgenden Monat ab, nachdem die SPLA eine Verkehrsmaschine abgeschossen hatte. Im Dezember 1987 wurde in London eine weitere Verhandlungsrunde geführt, aber ebenfalls ohne Ergebnis. Garangs Streitmacht œ angeblich zwischen 20.000 und 30.000 Mann œ drang bis zu 200 Kilometer auf Khartum vor und bedrohte die Stromversorgung der Hauptstadt ernsthaft, die auf dem Roseires-Staudamm am Blauen Nil im Südosten beruht. Die Regierung verkündete lauthals Erfolge im Kampf gegen die SPLA: Im Dezember 1987 beispielsweise reklamierte die Armee einen großen Sieg für sich, bei dem mehr als 3.000 Rebellen getötet worden sein sollen. Im folgenden April allerdings griff die SPLA Juba an. Garang konnte seinen Rückhalt in seinem eigenen Dinka-Stamm beständig ausweiten. 1987 gelang es ihm, die Führer des NuerStammes auf seine Seite zu bringen. Ihre Organisation heißt ‡Anya Nya II— und gilt als Erbe der Bewegung, die den Bürgerkrieg von 1963-1972 geführt hat. In den folgenden Monaten gewann Garang auch die Unterstützung der anderen Stämme des Südens, und mit ihrer Hilfe eroberte er im Januar 1988 erstmals eine größere Stadt, Kapoeta im fernen Südwesten, nahe an der Grenze zu Uganda. Die sudanesische Armee bleibt im großen und ganzen im Norden oder zumindest in der Sicherheit der Garnisonsstädte, und sie schickt arabische Milizen in den Kampf gegen die SPLA. Diese Milizen rekrutieren sich aus nördlichen Araberstämmen, deren Vorfahren vor einem Jahrhundert in den Süden auf Sklavenfang gegangen sind. Der Unterschied ist, daß sie jetzt bei ihren Angriffen auf Dinka- und Nuerdörfer mit automatischen Gewehren und Granatwerfern ausgerüstet sind und mit Lastwagen kommen: die männlichen Dorfbewohner werden getötet, die Frauen weggeschleppt. Nach den Angaben der sudanesischen Regierung standen im Sommer 1988 eine Million Menschen am Rande des Hungertodes. Mehr als 300.000 Sudanesen sind über die Grenze nach Äthiopien gegangen œ von allen Ländern der Welt kann ihnen ausgerechnet dieses am wenigsten helfen. Sie überleben ausschließlich dank der Unterstützung internationaler Hilfsorganisationen. -144-
Wenn es im Sudan und Äthiopien keine Kriege gäbe, könnte der Kampf gegen den Hunger gewonnen werden. Aber so sind die Hilfsorganisationen oft hilflos. Im August 1986 schoß die SPLA mit einer sowjetischen SAM-7 eine Passagiermaschine der Sudan Airways ab; dabei starben 60 Menschen. Daraufhin stellte das Rote Kreuz seine Versorgungsflüge nach Juba ein. Für die Flüchtlinge war das eine Katastrophe. Die Landstraßen sind in so schlechtem Zustand, das Eisenbahnnetz ist so heruntergekommen, daß es durch den Krieg und den Zusammenbruch der Infrastruktur keine Möglichkeit gibt, Hilfsgüter auf dem Landweg zu transportieren. Es regnete zwar im Juli 1988 im Hochland von Äthiopien œ der Nil überschwemmte das Land bis Khartum œ, aber die Nachwirkungen der Trockenheit halten an, und 1989 kam es in Ostafrika erneut zu einer großen Dürre. Millionen Menschen sind vom Hungertod bedroht. Die Sudanesen flüchten vor der Dürre und vor dem Krieg. Die wenigen Tausend, die in die äthiopischen Lager durchkommen, schaffen es nur mit allerletzter Kraft, ‡viele können kaum noch stehen, sie sind wandelnde Skelette—, sagte ein für Flüchtlinge zuständiger Beamter im Juli 1988. ‡Sie lassen sich wirklich mit den Bildern aus den deutschen Konzentrationslagern vergleichen—, meinte ein anderer. ‡Sie sind mindestens so schlecht dran wie die Menschen in Äthiopien nach der Hungersnot 1984/85.— Ende 1988 war die Situation im Sudan schlimmer als sie es 1984/85 in Äthiopien gewesen war. Die USA hielten sich mit ihrer Kritik an der Regierung Mahdi zurück, aus Angst, ihn Gaddafi in die Arme zu treiben. Amerikanische Hilfeexperten waren mit ihrer Kritik weniger zurückhaltend und beschuldigten die Regierung, im Süden des Landes eine Politik des Völkermords durchzuführen. Journalisten übermittelten schauerliche Geschichten und Bilder vom Hungertod. Sie fanden heraus, daß die Regierung in die von der MPLA belagerten Städte zwar Lebensmittel für ihre Soldaten einfliegen ließ, nicht aber für die Zivilbevölkerung. Die Zurückhaltung der Amerikaner brachte, wie immer in solchen Fällen, gar nichts. Die sudanesische Regierung wollte sich an Gaddafi anlehnen, und bald war das Land einer seiner engsten Verbündeten. 1988 schwenkte Mahdi um und begann mit der Einführung der islamischen Gesetzgebung. Im Mai nahm er die Islamische Front in -145-
die Regierungskoalition auf. Ihr Oberhaupt ist Hassan al-Turabi, der bereits unter Numeiri an der Spitze der ähnlichen Initiativen gestanden war. Mahdi ging einen schwierigen Weg zwischen dem islamischen Extremismus und der Notwendigkeit, den Krieg zu Ende zu bringen, und ausländische Beobachter konnten nicht recht feststellen, was seine wirklichen Absichten waren. Im November wurde in Addis Abeba in Verhandlungen zwischen Regierung und SPLA ein Waffenstillstand ausgehandelt, unter der Bedingung, daß die Einführung der Scharia verschoben würde. Gleichzeitig besuchte Mahdi Libyen und unterzeichnete einen Unionsvertrag zwischen den beiden Ländern. Das Abkommen mit Libyen war in der sudanesischen Armee höchst unpopulär, und die Verhandlungen mit Garang verliefen im Sand. Mahdi verweigerte die Aufhebung der Scharia, der unumgänglichen Notwendigkeit zur Wiedervereinigung mit dem Süden. Die Wirtschaft verschlechterte sich weiterhin, und der Krieg ging ebenso weiter wie die Hungersnot im Süden. Die Armee verkündete mehrmals, daß sie nicht unbegrenzt zuschauen könne, wie das Land auseinanderfalle, und am 30. Juni 1989 übernahm sie in einem unblutigen Staatsstreich die Macht. Der Coup wurde in Ägypten (das auch der Organisation verdächtigt wurde) ebenso begrüßt wie in den USA und in Großbritannien. Zu diesem Zeitpunkt hatten rund zwei Millionen Sudanesen ihre Heimat verlassen, und wohl ebensoviele waren am Verhungern. Nach Berichten der amerikanischen Regierung sind im Südsudan im Februar 1989 zwischen 100.000 und 250.000 Menschen verhungert, ‡nachdem Angehörige der bewaffneten Mächte auf beiden Seiten Lebensmittellieferungen für von der Gegenseite kontrollierte Gebiete entweder verhindert oder durch mangelnde Kooperation vereitelt haben—. Es ist eine der großen Katastrophen eines katastrophenreichen Jahrzehnts, und es besteht nur wenig Hoffnung, daß die Militärregierung in der Beendigung dieser Auseinandersetzung erfolgreicher ist als die Zivilisten es waren. Das neue Staatsoberhaupt, General Omar Hassan al-Bashir, förderte die Scharia noch energischer als Mahdi und schickte arabische Milizen in den Süden, um die Bevölkerung zu terrorisieren. Es gab mehrfach Berichte von Massakern. Im November 1989 verbot die Regierung ausländischen Hilfsorganisationen Lebensmittel- und -146-
Medikamentenlieferungen in den Süden, da sie ihnen unterstellte, die Rebellen zu unterstützen. Der frühere US-Präsident Jimmy Carter brachte eine Reihe von Treffen zwischen Regierungsrepräsentanten und der SPLA zustande, aber diese Friedensanstrengungen brachen im Dezember 1989 erneut zusammen. Nach amerikanischer Gesetzgebung ist jede Hilfeleistung für Länder, in denen die demokratisch gewählte Regierung weggeputscht wurde, verboten. Der Sudan blickt in eine hoffnungslose Zukunft.
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SÜDAFRIKA
Geographie: Fläche 1,119.566 km2, etwa fünfmal so groß wie Großbritannien. Bevölkerung: 26,7 Millionen. Schwarze: 18,200.00, Weiße: 4,800.00, Mischlinge: 2,800,00, Asiaten: 880.001 Bei der schwarzen Bevölkerungszahl sind die 4,5 Millionen Einwohner der vier nominell unabhängigen Bantustans und der anderen sechs Homelands mitgezählt. Die schwarze Bevölkerung nimmt jährlich um 2,7 Prozent zu, die Mischlinge um 2 %, die Asiaten um 2,4 % und die Weißen um 1,7%. Rohstoffe: Südafrika hat die weltgrößten Reserven an Gold, Chrom, Platin, Vanadium und Mangan sowie große Vorkommen anderer Mineralien wie Diamanten, Asbest und Antimon. Es produziert jährlich 670 Tonnen Gold œ das ist der halbe Weltbedarf. BSP: 1.800 $/Einw. Am 2. Februar 1990 hob der Präsident der Republik Südafrika, F. W. de Klerk, das Verbot des ‡African National Congress— auf und versprach die Begnadigung des ANC-Führers Nelson Mandela. Mandela wurde schließlich am 11. Februar freigelassen. De Klerk nahm in den folgenden Monaten Verhandlungen mit dem ANC über die Zukunft des Landes auf. Das war der Höhepunkt eines radikalen politischen Veränderungsprozesses, den de Klerks Vorgänger P. W. Botha zehn Jahre zuvor eingeleitet hatte, und der Beginn einer neuen Ära in Südafrika. De Klerk hatte sich entschlossen, mit der schwarzen Mehrheit des Landes in den Dialog zu treten. Ihre Hauptforderung hatte er nicht erfüllt, nämlich das allgemeine Stimmrecht in einem vereinigten Land. Er war bereit, die Apartheid abzubauen, dieses System der Rassentrennung, das die Nationalpartei nach 1948 eingeführt hatte, und die Uhr um vierzig Jahre zurückzustellen. Aber die Weißen blieben an der Macht, und die Schwarzen forderten sie weiter für sich. Südafrika spielte zwanzig Jahre lang in der zeitgenössischen Dämonenlehre eine spezielle Rolle. Ihm war die Aufgabe zugewiesen worden, all die vergangenen Übel des Kolonialismus und des -148-
schrankenlosen Kapitalismus sowie all die behaupteten Fehler der früher herrschenden konservativen Gesellschaftssysteme des Westens zu repräsentieren. Südafrika war das Reizwort, das die Dritte Welt, Minderheiten in den USA und Europa und die Linke grundsätzlich vereinen konnte. Da es so unbeliebt war, hatte es nur wenige Verteidiger. Anti-Apartheid-Koalitionen konnten auf Universitäten, im amerikanischen Kongreß oder auf der Straße mühelos gebildet werden, und Universitätsverwaltungen oder dem US-Präsidenten oder der Regierung konnten Niederlagen beigebracht werden, die auf einer anderen Ebene nicht zu erzielen waren, Diese Siege mochten zwar keine Auswirkungen auf die Situation in Südafrika selbst gehabt haben, aber sie konnten die Kräfteverteilung an der Universität oder in Washington verändern. Der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Bayard Rustin beschrieb einmal einen Besuch auf dem Universitätsgelände der Universität von Iowa in Des Meines. Es war am Höhepunkt der Stimmungsmache für das Embargo. Der ganze Campus war im Aufruhr, alle forderten, daß die Universität sich von allen Aktien jener Firmen trennen sollte, die mit Südafrika Geschäfte machten. Die Universität kapitulierte, es war ein großer Sieg für die Anti-Apartheid-Koalition. Wenige Monate später kam Rustin wieder nach Des Moines œ für einen Vortrag über soziale Probleme in südafrikanischen Townships. Der Hörsaal blieb praktisch leer. 69 Menschen starben 1960 beim Massaker von Sharpeville, 575 kamen 1976 in Soweto ums Leben, und ungefähr 4.500 waren es bei Unruhen in den Jahren 1985 bis 1989 œ insgesamt also rund 5.000 bis 6.000 in 30 Jahren. Die Südafrikaner weisen immer wieder darauf hin, daß die Todesraten in anderen afrikanischen Ländern weit höher sind: Hunderttausende wurden in den Bürgerkriegen in Nigeria, Äthiopien und Sudan getötet; 100.000 Hutu wurden 1972 in Burundi massakriert. Ein Lehrbuch für britische Studenten, Modern Africa von Basil Davidson, widmet dem Sharpeville-Massaker (69 Tote) weit mehr Raum als dem Biafra-Krieg (1 bis 2 Millionen Tote) und erwähnt die Hutu-Massaker von 1972 kaum. (Er beschreibt den Biafra-Krieg so: ‡Ein grausamer Bürgerkrieg brach aus, der Rest von Nigeria stand vereint gegen den Stamm der Ibo und ihre Führer. Mit zusätzlicher Unterstützung der Nicht-Ibo-Völker der Region konnte -149-
die Regierung von Nigeria diesen Krieg 1970 gewinnen und einen großzügigen und gerechten Frieden erzielen.— Über Burundi schrieb er: ‡In Burundi gelang es der Tutsi-Minderheit um einen hohen Preis, an der Macht zu bleiben. Ein Hutu-Aufstand im Jahr 1972 traf auf den erbitterten Widerstand der Tutsi. Tausende starben.—) Im August 1988 schlachteten die Tutsi in Burundi abermals 20.000 Hutu ab, nachdem die Hutu 2.000 Tutsi umgebracht hatten. Die Welt nahm davon kaum Notiz. Die Vereinigten Staaten setzten ihr Hilfsprogramm fort. Es gab keine Demonstrationen vor der burundischen Botschaft in Washington, kein Kongreßabgeordneter ließ sich wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt einsperren. Es ist verständlich, daß weiße Südafrikaner mit diesem doppelten Maß nicht einverstanden sind. Sie haben offensichtlich recht œ und offensichtlich hat niemand die mindeste Sympathie für sie. Sie tragen das Gewicht ihrer Geschichte, die auch die lange und schmachvolle Geschichte der Ausbeutung Afrikas und des afrikanischen Kontinents ist. Noch wichtiger ist, daß weiße Amerikaner und Europäer sich mitschuldig an den Missetaten weißer Südafrikaner fühlen und dafür Wiedergutmachung leisten wollen symbolisch, versteht sich. Sie haben kein Schuldgefühl, wenn schwarze Afrikaner einander töten. Aber Südafrikaner sollten die Pointe daran begreifen œ beruht nicht schließlich ihr gesamtes Regierungssystem auf der Lehre rassischer Solidarität? GESCHICHTE Die erste europäische Kolonie in Südafrika wurde von der Holländischen Ostindien-Kompagnie 1652 in Kapstadt errichtet. Es war eine unbedeutende Proviantstation auf der Strecke nach Indien; bei günstigem Wind segelten die Flotten am Kap vorbei, ohne vor Anker zu gehen. 150 Jahre war die Kolonie klein und abgeschieden, vergessen von der holländischen Regierung, mühsam fristete sie ihr Dasein am Rand eines wüsten und unerforschten Kontinents. Als die Briten sie während der Napoleonischen Kriege besetzten, protestierten die Holländer kaum œ sie waren zu sehr mit der Rückgewinnung ihrer Kolonie in Java beschäftigt. Sieht man von einem Schub Hugenottenflüchtlinge ab, die gegen Ende des 17. Jahrhunderts den Verfolgungen durch Ludwig XIV. -150-
entkommen wollten, gab es kaum Einwanderer. In ihrer Abgeschiedenheit bewahrten und verfestigten die Siedler ihren calvinistischen Glauben. Sie waren intolerante Fundamentalisten, die vom 17. bis zum 19. Jahrhundert keine sozialen oder theologischen Alternativen kennenlernten; bei einigen wenigen hat sich dieses verhärtete Weltbild unverändert und ohne jeden Zweifel daran bis tief ins 20. Jahrhundert erhalten. Sie bewahrten auch ihre Sprache: Sie heißt jetzt zwar Afrikaans, aber heutige Niederländer oder Flamen verstehen sie mühelos. Sie nannten sich selbst Afrikaaner, so wie die Engländer in Nordamerika sich Amerikaner nannten. Sie waren nicht länger Europäer, sondern genau so Afrikaner wie die Bantu-Stämme, die ungefähr zur gleichen Zeit in Südafrika einwanderten. Afrikaaner und Bantu (worin Zuluund Xhosa-Stämme eingeschlossen sind) kamen beide mit den bereits ansässigen Stämmen, die von den Afrikaanern Hottentotten und Buschmänner genannt wurden, in blutigen Konflikt. Im 19. Jahrhundert wurde die Geschichte Südafrikas geprägt von den Auseinandersetzungen zwischen Engländern und Afrikaanern, zwischen Weißen und Schwarzen, und zwischen Schwarzen und Schwarzen. Am Anfang des Jahrhunderts errichtete der Zulukönig Shaka, einer der mörderischsten Tyrannen der Geschichte und einer der herausragendsten Eroberer, ein Reich auf dem Gebiet des heutigen Natal und Transvaal. In 12 Jahren hat er rund eine Million Menschen getötet, ehe er selbst ermordet wurde œ eine afrikanische Leistung, die neben Dschinghis Khan und Tamerlan bestehen kann. Die Zulus verdrängten das Volk der Xhosa, die wiederum mit der kleinen weißen Kolonie am Kap aneinandergerieten. Die Rivalität zwischen Zulus und Xhosa bildet nach wie vor einen Schlüssel zu den gegenwärtigen Problemen Südafrikas. Die Briten vergrößerten die Kolonie, um sie vor den Xhosa zu schützen, und versuchten die Afrikaaner zu unterwandern, indem sie die Ansiedlung englischer Auswanderer förderten. Sie waren nicht besonders erfolgreich: Die Afrikaaner blieben in der Mehrheit und widersetzten sich der Anglisierung der Kolonie. Bis heute erzählt man sich unter den Buren Horrorgeschichten von den Greueltaten, die sich vor 160 Jahren abgespielt haben sollen œ zum Teil reine Erfindung. 1834 schafften die Briten im gesamten Empire die Sklaverei ab, und -151-
die Afrikaaner, die eingeborene Schwarze zu Sklaven gemacht und andere aus Westafrika und Indien ins Land gebracht hatten, waren empört. Sklaven waren Besitz, und es war göttliches Gesetz, daß der schwarze Mann dem weißen dient. Die entschlossensten Afrikaaner brachen zum ‡Großen Treck— auf. Sie verließen ihre Farmen in der Kap-Provinz und marschierten durch die endlose Weite, bis zu den Flüssen Oranje und Vaal. Das Land, durch das sie zogen, war durch die Massaker Shakas entvölkert. Dieser Treck ist in kleinerem Maßstab mit der ‡Go West— Aufbruchsstimmung der Amerikaner vergleichbar, aber es waren weit weniger Menschen, und die Entfernungen waren geringer. In der ersten Welle, in den dreißiger Jahren, gingen ungefähr 5.000 Menschen los, und sie legten einige hundert Kilometer zurück, verglichen mit den fast 2.500 Kilometern der amerikanischen Pioniere. Allerdings war der Treck mühevoller als der Oregon-Trail, das Land weit weniger gastlich, und die Zulus waren unvergleichlich gefährlicher als die Sioux. Zum Glück für die Buren hatten die Zulus keine Feuerwaffen, aber trotzdem gelang es den Eingeborenen unter Shakas Nachfolger, dem Zulukönig Dingaan, 700 Buren zu töten. Am 16. Dezember 1838 geriet der Treck in große Gefahr, und es kam zur Schlacht am Blood River. Eine Gruppe Siedler stellte angesichts einer gewaltigen Zuluübermacht ihre Ochsengespanne zur Wagenburg im Kreis zusammen und widerstand dem Angriff. Die Zulus stürzten sich einen ganzen Tag lang mit Todesverachtung in das Feuer der Vorderlader. 3.000 von ihnen blieben liegen, bei den Buren wurden 3 verwundet. Die Trecker errichteten in Natal eine neue Kolonie. Als die Briten auch diese annektierten, gründeten die Siedler zwei kleine Burenrepubliken, den Oranje-Freistaat und die Südafrikanische Republik (Transvaal). Die Briten dehnten mittlerweile die KapKolonie nach Osten aus und vergrößerten Natal bis hinter die Hauptstadt Durban. Diese vier Gebiete wuchsen langsam: Es gab wenige Einwanderer, keine Industrie und ständige Auseinandersetzungen mit den schwarzen Afrikanern. 1857 wurden in Kimberley Diamanten gefunden und 1887 in Witwatersrand Gold. Die Diamantfelder lagen nördlich der Kap-Kolonie und grenzten westlich an den Oranje-Freistaat, und die Briten annektierten sie prompt. Der -152-
Rand, mitten in Transvaal, stellte sich als die größte Goldmine der Welt heraus, und so wie zuvor bereits San Francisco, entwickelte sich die Goldsuchersiedlung Johannesburg rasch zu einer bedeutenden Stadt. Zehn Jahre zuvor hatten die Briten Transvaal annektiert, waren dann allerdings gezwungen, seine Unabhängigkeit nach den Gefechten, die als der erste Burenkrieg in die Geschichte eingingen, wiederherzustellen. In London gab es eine unaufhörliche Diskussion zwischen denen, die das Empire vergrößern wollten und denen, die es bereits für genügend groß hielten. Ende des 19. Jahrhunderts setzten sich überall auf der Welt die Imperialisten durch, und es war für sie klar, daß die Burenrepubliken und ihre Goldfelder œ Britisch-Afrika einverleibt werden mußten. Cecil Rhodes, ein Abenteurer und Finanzmann, der die Kontrolle über die Diamantfelder erlangt hatte, hatte bereits nördlich der Burenrepubliken britische Kolonien errichtet, die er in aller Bescheidenheit Rhodesia nannte. Sein vorrangiger Plan war, die weitere Wanderung der Buren nordwärts abzuschneiden, und er hatte damit Erfolg. Südafrikas Nordgrenze verläuft heute noch so wie damals, als Cecil Rhodes sie festlegte, ‡am großen, graugrünen, schmutzigen Fluß Limpopo, dicht bestanden mit Fieberbäumen—. Das war keine kartographische Phantasterei, sondern der pure Größenwahn œ Rhodes hatte auch Pläne, die Vereinigten Staaten wieder ins Empire heimzuholen und später das Deutsche Reich einzuverleiben. Die Regierung von Königin Victoria ließ sich selbst in ihren kühnsten Träumen nicht auf diese Spinnereien ein, gestattete aber Rhodes und seinen Vertretern, in Südafrika eine Expansionspolitik zu betreiben. Die Zulus waren kein Problem mehr: 1879 massakrierten sie zwar zunächst bei Isandhlwana eine britische Armee, dann allerdings wurden sie unter Kontrolle gebracht. 1896 versuchte Rhodes, mit der Unterstützung des Kolonialministers Joseph Chamberlain, unter der großen nichtholländischen Einwohnerschaft in Johannesburg einen Aufruhr zu erzeugen. Dieser ‡Jameson Raid— war ein totales Fiasko. Drei Jahre später behaupteten die Buren œ möglicherweise zu Recht œ, daß die Briten ihre Republiken annektieren wollten und griffen an. Sie fielen am 11. Oktober 1899 in Natal und im Norden der Kap-Kolonie ein œ Frühling in Südafrika œ -153-
und belagerten Ladysbury an der Straße nach Durban, und Kimberley und Mafeking im Norden der Provinz. Rhodes wurde in Kimberley eingeschlossen, entkam mit Glanz und Gloria, starb aber 1902. Nachdem die Briten in den ersten Monaten demütigende Rückschläge erlitten, brachten sie 200.000 Mann Verstärkung nach Südafrika. Kimberley wurde im Februar 1900 entsetzt, Ladysmith Ende März œ dabei ritt Winston Churchill mit der ersten Schwadron ein œ, Mafeking am 17. Mai. Als die Nachrichten davon London erreichten, wurden öffentliche Freudenfeste gefeiert. Der Kommandeur von Mafeking, Robert Baden-Powell, kam als Volksheld nach Hause und gründete die Pfadfinder. Der Oranje-Freistaat wurde am 28. Mai annektiert, Johannesburg am 30. Mai erobert, eine Woche danach Pretoria œ wieder einmal mit Churchill an der Spitze, der sechs Monate zuvor einige Wochen in Kriegsgefangenschaft gewesen, dann aber entkommen war. Die Annexion von Transvaal wurde am 25. Oktober verkündet. Die Briten dachten, der Krieg sei zu Ende. Die Buren dachten anders und kämpften bis zum 31. Mai 1902 weiter. Sie bildeten ‡Kommandos— und begannen einen wirksamen Guerillakrieg gegen die Besatzer. Die Kommandos stießen tief in die Kap-Provinz und nach Natal vor, und ihre Generäle œ Botha, Hertzog, Smuts und De Wet œ erwiesen sich als glänzende Soldaten. Die Briten versuchten ihrer Herr zu werden, indem sie die Bevölkerung der Siedlungen in Konzentrationslager zusammentrieb. Zwischen 18.000 und 28.000 burische Zivilisten starben in diesen Lagern an Seuchen, ehe geeignete Maßnahmen ergriffen wurden. Wahrscheinlich wären ohne das Wirken einer höchst bemerkenswerten Engländerin noch viel mehr umgekommen. Emily Hobhouse besuchte die Lager und schickte Beschreibungen ihrer Erlebnisse nach Hause. In einem Brief schrieb sie von ‡krasser männlicher Ignoranz, Stupidität, Hilflosigkeit— œ was einen Sturm der Entrüstung auslöste. In einer Unterhausdebatte beschuldigte der liberale Politiker Lloyd George die Regierung, Krieg gegen Frauen und Kinder zu führen und stellte fest: ‡Es wird nie vergessen werden, daß auf solche Weise die britische Herrschaft begann, und daß sie mit dieser Methode gefestigt wurde.— So ist es. Mehr als achtzig Jahre später wirft man den Briten noch immer die Erfindung der Konzentrationslager vor. -154-
Die Buren waren von den Briten zwar niedergeworfen worden, aber es war der verlustreichste Krieg für die Briten seit den Tagen Napoleons: 5.774 britische Soldaten waren gefallen, 16.168 starben an Verletzungen oder Krankheiten. In der Relation sind das die doppelten Verluste der Amerikaner in Vietnam. Ähnlich wie die Vietnamesen hatten die Buren weit höhere Verluste: ungefähr 7.000 im Kampf Gefallene, zwischen 18.000 und 28.000 tote Zivilisten, und ihre Farmen waren zerstört. Weiters starben rund 20.000 schwarze Afrikaner. 1910 wurde die Südafrikanische Union gegründet, eine Föderation der zwei Burenstaaten und der beiden britischen Territorien. Die Föderation wurde zum Zusammenschluß der vier Staaten erklärt und in London ratifiziert. Sie war ein selbstverwaltetes Dominion, wie Kanada und Australien, und noch Generationen später rühmten sich die Briten der Großzügigkeit, mit der sie die besiegten Feinde behandelt hatten. Churchill war damals Unterstaatssekretär für die Kolonien und spielte in dieser Angelegenheit eine große Rolle. Er brachte Edward VII. dazu, den Cullinan-Diamanten anzunehmen, der ihm von Botha, nun Ministerpräsident von Transvaal, als Symbol der Loyalität der neuen Kolonie überreicht wurde. In den letzten 20 Jahren hat man von dieser britischen Großzügigkeit weniger gehört. Die Union wurde zuerst von einer Koalition zwischen Briten und pro-britischen Buren regiert, von denen Botha und Smuts die prominentesten waren. Smuts wurde später Feldmarschall und spielte in beiden Weltkriegen eine bedeutende Rolle. 1948 gelang der ‡Nasionalen Party— (NP) der konservativen Buren, die sich niemals mit den Briten abgefunden hatten, ein überraschender Wahlsieg. Seither hat die NP die Macht nicht mehr abgegeben. DIE ANDEREN SÜDAFRIKANER In den frühen Jahren der holländischen Ansiedlung am Kap, als es wesentlich mehr weiße Männer als weiße Frauen gab, nahmen sich diese düsteren Calvinisten eingeborene Frauen als Geliebte. Ihre Kinder waren weder weiß noch schwarz, und ihre Abkömmlinge sind heute die rund 3 Millionen ‡Mischlinge— Südafrikas. Sie blieben in -155-
der Kap-Provinz und sprechen Afrikaans. Von Anfang an ließen sich die weißen Siedler in Südafrika auf Kosten der Schwarzen nieder. Zuerst die Hottentotten und dann die Bantu (ein Begriff, der die meisten schwarzen Stämme im südlichen Afrika umfaßt) œ sie wurden während der Expansion der Kolonie von Kapstadt aus dem Weg gedrängt. Die weißen Farmer nahmen Sklaven und später Farmarbeiter aus den Bantustämmen, die auf den weißen Farmen in ihren eigenen Kraals lebten, aber die große Mehrheit der schwarzen Bevölkerung blieb in den Heimländern der Stämme, die allmählich von den Weißen aufgesogen wurden. In der Mitte des 19. Jahrhunderts, in dem Glauben, daß die Afrikaner den regulären Arbeitsbedingungen auf den Farmen nicht gewachsen sein würden, brachten die Briten Inder zur Arbeit in Natal ins Land, und auch ihre 800.000 Abkömmlinge sind noch dort. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts kam ein indischer Rechtsanwalt, um für ihre Rechte einzutreten œ sein Name war Mohandras K. Gandhi. Die Entdeckung der Diamantminen und der Goldfelder veränderte alles. Sofort wurden Tausende Arbeiter gebraucht, für die Grabungen, um Häuser zu bauen, Straßen und Eisenbahnlinien zu errichten, und weiße Geschäftsleute entdeckten schnell, daß die Bantus genausogut mit harter Arbeit zurechtkamen wie sonst jemand. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurde in Südafrika ein Eisenbahnnetz errichtet, das sich im Norden bis Salisbury in SüdRhodesien und im Osten bis Lourengo Marques in PortugiesischOstafrika erstreckte. So war zur Zeit der Gründung der Union bereits die nötige Infrastruktur vorhanden, bezahlt mit Gold und errichtet mit Schwarzer Arbeit. Dieses Muster hat sich seither nicht verändert. Die Zufuhr billiger schwarzer Arbeitskraft war unerschöpflich, und damit haben die weißen Südafrikaner einen modernen Staat aufgebaut, den einzigen in Afrika. Bis zur Panik der achtziger Jahre genossen sie den höchsten Lebensstandard in der Welt (außer vielleicht dem in einigen Ölstaaten), erworben auf den Rücken schwarzer Afrikaner. Es war ein extremes Beispiel der westlichen Gesellschaftsordnung, das genau zur Marxschen Beschreibung der Arbeitsteilung paßte, allerdings mit -156-
einer Ausnahme: Die Klassenschranke war durch die Rasse definiert. Niemand konnte sie jemals überwinden. Amerikanische oder britische Arbeiter werden vielleicht von Kapitalisten ausgebeutet, aber zumindest theoretisch können sie ihren Verhältnissen entkommen. Ihre Stimmen können die Regierung verändern und gesetzliche und gesetzgeberische Erleichterungen wirtschaftlicher Unterdrückung herbeiführen. Schwarze Südafrikaner waren für immer jeder Hoffnung auf eine Veränderung ihrer persönlichen Situation beraubt. Sie waren Holzhauer und Wasserträger von der Wiege bis zum Grab œ und wenn sie sich je aufgelehnt und ihren weißen Herren den Gehorsam aufgekündigt hätten, wären sie durch die hungrigen Massen aus dem Norden ersetzt worden. Die Weißen stellen immer fest, daß der Lebensstandard der Schwarzen in Südafrika höher ist als sonstwo in Schwarzafrika, daß den schwarzen Südafrikanern ein besseres Bildungswesen offensteht als ihren Vettern im Norden und daß sie in einem weit besseren Gesundheitswesen leben. Das ist alles wahr œ aber schwarze Südafrikaner vergleichen ihre Situation nicht mit zurückgebliebenen und verarmten Völkern im fernen Norden, sondern mit den reichen und bequemen Siedlungen der Weißen in ihrem eigenen Land, Menschen, deren Komfort auf der Arbeit der Schwarzen beruht. Und auch in absoluten Zahlen sind die schwarzen Südafrikaner arm: eine Untersuchung der Carnegie Corporation fand 1984 heraus, daß ein Drittel aller Kinder der südafrikanischen Schwarzen infolge von Unterernährung im Wachstum zurückgeblieben ist, und in manchen Landdistrikten ist nahezu die Hälfte der Kinder an Tuberkulose erkrankt. Alles in allem gibt es in kaum einem Staat der Welt eine derart ungerechte Aufteilung des nationalen Wohlstandes wie in Südafrika. APARTHEID Das Wort wird im Englischen ‡aparthate" ausgesprochen, also ‡trennen und hassen—. Die Nationalpartei-Regierung, die 1948 an die Macht kam, begründete ein System der völligen Rassentrennung, unter der Herrschaft einer Reihe harter und fanatisch rassistischer -157-
Ministerpräsidenten. Englischstämmige Südafrikaner haben die Buren seither wegen dieser Trennungspolitik angegriffen, aber man muß feststellen, daß die Rassentrennung weit auf die kolonialen Anfänge Südafrikas zurückgeht. Und 30 Jahre lang nach dem Sieg der Nationalisten verliehen englischstämmige Südafrikaner ihrem Kummer über die Auswüchse der Apartheid immer wieder Ausdruck und versicherten ihren Freunden im Ausland, sie selbst seien keine Rassisten, das seien bloß die Buren œ aber sie unternahmen nichts dagegen. Sie akzeptierten die Apartheid und all die Vorteile für sie selbst ohne Protest und behandelten die Buren mit der üblichen Herablassung. Die Verfassungsurkunde der Südafrikanischen Union von 1909 war von einer britischen Regierung der Liberalen ratifiziert worden. Darin wurde das Stimmrecht der Mischlinge in der Kap-Provinz festgeschrieben. Sie hatten zwar das aktive, aber nicht das passive Wahlrecht ins Abgeordnetenhaus. Durch ein Wahlrecht, das an den Besitz gebunden ist, gelang es sogar einigen Schwarzen, das Stimmrecht zu bekommen. Aber die Urkunde war für das kommende rassistische Unrecht nur eine lächerliche Schranke, und die Briten unternahmen nichts weiter, um die Interessen der Millionen Menschen zu schützen, die sie der Herrschaft der Weißen auslieferten. 1931 verzichtete das Parlament in London im Westminster-Statut auf das Recht der Gesetzgebung für die weißen Dominien œ ein Recht, das für die älteren Dominien de facto bereits im 19. Jahrhundert aufgegeben worden war œ und schrieb auch ihre Selbständigkeit in der Wahrnehmung ihrer militärischen und außenpolitischen Interessen fest. Südafrika nützte die Gelegenheit, alle die Schwarzen, die das Stimmrecht erlangt hatten, wieder aus den Wählerlisten zu streichen. Zukünftig würden sie, bei getrennter Auszählung, weiße Abgeordnete wählen. 1951 entzog die Nationalisten-Regierung auch den Mischlingen das Stimmrecht und wies ihnen statt dessen vier weiße Repräsentanten zu, die auf einer eigenen Liste gewählt wurden. (Es war diese Verletzung der Verfassung von 1909, die die Gründung der Schwarze Schärpe-Bewegung provozierte œ Schwarz als Farbe der Trauer um die Verfassung. Mitglieder der Organisation unterstützen schwarze, ‡coloured— und asiatische Südafrikaner im Umgang mit den Apartheidsgesetzen.) Die Schwarzen in der Kap-Provinz, die schon -158-
das Recht gehabt hatten, drei weiße Abgeordnete zu wählen, verloren 1954 auch dieses Recht, und schließlich verloren 1969 auch die Mischlinge ihre letzten vier Repräsentanten im Parlament. Nach der Apartheidstheorie besteht Südafrika aus zehn getrennten schwarzen Nationen, einer weißen, einer indischen und einer der Mischlinge. Die zehn schwarzen und die eine weiße Nation haben jede ihr eigenes Land œ das weiße Südafrika umfaßte natürlich mehr als 80 Prozent des gesamten Staatsgebietes, einschließlich aller guten Anbaugebiete, der Bergwerke und der Städte. Denjenigen Schwarzen, die zufällig in weißen Gebieten lebten, wurde gestattet, weiter dort zu bleiben, aber sie waren nur geduldet, ohne Rechtsansprüche. In der Praxis waren sie eher Gastarbeiter, wie die Algerier in Frankreich oder die Türken in der Bundesrepublik. Aufgrund der Paßgesetze mußten sie Pässe tragen, um die weißen Gebiete zur Arbeit betreten zu dürfen, und solange sie dort waren, wurden sie streng von den Weißen abgegrenzt. 1953 wurde schließlich der ‡Reservation of Separate Amenities Act— erlassen, und durch diese Rassentrennungsgesetze mußten die Schwarzen in getrennten Läden einkaufen, an getrennten Stranden baden, in getrennte Kinos gehen, sogar in Autokinos wurden sie separiert. Weiße Taxilenker nahmen keine schwarzen Passagiere auf und umgekehrt. Die Parkbänke waren getrennt, und in Amtsgebäuden gab es getrennte Lifte für Weiße und Schwarze. Auch der öffentliche Verkehr wurde getrennt. In einem Extremfall ging das sogar so weit, daß in Johannesburg eine komplette U-Bahn-Linie errichtet wurde, um die Schwarzen zu ihren Arbeitsplätzen und wieder zurück zu ihren Behausungen in Townships zu bringen. Eine riesige Bürokratie wurde errichtet, um das System aufrechtzuerhalten, und eine der wesentlichsten Sorgen war, festzulegen, wer ist weiß und wer nicht. Der ‡Population Registration Act— von 1950 legte fest: ‡Ein Weißer ist ein Mensch, der in seinem Erscheinungsbild eindeutig ein Weißer ist oder als solcher anerkannt wird, das schließt nicht alle jene ein, die in ihrem Erscheinungsbild eindeutig weiß sind, aber als Mischlinge anerkannt sind.— Die Einhaltung dieses Gesetzes wurde zum Ursprung unendlich vieler Leiden. Die Menschen wurden verpflichtet, ihre rassische Herkunft zu beweisen, und manchmal wurden Mitglieder derselben Familie als Angehörige verschiedener Rassen eingestuft. Mischehen wurden 1949 -159-
für illegal erklärt, und sexuelle Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen ab 1950 als Verbrechen bestraft. Der Staat brauchte nicht noch mehr Mischlinge. Schwarze, Inder und Mischlinge durften im weißen Südafrika weder Land besitzen noch pachten, nach den Bestimmungen des ‡Group Areas Act— von 1950 und des ‡Resettlement of Natives Act— von 1954. Die Kapmischlinge, die seit 300 Jahren rund um Kapstadt gelebt hatten, wurden aus den weißen Nachbarschaften abgesiedelt: 70.000 von ihnen wurden aus dem Distrikt 6, wo sie seit Generationen gelebt hatten, hinausgeworfen. Der Distrikt blieb vierzig Jahre lang leer. Aus Angst vor späterer Rache mochte sich dort niemand niederlassen, bis de Klerk das Gebiet 1989 zur freien Zone erklärte. Für die Behandlung der Schwarzen entwickelten die Bergwerke das ‡ideale— System. Junge Männer aus den Homelands (siehe dort) oder aus schwarzafrikanischen Staaten des Nordens wurden in Schlafsiedlungen für ein oder zwei Jahre untergebracht, und dann wurden sie nach Hause geschickt. Sie waren quasi Durchreisende, und natürlich kümmerten sich weder die Bergwerksunternehmen noch der Staat um Pensionen oder Unterstützungen für ihre Familien. Die Löhne der schwarzen Arbeiter blieben Jahrzehnte gleich. Der Führer des liberalen Südafrika, Harry Oppenheimer, Vorsitzender der AngloAmerican Corporation, wachte über dieses System skrupelloser Ausbeutung, das in den zivilisierten Staaten der Welt ohne Parallele ist. Obwohl die Regierung ihr Bestes tat, konnte ein solches System in den Städten nie eingeführt werden. Der Bedarf an Arbeitskräften war einfach zu groß. Johannesburg könnte ohne Hunderttausende schwarze Arbeiter nicht funktionieren œ nicht so sehr die Hausangestellten, obwohl das ein riesiges Gewerbe ist, sondern vielmehr die Heerscharen unausgebildeter und angelernter Arbeiter, die eine moderne Gesellschaft braucht. Die Regierung mußte ihnen das Bleiben gestatten und ihre Townships anerkennen, ungeachtet der Tatsache, daß sie theoretisch zeitlich begrenzt sind und ihre Einwohner Bürger der Homelands waren. Die größte Township im Südwesten von Johannesburg bekam den afrikanisch klingenden Namen Soweto. Soweto hat jetzt über 1 Million Einwohner, vielleicht schon 2 Millionen. Niemand weiß -160-
Genaueres, da viele der Einwohner dort illegal leben. Soweto ist möglicherweise größer als Johannesburg, vielleicht also die größte Stadt Südafrikas. Die Schwarzen, die in Johannesburg selbst lebten, wurden systematisch hinausgedrängt. Aus Sophiatown wurden 60.000 vertrieben und in Townships gesteckt. Auf dem Gebiet wurde eine neue weiße Siedlung errichtet und einfühlsamerweise ‡Triumph— genannt. Die Schätzungen, wieviele Menschen zwischen 1960 und 1970 umgesiedelt wurden, schwanken zwischen 600.000 und 3,5 Millionen. Die Diskrepanz rührt daher, daß die meisten Schwarzen und Mischlinge, die aus ‡weißen— Gebieten abgesiedelt wurden, vorher ‡illegal— waren und daher offiziell nicht existierten. Die Regierung errichtete seit 1963 zehn den Stämmen zugeordnete Homelands, einfach ‡Bantustans— genannt. Sie umfassen 13,7 Prozent der Landesfläche. Vier von ihnen bestehen aus einem in sich geschlossenen Gebiet, die anderen sind zersplittert. So besteht beispielsweise Kwa-Zulu aus acht nicht zusammenhängenden Teilen. Vier der zehn Homelands wurden für unabhängig erklärt (allerdings ist kein einziges von irgendeinem anderen Staat der Welt anerkannt als Südafrika und den anderen drei Homelands). Transkei wurde 1976 gegründet, Bophuthatswana 1977, Venda 1979, Ciskei 1981. Die anderen sechs genießen innere Autonomie, haben aber die ‡Ehre— der Unabhängigkeit abgelehnt. Drei unabhängige Staaten im südlichen Afrika haben starke Merkmale von Homelands. Sie waren früher britische Protektoratsgebiete, die niemals an Südafrika abgetreten wurden. Lesotho (früher Basutoland) ist völlig von südafrikanischem Territorium umgeben; das Königreich Swasiland liegt zwischen Südafrika und Mosambik; und schließlich Botswana (früher Betschuanaland) im Nordwesten. Botswana ist die einzige Demokratie in Afrika und das eigenständigste der drei ehemaligen Protektorate. Das Land hat beachtliche Bodenschätze und ist ökonomisch nicht völlig abhängig von Südafrika œ im Gegensatz zu den beiden anderen Staaten und allen zehn Homelands. Südafrika hätte Namibia gern zu einem weiteren Bantustan gemacht. Die vier ‡unabhängigen— Bantustans sind Parodien wirklicher Staaten. Die Transkei, ein Xhosa-Land, ist so korrupt und tyrannisch wie irgendeine andere afrikanische Diktatur. 1987 gab es dort zwei -161-
Armeeputsche. Transkei hat bereits einmal einen richtigen Krieg gegen ein anderes Bantustan geführt, gegen die Ciskei. Eine Gruppe weißer Söldner von der Transkei wurde nach Ciskei geschickt, um in ein Gefängnis einzudringen und den Bruder des Präsidenten der Ciskei herauszuholen. Im Februar 1988 griff die südafrikanische Armee in Bophuthatswana ein und verhinderte einen Militärputsch. Im März 1990 kam es in der Ciskei zu einem Militärputsch, in Bophuthatswana zu blutigen Massenprotesten, und auch in Venda war die Lage angespannt. Vieles deutet daraufhin, daß die Bewohner der Homelands die völlige Integration in ein einheitliches Südafrika fordern. Eine der Exklaven von Bophuthatswana, rund 100 Kilometer nördlich von Johannesburg, ist zu großem Wohlstand gelangt. Dort wurde Sun City errichtet, eine Art südafrikanisches Las Vegas in bequemer Reichweite der weißen Großstadt, frei von allen calvinistischen Beschränkungen, die in Südafrika gelten. DIE AFRIKAANER Das übliche Bild der Afrikaaner in der Welt wird beherrscht von den lautstarken Nazi-Gruppierungen, deren Milizen braune Hemden tragen und schwarzrote Flaggen schwenken, deren Emblem dem Hakenkreuz sehr ähnlich sieht. Aber die Wahrheit ist viel komplizierter. Die Mehrheit der Afrikaaner mag nach liberalem amerikanischem und europäischem Verständnis tatsächlich Rassisten sein, aber es gibt nicht mehr einen soliden, burischen Monolith. Präsident Pieter W. Botha hat den Rückzug von den meisten Prinzipien der Apartheid eingeleitet œ dafür wurde er auch von den Extremisten in seiner eigenen Partei scharf angegriffen œ, und viele der Reformer Südafrikas sind Afrikaaner. Sie haben früher einmal die Bezeichnung Buren angenommen, weil sie genau das waren œ Bauern. Sie waren calvinistische Bauern der reaktionärsten Art: Paul Kruger, ihr so wichtiger Führer im 19. Jahrhundert, behauptete, davon überzeugt zu sein, daß die Erde eine Scheibe sei. Vielleicht war dies aber auch nur ein Scherz, um die Briten zu ärgern. Heute sind die Buren genauso gut ausgebildet und weltoffen wie die englischsprachigen Südafrikaner und in -162-
Managementetagen und Universitäten genauso vertreten. Es gibt eine lebendige Afrikaaner-Literatur, und die Regierung kann nicht mehr länger der uneingeschränkten Unterstützung der Buren-Zeitungen sicher sein. Das ist eine bemerkenswerte Entwicklung. Ein halbes Jahrhundert nach dem Burenkrieg tobte zwischen den Afrikaanern eine erbitterte Auseinandersetzung, zwischen denjenigen, die mit den Briten zusammenarbeiten wollten und Krone und Commonwealth akzeptierten, und denen, die die burische Unabhängigkeit forderten. In beiden Weltkriegen traten extremistische Buren auf die Seite der Deutschen, allerdings nicht wegen des Rassismus, sondern nach dem Grundsatz ‡der Feind meiner Feinde ist mein Freund—. Der spätere Ministerpräsident John Vorster war während des Zweiten Weltkriegs wegen seiner Pro-Nazi-Aktivitäten interniert. Die ‡liberalen— Afrikaaner, angeführt von Botha und Smuts, die das Land von 1910 bis 1948 lenkten (unter Einschluß der ‡nationalistischen— Oppositionspartei unter J. B. M. Hertzog), stimmten in einem Punkt immer mit den Extremisten überein: Südafrika war ein Land des weißen Mannes. In ihren Auseinandersetzungen ging es um die Frage der Beziehungen zu den Briten und darum, wie weit die Schwarzen an der Wirtschaft teilhaben dürften. Als die neue Nationale Partei unter D. F. Malan die Wahlen von 1948 gewann, zeigte sie sich auch bald nachgiebig im Umgang mit den Briten. Die englischsprachigen Südafrikaner waren ein wesentlicher Anteil des weißen Südafrika, und englischsprachige Großstädte beherrschten das Land. Darüber hinaus hätte eine ausgesprochen Britenfeindliche Politik, auch wenn sie von den Überlebenden der Burenkriege und ihren Nachfahren gerne gesehen worden wäre, amerikanische und britische Investoren abgeschreckt, deren freundliche Haltung für das Land lebenswichtig war. Das Problem löste sich von selbst. Die englischsprachigen Südafrikaner akzeptierten die neuen Bestimmungen ohne weiteres, aber der Commonwealth machte bald klar, daß er Südafrika nicht länger tolerieren konnte. Das Jahr dieser Krise war 1960, das Jahr der Unabhängigkeit des Kongo und seiner Katastrophen. Am 2. Februar beschloß der britische Premierminister Harold -163-
Macmillan eine Reise durch Afrika mit einem Besuch in Pretoria, wo er eine bemerkenswerte Rede vor dem Parlament hielt. Er stellte fest, daß ein ‡Wind der Veränderung— über den Kontinent brause; alle Kolonien nördlich von Südafrika würden bald unabhängige Staaten werden, und auch auf dieses Land kämen schwere Zeiten zu. Die Ansprache wurde übel aufgenommen. Die Südafrikaner lieben keine Belehrungen von Ausländern, und schon gar nicht, wenn die Ausländer ihnen unbequeme Wahrheiten sagen. Schließlich wurden am 20. März 1960 69 Schwarze beim Massaker von Sharpeville getötet (siehe dort). Die Wirtschaft brach kurzfristig zusammen, und zum ersten Mal erlebte Südafrika die ernsten Konsequenzen ausländischer Beurteilung: Es fühlte sich belagert. Im Oktober nützte die Regierung von Hendrik Verwoerd die Gelegenheit zu einem Referendum über die zukünftige Staatsform. Diejenigen, die eine Fortführung der Monarchie unter Elizabeth II. wünschten, verloren um rund 70.000 Stimmen gegenüber den Befürwortern einer Republik œ das bei einer Gesamtstimmenzahl von 1,63 Millionen. Im März 1961 besuchte Verwoerd seine letzte CommonwealthPremierministerkonferenz in London. Der Commonwealth war nicht mehr länger ein Club des weißen Mannes, und Verwoerd wünschte für Südafrika lieber den Austritt als den Hinauswurf. Nach Maian (1948-1954) und J. C. Strijom (1954-1958) war Verwoerd der dritte Premierminister der Nationalpartei. Er war der extremste Rassist unter ihnen. Während des 2. Weltkriegs war er ein glühender Unterstützer der Nazis gewesen, und danach hatte er sich heftig gegen die jüdische Einwanderung in Südafrika gewehrt (derzeit leben in Südafrika etwa 120.000 Juden, obwohl etliche bereits Zuflucht in London, Israel und New York gesucht haben). Er war Minister für Eingeborenenfragen zu der Zeit, da verschiedene Apartheidsgesetze verabschiedet wurden. Als er nach dem Austritt aus dem Commonwealth aus London zurückkam, wurde er von den Afrikaanern wie ein Volksheld empfangen. Die Niederlage der Buren von 1902 war damit gerächt. Es ist allerdings erstaunlich, daß er auch unter den englischsprachigen Südafrikanern breite Unterstützung fand. Bei den Parlamentswahlen von 1966 gewann seine Partei 126 von 166 Sitzen. Kurz danach wurde er von einem geistesgestörten Parlamentsboten auf den Stufen der Volksvertretung ermordet. -164-
Ihm folgte Balthazar Johannes (John) Vorster, der die Politik der Aussöhnung mit den Briten fortsetzte. Das führte zur ersten Spaltung der Partei. Die beiden Fraktionen wurden bekannt als die ‡verligtes— (Vernünftigen) und die ‡verkramptes— (Engstirnigen). Der Postminister Albert Hertzog, Sohn des Burengenerales, der bis 1976 die Einführung des Fernsehens in Südafrika verhinderte, das er für dekadent und subversiv hielt, warf nun dem englischsprachigen Teil der Bevölkerung zu großen Liberalismus vor. Er gründete die ‡Hertsigte Nasional Party— (Wiederbegründete Nationalpartei, HNP), die aber keinen Wahlerfolg schaffte. Bei den Wahlen von 1977 errang Vorster 134 Mandate. 1976, zur Zeit der Aufstände in Soweto, war Vorster Ministerpräsident, und er machte die ersten zaghaften Schritte weg von der Apartheid. Er drängte auch Ian Smith von Rhodesien zu einer Lösung, da er der festen Ansicht war, daß die weißen Rhodesier am Schluß unterliegen müßten, und eröffnete den Dialog mit verschiedenen schwarzen Staaten, vor allem Malawi und Zaire. Vorsters Karriere nahm 1978 ein abruptes Ende: Es kam zu einem Skandal, in dem es unter anderem um Geheimdienstmittel ging, und Vorster folgte Pieter Willem Botha. DER WIND DER VERÄNDERUNG Bis tief in die fünfziger Jahre konnten die weißen Südafrikaner ihre inneren Angelegenheiten ohne große Kritik und Einmischung von außen und ohne nennenswerte und durchsetzungsfähige schwarze Opposition behandeln. Während der Friedensverhandlungen in Paris 1919 verabsäumte Smuts, Wilson und Lloyd George zu drängen, ihm die Annexion von Deutsch-Südwestafrika zu gestatten (siehe NAMIBIA) und mußte sich mit einem Treuhandmandat des Völkerbunds begnügen. Er versäumte auch, von Großbritannien die Abtretung der drei Hochkommissariatsgebiete Basutoland, Betschuanaland und Swasiland an Südafrika zu fordern und die weißen Siedler in Süd-Rhodesien zum Eintritt in die Südafrikanische Union zu drängen, aber sonst war Südafrikas Diplomatie immer erfolgreich. Es war eines der sieben Länder, die Deutschland 1939 den Krieg erklärten, ohne angegriffen zu sein, und war Gründungsmitglied -165-
der Vereinten Nationen. Ab 1960 fegte der Wind der Veränderung über Afrika. BritischWestafrika œ einschließlich Nigeria œ wurde von den Briten seit den fünfziger Jahren auf die Unabhängigkeit vorbereitet. Nach der Machtübernahme de Gaulles in Frankreich 1958 wurde allen französischen Besitzungen in Afrika œ außer Algerien und Dschibuti œ eine Regierung und bald darauf die volle Unabhängigkeit gegeben. 1960, während Nigeria unabhängig wurde, brachten die Aufstände in Belgisch-Kongo die Belgier zum abrupten Rückzug aus den Kolonien Kongo und Rwanda-Urundi (siehe BURUNDI und RWANDA). Die Briten erkannten, daß ihre Kolonien in Ost- und Zentralafrika unvermeidlich weit schneller diesen Bewegungen folgen würden als ursprünglich angenommen. Dieser rasche Rückzug der europäischen Mächte hatte zwei Gründe: Einerseits drängten die Afrikaner darauf, anderseits hatten die Europäer sich vom imperialistischen Denken gelöst. Die große Mehrheit der britischen und französischen Bevölkerung wollte kein Imperium mehr. Es gab natürlich wie immer einige hartnäckige Verfechter, aber die grundsätzlichen Entscheidungen zum Rückzug aus Afrika wurden von den konservativen Regierungen in Großbritannien und von General de Gaulle in Frankreich getroffen. Auch in Europa wehte der Wind der Veränderung. Die Portugiesen widerstanden bis 1975. und die 220.000 weißen Siedler in Süd-Rhodesien überraschten die Welt 1965, indem sie ihre Unabhängigkeit ausriefen und sich zu ihrem unbeugsamen Glauben an die weiße Vorherrschaft bekannten, Ian Smith wählte den Waffenstillstandstag, den 11. November, für seine einseitige Erklärung der Unabhängigkeit. Dadurch wollte er die Welt daran erinnern, daß Rhodesier in beiden Weltkriegen für die Sache der Freiheit gefochten hatten (Smith selber war als Jagdflieger der britischen Luftwaffe schwer verwundet worden). Er zitierte auch ausgiebig aus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, ließ allerdings sorgfältig den Absatz aus, in dem dort die Gleichheit aller Menschen verkündet wird. Großbritannien organisierte eine Blockade Rhodesiens, verhängte Sanktionen und schickte sogar die Kriegsmarine los, um den -166-
Indischen Ozean zu patrouillieren und dafür zu sorgen, daß kein Öl für Rhodesien in die Hafenstadt Beira in Mosambik gelangte. Die Rhodesier, unterstützt von Südafrika, widersetzten sich all diesen Maßnahmen erfolgreich. So lange Pretoria die Lieferung von Erdöl und anderen Versorgungsgütern zuließ, konnte Rhodesien Sanktionen überstehen. Es gab in Rhodesien zwei Guerillabewegungen: die ‡Zimbabwe African National Union— (ZANU), getragen vom Shona-Stamm im Norden und Osten des Landes, geführt von Robert Mugabe; und die ‡Zimbabwe African People‘s Union— (ZAPU), angeführt von Joshua Nkomo, die sich hauptsächlich aus den Matabele im Südwesten des Landes rekrutierte. Sie bauten unbeirrbar ihre Streitkräfte auf, ausgerüstet und unterstützt von Tansania und Sambia, die wiederum von der Sowjetunion und China Hilfe erhielten. Die Rhodesier setzten sich zur Wehr, aber nach Mosambiks Unabhängigkeit, die den Guerillas den Kampf im Osten Rhodesiens ermöglichte, wurde es offensichtlich, daß sie auf verlorenem Posten standen. Südafrika befürwortete eine Einigung, die 1980 in London erzielt wurde, und aus Rhodesien wurde Simbabwe. Seither haben schwarze Afrikaner prophezeit und weiße Südafrikaner gefürchtet, daß die Geschichte des Falles von Rhodesien sich als das Vorbild für Südafrika herausstellen würde. DER ‡AFRICAN NATIONAL CONGRESS— Alle diese Ereignisse in der Außenwelt fanden in Südafrika ernsthaften Widerhall, aber die wahre Herausforderung der weißen Vorherrschaft kam aus dem Land selbst. Es war dasselbe Phänomen wie überall in Afrika: Die Afrikaner hatten den Kolonialismus niemals gerne akzeptiert, und sobald sie erkannten, daß er nicht die naturgegebene Ordnung der Dinge war œ oder nicht mehr länger œ forderten sie sein Ende. Da war Südafrika bereits zu einer wichtigen Industriemacht geworden, der wirtschaftliche Motor für alle Staaten des südlichen Afrika. Während des Zweiten Weltkrieges zogen Hunderttausende Afrikaner in die Städte, wo sie in der riesigen Kriegsindustrie Arbeit fanden, und noch mehr strömten während der folgenden Jahre der -167-
Prosperität dorthin. Südafrika war eines der wenigen glücklichen Länder, die nicht nur als Sieger, sondern auch als Gewinner aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgingen, wie die USA und Kanada. Sein Wohlstand beruhte auf der Arbeit schwarzer ungelernter und wenig ausgebildeter Arbeitskräfte, aber als moderne Industrienation brauchte das Und qualifizierte Arbeiter. Nun erntete es die Früchte der seit vielen Jahren für die Schwarzen gegründeten Schulen und Colleges. Im Vergleich mit den Schulen für die Weißen waren sie immer noch armselig und rückständig und unzureichend für die Herausforderungen der Zeit, aber im Vergleich zu dem Bildungssystem der Staaten nördlich Südafrikas waren sie weit überlegen. Südafrika war für intelligente und ehrgeizige Studenten aus anderen afrikanischen Ländern das wahre Mekka. So war 1920 ein ehrgeiziger Junge aus Nyasaland, Hastings Banda, nach Südafrika gegangen, um sich eine Ausbildung zu verschaffen. Später wurde er Präsident von Malawi. Die selben Schulen brachten die zukünftigen Führer des schwarzen Südafrika hervor. Von Anfang an waren dort jene, die sich gegen die weiße Vorherrschaft aufgelehnt und ihre Rechte gefordert hatten, und als in den fünfziger Jahren Verwoerd die Apartheid zu einem ausgeklügelten System der Unterdrückung ausbaute, bildete sich unter den Schwarzen die erste ernstzunehmende Oppositionsbewegung. Der ‡African National Congress— (ANC) war 1912 gegründet worden und fünfzig Jahre der führende Vertreter des schwarzen Fortschritts. In den fünfziger Jahren war sein Vorsitzender Häuptling Albert Luthuli, der die afrikanische Forderung nach friedlichem Wechsel auf christlicher Grundlage verkörperte. In seiner Autobiographie schrieb er: ‡Gottes Wille, heilig und unfehlbar, geschehe in Südafrika, dem geliebten Land, dessen Kinder wir alle sind.— Luthuli erhielt 1960 den Friedensnobelpreis, eine Auszeichnung, die genau zu jenem Zeitpunkt die Aufmerksamkeit der Weit auf Südafrika lenkte, als die Katastrophe im Kongo die Gefahren der Situation aufzeigte. Luthuli wurde von der Regierung ‡gebannt—, das bedeutete, daß er vom politischen Leben ausgeschlossen war und in einem abgelegenen Teil des Landes leben mußte, wo er auch starb. Da ging der ANC -168-
bereits den Weg der Militarisierung. 1955 hatte Luthuli einem Treffen präsidiert, das die FreiheitsCharta erlassen hatte. Ein anderer ANC-Führer, der daran wesentlich beteiligt war, war Nelson Mandela (geboren 1918), ein Angehöriger der Xhosa, der sich zusammen mit Oliver Tambo, dem langjährigen Vorsitzende des ANC im Exil, als Rechtsanwalt niedergelassen hatte. Mandela war dem ANC 1944 beigetreten. Er gründete seine Jugendbewegung und organisierte die ersten großen Demonstrationen 1952, was ihm drei Jahre ‡Bannung" einbrachte. Die Präambel der Freiheits-Charta hielt fest: - Wir, das Volk von Südafrika, verkünden unserem Land und der Welt: - daß Südafrika allen Menschen gehört, die darin leben, Schwarzen und Weißen, und keine Regierung kann die Herrschaft für sich beanspruchen, wenn sie nicht auf dem Willen des Volkes beruht; - daß unser Volk seiner Geburtsrechte beraubt ist, auf Land, Freiheit und Friede, durch eine Regierungsform, die auf Ungerechtigkeit und Ungleichheit beruht; - daß unser Land niemals frei und wohlhabend sein wird, bis alle unsere Völker in Brüderlichkeit leben und sich gleicher Rechte und Möglichkeiten erfreuen; - daß nur ein demokratischer Staat, begründet auf dem Willen des Volkes, allen Menschen ihr Geburtsrecht zusichern kann, ohne Unterscheidung von Hautfarbe, Rasse, Geschlecht oder Religion. 1956 wurden Mandela und 155 andere ANC-Mitglieder des Landesverrats angeklagt. Sie wurden freigesprochen; Mandela ging mit anderen in den Untergrund und gründete den militärischen Flügel des ANC, ‡Umkonto we Sizwe—, ‡Speer der Nation—. Sein Ziel war die Sabotage von Regierungseinrichtungen œ Mandela lehnte alle Angriffe auf Zivilisten ab. 1957 wurde er verhaftet und wegen Aufrufes zum Streik zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Am 8. April 1960 wurden der ANC und der Pan-African Congress als Folge des Sharpeville-Massakers und der anschließenden Unruhen verboten. Bis Februar 1990 blieb er eine illegale Organisation. Im Juni 1963 stürmte die Polizei ein geheimes ANC-Hauptquartier in Rivona, -169-
einer Vorstadt von Johannesburg, wo sie Beweismaterial fand, daß der ‡Speer der Nation— eine Welle von Sabotageakten plante. Mandela wurde abermals angeklagt, zusammen mit acht anderen œ fünf Schwarzen, zwei Weißen und einem Inder. Bis auf einen wurden alle schuldig gesprochen und zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Mandela war bis 1982 auf der Robbeninsel vor Kapstadt interniert, dann wurde er ins Pollsmoor-Gefängnis auf dem Festland überstellt. Im August 1988 verlegte man ihn nach einer schweren Tuberkuloseerkrankung in ein Spital in einem Vorort von Kapstadt, bis er im Februar 1990 freigelassen wurde. Luthuli und Mandela forderten unermüdlich die Zusammenarbeit von Schwarz und Weiß. In der Politik der Schwarzen gab es aber auch eine andere Richtung: 1959 spalteten sich radikale Mitglieder vom ANC ab und gründeten den ‡Pan African Congress— (PAC). Der PAC mißtraute allen Weißen und dachte, daß der Befreiungskampf ein ‡afrikanischer— Kampf sein müßte. Der PAC geriet später unter den Einfluß von Stephen Bikos ‡Black Consciousness—-Bewegung (‡Schwarzes Bewußtsein—), die stark von den Black Panthers in den USA geprägt war. Biko gelang es, die schwarzen Intellektuellen anzusprechen œ Lehrer, Journalisten, Publizisten œ, aber er konnte nie den ANC als den gewählten Repräsentanten der schwarzen Völker ersetzen. Biko starb 1977 in Polizeigefangenschaft. SHARPEVILLE UND DANACH Das Massaker von Sharpeville, bei dem 69 Schwarze von Sicherheitskräften erschossen wurden, ereignete sich am 21. März 1960. Es hatte eine Reihe von schwarzen Demonstrationen gegen die Paßgesetze gegeben. Eine große Menschenmenge (organisiert vom PAC) versammelte sich vor einer Polizei Station in Sharpeville, einer Township außerhalb von Vereeniging, rund 65 Kilometer südlich von Johannesburg. Im Inneren des Gebäudes waren etwa 150 Polizeibeamte. Die Demonstranten verhöhnten sie, warfen Steine und gerieten außer Kontrolle der Führung. Einer der Polizisten fiel in Panik und eröffnete das Feuer. Andere folgten seinem Beispiel. Es war kein kaltblütig geplantes Massaker, aber in der öffentlichen Meinung der Welt wie auch in Südafrika machte das kaum einen -170-
Unterschied. Es wurde als eine Kriegserklärung betrachtet. Die Panik, die unter den Weißen Südafrikas ausbrach, bedrohte die Wirtschaft ernsthaft. Die Immobilienpreise fielen; viele Menschen wanderten aus; es gab eine Massenflucht des Kapitals aus dem Land, die nur durch rigorose staatliche Devisenkontrollen gestoppt werden konnte. Der Wind der Veränderung war zu einem Hurrikan geworden. Aber allmählich beruhigte sich die Situation, und Südafrika trat in eine Periode des Wirtschaftswachstums, seine städtische ‡Erste-WeltWirtschaft— wuchs um 6 Prozent Pro Jahr. Die weiße Einwanderung nahm zu, in den siebziger Jahren weiter verstärkt durch Rhodesier, die zuerst dem Krieg und danach der schwarzen Regierung in Simbabwe entflohen. Aus diesen Spätankömmlingen rekrutieren sich heute die schärfsten Rassisten. Südafrikas ‡Dritter-Welt-Wirtschaft—, im Gegensatz dazu schwarz und ländlich, ging es bei weitem nicht so gut, aber der Gegensatz wurde durch die generelle Prosperität verschleiert. Das beruhte vor allem auf der nicht nachlassenden Nachfrage nach südafrikanischen Bodenschätzen. Als Präsident Nixon 1971 für die USA œ und damit auch für den Rest der Weit œ den Goldstandard abschaffte, schoß der Goldpreis von 35 $ pro Unze, einem Preis, der seit 1933 unverändert geblieben war, auf einen von der Inflation abhängigen Preis von 400 bis 800 Dollar pro Unze. Südafrika war der führende Goldproduzent und machte sogar noch mehr Gewinn als die Ölstaaten, da der Wert seines Hauptexportartikels um das fünfzehnbis zwanzigfache stieg. Seine Ökonomie wuchs schneller als die irgendeines anderen Staates der Welt œ außer Japan. Das Wirtschaftswachstum war für Südafrika allerdings ein zweischneidiges Schwert. Der Boom erzeugte eine nicht mehr endende Nachfrage nach Arbeitskräften, und die Schwarzen strömten in die Townships. Verwoerds Regierung unternahm ernsthafte Anstrengungen, sie fernzuhalten, aber jedesmal wenn eine Wellblechsiedlung bei Kapstadt niedergewalzt wurde, schoß einige Kilometer weiter die nächste aus dem Boden, und wenn die Behörden ihre Aufmerksamkeit dieser neuen Siedlung zuwandten, kehrten die Schwarzen in die erste zurück. Die schwarze Bevölkerung wuchs rasch an, jedes Jahr kamen Hunderttausende neue junge Arbeitsuchende ins Land. Die schwarze -171-
Bevölkerung Südafrikas (einschließlich Mischlinge und Asiaten) betrug 1952 7,5 Millionen, 1972 bereits 15 Millionen, und seit damals hat sie sich ungefähr verdoppelt. Soweto, ursprünglich für 50.000 Menschen angelegt, hatte bald zehnmal so viel Einwohner. Es ist jetzt so groß wie Johannesburg, wenn nicht größer, und andere schwarze Townships wachsen schnell. Das ganze System der Apartheid wurde von den realen Zahlen und von den Bedürfnissen der Industrie überrollt. Nur in den Goldminen blieben die alten Regeln in Kraft, da die Masse der Arbeiter aus dem Ausland kam und nach dem Ablauf ihrer Ein- oder Zweijahresverträge problemlos nach Hause geschickt werden konnte. Ais die Portugiesen 1975 und 1976 ihre afrikanischen Kolonien aufgaben, geriet Südafrika unter wachsenden Druck. Im angolanischen Bürgerkrieg erlitt Südafrika eine demütigende Niederlage, und es mußte sich mit dem Gedanken an den Fall Rhodesiens anfreunden. Und dann kamen die Aufstände in Soweto. SOWETO Vorster, von allen Seiten belagert, versuchte die Schwarzen zu besänftigen, indem er einen der radikalsten ‡verkrampte—-Führer, Andries Treurnicht, zum Minister für Bantu-Angelegenheiten ernannte (das Ressort wurde später umbenannt in ‡Zusammenarbeit und Entwicklung—), und er betraute ihn mit dem BantuBildungswesen. Zwei Jahre zuvor war ein Gesetz erlassen worden, daß in schwarzen Grundschulen Naturwissenschaften und praktische Gegenstände in englischer Sprache und Mathematik und sozialkundliche Fächer in Afrikaans unterrichtet werden sollten. Dieses Gesetz war höchst unpopulär: Die Schwarzen betrachteten Afrikaans als die Sprache der Unterdrückung, und außerdem gab es nicht genügend Lehrer, die in dieser Sprache unterrichten konnten. Treurnicht bestand auf der Einhaltung der Bestimmungen, ungeachtet zahlreicher Warnungen von verschiedenen Seiten, auch seiner eigenen Beamten. Seine Antwort auf die Verweigerung des Unterrichts in Afrikaans war, daß die schwarzen Kinder in die Homelands ausgewiesen werden konnten. Nachdem die Weißen für die Erziehung der Schwarzen bezahlten, sei es ihr Recht, über die Lehrinhalte und -172-
die Unterrichtssprache zu entscheiden. Es gab in vielen Schulen Protestversammlungen, und am 16. Juni 1976 kam es zu einer großen Demonstration schwarzer Schulkinder in Soweto. Die Demonstranten waren aggressiv und bewarfen Polizeibeamte mit Steinen. Am Vormittag standen 5.000 bis 6.000 Demonstranten 48 Polizisten gegenüber œ davon 40 Schwarze. Der kommandierende Polizeioberst befahl den Demonstranten auseinanderzugehen solche Menschenansammlungen waren gesetzwidrig. Die Menge antwortete mit Steinwürfen. Die Polizisten wurden eingekreist und schwebten sicherlich in Gefahr. Es kam zu einer Schießerei, zwei Schüler wurden getötet und 11 verwundet. Daraufhin brach in ganz Soweto der Aufruhr los. Am 16. Juni starben in Soweto 15 Menschen, weitere 247 zwischen dem darauffolgenden Tag und Ende Februar 1978, bis sich die Unruhen endlich legten. Es gab Aufstände in ganz Südafrika, außer in Durban, wo die Zulus Ruhe bewahrten. Insgesamt starben 495 Schwarze, 75 Mischlinge, 5 Weiße und ein Inder. Zwei Jahre später wurde Vorster als Premierminister von P. W. Botha abgelöst, der den vorsichtigen Reformprozeß fortsetzte. DIE REFORM Es gibt eine Menge weißer Südafrikaner, die Botha gerne des Landesverrats anklagen würden. Treurnicht fiel 1982 von der Nationalpartei ab und gründete die Konservative Partei, jetzt die größte Oppositionspartei in der Gesetzgebenden Versammlung. Eine noch extremere Partei, die ‡Afrikaner Weerstandsbeweging—, angeführt von Eugene Terre‘ Blanche, ist eine eindeutige Nazi-Partei. Ihre Anhänger sind erst eine kleine Minderheit unter den Buren, aber sie haben möglicherweise mehr Sympathisanten als die Meinungsumfragen ausweisen. Die Unruhen, die 1985 begannen, hatten den üblichen Effekt, einige Leute in den Extremismus zu treiben, während andere œ einschließlich der Regierung œ der Meinung sind, daß die Aufstände die Notwendigkeit der Reformen bewiesen. Bothas Reformen kamen 1987 zu einem Stillstand, nachdem die Auseinandersetzungen zeitweilig unterdrückt wurden, aber die Diskussion ging weiter. -173-
Der Qualm brennender Gebäude, das Tränengas, der Anblick der Soldaten in gepanzerten Fahrzeugen, die in den Townships patrouillieren, verstellten das Bild der Ausmaße der Reformen Bothas, zumindest für die meisten Ausländer. Es ist sinnvoll, diese Reformen festzuhalten: - Abschaffung aller Beschränkungen der SchwärzenGewerkschaften (1981). - Völlige Integration aller Sportler (1982). - Gleiche Einkommenssteuergesetze (1984). - Zulassung aller Nicht-Weißen zu den staatlichen Universitäten (1984). Diese Reform ist nicht vollständig: Die Zulassung beruht auf einer Quotenregelung. - Die Einführung gemischtrassiger Geschäftsbezirke in zuvor NurWeißen-Gebieten (1984). Es existieren weiter erhebliche Bestimmungen Nichtweißer Geschäfte. - Die Aufhebung der Gesetze, die Mischehen und Geschlechtsverkehr zwischen Menschen unterschiedlicher Rassen verbieten (1985). - Das Niederlassungsrecht für ‡illegale— Schwarze, die seit ihrer Geburt oder mehr als zehn Jahre in ‡weißen— Gebieten gelebt oder gearbeitet haben (1985). Die Aufhebung des Verbotes gemischter politischer Parteien (1985). - Abschaffung aller Rassenbestimmungen beim Alkoholverkauf (1986). - Abschaffung der Kapitaleinfuhr-Kontrollgesetze (1986). - Abschaffung der Paßgesetze (1986). - Wiederherstellung der vollen südafrikanischen Bürgerrechte für Bürger der vier ‡unabhängigen— Hornelands (1986). - Ende aller Zwangsansiedlungen (1986). - Aufhebung der Gesetze gegen ‡schwarzen— Grunderwerb in Townships (1986). Diese Gesetze hatten nur eine 99-Jahres-Pacht zugelassen. - Entschärfung der Gesetze zur Kontrolle ‡nichtweißer— Ansiedlung -174-
in ‡weißen— Gebieten (1986). - Aufhebung der Rassentrennungsgesetze in Hotels und Restaurants. Kinos und Theater können die Bestimmungen auf Ansuchen aufheben. (1986). - Aufhebung der Einschränkungen des Zutritts der Schwarzen zu ‡weißen— Erholungsgebieten, wie Meeresstränden (1986). - Teilweise Aufhebung der Rassentrennung im öffentlichen Verkehr. Mit diesen Reformen fielen die meisten Apartheidsgesetze, und damit auch einige Säulen des weißen Herrschaftsgebäudes: die Aufhebung der Paßgesetze, das Ende der Behandlung der TownshipEinwohner als Ausländer, das Ende der Rücksiedelung, die Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben hatte, die Aufhebung des Verbotes gemischter Ehen und Beziehungen œ alles fundamentale Dinge. An den Universitäten studieren Schwarze, und es gibt jetzt mehr als 1,5 Millionen schwarze Gewerkschaftsmitglieder. Im Juni 1988 allerdings, unter dem Druck weißer Konservativer, trat Botha von einigen dieser Reformen wieder zurück. Eine andere wichtige Reform war die Errichtung gewählter Lokalbehörden zur Verwaltung der Townships œ Schwarze, Mischlinge und Inder. Diese Behörden waren eines der Hauptziele der Aufständischen 1985/86, wurden seither aber wiedererrichtet œ viele von ihnen nahmen gegenüber der Regierung eine Politik unversöhnlicher Feindseligkeit ein. VERFASSUNGSREFORMEN Die Unruhen 1985/86 wurden durch eine der einschneidendsten Maßnahmen Bothas ausgelöst: Durch eine Verfassungsänderung wurde Mischlingen und Indern eine Beteiligung an der Macht eingeräumt, nicht allerdings den Schwarzen. Die Reformen wurden 1984 verkündet. Das rein weiße Parlament wurde aufgelöst, statt dessen wurden drei Körperschaften eingeführt: die weiße Abgeordnetenkammer (House of Assembly) mit 178 Mitgliedern, davon werden 166 direkt von der weißen Bevölkerung gewählt; die Repräsentantenkammer (House of Representatives) œ von ihren 85 -175-
Mitgliedern werden 80 von den Mischlingen direkt gewählt; und die Delegiertenkammer (House of Delegates), von deren 45 Mitgliedern die indische Bevölkerung 40 direkt wählt, jede der drei Kammern sollte ausschließlich für die ‡eigenen— Angelegenheiten ihrer Wähler verantwortlich sein œ eine umstrittene Formulierung, die aber Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesen einbezieht. Jede Kammer wählt einen Ministerrat, um diese Angelegenheiten zu überwachen. ‡Gemeinsame— Angelegenheiten Verteidigung, außenpolitische Beziehungen und Sicherheitsbelange œ werden von gemeinsamen Komitees der drei Kammern wahrgenommen. Dank der Verhältniszahl 4:2:1 werden die Weißen in diesem System immer die Mehrheit haben. Darüber hinaus wurde für den Staatspräsidenten mit der Funktion des ‡Executive State President— ein neues Amt geschaffen. Der Präsident wird von den drei Kammern gewählt - das bedeutet, daß er von den Weißen gewählt wird. Botha übernahm dieses Amt, das aufgrund der Tatsache, weit weniger der gesetzgebenden Kontrolle unterworfen zu sein, bedeutend mehr Macht verleiht als das Amt des Premierministers nach der alten Verfassung. Unter anderem definiert der Präsident, was ‡eigene— und was ‡allgemeine— Angelegenheiten sind und bestimmt dadurch effektiv, welche Macht die drei Kammern haben. Kein Beschluß wird ohne seine Zustimmung Gesetz, und die Kammern der Mischlinge und Asiaten sind nicht wirklich unabhängig. Neu eingerichtet wurde auch der sechzigköpfige Präsidialrat œ ebenfalls nach dem Schlüssel 4:2:1 œ , ein Gremium zur Schlichtung aller Streitigkeiten, die von keiner anderen Stelle gelöst werden können. Theoretisch sollten die drei Kammern ihre Entscheidungen im Konsens finden, aber die Wirklichkeit sieht anders aus. Die neue Verfassung wurde am 2. November 1983 œ nur für Weiße œ zur Abstimmung gebracht. Die konservativen Buren waren ebenso heftig dagegen wie die Liberalen und die große Mehrheit der Mischlinge und Asiaten, deren Situation die Reform eigentlich hätte verbessern sollen. Die Konservativen lehnten grundsätzlich jedes Entgegenkommen ab, und die Liberalen wandten sich gegen die Fortsetzung der Unterjochung der Menschen nichteuropäischer Abstammung. Die Inder wiederum wehrten sich verbissen gegen das -176-
neue Verfassungsmodell, da sie fürchteten, daß es den Indern in Südafrika auf Dauer großen Schaden zufügen würde, Seite an Seite mit den Weißen gegen die Schwarzen zu stehen. Die Regierung bestand darauf, daß die Verfassung einerseits die weiße Vormacht bewahren, anderseits Reformen einleiten sollte. Das Votum ergab schließlich 65,95 Prozent Pro-Stimmen und 35,53 Prozent Contra. 0,52 Prozent der Stimmen waren ungültig. Die Regierung schlug für die Mischlinge und Asiaten keine Abstimmung vor, da sie wußte, daß solch ein Vorschlag abgelehnt würde. So wurde die Auseinandersetzung bei den folgenden Parlamentswahlen ausgetragen. Die Regierung wandte jedes mögliche Druckmittel an, die Leute zur Wahl zu bewegen, während die Führer der Mischlinge, Asiaten und liberalen Weißen zum Boykott aufriefen. Es gab keine Einheitsfront. Die Labour Party, die führende politische Partei der Mischlinge unter der Führung von Reverend Allan Hendrickse, nahm Botha beim Wort. Hendrickse war kein leichtes Opfer für die Regierung œ seine Kirche war aufgrund des Group Area Acts zerstört worden, da sie (seit fünfzig Jahren) in einem Bezirk gestanden hatte, der für die Weißen bestimmt war, und er war für seine Opposition gegen die Apartheid, die er sein ganzes Leben lang vertreten hatte, auch ins Gefängnis geworfen worden. Aber diesmal war er der Meinung, daß die Regierung den richtigen Kurs einschlug. Seine Entscheidung führte zu wilden Auseinandersetzungen mit anderen Mischlings-Führern, von denen der prominenteste Allan Boesak war, der Präsident der ‡World Alliance of Reformed Churches". Dieser vertrat die Auffassung, daß die Mischlinge sich dem Kampf der Schwarzen anschließen und daher das allgemeine Wahlrecht für ganz Südafrika fordern müßten. Die Mischlinge wählten am 22. August 1984, die Inder eine Woche später. Am wirksamsten war der Boykottaufruf in der Kap-Provinz, wo die große Mehrheit der Mischlinge lebt. Insgesamt gingen 31,7 Prozent der wahlberechtigten Mischlinge und 21 Prozent der Inder zur Wahl, genug für Botha, um sich als Sieger zu fühlen. Die Opposition wies darauf hin, daß nur zwei Drittel der Mischlinge und Inder eingetragen waren, so daß die Beteiligung in Wahrheit weniger als 20 Prozent betragen habe. Hendrickse wurde Führer der Delegierten der Mischlinge. -177-
DIE AUFSTÄNDE In den frühen achtziger Jahren waren die Unruhen in den Townships immer mehr angewachsen, und die landesweite Debatte über die Parlamentswahlen beschleunigte diesen Prozeß noch mehr. 1983 fanden an schwarzen Schulen wiederholt Demonstrationen gegen die ungleichen Möglichkeiten statt. Im Februar 1984 gab es den ersten Toten: Als Polizeikräfte eine Schülerdemonstration in einer Schule in der Township Atteridgeville bei Pretoria auflösten, geriet in dem Getümmel eine fünfzehnjährige Schülerin unter die Räder eines Polizei-Land Rovers und starb. In den folgenden Monaten wurden die Kämpfe zwischen Polizisten und Schülern immer häufiger und heftiger. Die Schüler hatten wesentlichen Anteil an der BoykottKampagne für die Mischlings-Wahlen, und als sie doch für August angesetzt worden waren, gab es eine richtige Einschüchterungskampagne, um die Menschen von der Wahlteilnahme abzuhalten. Am 3. September 1984 kam es in Sharpeville zu einem zwölfstündigen Aufstand. Dabei starben vierzehn Menschen, darunter einige Schwarze, die von Aufständischen der Kollaboration mit der Regierung beschuldigt und verbrannt wurden. Geschäfte indischer Besitzer wurden geplündert, ihre Häuser angezündet. Am nächsten Tag gingen die Unruhen weiter und breiteten sich im ganzen Land aus. Es war ein langer, heißer Sommer, und bald mußte Militär eingesetzt werden, um die Lage unter Kontrolle zu bekommen. Als die Regierung am 20. Juli 1985 den Ausnahmezustand verhängte, waren bereits mehr als 600 Menschen ums Leben gekommen. Der Ausnahmezustand wurde Ende des Jahres wieder aufgehoben, im Juni 1986 aber erneut verhängt und in den Jahren 1987, 1988 und 1989 verlängert. Zwischen September 1985 und Ende 1986, als die Unruhen endlich abflauten, wurden insgesamt 2.291 Menschen getötet. Die Hälfte von ihnen waren schwarze ‡Kollaborateure—, die von anderen Schwarzen getötet wurden. ‡Necklacing— wurde zu einer beliebten Methode: dieses Halsband war ein benzingefüllter Autoreifen, der dem Opfer umgelegt und angezündet wurde. Winnie Mandela, die Frau des ANC-Führers, distanzierte sich aufs schärfste -178-
von dieser Barbarei. DIE SCHWARZE OPPOSITION Die Zulu sind mit 7 Millionen Angehörigen der größte Stamm in Südafrika, und wie auch immer die Zukunft des Landes aussehen mag œ die Zulu werden sicherlich eine wichtige Rolle spielen. Es gibt zwei Zulu-Fraktionen: Die Inkatha, die traditionelle Partei unter Häuptling Mangosuthu Gatsha Buthelezi, Chefminister von KwaZulu, dem ZuluHomeland; und den Natal-Flügel der ‡United Democratic Front—. Die landesweite UDF wurde von Reverend Allan Boesak gegründet, in Natal ist sie aber hauptsächlich eine oppositionelle Zulu-Organisation, die sich auf die Städte stützt. Buthelezi hat einen Plan für die Zukunft von Natal erstellt, demzufolge die politische Kontrolle auf die Schwarzen (das heißt, auf ihn) übergehen, den Weißen aber ein Vetorecht in Belangen wie Eigentumsrecht, Erziehung und Sprache bleiben sollte. Viele Weiße sehen diese Vorschläge als einen möglichen Weg aus der verfahrenen Situation des Landes an. Die UDF beschuldigt Buthelezi, sich der Regierung anzubiedern. Sie lehnt alle besonderen Bedingungen für die Weißen ab und fordert unverzüglich die Herrschaft der Mehrheit. In diesem Streit zwischen Inkatha und UDF geht es weniger um die Beziehungen zu den Weißen, als vielmehr um den direkten Machtkampf zwischen den Zulus. Hunderte Menschen œ im November und Dezember 1987 waren es mehr als 200 wurden in bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen in den Townships um Durban und Pietermaritzburg getötet, und da die UDF mit dem ANC eng verbündet ist, sind diese Kämpfe für das ganze Land von Bedeutung. 1987 und 1988 schien die Inkatha den Kampf zu verlieren, vor allem da sie als Unterstützer der weißen Regierung galt. Aber es gelang Buthelezi, einiges an Glaubwürdigkeit wiederzugewinnen, indem er sich weigerte, an den von Präsident Botha einberufenen Verfassungsverhandlungen teilzunehmen, solange Mandela und andere ANC-Führer ausgeschlossen seien. Die Opposition zum Apartheidsystem hat viele Erscheinungsformen. Die 1983 von Alla Boesak gegründete UDF ist eine Allianz von über 400 Organisationen mit insgesamt mehr als 2,5 -179-
Millionen Menschen. Ihr Ziel war der Kampf gegen die von Botha angekündigten Verfassungsreformen, aber später proklamierte sie ‡die Vision eines vereinten, demokratischen Südafrika, begründet auf dem Willen des Volkes—. Ihr Programm war der ‡vereinte Kampf gegen die Übel der Apartheid, gegen wirtschaftliche und alle anderen Formen der Ausbeutung—. Der UDF gehören nicht nur schwarze, sondern auch viele weiße Organisationen an, nicht aber Buthelezis Inkatha und die ‡Föderative Fortschrittspartei— (PFP), die kleine liberale Oppositionspartei vor allem der englischsprachigen Weißen, die beide in den Augen der UDF an der undemokratischen Entwicklung der Verfassung partizipiert hatten. Der Konflikt zwischen UDF und Inkatha führte zu Auseinandersetzungen, die 1990 œ vor allem in Natal œ Hunderte Menschenleben forderten und sich als ein ernstes Verhandlungshindernis erwiesen. Eine andere Oppositionsgruppe ist das ‡Nationale Forum—, das Überlebende von Steven Bikos ‡Black Consciousness Movement— gegründet haben. Der einflußreichste Teil ist die ‡Azanian People‘s Organization— (AZAPO), eine militante sozialistische Partei, die den Ausschluß aller Weißen vom politischen Leben im zukünftigen ‡Azania— fordert œ diesen Namen haben sie für das neue Südafrika vorgesehen. Ein anderes Zentrum des Widerstands sind die Kirchen. Die wichtigste ist die Anglikanische Kirche, deren Oberhaupt derzeit Erzbischof Desmond Tutu ist, der neben Mandela œ nach der Zuerkennung des Friedensnobelpreises 1984 der wichtigste Sprecher des schwarzen Südafrika wurde. Vier Jahre später, im März 1988, gründete er ein Komitee zur Verteidigung der Demokratie, das von der Regierung sofort verboten wurde. Tutu wurde durch seine internationale Bekanntheit und seine kirchliche Würde vor den Verfolgungen geschützt, denen die anderen Oppositionsführer ausgesetzt sind. Im Februar 1988 wurden die AZAPO, das ‡Nationale Forum— und die UDF nach den Bestimmungen des Ausnahmezustands verboten. Das Dekret untersagte ihnen und 14 anderen Oppositionsgruppen jede weitere Tätigkeit. Der ‡Congress of South African Trade Unions— (COSATU), die Dachorganisation der schwarzen Gewerkschaften wurde nicht verboten, aber ihre Aktivitäten wurden wesentlich -180-
eingeschränkt: Es war ihr untersagt, irgendwelche Sanktionen zu unterstützen oder zur Begnadigung Inhaftierter aufzurufen. Seit die schwarzen Gewerkschaften 1981 zugelassen wurden, sind sie rasch zu führenden Institutionen des Landes geworden und haben mindestens 1,5 Millionen Mitglieder. Sie agieren mit unterschiedlichem Erfolg. Im September 1987 wurde ein Minenarbeiterstreik mit den ‡alten Methoden— gebrochen: Gewalt und importierte Streikbrecher. Führende südafrikanische Geschäftsleute, die lange Zeit das Ende der Apartheid gefordert hatten, fanden sich plötzlich mit den wirtschaftlichen Auswirkungen der von ihnen geforderten Politik konfrontiert. Die Schwarzen waren nicht mehr länger bereit, Hungerlöhne zu akzeptieren und forderten auch andere Rechte. Diesen Forderungen nachzugeben würde den Ertrag der Minen und anderer Industriezweige erheblich senken, den Lebensstandard der Weißen beeinträchtigen, die Inflation anheizen und zweifellos zu weiteren Forderungen der Schwarzen führen. So vergaßen die Minenbesitzer ihren kapitalistischen Liberalismus und verhielten sich wie die hartnäckigsten Buren. Sie zerschlugen die Minenarbeitergewerkschaft, aber ohne Resultat: Die südafrikanische Wirtschaft kann nicht schnell genug wachsen, um den Forderungen der schnell zunehmenden schwarzen Bevölkerung gerecht zu werden, sogar bei gleichbleibender Einkommenssituation, ohne das Ende der wirtschaftlichen Apartheid. Aber wenn das so wäre, würde die Wirtschaft kurzfristig Schaden erleiden, und die Langzeitaussichten der Eigentümer und Manager œ alles Weiße wären düster. Die parlamentarische Opposition in der ersten Abgeordnetenkammer war erfolglos (die PFP verlor 1988 sogar die Mehrheit in der Stadtverwaltung von Johannesburg). Die Delegiertenkammer trug einen kleinen Sieg davon; sie setzte durch, daß Botha die Verschärfung des Group Areas Act zurücknahm. Er kam offensichtlich zur Überzeugung, daß die Stimmengewinne, die er bei den Konservativen dadurch gemacht hätte, die Schwierigkeiten, die auf ihn zugekommen wären, nicht wert wären. Nach den Wahlen von 1989 änderte sich alles. Obwohl nach Ende 1986 die Unruhen eigentlich abgeflaut waren, wurde der Ausnahmezustand im Juni 1988 und im Juni 1989 verlängert. 1988 verlautbarte die Regierung, daß seit September 1984 -181-
insgesamt 4.012 Menschen getötet worden seien: 1.848 Schwarze waren von anderen Schwarzen in internen Auseinandersetzungen getötet worden (vor allem in Natal, siehe oben); 1.113 Schwarze wurden von Sicherheitskräften, 623 von unbekannten Tätern getötet. 187 Polizeibeamte œ davon die meisten Schwarze œ kamen ums Leben; 163 Mitglieder von ANC und PAC starben im Kampf, und 78 Zivilisten fielen terroristischen Aktivitäten zum Opfer. D Die Verlängerung des Ausnahmezustandes bot der Regierung die Handhabe zur strikten Kontrolle von Presse und Fernsehen. In den Townships war der Besitz von Kameras verboten, damit kein Filmmaterial über die Zustände die Außenwelt erreichen sollte. DER GUERILLAKRIEG Die stärkste Opposition in Südafrika bleibt der ANC. Die Verhaftung Mandelas und anderer Führungsmitglieder in den frühen sechziger Jahren war für die Bewegung ein schwerer Schlag, aber nach den Aufständen in Soweto fand der ANC wieder zu seiner alten Stärke. Jedes Verbot einer gemäßigten schwarzen Oppositionsgruppe trieb dem ANC einen neuen Schwung Rekruten in die Arme. Er ist in allen Townships des Landes aktiv, und die Popularität von Nelson Mandela, auch während seiner Haftjahre, war ein deutliches Zeichen seines Einflusses. 1980 begann die erste erfolgreiche Bombenattentatsserie des ANC mit gleichzeitigen Angriffen auf drei von Südafrikas wichtigsten wirtschaftlichen Einrichtungen: Die Fabriken, in denen Öl aus Kohle gewonnen wird. Im Dezember 1982 töteten südafrikanische Einheiten 42 ANC-Mitglieder in Maseru in Lesotho. Im Mai 1984 wurden bei der Explosion einer Autobombe vor dem Verteidigungsministerium in Pretoria 19 Menschen getötet und mehr als 200 verletzt, darunter viele schwarze Zivilisten. Dieser Zwischenfall führte zu einer heftigen Auseinandersetzung im ANC: Die Anhänger von Albert Luthuli lehnten Gewalt gegen Zivilisten vehement ab, während die Militanten Gewalt als legitime militärische Taktik befürworteten. Diese Differenz spiegelt die politische Spaltung des ANC wider. Die Bewegung zerfällt einerseits in geeichte Kommunisten, die sich blind Moskau unterordnen, anderseits in pragmatische und gemäßigte Gruppen. -182-
Damals war das Hauptquartier des ANC in der sambischen Hauptstadt Lusaka, aber die Mitglieder lebten unter der ständigen Drohung südafrikanischer Anschläge, auch wenn Tausende Kilometer dazwischen lagen. Südafrikanische Kommandotruppen griffen die ANC-Büros in Maputo in Mosambik, in Gaborone in Botswana und in Maseru an. Im März 1988 wurde der ANC-Vertreter in Paris ermordet, und im April verletzte eine Autobombe ein prominentes weißes ANC-Mitglied in Maputo. Nach den Aufständen von 1984/86 nahmen die Bombenanschläge stark zu. In ganz Südafrika kamen zahlreiche Menschen ums Leben, und bei vielen Attentaten war die Absicht erkennbar, die Zivilbevölkerung in den Kampf hineinzuziehen. Im August 1988 verkündete der fünfunddreißigköpfige Exekutivausschuß, daß es ‡gegen unsere Politik sei, solche Ziele auszuwählen, bei denen Zivilisten zu Schaden kommen. Unsere Moral als Revolutionäre verpflichtet uns, die menschlichen Gebote der Kriegführung zu beachten.— Der Ausschuß bekannte sich zur Verantwortung an einer Reihe von zivilen Toten und setzte den Kommandeur des militärischen Flügels ab. Diese Gedanken mögen eine ernstgemeinte Willensbekundung gewesen sein, aber auf die Ereignisse hatten sie wenig Einfluß. Die Terroristen setzten ihr blutiges Handwerk fort: Im Juni kamen bei einem Dutzend Bombenanschläge 13 Menschen ums Leben; in den ersten sechs Monaten des Jahres gab es mehr als 90 Attentate. Am 2. Juli explodierte eine Autobombe vor einem Fußballstadion in Johannesburg, wobei zwei Menschen starben, und in den Wochen vor den Lokalwahlen im Oktober gab es eine Attentatsserie, darunter am 24. Oktober eine weitere Autobombe in einer Minenarbeitersiedlung bei Johannesburg, die wieder zwei Menschen tötete. Nach Angaben der Regierung gab es zwischen 1980 und Juni 1988 mehr als 900 Bombenanschläge und andere Terrorakte. Im August 1988 verkündete Südafrika die Annahme des Waffenstillstandes in Angola und die Fortsetzung des Unabhängigkeitsprozesses für Namibia œ unter der Bedingung, daß Kuba seine Truppen aus Angola binnen kurzer Zeit abziehen würde. Die Regierung war offensichtlich zur Erkenntnis gelangt, daß sie sich die Kosten des Konflikts nicht länger leisten konnte: 1 Milliarde -183-
Dollar pro Jahr Verteidigungsbudget und unkalkulierbare politische Konflikte. Einige Wochen später waren die Südafrikaner aus Angola draußen und ließen Jonas Savimbi in der weiteren Auseinandersetzung mit den Kubanern und der angolanischen Regierung allein œ zumindest dem Anschein nach. Ohne Zweifel wurde er auf dem Umweg über Zaire heimlich weiter versorgt. Im Dezember kam es schließlich zu einem endgültigen Abkommen (siehe ANGOLA), und Namibia wurde im März 1990 unabhängig (siehe NAMIBIA). Das Abkommen folgte dem Nichtangriffs-Pakt mit Mosambik, den Botha im März 1983 abgeschlossen hatte. Dieses Abkommen verpflichtete Mosambik, den ANC auszuweisen, und Südafrika, die Unterstützung der RENAMO in Mosambik einzustellen (siehe MOSAMBIK). Im September 1988 besuchte Botha Präsident Mobutu in dessen Heimatdorf in Zaire, und er wurde mit allem Pomp eines Staatsoberhauptes empfangen. Danach besuchte er Präsident Houphouet-Boigny in Cóte d‘lvoire. Einmal mehr übersprang Südafrika die Frontstaaten und etablierte wirtschaftliche und politische Beziehungen mit dem übrigen Afrika. Die Erfolge Südafrikas in diesen Bemühungen sind hauptsächlich wirtschaftlich begründet. Die Frontstaaten, ungeachtet ihrer Verachtung der Apartheid, sind für ihr eigenes wirtschaftliches Überleben von der südafrikanischen Infrastruktur abhängig, ebenso wie von Südafrikas Nahrungsmittelexporten, um ihre Bevölkerungen vor dem Hungertod zu bewahren. Simbabwe, Sambia, Malawi, Mosambik, Zaire und Tansania sind auf diese Weise von Südafrika allesamt extrem abhängig. Und nach dem Rückzug der Kubaner und Sowjets wird auch Angola zu einem solchen südafrikanischen Satelliten werden, ob nun Savimbi den Bürgerkrieg gewinnt oder nicht. Die konservative Partei gewann im Oktober bei einigen Lokalwahlen die Mehrheit und setzte unverzüglich die zuvor abgeschafften Apartheidsbestimmungen wieder in Kraft. Die Ablehnung, die ihr dafür entgegenschlug, ermöglichte der Regierung einen verblüffenden Aufschwung, und sie konnte sich als die neue starke Partei der Mitte präsentieren. Präsident Botha und seine Regierung lehnten die Rückkehr zur Apartheid strikt ab. Außenminister Roloef F. Botha sagte über Boksburg, die größte Stadt, -184-
in der die Uhren zurückgedreht wurden, daß ‡die Konservative Partei sehr genau weiß, daß sie dadurch die Sicherheit der Weißen gefährdet. Sie trägt dadurch zur Polarisierung der Gesellschaft bei; sie schädigt die weißen Geschäftsinteressen und die Wirtschaft des Landes.— Mehrere Sportorganisationen, allen voran die südafrikanische CricketUnion, riefen zum Boykott von Boksburg auf; Schwarze, Inder und Mischlinge organisierten einen Boykott der Geschäfte der Stadt, so daß die Eigentümer protestierten, sie würden durch den Fanatismus der Konservativen Partei ruiniert. Botha erlitt im Februar einen Schlaganfall und wurde von Frederick W. de Klerk abgelöst œ zunächst als Führer der Nationalen Partei, im August dann auch im Amt des Präsidenten. Eine der letzten Amtshandlungen Bothas war die Einladung Mandelas zum Tee, und de Klerks erste Amtshandlung war ein Besuch bei Kenneth Kaunda in Sambia. Am 7. September 1989 wurden Parlamentswahlen abgehalten. Die Nationalisten gewannen 47 Prozent der weißen Stimmen und verloren 30 ihrer 123 Sitze in der Abgeordnetenkammer. Die Konservativen legten von 22 auf 39 Sitze zu. Die ‡Resistance Movement— brach nach einem ziemlich lächerlichen Sex-Skandal um Eugene Terre‘ Blanche zusammen, während die neue ‡Demokratische Partei—, die an die Steile verschiedener liberaler Gruppen mit insgesamt 21 Mandaten getreten war, nunmehr auf 33 Sitze kam. De Klerk hatte sich im Wahlkampf auf ein verschwommenes Reformkonzept gestützt, verweigerte aber zunächst weiterhin die Anerkennung des ANC. Er verwies darauf, daß eine große Mehrheit der Weißen für eine Veränderung des Systems sei. Aber die ‡Demokratische Partei— gewann nur 20 Prozent der Stimmen, ein Stimmenzuwachs von 5 Prozent gegenüber 1981, während die Konservativen um 30 Prozent zulegten. Die Mitte-Links-Mehrheit ist zwar eindeutig, aber nicht überwältigend. Bei den Wahlen für die Inder- und Mischlinge-Kammern kam es zu erheblichen Veränderungen; mehr als 20 Schwarze und Inder wurden bei den anschließenden Protestdemonstrationen getötet. Es schien vielen, daß de Klerk und die Nationalisten eine letzte Chance hätten, zu einer friedlichen Einigung mit den Schwarzen zu kommen. Am 29. Oktober durfte der ANC in Soweto eine gewaltige Demonstration veranstalten, um den heimkehrenden Sisulu und seine -185-
Kameraden zu begrüßen. Zwei Wochen später verkündete de Klerk, daß der ‡Separate Amenities Act— aufgehoben würde. Dieses Gesetz hatte die Schwarzen von Parks und Stranden ausgeschlossen. Am 24. November wurden vier Distrikte des Landes, darunter der frühere Distrikt Sechs in Kapstadt œ jetzt Zonnenbloom œ für die Menschen aller Rassen geöffnet. Diese Ereignisse fielen mit den Berichten darüber zusammen, daß es in der Polizei Todeskommandos gegeben habe, die Oppositionelle ermordet hätten, in Südafrika und im Ausland. Die Berichte erstaunten niemanden, aber diesmal setzte die Regierung eine Untersuchungskommission ein. In einem bedeutsamen Akt eröffnete de Klerk Verhandlungen mit Mandela mit dem Ziel der Wiederzulassung des ANC und der Freilassung Mandelas. Diese Entwicklung geschah unter den Augen der Öffentlichkeit. De Klerk traf mit Mandela selbst zusammen und hob das Besuchsverbot praktisch völlig auf. Zu diesem Zeitpunkt war Mandela bereits in einem Bungalow auf dem Gebiet einer Gefängnisfarm bei Kapstadt untergebracht. Ein Brief von ihm an de Klerk wurde publiziert. Darin legte er seine Ansichten über die Zukunft Südafrikas dar, und die Voraussetzungen, unter denen der ANC mit der Regierung verhandeln würde. Es hatte lange keine Gesprächsbasis mit dem ANC gegeben, da die Regierung darauf bestanden hatte, daß der ANC aller Gewalt abschwören müsse, bevor er wieder zugelassen werden könnte, während der ANC die Meinung vertrat, daß er nur deshalb zur Gewalt gegriffen habe, da die Regierung sich jedem Fortschritt versperrt habe. In seinem Brief an de Klerk zeigte Mandela auf, daß dieses Problem lösbar sei. ‡Die Position des ANC in dieser Frage ist sehr einfach. Die Organisation hat kein grundsätzliches Interesse an Gewalt. Sie lehnt im Prinzip jede Aktion ab, die zu Tod, Zerstörung von Eigentum und Unglück der Menschen führt, aber wir betrachten den bewaffneten Kampf als eine legitime Form der Selbstverteidigung gegen ein moralisch verwerfliches Regierungssystem, das nicht einmal friedliche Protestformen zulassen möchte ... Von den ersten Tagen seines Bestehens an hat der ANC unermüdlich nach friedlichen Lösungen gesucht ... Das weiße Südafrika muß akzeptieren, daß der ANC den bewaffneten Kampf nicht unterbrechen, geschweige denn einstellen wird, bis die -186-
Regierung ... direkten Verhandlungen zustimmte, und zwar mit den anerkannten Führern der Schwarzen.— Mandela und andere gemäßigte schwarze Führer legten eine Reihe von Vorbedingungen für die Eröffnung formeller Verhandlungen mit der Regierung vor, und er machte sie auch zur Vorbedingung, daß er seine eigene Freilassung annehmen würde: der Bann auf den ANC und andere Organisationen müßte aufgehoben werden; alle noch inhaftierten politischen Häftlinge müßten freigelassen werden; und die Todesstrafe müßte abgeschafft werden. Offensichtlich akzeptierte der Präsident das darin enthaltene Angebot, und Sisulu und andere ANC-Führer, die kurz zuvor freigelassen worden waren, durften nach Lusaka fliegen, um mit ihren Kampfgefährten im Exil zusammenzutreffen. Sie trafen Freunde und Verwandte, die sie ein Vierteljahrhundert nicht gesehen hatten. Der ANC hielt im Januar in Lusaka eine Konferenz ab, bei der die alte Garde wieder den Vorsitz übernahm. Die Partei stimmte Verhandlungen mit der Regierung zu, wenn Mandelas Bedingungen erfüllt würden. Zur selben Zeit beugte sich Joe Slovo, der Führer der Südafrikanischen Kommunistischen Partei, einer Organisation, die durch die Jahrzehnte ihren orthodoxen Stalinismus bewahrt hatte, den Veränderungen in Europa und hielt die Einführung einer pluralistischen Demokratie für erstrebenswert. In seiner Eröffnungsrede im Parlament akzeptierte Präsident de Klerk am 2. Februar 1990 praktisch alle Forderungen Mandelas. Das dramatischste Zugeständnis war die Aufhebung des Verbotes des ANC, des PAC, der Kommunistischen Partei und verschiedener Organisationen. Die Restriktionen, die über 33 weitere Organisationen verhängt worden waren und ihnen jeden politischen Aktionsradius genommen hatten, wurden ebenfalls aufgehoben. Darunter waren der ‡South African National Students Congress—, das ‡National Education Crisis Committee—, die UDF, der ‡Congress of South African Trade Unions— œ und auch eine rechtsradikale Afrikaaner-Organisation. De Klerk hob auch die Auflagen auf, die Sisulu und den anderen bei ihrer Freilassung gemacht worden waren. Alle politischen Gefangenen, die nicht wegen Mord, Terrorismus oder Brandstiftung unter Anklage standen, sollten unverzüglich freigelassen werden. Der ANC stellte dazu fest, daß in der südafrikanischen Gesetzgebung der -187-
Begriff des Terrorismus so weit gefaßt sei, daß dieses Angebot weniger großzügig war als es schien. Der Ausnahmezustand wurde zwar nicht aufgehoben, aber die meisten seiner Bestimmungen wurden abgeschwächt oder außer Kraft gesetzt. Die Einschränkungen der Pressefreiheit wurden aufgehoben œ aber die Sache hatte einen Haken: Filmaufnahmen von Unruhen blieben weiterhin verboten. Untersuchungshaft ohne Verhör wurde auf sechs Monate begrenzt, und alle Untersuchungshäftlinge sollten das Recht auf einen Anwalt und einen Arzt ihres Vertrauens haben. De Klerk sagte auch, daß die Todesstrafe künftig nur noch in besonders schweren Fällen angewendet werden sollte. Alle Hinrichtungen wurden vorläufig ausgesetzt. Zur Frage der Gewalt sagte de Klerk: ‡Die heutigen Ankündigungen betreffen direkt all das, was schwarze Führer œ auch Mr. Mandela œ seit Jahren als die Begründung ihrer Gewaltanwendung genannt haben. Der Vorwurf war, daß die Regierung keine Verhandlungen mit ihnen wollte und daß ihnen durch die Einschränkung ihrer Organisationen das Recht auf normale politische Aktivität genommen war ... Die uneingeschränkte Aufhebung dieses Verbotes ... gibt jedermann die Möglichkeit zur freien politischen Entfaltung. Daher gibt es in Zukunft auch keine Rechtfertigung mehr für Gewalt.— De Klerk berichtete dem Parlament, daß die Wahlen von 1989 Südafrika unwiderruflich auf den Weg drastischer Veränderungen gebracht hätten. Nun war es Zeit für Verhandlungen. Eine Woche später, am 11. Februar, wurde Nelson Mandela nach 27 Jahren Haft freigelassen. Er wurde in Kapstadt und Soweto mit riesigem Jubel empfangen, und die meisten Südafrikaner begrüßten diesen Schritt. Weiße Hardliner beschimpften de Klerk, aber ihre Vorwürfe gingen in der allgemeinen Zustimmung unter. Während Mandela mit westlichen Politikern zusammentraf und gemeinsam mit de Klerk nach Lösungen auf dem Verhandlungsweg suchte, brachen zwischen den schwarzen Organisationen und Stämmen immer heftigere Kämpfe aus. Mandela faßte 1989 in seinem Brief an de Klerk den Stand der Verhandlungen zusammen: ‡Zwei politische Hauptpunkte gibt es bei einem Treffen zwischen uns zu klären. Erstens die Forderung nach -188-
einer Herrschaft der Mehrheit in einem vereinigten Staatswesen, zweitens die Furcht der weißen Südafrikaner vor dieser Forderung und das Beharren der Weißen auf strukturellen Garantien, daß Mehrheitsherrschaft niemals die Herrschaft der schwarzen Mehrheit über die weiße Minderheit bedeuten möge. Es wird für die Regierung und für den ANC die größte Herausforderung sein, diese beiden Positionen übereinzubringen.— Die Veränderung Südafrikas œ ein langer und schwieriger Weg, den die Menschen noch vor sich haben.
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TSCHAD Geographie: Fläche 1,284.000 km2 Bevölkerung: 5,7 Millionen BSP: 78$/Einw. (1984) Flüchtlinge: 150.000 bis 300.000 Flüchtlinge sind im Landesinneren unterwegs, 40.000 im Ausland, davon 25.000 im Sudan. Verluste: Rund 50.000 Tschader und Libyer fielen den Bürgerkriegen und ausländischen Interventionen seit 1965 zum Opfer. Dem Tschad bleibt keiner der Flüche Afrikas erspart. Das Land ist völlig verarmt. Die immer wieder auftauchenden Gerüchte von Ölund Uranvorkommen haben sich niemals bestätigt. Das letzte ermittelte Pro-Kopf-Jahreseinkommen betrug 78 Dollar. Kaum zwei oder drei andere Länder der Erde sind so heruntergewirtschaftet, und wie viele andere afrikanische Länder ist der Tschad von Haß zerstört: Haß zwischen dem arabisch/moslemischen Norden und dem Süden, der dem Christentum und Naturreligionen anhängt. Die nördlichen Stämme sind untereinander tief verfeindet und haben schon in präkolonialer Zeit um die Vorherrschaft gekämpft œ und auch im Süden gab es unter den Führern des bedeutendsten Stammes, der Sara, immer wieder rücksichtslose Machtkämpfe. 1979 hat sich die Zentralregierung praktisch aufgelöst und mußte durch eine wechselnde Abfolge afrikanischer ‡Friedensstreitkräfte— ersetzt werden. Die frühere Kolonialmacht Frankreich ist der Regierung viermal zu Hilfe gekommen; Libyen ist zweimal einmarschiert und hat 1980/81 die Hauptstadt ein Jahr lang besetzt. Auch die USA haben zweimal eingegriffen. Über all die politischen Auflösungserscheinungen hinaus hat der Tschad, der zum großen Teil aus Wüste besteht, schrecklich unter den Dürrekatastrophen der siebziger Jahre gelitten, die sich 1984 und 1988 wiederholt haben. GESCHICHTE -190-
Die Existenz des Tschad beruht einzig auf der Tatsache, daß Frankreich Tripolitanien und die Cyrenaica im 19. Jahrhundert nicht in Besitz genommen hat (aus diesen beiden Gebieten setzt sich nun Libyen zusammen). Die Franzosen annektierten zwar den Rest des nördlichen und einen Großteil von West- und Zentralafrika, aber die Italiener nahmen Besitz von Libyen und erhoben später Anspruch auf Fezzan, die Wüste im Süden von Libyen. Damals beherrschte Frankreich den westlichen Sudan und die Sahel-Zone vom Atlantik bis zum britisch-ägyptischen Sudan im Osten. Franzosen und Italiener zogen einige Linien auf der Landkarte, um ihre Einflußsphären in der Sahara abzustecken, und im späteren Verlauf wurde das wilde Tibesti, einer der ungastlichsten Flecken der Erde, bevölkert von schwarzen Moslem-Nomaden, durch Schiedsspruch zu Französisch-ÄquatorialAfrika (AEF) geschlagen. In ihrer Geschichte verbindet nur eines die beiden Regionen: Die Nomaden sind Jahrhunderte lang in den Süden auf Sklavenfang eingebrochen und haben ihre unglücklichen Opfer quer durch die Wüste auf die Sklavenmärkte von Tripolis getrieben. Spät, erst in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, eroberten die Franzosen endgültig Tibesti, und als sie Französisch-ÄquatorialAfrika 1960 verließen, teilten sie es in vier verschiedene Länder auf. Die Nomaden fanden sich mit den südlichen Stämmen, von denen sie nur wenig wußten, in einen Topf geworfen. Die Sara, die zum Teil das Christentum angenommen hatten, waren der dominierende Stamm in diesem neuen Staat. Sie hatten den Sklavenhandel nicht vergessen und waren gegenüber dem islamischen Norden von tiefem Mißtrauen erfüllt. Die nördlichen Provinzen œ Borku, Ennedi und Tibesti (BET) œ wurden bis 1965 von Frankreich verwaltet; dann fühlte sich die tschadische Regierung stark genug, selbst die Macht zu übernehmen. Der neue Präsident Francois Tombalbaye, ein selbstherrlicher, unfähiger und korrupter Mann, schickte seine Stammesgenossen in den Norden, die BET zu beherrschen. Prompt erhoben sich die nördlichen Stämme zum Aufruhr. Tombalbaye versuchte ihn niederzuschlagen; das Ergebnis war, daß ein Teil des ToubouStammes unter dem traditionellen Häuptling, dem Derde, Zuflucht in Libyen suchte. -191-
DER ERSTE BÜRGERKRIEG Bald geriet der Aufstand außer Kontrolle, und 1968 mußte sich Tombalbaye um Hilfe an Frankreich wenden. Die Fremdenlegion kehrte also in die Hauptstadt Fort Larny zurück und schlug die Rebellen in die Flucht. Die Franzosen verlangten von Tombalbaye Reformen, darunter die Wiedererrichtung der Rechte der Moslemführer und die Aufnahme von Moslem-Ministern in die Regierung. Die meisten französischen Einheiten wurden 1971 wieder abgezogen. Aber die Unruhen gingen weiter, und Tombalbaye reagierte, indem er animistische Bräuche unter den Sara wiederbelebte. Er erhob den Yondo-Kult œ der mühselige und unangenehme Initiationsrituale vorsieht œ zur Staatsreligion. Tombalbaye verfolgte christliche Sara, die den neuen Glauben verweigerten, setzte aber auch die blutige Verfolgung der Moslems fort. 1975 stürzte ihn die Armee, deren Führung hauptsächlich aus Sara-Angehörigen bestand, wobei er ums Leben kam. Der Norden war allerdings bereits im offenen Aufruhr, und Tombalbayes Nachfolger, General Felix Malloum, war nicht mehr in der Lage, ihn niederzuwerfen. Eine lose Koalition von Rebellen und Exilgruppen œ die ‡Front pour la Liberation du Tchad— (FROLINAT) œ verfügte über zwei Armeen: die ‡Forces Armee du Nord— (FAN) und die Erste Befreiungsarmee im Osten. 1976 spaltete sich die FAN zwischen zwei Führern des Toubou-Stammes: Goukouni Oueddai, der Sohn des Derde von Tibesti, der nach Libyen geflüchtet war; und Hissene Habre. Diese Spaltung war hauptsächlich das Ergebnis des Aufeinandertreffens persönlicher Ambitionen; der Konflikt brach offen aus, als Libyen einen tschadischen Gebietsstreifen besetzte, den Aouzou. Goukouni stimmte der Annexion zu, Habre war dagegen. In den darauffolgenden Jahren hat die Auseinandersetzung der beiden das Land nahezu zerstört. Goukouni war ein traditioneller Toubou-Führer, ein ungebildeter Kämpfer, dessen Interessen niemals über die seines Stammes hinausreichten. Habre, der in Frankreich studiert hatte, war zu weltweiter Bekanntheit gelangt, als er im April 1974 die französische -192-
Anthropologin Franchise Claustre entführt hatte. Er hatte sie beinahe drei Jahre im Tibesti gefangen gehalten und von Frankreich für ihre Freilassung Waffen gefordert. Der Fall wurde in Frankreich zur Staatsaffäre, wie später auch andere Geiseldramen, und beschäftigte die Regierung von Valery Giscard d‘Estaing erheblich. Ein französischer Offizier wurde während der Verhandlungen von Habres Männern ermordet, und als Claustres Ehemann sie im August 1975 besuchen wollte, wurde er ebenfalls festgehalten. Im folgenden Monat entsandte d‘Estaing einen anderen Unterhändler. Frankreich bot vier Millionen Franc und Ausrüstung im Wert von 6 Millionen. Als die Franzosen im Tibesti Funkausrüstung abwarfen, um die Verhandlungen zu erleichtern, wurden sie von General Malloum beschuldigt, die Rebellen zu bewaffnen, und er forderte, daß die letzten französischen Soldaten aus dem Süden abgezogen werden müßten. Sie gingen über die Grenze ins Zentralafrikanische Kaiserreich, so daß sie notfalls jederzeit in den Tschad zurückkehren konnten œ und auch, um Kaiser Bokassa von seinem Thron zu verjagen, was dann 1979 tatsächlich geschah. Die Claustres wurden am 30. Jänner 1977 auf Grund einer Intervention von Oberst Gaddafi freigelassen. Im selben Jahr, in der ersten Runde der Auseinandersetzung zwischen Goukouni und Habre, wurde Habre besiegt und aus der BET hinausgedrängt. Mit einigen Getreuen suchte er Zuflucht im Osten des Landes. Goukouni wandte sich um Hilfe gegen Malloum nach Libyen; bald kontrollierte er den Großteil der BET, und im März 1978 eroberte er den Hauptort, FayaLargeau. Als nächstes sandte er seine Truppen in den Süden und verbündete sich dabei mit den Männern von ‡Vulkan—, einer anderen von Libyen unterstützten Rebellengruppe, die von Osten angriff. In dieser Notlage rief Malloum um französische Hilfe, und zum zweiten Mal trat Frankreich als Retter auf den Plan. 1.500 Soldaten wurden zur Verteidigung der Hauptstadt N‘Djamena eingeflogen, und die Luftwaffe zerschlug die ‡Vulkan—-Truppen. Habre hatte in der Zwischenzeit mit Unterstützung des Sudan eine machtvolle Armee aufgestellt, und nun forderte Malloum ihn auf, in die Regierung einzutreten. Habre wurde Ministerpräsident in einem Kabinett der Nationalen Einheit (GUNT), aber die Regierung brach im Februar 1979 -193-
zusammen. Heftige Kämpfe zwischen den Anhängern von Habre und Malloum zerstörten nicht nur N‘Djamena, sondern uferten bald in eine Reihe von Massakern aus, in denen Soldaten aus dem Süden die Moslems in der Hauptstadt abschlachteten. Habres Truppen vertrieben Malloum und seine Armee in den Süden, wo sie die Massaker an den Moslems fortsetzten. Goukounis Truppen marschierten in N‘Djamena ein und begannen, die Sara systematisch zu töten. Im Verlauf dieser Ereignisse starben zwischen 10.000 und 20.000 Menschen. DAS ERSTE INTERREGNUM Nun hatte der Tschad keine Regierung mehr. Nigeria entsandte für kurze Zeit eine Armee nach N‘Djamena, um die Ordnung wiederherzustellen, und dann griffen unter der Schirmherrschaft der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) œ Truppen aus mehreren afrikanischen Ländern ein. Im November 1979 wurde nach einer Reihe internationaler Bemühungen eine neue Regierung gebildet, mit Goukouni als Präsident, Habre als Verteidigungsminister und dem neuen Führer der Sara, Oberstleutnant Widal Kamougue, als Vizepräsident. Alle drei hielten ihre Privatarmeen in N‘Djamena aufrecht, und bald verbündeten sich Goukouni und Kamougue gegen Habre. Im März 1980 fiel die Regierung wieder auseinander. Im April zog Frankreich seine letzten 1.100 Soldaten ab, und unmittelbar darauf flammten die Kämpfe zwischen den rivalisierenden Machthabern wieder auf. In dieser Zeit organisierte der Ex-CIA-Agent Edwin Wilson Banden von europäischen und amerikanischen Söldnern, die mit libyschen Flugzeugen Materiallieferungen für Goukounis Streitkräfte durchführten. Habre wurde zwar aus der Regierung verjagt, aber seine Soldaten blieben in N‘Djamena. Das ganze Jahr über gab es sporadische Kämpfe, und im Dezember brach der Bürgerkrieg wieder mit voller Wucht los. Goukouni rief Libyen zu Hilfe, und Gaddafi schickte Panzer, Flugzeuge und Soldaten nach N‘Djamena. Habre wurde geschlagen und suchte Zuflucht im südlichen Nachbarland Kamerun. Im Jänner 1981 verkündete Gaddafi eine Union zwischen Libyen und dem Tschad. -194-
DIE LIBYSCHE INTERVENTION Es ist üblich, den libyschen Imperialismus und Gaddafis Größenwahn anzugreifen, aber im Falle des Tschad sprechen auch einige Argumente für ihn. Da ist erstens der Streit um den AouzouStreifen im Nordwesten des Tschad: die Grenzen dieses Gebietes wurden 1935 erstmals festgelegt. Zu diesem Zeitpunkt war Frankreich relativ schwach und Italien relativ stark. Frankreich umwarb Italien als einen potentiellen Verbündeten gegen Hitler, und die Grenze wurde zu Gunsten Italiens festgelegt œ allerdings vom französischen Parlament nie ratifiziert. Dann wurde Mussolini vertrieben, zuerst aus Libyen, danach aus Rom. Als General de Gaulle in Paris die Macht ergriff, wurde eine neue Grenze gezogen, die Aouzou in Französisch-Afrika einverleibte; diese Übereinkunft wurde von den Briten anerkannt, die damals Libyen verwalteten. Oberst Gaddafi sieht nun keinen Grund, warum eine Grenzziehung zwischen Briten und Franzosen größere Gültigkeit haben soll als eine solche zwischen Franzosen und Italienern. Die Bewohner des umstrittenen Territoriums wurden selbstverständlich zu keinem Zeitpunkt befragt. Gaddafi behauptete, daß das Tibesti weit mehr mit dem Fezzan gemeinsam hat als mit Äquatorial-Afrika, und es ist durchaus möglich, daß die Stammesangehörigen, würden sie aufgefordert, zwischen der Staatszugehörigkeit zum islamischen und arabischen Libyen mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 7.500 US-Dollar und der des Tschad zu wählen œ mit einer christlich-anamistischen, nichtarabischen Mehrheit und einem Jahres-Kopf-Einkommen von 78 Dollar œ, sich für Libyen entschieden. Diese Ansicht hat sich auch Goukouni zu eigen gemacht, der die BEI von 1965 bis 1988 beherrscht hat. Wie auch immer, Gaddafi begnügte sich nicht mit der BEI. Er wollte den ganzen Tschad. Habre hingegen wäre lieber Präsident eines ausgepowerten Tschad geworden als Provinzführer in einem reichen Libyen. Goukouni wollte offensichtlich beides, die ökonomischen Vorteile der Verbindung mit Libyen und die Privilegien des Präsidentenamtes. Die Einwohner des Südens, nun angeführt von Oberst Kamougue, -195-
stellten sich gegen den Handel mit Libyen, und Habre suchte Unterstützung im Sudan, in Ägypten und sogar in den USA. Gaddafi fand sich in einer schwierigen Position, die OAU beschuldigte ihn offen des Imperialismus. Statt sich allerdings einfach mit Unverfrorenheit zu behaupten, wie König Hassan von Marokko im Konflikt um das frühere Spanisch-Sahara, zog sich Gaddafi im Oktober 1981 abrupt aus dem Tschad zurück. Prompt flammte der Bürgerkrieg wieder auf. DER ZWEITE BÜRGERKRIEG Habre hatte seine Armee mit der Unterstützung von Gaddafis zahlreichen Feinden wieder aufgestellt, vor allem mit der des Sudan. Er überschritt die Grenze zu Beginn des Jahres 1982 und besetzte bald den Osten und einen Großteil des Nordens des Landes. Am 6. Juni marschierten seine Truppen in N‘Djamena ein, und nun mußte Goukouni über die Grenze nach Kamerun flüchten. Habre rief sich zum Präsidenten aus und setzte die Eroberung des Südens fort. Er besiegte Kamougue und besetzte dessen Hauptquartier in Moundou. Kamougue flüchtete aus dem Land, und im Oktober bildete er zusammen mit Goukouni in Libyen eine Exilregierung. DER DRITTE BÜRGERKRIEG Der Tschad genoß eine ungewöhnliche Erfahrung œ beinahe ein Jahr lang herrschte Friede. Im Juni 1983 erhoben sich die Stämme im Norden unter Goukounis Befehl, und sie besetzten Faya-Largeau am 24. Juni und die östliche Stadt Abeche am 6. Juli. Habre eroberte die beiden Städte Ende Juli zurück œ und dann griff Libyen abermals ein. Habre wurde in Faya-Largeau belagert und rief einmal mehr um Hilfe. Erstmals wurden die USA in diesen Konflikt verwickelt; sie schickten zwei AWAC-Flugzeuge und 8 F-15 in den Tschad, um die libyschen Luftaktivitäten zu kontrollieren, außerdem militärisches Gerät im Wert von 10 Millionen Dollar. Frankreich entsandte zum dritten Mal Truppen und Flugzeuge nach N‘Djamena. Sie retteten Habre œ mit einer Rot-Kreuz-Maschine œ aus Faya, knapp bevor Goukouni und die Libyer die Stadt am 11. August zurückeroberten. Die Franzosen schickten auch Truppen zur -196-
Verteidigung von Abeche und zogen am 16. Breitengrad eine ‡Rote Linie— quer durch ) den Tschad, womit sie das Land effektiv teilten. Habre hatte den Süden völlig unter Kontrolle, und Goukouni hielt den Norden mit libyscher Hilfe (obwohl Gaddafi libysche Truppenpräsenz im Tschad immer wieder abstritt). Dieses Patt dauerte ein Jahr. In N‘Djamena waren mehr als 3.000 französische Soldaten und ein Geschwader ‡Jaguar—-Jagdbomber stationiert, in Faya-Largeau lagen libysche Einheiten. 1984 scheiterte ein Versuch der OAU, in Addis Abeba Friedensverhandlungen einzuleiten. Jede der Streitparteien bestand darauf, die Flagge des Tschad zu führen. Die Dürrekatastrophe zwang die Nomaden in die Städte, und sie konnten nur durch eine internationale Hilfsaktion gerettet werden. In der Zwischenzeit fanden geheime Verhandlungen zwischen Libyen und Frankreich statt, und am 17. September 1984 verkündete Gaddafi, daß die beiden Regierungen übereingekommen seien, ihre Streitkräfte binnen zwei Monaten zurückzuziehen. Am 10. November 1984 erklärten beide Länder den Abzug für abgeschlossen (obwohl Libyen doch immer abgestritten hatte, überhaupt Truppen auf tschadischem Boden zu haben), aber das amerikanische Außenministerium stellte fest, daß noch rund 5.500 libysche Soldaten im Tschad seien. Am 16. November traf Präsident Mitterand auf Kreta mit Gaddafi zusammen œ der griechische Ministerpräsident Papandreou trat als Vermittler auf œ, und er akzeptierte Gaddafis wiederholte Beteuerungen, daß alle libyschen Soldaten abgezogen worden seien. Am nächsten Tag, wieder in Paris, mußte Mitterand mit großer Empörung feststellen, daß Gaddafi ihn belogen hatte. Amerikanische Satelliten-Aufnahmen bewiesen das eindeutig. Aber die französische Regierung lehnte es ab, abermals Truppen nach N‘Djamena zu entsenden. Danach erfreute sich der Tschad einer beispiellosen Zeit des Friedens. In N‘Djamena begannen die Wiederaufbauarbeiten, und ernsthafte Anstrengungen wurden unternommen, die Wirtschaft des Landes wiederzubeleben. Während dieser Zeit rüsteten Frankreich und die USA Habres Streitkräfte wieder auf, während die Libyer Straßen und Flugfelder in Süd-Libyen und im nördlichen Tschad errichteten œ -197-
beide Seiten bereiteten sich auf den nächsten Durchgang im Bürgerkrieg vor. DER VIERTE BÜRGERKRIEG Er begann im Februar 1986, als Goukouni und libysche Truppen die ‡Rote Linie— überschritten. Die Franzosen schickten ihre ‡Jaguar— los und schlugen die Angreifer zurück. Nach allerlei Drohungen und Manövern wurde der ‡Status quo ante" wiederhergestellt, im Oktober ereignete sich dann eine der bemerkenswerten Episoden dieses nicht enden wollenden Krieges. Goukouni Oueddai hatte offensichtlich genug von der Abhängigkeit von Libyen, und er versuchte, seinen Frieden mit Habre zu machen. Am 30. Oktober wurde er in Tripolis angeschossen, ‡als er sich seiner Verhaftung widersetzte—. Der Toubou von Tibesti, seit 20 Jahren sein Anhänger, wechselte prompt die Seite und forderte Habre auf, ihm zu Hilfe zu kommen. Auf ein solches Signal hatte dieser nur gewartet, und unverzüglich schickte er seine Einheiten in den Norden. Auch der Luftkrieg zwischen Frankreich und Libyen flammte erneut auf. Am 11. Dezember überquerten libysche Kampfflugzeuge die ‡Rote Linie— und griffen N‘Djamena an, und am 7. Jänner 1987 zerstörten französische Maschinen einen libyschen Flugplatz im nördlichen Tschad œ fünf Tage nach dem Angriff Hissen Habres. Es war ein bemerkenswerter Feldzug. Habre rüstete seine Soldaten mit allradgetriebenen Toyotas aus, einer Weiterentwicklung des Weltkriegsjeeps; jeder war mit einem schweren Maschinengewehr oder einer Panzerabwehrkanone bestückt. Die Stammeskrieger ritten auf ihren Lastwagen so tollkühn wie die Kavallerie des Kalifen und griffen die libyschen Einheiten aus allen Richtungen an. Sie wurden durch Kämpfer aus der Region verstärkt, die loyal zu Goukouni standen und ihre von Libyen gelieferten Waffen mitbrachten, als sie die Seiten wechselten. Am 2. Januar nahmen Habres Einheiten Fada, einen strategisch wichtigen Kreuzungspunkt der Wüstenstraßen. Unter ihrer Beute waren Dutzende sowjetische T-55-Panzer und 6 italienische Fliegerabwehrgeschütze. Am 19. März rückte eine libysche gepanzerte Einheit von Wadi Doum, einem Luftstützpunkt im nördlichen Tschad, aus, um Fada zurückzuerobern. Die Einheit -198-
geriet in einen Hinterhalt und wurde aufgerieben. Eine zweite Einheit, die von Faya-Largeau zum Entsatz losgeschickt wurde, erlitt das gleiche Schicksal. Habres Männer behaupteten, in dieser Schlacht 800 Libyer getötet zu haben. Dann marschierten sie weiter und eroberten Wadi Doum am 21. März, sechs Tage später Faya-Largeau. Frankreich und die USA lieferten für diesen Vormarsch die notwendigen Waffen, und die Franzosen gewährten darüber hinaus beträchtliche logistische Unterstützung, indem sie Ausrüstung und Waffen von Depots in N‘Djamena an die Front in den Norden transportierten. Die Tschader töteten in Fada 1.200 Libyer; zu deren völliger Überraschung griffen sie in ihren Toyotas über die Sanddünen an. Die Beute war gewaltig und umfaßte Tupolew-Jagdbomber, MIG-21, Hubschrauber, 3 komplette Batterien der neuesten SAM-13, modernste sowjetische Radargeräte und mehr als 100 Panzerfahrzeuge. Der geschätzte Wert dieser Waffen betrug zwischen 500 Millionen und einer Milliarde Dollar. Ende März behauptete der Tschad, 3.603 Libyer getötet und 1.165 gefangengenommen zu haben œ bei 35 eigenen Toten. Viele der getöteten und gefangenen Libyer entpuppten sich als Söldner. Einige waren Sudanesen, die keine klare Vorstellung hatten, wo sie eigentlich waren, und rund 1.700 waren Angehörige der libanesischen DrusenMilizen, die von ihrem Führer Walid Dschumblat um monatlich 500 bis 2.300 Dollar pro Kopf ‡verliehen— wurden. Für den Fall ihres Todes war ihren Familien eine Versicherungssumme von 50.000 Dollar zugesichert worden. Habres Streitkräfte unternahmen große Anstrengungen, die Libyer auch aus dem Rest des Landes zu drängen. Im Juni besuchte er die USA und traf mit Präsident Reagan zusammen. Dabei wurden ihm Lieferungen im Wert von 32 Millionen Dollar zugesichert, einschließlich ‡Stinger—-Boden-Luft-Raketen. Im Austausch durften die Amerikaner sowjetisches Beute-Kriegsgerät erwerben, für das sich das Pentagon besonders interessierte. Im August vertrieben Habres Truppen die Libyer aus dem AouzouStreifen, aber dieser Sieg war nicht von Dauer. Die Franzosen verweigerten die Luftunterstützung, und die Schlacht war zu weit weg von Habres Stützpunkten. Am 28. August holten sich die Libyer den Aouzou-Streifen zurück und flogen erstmals ausländische Journalisten -199-
in die Wüste, um ihren Sieg zu demonstrieren. Habre rächte sich für diese Niederlage, indem er eine Kommando-Einheit 100 Kilometer tief in libysches Gebiet schickte und Matanas-Sarra zerstörte, den wichtigsten Luftwaffenstützpunkt in dieser Region. Die Tschader behaupteten, 1.700 Libyer getötet und 312 Gefangene gemacht zu haben (darunter ein Mann aus der DDR und zwei Jugoslawen), bei 65 eigenen Verlusten. Die OAU erreichte einen Waffenstillstand, der am 11. September 1987 in Kraft trat. Nach amerikanischen Schätzungen hat Gaddafi ein Zehntel seiner Armee eingebüßt, etwa 7.500 Tote und zerstörtes bzw. verlorenes Material im Wert von 1,5 Milliarden Dollar zu verbuchen. DER WAFFENSTILLSTAND Beide Seiten bereiten sich auf den nächsten Krieg vor. Libyen baut Luftwaffenstützpunkte im Aouzou-Streifen, während der Tschad die Verbindungen in den Norden ausbaut und seine Armee wieder auffrischt. Die USA haben ‡Stinger—-Raketen geliefert, Frankreich hält seine Unterstützung von jährlich 70 Millionen Dollar aufrecht. In Abeche bleibt ein kleines Kontingent stationiert, um Angriffen aus dem Osten vorzubeugen, und in N‘Djamena liegt weiterhin eine Staffel ‡Jaguar—. Frankreich hat auch mehrere Versuche unternommen, Tschad und Libyen zu bewegen, die Lösung des Streites über den Aouzou-Streifen einem internationalen Schiedsgericht zu überlassen. Habres alter Freund Numeiri im Sudan wurde durch einen Staatsstreich im April 1985 abgesetzt, und der Sudan steht jetzt in diesem Konflikt auf der Seite Libyens. Gaddafi umwirbt auch mit Erfolg die Regierung von Niger; das Ergebnis dieser Entwicklung waren einige kleinere Guerilla-Angriffe auf den Tschad, die von sudanesischem und nigerischem Gebiet ausgegangen sind. Am 8. März 1988 wurde ein libyscher Angriff auf einen tschadischen Stützpunkt an der Grenze zum Sudan zurückgeschlagen, dabei starben 20 Angreifer, zehn wurden gefangengenommen. Die Angreifer waren Mitglieder der ‡Islamischen Legion—, eine Söldnertruppe, die Gaddafi in Westafrika rekrutiert, hauptsächlich in Benin, Mali und Nigeria. Aber in der libyschen Armee dienen noch mehrere Söldner aus -200-
anderen arabischen Ländern. Nach dem Grenzscharmützel fand eine große antilibysche Demonstration in Khartum statt, ein deutliches Zeichen für die Unpopularität der neuen Verbindung mit Libyen. Goukouni ging nach Algier und setzte die Verhandlungen mit Habre fort. Da sie ohne Erfolg geendet haben, ist es durchaus möglich, daß die Toubou abermals die Seite wechseln. Das diplomatische Geplänkel zwischen dem Tschad und Libyen geht weiter. Im Mai 1988 verweigerte Gaddafi die Teilnahme an den Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag der Gründung der OAU in Addis Abeba, wo andere Staatsoberhäupter planten, ihn zu einem Friedensschluß mit Hissene Habre zu zwingen. Zur Eröffnung der Konferenz am 25. Mai verkündete Gaddafi überraschend, daß der Krieg vorbei sei œ ‡als ein Geschenk für Afrika—. Er sagte allerdings nichts über einen Verzicht auf den Aouzou-Streifen. Im Laufe des Jahres 1988 versuchte Gaddafi mit einer Reihe seiner früheren Gegner in der arabischen Welt und in Afrika zu einem besseren Verhältnis zu kommen. Im Oktober nahmen der Tschad und Libyen wieder diplomatische Beziehungen auf. Habre behandelt Libyen allerdings mit großer Vorsicht. Er drängte Frankreich, das seine Präsenz gerne beenden würde, seine Garnisonen und den Luftwaffenstützpunkt in N‘Djamena aufrechtzuerhalten. Er ließ auch die rund 2.000 libyschen Kriegsgefangenen von 1987 nicht frei, sondern bestand auf seiner Forderung, daß Libyen seine Ansprüche auf den Aouzou-Streifen aufgeben müsse, bevor er die Gefangenen freilassen und dem Abzug der Franzosen zustimmen würde. Gaddafi blieb so unberechenbar wie eh und je. Immerhin hatte er durch den Tschad-Krieg und die Konfrontation mit den USA die Schattenseiten der internationalen Isolation kennengelernt und versuchte nun, sie zu beenden. Habre traut ihm immer noch nicht, und selbst wenn Libyen seine Forderung auf den Aouzou-Streifen fallenlassen sollte, wird er immer das Schlimmste erwarten. Es scheint durchaus möglich, daß der Konflikt fortgesetzt wird œ zumindest so lange Hissene Habre im Tschad herrscht und Muammar Gaddafi in Libyen. Den Libyern geben ihre enormen Erdölvorkommen einen entscheidenden Vorteil: Es ist egal, wieviel von ihrer militärischen Ausrüstung sie auch einbüßen mögen, sie können neue kaufen. Sie können auch Straßen bauen, Flugplätze errichten und Waffen- und Ausrüstungsdepots im Grenzgebiet -201-
anlegen. Das bedeutet, daß sie im etwaigen nächsten Krieg mit kurzen Nachschubverbindungen kämpfen könnten, während die ohnedies zahlenmäßig unterlegenen tschadischen Truppen eine Wüstenstrecke von 1.600 Kilometer überwinden müßten. Ein anderer libyscher ‡Vorteil— wurde im Frühjahr 1989 bekannt. Amerikanische Quellen berichteten, daß Gaddafi eine Fabrik errichte, in der Giftgas erzeugt werden könnte. Es ist nicht schwer zu erraten, welcher von Libyens Nachbarn das potentielle erste Opfer wäre. Im März 1990 brannte diese Anlage angeblich aus. Der Tschad hat hauptsächlich moralische Vorteile. Die Libyer haben kein Verlangen, für den Aouzou-Streifen zu kämpfen und zu sterben, daher muß Gaddafi Söldner anwerben œ die auch nicht unbedingt für Gaddafi und für den Aouzou-Streifen sterben wollen. Habres Wüstenkämpfer haben 1987 ihre Schlagkraft eindrucksvoll demonstriert. Im Aouzou-Streifen wurden sie nur wegen ihrer Erschöpfung und der fehlenden Fliegerabwehr geschlagen. Da die USA sie nun mit ‡Stinger—-Raketen ausgerüstet haben, ist wohl auch diese Achillesferse beseitigt. 1989 wurden die diplomatischen Beziehungen zwischen Libyen und dem Tschad wiederaufgenommen œ Gaddafi verkündete seine Absicht, alle Streitigkeiten mit ausländischen Staaten friedlich beizulegen, und er stimmte dem Vorschlag zu, den Aouzou-Streit dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag vorzulegen. Der Tschad reagierte auf diese plötzliche Mäßigung Gaddafis mit großer Vorsicht.
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UGANDA Geographie: 236.036 km2, so groß wie Großbritannien. Bevölkerung: 16,1 Millionen (nach eigenen Angaben 15,1 Millionen). BSP: 230$/Einw. (1986). Flüchtlinge: 250.000 innerhalb Ugandas, 96.000 ugandische Flüchtlinge im Ausland. Nach Uganda sind rund 124.000 Menschen geflohen, davon 118.000 aus Rwanda. Verluste: 1966 starben ca. 2.000 Menschen, als Obote die Buganda unterdrückte. Während der Präsidentschaft Idi Armins starben 250.000 bis 350.000 Menschen. Der Krieg gegen Tansania 1978-1979 forderte 4.000 Menschenleben. Zwischen 1979 und 1986, als Yoweri Museveni an die Macht kam, starben weitere 100.000 bis 300.000. Nach einem US-Außenministerium-Bericht wurden seit damals bis zu 10.000 Menschen getötet. Uganda genießt das seltene Privileg, von einem einzigen Mann zerstört worden zu sein: Feldmarschall Präsident auf Lebenszeit Dr. Idi Amin Dada VC. Die anderen Länder in der Welt haben am meisten unter Kriegen von außen oder innen gelitten, unter Hungersnöten, Massakern, Pogromen und Korruption, sind normalerweise das Opfer von Ideologien, ethnischen Rivalitäten, äußerer Einmischung und den Ambitionen und der Habgier vieler Menschen. Obwohl schon Idi Amins Vorgänger Milton Obote versuchte, eine Diktatur zu errichten und der Wirtschaft und Struktur des Landes erheblichen Schaden zufügte, so war doch der vollständige Ruin, der darauf erfolgte, das Werk von Idi Amin. In der Zeit seiner Präsidentschaft zwischen 1971 und 1979 wurden 250.000 bis 350.000 Ugander getötet. Die 80.000 Menschen zählende asiatische Bevölkerungsgruppe wurde vollständig aus dem Land vertrieben; die Wirtschaft wurde völlig zerstört und die Gesellschaftsordnung so gründlich zerschlagen, daß sie sich davon nicht mehr erholt hat. Nach der Vertreibung Amins durch tansanische Truppen verfiel das Land in einen Zustand des andauernden Bürgerkrieges und wüsten -203-
Banditentums. Schätzungen über die Zahl der Todesopfer reichen von 100.000 bis 300.000. Aus diesem blutigen Chaos ging 1986 eine neue Regierung unter dem Guerillaführer Yoweri Museveni hervor. Zwar wurde im Land noch weiter gekämpft, doch schließlich ergab sich im Sommer 1988 auch die letzte Guerillaorganisation. Es ist jetzt noch zu früh, um zu beurteilen, ob es Museveni gelingen wird, die Nation wieder aufzubauen. Sechzehn Jahre der Zerstörung haben ihm kaum ein Fundament gelassen. GESCHICHTE Im 19. Jahrhundert bestand Uganda aus einer Reihe Stammeskönigtümer, von denen Buganda im Süden das bedeutendste war. Britische Entdecker auf der Suche nach den Quellen des Nil kamen in der Mitte des Jahrhunderts nach Uganda, und bei der Aufteilung Afrikas in den achtziger Jahren steckten die Briten ihre Claims mit Kenia, Uganda und dem Sudan ab. Schließlich wurde Uganda 1894 ein Protektorat. Die gesamte Periode von der britischen Besitzergreifung in Kenia bis zur Unabhängigkeit für Kenia, Uganda und Tanganijka war kürzer als das Leben eines Mannes: Jomo Kenyatta wurde 1889 geboren, vor der Ankunft der Briten, und noch ein Jahrzehnt nach ihrem Abzug war er Präsident des unabhängigen Kenia, bis zu seinem Tod im Jahr 1978. Die Verfassung, die die Briten bei ihrem Abzug 1963 in Uganda hinterließen, sah das repräsentative Amt eines Staatspräsidenten und den faktisch regierenden Ministerpräsidenten vor. Der erste Präsident war der Kabaka (König) von Buganda, der erste Premierminister Milton Obote aus dem Stamm der Langi. Die erste Krise der neuen Nation war eine Armeemeuterei im Januar 1964 nach vorangegangenen Meutereien in den Armeen von Kenia und Tansania. Sie wurden allesamt von britischen Truppen niedergeschlagen. 1966 setzte Obote den Kabaka ab; Oberstleutnant Arnin wurde mit der Besetzung Kampalas betraut. Dabei wurden rund 2.000 Baganda getötet. Obote benötigte die Unterstützung der Armee, um Präsident zu werden, dann aber entglitt ihm die Kontrolle. Während einer Auslandsreise Obotes gelang Amin œ nun Generalmajor œ ein -204-
Staatsstreich, und am 21. Januar 1971 rief er sich zum Präsidenten aus. DIE JAHRE UNTER AMIN Amin stammt aus dem kleinen Stamm der Kakwa, die im äußersten Osten des Landes an der Grenze zum Sudan siedeln. Er wurde in die britische Ostafrika-Armee rekrutiert und war Schwergewichtsboxmeister der King‘s East African Rifles œ ein großer, eindrucksvoller Mann, ein glänzender Ausbilder. Die Briten erkannten einige seiner Fähigkeiten und beförderten ihn zum Offizier, aber viele Jahre lang unterschätzten sie œ ebenso wie Milton Obote œ den Machthunger und die Skrupellosigkeit des riesigen, genialen Soldaten. Arnin begriff von Anfang an, daß die Macht aus den Läufen der Gewehre kommt, und er beschloß, diese Gewehre zu beherrschen. Sein Loyalitätsbegriff war stammesbezogen: Er rekrutierte seine Stammeskameraden für die Armee, ebenso wie auch Männer aus Stämmen der anderen westlichen Nil-Provinzen und aus angrenzenden Bezirken des Sudan und Zaires. Als er sich zum Präsidenten machte, festigte er seine Macht, indem er sich der Soldaten entledigte, die anderen Stämmen angehörten, insbesonders Langi und Acholi. Er tat dies auf höchst effiziente Weise: er ließ sie umbringen. Im Juli 1971 waren 5.000 Mann tot, ungefähr die halbe Armee. Der Rest wurde später getötet. Die neue Armee bestand zu 40 Prozent aus Moslems œ in einem Land, in dem ungefähr 5 Prozent der Einwohner dem Islam angehörten. Die Hälfte der 25.000 Soldaten kam aus dem Sudan, ein Viertel aus Zaire, die übrigen waren Ugander aus dem westlichen Nilland. 1972 vertrieb Arnin völlig überraschend alle Asiaten, die in Uganda lebten. Sie waren zumeist Inder und hatten die britische Staatsbürgerschaft erhalten, als Uganda unabhängig geworden war. Kenia folgte Ugandas Beispiel, wenn auch weit weniger brutal, und Großbritannien nahm widerstrebend die meisten der Vertriebenen auf. Die Auswirkungen auf die ugandische Wirtschaft waren katastrophal. Amin erlaubte seinen Soldaten die Plünderung asiatischen Eigentumes und belohnte seine Anhänger mit den Steilen -205-
und Verträgen, die die Asiaten hinterlassen hatten. Nur wenige von ihnen waren in der Lage, die Geschäfte der Asiaten zu übernehmen, und so mußte Uganda größtenteils ohne sie auskommen. Mittlerweile hatte Amin enge Beziehungen zu Muammar Gaddafi in Libyen aufgenommen, der seinen antiimperialistischen moslemischen Gesinnungsgenossen mit Waffen ausrüstete, seine Spezialtruppen ausbildete und ihm die Ausrüstung für seinen Terrorapparat verschaffte. Amin errichtete mit der Unterstützung des Briten Bob Astles das ‡Staatliche Untersuchungsbüro— (SRB), das ausgeklügelte Operationen gegen alle oppositionellen Gruppen durchführte. Das Büro folterte und ermordete Tausende. Der amerikanische Terrorist Frank Terpil lieferte dem SRB die notwendige Ausrüstung. 1977 schätzte Amnesty International, daß rund 300.000 Menschen dem Aminschen Terror zum Opfer gefallen seien œ dabei hatte er noch zwei Jahre der Schreckensherrschaft vor sich. Im Juni 1975 wurde ein britischer Lehrer in Uganda, Denis Hills, wegen Hochverrat angeklagt und zum Tod verurteilt œ er hatte Idi Amin in einem unveröffentlichten Manuskript als ‡Dorftyrann— bezeichnet. Die britische Regierung schickte Generalleutnant Sir Charles Blair, den Kommandeur der King‘s East African Rifles zur Dienstzeit Idi Amins und Major Iain Grahame, Amins früheren Bataillonskommandanten als Fürsprecher für Hills nach Uganda. Amin verschob die Hinrichtung, und am 20. Juli flog der britische Außenminister James Callaghan nach Kampala und holte Hills ab. Amin verkündete: ‡Das beweist wohl, daß ich nicht verrückt bin, wie britische Zeitungen sagten.— Der Feldmarschall meinte, daß er mit diesem Zwischenfall über die Briten gesiegt habe und verlieh sich das britische Victoria Cross. Am 27. Juni 1976 entführten palästinensische und westdeutsche Terroristen eine Air France-Maschine von Tel Aviv via Athen nach Paris und landeten auf dem Flugplatz von Entebbe in Uganda. Die Deutschen œ ein Mann und eine Frau œ waren Mitglieder der ‡BaaderMeinhof-Bande—, die beiden Araber Mitglieder der ‡Volksfront für die Befreiung Palästinas—. An Bord der Maschine waren 256 Passagiere und 12 Mann Besatzung. Kurz nach der Landung in Entebbe wurden die nichtisraelischen und nichtjüdischen Passagiere -206-
freigelassen und nach Frankreich zurückgeschickt. Der Flugkapitän blieb mit 89 israelischen Passagieren und einer älteren britischen Jüdin, Dora Bloch, zurück. Amin begrüßte die Flugzeugentführer herzlich und erlaubte ihnen, die Maschine zu verlassen und ihre Gefangenen in einen Flugplatzhangar zu bringen. Während die Hijacker mit Israel, Frankreich und Großbritannien verhandelten, bewachten ugandische Soldaten die Gefangenen. Anderen Terroristen wurde erlaubt, sich den Flugzeugentführern anzuschließen. Es war ganz klar, daß Uganda die Terroristen unterstützte. Die Israelis befreiten die Geiseln in der Nacht des 4. Juli mit der Unterstützung anderer Länder œ vor allem mit Hilfe Kenias, das den drei Einsatzmaschinen erlaubte, auf dem Rückflug in Nairobi zu landen und aufzutanken. Die vier Flugzeugentführer, neun weitere Terroristen, 35 ugandische Soldaten und ein Israeli wurden bei dieser israelischen Aktion getötet. Nebenbei zerstörten die israelischen Soldaten in Entebbe 11 MIG der ugandischen Luftwaffe, die auf dem Flugplatz abgestellt waren. Es war eine der kühnsten, wagemutigsten und erfolgreichsten Militäraktionen der Gegenwart, Die erkrankte Dora Bloch war nach Kampala ins Spital gebracht worden, so daß sie als einzige Geisel zurückgelassen werden mußte. Idi Amin schickte Soldaten ins Spital, und sie ermordeten sie in ihrem Bett. Amin ließ jeden töten, der als Oppositioneller gelten konnte und noch nicht ins Ausland entkommen war œ das bedeutete für den Großteil der besser gebildeten und der kaufmännischen Schichten den Tod. Er tötete den Oberrichter und den Armeegeneralstabschef gemeinsam. Eine Lieblingsmordtechnik von ihm bestand darin, eine Reihe von Männern aneinanderzuketten. Dann bekam der zweite einen Prügel in die Hand gedrückt und mußte den ersten erschlagen. Dann bekam der dritte in der Reihe den Knüppel und mußte den zweiten erschlagen. Und so fort. Der letzte wurde erschossen. Die Produktionswirtschaft fiel zwischen 1971 und 1978 um 50 Prozent ab, und die Tee-, Kaffee-, Baumwolle- und Zuckerplantagen haben bis heute noch nicht den alten Stand erreicht. Amin richtete einen ‡Pendelverkehr— zwischen Entebbe und dem Flughafen Stansted bei London ein; so wurde Kaffee exportiert, und kostspielige Autos, Alkohol, Kameras und andere Luxusgüter wurden importiert œ für ihn und sein Gefolge, und für die Soldaten, die auf diese Weise dem -207-
Mangel und auch der Hungersnot entgingen, mit denen die übrigen Ugander zu kämpfen hatten. Amins Beziehungen zu den Nachbarstaaten waren durchwegs schlecht. Milton Obote hatte in Tansania Zuflucht gefunden und versucht, einen Guerillakrieg gegen Amin aufzuziehen, aber er hatte nur wenig Erfolg. Amin haßte Julius Nyerere, den Staatspräsidenten von Tansania, und einmal schlug er einen Boxkampf zur Klärung ihrer Streitigkeiten vor, mit Muhammad Ali als Schiedsrichter, und er bot an, daß er mit einem hinter dem Rücken festgebundenen Arm kämpfen würde. Die Herausforderung wurde ignoriert. Am 16. Februar 1977 wurde der anglikanische Erzbischof von Uganda, Janane Luwum, auf Amins Befehl ermordet. Im Mai 1978 ließ Amin einen prominenten früheren keniatischen Minister, Bruce McKenzie, durch eine Bombe in seinem Flugzeug ermorden. 1974 tötete er seine eigene Frau. Im Laufe des Jahres 1977 gab es in Amins engstem Kreis eine Säuberungswelle, die in der Ermordung des Verteidigungsministers gipfelte. Frank Terpil behauptete später, daß der Kopf des Mannes Idi Amin während eines offiziellen Abendessens auf einem Tablett präsentiert wurde. DER KRIEG GEGEN TANSANIA Ungeachtet aller Anstrengungen Idi Amins herrschte in der Armee Unruhe œ vielleicht fürchteten viele Offiziere, daß sie als nächste an der Reihe sein könnten. Im September 1978 befahl Idi Amin die Invasion Tansanias œ möglicherweise um sie abzulenken, vielleicht aus blindem Irrsinn. Er erhob Anspruch auf ein kleines Gebiet im äußersten Nordwesten von Tansania, westlich des Victoria-Sees, den Kagera-Bogen. Uganda provozierte mehrere Grenzzwischenfälle, und am 30. September schickte Amin seine Armee über die Grenze zum Angriff. Die ugandischen Soldaten kamen ungefähr 30 Kilometer weit und töteten rund 1.500 Zivilisten. Tansania war auf diesen Krieg völlig unvorbereitet. Nur eine Brigade der tansanischen Armee war einsatzbereit, aber sie mußte über 2.400 Kilometer auf der Straße und mit der Eisenbahn an die Front verlegt werden. Abgesehen von diesem kläglichen Beginn, -208-
gelang es den Tansaniern binnen vier Monaten, ihre Armee auf eine Stärke von 75.000 Mann zu bringen, sie gut auszubilden und auszurüsten und zum Gegenangriff anzutreten œ dieser endete mit der Besetzung Ugandas. Die Tatsache, daß die Ugander keine besondere Kampfesfreude zeigten, sollte die tansanische Leistung nicht schmälern. Die einzige ernsthafte Panne passierte ihnen, als tansanische Fliegerabwehrbatterien versehentlich drei eigene MIGs abschossen. Kagera wurde im November befreit. Am 21. Januar 1979 überschritten die Tansanier die ugandische Grenze und rückten auf Kampala vor. Ihr Hauptproblem war die Logistik, aber wenigstens das Nachschubproblem konnten sie durch die riesigen Mengen an Waffen und Material lösen, die sie von den Ugandern eroberten œ alles, von Lastwagen bis Panzern. Im Januar und Februar schossen sie 19 ugandische Flugzeuge ab, und danach gab die ugandische Luftwaffe den Kampf auf. Die Tansanier wurden bei ihrem Einmarsch von einer kleinen Einheit der Anhänger Obotes unterstützt, angeführt von Titus Okello, und von einer unabhängigen Guerillaorganisation unter Yoweri Museveni. Oberst Gaddafi schickte 2.000 libysche Soldaten œ hauptsächlich Angehörige der Miliz, nicht der regulären Armee œ zur Rettung Amins, und sie kämpften zusammen mit einer kleinen Gruppe PLOTerroristen, die in Uganda ausgebildet wurden. Im März traten die Libyer in der einzigen wirklichen Schlacht dieses Krieges zum Gegenangriff auf die Tansanier an. Von den 1.000 beteiligten Libyern wurden 200 getötet, einer geriet in Gefangenschaft. Die tansanischen Schulungsoffiziere hatten den Soldaten erzählt, daß die Araber nach Afrika zurückkämen, um den Sklavenhandel wieder aufzunehmen. Bei der Einnahme Entebbes wurden weitere 300 Libyer getötet. Am 7. April 1979 fiel Entebbe, am 10. April Kampala. Kampalas Einwohner und tansanische Soldaten plünderten gemeinsam die Stadt. Jedes Geschäft, jedes Büro, jedes leere Haus œ und auch solche, die von ihren Bewohnern nicht verteidigt werden konnten œ wurden zerstört. (Die Tansanier hatten große Schwierigkeiten, für die Angelobungszeremonie der neuen Regierung am 13. April 12 Stühle -209-
aufzutreiben.) Als sie schließlich das Haus des Sicherheitsdienstes durchsuchten, fanden sie den Keller vollgestopft mit Leichen und die Büros angeräumt mit teuerster elektronischer Ausrüstung und endlosen Geständnissen über oppositionelle Aktivitäten, viele von verblüffender Genauigkeit. Ugandische Exilanten hatten die ‡Uganda National Liberation Front— (UNLF) gegründet, und stimmten der Ernennung von Yusufu Lule zum Staatspräsidenten zu. Der angesehene Universitätslehrer schien für alle Stämme und Parteien gleichermaßen akzeptabel. Er kam im Gefolge der tansanischen Truppen nach Kampala und trat sein Amt an. Aber er übte niemals irgendeine Autorität aus: Denn es gab keine. Die Regierung war ein Phantom. Lule ernannte einige Minister ohne Rücksprache mit der UNLF. Er wurde am 19. Juni 1979 wieder abgesetzt und durch Godfrey Binaisa abgelöst; Yoweri Moseveni wurde Verteidigungsminister. Der neue Präsident war so machtlos wie der alte. Mittlerweile gewannen die Tansanier die vollständige Kontrolle über das Land. Sie gingen mit großer Vorsicht vor, da sie fürchteten, daß Amin irgendwo eine letzte Festung errichtet haben könnte, so etwa in seinem Heimatort, aber in Wahrheit hatte er das Land verlassen, als die tansanischen Truppen Kamapala erreicht hatten. Er suchte Zuflucht in Saudi-Arabien. In diesem Krieg wurden ungefähr 4.000 Menschen getötet: 373 tansanische Soldaten, 150 ugandische Guerillas an der Seite der Tansanier; 600 Libyer; 1.000 Soldaten Idi Amins; 1.500 tansanische Zivilisten, die von ugandischen Soldaten massakriert wurden; und rund 500 ugandische Zivilisten. DIE ZEIT NACH AMIN Unmittelbar nach dem Ende des Krieges herrschte der Terror. Amins Armee wurde zwar aufgelöst, aber die Soldaten behielten ihre Waffen und schlossen sich zu Banden zusammen. Den Guerillatruppen gelang es nicht, eine neue Staatsordnung zu begründen œ daher gab es gar keine. Amins Soldaten unternahmen von ihren Stützpunkten im Sudan und in Zaire Vorstöße über die Grenze und töteten wahllos Zivilisten und jeden unbewaffneten Soldaten, den -210-
sie finden konnten. Schließlich begann der Kampf der Sieger gegeneinander: Binaisa wurde von der Armee am 12. Mai 1980 abgesetzt. Bei den Wahlen im folgenden Dezember kam es zu offenem Betrug. Dessenungeachtet rief sich Milton Obote zum Sieger aus und wurde zum Präsidenten ernannt. Der wichtigste Guerillaführer, Yoweri Moseveni, zog sich mit seinen Männern in den Busch zurück, wo er die ‡National Resistence Army— (NRA) gründete und einen Bürgerkrieg begann. Die ugandische Armee unter Führung des alten Generals Titus Okello konnte weder Moseveni abwehren noch die Amin-Banditen in Griff bekommen. Tansania zog seine letzten Soldaten im Juni 1981 aus Uganda ab, da Nyerere sich für unzuständig erklärte, in Nachbarländern für die innere Ordnung zu sorgen. Obote klammerte sich an die Macht und verbrachte seine Zeit damit, Rache an seinen zahlreichen Feinden zu nehmen und seine Herrschaft œ gestützt auf seinen Stamm œ wiederzuerrichten. Uganda stürzte in die totale Anarchie. Mosevenis NRA dehnte ihre Kontrolle über den größten Teil des Südens und des Westens des Landes aus und führte einen erbarmungslosen Krieg gegen Okellos Truppen nördlich von Kampala. 1985 gab es Studentenunruhen, die Obote mit großer Brutalität niederschlug. Schließlich brachte der Konflikt zwischen den Angehörigen von Obotes Langi-Stamm und den Acholi das Faß zum Überlaufen. Obote wurde am 27. Juli 1985 von Okello abgesetzt und floh wieder nach Tansania. Okellos Armee zerfiel sofort, so wie Amins Armee sechs Jahre zuvor. Seine Soldaten schlugen sich in den Busch, nahmen ihre Waffen mit œ und schon begann eine Neuauflage des Banditentums und des Bürgerkriegs. Nach sechs Monaten fruchtloser Verhandlungen zwischen Okello und Moseveni brach die Regierung zusammen. Moseveni rief eine Regierung der nationalen Einheit aus und sich selbst am 29. Januar 1986 zum Präsidenten. Moseveni gelang es, im südlichen Teil des Landes so etwas wie Ordnung zu schaffen, aber der Norden und der Westen wurden den Banditen überlassen, die sich nunmehr als ‡Uganda People‘s Democratic Army— (UPDA) bezeichneten und rund 40.000 Mann stark waren. Zwischen dem Sturz von Idi Amin und Mosevenis Sieg -211-
wurden wiederum mindestens 100.000 Menschen getötet, nach manchen Schätzungen sogar bis zu 600.000. Eine neue Figur trug das ihre zum allgemeinen Chaos bei œ Alice Lakwena, die Prophetin und Führerin der Sekte ‡Heilig-GeistBewegung", die vom Acholi-Stamm im nördlichen Uganda unterstützt wurde. 1985 sagte sie der Regierung den Kampf an. Lakwena versprach ihren Gefolgsleuten Unbesiegbarkeit, aber im August 1987 starben 400 Heilig-Geist-Krieger im Kampf gegen Regierungssoldaten. Zum Ende des Jahres war Lakwenas Bewegung zerschlagen, ihre Armee œ am Höhepunkt ihrer Macht rund 7.000 Männer œ auf 500 geschrumpft. Sie suchte Zuflucht in Kenia und verbrachte drei Monate im Gefängnis, wurde dann aber begnadigt. Die Beziehungen zwischen Uganda und seinen Nachbarn sind weiterhin schwierig. Im Dezember 1987 wurden mindestens 15 Menschen bei Zwischenfällen an der Grenze zu Kenia getötet, und die Grenze wurde für einige Tage gesperrt. Im Frühjahr 1988 marschierten Mosevenis Truppen wieder in Norduganda ein, und 8.000 UPDA-Soldaten ergaben sich und wurden amnestiert. Andere UPDA-Führer verweigerten die Anerkennung des Waffenstillstandes und setzten den Kampf fort, vor allem im Osten des Landes. Die Regierung setzte eine Kommission zur Untersuchung der Greueltaten der Vergangenheit ein, die öffentliche Hearings in Kampala abhielt. Die Dinge, die ans Licht kamen, waren mindestens so schrecklich wie alles, was in Pol Pots Kambodscha oder in Zaire unmittelbar nach der Unabhängigkeitserklärung geschehen war. Regierungsbeauftragte sammelten die Knochen Zehntausender Menschen ein, die ermordet und deren Leichen auf den Feldern liegengelassen worden waren. In Kampala und allmählich auch im ganzen Land herrschte wieder normales Leben. Aber Ugandas Politik bleibt ein äußerst zerbrechliches Gebilde, da sie in extremer Weise unter zwei der afrikanischen Flüche leidet: Korruption und Stammesdenken. Beamte, die all die Kriege, Massaker, Säuberungen und Revolutionen überlebt haben, haben jeden Respekt vor dem Allgemeinwohl verloren, und sie stehlen alles, was sie in die Hände bekommen. Die Stammeszwistigkeiten, die von -212-
Obote und Amin aufgerührt wurden und zu den schlimmsten Massakern führten, wurden noch nicht beigelegt. Moseveni hat vielleicht eine Schlacht gewonnen, aber den Frieden zu erringen, wird noch weit schwieriger sein.
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ASIEN
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AFGHANISTAN
Geographie: Fläche 647.497 km2, doppelt so groß wie Italien. Die Hälfte des Landes liegt auf einer Höhe von mehr als 2.000 Meter; ein Fünftel ist Wüste. Das Hindukusch-Gebirge, ein Ausläufer des Himalaya, erstreckt sich rund 1.000 Kilometer von Ost nach West und teilt das Land. Diese Berge sind im Durchschnitt 4.500 Meter hoch, die Pamir-Kette gehört mit mehr als 100 Gipfeln zwischen 6.500 und 8.000 Meter zu den höchsten Gebirgen der Welt. Bevölkerung: Die aktuellen Schätzungen reichen von acht bis neunzehn Millionen. 1979 wurde die Bevölkerung mit 13 Millionen gezählt, 1989 auf 16,6 Millionen hochgerechnet. Die größten Stämme: Paschtunen 6:500.000, Tadschiken 3,500.000, Usbeken 1.000.000, Hesoren 870.000, Aimaken 800.000, Farsiwanen 600.000, Balutschen 100.000. Darüber hinaus gibt es ein Dutzend kleinerer Stämme. Die Tadschiken und Usbeken sind mit den größeren Völkern in den zentralasiatischen Republiken der Sowjetunion verwandt, die Paschtunen sind gleichmäßig auf Afghanistan und Pakistan verteilt, die Balutschen siedeln ebenfalls in Pakistan und im Iran. Von den vielen Sprachen sind Paschtu und der persische Dialekte Dari die wichtigsten. BSP: 260 $/Einw. Flüchtlinge: Ende 1988 zählte das US-Flüchtlingskomitee 7,6 Millionen afghanische Flüchtlinge, davon 2 Millionen im Landesinneren, 2,35 Millionen im Iran, 3,272.000 in Pakistan und 5.200 in Indien. Verluste: Die UdSSR beklagte 15.000 Tote, mehr als 300 Mann waren vermißt, es gab mehr als 35.000 Verwundete. Die Schätzungen über die afghanischen Verluste gehen weit auseinander; von 100.000 bis 1 Million. Die US-Regierung glaubt an die letzte Zahl, die jedoch zu hoch gegriffen sein dürfte, selbst wenn man die Opfer von Hungersnot und Seuchen in Afghanistan oder in den Flüchtlingslagern miteinbezieht. Bereits vor dem Krieg starb jedes fünfte afghanische Kind vor seinem 5. Geburtstag. -215-
Afghanistan hatte das Unglück, zum Höhepunkt des sowjetischen Expansionismus zu werden. Es war das letzte Land, in dem eine kleine Gruppe von Revolutionären mit sowjetischer Hilfe die Regierung stürzte und einen kommunistischen Staat etablierte, und es war das letzte Land, auf das die sowjetische Führung die ‡Breschnjew-Doktrin— anwendete. Dieser zufolge übernahm für ein Land, das sich einmal für den Kommunismus als Staatsform entschlossen hatte, das ‡Mutterland des Sozialismus— die Garantie, daß es für immer kommunistisch bleiben würde (siehe OSTEUROPA, TSCHECHOSLOWAKEI). Die Afghanen werden als jenes Volk in die Geschichte eingehen, das als erstes eine sowjetische Okkupationsarmee besiegt und aus dem Land geworfen hat. Der kommunistische Staatsstreich ereignete sich im April 1978, und bald darauf folgte eine generelle Erhebung gegen die neue Regierung. Es wurde bald ersichtlich, daß sich diese ohne sowjetische Hilfe nicht halten könnte, so investierten die Sowjets achtzehn Monate lang Waffen, Geld und Berater in Afghanistan, aber trotzdem drohte die Regierung zu unterliegen. Schlimmer noch, die afghanischen Kommunisten zerfielen in zwei Fraktionen, die einander einen mörderischen Kampf lieferten. Schließlich fielen die Sowjets im Dezember 1979 in Afghanistan ein, installierten in Kabul eine Marionettenregierung und nahmen den Krieg gegen die Rebellen auf. Sie waren nie in der Lage, das Land außerhalb der Städte zu beherrschen und den Aufstand niederzuschlagen. Eine Reihe greiser Sowjetführer wurde mit der Tatsache konfrontiert, daß sie sich auf einen hoffnungslosen Krieg eingelassen hatten, der daheim äußerst unpopulär war und international verheerende Auswirkungen auf ihr Image hatte. 1988 durchschlug Michail Gorbatschow den gordischen Knoten, indem er ganz einfach die sowjetischen Truppen heimholte. Der letzte sowjetische Soldat überquerte die Grenze von Afghanistan in die UdSSR am 15. Februar 1989. Das Land blieb in einem Zustand der Verwüstung zurück und war auch mit dem Problem der Rücksiedelung von mehr als 5 Millionen Flüchtlingen konfrontiert œ die Häuser der meisten waren zerstört. Afghanistan wird vielleicht wie der Libanon die Schrecken des Bürgerkrieges auch weiterhin durchmachen, und es ist auch nicht -216-
absehbar, ob ausländische Mächte, allen voran die UdSSR, die Afghanen tatsächlich in diesem Bürgerkrieg alleinlassen werden. GESCHICHTE Wie viele andere Staaten der Welt ist Afghanistan eine völlig unnatürliche Schöpfung. Es ist ein geographischer Begriff, ein Gebiet auf der Landkarte mit oktroyierten Grenzen, bewohnt von Völkern, die sich zeit ihrer Geschichte bekriegt haben. Der größte Stamm in Afghanistan sind die Paschtunen, die mehr als ein Drittel der afghanischen Bevölkerung ausmachen. Aber die Hälfte des Volkes der Paschtunen lebt in Pakistan, und kein Mitglied des Stammes, in keinem der beiden Länder, akzeptiert die Grenze. Für Bergbewohner bedeuten hohe Berge keine Barriere: Das sind sie nur in der Vorstellung von Flachlandbewohnern. Und der Oxus-Fluß, der die Grenze zwischen Afghanistan und der Sowjetunion bildet, bedeutet nicht mehr als eine Grenze, die seit der Ankunft der Russen vor 100 Jahren Verwandte auf beiden Ufern trennt. Das Gebiet des heutigen Afghanistan war durch viele Jahre Teil größerer Reiche. Diese Reiche umfaßten auch Teile Zentralasiens, die jetzt sowjetische Republiken sind, teilweise oder gänzlich zum Iran gehören, und den Pundschab, der heute großteils pakistanisches Staatsgebiet ist. In der Antike war Afghanistan Teil des Persischen Reiches. Dann wurde es von Alexander dem Großen erobert, und später eroberten seine Stämme ganz Persien und Mesopotamien wie auch den Pundschab. Die Mongolen marschierten durch, später Tamerlan, der lahme Schafhirte aus Samarkand, der alles zwischen Delhi und Anatolien eroberte und den türkischen Sultan in einen Käfig steckte. Im 16. Jahrhundert eroberte Babur der Tiger, ein Nachkomme von Dschingis Khan und Tamerlan, Nordindien und errichtete das Reich der Mogulen in Delhi. Er wählte Kabul für seine Grabstätte aus, und einer seiner Nachkommen errichtete in Agra den Tadsch Mahal, als Grabmal für seine Gemahlin. Im 18. und 19. Jahrhundert eroberten die Briten zwar Indien, aber sie unternahmen niemals ernsthafte Anstrengungen, ihr Herrschaftsgebiet jenseits des Khyber-Passes auszudehnen. Sie besetzten Afghanistan dreimal, 1838, 1878 und 1919. Der erste Krieg -217-
endete mit einer der großen Katastrophen der Geschichte des britischen Empire: Das Expeditionskorps wurde während des Rückzugs aus Kabul ausgelöscht, und der König, den die Briten in Kabul eingesetzt hatten, wurde ermordet. 1878, als sie das Land neuerlich besetzten, mußten sie abermals feststellen, daß sie es nicht halten konnten und zogen sich œ diesmal allerdings mit Erfolg œ zurück. Der dritte Feldzug war kurz und unbedeutend. Es war einer der vielen Fehler der sowjetischen Führer, daß sie die Geschichte Afghanistans niemals sorgfältig studiert haben. Die Briten wiesen dem Land die Rolle eines Pufferstaates zwischen Indien und Rußland zu, und die Russen akzeptierten diesen Gedanken. Die Grenzen wurden gezogen, um zwei Weltreiche voneinander zu trennen, auch wenn das bedeutete, im Osten einen Landstreifen hinzuzufügen, durch den Afghanistan heute œ durch einige der höchsten Berge der Welt œ an China grenzt. Einer Dynastie, die in Kabul südlich des Hindukusch im 18. Jahrhundert ein Königreich errichtet hatte, wurde eine Gebietsausdehnung im Norden zugestanden, bis zum Oxus-Fluß. Ihre Mitglieder wurden die Herrscher des neuen Königreichs. Nach der Russischen Revolution 1917 setzte die Sowjet-Regierung die Politik der Zaren fort œ und mischte sich nicht ein. So blieb Afghanistan in britischer Abhängigkeit und unterhielt gute Beziehungen zur Sowjetunion, bis die Briten Indien aufgaben. Die Schwierigkeiten begannen 1947 mit der Unabhängigkeit Indiens. Britisch-Indien wurde aufgeteilt, und Pakistan übernahm die alte britische Grenzziehung. Die afghanische Regierung, die bei der Aufteilung des Pundschab nicht befragt worden war, richtete umgehend Gebietsforderungen an Pakistan. Sie forderte, daß der nordwestlichen Grenzprovinz das Recht auf Selbstbestimmung eingeräumt werden müßte œ von der sich Afghanistan die Annexion erwartete. Pakistan verweigerte aber die Behandlung dieser Grenzfrage, und daraus ergab sich ein anhaltender Konflikt zwischen den beiden Ländern. Afghanistan wandte sich um Hilfe an seinen Nachbarn im Norden. Die Vereinigten Staaten waren bereits mit Pakistan verbündet und unterstützten daher seinen Anspruch auf Paschtunistan, und folgerichtig waren die Sowjets bereit, auf die Seite Afghanistans zu treten. -218-
Sie wurden die hauptsächlichen Unterstützer Afghanistans, und das schloß auch militärische Hilfe ein. Die Vereinigten Staaten trugen zwar wesentlich zur Errichtung des Straßennetzes bei, mit dem Afghanistan überhaupt erst erschlossen wurde, aber die herausragendste Ingenieurs-Leistung lieferten die Sowjets: Sie errichteten eine Straße durch den Hindukusch einschließlich des 1.600 Meter langen Salang-Tunnels in 3.000 Meter Höhe, die Kabul mit der sowjetischen Grenze verbindet. Eine Gruppe radikaler Intellektueller gründete am 1. Januar 1965 die ‡Volksdemokratische Partei Afghanistans— (PDPA). Die Hauptführer waren Nur Mohammed Taraki und Babrak Karmal. Vier Jahre später spaltete sich die Partei: Taraki führte die ‡Khalq— (Die Massen), Babrak die ‡Parcham— (Das Banner); beides waren ursprünglich die Namen von Zeitungen, die die beiden Männer herausgegeben haben. Die Khalquis waren Leninisten, die eine kleine militante Kaderpartei als Vorhut des Proletariats errichten wollten, die so rasch wie möglich an die Macht kommen und den Kommunismus im ganzen Land zum Sieg führen sollte. Parcham vertrat die Meinung, daß das Land noch nicht reif für den Kommunismus sei und versuchte, einen gemäßigten Weg einzuschlagen. Für diese Spaltung gab es noch einen anderen Grund. Die KhalqMitglieder waren großteils die Söhne paschtusprachiger Bauern und Nomaden. Die Mitglieder und Führer der Parcham kamen zumeist aus den Städten und sprachen Dari, einen persischen Dialekt. Tarakis Vater war Hirte, Babraks Vater General. Taraki war einige Jahre Presseattache an der Botschaft in Washington. Nurul Amin, der radikalste der Khalq-Führer, hatte in den stürmischen sechziger Jahren an der New Yorker Columbia University studiert. Ungeachtet ihrer leninistischen Ausrichtung befand auch die Sowjetunion Afghanistan noch nicht reif für den Kommunismus œ zunächst einmal gab es gar kein Proletariat. So unterstützte die UdSSR die Parcham. Aber unglücklicherweise war die Khalq besser geführt und erfolgreicher, insbesonders rekrutierte sie mehr Gefolgsleute in der Armee. Von 1953 bis 1963 war der Chef der afghanischen Regierung Sardar Mohammad -219-
Daud Khan, Cousin und Schwager von König Zahir Shah. Er war ein erbitterter Gegner Pakistans in der Causa Paschtunistan und baute die Beziehungen zur UdSSR aus; außerdem unterstützte er vorsichtige Bemühungen zur wirtschaftlichen und politischen Entwicklung des Landes. 1963 entließ der König Daud und übernahm selbst die Regierungsgeschäfte. Seine Regierungszeit war unbedeutend. Er war genauso autoritär wie Daud, aber weniger tüchtig. Bei einer Hungersnot im Jahr 1972 starben 100.000 Menschen, und als im Jahr darauf Zahir Shah außer Landes war, unternahm Daud einen Staatsstreich und rief die Republik aus. Das tat er mit der Unterstützung der Parcham-Fraktion der PDPA, wahrscheinlich auch mit Billigung der UdSSR. Doch plötzlich befreite er sich während dieser zweiten Regierungsperiode aus der absoluten Abhängigkeit der UdSSR und verbesserte die Beziehungen des Landes zu Pakistan œ dies auf Drängen des Schah von Persien, der gerne die Führungsrolle in einer Allianz dieser drei Länder übernommen hätte. Die Wiederannäherung an Pakistan war nicht einfach. Sowohl Präsident Bhutto als auch Präsident Zia unterstützten die Paschtun-Guerillas, die Daud bekämpften, und Zia bekundete starke Sympathien für die Moslemextremisten unter ihnen, die Daud wegen seiner Reformmaßnahmen als gefährlichen Kommunisten betrachteten. Mitte der siebziger Jahre versuchte Daud, die Parchami zu säubern, aber da hatte die PDPA bereits festen Fuß in der Armee gefaßt. Im April 1978 ließ Daud nach einer PDPA-Demonstration in Kabul die führenden Linken einsperren. Am 27. April unternahmen ihre Verbündeten in der Armee einen Staatsstreich. Der Präsident wurde bei der Verteidigung seines Palastes getötet, und die meisten seiner Familienangehörigen wurden ermordet. Die PDPA-Führer wurden aus dem Gefängnis befreit und übernahmen die Regierung. Der Khalq-Führer Taraki wurde Präsident, und sein engster Vertrauter Nurul Amin stieg rasch zum mächtigsten Mann in der Regierung auf. Im Juli wurden zehn führende Männer der Parcham-Fraktion, einschließlich Babrak Karmal, als Botschafter ins Ausland geschickt. Babrak Karmal wurde Botschafter in Prag. Im August wurden die übrigen Parcham-Führer verhaftet, einige wurden gefoltert und getötet, und die Botschafter -220-
wurden nach Hause gerufen. Klugerweise verweigerten sie die Heimkehr und fuhren nach Moskau. Taraki und Amin wollten nun den Kommunismus in Afghanistan mit allen Mitteln durchsetzen. Sie reformierten den Landbesitz, die Stellung der Frau und die Zinsengesetze. Der erste ihrer Erlasse begann zwar mit den rituellen Worten ‡Im Namen Gottes des Allmächtigen—, aber diese Formel wurde bald fallengelassen. Die ersten Zeichen von Unruhe wurden bereits im Mai 1978 sichtbar, einen Monat nach der Revolution, und die ersten richtigen Unruhen brachen im September im Osten des Landes aus und griffen bald auf das ganze Land über. Am 12. März 1979 erklärte eine der Widerstandsgruppen, die ‡Nationale Befreiungsfront—, den Heiligen Krieg gegen die gottlose Regierung in Kabul. Die Sowjets versuchten, auf die Khalq einzuwirken, der Opposition Zugeständnisse zu machen und mit traditionellen Führern zusammenzuarbeiten. So hatten sie nach der Revolution ihre Kontrolle über zentralasiatische Länder erreicht, und sie hielten das für die einzige Methode, fanatische und rückständige moslemische Bauern zum Kommunismus zu bekehren. Taraki und Amin fuhren im Dezember 1978 nach Moskau, um einen Vertrag über Freundschaft, gute nachbarschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zu unterzeichnen, der auch eine Klausel über militärischen Beistand enthielt. Gemäß dieser Klausel brachten die Sowjets ein Jahr später Amin um. Der Einfluß Amins in der Regierung nahm stetig zu. Und er versuchte, die Revolution voranzubringen. Dabei erwachte sein Mißtrauen gegenüber der Sowjetunion, und er wünschte eine vorsichtige Wiederannäherung an die USA, um den sowjetischen Einfluß auszugleichen. Er führte verschiedene Verhandlungen mit dem amerikanischen Botschafter Adolph Dubs, aber Dubs wurde am 14. Februar 1979 entführt. Die Entführer waren offensichtlich maoistische Extremisten; sie hielten ihn gefangen und forderten die Freilassung einer Reihe inhaftierter Gesinnungsgenossen. Aber statt mit ihnen zu verhandeln, stürmten Sicherheitskräfte das Hotelzimmer, in dem Dubs gefangen war, und er kam dabei ums Leben. Die Regierung gab gegenüber den USA weder den Ausdruck ihres -221-
Beileids noch eine Erklärung dieses Zwischenfalles ab. Damit erlosch das Interesse der USA an Afghanistan. Außerdem hatten die Amerikaner zu dieser Zeit durch die Ereignisse im Iran andere Sorgen œ der Schah war einen Monat zuvor aus dem Land geflohen. Im März 1979 wurden bei einem schiitischen Aufstand (unter dem Einfluß der Revolution im Iran) in Herat, der Hauptstadt von Westafghanistan, mehr als 100 Sowjetbürger getötet, von denen einige zuvor schrecklich gefoltert worden waren. Obwohl es den Regierungstruppen gelang, die Stadt zurückzuerobern œ wobei 3.000 bis 5.000 Menschen starben œ, schlitterte das Land immer rascher in die Anarchie. Die Sowjets verstärkten im Lauf der nächsten Monate ihre Präsenz, übernahmen die Sicherheitsaufgaben in den Städten und verwalteten viele Regierungsbereiche. Im Juli stationierten sie nördlich von Kabul ihre erste Kampfeinheit in Afghanistan. Sie suchten auch nach Wegen, Amin zu ersetzen, und überzeugten Taraki, daß Amin ihm gefährlich werden könnte. Taraki war nach und nach von der Macht ausgeschlossen worden und verbrachte die meiste Zeit im Alkoholrausch. Am 14. September 1979 versuchte er, seinen Ministerpräsidenten zu ermorden. Er lud Amin zu einer Besprechung ein, und seine Wachen schossen auf ihn, als er die Stufen zum Präsidentenpalast hinaufstieg. Amin ließ sich die Stufen hinunterrollen und entkam. Er rief Panzer zu Hilfe und nahm Taraki fest. Zwei Tage später verkündete die Regierung, daß Taraki ‡aus Gesundheitsgründen— von allen Ämtern zurückgetreten sei. Am 10. Oktober veröffentlichte die Kabul Times in einem kurzen Artikel die Mitteilung, daß ‡Taraki gestern morgen an einer ernsten Krankheit gestorben sei, an der er einige Zeit gelitten habe—. Ein gutinformierter Beobachter meinte, die ernste Krankheit sei ‡Sauerstoffmangel gewesen, hervorgerufen durch Finger um den Hals und Kissen auf Nase und Mund, behandelt von drei Palastgardisten—. Amin rief sich zum Präsidenten aus. Er hatte jedoch nur sehr kleine Teile der Regierung unter Kontrolle, und die Regierung wiederum nur sehr kleine Teile des Landes. General Ivan Pavlovsky, der sowjetische Offizier, der den Einmarsch in der CSSR 1968 organisiert hatte, verbrachte den August und September in Afghanistan. Amin spürte, daß sich die Schlinge um seinen Hals zuzog. Er versuchte, die Pakistankarte auszuspielen, und sprach von Wiederannäherung an -222-
Pakistan und die USA. Als jedoch Zia zögerte, den reuigen Sohn willkommen zu heißen, schwenkte er komplett um und kündigte an, daß er antipakistanische und Anti-Khomeini-Guerillas bewaffnen würde. Am 26. Dezember 1979 scheiterte ein Versuch der Sowjets, Amin zu entführen: Sie versetzten seine Mahlzeit mit Drogen und wollten ihn festnehmen. Am 27. Dezember besetzten sowjetische Truppen Militärstützpunkte, Radiostationen und Regierungsgebäude in Kabul und anderen Städten. Sie wollten Amin verhaften, aber wie Daud wollte auch er sich nicht ergeben. Und wie Daud (oder wie Salvador Allende in Chile) wurde er entweder erschossen oder beging Selbstmord. Babrak Karmal, der 18 Monate unter sowjetischer Aufsicht im Exil gelebt hatte, wurde als Ministerpräsident zurückgebracht œ so wie andere Kommunisten im Gepäck der Roten Armee in Osteuropa 1945 zurückgebracht worden waren. Die Sowjets wollten eine neue Regierung einsetzen, mit einer neuen Politik, und sie wollten dem Land auch eine Form von innerem Frieden wiedergeben. Aber es ging alles schief. DIE SOWJETISCHE OKKUPATION 1979-1989 Als die Sowjets 1988 ihren Rückzug aus Afghanistan vorbereiteten, gab die Regierung Gorbatschow zu, daß die Entscheidung, Afghanistan 1979 zu besetzen, von einem halben Dutzend Funktionäre getroffen worden war, spontan, vielleicht waren sie sogar alle betrunken. Durch ein freundliches Geschick sind alle diese Funktionäre bereits tot. Das ist die Art Schadensbegrenzung, die alle Regierungen versuchen. Aber es kann nicht stimmen. Die Invasion mußte von langer Hand geplant werden, und die UdSSR war zuvor achtzehn Monate lang mit weit geöffneten Augen in das Afghanistanabenteuer gestolpert. Das war nicht das Ergebnis einer kleinen Verschwörung gewesen, sondern vielmehr die durchgeplante Aktion einer Regierung. Warum? Eine Erklärung œ die Lieblingserklärung der amerikanischen Hardliner und all derer, die keine Landkarten lesen können œ kann mit ziemlicher Sicherheit ausgeschlossen werden. Die -223-
Invasion Afghanistans hatte nichts mit sowjetischen Ambitionen auf den Persischen Golf zu tun. Sollten sie einmal beabsichtigen, die Straße von Hormuz zu schließen, müßten sie zuerst den Iran niederwerfen und besetzen und selbst das täten sie wohl eher direkt, nicht auf dem Umweg über den Hindukusch, Die Besetzung Afghanistans als ersten Schritt zur Invasion Irans wäre mit einem Einfall der USA in Kanada auf dem Umweg über Alaska vergleichbar. Die sowjetische Invasion in Afghanistan war sinnlos, aber nicht so unsinnig. Es können auch nicht Pläne zur Eroberung Pakistans dahinterstecken; solch ein Unternehmen würde gewaltige Konflikte mit Indien heraufbeschwören, ohne irgendeinen greifbaren Vorteil. Die Sowjets haben in Aden bereits einen strategisch günstigen Marinestützpunkt im Indischen Ozean. Eine andere Interpretation ist, daß die Sowjets die Ausbreitung des islamischen Fundamentalismus auf ihre zentralasiatischen Republiken vom Iran auf dem Weg über Afghanistan fürchteten. Aber sie waren bereits vor dem Sturz des Schahs in Afghanistan tief verstrickt. Die Furcht vor den Fundamentalisten mag sie bewogen haben, in Afghanistan zu bleiben œ aber die sowjetische Intervention hat den afghanischen Fundamentalismus wesentlich gestärkt und darüber hinaus jede Hoffnung der Sowjets zerstört, im Iran die frühere Verbündetenrolle der USA zu übernehmen. Vielleicht ist die einfachste Erklärung die beste. Die Sowjets wurden in Afghanistan ebenso verstrickt wie die Amerikaner in Vietnam, ohne klare Vorausplanung der Konsequenzen dieser Aktion, und sie unterschätzten die Feindschaft, die ihnen entgegengebracht wurde, ganz enorm. 1979 schien ihnen die eigene Position in Afghanistan zusammen mit der Regierung zusammenzubrechen. Ohne ihre Intervention wäre Amin gestürzt, und Afghanistan wäre entweder in Anarchie gefallen oder ein sowjetfeindliches Land geworden. Beides hätte die Niederlage einer Politik bedeutet, die in ihrer Struktur auf Lenin und die Zaren zurückgeht. Zuletzt war es für Leonid Breschnjew und seine vergreiste Mannschaft sicherlich eine furchtbare Vorstellung, die erste sowjetische Führung zu sein, die ein Land ‡verlor—, das den -224-
sozialistischen Weg eingeschlagen hatte. Aber der kommunistische Staatsstreich war das Werk einiger Offiziere und Intellektueller und repräsentierte nur den Willen einer winzigen Minderheit. Afghanistan hatte eine kommunistische Regierung, und Breschnjew unternahm alles, daß sie nicht gestürzt wurde. Er mag es für eine Parallele zu den Ereignissen in Ungarn 1956 oder Prag 1968 gehalten haben; beide Male hatte die Regierung die Kontrolle verloren, aber die Rote Armee hatte die Situation gerettet. Nach einigen Monaten des Aufruhrs war in beiden Ländern Ruhe eingekehrt, und die Weltöffentlichkeit hatte sich mit den Ereignissen abgefunden. Vielleicht erwartete die Sowjetunion das gleiche in Afghanistan. Ein überwältigender Einsatz sowjetischer Macht würde die Opposition zum Verstummen bringen, und später sollten wirtschaftliche Unterstützung, moderate Politik und das Verstreichen der Zeit die Afghanen an ihre neue Regierung gewöhnen. Es war eine große Fehleinschätzung. DIE SOWJETS UND DIE MUDJAHEDDIN Babrak Karmal sandte am 27. Dezember 1979 im Radio ein Ersuchen um sowjetische Hilfe œ von einer Sendestation auf sowjetischem Staatsgebiet. Seine ‡Gäste— haben seither immer darauf beharrt, daß sie von der Regierung Afghanistans um die Intervention ‡gebeten— wurden. Das ist eine der unverfrorensten Geschichtslügen der Moderne. Babrak war eine hundertprozentige Marionette, der niemals ein Wort sagte oder eine Weisung erließ, die nicht von seinen sowjetischen Herren vorbereitet gewesen wäre. Er war so willfährig und daher so unbeliebt, daß die Sowjets ihn zuletzt am 4. Mai 1986 durch Mohammed Najib ersetzten, einen früheren Polizeichef, den sie für fähiger und vorzeigbarer hielten. Es war ein Irrtum. Najib fand in der Öffentlichkeit nicht mehr Zustimmung als Babrak. So änderte er zum Beispiel œ als Ministerpräsident eines tiefreligiösen Landes! œ seinen ursprünglichen Narnen Najibullah, ‡Edler Mann Gottes—, da er ihm zu religiös erschien. (Er machte diese Änderung wieder rückgängig, als er Staatspräsident wurde.) Die Sowjets fanden bald heraus, daß sie Afghanistan direkt beherrschen mußten. Nach all den Morden, Hinrichtungen und -225-
Massakern der vorangegangenen Jahre gab es einfach nicht mehr genug afghanische Kommunisten, um alle Stellen zu besetzen und die Khalq und Parcham setzten ihren Kampf mit der ganzen Wildheit einer Stammesvendetta fort. Als die Invasion begann, erhob sich das ganze Land gegen die Regierung. Die 2 Rote Armee hielt Kabul, aber die Rebellen, die Mudjaheddin (‡Heilige Krieger—), hielten Kandahar und Herat, die zweit- und drittgrößte Stadt des Landes. Die Sowjets mußten sie mit Bombern und Panzern zurückdrängen, und, wie ein Beobachter feststellte, ‡kämpften sich in Kandahar brutal von Haus zu Haus, wie im 2. Weltkrieg—. Die afghanische Armee brach als tatsächlich kämpfende Truppe zusammen, von 1979 bis 1981 sank der Mannschaftsstand von 90.000 bis 100.000 Männern auf rund 30.000. Manche Einheiten liefen geschlossen und mit ihren Waffen über, und die übrigen Soldaten, die entweder eingeschüchtert oder gekauft wurden, werter zu kämpfen, waren ohne militärischen Wert. Sowjetische Truppen konnten jede Stadt oder jedes Dorf oder jedes Tal einnehmen, aber sie konnten sie nicht halten, ohne gewaltige Verstärkungen nach Afghanistan zu bringen. Zu keiner Zeit waren mehr als 120.000 sowjetische Soldaten in Afghanistan (verglichen mit rund 550.000 Amerikanern auf dem Höhepunkt des VietnamKrieges), und das war bei weitem nicht genug. Vielleicht fürchteten sie zu hohe Verluste. Vielleicht konnte die sowjetische Armee einfach auch nicht genug Soldaten nach Afghanistan abstellen. Sie litt schwer unter den Folgen der sinkenden Geburtenraten und den enormen Ansprüchen, die die Besetzung Osteuropas und die Sicherung der Grenzen an sie stellte. Da sie keine Million Männer entbehren konnte, begnügte sie sich lieber mit dem Minimum œ gerade genug, um die großen Städte zu halten und die Verkehrsverbindungen zu sichern. Im restlichen Gebiet ihres neuen Lehens vertrauten sie auf ihre Luftwaffe. Rebellengebiete wurden gnadenlos bombardiert. Minen wurden über das ganze Land verstreut, viele von ihnen angeblich als Spielzeug getarnt, damit sie von Kindern aufgesammelt würden. (In Flüchtlingslagern gibt es tatsächlich eine große Zahl von Kindern, die mindestens einen Arm -226-
oder ein Bein verloren haben.) Die Sowjets schickten auch Panzerkolonnen in die Täler und zerstörten die Dörfer, die Bewässerungsanlagen, Landstraßen und Brücken. Es war eine Politik der verbrannten Erde, ihre Politik war, eine Leere zu schaffen und sie Frieden zu nennen. Sie waren im Irrtum. Sie trieben mehr als drei Millionen Flüchtlinge nach Pakistan und zwei Millionen in den Iran, aber sobald die Männer ihre Familien in Sicherheit gebracht hatten, kehrten sie zurück in den Kampf. Sie lernten den Umgang mit modernen Waffen, und mehr noch, sie lernten moderne Taktik œ vor allem die Notwendigkeit der Unterordnung und Zusammenarbeit mit anderen Afghanen. Sie überfielen sowjetische Konvois, in einem Land, das für Hinterhalte wie geschaffen ist. Sie griffen abgelegene Flugplätze und Militärstützpunkte an. Sie sickerten nach Kabul ein und überfielen die sowjetische Botschaft, das PDPA-Hauptquartier , das sowjetische Militärkommando. Der afghanische Provinzgouverneur von Kandahar lebte und arbeitete in einem sowjetischen Stützpunkt. Die Mudjaheddin schickten sogar Stoßtrupps über den Oxus in die UdSSR. Die Sowjets waren niemals in der Lage, die hohen Berge im Zentrum des Landes zu erobern œ das Hazarajat-Gebirge, das ungefähr ein Viertel der gesamten Landesfläche umschließt. In diesen Gebirgszügen gibt es Hunderte Paßübergänge nach Pakistan. Die Sowjets versuchten, die wichtigen von ihnen zu blockieren, indem sie starke Garnisonsfestungen in den Tälern auf dem Weg dorthin errichteten. Die Mudjaheddin belagerten die Garnisonen. In ihrer letzten Offensive, Weihnachten 1987, unternahmen die Sowjets einen gewaltigen Vorstoß zur Rettung eines belagerten Forts in Khost, etwa 160 Kilometer südlich von Kabul. Ein schwer gepanzerter Konvoi kämpfte sich den Weg in die Stadt frei und brachte Nachschub. Dann kämpften sich die sowjetischen Soldaten wieder zurück und überließen die Stadt der weiteren Belagerung. Bei der Betrachtung mancher Berichte über Greueltaten und Verlustzahlen ist sicherlich eine gewisse Skepsis angebracht. So veröffentlichte die amerikanische Regierung einmal die Meldung, daß die Sowjets Giftgas verwenden würden, wofür es aber niemals einen -227-
Beweis gab œ eine ähnliche Behauptung wurde auch über die Vietnamesen in Laos aufgestellt, auch damals ohne Beweis. Und auch die häufigen Berichte über vermintes Spielzeug, das überall im Land verstreut worden sein soll, sind vorsichtig einzuschätzen. Im afghanischen Widerstand haben sich sieben politische Parteien herausgebildet. - ‡Hizbilslami— (Islamische Partei), geführt von Yunis Khalis. Die meisten Angehörigen sind Paschtunen aus Jalalabad. - ‡Hizbilslami— (Islamische Partei), geführt von Gulbuddin Hekmatyar; Louis Dupree von der American University bezeichnet ihn als pragmatisch, opportunistisch, revolutionär. Seine Anhänger sind hauptsächlich Paschtunen. (Diese beiden gleichnamigen Parteien sind nicht zu verwechseln.) - ‡Jamiat Islami— (Islamische Gesellschaft), geführt von Burnahuddin Rabani; sie kämpft für eine Islamisierung des Landes, ihre Anhänger sind vorwiegend œ aber nicht nur œ Nicht-Paschtunen, überall im ganzen Land. - ‡Itehad-Mslam-Baray Azadi Afghanistan— (Islamische Allianz zur Befreiung Afghanistans), geführt von dem Traditionalisten Abdul Rasul Sayyaf. - ‡Islami Melli Mahaz— (Nationale Islamische Front), geführt von Pir Sayyid Ahmad Gailani, einem gemäßigten, modernistischen Monarchisten. Ihr gehören hauptsächlich Paschtunen im Süden und Osten des Landes an. - ‡Jabahaiyi-Nijat Melli— (Nationale Befreiungsfront), geführt von Sigbratullah Mojadidi, einem traditionalistischen Monarchisten. Sie hat vor allem im Süden und Osten rund um Kandahar Bedeutung. - ‡Harakatilnqelabilslami— (Islamische Revolutionäre Bewegung), geführt von Maulawi Mohammad Mohammadi, einem gemäßigten Revolutionär. Sie ist im Südwesten und Westen am stärksten. Im Mai 1985 trafen Vertreter der sieben Gruppen in Peshawar in Pakistan zusammen und gründeten die ‡Isiamiltehad-Afghanistan Mudjaheddin—, die Islamische Vereinigung Afghanischer Krieger, die bekannt wurde als ‡Die Einheit—. Aber die Parteien verschmolzen nicht. Die Präsidentschaft der Einheit wechselte zwischen den sieben -228-
Führern nach dem Rotationsprinzip in dreimonatigem Abstand. Sie trafen zusammen, um eine gemeinsame Vorgangsweise zu beraten, wie es unter den afghanischen Stämmen üblich ist. Im Iran wurde eine Dachallianz aus vier schiitischen afghanischen Widerstandsbewegungen gebildet. Sie kontrollierten vor allem die Mitte des Landes und hatten wenig Kontakt mit den Sieben von Peshawar. Die Rebellenarmeen der Einheit behaupteten, 150.000 Soldaten im Kampf zu kommandieren, mit etwa noch einmal so viel in Reserve. In Afghanistan sind viele Kommandeure aus dem Mannschaftsstand aufgestiegen. Einer von ihnen war Ahmad Shah Massoud, der die Rebellen im Pandschir-Tal in Nordostafghanistan kommandierte. Er war ein glänzender, erfolgreicher Kommandeur, und da sein Operationsgebiet relativ leicht zugänglich war, wurde er in der Welt bekannter als die meisten anderen Widerstandsführer. Jedes Jahr unternahmen die Sowjets mit bis zu 20.000 Soldaten Offensiven gegen ihn. Sie besetzten das Tal, es gelang ihnen aber nicht, Massoud und seine Männer in die Berge zu verfolgen, von wo sie zurückkamen, sobald die Sowjets wieder abzogen. Dieses Spiel wiederholte sich während des ganzen Krieges œ allerdings mußten in jeder neuen Runde mehr sowjetische Soldaten eingesetzt werden, da Massouds Truppe wuchs und immer besser bewaffnet und ausgebildet war. Andere Widerstandsführer waren Abdul Haq in Kabul, Ismail Khan in Herat, Mullah Maleng in Kandahar und Jallaluddin Haqqani in Paktia. Sie sind entweder Mitglieder der Hizbilslami von Yunis Khalis oder der Jamiat Islami. Nach Einschätzung von Louis Dupree sind diese beiden Gruppen die wichtigsten und mächtigsten, dank ihrer Verwurzelung im Land, im Gegensatz zur Gruppe Hekmatyars und den Monarchisten, die in Peshawar prominent sind, im Inneren des Landes aber nur eine untergeordnete Rolle spielen. Afghanistanexperten beurteilen die Stärke der verschiedenen Widerstandsgruppen unterschiedlich. Dupree denkt, daß die Gruppen des Landesinneren ihre Konflikte untereinander begraben und nach der Niederlage der afghanischen Regierung zu einer Koalitionsregierung finden könnten. Nach weniger optimistischen Einschätzungen könnten die Animositäten der sieben Gruppen -229-
untereinander und ihre Zersplitterung nach Stammes-, Sprach- und Ideologiekriterien zu einem folgenden blutigen Bürgerkrieg führen. Das wäre dann nicht Vietnam, mit einer einzigen, zielstrebigen Revolutionspartei. In Afghanistan verbindet die verschiedenen Rebellengruppen nur ein einziger Wunsch: die Besatzer und ihre Marionetten zu vertreiben. Andere Pessimisten halten es für möglich, daß die Partei von Hekmatyar siegreich aus dieser Auseinandersetzung herausgeht, die den USA genauso feindlich gegenüber steht wie der UdSSR und die Afghanistan in eine Islamische Republik umwandeln und alle Oppositionellen abschlachten würde. Dann blieben natürlich noch die Streitkräfte der Kommunistischen Partei übrig, schwer bewaffnet, von sowjetischen Beratern gut ausgebildet, mehr als 100.000 Mann. Angeblich wurden den Parteikadern Pässe ausgestellt, um im Falle des Zusammenbruches der Regierung in die Sowjetunion entkommen zu können. Von Anfang an spielten die USA beim Aufbau des Widerstands eine bedeutende Rolle. Zuerst schickte die Regierung Carter Waffen an die Mudjaheddin; unter Reagan wurde der Umfang der Lieferungen ständig erhöht. Mitte der achtziger Jahre wurde schließlich auch jeder Anschein einer verdeckten Operation fallen gelassen. Die USA investierten in die Widerstandskämpfer rund 3 Milliarden Dollar und Saudi-Arabien, China und andere Länder steuerten insgesamt auch noch eine Milliarde Dollar bei. Ab 1986 rüsteten die USA die Mudjaheddin mit amerikanischen ‡Stinger—- und britischen ‡Blowpipe—-Luftabwehrraketen aus, und im Sommer 1987 verloren die Sowjets œ nach Schätzungen œ aufgrund dieser Waffen im Schnitt täglich einen Hubschrauber oder ein Flugzeug. Daher mußten sie ihre Tiefflugangriffe auf afghanische Dörfer aufgeben und konnten sie nur noch aus großer Höhe bombardieren, was bedeutete, daß sie ihre Konvois auf den Landstraßen nicht mehr so wirksam abschirmen konnten. Vor allem die ‡Stinger— stellte sich als tödliche Waffe heraus. Einige der Mudjaheddin verkauften ihre ‡Stinger— an den Iran œ zum Einsatz gegen den Irak oder auch gegen die USA. Eine Auswirkung des Krieges war das Scheitern der Bemühungen -230-
um das Ende des Opiumanbaues in Afghanistan und Pakistan. Der US-Drogenbureau-Bericht 1988 hält fest, daß Afghanistan derzeit zwischen 400 und 800 Tonnen Opium pro Jahr herstellt, nach Birma die höchste Produktionszahl. Vielleicht ist das zu niedrig geschätzt; aus verschiedenen Gründen sind Schätzungen derzeit schwierig. Über den Khyber-Paß wird ein umfangreicher Opiumhandel abgewickelt, und die Afghanen, ganz gleich, welche Seite sie unterstützen, sind Nutznießer dieses gewaltigen Schmuggelmarktes. Die Auswirkungen auf Pakistan waren zweifach: einerseits stieg das Volkseinkommen rasch an, anderseits wurde die Bevölkerung ebenso wie die Regierung korrumpiert, und Sucht und Kriminalität sind angestiegen. DIPLOMATIE Die Invasion Afghanistans bescherte der Sowjetunion ein Desaster, jahrelang war in den Vereinten Nationen jede Resolution der UdSSR, in der der Westen angegriffen wurde, mit großer Mehrheit beschlossen worden. Aber nach dieser Invasion verabschiedete die UNO jedes Jahr Resolutionen œ mit wachsender Mehrheit œ, in denen nicht nur die Okkupation verurteilt, sondern auch die UdSSR namentlich genannt und zum Rückzug ihrer Truppen aufgefordert wurde. Fidel Castro unterstützt die Sowjets zwar in der Öffentlichkeit, privat meinte er aber, daß sein eigener Einfluß in der Welt dadurch ruiniert werde. Er hatte gehofft, 1983 auf der Konferenz von Neu-Delhi zum Vorsitzenden der Blockfreienbewegung gewählt zu werden, aber statt dessen mußte er herbe Kritik wegen seiner Unterstützung der sowjetischen Politik einstecken. Das einzige blockfreie Land, das sich mit der Kritik an der UdSSR zurückhielt, war Indien sein Konflikt mit Pakistan war wichtiger als alle anderen Überlegungen. Die Invasion zerstörte auch das Klima der Entspannung mit den USA. Der SALT-II-Vertrag, sieben Jahre lang mühsam ausgehandelt und am 18. Juni 1979 unterzeichnet, wurde deswegen dem US-Senat niemals zur Ratifizierung vorgelegt. Die UdSSR hatte atomare Mittelstreckenraketen SS-20 in Osteuropa aufgestellt, und die NATO hatte beschlossen, im Gegenzug amerikanische Raketen in Westeuropa zu stationieren. Es steht wohl außer Zweifel, daß das Einverständnis der europäischen Staaten, unberührt von einer -231-
gewaltigen diplomatischen Kampagne der Sowjetunion, durch die Ereignisse in Afghanistan bestärkt wurde. Jimmy Carter betrachtete die Invasion törichterweise als persönliche Beleidigung und sagte die Teilnahme der Amerikaner an den Olympischen Spielen 1980 in Moskau ab. Am 23. Januar 1980 proklamierte er die ‡Carter-Doktrin—, gemäß der ‡jeder Versuch einer auswärtigen Macht, die Kontrolle am Persischen Golf zu erlangen, als ein Angriff auf die lebenswichtigen Interessen der Vereinigten Staaten 6 betrachtet wird, und solch ein Versuch wird mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zurückgewiesen werden, einschließlich militärischer Gewalt—. Dann wurde mit der ‡Rapid Deployment Force— die schnelle Eingreiftruppe gegründet, die mit Afghanistan ebensowenig zu tun hatte wie die sowjetische Invasion mit dem Persischen Golf. Carter setzte diese Überreaktion, da die Afghanistaninvasion unmittelbar nach der Besetzung der USBotschaft in Teheran erfolgte, und er wollte schlagkräftig und entscheidungsfreudig erscheinen, auch wenn er nichts tat, um den Afghanen zu helfen oder die Iraner einzuschüchtern. Während der nächsten neun Jahre pendelte die amerikanische Politik zwischen ‡Laßt die Sowjets bluten!— und der Suche nach einer Lösung des Afghanistanproblemes. Die Hardliner gewannen, und um einen Preis von 600 Millionen Dollar pro Jahr unterstützten die USA die Widerstandskämpfer so lange, bis die Sowjets den Abzug beschlossen. Dieses Ergebnis wiederum löste bei den Falken in Washington großes Erstaunen aus, die so fest überzeugt waren, daß die Sowjetunion, per definitionem, eine expansionistische Politik betreiben müsse, daß sie es schon fast unmöglich gefunden hatten, Gorbatschow und Glasnost zu akzeptieren. Die Konsequenz dieser amerikanischen Politik und des plötzlichen Rückzugs der UdSSR war, daß Afghanistan danach der völligen Anarchie überlassen blieb, ein Libanon Zentralasiens, eine Verlockung für alle Nachbarstaaten œ Iran, Pakistan, und abermals die UdSSR sich einzumischen. Sowohl unter Carter wie unter Reagan versuchten die USA, ihr eigenes Engagement so unauffällig wie möglich zu halten. Das war nicht ganz einfach, bei Waffenlieferungen im Wert von 600 Millionen Dollar, aber im großen und ganzen doch erfolgreich. Der Zweck war, den Sowjets nicht die Möglichkeit zu geben, den Krieg in einen Ost -232-
West-Konflikt oder einen antikolonialistischen Kampf umzudeuten, mit den Amerikanern als den Bösewichten. Die Sowjets taten zwar ihr Bestes, um das Image zu verändern, aber es gelang den Amerikanern, daß die Welt den Kampf um Afghanistan als einen Nord-Süd-Konflikt ansah, mit der Sowjetunion als dem imperialistischen Aggressor. Im Juni 1982 versuchte die UNO, in Genf Gespräche zwischen der afghanischen und der pakistanischen Regierung einzuleiten, unter der Führung des Stellvertretenden Generalsekretärs Diego Cordovez, einem Rechtsanwalt aus Ecuador. Diese Verhandlungen wurden ‡nachbarschaftliche Gespräche— genannt, da Pakistan die Regierung in Kabul weder anerkennen noch mit ihr verhandeln wollte. Die beiden Delegationen trafen nie zusammen. Sechs nutzlose Jahre reiste Cordovez. zwischen den Regierungsbüros hin und her und versuchte zu vermitteln. Es gelang ihm nicht, irgendein Abkommen herbeizuführen. Die wahren Gegner waren die Sowjetunion und der afghanische Widerstand, und eine Veränderung der Situation in Afghanistan war ohne einen Kurswechsel in Moskau nicht möglich. Dieser geschah dann im Frühjahr 1988 œ oder wurde zumindest zu dieser Zeit vollzogen. Seit längerem hatten sich die Anzeichen gemehrt, daß die Sowjets den Krieg leid waren. Eine Auswirkung von Glasnost war, daß die sowjetischen Zeitungen wahrheitsgetreu über den Krieg berichteten, und auch über die Zahl der Verluste und Verwundeten sowie über die triste Situation der AfghanistanHeimkehrer. Bald wurde es für Ausländer in Moskau deutlich spürbar, daß der Krieg sehr unpopulär war. Nach einer letzten Auseinandersetzung mit Washington, wann oder ob die beiden Seiten die Waffenlieferungen für ihre jeweiligen Schützlinge stoppen würden, verkündete Gorbatschow am 7. April 1988 den Abzug der sowjetischen Truppen. Er wählte dafür einen ungewöhnlichen Anlaß, nämlich den Besuch einer Kolchose bei Taschkent. Er hatte eben Präsident Nadjibullah in dieser Stadt getroffen, ihn von seiner Entscheidung informiert und zu Stillschweigen verpflichtet œ so wie Henry Kissinger es mit Süd-Vietnam beim Pariser Abkommen von 1973 gemacht hatte. Die Fernsehkameras übertrugen Gorbatschows Gespräch mit Bauern auf dem Feld, und nebenbei teilte er ihnen mit, daß der Abzug im nächsten Monat beginnen sollte. Das Abkommen wurde von Pakistan und Kabul am 14. April in -233-
Genf unterzeichnet. Der sowjetische Außenminister Edward Schewardnadse und der amerikanische Außenminister George Shultz unterschrieben als Garanten. Es war nicht ganz klar, was das eigentlich alles bedeutete, und in dem Text gab es eine Menge unklarer Stellen. Die Sowjets sagten, daß sie ihren Rückzug am 15. Mai beginnen und neun Monate danach abschließen würden, aber es war offensichtlich, daß sie danach noch weiter präsent sein wollten und daß der Krieg weitergehen würde. Die USA und die UdSSR kamen überein, daß keiner seinen Verbündeten mit Waffen beliefern sollte, so lange der andere sich auch an das Abkommen hielt. Am 10. April 1988 explodierte ein gewaltiges Mudjaheddin-Waffen- und Munitionsdepot in Rawalpindi, wobei einige hundert Menschen ums Leben kamen. Das Ausmaß der Explosion unterstrich eindringlich den Umfang der Waffenlieferungen der Amerikaner und anderer Staaten an die Mudjaheddin. Ob sich die USA und die UdSSR nun an den Lieferungsstop hielten oder nicht, es war klar, daß beide afghanischen Seiten genügend gerüstet waren, um diesen Bürgerkrieg unverändert fortzuführen. Der sowjetische Abzug begann fahrplangemäß. Die westlichen Medien waren eingeladen, dabeizusein, wie die Truppen Kabul verließen und wie sie bei ihrer Ankunft am Oxus begrüßt wurden œ ‡mit Ansprachen, Blumen und der Freude ihrer Angehörigen—. Das sowjetische Fernsehen übertrug diese bewegenden Szenen, eine weitere Demonstration von Glasnost und der Verbesserung der PRTechnik unter Gorbatschow. Das Genfer Abkommen sah vor, daß die Sowjets die Hälfte ihrer 120.000 Soldaten bis zum 15. August und den Rest bis zum 15. Februar 1989 abgezogen haben sollten. Die Wahrscheinlichkeit, daß Najibullah ihren Abzug nicht lange überstehen würde, beeinträchtigte ihr Vorhaben nicht. Der Abzug wurde reibungslos und erfolgreich abgewickelt. Der letzte sowjetische Soldat, Generalleutnant Boris Gromov, schritt am Mittag des 15. Februar über die Freundschaftsbrücke, seinem vierzehnjährigen Sohn entgegen, der Blumen in Händen hielt. Gromov, der letzte sowjetische Kommandeur in Afghanistan, warf keinen Blick zurück. Er bestritt, daß seine Truppen besiegt worden seien und hielt daran fest, daß sie ihre ‡internationalen Verpflichtungen— erfüllt hätten. 15.000 sowjetische -234-
Soldaten waren gefallen. Schon vor dem Abzug der letzten sowjetischen Einheiten richteten die Mudjaheddin einen Großangriff gegen Jalalabad, die wichtigste Stadt an der Straße von Kabul nach Osten zum Khyber-Paß. Die Belagerung dauerte mehrere Monate, und schließlich begannen die Mudjaheddin, sich untereinander zu bekämpfen. Gulbuddin Hekmatyars Islamische Partei wollte die anderen Gruppen und auch die Widerstandsbewegungen im Landesinneren beherrschen. Die Regierung Najibullah überstand ihr erstes Jahr ohne größere Niederlage, sehr zum Erstaunen der Mudjaheddin und der sie unterstützenden Amerikaner und Pakistaner. Die UdSSR lieferte weiterhin Waffen und Munition und gab dem Land die lebensnotwendige Wirtschaftshilfe, und die Amerikaner setzten die Unterstützung der Rebellen mit Einschränkungen fort. Die verschiedenen Rebellenorganisationen schafften es nicht, zu gemeinsamen Operationen gegen die Regierung zusammenzufinden, und immer wieder brachen zwischen ihnen Kämpfe aus. Auf lange Sicht hat Najibullah keine guten Überlebenschancen. Die UdSSR wird ihn noch eine Weile unterstützen, aber irgendwann wird das zu Ende sein, und der Widerstand zeigt kaum Anzeichen, den Kampf einstellen zu wollen. Verschiedene Versuche, die Streitparteien an den Verhandlungstisch zu bringen, sind gescheitert. Das Genfer Abkommen sieht vor, daß der frühere UNOFlüchtlingshochkommissar Saddrudin Aga Khan die Repatriierung der geschätzten sieben Millionen Flüchtlinge überwachen sollte. Das wird eine langwierige und teure Aufgabe. Nach Angaben eines Widerstandsführers sind 60 Prozent der Häuser in Afghanistan zerstört, und 60 Prozent des kultivierten Anbaugebietes sind unbrauchbar, da Kanäle und Bewässerungssysteme verkommen oder zerstört worden sind. Wenn die Flüchtlinge alle zurückkommen, wird es ein Massensterben geben.
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BANGLADESCH Geographie: Fläche 143.998 km2. Bevölkerung: 112 Millionen, sie nimmt jedes fahr um etwa 2,5 Prozent zu (rund 700 Einw./km×) BSP: 160$/Einw. Flüchtlinge: 50.000 in Indien. GESCHICHTE Die Unabhängigkeit von Bangladesch ist das Ergebnis des Zerfalls von Pakistan im Bürgerkrieg von 1971 (siehe PAKISTAN). Das Land war ein einziges Chaos œ die geschlagene pakistanische Armee, die übriggebliebenen Anhänger eines vereinigten Pakistan, die indische Armee und die Guerillaarmee von Bangladesch (die Mukti Fauji), alle kämpften im dichtestbevölkerten Land der Welt, Bangladesch ist ein Kind der Gewalt und ist diese Gewalt bis zum heutigen Tag nicht mehr losgeworden. Die zu Pakistan loyalste Bevölkerungsgruppe im späteren Bangladesch waren die Bihari, urdusprachige moslemische Flüchtlinge aus der indischen Provinz Bihar, die 1947 nach OstPakistan geflüchtet waren, um den Massakern der Teilung des Landes zu entkommen. 1946 wurden 30.000 moslemische Bihari von Hindus getötet, 1947 waren es noch mehr. In den Schrecken der Teilung von Britisch-Indien in Indien und Pakistan flohen 1,3 Millionen Moslems von Indien nach Ost-Pakistan, davon eine Million Bihari. Umgekehrt flüchteten 3,3 Millionen Hindus aus Ost-Bengalen nach Indien. Die Bihari konnten sich unter den Bengalen niemals assimilieren, und als Mohammed Ali Jinnah, der Gründer Pakistans, Urdu zur Staatssprache des westlichen wie des östlichen Landesteiles erklärte œ gegen die vehemente Opposition der Bengalen œ, waren die Bihari in Ost-Pakistan plötzlich begünstigt, und sie übernahmen die Regierungs- und Beamtenstellen, in denen Urdukenntnisse notwendig waren. Als die Spannung zwischen den beiden Gruppen im Land 1970/71 den Höhepunkt erreichte, wurden die Bihari im Osten die -236-
logischen Opfer der bengalischen Verfolgung, und in Dhaka (damals Dacca) und anderen Städten wurden Hunderte getötet. Als Präsident Yahja Khan im März 1971 das Kriegsrecht über OstPakistan verhängte, den Führer der Awami-Liga Scheich Mujibur Rahman einsperrte und die Liga zur verbotenen Organisation erklärte, schlugen sich die Bihari auf die Seite der pakistanischen Zentralregierung. Sie rächten sich an ihren bengalischen Unterdrückern, indem sie die Anstrengungen der pakistanischen Armee zur Unterdrückung des bengalischen Nationalismus nach Kräften unterstützten. Nach offiziellen Angaben Bangladeschs wurden von März bis Dezember 1971 3 Millionen Menschen ermordet. Die wahre Zahl beträgt wohl zwischen 300.000 und 500.000 Opfern. Die Massaker gingen bis Ende 1971 weiter, und nach der Niederlage der Pakistani wurden viele Bihari ermordet. Besonders grauenhaft war der 18. Dezember, als ein bengalischer Terrorist biharische Gefangene im Fußballstadion von Dacca vor zahlreichen johlenden Zuschauern tötete. Ein britisches Fernsehteam war dabei und hat dieses Ereignis aufgezeichnet. Auch in den folgenden Monaten starben noch viele Bihari, aber es waren bei weitem nicht so viele, wie man von ähnlichen Anlässen auf dem Subkontinent zu erwarten gewohnt war. Heute lebt in den Slums von Dhaka eine Minderheit von einigen hunderttausend Bihari, in Armut und unterdrückt. Ihnen hilft niemand, weder Bangladesch, noch Pakistan, noch Indien. DAS UNABHÄNGIGE BANGLADESCH Der unumstrittene Führer des neuen Staates war Scheich Mujibur, der Führer der Awami-Liga, der Ministerpräsident wurde. Er mag ein guter Oppositionsführer gewesen sein, aber er war ein schlechter Staatsmann. Er enttäuschte viele von denen, die den Kampf um die Unabhängigkeit geführt hatten, und er regierte das Land in autoritärem, patriarchalischem Stil, ungeachtet aller Naturkatastrophen, Hungersnöte und des immer rascheren Zerfalls. Im Dezember 1974 rief er den Staatsnotstand aus. Im Januar 1975 hob er die Verfassung auf, ernannte sich zum Präsidenten und verbot -237-
jede Opposition. Am 15. August wurden Mujibur und einige seiner Familienangehörigen von einer Gruppe von Armeemajoren ermordet. Sie riefen den bisherigen Minister Khondakar Musthaque Ahmad zum Staatspräsidenten aus und verhafteten die engsten Vertrauten Mujiburs. Andere hohe Armeeoffiziere distanzierten sich von dieser Entwicklung, und am 3. November putschte Brigadier Khalid Musharaf. Die Majore flohen nach Libyen, aber Musharaf verhaftete den Stabschef, General Zia Rahman. Er verzichtete darauf, sich selbst zum Präsidenten auszurufen, sondern setzte den Richter A. S. M. Sayem in das Amt ein. Die eingekerkerten Minister Mujiburs wurden ermordet. Am 6. November unternahmen Überlebende von Mujiburs privater Leibwache einen weiteren Putsch, und Musharaf wurde getötet. Sayem blieb Präsident, aber die wahre Macht ging auf General Zia über. Zia hatte im Unabhängigkeitskrieg eine bedeutende Rolle gespielt, und er brachte nun die Probleme der inneren Sicherheit des Landes ebenso rasch unter Kontrolle wie er Militär und Regierung reformierte. Er wurde der populärste und erfolgreichste Bengalenführer seit der Unabhängigkeit und im April 1977 auch Präsident. Das politische Leben des Landes stabilisierte sich, und im Februar 1979 wurden Wahlen abgehalten, bei denen Zias neu gebildete ‡Nationalistische Partei— gewann. Das Land war hinter Zia geeint, aber in der Armee gab es oppositionelle Kräfte. Nach verschiedenen fehlgeschlagenen Anschlägen und Meutereien wurde er am 30. Mai 1981 beim Putschversuch des Armeekommandeurs von Chittagong ermordet. Der Aufstand wurde vom Generalstabschef General Hussain Mohammad Ershad niedergeschlagen, und der Putschgeneral, seine Familie und viele andere wurden getötet. Ershad wurde zunächst Staatschef und Oberster Kriegsrechtsverwalter, im Dezember 1983 dann auch Staatspräsident. Ihm fehlt das Charisma Zias, und seine Regierung macht kaum Fortschritte bei der Lösung der gewaltigen wirtschaftlichen Probleme des Landes. Bei den Wahlen am 3. März 1988 gewann Ershads Partei überlegen die Mehrheit, aber da die Wahlen von den -238-
Oppositionsparteien boykottiert wurden œ einschließlich der AwamiLiga, jetzt angeführt von Mujiburs Tochter, und Zias Nationalistischer Partei, angeführt von seiner Witwe, Begum Khaleda Zia œ, brachten sie keine Lösung. Bei gewalttätigen Auseinandersetzungen vor der Wahl wurden Hunderte Menschen getötet. DIE PROBLEME DER POLITIK UND DEMOGRAPHIE Das grundlegende politische Problem in Bangladesch ist die fehlende politische Legitimation der Regierung. Seit der Unabhängigkeitserklärung 1971 gab es vier Staatsstreiche, und drei Staatschefs wurden ermordet. General Ershads größte Leistung ist sein eigenes Überleben, und das ist nicht genug, um einem der ärmsten Länder der Welt Hoffnung zu bieten. Aber das wahre Problem Bangladeschs ist demographischer Natur. Es ist das dichtestbesiedelte Land der Erde, sieht man von den Stadtstaaten Singapur und Hong Kong ab. Das Pro-Kopf-Einkommen ist mit 160 Dollar halb so groß wie das Haitis, und nachdem die Bevölkerungszahl unaufhörlich ansteigt, wird es weiterhin sinken. Bangladesch ist sehr fruchtbar, bewässert von Ganges und Brahmaputra, zwei der größten Flüsse der Welt, der Boden besteht aus dem Schlamm, der aus den Ebenen Tibets und des nördlichen Indiens heruntergeschwemmt wurde. Aber das schreckliche Dilemma bleibt ungelöst: in guten Erntejahren kann das Land sich selbst kaum ernähren. Bleibt der Monsun aus, gibt es unvorstellbare Hungersnöte. Ein Großteil des Landes liegt auf oder nur geringfügig über dem Meeresniveau. Eine Begleiterscheinung der Entwaldung des Himalayagebirges sind immer häufigere Springfluten, die Bangladesch in weiten Landstrichen verwüsten. 1988 haben zahlreiche Überschwemmungen riesige Verheerungen angerichtet. Sollte durch den Treibhauseffekt der Meeresspiegel ansteigen, wird Bangladesch unbewohnbar werden. DIE CHITTAGONG HILL TRACTS In Ost-Bangladesch beginnen die ersten Ketten der birmanischen Berge. Die 600.000 Stammesangehörigen dieser Region, Buddhisten -239-
tibetanischer Herkunft, begannen 1976 einen Guerillakrieg, der bislang rund 1.500 Tote gefordert hat. Sie beschuldigen die Regierung, die Ansiedlung moslemischer Bengali zu unterstützen œ mittlerweile leben rund 300.000 Bengali in diesen Bergen. Ähnliche Aufstände in indischen Provinzen weiter im Norden und Osten haben die gleiche Ursache. Unter den Briten wurden die Chittagong Hill Tracts getrennt vom Rest Indiens verwaltet, und es gab strenge Gesetze gegen die Ansiedelung Stammesfremder. Der ‡Government of India Act— von 1935 definierte die Tracts als ‡völlig separates Gebiet—, aus der Herrschaft von Bengal und Assam ausgeklammert. Die gleichen Bestimmungen galten für Gebirgsbezirke, die jetzt auf indischem und pakistanischem Staatsgebiet liegen. In den Tracts leben dreizehn große Stämme, davon sind ungefähr die Hälfte Chakmas. Die Chakmas sind auch der Hauptstamm im angrenzenden indischen Bundesstaat Tripura. Der gesetzliche Schutz der Stämme wurde bereits von der Regierung Pakistans stark vermindert und schließlich, nach der Unabhängigkeit von Bangladesch 1971, völlig beseitigt. Theoretisch hat jeder Bürger von Bangladesch das Recht, sich überall im Land niederzulassen. Als Resultat dieser Liberalisierung gehen diese Stämme den Weg der nordamerikanischen Indianer. 1951 waren 9 Prozent der Tracts-Bevölkerung NichtStammesangehörige, 1974 schon 11 Prozent, und 1980 stellten sie bereits ein Drittel der Bevölkerung. Zweifellos wächst der Anteil ständig weiter. Die Regierung unterstützt die Ansiedelung moslemischer Bengalen aktiv. Da die Bevölkerung von Bangladesch jährlich um 2 bis 3 Millionen anwächst, machen einige hunderttausend Bengalen keinen großen Unterschied mehr, aber der Strom verzweifelter Menschen in die Region wird anhalten. 1972 gründeten Stammesführer der Berge als Antwort auf den Druck aus dem Flachland die ‡Chittagong Hill Tracts People‘s Solidarity Association— (JSS). Die Shanti Bariini, der militärische Flügel der JSS, begann Mitte der siebziger Jahre mit Angriffen auf Armeeposten und Überfällen auf Bengalendörfer. Hunderte Menschen wurden dabei getötet. General Ershad bot den Shanti Bahini 1983 eine -240-
Amnestie an, und angeblich haben sich 3.000 Mann ergeben. Aber die Regierung hat ihre Ansiedlungspolitik nicht verändert, und 1985 nahmen die Shanti Bahini-Angriffe stark zu. Seither haben die Auseinandersetzungen kein Ende genommen. Im April 1988 wurden 49 Bengalensiedler in Bergdörfern ermordet, am 21. Mai weitere drei. Die Regierung hat starke Truppeneinheiten zur Niederschlagung dieses Aufstands entsandt, und gemäß einem Amnesty InternationalBericht gehen sie mit großer Grausamkeit vor. Bei einer Pressekonferenz in Dhaka im April 1980 schilderte eine Gruppe Ortspolitiker ein Massaker, das bengalische Soldaten an 200 Dorfbewohnern angerichtet hatten. Amnesty International hat Beweise für verschiedene Massaker, die zum Teil die Folge von Stammesangriffen auf Siedler waren. Am 31. Mai 1984 ermordeten Shanti Bahini-Terroristen mehr als 100 bengalische Siedler, woraufhin die Regierungssoldaten mehrere hundert Stammesangehörige in den Nachbardörfern umbrachten. Rund 50.000 Flüchtlinge aus den Tracts leben in Lagern im indischen Tripura; allein 1987 sind 20.115 über die Grenze geflohen. Amnesty International hat festgestellt: ‡Nach unseren Informationen werden Dorfbewohner, die von Soldaten und Milizen fürs Verhör ausgewählt werden, systematisch gefoltert. Die Gefangenen werden meistens in zwei bis drei Meter tiefe Löcher oder Gräben gesperrt ... gewöhnlich in Gruppen von 15 oder 20 auf einmal ... ehemalige Gefangene nennen als die häufigsten Foltermethoden: Schläge mit Stöcken und Gewehrkolben auf alle Körperteile, sehr heißes Wasser in Mund und Nase; Aufhängen an den Füßen, oft auch an einem Baum ... Langes Aufhängen an den Schultern und dann starke Schläge auf die Füße ...—
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BIRMA
Name: Nach dem Staatsstreich von 1988 hat die Militärregierung den Namen des Landes in ‡Union von Myanma— geändert und viele Städte umbenannt (so wurde aus Rangun Yangon). Dahinter steht der Gedanke, allen nationalen und rassischen Gruppen gerecht zu werden, nicht nur der birmanischen Mehrheit. Geographie: Fläche 676.552 km2, so groß wie Frankreich, Belgien, die Niederlande und Dänemark zusammen. Birma wird durch mehrere Gebirgsketten gegliedert, die vom Himalaya im Norden in die Bucht von Bengal und an die Grenze zu Thailand verlaufen. Durch die zentrale Ebene fließt der Irrawaddy, in dessen Delta in den Tagen vor dem Zweiten Weltkrieg das größte Reisanbaugebiet der Welt lag. Bevölkerung: 37,8 Millionen. Alle Bewohner von Birma gelten als Birmanen. Im Land werden mehr als 100 Sprachen gesprochen. Die letzte richtige Volkszählung hat 1931 stattgefunden, aber die folgende Aufstellung gibt die ungefähre Aufteilung der Stämme und Völker wieder. Birmanen: 25,400.000 Shan: 4,180.000 Karen: 3,500.000 Arakan: 2,280.000 Inder: 750.000 Mon: 700.000 Wa: 500.000 Kachin: 500.000 Chin: 500.000 Naga: 100.000 Religion: 85 Prozent der Bevölkerung sind Buddhisten. Viele Karen, Kachin und Chin sind von amerikanischen BaptistenMissionaren zum Christentum bekehrt worden. Rohstoffe: Birma ist reich an Bodenschätzen und anderen Produkten und im Vergleich mit anderen asiatischen Staaten dünnbesiedelt. 75 Prozent des Weltbedarfes an Teakholz kommen aus Birma, außerdem Erdöl, Mineralien, vor allem Wolfram, Rubine und Jade. Vor allem aber ist Birma der weltgrößte Opiumproduzent. BSP: 200 $/Einw. Flüchtlinge: Nach Birma: 1.000 Flüchtlinge aus Bangladesch, 800 aus China. Von Birma: 20.000 nach Thailand. Aufständische: Die Birma-Studie der American University aus dem Jahr 1983 verzeichnet 28 Rebellengruppen, deren Kampfstärke von -242-
8.000-15.000 (Kommunistische Partei) und 5.000-8.000 (Karen National Union) bis zu Splittergruppen wie der ‡Kayah New Land Revolution Council— (50 Kämpfer) und der ‡Karenni People‘s United Liberation Front— (70) reichen. Insgesamt sollen es zwischen 27.000 und 44.000 Mann sein. Abgesehen von den Kommunisten, die ein klares politisches Programm haben, gilt der Kampf der meisten Gruppen der eigenen Autonomie und bei einigen auch der Vorherrschaft im Opiumgeschäft. Im Sommer 1988 zerbrach die Militärregierung von Birma unter dem Druck der Bürgerproteste. Seit 1962 war Birma eine sozialistische Militärdiktatur unter General Ne Win gewesen, und das Land war völlig abgewirtschaft. Es war eines der abgeschlossensten Länder der Welt, nur vergleichbar mit Nordkorea und Albanien. Birma war auch eines der ärmsten Länder, hauptsächlich dank dem ‡Birmanischen Weg zum Sozialismus—. 1987 reihte die UNO Birma in die Gruppe der zehn am wenigsten entwickelten Länder der Welt ein. Die Unfähigkeit der Regierung löste den Aufstand aus, der unter den Studenten begann und bald auf das gesamte Land übergriff, Ne Win trat im Juli zurück, und das Land schlitterte rasch in die Anarchie. Massendemonstrationen in den Straßen von Yangun (früher Rangun) und anderen Städten fegten die bestehende Ordnung hinweg, und für eine Weile schien es, als würde Birma dem Beispiel der Philippinen und Südkoreas folgen und durch den Volksaufstand eine demokratische Regierung erlangen. Aber es gab, anders als etwa mit Corazon Aquino auf den Philippinen, keinen charismatischen Führer, der die Opposition vereinigt hätte, und es gab auch keine Vereinigten Staaten, die den Demokratisierungsprozeß unterstützt hätten. Die Armee stabilisierte sich. Am 18. September 1988 übernahm sie wieder die Gewalt und damit die staatliche Autorität, die sie seit 1962 innehatte. Das neue Regime, oder besser, das alte Regime mit einigen neuen Führern, unterdrückte die Opposition, brach den Generalstreik und jagte die revolutionären Studenten in den Untergrund. Birmas wirtschaftliche Krise setzte sich fort, und die Regierung rüstete sich für den nächsten Aufstand. Alle diese Ereignisse passierten in Rangun, Mandalay und anderen Städten im Landesinneren von Birma. In den äußeren Provinzen gibt es seit 1947 einen ununterbrochenen Kampf gegen die -243-
Zentralregierung. Der Aufstand der Karen ist vielleicht der längste Krieg dieses Jahrhunderts. 1984 startete die Regierung eine brutale Offensive gegen die Karen und andere aufständische Stämme, aber es gelang ihr nicht, sie zu besiegen. Aber diese Stammeserhebungen würden niemals hinreichen, um die Regierung zu stürzen. Dazu müßte sich schon das ganze Volk der Birmanen erheben. GESCHICHTE Im 19. Jahrhundert wurde Birma, wie so viele Länder der Welt, vom Britischen Empire annektiert. Zunächst nahm die East India Company im Krieg von 1824-1826 die Küstenprovinzen in Besitz; dann wurde das südliche Birma 1852 annektiert, der Rest des Landes 1885. Der letzte König, Thibaw, ging nach Indien ins Exil, und Birma wurde bis in die dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts als eine Provinz von Britisch-Indien regiert. Es war eine prosperierende Kolonie, dank seiner Reispflanzungen, Erdölvorkommen, Teakbaumbestände und anderer Reichtümer. Das Flußdelta des Irrawaddy mit dem Hauptort Rangun wurde rasch zu einem bedeutenden Reisanbaugebiet entwickelt. Der Wohlstand konzentrierte sich im Gebiet des Flußtales und des Deltas, und auch die staatlichen Strukturen wurden vor allem dort entwickelt. Das Gebirgsland wurde immer gesondert behandelt, einerseits zum Schutz der Stammesangehörigen, anderseits auch aufgrund der klassischen Teile-und-herrsche-Politik. Während die Briten in Indien politische Einrichtungen und ein umfassendes Erziehungswesen aufbauten, die später zur Errichtung eines unabhängigen und vereinigten Staates beitrugen, begnügten sie sich in Birma die meiste Zeit mit Verwaltungs- und Polizeiaufgaben. (George Orwell, der eigentlich Eric Blair hieß, war Polizeibeamter in Birma.) 1937 trennten die Briten Birma von Indien ab und begannen mit dem Aufbau einer staatlichen Ordnung. Das war zum Teil eine Reaktion auf die nationalistische Agitation, die unter den birmanischen Studenten begonnen und einen Höhepunkt erreicht hatte, als Ölarbeiter im Jahr 1938 zur Unterstützung der Studenten auf Rangun marschierten. Während des Japanisch-Chinesischen Krieges wurden Hilfsgüter für China über die Berge auf der Birma-Straße nach Yenan geschickt. -244-
1942 besetzten die Japaner Birma, um diese Verbindung zu unterbrechen. 30 birmanische Nationalisten, angeführt vom prominentesten der früheren Studentenführer, Thakin Aung San, damals 27, waren 1940 zur militärischen Ausbildung nach Japan gegangen. Unter diesen ‡30 Kameraden— waren einige Männer, die später Führer des unabhängigen Birma wurden, darunter Thakin Shu Maung, der später den Namen Ne Win annahm (‡Hell wie die Sonne—). ‡Thakin— ist ein Ehrenname, der ‡Herr— bedeutet, ein Titel, der den Briten vorbehalten war, wie ‡Sahib— in Indien. Die ‡30 Kameraden— nahmen ihn an, um die birmanische Unabhängigkeit zu untermauern. Aung San bildete eine mit den Japanern verbündete birmanische Armee, und während der japanischen Invasion führte Ne Win einen Sabotagetrupp gegen Rangun. Die Japaner wollten Birma als Sprungbrett für die Invasion Indiens benützen und bauten die Birma-Siam-Bahn über den Drei-PagodenPaß. Im August 1943 riefen sie die Unabhängigkeit Birmas aus; Aung San wurde Verteidigungsminister, Thakin Nu Außenminister. Sie gründeten eine birmanische Armee, in der Ne Win Brigadegeneral wurde. Aber die Japaner machten sich die Birmanen durch ihre Arroganz und Brutalität bald zu Feinden, und nachdem 1944 die Invasion Indiens scheiterte, gründete Aung San die ‡Antifaschistische Volksbefreiungsliga— und stellte sich auf die Seite der Briten, als sie in Birma einmarschierten. Am 27. März 1945 griffen Aung Sans Soldaten unter dem Oberbefehl von Lord Mountbatten die Japaner von hinten an und unterstützten damit wesentlich den britischen Vormarsch. Insgesamt war der Feldzug in Birma für die Briten lang und schwierig. Der Krieg ruinierte die industriellen Grundlagen Birmas œ die Ölindustrie, die Eisenbahnstrecken und das rollende Material wurden ebenso zerstört wie die meisten Einrichtungen für die bedeutsame Flußschiffahrt. Nach einer Phase des Zögerns entschieden die Briten, daß Birma zur selben Zeit wie Indien die Unabhängigkeit bekommen sollte. Im Februar 1947 wurde eine Konferenz der Vertreter der wichtigsten Stämme und Volksgruppen abgehalten, und die Birmanische Union wurde begründet. Das Hauptverdienst daran gebührt wohl Aung San, dem fähigsten und charismatischsten -245-
birmanischen Führer. Im Juli 1947 wurden er und sieben seiner Minister von einem Rivalen ermordet, und die Führung fiel an Nu, der seinem Namen den Ehrentitel U (Onkel) hinzusetzte. Am 17. Oktober 1947 unterzeichnete er in London den Unabhängigkeitsvertrag Birmas. Der Tag der Unabhängigkeitserklärung war dann œ nach dem Ratschlag buddhistischer Astrologen œ der 4. Januar 1948. DAS UNABHÄNGIGE BIRMA U Nu war nicht der Mann, um mit den Stammeserhebungen fertigzuwerden, die unverzüglich ausbrachen und Birma seither nicht mehr aus ihrem Griff gelassen haben. Die Wirtschaft lag in Trümmern. Der Lebensstandard erreichte erst 1975 wieder den Stand von 1940, und seither ist er wieder abgesunken. Von Anfang an waren die Probleme des Landes verknüpft mit der Einführung des Sozialismus, und nach dem Staatsstreich von 1962 verschärfte sich die Lage erheblich. Die Briten hatten Birma ebenso sorgfältig verwaltet wie die anderen indischen Staaten. Die Gebiete der Bergstämme, ungefähr die Hälfte des Landes, hatten als ‡klassifizierte— Gebieten gegolten und waren gesondert verwaltet worden, so wie die zuerst eroberten Küstenprovinzen. Der Staat Kayah, an der Grenze zu Thailand, war überhaupt nie erobert worden. Wie die Sikhs oder die Pathanen in Indien, so wurden die Bergstämme von den Briten als ‡kriegerische Rassen— eingestuft, im Gegensatz zu den als friedlich eingeschätzten Birmanen, und so wurden die Karen im Südosten und die Kachin im Nordosten in die britische Armee rekrutiert. Diese Teilung wurde noch verschärft, da die Karen zum Christentum übertraten und während des Krieges, als die Birmanen zunächst auf Seiten der Japaner kämpften, unbeirrt loyal zu den Briten standen. Nach der Unabhängigkeit diese so verschiedenen Völker in einer vernünftigen Staatsunion zusammenzufassen, überstieg die Möglichkeiten der Birmanen. Am Tag der Unabhängigkeit waren die Rote-Fahne-Kommunisten bereits im Aufruhr, und in der Küstenprovinz Arakan herrschte schon ein Aufstand moslemischer Separatisten. Die Weiße-FahneKommunisten revoltierten am 27. März 1948. Die Differenzen -246-
zwischen den beiden Fraktionen waren das Resultat der einander behindernden Ambitionen ihrer Führer. Dann unternahm ein Teil der Nationalarmee, die Aung San gegründet hatte, eine Revolte, und zwei der fünf Bataillone der regulären Armee meuterten. Zuletzt begann im Januar 1949 eine Rebellion unter den Karen im Südosten, und die Karen-Regimenter der Armee meuterten. U Nu entließ den Armeechef, einen Karen, und ersetzte ihn durch Ne Win, der die birmanische Armee bis 1988 kommandierte. Birma stand am Rand des Zerfalls. Am 13. März 1948 eroberten Kachin-Rebellen Mandalay, und Rangun wurde nur durch die Loyalität anderer Regimenter, die aus verschiedenen Stämmen zusammengesetzt waren, und die Uneinigkeit der unterschiedlichen Rebellengruppen gerettet. Die Regierung konnte schrittweise die Herrschaft über das Irrawaddy-Tal wiedererlangen und am 24. April Mandalay zurückerobern. Als die Kommunisten 1948 den Chinesischen Bürgerkrieg gewannen, entkam eine geschlagene Kuomintang-Armee in der Stärke von 12.000 Mann nach Birma und besetzte einen Teil des ShanStaates an der Ostgrenze. Diese ‡Chinesischen Irregulären Streitkräfte— (CIF) besiegten die birmanischen Truppen, die gegen sie aufgeboten wurden, und erweiterten rasch ihren Herrschaftsbereich. Die CIF wurde von Taiwan ebenso unterstützt wie von den USA, die davon träumten, sie gegen China einzusetzen. Die CIF und aufständische Stämme in Südost-Birma bildeten ein ‡Warlord—-System und kontrollierten das Goldene Dreieck in Birma, dem nördlichen Laos, Kambodscha und Thailand. Daraus wurde bald das weltgrößte Opiumanbaugebiet, und 1953 waren mehr als 80 Prozent der birmanischen Streitkräfte im Kampf gegen die CIF gebunden. Die CIF beherrscht heute noch dieses Gebiet, wenn sie auch viel von ihrer Macht verloren hat. Nachdem sich das Land von den Gefahren der Zeit unmittelbar nach der Unabhängigkeit erholt hatte, ging es mit ihm ständig bergab; die Wirtschaft entwickelte sich ungeachtet mancher hoffnungsvoller sozialistischer Modelle nur negativ, und die politischen Probleme wurden immer größer. Im November 1958 folgte œ mit Einverständnis U Nus œ der erste Militärputsch, und die Armee unter Ne Win wollte -247-
die Probleme des Landes losen. Dabei hatte sie zunächst erstaunlichen Erfolg. Im Februar 1960 wurden Wahlen abgehalten, die U Nu gewann , und die Armee zog sich in die Kasernen zurück. U Nu erklärte den Buddhismus zur Staatsreligion, was die Animisten sowie die christlichen Karen und Kachin aufbrachte. Auch die Shan gingen in Opposition: Das Gründungsabkommen der Birmanischen Union von 1947 hatte ihnen das Recht zur Abspaltung zugestanden, und nun wollten sie es auch wahrnehmen. Dann kündigte U Nu die Verstaatlichung des Importgeschäftes an; davon war aber ein Teil in der Hand eines Konsortiums, das der Armee gehörte. Am 2. März 1962 ergriff Ne Win die Macht. DIE MILITÄRDIKTATUR U Nu, seine Minister und Shan-Führer, die eben in Rangun über die Zukunft ihres Volkes verhandelt hatten, wurden alle eingesperrt. Dann verkündeten Ne Win und seine Offizierskollegen ihre Vision von der Zukunft des Landes. Die Hauptgrundsätze waren: Ausländerfeindlichkeit œ die sich gleichermaßen auf Großbritannien, China, die USA, die Sowjetunion und Birmas unmittelbare Nachbarstaaten erstreckte; buddhistische Theologie mit ihrem Abscheu vor Glücksspiel und Protz und ihrer Hingabe an die heilige Armut; und ein altmodisches Autoritätsverständnis. Ne Win selber war ein Frauenheld, Glücksspieler und Golfer. Gut beratene Außenminister entsandten golfspielende Botschafter nach Rangun, die ihre Angelegenheiten mit dem Regierungschef auf dem Golfplatz erledigen konnten. Er hatte auch ein Haus in Wimbledon in London, wo er mehrere Monate jährlich zubrachte, und da er feststellen mußte, daß auch seine Kinder Opfer des völlig unzureichenden birmanischen Schulwesens wurden, schickte er sie in England zur Schule. Ein Jahr nach dem Staatsstreich gaben die Briten König Thibaws Kronjuwelen an Ne Win zurück, in der Hoffnung, ihn dadurch für sich einzunehmen. Diese Geste hatte aber keine positiven Auswirkungen. Das Regime veröffentlichte in drei Dokumenten die Grundsätze des ‡Birmanischen Weges zum Sozialismus—. Das Schlüsseldokument -248-
hieß ‡Das System der Beziehungen zwischen dem Menschen und seiner Umwelt œ Die Philospohie der Birmanischen Sozialistischen Programmpartei.— Darin wurden Buddhismus und Sozialismus zu einem Brei birmanischer Prägung gemischt. Das Ergebnis dieser Doktrin ist die Zerstörung der birmanischen Wirtschaft: ausländische Firmen, vor allem die British Imperial Chemical Industries (IG) und die Burmah Oil Company wurden aus dem Land geworfen; die Verstaatlichung der Banken und aller großen Industrien wurde 1963 abgeschlossen; und mehr als 200.000 Inder und Pakistani wurden vertrieben. Das Regime verweigerte jedem Einwohner mit ausländischer Abstammung die Staatsbürgerschaft. 1978 begann die Registrierungsaktion der Einwohner der westlichen Grenzgebiete, wo Abkömmlinge bengalischer Einwanderer eine Moslemminderheit bilden. Rund 200.000 Moslems flüchteten nach Bangladesch. Die meisten kehrten wieder zurück, aber bis zum Ende des Regimes blieb ihre Lage ungewiß. 1969 unternahm U Nu, der aus dem Gefängnis in Rangun entlassen worden war, von Thailand aus einen Invasions- und Aufstandsversuch. Er scheiterte. Obwohl es weniger brutal war als Kambodscha unter den Roten Khmer und weniger korrupt als Indonesien, war das Ne Win-Regime zu großer Gewalt fähig, wenn es um die eigene Existenz ging. Das stellte es unter Beweis, als vier Monate nach dem Staatsstreich von 1962 eine Studentendemonstration in Rangun brutal niedergeschlagen wurde. Ausländische Nachrichtenagenturen wurden verboten, die Presse wurde verstaatlicht, und Birma schloß sich von der Welt ab. Durch das Zusammentreffen verschiedener Umstände wurde der Birmane U Thant nach dem tödlichen Flugzeugabsturz des UNOGeneralsekretärs Dag Hammarskjöld 1961 Geschäftsführender Generalsekretär, und 1962, im Jahr des Staatsstreichs, wurde er zum Generalsekretär gewählt. DIE REBELLIONEN Die verschiedenen Erhebungen gingen weiter. Dabei sind drei Kategorien zu unterscheiden: erstens, die Birmanische Kommunistische Partei; sie ist eine Klasse für sich, da sie die Regierung stürzen und selbst die Macht übernehmen möchte; -249-
zweitens, ethnische Gruppen, deren Ziel die Bewahrung ihrer Stammesautonomie ist; drittens, die Warlords, deren Hauptinteresse der Opiumhandel ist. Zu manchen Zeiten wurden rund 40 Prozent des Landes von Aufständischen kontrolliert, allerdings nur geographisch; der Bevölkerungsanteil ist viel geringer. Die ‡Birmanische Kommunistische Partei— (BCP), unterstützt von China, hat ihre Hauptstützpunkte in Shan, einem Gebiet, das sich einige hundert Meilen längs der chinesischen Grenze erstreckt, im Norden des Gebietes, das die CIF halten. Abgesehen von den überzeugten Kommunisten œ das Zentrum der Röte-Fahne- und der Weiße-Fahne-Kommunisten, die 1948 in die Berge gingen œ kommt die hauptsächliche Unterstützung der BCP von einer losen Koalition von Minderheiten, die die Shans und andere ethnische Aufständischengruppen vertreten. Die BCP kündigte die Errichtung einer Volksrepublik an, um die arbeitenden Klassen des Landes zu repräsentieren, und beschuldigte absurderweise Ne Win der Komplizenschaft mit ausländischen Imperialisten. 1968 versuchte der BCP-Führer Thakin Than Tun nach maoistischem Vorbild eine ‡Kulturrevolution— unter seinen Gefolgsleuten zu beginnen, stieß dabei aber auf wenig Gegenliebe und wurde ermordet. Das Problem der BCP ist, daß die meisten ihrer Mitglieder ethnischen Minderheiten angehören und die Partei daher wenig Anziehungskraft auf die Birmanen ausübt, während die Parteiführer, die vor allem in Peking leben, Birmanen sind, denen ihre eigenen Landsleute erst recht mißtrauen. Ein weiteres Problem ist, daß die BCP die fruchtbarsten Opiumfelder im Goldenen Dreieck unter Kontrolle hat. Eine Zeitlang versuchte sie zwar, die Produktion einzuschränken, dann erlag sie aber der Versuchung der hohen Gewinne, und bald erreichte die Produktion wieder ihr früheres Niveau. Die Karen-Rebellen kontrollieren die 1.000 Kilometer Dschungel und Gebirge längs der Grenze zu Thailand im Südosten Birmas. Andere Rebellengruppen beherrschen die Grenzen im Norden, Chin und Naga-Rebellen hingegen das Gebirge, das Birma von Indien trennt. Die beiden letzteren Gruppen arbeiten mit ihren Stammesgenossen jenseits der Grenze zusammen, die sich gegen die indische Regierung auflehnen. 1976 bildeten neun ethnische Gruppen -250-
œ zu denen bald eine zehnte hinzukam œ die ‡Nationale Demokratische Front— (NDF), eine Allianz, die von Rangun die Autonomie fordert. Unter den ursprünglichen neun war die ‡Karen National Union—, die seit 1949 in verschiedenen Formen rebelliert. Ihre Armee ist die ‡Karen Nationale Befreiungsarmee— (KNLA), ungefähr 5.000 Mann stark. Militärische Operationen und die örtliche Verwaltung werden durch den Schmuggel von Edelsteinen und Teakholz nach Thailand finanziert. Die Karen behaupten, daß sie mit dem Drogengeschäft nichts zu tun hätten; das verstieße gegen ihren baptistischen Glauben. Ihre Alliierten weiter nördlich haben weniger Skrupel. Die anderen Mitglieder der NDF sind die Katschin, Shan, Wa, Mon, Arakan sowie die kleineren Stämme Karenni, Paluang, Lahu und PaO. Zusammen stellen sie œ nach eigenen Angaben œ etwa 35.000 Krieger. Das mag Anfang der achtziger Jahre gestimmt haben, jetzt ist das wohl eine starke Übertreibung. 1984 begann die birmanische Armee eine neue Offensive gegen die KNLA und eroberte zwei Karen-Stützpunkte. In weiteren Angriffen gelang es der Armee, ungefähr 20.000 Menschen aus ihren Heimstätten in Lager an der thailändischen Grenze zu treiben. Die KNLA kämpft in der traditionellen Guerillataktik, mit Hinterhalten auf Armeepatrouillen und Überfällen auf abgelegene Armeeposten. Sie hat auch Bomben in Dörfern und Städten gelegt. Die Regierung behauptet, daß die KNLA für den Anschlag auf einen Zug bei Rangun am 9. Januar 1988 verantwortlich war, bei dem neun Menschen getötet und 38 verwundet wurden. Seit 1986 wurde die Armeeoffensive auf kommunistische und Katschin-Freischärler im Nordosten und Mon-Rebellen im Süden Birmas ausgeweitet. Die stärkste der NDF-Armeen ist wahrscheinlich die ‡Katschin Unabhängigkeitsarmee— (KIA), der militärische Arm der ‡Katschin Unabhängigkeits Organisation— (KIO). Bei einem Großangriff überrannte die birmanische Armee 1987 die Hauptquartiere beider Organisationen, aber nach eigenen Angaben haben sie heute noch immer 4.000 bis 8.000 Soldaten und beherrschen die Hälfte des Staates Katschin. Laut einem Amnesty International-Report vom Mai 1988, der auf -251-
Interviews mit 70 Karen-Flüchtlingen in Lagern an der thailändischen Grenze beruhte, hat die Zivilbevölkerung in den Rebellengebieten durch Gegenangriffe der Regierungstruppen schwere Verluste erlitten. Die Bewohner wurden in ‡strategische Dörfer— zusammengetrieben, oftmals von ihren Feldern ferngehalten, und etliche wurden kurzerhand erschossen. Amnesty hat Beweise für mehr als 200 illegale Exekutionen und vermutet, daß es weit mehr sind. Der Bericht hält auch zahlreiche Fälle von Folter fest: ‡Zahllose Dorfbewohner werden gezwungen, als Träger oder Führer für die Armee zu arbeiten. Viele sind dabei gestorben. Gefangene Dörfler werden auf Gewaltmärsche getrieben, bis sie entweder an Krankheiten oder Erschöpfung sterben, oder sie werden getötet, da sie nicht genug arbeiten, oder sie fliegen in Minenfeldern in die Luft, wo sie den Soldaten vorangehen müssen. Ein KarenBauer, jetzt ein Flüchtling, war mit einem Freund unterwegs, um Reis zu kaufen. Da liefen sie einer Armeepatrouille in die Hände. Sie wurden beschuldigt, mit den Rebellen Kontakt zu haben und gezwungen, als Lastträger für die Armee zu arbeiten. Sein Freund starb nach grausamen Schlägen. ,Als ich den Bauern das letzte Mal sah, lag er neben dem Weg und keuchte. Er konnte weder gehen noch aufstehen. Die Soldaten nahmen die Last von seinen Schultern und ließen ihn liegen. Wir konnten ihm nicht helfen. Wir konnten ihn nur anschauen, ihm im Vorbeigehen einen Blick zuwerfen.— Der AI-Bericht dokumentiert 60 solcher Berichte von Beispielen offensichtlich planmäßiger schwerer Menschenrechtsverletzung. Die Völker der abgelegenen Gebirge und Dschungel des östlichen und südöstlichen Birma und der anschließenden Gebiete von Laos und Thailand waren nahezu 50 Jahre von der Welt abgeschlossen. Die Armeen Birmas und Thailands unternehmen gelegentlich Angriffe gegen die Warlords, Schmuggler, Kommunisten oder ethnischen Aufständischen, aber sie haben die Gebiete niemals unter ihre Kontrolle gekommen. Durch den Opiumhandel ist das Gebiet aber von großem Interesse für die Außenwelt. Mehr als die Hälfte des Heroins der Welt kommt aus dem Goldenen Dreieck, und dieser Anteil wächst im gleichen Maße, wie in der Türkei die Antirauschgiftprogramme Früchte tragen. Trotz der amerikanischen Unterstützung ist die birmanische Regierung nicht in der Lage, die Stammesgebiete zu -252-
kontrollieren. Ne Win gewann die Hilfe der USA durch das Versprechen der rigorosen Drogenbekämpfung. Die Amerikaner lieferten Hubschrauber, Flugzeuge und Sprühchemikalien, und 1988 kündete die Regierung an, eine Opiumanbaufläche von 20.234 Hektar zu vernichten. Die Rebellen behaupten aber, daß die US-Lieferungen zum Kampf gegen sie eingesetzt werden und daß Einheiten der regulären birmanischen Armee in den Opiumhandel verstrickt sind. Nach Angaben des US-Außenministeriums ist Birma der weltgrößte Opiumproduzent: 1987 waren es zwischen 925 und 1.230 Tonnen gegenüber 700 bis 1.100 Tonnen 1986. 1988 produzierte Birma mehr als 1.200 Tonnen Rohopium, Laos 100 bis 200 Tonnen und Thailand immer noch 27 Tonnen. Daraus wurden insgesamt rund 140 Tonnen Heroin gewonnen. Die Geschichte eines der Opium-Warlords mag als Illustration für die Problematik des Goldenen Dreiecks stehen. Khun Sa (oder Chang Chifu) war halb Chinese, halb Schan, Führer der ‡Vereinigten Schan Armee— (SUA), nach außen nationalistische Freischärler, in Wahrheit ein bewaffnetes Opiumkartell. Khun Sa war mit der GIF verbündet, zerstritt sich aber in den sechziger Jahren mit ihnen und wurde von der birmanischen Regierung zum Milizführer in seinem Heimatdistrikt Loimaw gemacht. Er baute das Drogengeschäft aus, errichtete seine eigene Opiumraffinerie jenseits der Grenze in Thailand und etablierte sich ab 1964 selbst als Drogenschmuggler und unabhängiger Warlord. 1967 verhängte die GIF ein Embargo über den SUA-Opiumhandel, und Khun Sa kämpfte im selben Jahr einen Opiumkrieg gegen seine früheren Verbündeten. Ein SUA-Opiumtransport wurde in den Bergen von Laos von der laotischen Armee gestellt (die damals mit den USSpecial Forces und der CIA gegen die vietnamesischen Kommunisten verbündet war). Die Birmanen nahmen Khun Sa gefangen. Durch den Verlust ihres Anführers verlor die SUA bis 1973 an Bedeutung, aber dann entführte Khun Sas Bruder zwei sowjetische Ärzte, die in einem von der Sowjetunion erbauten Spital arbeiteten. Sie wurden gegen Khun Sa ausgetauscht, der unter Hausarrest gestellt wurde. Zwei Jahre später bestach er seine Wächter, entkam und übernahm wieder das Kommando über die SUA. -253-
1957 besiegte die birmanische Armee die CIF und brach ihre Herrschaft über den Opiumhandel in den Schan-Bergen. Khun Sa und die SUA füllten dieses Vakuum und beherrschten bald den Handel im ganzen Goldenen Dreieck. Die SUA, 1.400 bis 8.000 Mann stark, produzierte nicht nur ihr eigenes Opium, sondern kaufte auch weiches von anderen Widerstandsgruppen, einschließlich der Kommunistischen Partei. Die SUA brachte das Opium zu chinesischen Syndikaten in Thailand und schmuggelte auch Gold, Juwelen und Jade aus dem Land. Dieses einträgliche Geschäft wurde 1981 zerstört. Die thailändische Armee sandte eine Patrouille in das Territorium der SUA, die prompt besiegt wurde. Sie mußte von einer weit größeren Einheit herausgehauen werden, und die Thais zerstörten in regelrechten Offensiven 1982 und 1983 die Stützpunkte der SUA in Thailand. Aber die Niederlage von Khun Sa hatte keine Auswirkungen, und schon gar nicht war sie eine Niederlage des Opiumhandels. Khun Sas Abstieg machte nur den Weg für andere Warlords frei. DER AUFSTAND Wie andere Diktatoren vor ihm wollte auch Ne Win seine Macht verschleiern. Er gab 1972 den Armeeoberbefehl ab und trat 1981 vom Präsidentenamt zurück œ aus Gesundheitsgründen. Aber wie Mao Tsetung und Stalin behielt er die Schlüsselposition des Parteiführers. Eine Reihe von anderen Generälen oder ehemaligen Generälen bekleideten die Ämter des Präsidenten, Ministerpräsidenten oder Verteidigungsministers, aber in Wahrheit gab Ne Win die Herrschaft niemals ab. Im September 1987 trat die Regierung aus ihrer Abgeschlossenheit heraus. Überfallsartig wurde eine Währungsreform durchgeführt, die jedermann im Land seiner Ersparnisse beraubte. Alle Banknoten im Nominale von mindestens 25 Kyat wurden für wertlos erklärt. Der offizielle Wechselkurs betrug zu diesem Zeitpunkt 6 Kyat = 1 USDollar, der Schwarzmarktkurs war 1:40. Ne Win sagte, daß sich die Aktion gegen die Schwarzhändler richte œ die tatsächlich die einzigen waren, die die Wirtschaft in Schwung hielten œ und gestand die Notwendigkeit von Reformen ein. Im März 1988 begannen in Rangun -254-
die ersten Studentendemonstrationen; der unmittelbare Anlaß war ein Tumult in einem Teehaus, bei dem ein Student getötet wurde. Andere Studenten organisierten daraufhin einen Protestmarsch nach Rangun, und Armee und Polizei zerschlugen die Demonstration mit großer Gewalt, töteten etliche Studenten (nach manchen Schätzungen bis zu 200), und verhafteten 3.000. Drei Monate später brachen weitere Demonstrationen aus. Nach Tagen ununterbrochener Unruhen schloß die Regierung am 21. Juni die Universitäten und verhängte eine nächtliche Ausgangssperre über die Hauptstadt und andere Städte. Radio Birma berichtete: ‡Fünf Polizisten wurden getötet und sechsundzwanzig schwer verletzt, als der entfesselte Mob mit Schwertern, Stöcken und Schleudern angriff. Auch einer der Demonstranten wurde getötet, einige andere wurden verwundet.— Die Zahl der Toten war in Wahrheit viel höher, wie die Regierung später zugeben mußte. Nach Berichten von Diplomaten haben die Soldaten unter Befehl von General Sein Lwin mehr als 1.000 Demonstranten getötet; in einem Fall wurden 40 Menschen in einem Bus erstickt. Diese Ereignisse ließen im ganzen Land die Opposition gegen die Regierung auflodern. Aung Gyi, ein ehemaliger General, der am Putsch von 1962 beteiligt gewesen war, sich aber später von seinen früheren Gefährten abgewandt hatte, richtete eine Reihe offener Briefe an Ne Win, in denen er feststellte: ‡Das Land ist politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich völlig abgewirtschaftet. Die schlimmste Verrottung ist aber die moralische.— Ne Win, nun siebenundsiebzig Jahre alt, gab bei einer Parteikonferenz am 23. Juli seinen Rücktritt bekannt. ‡Da ich indirekt verantwortlich bin für die Ereignisse von März und Juni, und angesichts meines Alters, trete ich sowohl vom Amt des Parteivorsitzenden zurück als auch aus der Partei aus—, sagte er. ‡Das Blutvergießen im März und Juni zeigte das mangelnde Vertrauen in die Regierung. Um herauszufinden, ob hinter diesen Demonstrationen die Mehrheit oder eine Minderheit steht, muß eine Volksabstimmung stattfinden, so daß die Menschen sich zwischen dem bestehenden Einparteiensystem und einem Mehrparteiensystem entscheiden können.— Er warnte das Land auch vor weiteren Ausschreitungen: ‡Wenn die Armee schießt, trifft sie auch.— -255-
Eine Reihe von Ne Wins älteren Gefährten trat mit ihm zurück, aber die Partei war auf den Machtverzicht noch nicht eingerichtet. Die Parteikonferenz lehnte seinen Vorschlag einer Volksabstimmung ab, und Sein Lwin, der die Sicherheitspolizei seit 1962 kommandiert und die März-Demonstrationen niedergeschlagen hatte, wurde zum Parteivorsitzenden und Präsidenten ernannt. Unverzüglich ließ er Aung Gyi und andere prominente Dissidenten verhaften, aber die Demonstrationen gingen weiter. Am 3. August verhängte er das Standrecht über Rangun. Massendemonstrationen folgten œ in Rangun, Mandalay, Pegu und anderen Städten. Soldaten schossen in die Menge, und jeden Tag starben viele Menschen. Mönche, Studenten, Arbeiter, Angehörige der Mittelschicht œ alle strömten hinaus auf die Straßen und stellten sich den Truppen entgegen. Es war wie eine Neuauflage der Ereignisse in Manila 1986. Am 10. August drangen Soldaten auf der Suche nach verwundeten Demonstranten in ein Spital in Rangun ein und erschossen Ärzte und Krankenschwestern, die Patienten beschützen wollten. Am Tag darauf setzte die Armee Panzer gegen die Demonstranten in den Hauptpagoden der Stadt ein, und überall in der Stadt wurden Barrikaden errichtet. Die Armee kämpfte wilde Gefechte gegen 100.000 und mehr Demonstranten in Rangun. Am 12. August trat Sein Lwin zurück. Die Regierung gab zu, daß seit seinem Amtsantritt 100 Demonstranten getötet worden seien, aber in Wahrheit waren es mindestens 1.000, nach Angaben der Studenten sogar bis zu 3.000. Als die Regierung sich auflöste, griffen die Menschenmassen Parteibüros und Regierungsgebäude an und brannten sie ebenso nieder wie die Häuser prominenter Politiker. Am 19. August ernannte die Partei U Maung Maung zum Präsidenten. Er war Staatsanwalt, einer der Autoren des ‡Sozialistischen Parteiprogrammes— und des ‡Birmanischen Weges zum Sozialismus" und ein enger Vertrauter von Ne Win. Am 23. August gab es in Rangun weitere gewaltige Demonstrationen, in denen die neue Regierung abgelehnt und die Demokratie gefordert wurde. Am nächsten Tag hob Maung Maung das Kriegsrecht in Rangun wieder auf, ließ 1.700 politische Gefangene frei (auch Aung Gyi) und kündete eine außerordentliche Parteikonferenz für den September an, auf der das Ende des Einparteiensystems diskutiert -256-
werden sollte. Die Minister und Generäle hatten nun nur mehr einige Regierungsgebäude in Rangun unter ihrer Kontrolle, ihr Parteihauptquartier und die großen Armeelager. Die Menschenmengen hatten den Rest in ihrer Gewalt, und das völlige Chaos schien möglich. Da betrat der zweiundachtzigjährige U Nu wieder die politische Bühne. Ne Win hatte ihn 1980 aus dem Exil in Thailand zurückgeholt, und er war in ein Kloster eingetreten. Nun versuchte er, ein Oppositionskomitee zu bilden. Aung Gyi unterstützte seine Forderungen, aber viele mißtrauten ihm wegen seiner engen Verbindung mit Ne Win im Jahr 1962. Aung San Suu Kyi, die dreiundvierzigjährige Tochter von Aung San, dem 1947 ermordeten Unabhängigkeitsführer, kehrte aus England zurück, wo ihr Mann in Oxford unterrichtete, und rief zur Einheit auf. Ein Enkel des verstorbenen UNO-Generalsekretärs U Thant schloß sich diesem Appell an. DER STAATSSTREICH Am 18. September übernahm die Armee in einem sorgfältig vorbereiteten Putsch die Macht. Der Generalstabschef, General Saw Maung, überschwemmte Rangun mit Soldaten und zerschlug die Demonstrationen. In einer Radioansprache an die Nation sagte er: ‡Um die zerstörerischen Kräfte von unserem Land abzuwenden und um die Interessen des Volkes zu wahren, haben die Verteidigungskräfte alle Macht im Staat übernommen.— Viele Birmanen nahmen an, daß Ne Win, der sich seit seinem Rücktritt im Juli völlig zurückgezogen hatte, immer noch die wahre Macht ausübte. In den ersten Tagen des neuen Regimes wurden Hunderte Demonstranten getötet. Die Regierung gab in den ersten beiden Tagen zunächst 60 Opfer zu, erhöhte aber später diese Zahl selbst auf 425. Ausländische Diplomaten glauben, daß bis zum Ende des Widerstands im Oktober mehr als 1.000 Menschen ums Leben gekommen sind. Der Generalstreik brach am 3. Oktober zusammen. Die studentischen Rebellen verließen zu Tausenden die Städte und Universitäten und gingen in die Berge, um sich den aufständischen Stämmen -257-
anzuschließen und den Guerillakrieg zu erlernen. In den ersten Wochen sollen es mehr als 5.000 gewesen sein, denen in den nächsten Monaten noch viele folgten. Die Opposition schloß sich zur ‡Liga für Demokratie— zusammen und wählte am 27. September Aung Gyi zu ihrem Vorsitzenden. Der frühere Verteidigungsminister U Tin Oo wurde sein Stellvertreter, Aung San Suu Kyi Generalsekretärin. Die Regierung kündete ihre Verhandlungsbereitschaft mit der Opposition an, aber die Liga zögerte, diese Einladung anzunehmen, da sie fürchtete, die Unterstützung des Volkes zu verlieren. Aber die Partei wurde eingetragen œ falls es doch zu richtigen Wahlen kommen sollte. Der Wirtschaft des Landes nützte der Staatsstreich nichts. Die USA, Japan, die BRD und andere Länder stellten ihre Hilfszahlungen ein œ Entwicklungshilfe hatte 35 Prozent des Staatshaushaltes ausgemacht. Nun mußten alle Devisenreserven aufgewendet werden, um Reis für die hungernde Bevölkerung zu kaufen. In einem Versuch, die Demonstranten zu besänftigen, löste die Regierung die ‡Birmanische Sozialistische Programm-Partei— auf und beschlagnahmte ihren Besitz. Führende Mitglieder gründeten dann die ‡Nationale Vereinigungspartei—, offensichtlich dieselbe Clique, die das Land 26 Jahre lang so schlecht regiert hatte. Aber die Opposition konnte unbehelligt arbeiten, eine eingeschränkte Pressefreiheit wurde eingeführt, und im Februar 1989 wurden für den Mai 1990 Parlamentswahlen angekündigt. Die Versprechen wurden nicht eingehalten. Statt dessen wurde eine rigorose Militärdiktatur errichtet. Aung San Suu Kyi hielt im ganzen Land Versammlungen ab, so lange sie nicht verboten wurden, zu denen jeweils mehr als 10.000 Menschen kamen. Für den 19. Juli, einen nationalen Feiertag zum Andenken an die Ermordung ihres Vaters, hatte sie in Rangun zu einer Massenversammlung aufgerufen. Die Regierung nützte die Gelegenheit, um die Opposition zu zerschlagen. Die Stadt war voll von Soldaten, und jeder Offizier hatte die Ermächtigung, jeden Verdächtigen festzunehmen und auf der Stelle zu drei Jahren Zwangsarbeit, lebenslanger Haft oder sofortiger Hinrichtung zu verurteilen. Aung San Suu Kyi sagte die Versammlung ab. Am nächsten Tag wurden sie und U Tin Oo unter Hausarrest -258-
gestellt. Tausende andere Parteimitglieder wurden verhaftet (um in den Gefängnissen für die politischen Gefangenen Platz zu schaffen, wurden 18.000 gewöhnliche Häftlinge freigelassen). Aung San Suu Kyi begann einen Hungerstreik, den sie später abbrach. Die Armee startete eine neue Offensive gegen die Karen und andere Aufständische; sie meldete als großen Erfolg, daß sie die Karen über die Grenze nach Thailand getrieben habe. Von Kachin wurde berichtet, daß politische Gefangene aneinandergebunden als Lastträger verwendet wurden, die solange marschieren mußten, bis sie fielen und starben. Die neue Regierung benannte das Land in ‡Myanmar— um, und auch eine Reihe von Städten bekam andere Narnen. Rangun wurde Yangon. Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum Ausländer ihre Sprachgewohnheiten den Launen eines birmanischen Diktators unterwerfen sollten, und nur wenige übernahmen diese Änderung. Birmas einzige Handelsverbindung mit der Außenwelt war nun der Opiumschmuggel sowie der Handel mit Hartholz und Edelsteinen. Seit dem Staatsreich ist der Opiumexport stark angestiegen. Birma ist mittlerweile ein seriöser Anwärter auf den letzten Platz in der Liste der ärmsten Länder der Welt, Angesichts der Schätze des Landes und der Bildung und Fähigkeiten der Bevölkerung wahrlich eine beachtliche Leistung! Die Regierung kündete die langversprochenen Wahlen für den Mai 1990 an. Zur Vorbereitung wurde U Tin Oo zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, Aung San Suu Kyi wurde das passive Wahlrecht aberkannt. Wie U Nu blieb sie unter Hausarrest. Die Wahlen, die aller Skepsis zum Trotz stattfanden, brachten ein unerwartetes Ergebnis. Die Bevölkerung ließ sich von den massiven Drohungen wie von der umfassenden Propaganda nicht einschüchtern. Die Regierung unternahm zwar noch Versuche, das Wahlergebnis zu verfälschen, schließlich mußte sie aber den Erdrutschsieg der Opposition eingestehen. Aung San Suu Kyi blieb zunächst aber von der Macht ausgesperrt œ das Wahlergebnis wurde zwar akzeptiert, aber ignoriert. Eine neue Explosion ist nur eine Frage der Zeit. Sogar in Birma ist man über die Geschehnisse in Osteuropa informiert.
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CHINA
Geographie: Fläche 9.560.980 km2, der drittgrößte Staat der Welt. Bevölkerung: 1.069,628.000 Einwohner. 80 Prozent der Bevölkerung leben auf dem Land œ aber das bedeutet immer noch eine städtische Bevölkerung von 220 Millionen, die doppelte Bevölkerungszahl von Japan. BSP: 300 $/Einw. Flüchtlinge: 100.000 Tibeter in Indien; 350.000 aus Vietnam, von denen die meisten ethnisch Chinesen sind. Seit der Revolution von 1949 war China in einen großen Krieg verwickelt, den Korea-Krieg. Es gab auch bewaffnete Auseinandersetzungen mit der Sowjetunion, Indien, Vietnam und mit Taiwan; China hat Tibet erobert und in diesem Land auch Aufstände niedergeschlagen. Keines der diesen Konflikten zugrundeliegenden Probleme wurde wirklich gelöst, und sie können jederzeit wieder aufflammen. In Lhasa kam es 1987, 1988 und auch danach immer wieder zu Unruhen, und 1988 gab es ein Scharmützel mit Vietnam auf den umstrittenen Spratly-Inseln. Ein Grenzstreit zwischen so großen, mächtigen und aggressiven Staaten wie China und der UdSSR könnte eine echte Gefahr für den Weltfrieden darstellen, aber im Moment sind die internen Probleme beider Länder derart groß, daß ein ernsthafter Konflikt unwahrscheinlich erscheint. Die größten Bedrohungen Chinas liegen in ihm selbst. Als Deng Xiaoping am 4. Juni 1989 Panzer auf den Tienanmen-Platz schickte, wurde damit die Krise keineswegs beendet. Sie wurde nur hinausgezögert und wesentlich verschärft. Alle Reformen Dengs konnten die Frage nach der politischen Legitimität nicht lösen, die seit 1911 ein Kernproblem darstellt; und genausowenig die gleich wichtige Frage, wie ein so riesiges und uneinheitliches Land an die moderne Welt herangeführt werden kann. Besteht immer noch die Wahl zwischen orthodoxem Kommunismus, begleitet von wirtschaftlichem Stillstand und immer wiederkehrenden politischen Unruhen einerseits und politischem Pluralismus anderseits, begleitet von wirtschaftlichem Fortschritt? -260-
Diese Fragen sind von großer Bedeutung für den Rest der Welt. Wenn Chinas Wirtschaft weiterhin so wächst wie in den achtziger Jahren (9,4 Prozent im Jahr 19871, wird sie die Sowjetunion zu Anfang des 21. Jahrhunderts überholen, und dann bald auch Japan und Westeuropa. China hat zehnmal so viele Bewohner wie Japan, und das Land hat weit größere Rohstoffvorkommen. Wenn die Chinesen irgendwann dem Beispiel folgen, das Japan seit 1945 bietet, und ihre Wirtschaft tatsächlich entwickeln, wird es um die Mitte des kommenden Jahrhunderts die Weit beherrschen. Ohne die kommunistische Revolution wäre es vielleicht schon in diesem Jahrhundert so weit gewesen. Sollte allerdings das Massaker vom Platz des Himmlischen Friedens das chinesische Wirtschaftswachstum ernsthaft beeinträchtigen und das Land in heftige Auseinandersetzungen über die Gedanken des Großen Vorsitzenden zurückfallen, würde China für ausländische Abenteuer wieder anfälliger werden, für den Kampf gegen Taiwan, die UdSSR oder Vietnam. GESCHICHTE Kein Land der Welt hat eine vergleichbare Geschichte. Nur Ägypten ist als Nation älter, und nur Japan hat eine annähernd gleiche staatliche Kontinuität. Chinas Größe und Bevölkerungszahl und die ununterbrochene Fortführung der chinesischen Zivilisation über die Jahrtausende sind einzigartig. Das chinesische Reich ist immer wieder zerfallen, aber es wurde immer wieder neu errichtet. Die Tragödie des modernen China ist, daß œ anders als in Japan œ die Herrscher des 19. Jahrhunderts die Anpassung an die neuen Zeiten verweigerten und bis ans Ende des Kaiserreichs dem Einfluß der ‡Barbaren— widerstanden. Chinas letzte Dynastie, die Qing, waren ursprünglich Mandschuren, die das Land im 17. Jahrhundert erobert hatten. In ihrer Dekadenz, beherrscht von der bösartigen Kaiserinwitwe Tzu Chin, hatte die Dynastie der Auflösung Chinas durch Korruption und höfischen Fraktionsstreit nichts entgegenzusetzen. Die Qing wurden schließlich von der Revolution 1911 hinweggefegt. Hinter dieser Revolution standen westlich orientierte, aber strikt chinesisch denkende Intellektuelle unter -261-
Führung von Sun Yatsen. Für eine Weile schien es, daß China dem Beispiel Japans folgen und die Modernisierung unter Beibehaltung seines nationalen Charakters nachholen würde. Westliche Staaten, vor allem die USA, waren an diesen Anstrengungen wesentlich beteiligt. Portugal, Rußland, Deutschland, Großbritannien und die USA hatten extraterritoriale Gebiete in China errungen, und der privilegierte Status der Ausländer in Shanghai war ein ständiger Pfahl im Fleisch der chinesischen Empfindlichkeit. Aber diese Zugeständnisse waren der Modernisierung des Landes zuträglich, und bis 1937 versuchte keine ausländische Macht, China zu erobern. Es war einfach zu groß. Die Nationale Regierung erlangte niemals die völlige Kontrolle über das gesamte Land. Es gab Putsche und kurze Bürgerkriege, und verschiedene Teile des riesigen Landes waren in der Hand von Warlords. 1928 beherrschte Tschiang Kaischek, der Führer der Kuomintang-Partei, den Großteil des Landes. Er hätte es vielleicht zu einem modernen Staat machen können, aber die Weltwirtschaftskrise traf China hart. 1931 besetzte Japan die Mandschurei, wo der Großteil der modernen chinesischen Industrie lag, und 1937 begann es mit der Eroberung des ganzen Landes. Der Krieg war so brutal wie die Invasion der Deutschen in der Sowjetunion. Nach der Eroberung der Hauptstadt Nanking verwüsteten die japanischen Truppen die Stadt, zerstörten die öffentlichen Gebäude und massakrierten œ nach schwankenden Schätzungen œ zwischen 40.000 und 200.000 Menschen. Es war die erste der großen Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs. Die Menschenverluste Chinas im Krieg gegen Japan waren enorm, wahrscheinlich mehr als 20 Millionen. Japan besetzte das östliche Drittel des Landes, konnte China aber niemals besiegen. Sie scheiterten aus denselben Gründen wie Hitler in der Sowjetunion: Das Land war zu groß, der Widerstand weit heftiger, als Tokio erwartet hatte, und die Hilfe des Westens spielte eine wesentliche Rolle. In der amerikanischen Geschichtsschreibung gibt es die Tendenz, den Anteil der Sowjetunion an der Niederwerfung Hitlers ebenso herunterzuspielen wie den Anteil Chinas an der Niederlage Japans. -262-
Beide waren ganz wesentlich. Mit einem anderen Problem fand sich Tschiang von Anfang an konfrontiert, und zuletzt unterlag er ihm: die Kommunistische Partei Chinas. Sie war eine originär chinesische Schöpfung, zunächst angeführt von Studenten, die in Europa studiert Lind den Marxismus in den berauschenden Tagen nach der Oktoberrevolution übernommen hatten, und wie andere Kommunistische Parteien empfing die KPCh ihre Weisungen aus Moskau. Aber die Bolschewisten, außer Trotzki und seinen Gefolgsleuten, beschäftigten sich mehr mit der Durchsetzung des Kommunismus im eigenen Land als mit der Verbreitung der Weltrevolution. So blieben sie sogar mit Tschiang Kaischek und der Kuomintang verbündet, auch nachdem Tschiang die Kommunisten im April 1927 in Shanghai niederschlug, wobei mindestens 10.000 umgebracht wurden. Dem folgte ein langwieriger Führungsstreit in der KP. Mao Tsetung und seine Anhänger, die die Revolution unter den Bauern verbreiten wollten, behielten die Oberhand. Stalin predigte den chinesischen Kommunisten bis zuletzt Anpassung und legte damit die Saat für den tiefen Zwist zwischen den beiden Ländern, die in den sechziger Jahren zum offenen Konflikt führte. Die Partei ging aus den Städten auf das Land, um sich neu zu organisieren. Dort wurde sie immer wieder von den KuomintangTruppen bedrängt, und sie floh nach Süd-China, wo sie in ständiger Gefahr war, zerschlagen zu werden. 1934 führte Mao seine Soldaten im ‡Langen Marsch— œ mehr als 10.000 Kilometer œ in den abgelegenen Nordwesten des Landes. 190.000 Menschen begannen diesen Marsch, davon 100.000 Soldaten, aber in Shensi kamen nur noch 20.000 an. Tschiang hielt die Kommunisten für besiegt und wandte sich von ihnen ab, dem japanischen Feind entgegen. Die chinesische KP schloß sich dieser Abwehr der Japaner an, nahm aber unmittelbar nach Kriegsende den revolutionären Kampf wieder auf. Trotz großer amerikanischer Unterstützung unterlagen die Kuomintang, und am 1. Oktober 1949 proklamierte Mao auf dem Tienanmen-Platz in Peking die Volksrepublik China. Tschiang zog sich nach Taiwan (Formosa) zurück, einer Insel(gruppe), die zwischen 1895 und 1945 von den Japanern besetzt gewesen war. -263-
CHINA UNTER MAO Als Mao 1976 starb, hatte seine Regierung einige Verdienste erworben. Sie hatte das Land geeint und mit dem Unwesen der Warlords und Banditen aufgeräumt. Sie hatte zum ersten Mal in Jahrhunderten das nationale Ansehen wiederhergestellt: Ein Jahr nach der erfolgreichen Revolution war China in den Korea-Krieg eingetreten und hatte den Amerikanern einen Waffenstillstand abgetrotzt, zu einer Zeit, als die USA auf dem Höhepunkt ihrer Macht waren. Mao hatte die sowjetischen Versuche abgewehrt, aus China einen weiteren Satellitenstaat zu machen und China als einen der führenden Sprecher der Dritten Welt etabliert. In einem langen und zähen Duell mit Washington gelang es Peking, daß die Amerikaner die Volksrepublik als die einzige legitime Regierung Chinas akzeptierten. Die chinesische Außenpolitik war œ außer in Korea (siehe KOREA) œ ein Erfolg. Die Innenpolitik war eine Katastrophe. Mao verordnete dem Land eine extreme kommunistische Ideologie, die nicht nur privaten Besitz und private Landwirtschaft abschaffte, sondern auch die Dörfer, die das Herz der chinesischen Gesellschaft waren, und die traditionelle Familie. Rund eine Million Landbesitzer wurden hingerichtet, und die chinesischen Bauern wurden in Kommunen getrieben, die den israelischen Kibbuzim ähnelten. Allerdings mit zwei großen Unterschieden: Der Kibbuz ist eine gänzlich demokratische und freiwillige Einrichtung. In den Kommunen ist alles, vom Anbauplan bis zum Lesestoff der Menschen von der Partei bestimmt. Der Kibbuz ist klein und handhabbar. Die Kommunen waren riesig. Das offensichtliche Scheitern seiner Politik verleitete Mao zu extremen Maßnahmen. 1957 begann er mit einer ‡Kampagne der Selbstkritik— und forderte ‡Laßt hundert Blumen blühen, laßt hundert Denkrichtungen wetteifern—, in der Hoffnung, die Partei zu radikalisieren. Die Chinesen nahmen ihn beim Wort und forderten Demokratie, Privateigentum und das Ende der kommunistischen Mißwirtschaft. Die Kampagne wurde hastig abgebrochen, und diejenigen, die dem Vorsitzenden Mao geglaubt hatten und ihre -264-
Stimmen zur Kritik erhoben hatten, wurden erschossen oder eingesperrt. 1958 verkündete er den ‡Großen Sprung—, ein Programm verstärkter wirtschaftlicher Entwicklung œ in dem Glauben, China könne in fünf Jahren das gelingen, was in der Sowjetunion vierzig Jahre gebraucht hatte. Der ‡Große Sprung— war eine Katastrophe und warf die chinesische Wirtschaft um eine Generation zurück. DIE KULTURREVOLUTION Die Genossen Maos schränkten allmählich seine Macht ein, und in den frühen sechziger Jahren strebten sie Wirtschaftsreformen an. 1966 schlug Mao mit der ‡Großen Proletarischen Kulturrevolution— zurück, einer der bemerkenswertesten Episoden der modernen Geschichte. Sie wurde im Juli 1966 völlig unerwartet ausgerufen, als Mao œ damals bereits 73 Jahre alt œ aus seiner Zurückgezogenheit auftauchte und den Jangtse-Fluß durchschwamm. Dieses Ereignis fand große Beachtung und sollte demonstrieren, daß Maos revolutionärer Eifer und Stärke ungebrochen waren. Es kam zu einer großangelegten Säuberungsaktion in der Regierung, vergleichbar mit Stalins Säuberungen in den dreißiger Jahren, bei der Maos älteste Waffengefährten wegen Verrates angeklagt wurden. Er forderte die Studenten auf, sich auf jeder Ebene gegen die Regierung zu erheben œ von Schulen bis zu den Zentralautoritäten in Peking œ und die Monster und Dämonen anzugreifen. Sein Slogan war ‡Bombardiert das Hauptquartier!— Im August befahl er die Aufstellung ‡Roter Garden— der Studenten, die gegen die Spitzen der Gesellschaft anstürmen und die ‡führenden Kapitalisten— angreifen sollten. Damit waren hohe Parteifunktionäre gemeint, die ihm widersprachen. Am 18. August sprach Mao auf dem Tienanmen-Platz vor einer Million Rotgardisten. Andere Kundgebungen folgten, der Höhepunkt war eine Veranstaltung im November vor 2,5 Millionen begeisterter Revolutionäre. Die Rotgardisten stürmten durch das Land, sangen ‡Der Große Steuermann— oder ‡ Der Osten ist rot— und schwenkten kleine rote Bücher mit Maos Gedanken. Ihr Lieblingsgedanke war: ‡Eine Revolution ist nicht wie eine Abendeinladung, oder wie ein Essay zu schreiben oder ein Bild zu malen oder ein Kissen zu sticken. -265-
Sie kann nicht so vornehm, so liebenswürdig und gemütlich sein, so gemäßigt, freundlich, ritterlich, maßvoll und hochherzig. Eine Revolution ist ein Aufstand, ein Akt der Gewalt, bei dem eine Klasse die andere über den Haufen wirft.— Sie attackierten die ‡Vier Alten— œ die alte Denkweise, die alte Kultur, die alten Sitten, die alten Gewohnheiten. Das bedeutete die Zerstörung eines Gutteils der chinesischen Geschichte und der angehäuften Kunstschätze. Rotgardisten zerstörten in Tibet 3.000 Klöster und Tempel, die in fünf Jahrhunderten errichtet worden waren. Universitäten wurden für Jahre geschlossen, Parteiführer wurden getötet oder ins Exil gejagt, Anarchie wurde das Schlagwort. Im Juni 1967 übernahmen die Rotgardisten die Herrschaft über Shanghai, die größte Stadt des Landes, und Mao drängte die Rotgardisten in allen anderen Städten, diesem Beispiel zu folgen. Das Vorbild war die Pariser Commune von 1871. Parteiführer wurden vor Kampfversammlungen der Rotgardisten getrieben, um ihre früheren Verbrechen zu bekennen; sie bekamen Narrenkappen aufgesetzt und Plakate um den Hals gehängt, auf denen ihre Vergehen festgehalten waren. Manchmal wurden sie in diesem Aufzug auch auf offenen Lastwagen durch Peking geführt. Dann wurde Mao aber selbst die Gewalt unheimlich, die er entfesselt hatte, und er regte die Bildung von gemischten Komitees an, aus Rotgardisten, Parteikadern und Armeeangehörigen. Diese Komitees wurden überall eingerichtet. Sie ersetzten die Parteikomitees und wurden von der Armee dominiert. Zu Beginn des Jahres 1967 ebbte die Flut der Revolution zunächst ab, aber bald kehrte sie wieder, stärker denn je. Liu Shaotschi, Staatspräsident von China, stellvertretender KP-Vorsitzender und Maos schärfster Rivale, wurde als amerikanischer Spion denunziert. Seine Frau wurde vor eine Kampfversammlung gezerrt, in ein Seidenkleid und hochhackige Schuhe gesteckt und mit einer Halskette aus Tischtennisbällen ‡geschmückt—. Liu starb 1969 im Gefängnis. Die große Proletarische Kulturrevolution erreichte ihren Höhepunkt im Sommer 1967; das Land schlitterte immer schneller in die Anarchie, die Fraktionen kämpften untereinander, und die Rotgardisten wurden von Mao und seinen Gefolgsleuten pausenlos angeheizt. Als zuletzt 72 Armeeeinheiten aufeinander schossen, -266-
erkannte sogar Mao, daß die Unruhen weit genug getrieben waren und begann, die Roten Garden zurückzupfeifen. Es dauerte mehrere Jahre, bis das Land wieder zur Vernunft fand. Offiziell dauerte die Kulturrevolution vom Frühjahr 1966 bis zum Frühjahr 1969, aber es gab noch Jahre danach immer wieder politische Unruhen und sporadische Aufstände. Im Gefolge der Kulturrevolution starben nach westlichen Schätzungen rund 400.000 Menschen (China gibt etwa 35.000 zu), und von 1966 bis zu Maos Tod im Jahre 1976 blieb die Regierung gelähmt und hilflos. Ende September 1971 kam es zu einem höchst merkwürdigen Ereignis: die angebliche Verschwörung und Flucht von Lin Biao. Lin war Verteidigungsminister und offiziell zum ‡Engen Kampfgenossen und Nachfolger Maos— erklärt worden. Neben Mao war er einer der Hauptbetreiber der Kulturrevolution gewesen, und auch danach war er einer der führenden Männer im Staat. Plötzlich wurde bekanntgegeben, daß er einen Staatsstreich und die Ermordung von Mao geplant hätte. In dem Putschplan seien der Einsatz von Panzerabwehrwaffen, explodierende Öltanks und die Bombardierung von Maos Wohnsitz vorgesehen gewesen. Als die Verschwörung aufgedeckt wurde œ so die offiziellen Angaben œ, sei Lin mit seiner Frau, seinem Sohn und mehreren anderen, darunter fünf Politbüromitgliedern, zum Flugplatz geflüchtet und mit Lins persönlicher ‡Trident—-Verkehrsmaschine Richtung Sowjetunion entkommen. Dabei sei dem Flugzeug über der Mongolei das Benzin ausgegangen, und beim Absturz seien alle Menschen an Bord getötet worden. Die Verwirrung war derart groß, daß die jährliche Revolutionsfeier am 1. Oktober abgesagt werden mußte. Das einzige, was an dieser Geschichte mit Sicherheit festgestellt werden kann, ist ein Flugzeugabsturz in der Mongolei. Sogar jetzt, fast fünfzehn Jahre nach Maos Tod, gibt es keine klaren Erkenntnisse, worum es in dieser Auseinandersetzung zwischen Mao und Lin gegangen ist, und die Einzelheiten der Verschwörung blieben sämtlich unbestätigt. Dem Sturz von Lin Biao folgte eine weitreichende Säuberungsaktion in Armee und Partei. -267-
DIE LETZTEN TAGE MAOS UND DIE VIERERBANDE In den frühen siebziger Jahre gelang es Tschou Enlai, dem langjährigen Stellvertreter Maos und wesentlichsten ‡gemäßigten— Politiker des Landes, einige der exilierten ‡Rechtsabweichler— wieder in wichtige Positionen zu bringen. Der bedeutendste von ihnen war Deng Xiaoping. In den fünfziger und sechziger Jahren war er als Generalsekretär der KPCh einer jener Handvoll Männer gewesen, die China regiert hatten. Während der Kulturrevolution hatte er festgestellt: ‡Es spielt keine Rolle, ob eine Katze schwarz oder weiß ist, solange sie Mäuse fängt.— Dieser Satz wurde zu Recht als eine Schmähung Maos begriffen. Er wurde zu einem Hauptanklagepunkt gegen ihn, wie auch zu einem Kampfruf seiner Anhänger. Nach seiner Absetzung 1966 war er nur knapp mit dem Leben davongekommen und hatte die Jahre bis zu seinem Wiederaufstieg in einer Armeekantine verbracht. Die Wiederkehr der ‡Rechten— war ein schwieriger und schrittweiser Prozeß - Deng wurde im August 1973 wieder ins Zentralkomitee berufen œ und wurde von den Radikalen heftig bekämpft, bisweilen auch von Mao selbst. Zur gleichen Zeit fädelte Tschou den Umbau der Allianzen ein, festigte Chinas feindselige Haltung gegenüber der Sowjetunion und begrüßte im Februar 1972 Präsident Nixon in Peking. Mit Mao wurde Nixon beim Teetrinken photographiert. Aber die Radikalen waren noch nicht besiegt. 1974 begannen sie eine ‡Kritisiert Konfuzius—-Kampagne, in der die Verdienste des legendären Denkers endlos und leidenschaftlich diskutiert wurden. Mit Konfuzius meinten die Radikalen Tschou Enlai. Dann begannen sie eine Aktion, in der Shth Huang Ti hochgelobt wurde, der erste Chin-Kaiser, der China geeint und die Chinesische Mauer errichtet hatte œ und die Werke Konfuzius‘ verbrannt. Er wird allgemein als grausamer Tyrann angesehen, aber die Radikalen priesen ihn und seine Taten; damit meinten sie Mao und griffen Tschou und seinen Schützling Deng an. Die westliche Musik, vor allem Beethoven, wurde als imperialistisch und dekadent und eine weitere Erscheinungsform von ‡Monstern und Dämonen— abgelehnt. Aber 1975 war Deng wieder in alle seine Ämter zurückgekehrt und kümmerte sich mit großem Erfolg um die Führung des Landes. -268-
Der Tod von Mao und Tschou nahte, und der Kampf um die Nachfolge brach los. Tschou starb im Januar 1976, und die extreme Linke trat zum letzten verzweifelten Kampf um die Macht an. Der vergreiste Mao wurde von seiner Frau und deren engsten Vertrauten manipuliert, die später als ‡Viererbande" bekannt wurden. Am 4. April ereignete sich der ‡Tienanmen-Zwischenfall—. Die Behörden hatten eine Menge Gedenkkränze für Tschou wegräumen lassen, die an einem Denkmal auf dem Platz niedergelegt worden waren, und eine große Protestdemonstration wuchs sich zu einem handfesten Aufruhr aus, in dessen Verlauf Parteigebäude niedergebrannt wurden. Deng wurde die Schuld an dem Zwischenfall zugeschrieben, und er wurde erneut entlassen, aber Freunde in der Armee brachten ihn sicher aus Peking hinaus. In ganz China gab es riesige Volksdemonstrationen zu seiner Unterstützung: Deng galt als der legitime Nachfolger Tschou En-Lais und als die einzige Hoffnung vor einer Neuauflage der Kulturrevolution. Im Juli 1976 tötete ein Erdbeben 800.000 Menschen in Tientsin, und die Unfähigkeit der Regierung wurde schlagartig sichtbar œ es gab wochenlang keine Hilfsaktionen. ‡Der Himmel selbst flammt Fürstentod herab— œ wie andere Katastrophen in Chinas langer Geschichte wurde auch diese als böses Omen gedeutet œ Mao hatte die Unterstützung des Himmels verloren, durch dessen Gnade die Kaiser einst geherrscht hatten, und ein Wechsel der Dynastie würde folgen. Mao starb am 9. September 1976. Einen Monat später wurde die Viererbande in einem Staatsstreich verhaftet, der von Angehörigen der Armee, Sicherheitspolizei und Regierung organisiert worden war, um den Rückfall des Landes in die Anarchie der Kulturrevolution zu verhindern. Seit 1945 hat kein anderes Land vergleichbarer Bedeutung so dramatische und schwierige Zeiten durchgemacht. Innerhalb eines Jahres hatte Deng seine Macht über die Regierung gefestigt, und dann setzten die wirtschaftlichen Reformen ein, die das Angesicht Chinas dramatisch veränderten. Die Volkskommunen wurden aufgelöst, und der Kommunismus wurde in der Landwirtschaft abgeschafft œ auch wenn die Marktwirtschaft noch nicht völlig wiederhergestellt ist. Selbstverwaltung von Betrieben, sogar privater Firmenbesitz und eine Warenbörse wurden in den Städten wieder zugelassen. -269-
Die Veränderungen der Wirtschaft nach 1976 waren revolutionär, aber die Kontrolle der KP wurde keineswegs gelockert. Während Gorbatschow das sowjetische politische Geschehen allen politischen Strömungen öffnete, in Wirtschaftsdingen aber höchst vorsichtig ist, wählte Deng den umgekehrten Weg. Jeder von beiden hat mittlerweile entdecken müssen, daß das eine ohne das andere nicht funktioniert. Die Explosion kam ganz plötzlich. Hu Yaobang, der führende Reformer der Regierung, war nach einem früheren Ausbruch prodemokratischer Demonstrationen in Peking 1987 aus der Führung entfernt worden. Er starb am 15. April 1989, und am nächsten Tag gab es eine kleine Trauerkundgebung auf dem Tienanmen-Platz. Alles lief ab wie 1976, bei den Trauerfeiern für Tschou. Die Studenten marschierten auf den Platz, und bald demonstrierten Hunderttausende Menschen für Reformen, das Ende der Korruption und mehr Demokratie. Die Studenten besetzten den Platz sechs Wochen lang und zogen bald den Großteil der Bevölkerung auf ihre Seite. Die Studenten in anderen Städten folgten ihrem Beispiel. Sie fanden Unterstützung bei Zhao Ziyang, dem Generalsekretär der Partei, und bald kam es zu wütenden Auseinandersetzungen zwischen Zhao und seinen Anhängern und den Hardlinern, an deren Spitze der nun vierundachtzigjährige Deng und der Ministerpräsident Li Peng standen. Deng erklärte vor dem Politbüro: ‡Wir sollten weder Blutvergießen noch den Druck der internationalen öffentlichen Meinung scheuen ... Wir haben drei Millionen Soldaten.— Die Studenten begannen mit einem Hungerstreik und richteten Petitionen an die Regierung. Zhao verhandelte mit ihnen, um den Hungerstreik zu beenden, und Li Peng kam widerwillig der Aufforderung zu einer Fernsehdiskussion mit den Studentenführern nach. Das Kriegsrecht wurde verhängt, aber die Bürger von Peking beschützten die Studenten. Anfang Juni errichteten sie auf dem Platz eine Kopie der New Yorker Freiheitsstatue als ‡Statue der Demokratie—. In den Morgenstunden des 4. Juni schickte Deng Soldaten und Panzer auf den Platz. Es gab schwere Kämpfe, und Tausende Menschen wurden getötet œ zwischen 2.000 und 5.000 Toten schwanken die Schätzungen. Die Menschenmenge tötete auch viele Soldaten und steckte ihre Fahrzeuge in Brand. -270-
Es war für Deng genauso ein Desaster wie für die Studenten. Er hatte die alte Garde zur Unterstützung seines harten Kurses gerufen, und nun forderte sie das Ende aller Reformen. Es ist ein paradoxer Widerspruch, aber die Reformer hofften auf Dengs Überleben. Außenhandel und Tourismus kamen zu einem Stillstand. In Hongkong, das 1997 an China fallen soll, brach eine Panik aus. In den folgenden Monaten wurden alle Wirtschaftsreformen Dengs in Frage gestellt. Die Preisreformen wurden rückgängig gemacht, zwei Millionen private Firmen wurden geschlossen, und China kehrte zur Zentralen Wirtschaftsplanung zurück. Unterricht in marxistischer Lehre wurde nach der Wiedereröffnung der Schulen und Universitäten zum Pflichtfach. Am 9. September erklärte Deng seinen Rücktritt von seinem letzten Regierungsamt, Vorsitzender der Zentralen Militärkommission, und ihm folgte der neue Generalsekretär der KP, Jiang Zemin. Das hatte nichts zu bedeuten. Im Dezember wurde im Fernsehen gezeigt, wie Deng vor einer amerikanischen Delegation unter Präsident Bush‘ Nationalem Sicherheitsberater General Brent Scowcroft hofhielt. Bush wurde weitweit kritisiert, so bald nach dem Tienanmen-Massaker wieder mit der chinesischen Regierung Kontakt zu pflegen. Im Januar 1990 wurde der Ausnahmezustand aufgehoben, aber die Unterdrückung aller oppositionellen Regungen ging weiter. Die chinesischen Führer waren fest entschlossen, daß sich bei ihnen die Ereignisse in Osteuropa nicht wiederholen würden. Ähnlich hatte Ceausescu sich gegen die Flut gestemmt. Es scheint nicht sehr wahrscheinlich, daß es in China lange ruhig bleiben wird œ viel eher kommt auf das Land erneut eine turbulente Periode zu. TIBET Tibet erstreckt sich über 1,9 Millionen Quadratkilometer auf dem Dach der Welt. Es hat nur wenige Rohstoffvorkommen, und bis zur chinesischen Besetzung in den fünfziger Jahren führten seine zwei bis drei Millionen Einwohner ein friedliches Dasein als Schafhirten, Bauern, Kleinhändler und Mönche. Die Hauptstadt Lhasa hatte ungefähr 30.000 Einwohner, aber andere tibetische Städte sind noch kleiner, nach mitteleuropäischen Begriffen eigentlich Dörfer, und die -271-
meisten dienten den Klöstern. Darin lebten ungefähr 10 Prozent der Bevölkerung, die unter der Herrschaft des Dalai Lama ‡dem Weg— folgten. Tibet war die einzige reine Theokratie der Weit. Der Dalai Lama ist die Reinkarnation eines der Stadien Buddhas. Seine Autorität ist in Tibet absolut, wie der Ajatollah Khomeini im Iran œ allerdings mit dem Unterschied, daß der Buddhismus eine pazifistische Religion ist. Nach dem Tod des jeweiligen Dalai Lama wird das Land von Suchtrupps durchkämmt, die das Baby aufspüren, das die neue Inkarnation ist. Der gegenwärtige Dalai Lama ist der vierzehnte in dieser Abfolge, und obwohl er schon 1959 aus Tibet nach Indien geflüchtet ist, besteht kein Zweifel an der völligen Hingabe aller Tibeter an ihn. China hat im Lauf der Jahrhunderte mehrere Male die Herrschaft über Tibet beansprucht und diese Forderung gelegentlich verstärkt. Aber das Land war immer so arm und abgelegen, daß das Reich des Himmels sich nicht besonders darum gekümmert hat. Im 20. Jahrhundert gab es ständigen Streit zwischen Lhasa und den einander ablösenden Regierungen in Peking sowie auch Grenzkriege zwischen Tibetern und chinesischen Warlords. Peking gab seinen Anspruch auf Tibet niemals auf und überlegte von Zeit zu Zeit, ihn durch die Entsendung von Truppen zu untermauern. Es wurde davon aber immer wieder durch internationalen Einspruch abgehalten, vor allem durch starke britische Unterstützung Tibets. 1933 starb der 13. Dalai Lama, und vier Jahre später marschierten die Japaner in China ein. Tibet blieb während des Krieges unbehelligt, obwohl die Amerikaner den Nachschub für Tschiang Kaischek über den Himalaya flogen, eine besonders gefährliche Strecke. 1949 zog Mao in Peking ein. China wurde unter einer starken und aggressiven Regierung vereint, und eine ihrer ersten Taten war die ‡Vereinigung— des nationalen Territoriums: Am 7. Oktober 1950 besetzte eine chinesische Armee Lhasa. Zunächst änderte die chinesische Regierung in Tibet wenig. Der 14. Dalai Lama, damals 16 Jahre alt, wurde in seinem Palast belassen, die Klöster blieben ungestört, und die tibetische Regierung amtierte weiterhin. Aber die Chinesen errichteten Straßen ins Innere des -272-
Landes, bauten ihre Garnisonen an strategisch günstigen Punkten und siedelten die ersten von einigen hunderttausend chinesischen Bauern an. Die tibetischen Bauern begannen mit ihrem Widerstand, und 1955 entstand in den abgelegeneren Landesteilen eine Guerillabewegung, die von den Kampas im Osten angeführt wurde. 1958 gelang es den Kampas, in einer Schlacht eine ganze chinesische Garnison von 3.000 Mann auszulöschen. 1959 tobte im Land bereits ein regelrechter Guerillakrieg, der 200.000 chinesische Soldaten band. Die Chinesen konnten eine solche Situation nicht lange hinnehmen. Der Schlüssel zur Herrschaft über das Land war der Dalai Lama. Die Chinesen baten ihn, nach Peking zu kommen. Er lehnte ab. Am 9. März 1959 lud ihn der Kommandierende chinesische General in Lhasa ein, an einer Vorführung in der chinesischen Kaserne teilzunehmen œ allerdings ohne sein übliches Gefolge von Ministern und Wachen. Die Tibeter werteten dies als Versuch, den Dalai Lama als Geisel zu nehmen, und rund um den Sommerpalast versammelte sich zu seinem Schutz eine 30.000köpfige Menschenmenge. Die Chinesen feuerten Granaten in die Palasthöfe und verlegten Truppen nach Lhasa, und da entschloß sich der Dalai Lama zur Flucht. Zu Pferd kam er mit achtzig Gefolgsleuten am 30. März nach Indien. Als die Meldung von der Flucht Lhasa erreichte, lösten die Chinesen die Menschenansammlungen mit großer Brutalität auf. Rund 3.000 Menschen kamen dabei ums Leben. Im ganzen Land brachen Kämpfe aus; der Dalai Lama meint, daß rund 65.000 Tibeter getötet wurden. Mehr als 60.000 Tibeter flohen nach Nepal und Indien. China löste nun die übriggebliebenen Institutionen des unabhängigen Tibet auf und errichtete ein kommunistisches Regime. Die Klöster wurden geschlossen und die Mönche vertrieben. Chinesische Sprache, chinesisches Recht und chinesische Sitten wurden Tibet übergestülpt. Tibetische Guerillas setzten den Kampf fort, aber sie hatten keine Unterstützung von außen, und gegen die gewaltige Übermacht waren sie ohne Chance. 1966 griff die Kulturrevolution auch auf Tibet über. Rotgardisten erlangten die Kontrolle über das Land und versuchten, alle Spuren von ‡Feudalismus und Aberglauben— auszurotten. Es war einer der -273-
schlimmsten Vandalenakte des 20. Jahrhunderts, vergleichbar mit Ereignissen rund um den Rückzug der deutschen Wehrmacht aus Osteuropa. So wie die Deutschen den Zarenpalast bei Leningrad gesprengt und Warschau in Schutt und Asche gelegt hatten, so zerstörten die Rotgardisten mehr als 3.000 Klöster und Tempel in Tibet. Heilige Bücher, Statuen und Kultgegenstände wurden zerstört, gestohlen oder nach China geschickt. Chinesische Offiziere, die sich diesen Verwüstungen entgegenstellten, darunter auch der Kommandierende General Chang Kuohua, wurden von den Rotgardisten verhaftet. Da griff die Armee ein, rettete Chang und versuchte, die Ordnung wiederherzustellen, aber der staatliche Terrorismus gegen die Tibeter, von denen viele ermordet wurden und viele gegen die Chinesen kämpften, hielt bis 1970 an. Chris Müllen, der für die Minority Rigths Group schreibt, entdeckte, daß die Zerstörung der tibetischen Kultur, der Schreine, Klöster und Kunstgegenstände keineswegs spontan, sondern sorgfältig geplant war: ‡Zuerst kamen Experten und markierten die wertvollen Steine, die daraufhin entfernt wurden. Dann kamen Metallexperten und kennzeichneten die Edelmetalle für den Abtransport. Dann wurden die Gebäude gesprengt. Das Holz wurde zum Gebrauch der Ortsgemeinde weggeschleppt, und die Steine wurden zur allgemeinen Verwendung liegengelassen.— Noch deprimierender war die Feststellung, daß ‡die meisten Zerstörungen von jungen Tibetern ausgeübt wurden. Die Chinesen blieben bewußt im Hintergrund. Kein Zweifel, daß die jungen Tibeter von den Chinesen aufgehetzt waren; ohne Zweifel bereuen heute viele, was sie damals getan haben, aber die Tatsache bleibt bestehen, daß die tatsächliche Zerstörung von Tibets kulturellem Erbe von Tibetern ausgeführt wurde.— Es ist ein durchaus vergleichbares Phänomen, daß zehn Jahre später junge Kambodschaner von den Roten Khmer abgerichtet wurden, ihre Landsleute zu töten. 1974, nachdem der Sturm abgeflaut war, amnestierten die Chinesen alle inhaftierten Tibeter und begannen mit der Reparatur der Verwüstungen. 1980 reiste der Generalsekretär der KPCh, Hu -274-
Yaobang, nach Lhasa und bedauerte öffentlich die Ausschreitungen zwischen 1959 und 1974, für die er die Viererbande verantwortlich machte. (Später fiel er selbst einer Säuberungsaktion zum Opfer). Einige Klöster wurden restauriert und einige wenige sogar wieder geöffnet. Zum erstenmal seit einer Generation durften Ausländer Lhasa bereisen. Sie fanden die Tibeter unter schlechten Lebensbedingungen und harter chinesischer Kontrolle, und zwischen den beiden Völkern herrscht tiefe Feindschaft. Die Ergebnisse der neuen Politik waren vorhersehbar. Die Tibeter konnten durch freundliche Gesten nicht davon überzeugt werden, wie sinnvoll es wäre, sich China völlig zu ergeben œ nicht nach solcher Unterdrückung. Sie erhoben wieder die Forderung nach Unabhängigkeit. Im September und Oktober 1987 gab es in Lhasa Aufstände œ angeführt von Mönchen, die durch Lhasa zogen und Vorwürfe gegen China erhoben. Ungefähr ein Dutzend Menschen wurde getötet. Im März 1988 gab es noch ernstere Zwischenfälle. Am 5. März wurde zumindest einer, vielleicht auch drei chinesische Polizisten bei einem Aufruhr während einer religiösen Feier getötet. Unmittelbar nachher wurden im Jokhang-Kloster 30 Mönche ermordet, berichtete der Observer, und während der darauffolgenden Tage waren es weitere 20 Menschen. Und wieder wurden Fremde aus Tibet ausgesperrt. Im April besuchte der ehemalige britische Labour-Minister Lord Ennals Tibet und berichtete, daß 2.000 Tibeter bei diesen Demonstrationen verhaftet und daß viele gefoltert worden seien. In Peking erklärte der Pantschen Lama, ein hoher geistlicher Würdenträger, der die Chinesen seit ihrer Invasion unterstützt hatte, daß fünf Menschen getötet worden seien, darunter ein Polizist, und 200 während der März-Unruhen verhaftet worden seien. Er sagte auch, daß der Dalai Lama nach Tibet zurückkehren dürfe, wenn er seine Forderung nach der Unabhängigkeit Tibets aufgäbe. Allerdings würde China darauf bestehen, daß der Dalai Lama in Peking lebte. (Der Pantschen Lama starb im Januar 1989.) Die Menschenrechtsgruppe ‡Asia Watch— berichtete im Juli 1988, daß einige hundert Tibeter immer noch inhaftiert seien und daß ‡kaum Zweifel bestünde, daß Folter in Polizeihaft und Gefängnissen in Tibet üblich sei, ebenso wie der Gebrauch des Rinderstachelstocks.— -275-
Die Unruhen waren für die chinesische Regierung eine große Überraschung, aber die Wahrscheinlichkeit ist gering, daß sie Tibet aufgeben wird. China ist kein Vielvölkerstaat, wie die Sowjetunion, Indien, Äthiopien oder Nigeria, der unter separatistischem Druck zerfallen könnte. An den Rändern des chinesischen Reiches leben viele kleine Nationalitäten, aber die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung sind Chinesen, und sie werden die Minderheiten immer beherrschen können. 1989 bekam der Dalai Lama den Friedensnobelpreis zuerkannt, eine Geste, die von der chinesischen Regierung als Beleidigung aufgefaßt wurde. Nach dem Tienanmen-Massaker im Juni erstreckte sich die landesweite brutale Niederschlagung jeder Opposition auch auf Tibet, wo jede Protestäußerung sofort mit großer Gewalt unterdrückt wurde. So leben der Dalai Lama und ungefähr 80.000 tibetische Flüchtlinge in Indien und Nepal und versuchen, die tibetische Kultur über die chinesische Unterdrückung hinweg zu bewahren. Sie schöpfen Kraft aus ihrem Studium des ‡Wüges— und hoffen, daß eine neue Umdrehung des Lebensrades, das sie einst aus ihrer Heimat vertrieben hat, sie eines Tages wieder dorthin zurückführen wird. TAIWAN Die Volksrepublik China (mit der Hauptstadt Peking) und die Republik China (gestützt auf Taiwan) bestehen beide auf der Einheit und Unteilbarkeit Chinas. Sie beanspruchen beide für sich, das Land zu repräsentieren, aber seit 1978 haben die USA die Volksrepublik anerkannt. Vielleicht werden sie eines Tages vereinigt sein, aber derzeit gibt es dafür kein Anzeichen. Im Gegenteil, Taiwan entfernt sich immer mehr vom Festland. Es hat einen gewaltigen wirtschaftlichen Aufstieg hinter sich und ist jetzt einer der vier ‡kleinen Drachen— Asiens œ zusammen mit Singapur, Südkorea und Hongkong œ, die in Japans Fußstapfen treten. Seine einheimische Bevölkerung ist zwar chinesischen Ursprungs, fühlt aber zu Peking nicht mehr Loyalität als beispielsweise die Chinesen in Singapur. Die ältere Generation œ die 1949 vom Festland herübergekommen ist œ zieht sich allmählich zurück oder stirbt, und so wird die Bevölkerung immer weniger chinesisch und immer mehr -276-
taiwanesisch. Nach 38 Jahren wurde im Juli 1987 das Kriegsrecht aufgehoben. Und nach dem Tod des Sohnes und Nachfolgers von Tschiang Kaischek, Tschiang Tschingkuo, am 13. Januar 1988, folgte ihm mit Lee Tenghui ein Taiwanese. So ist das Problem in Taiwan auch anders gelagert als etwa in Korea, das eine Nation bleibt, die in zwei ideologische Lager geteilt ist. Die Chinesen haben keine ernsthaften Anstrengungen unternommen, Taiwan zurückzuerobern, aber in den fünfziger Jahren gab es einen regelrechten Feldzug gegen zwei von Taiwan kontrollierte Inseln, Quemoy und Matsu vor der chinesischen Küste. Diese unglückseligen Vorposten waren von 1958 bis 1960 das Ziel heftigen Artilleriebeschusses. Diese Episode ist eigentlich nur deshalb interessant, weil sie im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf von 1960 eine Rolle spielte. Vizepräsident Nixon und Senator Kennedy debattierten ernsthaft, ob die Vereinigten Staaten zur Verteidigung von Quemoy und Matsu in den Krieg ziehen sollten. Falls Mao jemals ernsthaft über die Eroberung nachgedacht haben sollte, so haben ihn seine Mitregierenden oder sowjetischer Druck davon abgebracht. Die Chinesen beschränkten sich auf symbolische Angriffe und feuerten Granaten auf die Inseln ab, die Propagandaflugblätter enthielten statt Sprengstoff. Sie montierten Lautsprecheranlagen und schütteten die nationalchinesischen Garnisonen mit bombastischen Reden zu, was die Taiwanesen mit gleicher Münze heimzahlten. Es war ein völlig sinnloser ‡Kampf—, aber er dauerte Jahre. Heute hegt China offiziell nur freundliche Gefühle gegenüber Taiwan, weigert sich allerdings ausdrücklich, auf den Anspruch zur gewaltsamen Rückeroberung der verlorenen Provinz zu verzichten. Es hofft, daß Taiwan freiwillig zum Mutterland zurückkehren wird. Eine vergebliche Hoffnung œ es sei denn, China sagt sich vom Kommunismus los. DER CHINESISCH-SOWJETISCHE KONFLIKT UND DER GRENZKRIEG VON 1969 Die Grenzzwischenfälle zwischen der Sowjetunion und China waren für sich betrachtet nicht besonders ernsthaft. Einige Dutzend -277-
Soldaten starben im Kampf um eine Insel im Fluß Ussuri, der die zwei Länder nördlich von Wladiwostok trennt. Das Gebiet war uninteressant, anders der symbolische Wert. China behauptet, daß große Gebiete der Sowjetunion, vor allem am Pazifik, einschließlich Wladiwostok, von Rußland in einem Moment der Schwäche Chinas zu Ende des 19. Jahrhunderts gestohlen wurden. Die Diebstähle seien in einseitigen Verträgen, die das zaristische Rußland der Manchu-Dynastie diktiert habe, ‡legalisiert— worden, Es gab viele solcher einseitigen Verträge. Deutschland, die USA, Großbritannien und Portugal preßten sie China ab. Deutschland verlor seine Besitzungen in China nach 1918, die Amerikaner zogen sich nach dem Zweiten Weltkrieg zurück, und die kommunistische Besetzung Shanghais machte den ausländischen Zonen dort ein Ende. Die letzten Vertragshäfen, Hongkong und Macao, werden 1997 bzw. 1999 an China zurückfallen. Aber Rußland, jetzt die Sowjetunion, wird Wladiwostok, das südliche Sibirien und die von China geforderten Gebiete in Asien sicher nicht abtreten. Der Streit um die Insel im Ussuri war daher von tieferer Bedeutung. Abgesehen von der Territorialfrage, geht der Disput zurück bis zu dem, was Mao als Stalins Verrat bezeichnete und auf den sowjetischen Expansionsdrang. Es gab auch doktrinäre Auseinandersetzungen: Mao nannte die USA einen Papiertiger und erklärte, keine Angst vor Atomwaffen zu haben. Während der fünfziger Jahre wurde der anwachsende Zwist zwischen den beiden kommunistischen Ländern geheimgehalten, und auch nachdem er allgemein sichtbar wurde, blieben die Hardliner in Washington skeptisch: Das alles sei nur ein Plan, die Welt zu erobern, und die beiden Länder stünden in Wahrheit unter der Vorherrschaft Moskaus. Viele Amerikaner haben soviel Rhetorik in die Theorie einer weltweiten, vom Kreml gelenkten Verschwörung investiert, daß es ihnen unmöglich ist, sich mit der Realität abzufinden. Dieselben Leute weigern sich heute, an Gorbatschows Reformen zu glauben. 1958 stellten die Sowjets schlagartig ihre Unterstützung des chinesischen Atomprogrammes ein. 1959 besuchte Nikita Chruschtschow zu Maos tiefem Mißfallen die Vereinigten Staaten. Als der Sowjetführer zur Feier des 10. Jahrestages der -278-
Kommunistischen Revolution am 1. Oktober 1959 nach Peking kam, wurde er mit heftigen Angriffen in den Parteizeitungen begrüßt. In der chinesischen Eigenart waren sie gegen einen von Maos chinesischen Rivalen gerichtet. 1960 begann Mao eine heftige Pressekampagne gegen Jugoslawien; einmal mehr war Chruschtschow das wahre Ziel. Im Juli antwortete Chruschtschow mit der Rückholung aller sowjetischen Berater aus China. Sie brachten ihre Blaupausen mit und ließen überall unfertige Projekte im Stich. Einige Jahre war China ernsthaft isoliert. Während der sechziger Jahre standen die Chinesen sowohl zur UdSSR wie auch zu den USA in scharfer Opposition. Zu Ende des Jahrzehnts kamen sie zur Schlußfolgerung, daß, ungeachtet der Verwicklung in Vietnam, die Gefahr aus dem Norden mehr zu fürchten sei. Der Doktrinenstreit ging weiter, Mao beschuldigte Chruschtschow und seine Nachfolger des ‡Revisionismus— und meinte damit die Abwendung von den wahren marxistischen Prinzipien. Die Chinesen begannen intensiv, in der Dritten Welt nach Freunden und Alliierten zu suchen, und sie boten sich als wahrhaft revolutionäre Alternative zur UdSSR an. Am 2. März 1969 besetzten 300 chinesische Soldaten die Insel Damansky œ von den Chinesen Chenpao genannt œ im Ussuri, der nordöstlichen Grenze zwischen China und der UdSSR. Die Insel hat keinen strategischen oder wirtschaftlichen Wert; sie ist klein und unbewohnt, und an dieser Stelle fließt der Ussuri durch versumpftes, unzugängliches, beinahe menschenleeres Land. Die eindringenden Chinesen überfielen eine kleine sowjetische Patrouille, töteten 23 und verwundeten 14 Männer. Die Sowjets schickten Verstärkungen, die wiederum überfallen wurden. Dann zogen sich die Kontrahenten von der Insel zurück. Die Sowjets protestierten wütend und in aller Öffentlichkeit. Die Chinesen beschuldigten sie wiederholter Grenzverletzungen œ im Sommer hatten sie eine Liste von 429 solcher Zwischenfälle. Vor der sowjetischen Botschaft in Peking fanden gewaltige antisowjetische Demonstrationen statt, noch größere gab es vor der chinesischen Botschaft in Moskau. Am 15. März wurde auf Damansky/Chenpao wieder gekämpft, aber diesmal mit Panzern, Artillerie und größeren Verlusten. Im April und -279-
Mai kam es längs der Grenze am Amur, nördlich des Ussuri, aber auch weiter westlich an der chinesischsowjetischen Grenze in Zentralasien zu weiteren Zusammenstößen. (Henry Kissinger kam zu der Schlußfolgerung, die Sowjets müßten die Angreifer gewesen sein, da die zentralasiatischen Auseinandersetzungen nur wenige Kilometer von einer sowjetischen Bahnstation stattfanden, aber einige hundert Kilometer vom nächsten chinesischen Stützpunkt.) Die Sowjets stellten öffentliche Überlegungen über die Notwendigkeit eines Präventivschlages gegen chinesische Atomanlagen an und fühlten bei der Regierung Nixon über die etwaige Reaktion auf einen solchen Angriff vor. Kissinger und Nixon hielten die Zeit für eine Annäherung an China gekommen, und Tschou Enlai war offensichtlich zu derselben Überzeugung gelangt. 1970 war es bereits klar, daß die USA sich aus Vietnam zurückziehen wollten, wodurch die Hauptquelle des Konfliktes zwischen den beiden Ländern beseitigt würde. Die Umkehrung der Allianz wurde nach einer geheimen Pekingreise Kissingers im Jahre 1971 schließlich durch den Chinabesuch Nixons im Februar 1972 besiegelt. Das ‡Shanghai Kommunique—, ein Dokument, das von Nixon und Tschou unterschrieben ist, legte den zukünftigen gemeinsamen Kurs fest. Die Amerikaner überließen bald darauf Taiwan seinem Schicksal, obwohl sie die vollen diplomatischen Beziehungen mit Peking erst 1978 aufnahmen. Die neue Allianz war ein wichtiger Bestandteil der Außenpolitik beider Länder. Sie wurde auch während der stürmischen Ereignisse in Maos letzten Lebensmonaten nicht gefährdet und von Deng Xiaoping erneuert, als er 1979 die USA besuchte und Präsident Carter von dem bevorstehenden Angriff Chinas auf Vietnam informierte. Richard Nixon betrachtet die ‡China-Politik— als die größte Leistung seiner Präsidentschaft. Sie war auch die größte Schlappe für die sowjetische Politik. China blieb in unverrückbarer Gegnerschaft zur Sowjetunion, bis Michail Gorbatschow 1988 eine Wiederannäherung begann, und hat auch ein Arsenal an Atomraketen aufgebaut, die Moskau erreichen können. Umgekehrt war die Sowjetunion gezwungen, nahezu die halbe Rote Armee an der 6.400 Kilometer langen Grenze zu China zu stationieren, wodurch sie ihre sonstigen Positionen in der Welt geschwächt hat. Ein hoher Preis für -280-
eine unbewohnte Insel. Michail Gorbatschow hat in seinem Bemühen, die Fehler seiner Vorgänger zu korrigieren, Verhandlungen mit China vorgeschlagen, in denen der Grenzkonflikt und andere offene Fragen ausgeräumt werden sollten. China bestand darauf, daß die Sowjetunion zuerst Vietnam dazu zwingen müßte, Kambodscha zu verlassen œ was bis zum September 1989 geschah œ und selbst seine Stützpunkte in Vietnam räumen und seine Truppen von der Grenze zurückziehen müßte. Gorbatschow kommt diesen Forderungen allmählich nach, mindestens ebensosehr aus internen Gründen wie aus dem Verlangen nach Entspannung mit Peking, und am 16. Mai 1989 besuchte er Peking zum ersten chinesischsowjetischen Gipfeltreffen seit 1959. Das Treffen mag tatsächlich die Spannungen zwischen den beiden Ländern gemildert haben, aber es war überschattet von Demonstrationen für die Demokratie. Da die Demonstranten den Tienanmen-Platz besetzten, mußte Gorbatschow auf Schleichwegen zum Treffen mit den chinesischen Führern gebracht werden, und er fand sie derart beschäftigt mit ihren Schwierigkeiten, daß sie die Bedeutung seines Besuches kaum zu würdigen wußten. Dabei war die Botschaft klar: beide Seiten wollten eine Verständigung, die UdSSR aus wirtschaftlichen, China aus politischen Gründen. Es war eine Ironie des Schicksals, daß die beiden Mächte gerade dann das Kriegsbeil begruben, als ihre beiderseitigen internen Probleme die ideologischen Fragen, die jene lange Entfremdung ausgelöst hatten, überdeckten.
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INDIEN
Geographie: Fläche 3,287.590 km2, so groß wie West- und Mitteleuropa. Die Republik Indien besteht aus 25 Bundesstaaten und 7 ‡Union Territories—. Die Hälfte der Staaten hat mehr Einwohner als Großbritannien, Frankreich oder die Bundesrepublik. Bevölkerung: 1989 waren es rund 833 Millionen, die jährliche Zuwachsrate liegt bei 16 Millionen. 83 Prozent der Bevölkerung sind Hindus, rund 90 Millionen (11,4 %) Moslems, 2,4 % Christen, 2 Prozent Sikhs; außerdem gibt es kleine jüdische und buddhistische Gemeinden. Von den 50 großen regionalen Sprachen Indiens sind 16 von der Verfassung als offiziell anerkannt. Hindi und Englisch sind Staats- bzw. ‡assoziierte— Sprache. Darüber hinaus gibt es Hunderte andere Sprachen und Dialekte. BSP: 290 $/Einw. Flüchtlinge: 6.000 Inder, 100.000 Tibeter, 125.000 Tamilen aus Sri Lanka, 50.000 Bangladescher, 5.600 Afghanen und 1.100 Iraner sind in Indien als Flüchtlinge registriert. Seit der Unabhängigkeit im Jahr 1947 hat Indien drei Kriege gegen Pakistan geführt (den letzten 1971) und einen Grenzkrieg gegen China. In vielen Teilen des Landes kam es immer wieder zu heftigen bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen, vor allem in Assam an der nordöstlichen Grenze. Der in jüngerer Zeit ernsthafteste Konflikt ist der Aufstand der Sikhs, der 1984 zum Angriff auf den Goldenen Tempel in Amritsar führte, ein Ereignis, dem die Ermordung der Ministerpräsidentin Indira Gandhi durch Mitglieder ihrer SikhLeibwache folgte. Der Tempel wurde im Mai 1988 ein zweites Mal belagert und von der Armee eingenommen. 1974 wurde Indien als sechstes Land Mitglied des ‡AtomwaffenKlubs—, und Pakistan ist mittlerweile wohl auch so weit. Zwischen den beiden Ländern besteht eine derartige Feindseligkeit, daß ein neuer Krieg jederzeit möglich erscheint, der allerdings keineswegs ein Atomkrieg sein muß. Indien ist die vorherrschende Macht in einer Region mit einer Bevölkerung von mehr als einer Milliarde Menschen. Obwohl es als politischer Alliierter der Sowjetunion gilt, -282-
ist es doch œ wie China œ eines der wesentlichen unabhängigen Machtzentren der Welt. Das Land ist zu groß, um von einem anderen beherrscht zu werden. Vielmehr ist es weit wahrscheinlicher, daß Indien unerträglichen Druck auf seine Nachbarstaaten ausübt. In Sri Lanka waren jahrelang bis zu 60.000 indische Soldaten stationiert, und die Regierung dieses Landes war gezwungen, einen indischen Plan zur Beseitigung der internen Probleme zu akzeptieren. (Siehe SRI LANKA). Die einzigen wirklichen Bedrohungen für Indien kommen aus dem Land selbst. Kann ein Land, das eine so große Bevölkerung hat, solche sozialen Unterschiede und solche Armut, als nationale Einheit bestehen? Die Last der ständig anwachsenden Bevölkerung macht jeden wirtschaftlichen Fortschritt zunichte und erzeugt unlösbare Probleme. Indien hat bis jetzt überlebt, da es eine Demokratie ist, die den widerstreitenden Meinungen Platz einräumt (die Bundesstaaten stehen oft in scharfer Opposition zu Neu-Delhi). Mit einer kurzen Unterbrechung war die Herrschaft ein Erbhof der Nehru-Dynastie: Sie hat von 1947 bis zur Wahlniederlage Rajiv Gandhis im November 1989 geherrscht; jetzt ist eine Koalition früherer Oppositionskräfte an der Macht, die sich mit den gewaltigen geerbten Problemen herumschlagen muß. GESCHICHTE Indien kann nicht als ein Nationalstaat betrachtet werden œ wie Großbritannien, Mexiko oder China. Am besten läßt es sich mit Europa vergleichen: eine geographische Begriffseinheit mit vielen Völkern und Sprachen, die durch eine gemeinsame Geschichte und Zivilisation verbunden sind. Die indische Geschichte reicht 5.000 Jahre zurück. In einer langen Abfolge von Jahren kamen Einwanderer und Eroberer über die Berge vom Westen und von Zentralasien, errichteten Reiche und hinterließen Städte und Denkmäler. Im 17. Jahrhundert kamen die Briten und andere Europäer über das Meer und gründeten Handelsstationen. Im 18. Jahrhundert machten sie sich an die Eroberung Indiens, und im 19. Jahrhundert beherrschten sie den ganzen Subkontinent vom Himalaya bis Ceylon: ein Teil der Erde, der niemals zuvor vereinigt gewesen -283-
war. Diese Einheit überdauerte das Ende der britischen Herrschaft nicht. Die Briten gaben Indien seine Unabhängigkeit um Mitternacht des 14. August 1947. Es war eine der größten Fehlentscheidungen in der Geschichte des britischen Imperialismus, Indien in zwei Staaten aufzuteilen: einen islamischen (Pakistan) und einen theoretisch säkularisierten, aber de facto Hindu-Staat. In den Anfängen der Unabhängigkeitsbewegung kämpften Moslems und Hindus gemeinsam gegen die Briten, unter der geistigen Führung von Mahatma Gandhi. Es ist möglich, daß Indien ein geeintes Land geblieben wäre, hätte es seine Unabhängigkeit bereits in den dreißiger Jahren erhalten. Aber eine starke imperialistisch orientierte Strömung in der Konservativen Partei, die die überwältigende Mehrheit im Londoner Unterhaus hatte, stellte sicher, daß die schwachen Regierungen dieser Jahre einen solchen Schritt nicht wagten. Der wichtigste Führer dieser konservativen Fraktion war Winston Churchill. Seine späteren Leistungen sollten nicht die Sicht auf seinen Beitrag zu einer Katastrophe verstellen, die zumindest eine halbe Million Menschen das Leben gekostet hat. Als ein wunderliches Resultat der islamischen Missionierung im Mittelalter zerfielen die Gebiete der moslemischen Mehrheit in Indien in zwei getrennte Teile: den Pandschab, das Land der fünf Ströme im Westen, und Ost-Bengalen im Osten. So wurde Pakistan als zweigeteilter Staat geschaffen, geteilt durch ein riesiges Stück Indiens. Die anderen Teile von Britisch-Indien œ Birma und Ceylon (Sri Lanka) œ errangen gesondert die Unabhängigkeit. Die Teilung war eine der blutigsten Episoden des Jahrhunderts: 12 Millionen Menschen verließen ihre Heimat, und Hunderttausende Menschen wurden bei gegenseitigen Massakern getötet. Die Schätzungen reichen von 500.000 bis zu wahrscheinlich 800.000 oder gar einer Million. Eisenbahnzüge mit Flüchtlingen wurden auf offener Strecke angehalten, und jeder an Bord œ mit Ausnahme des Lokomotivführers wurde getötet. Es gelang Mahatma Gandhi durch Gebet, Fasten und Einsatz seines riesigen Einflusses, in Delhi die Ordnung wiederherzustellen. Aber am 30. Januar 1948 wurde er von einem fanatischen Hindu erschossen. -284-
Die Briten hatten halb Indien direkt regiert; im Rest des Landes waren eingeborene Fürsten auf ihrem Thron belassen worden, deren Staaten durch ‡Residenten— (Ratgeber des Fürsten) gelenkt wurden. 1947 mußten sich die Fürsten für Indien oder Pakistan entscheiden. Die meisten von ihnen folgten ein letztes Mal dem Rat ihrer Ratgeber und ordneten sich unter. Der mächtigste von ihnen, der Nizam von Hyderabad, ein moslemischer Fürst im hinduistischen Südindien, weigerte sich. Die neue Regierung setzte die Armee in Marsch, und das war das Ende des Traums vom unabhängigen Hyderabad. DER ERSTE INDISCH-PAKISTANISCHE KRIEG Der größte Fürstenstaat war Kaschmir im entfernten Norden. Die Bevölkerung ist mehrheitlich moslemisch, aber es gibt eine große Hinduminderheit in Dschammu. Die Mitglieder der Familie Nehru waren Brahmanen aus Kaschmir, und der Maharadscha von Kaschmir war ein Hinduabkömmling eines Verbündeten der Briten in einem ihrer Kriege im 19. Jahrhundert, der von den Kolonialherren mit dem Thron belohnt worden war. Auch der Maharadscha hoffte 1947 auf Unabhängigkeit, aber die pakistanische Regierung sandte moslemische Stammeskämpfer nach Kaschmir zur Eroberung des Landes, und daher unterzeichnete der Maharadscha einen Anschlußvertrag an Indien. Darauf folgte der erste Krieg zwischen Indien und Pakistan. Militärisch gesehen war es kein besonders großer Krieg. Indische und pakistanische Truppen marschierten auf und lieferten sich einige Scharmützel, bevor es im Januar 1949 zu einem Waffenstillstand kam. Indien kontrollierte zu diesem Zeitpunkt den Großteil von Kaschmir. Aber beide Länder weigerten sich, den Status Quo anzuerkennen. Nach wie vor erhebt jedes Anspruch auf das ganze Gebiet. DER KRIEG GEGEN CHINA Der Grenzkrieg zwischen China und Indien von 1962 war ein Fiasko, das Indiens Rolle als der moralpredigende, friedliebende Führer der Dritten Welt abrupt beendete. Es gelang Indien, einige Reste seiner diplomatischen Reputation nach der demütigenden -285-
Niederlage seiner Armee zu retten, hauptsächlich dank des unbeeinträchtigten Ansehens des Landes als Friedensapostel und wegen Chinas Ruf als rücksichtloser Egoist. Tatsächlich war aber Indien der Aggressor, China der Angegriffene, und nachdem sie Indien geschlagen hatten, handelten die Chinesen mit erstaunlicher diplomatischer Zurückhaltung. Die völlige militärische Beherrschung der Region erlaubte den Briten eine Grenzziehung im Norden Indiens, wo sie ihnen am günstigsten schien. Ab 1883 kartographierte Captain Henry McMahon von der Indischen Armee die Grenze und legte ihren Verlauf fest. Daher wurde diese Grenze auch als die McMahon-Linie bekannt, so wie die Grenze zwischen den amerikanischen Bundesstaaten Maryland und Pennsylvania nach zwei frühen britischen Kartographen, Charles Mason und Jeremiah Dixon, benannt ist. Es gab Probleme mit der Demarkation, hauptsächlich deshalb, da China die McMahon-Linie niemals anerkannt hat. Zu der Zeit war das ein akademischer Streit, da China noch nicht Tibet beherrschte und Großbritannien viel mächtiger war. Aber diese Situation veränderte sich nach dem Abzug der Briten und der Machtergreifung der chinesischen Kommunisten 1949 sowie der Besetzung Tibets 1950 (siehe CHINA). Hätten die Briten noch in Indien geherrscht, hätten sie die Grenzfrage zweifellos zügig geklärt, so wie den Streit über die Grenze zwischen Kanada und den USA. Die umstrittenen Gebiete waren den Kampf nicht wert, aber Indien, wie viele andere junge Staaten, betrachtete seine Grenzen als heilig, wie abgelegen und unzugänglich sie auch sein mochten. Ein weiteres Problem ergab sich am westlichen Ende der Grenzlinie, wo sie durch eines der wildesten und höchstgelegenen Gebiete der Erde verläuft, mit Pässen in der Höhe von mehr als 5.000 Meter im Hochland von Pamir; dort war sie niemals genau abgesteckt worden. Und auch weiter östlich gab es Streit über den genauen Grenzverlauf. Die Kernpunkte der folgenden Auseinandersetzung waren, daß es vor der Zeit der Briten keine genauen Grenzen gegeben hatte. Die Macht jedes Staates reichte nur so weit, wie seine Armeen marschieren konnten. Die britischen Soldaten stießen in den Bergen so weit vor, wie die Zivilisation reichte, was bedeutete, daß sie über den -286-
Fuß der Gebirgsketten nicht hinauskamen. McMahon, ein sorgfältiger, europäisch denkender Kartograph, zog seine Linien über die Bergrücken. China verweigerte die Anerkennung dieser britischen Gebietserweiterung, um die sich die Briten auch nie kümmerten, und bestand darauf, daß die Grenze weiter unten verliefe. Das unabhängige Indien forderte alles. Es sicherte sich auch die Herrschaft über eine eindeutige tibetische Enklave, Tawong, südlich der Grenze, im Osten. China protestierte nicht, und die Sache wäre wohl niemals entschieden worden, hätte China nicht eine Ecke des westlichen Endes der Grenze gefordert, um eine Straße nach Tibet zu errichten. Diese Provinz heißt Aksai Chin und ist Teil des tibetischen Hochplateaus. Sie ist größtenteils unbewohnt. Indien weigerte sich kategorisch und war nicht einmal zu Verhandlungen darüber bereit. Ministerpräsident Jawaharlal Nehru hatte Briten, Amerikanern und anderen endlose Predigten über die Verrücktheit gehalten, in internationalen Problemen Gewalt einzusetzen, und ständig Verhandlungen als die wahre Lösungsmethode aller Probleme empfohlen. Nun erwies er sich als genauso unzugänglich und demagogisch, wie die meisten korrupten westlichen Politiker. Es ist nicht klar, ob er überempfindlich oder einfach schwach war, aber es ist eindeutig, daß seine Regierung einen Sturm des Chauvinismus entfachte. Die Öffentlichkeit und das Parlament forderten, daß die Chinesen aus Indien hinausgejagt werden müßten, und Nehru sicherte das auch zu. Um seine Ernsthaftigkeit unter Beweis zu stellen, startete er eine Kampagne gegen Coa, und im Dezember 1961 durfte die indische Armee diese Kolonie sowie Damao und Diu, zwei weitere winzige portugiesische Enklaven, erobern. Dann verlegte die indische Armee alle verfügbaren Einheiten an die chinesische Grenze und begann mit der Umsetzung der neuen aggressiven Politik Indiens. Unglücklicherweise hatte Nehru zugelassen, daß sich der Zustand der Armee seit der Unabhängigkeit immer mehr verschlechtert hatte. Sie hatte zwar ihre Tradition hochgehalten, aber die Ausrüstung war veraltet, und sie war völlig unfähig, einen Gebirgskrieg zu führen. Die speichelleckerischen Offiziere, die Nehru in die höchsten Ränge befördert hatte, verschwiegen ihm diese Fakten oder unterließen es zumindest, ihn von der Ernsthaftigkeit ihrer Bedenken zu überzeugen. -287-
Die Armee sollte Patrouillen in die umstrittenen Gebiete entsenden und Stützpunkte errichten. Das war mit riesigen Schwierigkeiten verbunden: Es gab keine Straßen, und jedes einzelne Teil mußte über den Himalaya getragen werden. Die Chinesen hatten zu ihrer Hochebene wettersichere Straßen errichtet und keine solchen Probleme. Es gab gelegentlich unbedeutende Zwischenfälle zwischen chinesischen und indischen Streiftrupps. Die Chinesen protestierten regelmäßig und forderten ebenso regelmäßig formelle Verhandlungen über die Grenze. Tschou En-Lai, damals chinesischer Ministerpräsident, reiste im April 1962 nach Delhi, um die Inder zu einer friedlichen Lösung der Angelegenheit zu bewegen. Dieses Gipfeltreffen war ein kompletter Fehlschlag. Im Juni 1962 bekamen die indischen Streitkräfte Befehl, über die Grenze, die Indien in Aksai Chin beansprucht hatte, nach Westen vorzustoßen. Dazu hätten sie als erstes die chinesische Straße erobern müssen, aber die indischen Stoßtrupps hatten in dem schwierigen Gelände keine Chance auf Erfolg. Im Chip Chap-Tal kam es zu den ersten größeren Gefechten zwischen indischen und chinesischen Einheiten. Im Anschluß daran nahmen die Chinesen rund 30 indische Stützpunkte in diesem Gebiet ein. Zur gleichen Zeit hatte die indische Armee Befehl, Stützpunkte im östlichen Abschnitt der McMahon-Linie zu errichten. An einem Punkt hatten östlich der Grenze zu Bhutan, einem indischen Protektorat im Himalaya, indische Stoßtrupps die McMahon-Linie überschritten und besetzten einen Bergrücken, den McMahon auf seiner Landkarte übersehen hatte. Die Chinesen protestierten, aber ohne Erfolg. Im Juli gab es weitere ernsthafte Zusammenstöße zwischen chinesischen und indischen Patrouillen im Chip Chap-Tal. Im September schickten die Chinesen Patrouillen in die unmittelbare Reichweite der am weitesten vorgeschobenen indischen Stellungen. Indien verstand das als Invasion, und die Regierung gab Befehl, die Chinesen vom indischen Territorium zu vertreiben. Am 9. Oktober griffen die Inder von diesen vordersten Stellungen aus an. Sie wußten, daß ihre Lage hoffnungslos war, sie waren im Verhältnis 1:5 unterlegen, die Chinesen waren weit besser ausgerüstet und hielten die hochgelegenen Teile, von wo sie die Inder im Tal niederhalten konnten. Die Chinesen trieben sie zurück und töteten sieben indische -288-
Soldaten. Am 20. Oktober griffen sie erneut an, überrannten die indischen Stellungen im Osten und warfen gleichzeitig die Inder aus Aksai Chin. Obwohl die Auseinandersetzung ursprünglich um die Westgrenze und die chinesische Straße gegangen war, waren die Kämpfe im Osten weit ernster geworden. Die Chinesen standen vor dem Durchbruch nach Assam. Es gab eine weitere Pause in diesem Krieg, und indische Soldaten, die in 5.000 Meter Höhe einen strategisch wichtigen Paß bewachten, konnten hören, wie unter ihnen die Chinesen eine Straße errichteten, um Lastwagen und Geschütze heranzuführen. In einem letzten Anfall von Wahnsinn befahl die Regierung Nehru erneut den Angriff. Dieser Angriff am 15. November war ein Fiasko. Am nächsten Tag nahmen die Chinesen ihre Vorteile wahr und griffen an. Die indischen Verteidigungsstellungen brachen zusammen, die Armee floh. Zwei Tage später war nichts mehr zwischen den Chinesen und dem flachen Land. Nehru bereitete sich auf den Verlust Assams vor. An diesem Punkt verkündete China am 21. November 1962 einen einseitigen Waffenstillstand und Rückzug. Es zog seine Einheiten 20 Kilometer hinter die McMahon-Linie zurück, ebenso die Truppen im Westen hinter die ursprüngliche Grenze. Alle eroberten Waffen und Ausrüstungen wurden sorgfältig gereinigt, poliert und den Indern gegen Empfangsbestätigung zurückgegeben. Indien nahm seine verlorenen Gebiete wieder in Besitz, beendete aber seine Aggressionspolitik. Es hatte 1.383 Tote, 1.696 Vermißte und 3.105 Kriegsgefangene zu beklagen, von denen 26 in der Gefangenschaft starben. Die chinesischen Verluste waren ungefähr halb so groß. Ungeachtet der chinesischen Großmut weigerte sich Indien (ähnlich wie Argentinien nach dem Falkland-Krieg), die Niederlage anzuerkennen, und beansprucht bis heute diese Bergwüsten als indischen Besitz. Es gab keine Verhandlungen mit China, obwohl das Angebot der Anerkennung der McMahon-Linie im Gegenzug zur Anerkennung von Chinas Anspruch auf Aksai Chin nach wie vor aufrecht ist. Das Debakel führte zu einem Wechsel der indischen Prioritäten. Indien wurde ein enger Verbündeter der Sowjetunion (obwohl die -289-
UdSSR während dieses Krieges China unterstützt hatte, die USA hingegen Indien), und erhöhte sein Verteidigungsbudget. So war es für die Kriege gegen Pakistan 1965 und 1971 besser gerüstet. Indien hörte auch auf, den Rest der Welt über die Vorzüge der Nichteinmischung und des Pazifismus zu belehren. Nehru erholte sich nicht mehr von diesem Schock. Im Januar 1964 erlitt er einen Schlaganfall, und er starb am 27. Mai. 1967, 1969 und zuletzt 1987 kam es zu weiteren Grenzkonflikten zwischen China und Indien. Im September, nach einer Phase zunehmender Spannungen zwischen den Regierungen (China versank gerade im Chaos der Kulturrevolution), nahm China indische Stellungen an der Grenze zu Sikkim am Natu La-Paß unter Beschuß. Dabei wurden zehn indische Soldaten getötet. China beschuldigte Indien der wiederholten Grenzverletzung und der Ermordung von 25 chinesischen Soldaten. Die Episode hatte keine weiteren Nachwirkungen. Im April 1969 verschärfte sich die Lage an der Grenze wieder einmal œ bis hin ins Lächerliche: so legte China einmal geharnischten diplomatischen Protest ein, als der Wind ein Stück Linoleum aufwirbelte und von indischem Gebiet über die Grenze trug. Daraus ergab sich weiter östlich ein Zwischenfall, am Lipu Lekh-Pass, westlich von Nepal. Die Chinesen beschossen eine indische Patrouille, aber auch dieser Zwischenfall hatte keine Konsequenzen. Im Mai und Juni 1987 kam es im Sumdoreng-Tal in Arunachal Pradesh, der indischen Provinz im äußersten Osten des Himalaya, zu einer ernsthaften Krise. Die Chinesen warfen den Indern vor, auf chinesischem Territorium einen vorgeschobenen Posten zu errichten, und Indien beschuldigte China, daß seine Soldaten über die Grenze nach Indien einsickerten. Beide Seiten zogen an der Grenze Zehntausende Soldaten zusammen, ehe der Streit auf diplomatischem Weg geschlichtet wurde. DER ZWEITE KRIEG GEGEN PAKISTAN 1965 führte ein lächerlicher Streit mit Pakistan œ es ging um die Wasserrechte im Sumpfgebiet des Rann von Katsch an der Westküste œ zu einem Grenzkrieg, der sich auf Kaschmir ausweitete. -290-
Nach ernsthaften Kämpfen im Rann im April, kam es im Juni durch britische Vermittlung zu einem Waffenstillstand. Doch Pakistan ließ Guerillas nach Kaschmir einsickern, um einen Aufstand in Kaschmir anzuzetteln und besetzte einige Stellungen. Indien schlug im August zurück und wies einen Angriff im Chamb-Sektor des südwestlichen Kaschmir ab. Am 6. September überschritten indische Truppen zum Gegenangriff die pakistanische Grenze im Pundschab und besetzten Pakistan zwischen Lahore und Sialkot. Die Inder stießen etliche Kilometer vor, besiegten die entgegengeworfenen pakistanischen Truppen, akzeptierten aber am 23. September einen Waffenstillstand, den der UNO-Generalsekretär U Thant vermittelt hatte. In diesen Kämpfen starben insgesamt rund 20.000 Menschen, die meisten von ihnen waren Zivilisten. Nach intensiven Vermittlungsversuchen der UdSSR trafen der pakistanische Präsident Ayub Khan und der neue indische Ministerpräsident Lal Bahadur Shastri im Januar 1966 in Taschkent zusammen und unterzeichneten einen Waffenstillstandsvertrag. Diese friedensstiftende Tat muß wirklich gerühmt werden œ eine Rolle, die die UdSSR nicht oft gespielt hat. Unmittelbar nach der Vertragsunterzeichnung erlitt Shastri einen Herzanfall und starb. Ihm folgte Nehrus Tochter, Indira Gandhi. (Zum dritten Indisch-Pakistanischen Krieg 1971 siehe PAKISTAN). AUSEINANDERSETZUNGEN IM LANDESINNEREN An den nordöstlichen Grenzen Indiens gab es ständige Guerillakämpfe von separatistischen Gruppen; das Gebiet wurde durch die Gründung Ost-Pakistans (des späteren Bangladesch) praktisch vom übrigen Indien abgeschnitten. Eine Reihe von Staaten der Bergstämme wurden von bengalischen Flüchtlingen, Hindus und Moslems, gestürmt, die versuchten, der Armut und Überbevölkerung ihrer Heimatprovinzen ebenso zu entkommen wie den unsicheren Verhältnissen. In der Zwischenzeit hat Neu-Delhi versucht, seine Herrschaft über die Stämme in den Bergen wiederzugewinnen, die verbittert gegen ihren Anschluß an Indien von 1947 kämpften. Die Ungleichheit der Kräfte im Kampf zwischen Indien und den Stämmen ist so groß, daß Indien nicht verlieren kann. Aber die -291-
ständige Alarmbereitschaft Tausender Soldaten in den Bergen bedeutet für das indische Militärbudget eine große Belastung. Rajiv Gandhi setzte sich nach seinem Regierungsantritt 1984 die Beendigung dieser Auseinandersetzungen zum Ziel. Zum Teil ist ihm die Verständigung mit den Mizo-, Tripura- und Curkha-Rebellen gelungen. Die Auseinandersetzungen in Nagaland, Manipur und mit den Bodo gehen weiter. NAGALAND Die älteste dieser Revolten herrscht in Nagaland, einem abgelegenen, unzugänglichen Land in den Bergen zwischen Assam und Birma. 1944 griffen die Japaner Indien durch Nagaland und Manipur an, auf dem direkten Weg in den Süden, und sie wurden in Kohima und Imphal zum Halten gebracht. Die Briten eroberten das Nagaland im 19. Jahrhundert, aber nur unter großen Schwierigkeiten. Den Naga wurde weitreichende Autonomie gewährt, und sie wurden umfassend gegen das Eindringen der Völker aus der Ebene geschützt. In der Mitte des 19. Jahrhunderts kamen Baptistenmissionare aus den Vereinigten Staaten und bekehrten die meisten Naga zum Christentum. Die Naga kämpften tapfer auf Seite der Briten im 2. Weltkrieg und forderten einen eigenen Staat, als die indische Unabhängigkeit sich abzeichnete. Am 14. August 1947 proklamierte die Naga-Nationalversammlung (NNC) unter Z. A. Phizo das unabhängige Nagaland. Indien verweigerte aber die Anerkennung. Während der nächsten zehn Jahre gab es heftige Auseinandersetzungen zwischen Nagaland und Neu-Delhi: Die Naga forderten immer wieder die Unabhängigkeit, und Indien verweigerte immer wieder jede Diskussion darüber. Ab 1955 wurde Gewalt in den Nagabergen Bestandteil des politischen Lebens. Die indische Regierung erklärte einen Teil des Nagalandes zum ‡Land im Aufruhr— und versuchte, den Naga-Separatismus zu unterdrücken. Im Januar 1956 wurde die ganze Region zu ‡aufständischem Gebiet— erklärt, und im März desselben Jahres rief der NNC eine Bundesregierung mit einer Verfassung und einer Armee aus und nahm den Kampf um die Unabhängigkeit auf. -292-
In den folgenden zwei Jahren setzte Indien Tausende Soldaten ein, um Nagaland unter Kontrolle zu bekommen. Nach Regierungsangaben wurden 1.400 Naga und 162 indische Soldaten getötet. Es gibt zahlreiche Berichte von Massakern und Folter durch Regierungstruppen. Allmählich gewannen die Inder die Oberhand. 1963 kam Delhi zur Einsicht, daß die Naga ein Sonderfall seien, und Nagaland wurde zu einem eigenen Staat in der Indischen Union. Es war bei weitem der kleinste, mit einer Bevölkerung von rund 350.000 (heute sind es 700.000). Später wurden noch mehrere ebenso kleine Staaten im Gebirgsland gebildet. Diese Entscheidung spaltete die Naga zwischen jenen, die die indische Oberherrschaft über einen eigenen Staat als das Maximum des Erreichbaren akzeptierten, und denen, die weiter für die volle Unabhängigkeit kämpften. Zwischen 1964 und 1966 herrschte Waffenstillstand, und am 11. November 1975 akzeptierte schließlich eine Gruppe führender Naga-Untergrundkämpfer die Niederlage und unterzeichnete einen Waffenstillstandsvertrag in Shillong im Nachbarstaat Meghalaya. Nach 20 Jahren des Kampfes kehrte in Nagaland relativer Friede ein, aber Phizo in seinem Londoner Exil und eine Gruppe kommunistischer Naga unter J. J. Muivah wollten den Kampf fortsetzen. Muivah hatte 1966 bei China Hilfe gesucht, und jetzt errichtete er sein Hauptquartier jenseits der Grenze in Birma, wo verwandte Stämme ebenfalls um ihre Unabhängigkeit kämpfen. Muivah und seine Gefolgsleute haben einen ‡Nationalen Sozialistischen Rat von Nagaland— errichtet und verfügen angeblich über 2.000 Soldaten. Wahrscheinlich werden sie weiterhin von China unterstützt. Sie sind mehr eine Irritation als eine Bedrohung der indischen Regierung, aber die Armee muß immer noch in diesem Grenzgebiet präsent sein, und bei Überwachungspatrouillen kommt es immer wieder zu Verlusten. MANIPUR UND MJZORAM Diese beiden Staaten, früher verwaltungsmäßig ein Teil von Assam, waren mehr als fünfundzwanzig Jahre lang Schauplatz sezessionistischer Erhebungen. 1961 wurde die ‡Mizo National Front— gegründet, vor allem als Reaktion auf die Gleichgültigkeit der -293-
indischen Zentralregierung bei einer Hungersnot. Im Februar 1966 gelang es der MNF, für ein paar Tage das ganze Gebiet in Aufruhr zu versetzen, aber die indische Armee gewann rasch wieder die Kontrolle und demonstrierte ihre Macht durch Umsiedlung der Dorfbewohner und Neuanlage von Wehrdörfern. Die Reaktion der Regierung verlief so ähnlich wie in Nagaland: Heftige militärische Unterdrückung, gefolgt von der Schaffung eines ‡Unionsgebietes— Mizoram. Zur selben Zeit wurden die anderen Bergdistrikte von Assam abgetrennt und die Staaten Tripura, Meghalaya und Manipur errichtet. Die Mizo-Revolte ging bis zum 25. Juni 1986 weiter. Dann unterzeichnete Rajiv Gandhi ein Abkommen mit den Rebellenführern, in dem viele ihrer Forderungen erfüllt wurden œ im Gegenzug erkannten sie die Indische Union an. Mizoram wurde zum eigenen Bundesstaat erklärt, und der MNF-Führer Laldenga wurde Ministerpräsident. Im Februar 1987 wurden Wahlen abgehalten: Die MNF erreichte die Mehrheit im Parlament und besiegte Gandhis Kongreßpartei. Die jahrelangen Aufstände haben rund 1.500 Menschen das Leben gekostet. In Manipur gibt es weiterhin zwei Rebellengruppen, die ‡Volksbefreiungsarmee— und die ‡Revolutionäre Armee von Kuneipak—. Beide haben ideologische Verbindungen mit China, aber sie beziehen ihre Stärke aus der örtlichen Opposition gegen das ständige Anwachsen der Bengaleneinwanderung. Wie andere Stammesangehörige an der Nordostgrenze fürchten sie, von Millionen verzweifelter Bengalen überrannt zu werden. TRIPURA Tripura ist eine indische Enklave, rund 10.000 Quadratkilometer groß, die auf drei Seiten von Bangladesch umgeben ist. Seine südliche Grenze stößt an die Chittagong Hill Tracts, wo Angehörige derselben Stämme wie die Tripuren gegen die Regierung von Bangladesch revoltieren (siehe BANGLADESCH), und seine Berge sind mit dichtem Dschungel bedeckt. 1980 startete eine neue Gruppe, die ‡Tripura Freiwilligenarmee— (TVF) unter Führung von Bijoy Kumar Hrangkhawl den Kampf um die Unabhängigkeit. Sie fand teilweise -294-
Widerstand bei einer marxistischen Partei, die die Lokalwahlen in Tripura durch die Stimmen bengalischer Einwanderer gewonnen hatte. Zu diesem Zeitpunkt waren die Stammesangehörigen in ihrem eigenen Heimatland bereits in der Minderheit. Die erste Welle HinduEinwanderer war bei der Unabhängigkeit und in den frühen Jahren von Ost-Pakistan ins Land geflohen. Weitere 100.000 waren seit der Gründung von Bangladesch im Jahr 1971 herübergekommen. Die TVF begann diesen Krieg mit einem Massaker an 1.000 bengalischen Siedlern. In den folgenden Kämpfen starben weitere 1.000 Menschen. Die TVF hatte nur rund 400 Kämpfer, aber Tausende Sympathisanten, die sie notfalls zu Hilfe rufen konnte. Im Februar 1988 verlor die marxistische Partei in Tripura eine Wahl, und Hrangkhawl entschloß sich zum Friedensschluß mit der Bundesregierung. Nach dreimonatigen geheimen Verhandlungen stimmten die Rebellen am 12. August zu, ihre Waffen niederzulegen und den Kampf zu beenden. Im Gegenzug versicherte die Regierung, den Zuzug aus Bangladesch zu stoppen, Stammesprivilegien wiederherzustellen und die Befugnisse der lokalen Behörden in der autonomen Stammesregion auszuweiten. Der Streit ist jedoch nicht beendet. Hrangkhawl fordert, daß auch die 100.000 seit 1971 eingewanderten Bengalen ausgewiesen werden sollten. Das ist nicht möglich, und die tiefe Feindschaft zwischen den beiden Völkern wird anhalten. DIE GURKHAS Der Bundesstaat West-Bengalen ist zwischen den Himalaya und Bangladesch eingezwängt und hat mehr Einwohner als die anderen nordöstlichen Distrikte. Die ungefähr 19 Millionen Menschen leben hauptsächlich im Brahmaputra-Tal, darunter die Gurkhas um Darjeeling im Westen, und weiter östlich noch eine große Zahl anderer Völker. Die Opposition gegenüber der Zentralregierung war unter den Gurkhas am stärksten. Sie sind mit den Nepalesen verwandt, die immer noch als Elitetruppe der britischen Armee dienen. Jahrelang herrschte hier ein ständiger Kleinkrieg. Es gab eine ständige Einwanderung von Bengalen, sowohl Hindus als auch Moslems. Die ersten fremdenfeindlichen Ausschreitungen -295-
ereigneten sich 1979, und seit damals gab es immer wieder Aufruhr und gelegentlich auch Massaker. 1983 wurden während einer Wahlkampagne, die Indira Gandhi dem Staat aufzwang, 3.000 Menschen getötet, davon 600 Frauen und Kinder in dem Moslemdorf Nellie. Die Männer waren alle auf Kriegszug. Die Unruhen gingen bis zum Juli 1988 weiter, allen Anstrengungen der Inder, das Land zu befrieden, zum Trotz. Im Februar 1988 griff die ‡Gurkha National Liberation Front— eine Polizeipatrouille an und verlor dabei sechs Männer, und im April wurden ein Lehrer und ein Journalist bei zwei Zwischenfällen getötet. Sie wurden enthauptet, und ihre Köpfe wurden in Plastiksäcken an öffentlichen Plätzen deponiert. Bei diesen Unruhen starben insgesamt rund 300 Menschen. Die Gurkhas erhoben sich zwar niemals zu einem richtigen Aufstand, wie im Nagaland oder in Mizoram, aber trotzdem starben immerhin rund 5.000 Menschen. Wenn sie das je täten, wäre es für die Regierung äußerst schwierig, die Situation in Griff zu bekommen. Die indische Regierung stellt für diese Region hohe Entwicklungsgelder zur Verfügung, um die Menschen von den Vorteilen der Zugehörigkeit zur Indischen Union zu überzeugen. Aber das grundlegende Problem, der Konflikt zwischen Bergbewohnern und den Einwanderern aus dem Flachland, wird weiter bestehen. Zuletzt erwies sich die Regierungspolitik der Befriedung als erfolgreich, als der Gurkhaführer Subhas Ghising am 25. Juli 1988 ein Friedensabkommen unterzeichnete. Die wichtigste Klausel dieses Vertrages war das Zugeständnis einer autonomen Gurkha-Region rund um Darjeeling, die Hauptstadt der Gurkhas mit rund 1,4 Millionen Einwohnern. Die Volksversammlung hat das Entscheidungsrecht über Belange wie Erziehung, Gesundheitswesen, Finanzen und Verkehr, aber die Region bleibt Bestandteil des Staates West-Bengalen. DIE NAXALITEN 1969 loste sich eine Gruppe revolutionärer Kommunisten von der Kommunistischen Partei, gründete eine marxistischleninistische KP und versuchte, die Bauern zum revolutionären Kampf zu bewegen. Sie konzentrierte sich auf den Distrikt um Naxalbari in West-Bengalen, -296-
und wurde bekannt als die ‡Naxaliten—. Sie ermordeten Beamte und griffen Polizeistationen an. Die Regierung verhängte den Notstand und tötete oder verhaftete die meisten Terroristen. Bei diesen Auseinandersetzungen starben Hunderte Menschen. Anfang der siebziger Jahre schienen die Naxaliten restlos besiegt zu sein, zum Teil auch deshalb, da eine kommunistische Regierung in West-Bengalen gewählt worden war, die viele der Forderungen der Bauern erfüllte. Aber die NaxalitenAktivitäten sind wieder aufgelebt. Die typische Handschrift ihrer Terroranschläge wurde aus vielen Teilen des Landes berichtet, von Kerala und Tamil Nadu im Süden bis Assam im Nordosten und Bihar und Andhra Pradesh im nördlichen Zentralindien. In Andhra Pradesh haben die Naxaliten seit 1984 mehr als 200 Menschen getötet, darunter 35 Polizeibeamte, und seither steigen die Todeszahlen: Im August 1987 wurden zehn Polizisten in einem Hinterhalt ermordet. Man schätzt, daß es ungefähr 5.000 Naxaliten gibt, davon rund 500 Terroristen, die sich ‡Volkskrieg— nennen. Im Dezember 1987 entführte der ‡Volkskrieg— eine Gruppe hoher Beamter und gab sie erst im Austausch gegen gefangene Naxaliten frei. In Bihar kommt es immer wieder zu Gefechten zwischen Naxalitenbanden und den Privatarmeen örtlicher Großgrundbesitzer, und in Punjab haben sie sich mit den sezessionistischen Sikhs verbündet. DIE BODO Die Bodo sind ein weiterer Bergstamm im östlichen Assam, am Nordufer des Brahmaputra, der seinen eigenen Staat will. Es gibt ungefähr 2 Millionen Bodo, und in diesem Konflikt sind seit 1986 zwischen 200 und 500 Menschen ums Leben gekommen. Die ‡AliBodo Student‘s Union—, angeführt von Upendranath Brahma, ist darüber empört, daß sie ihre Sprache in Assam oder Hindu schreiben müssen. Sie selbst bevorzugen das lateinische Alphabet und fordern dieselben Zugeständnisse, wie sie bereits anderen Stämmen gemacht worden sind. Im August 1989 wurde ein Vertrag unterzeichnet, und zwischen der Regierung von Assam und der ABSU begannen Verhandlungen. Aber die radikalen Bodo führten den Kampf weiter. -297-
Zwei Wochen nach der Vertragsunterzeichnung waren bereits wieder mehr als 70 Tote zu verzeichnen. Die Regierung von Assam, die von Oppositionsparteien œ gegenüber den Stärkeverhältnissen in NeuDelhi œ geführt wurde, beschuldigte die Zentralregierung der Drahtzieherei hinter diesen Unruhen, um Assam zu destabilisieren. Nach dem Regierungswechsel in Neu-Delhi sollte es hier zu einer Entspannung kommen. DIE SIKHS Der Aufstand der Sikhs ist bei weitem der gefährlichste, den Indien seit der Unabhängigkeitserklärung erlebt hat, und stellt für die Zentralregierung eine ernsthafte Bedrohung dar. In Indien leben rund 15 Millionen Sikhs, die meisten von ihnen im Bundesstaat Punjab, wo sie die Mehrheit stellen. Sie hängen einer Religion an, die im Punjab im 15. Jahrhundert gegründet und von einer Abfolge von zehn Gurus entwickelt wurde. Sie ist eine Verschmelzung von Hinduismus und Islam: sie ist monotheistisch, wie der Islam, und lehnt das hinduistische Kastensystem vehement ab; aber sie anerkennt die Reinkarnation und den Fatalismus der Hindus. Die heilige Stadt der Sikhs ist Amritsar, wo sie ihren Goldenen Tempel errichtet haben. (‡Amritsar— bedeutet ‡Becken voll Nektar— und bezieht sich auf das heilige Becken, das den Tempel umgibt.) Der letzte der zehn Gurus befahl seinen männlichen Gefolgsleuten, sich niemals zu rasieren oder ihr Haar zu schneiden, immer einen Dolch zu tragen und den Namen Singh (Löwe) zu führen. Frauen, die bei den Sikhs weit mehr Unabhängigkeit genießen als bei den Hindus, tragen den Namen Kaur (Prinzessin). Im frühen 19. Jahrhundert eroberten die Sikhs unter Maharajah Ranjit Singh den Punjab. Seine Hauptstadt war Lahore, und in seinem Turban trug er den Kohi-Noor-Diamanten, der ein bedeutender Besitz der Moguln gewesen war. Ranjit Singh starb 1839, seine Nachfolger kämpften gegen- statt miteinander, und innerhalb eines Jahrzehnts hatten die Briten den Punjab erobert. Die Briten fingen einen fliehenden Fürsten und fanden in seinem Turban den Kohi-Noor. Der Diamant wurde nach London geschickt und in Queen Victorias Kronschatz einverleibt. -298-
Die Briten schätzten die militärischen Fähigkeiten der Sikhs hoch ein und rekrutierten sie in großer Zahl in ihre Armee. Während des Sepoy-Aufstandes, zehn Jahre nach dem letzten Sikh-Krieg, blieben die Sikh-Regimenter den Briten treu und beteiligten sich an der Rückeroberung von Nordindien, und im Ersten Weltkrieg kämpften 100.000 Sikhs an der Seite der Briten. Am 13. April 1919 befahl ein britischer General seinen Soldaten, in eine Menschenansammlung auf dem Jailianwala Bagh zu schießen, ein Marktplatz in Amritsar. Es war eine nicht genehmigte Demonstration gegen die Briten und die Tempelbehörden, die sie unterstützten. Die Soldaten töteten 379 Menschen und verwundeten 1.200. Die Sikh-Tempelbehörden begrüßten das Massaker; diese Haltung führte zum verstärkten Ruf nach Reformen, die eine Mehrheit der Sikhs zur Unterstützung der Unabhängigkeitsbewegung brachten. Die Reformer gründeten den ‡Akali Dal—, der sich später zu der politischen Partei entwickelte, die heute das Herz der Auseinandersetzung zwischen Neu-Delhi und den Sikhs ist. Zum Zeitpunkt der Teilung waren die Sikhs über den Punjab zersprengt. Sie forderten ihre Unabhängigkeit, wurden aber übergangen. Als der Punjab aufgeteilt wurde, blieben 40 Prozent der Sikhs in Pakistan und wurden Opfer der schlimmsten Massaker. Im Gegenzug brachten die Sikhs Moslems im Osten um und vertrieben sie nach Pakistan. Als der Blutrausch verebbte, siedelten die meisten Sikhs im indischen Teil des Punjab um Amritsar. Sie bedauerten zutiefst den Verlust von Lahore, der Hauptstadt Ranjit Singhs knapp jenseits der Grenze. In den nächsten 35 Jahren kamen die Sikhs zu neuer Blüte. Ihre Farmen wurden die ertragreichsten in Indien, dank ihrem eigenen Fleiß und Intellekt und den Bewässerungsprojekten der Regierung. Die Städtebewohner paßten sich an die moderne Industrie und den Handel an. Aber die Prosperität barg Gefahren: SikhFundamentalisten fürchteten, daß ihre Religion vom Hinduismus wieder aufgesogen würde. Zuerst predigten sie die strikte Befolgung der Regeln aus den Heiligen Büchern, aber ab den frühen achtziger Jahren forderten einige ernsthaft die eigene Sikh-Nation, die sie Khalistan nannten, das ‡Land der Reinen—. Führer dieser Separatistenbewegung war Sant Jarmil Singh Bhindranwale (wobei -299-
Sant für ‡heiliger Mann— steht). Bhindranwale glaubte daran, daß es das Recht der Sikhs sei, ihre Feinde zu töten, und er führte eine militante Bewegung, die sich offen zum Terrorismus bekannte. Die Unruhen begannen 1981, als die Akali Dal eine Liste von 45 Forderungen an die Zentralregierung vorlegte, die bis auf die volle Unabhängigkeit den Sikhs sämtliche Herrschaftsrechte über den Punjab eingeräumt hätte. Die Regierung Indira Gandhis wies dieses Programm zurück. Im September 1981 wurde ein hinduistischer Zeitungsherausgeber das erste Attentatsopfer. Im September 1982 erklärte eine Sikh-Konferenz Indien den Heiligen Krieg, und damit begann eine Reihe immer ernster werdender Zwischenfälle. Sikh-Terroristen, die sich auf Bhindranwale beriefen, verletzten und töteten Regierungsbeamte oder Hindus, die sie aus Sikhgebieten verdrängen wollten. Im April 1983 wurde ein hoher Polizeioffizier œ selbst ein Sikh œ ermordet, als er nach seiner Andacht den Goldenen Tempel verließ. Die Regierung unternahm nichts. Polizeibeamte, die militante Sikhs verhafteten, wurden mitsamt ihren Familienangehörigen ermordet. Die Regierung schwankte zwischen Einlenken und Harte und verlor dadurch die möglichen Vorteile jeder der beiden Möglichkeiten. Indira Gandhi erlaubte Bhindranwale, das Zentrum von Amritsar in eine Festung zu verwandeln, eine ‡verbotene Zone—, die von seinen militanten Gefolgsleuten beherrscht wurde. Sie errichteten im Komplex des Goldenen Tempels ein gewaltiges Waffenlager. Ein pensionierter General, der Sikh Sahbeg Singh, leitete die Anlage von Befestigungen und Verteidigungsstellungen im Tempelbezirk. Der Tempel wurde zum Stützpunkt von Terroristen; nicht alle waren religiöse Fanatiker: etliche Naxaliten schlossen sich Bhindranwale an. Im Oktober 1983 wurde im Punjab der Notstand ausgerufen, nachdem eine Busladung Hindus massakriert worden war. Teile des Landes wurden als ‡aufrührerisch— erklärt, und die Armee wurde entsandt, um die Ordnung wiederherzustellen. Zwei Wochen später kamen 219 Menschen ums Leben, als im Punjab ein Zug zum Entgleisen gebracht wurde. Es gab Unruhen in Chandigarh, der Hauptstadt des Staates, die zugleich Hauptstadt des Nachbarstaates Haryana ist œ eine Forderung der Sikhs war die volle Kontrolle über -300-
Chandigarh. Bei Anti-Sikh-Demonstrationen in Haryana wurden Sikhs ermordet. Der Terrorismus nahm zu, und die Polizei war dagegen machtlos. Bhindranwale befahl den Mord an einer Reihe Politikern, Polizisten und Journalisten. Die Regierung schien außerstande, sie zu verteidigen, und Anfang 1984 drohte sie die Herrschaft über den Staat völlig zu verlieren. Im März und April gab es im Punjab mehr als 80 politische Morde. In dieser bedrängten Lage kam es zu Verhandlungen zwischen der Regierung und Führern des Akali Dal. Indira Gandhi war bereit, auf die meisten Sikh-Forderungen einzugehen, auch auf die, ihnen die Herrschaft über Chandigarh zu übertragen, aber Bhindranwale verweigerte jeden Kompromiß. Die Morde gingen weiter, und die Sikhs kündeten an, daß sie jeden Getreidetransport über die Grenzen des Punjab verhindern würden. Es gab keinen Zweifel, daß diese Drohung ernst gemeint war, und das hätte zu einer Katastrophe geführt: Der Punjab ist die Kornkammer von Nordindien. Nach der Zahlung der Regierung hatten Bhindranwales Terroristen zu diesem Zeitpunkt 169 Hindus und 39 Sikhs ermordet. Andere waren bei Straßenkämpfen und durch Terroranschläge provozierten Geschehnissen getötet worden, so kam es zu einer Zahl von 410 Toten, ungerechnet die Opfer des Eisenbahnattentates. Die Zahl der Morde stieg immer weiter an: In den letzten vierundzwanzig Stunden vor der schließlichen Entscheidung Indira Gandhis wurden 23 Menschen getötet. Am 2. Juni 1984 gab sie der Armee den Befehl zur gewaltsamen Besetzung des Goldenen Tempels. Unmittelbar vor Beginn dieser Aktion, als eine letzte Demonstration der Unfähigkeit der Regierung und der Komplizenschaft von Polizeibeamten und Extremisten, konnten 200 junge Sikhs, Kriminelle und Naxaliten entkommen. Die Operation ‡Blauer Stern— begann am 3. Juni, einem der geheiligten Tage des Sikh-Kalenders, und der Tempel war ebenso mit Gläubigen wie mit Bhindranwales Kämpfern überfüllt. Der ganze Punjab wurde lahmgelegt. Aller Straßen- und Schienenverkehr wurde gestoppt, die Grenze zu Pakistan geschlossen und die Presse ausgesperrt. Die Behörden befürchteten als Reaktion -301-
auf den Angriff auf den Tempel einen allgemeinen Aufstand der SikhDorfbewohner. Zwei Tage lang belagerte die Armee den Tempel und versuchte, Bhindranwale zur Aufgabe zu zwingen. Er aber zog das Märtyrertum vor. Am Abend des 5. Juni rollten Panzer in Stellung, um den Tempel zu stürmen. Unmittelbar im Westen des Goldenen Tempels, ebenfalls von dem Heiligen Becken umgeben, steht der Akal Takht, ein anderes geheiligtes Gebäude, wo Bhindranwale sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte. Zuerst griff die Armee einige davorliegende Gebäude an, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem Akal Takht zu. Sie versuchten, Kommandotruppen hineinzuschicken, die wurden aber durch das heftige Feuer der Geschützstellungen von General Sahbeg Singh zurückgeworfen. So schossen sich die Armeepanzer ihren Weg in das Innere des Tempels frei. Das Gebäude wurde schwer beschädigt. Bhindranwale, Sahbeg Singh und ihre wichtigsten Kampfgefährten starben alle, Märtyrer für ihre Sache. Insgesamt wurden nach offizieller Zählung 493 Sikhs, Kämpfer und Zivilisten, und 83 Soldaten getötet. Die Opfer unter den rund 1.600 Zivilisten, die bei Ausbruch der Kämpfe im Tempelbezirk waren, blieben ungezählt, und es ist durchaus möglich, daß die tatsächliche Zahl der Opfer weit höher ist. Der Goldene Tempel wurde nicht wesentlich beschädigt, aber der Akal Takht wurde zerstört, ebenso wie die Bibliothek des Tempels. Auf der Suche nach Terroristen hatte die Armee noch 37 andere SikhTempel angegriffen. Der Angriff auf den Goldenen Tempel führte zu Meutereien der Sikh-Truppen und zu Unruhen im gesamten Punjab. Indira Gandhi versuchte, Pakistan die Schuld an den Ereignissen zuzuschieben und sprach von ‡ausländischer Einmischung— œ in Wahrheit gibt es für eine Verstrickung Pakistans in diese Ereignisse überhaupt keine Beweise. Gandhi und ihre Gefolgsleute ließen sich von der eigenen Rhetorik mitreißen und versuchten, auch die CIA und Großbritannien für die Auswirkungen ihrer eigenen Unfähigkeit verantwortlich zu machen. Am 31. Oktober 1984 wurde Indira Gandhi auf dem Weg zu einem -302-
Fernsehinterview mit dem britischen Autor Peter Ustinov erschossen. Die beiden Mörder waren Sikhs aus ihrer eigenen Leibwache in NeuDelhi. Sie ergaben sich widerstandslos und wurden von der Polizei abgeführt. Einer von ihnen wurde auf der Polizeistation getötet, der andere übel zugerichtet. Sofort brachen Unruhen aus, angestachelt von Mitgliedern der herrschenden Kongreßpartei Indira Gandhis. Aus den Slums von Delhi wurden Hindus mit Autobussen herangebracht und in Wohngebieten der Sikh losgelassen. Nach Regierungsangaben wurden dabei 2.717 Menschen getötet, die meisten Sikhs, davon 2.150 in Delhi. Polizei und Armee schauten an diesem Tag bei den Massakern nicht hin. 100.000 Sikhs flüchteten aus Delhi, die Hälfte in den Punjab, die anderen in Flüchtlingslager, die von der Regierung in der Nähe der Hauptstadt errichtet wurden. Erst als Indira Gandhis Sohn Rajiv als Premierminister vereidigt wurde, kam die Situation wieder unter Kontrolle. Rajiv Gandhi besuchte ein verwüstetes Sikh-Gebiet und befahl der Armee, die Ordnung wiederherzustellen. (Der Sikh, der den Mord an Indira Gandhi gestanden hatte, wurde im Januar 1989 hingerichtet, gemeinsam mit einem anderen Sikh, dem Verschwörung mit den beiden Mördern vorgeworfen wurde.) Der Tod Bhindranwales bedeutete nicht das Ende des Terrorismus im Punjab. Zunächst sank die Mordrate im zweiten Halbjahr 1984 und im Frühjahr 1985, dann stieg sie wieder steil an. Am 23. Juni 1985 starben 329 Menschen beim Absturz einer Maschine der Air India südlich von Irland. Es war ein Flug von Toronto nach London, und die Untersuchungskommission nahm eine Bombenexplosion als Absturzursache an. Einige Stunden später explodierte auf dem Flugplatz von Tokio ein Sprengsatz in einem Koffer, wobei zwei Gepäckabfertiger starben. Der Koffer war mit einer anderen Maschine aus Kanada gekommen, die Verspätung hatte. Wäre der Koffer pünktlich angekommen, wäre er mit einer Air India-Maschine von Tokio nach Indien weitergeflogen und mitten in der Luft explodiert. Es besteht kaum ein Zweifel, daß die Urheber dieser Anschläge Sikhs waren, 1985 starben im Punjab 65 Menschen; 1986 waren es 609, 1987 schließlich 1566. Im Jahre 1988 gab es 2.000 Opfer. Von den Toten zwischen 1985 und 1987 waren 1.819 Opfer von Anschlägen und 421 Terroristen, die von Armee und Polizei getötet wurden. -303-
Allein in den ersten vier Monaten 1988 waren es mehr als 900 Menschen. Im März wurden 225 Menschen ermordet, davon 10 bei einer Sikh-Hochzeitsfeier. Für diesen Anschlag übernahm die ‡Khalistan Commando Force— die Verantwortung, eine von vier SikhTerrororganisationen. Am 3. März griffen Terroristen ein Hindu-Fest an und schossen mit Maschinengewehren in die Menge, wobei 34 Menschen getötet wurden. Am 31. März starben 33 Menschen, darunter 18 Mitglieder eines Hindu-Arbeitstrupps, die aus ihren Hütten getrieben, in einem Hof aufgestellt und massakriert wurden. Die Terroristen suchten abermals im Goldenen Tempel Zuflucht, und abermals schienen die Regierung und gemäßigte Sikh-Führer außerstande, sie unter Kontrolle zu bekommen. Auch die Naxaliten sollen den Kampf wieder aufgenommen haben: eine Reihe der Ermordeten waren Mitglieder der zugelassenen Kommunistischen Partei, die den Terror der Naxaliten verurteilt hatten. Am 9. Mai fiel eine Sikh-Bande im Nachbarstaat Haryana ein und griff eine Hindu-Hochzeitsfeier an; dabei starben 13 Menschen. Am selben Tag schickte die Regierung wieder Soldaten nach Amritsar und belagerte abermals den Goldenen Tempel. Am ersten Tag der Belagerung wurden fünf Menschen getötet. Aber diesmal stürmten die Soldaten den Tempel nicht, sondern schnitten die Wasser- und Stromversorgung ab und warteten auf die Kapitulation der Terroristen. Es gab ständig gezieltes Gewehrfeuer von Minaretts herunter. Armeescharfschützen postierten sich auf Gebäuden mit Blick über den Tempelbezirk und töteten eine Reihe Terroristen. Außerhalb von Amritsar setzten Terroristen die Morde fort: Mehr als 190 Menschen wurden während der ersten Woche der Belagerung getötet, und die Regierung mußte Verstärkungen in den Punjab schicken. Mehr als 800 Menschen, zumeist zivile Betende, verließen den Tempel am ersten Tag der Belagerung, und am 15. Mai ergaben sich 146 Sikhs. Drei Tage später gab der letzte Sikh im Tempel auf. Die Soldaten fanden im Inneren des Tempels noch 16 Tote, Opfer der Extremisten. In den Kellern wurden weitere Leichen ausgegraben, insgesamt waren es 41 Männer, Frauen und Kinder, davon waren viele gefoltert worden. Innerhalb der darauffolgenden fünf Tage töteten die SikhTerroristen weitere 245 Menschen im Punjab, die meisten von ihnen waren Hindus, die zur Feldarbeit ins Land geholt worden waren. Es -304-
gab einen Massenexodus dieser Arbeiter, was auf die Einnahmen der Sikh-Landbesitzer, die sie beschäftigt hatten, verheerende Folgen hatte. Nach den rund 2.000 Toten des Jahres 1988 gab es 1989 durchschnittlich 200 Tote pro Monat. Die Regierung wollte eine Gesprächsbasis mit den Sikhs herstellen und ließ einige ihrer Führer, die am 4. März verhaftet worden waren, frei. Einer von ihnen war Jasbir Singh Rode, der unverzüglich als Oberpriester im Goldenen Tempel eingesetzt wurde. Er erhob weiterhin die meisten Forderungen, allerdings nicht die radikalste, die Schaffung des unabhängigen Khalistan. Ende Mai wurden alle fünf Priester des Tempels, einschließlich Rode, von dem regierenden SikhKomitee entlassen, da sie der Nähe zum Terrorismus verdächtigt wurden. Die meisten Sikhs haben bislang die Extremisten nicht unterstützt, und daher ist ein Großteil der Terroraktionen gegen andere Sikhs gerichtet, um sie durch Angst in die Unterstützung von Khalistan zu treiben. Die Regierung in Neu-Delhi, zuerst unter Indira, dann auch unter Rajiv Gandhi, wurde weder mit dem politischen noch mit dem Sicherheitsproblem fertig. Die im November 1989 neugewählte Regierung hat das heiße Eisen angepackt. Der Premierminister, Vishwanath Pratap Singh, selbst kein Sikh, hat einen Sikh zum Chefadministrator von Neu-Delhi ernannt und ernsthafte Anstrengungen unternommen, das Vertrauen der Sikhs im Punjab zu gewinnen. Er versprach den Sikhs, die nach der Erstürmung des Goldenen Tempels aus der Armee desertiert waren, Arbeitsplätze im Dienst der Regierung, und weiters die Verfahren der Inhaftierten neu zu bewerten. Es war ein Versuch, die Schubkraft der Neuwahl zur Lösung des geerbten Problemes zu nützen. Wenn er scheitert, wird die Regierung einmal mehr vor der Wahl stehen, entweder die Armee in den Punjab zu schicken, mit dem Risiko der Feindschaft der Sikhs und der Stärkung der Separatisten, oder durch Schwäche die Entstehung Khalistans zu fördern. Die Sikh-Extremisten waren Nutznießer des Afghanistan-Krieges. In Pakistan gibt es so viele Waffen auf dem Markt, daß sie ohne Schwierigkeiten an alle gewünschten Waffen herankommen. Die Regierung Indiens macht Pakistan dafür verantwortlich. Vielleicht nimmt Pakistan es tatsächlich nicht so genau mit der Überwachung -305-
der Grenze, aber die Lage ist so schwierig geworden, daß sie auch ernste Auswirkungen auf das indischpakistanische Verhältnis haben könnte. Weitere Probleme im Land: Die Spannungen zwischen Moslems und Hindus: Im Oktober 1989 sind mehr als 1.000 Menschen bei Kämpfen zwischen den beiden Gruppen in Bihar in Ostindien getötet worden. Die Auseinandersetzungen wurden durch einen Streit um die Babri Masjid Moschee in Ayodhya ausgelöst. Das Gebäude wurde von einem mohammedanischen Radscha im 16. Jahrhundert auf dem Gelände eines Hindu-Heiligtumes errichtet, das angeblich der Geburtsort von Rama sein soll. Der Tempel steht am Ufer des Ghaghara östlich von Delhi. Hindu-Fundamentalisten fordern den Abriß der Moschee und die Wiedererrichtung des Rama-Tempels. Ihre politische Partei, die ‡Bharatiya Janata Party— (BJP) schlug aus dieser Affäre im Wahlkampf von 1989 großes Kapital und unterstützte eine militante Gruppe, die ‡Vishwa Hindu Parashad—, die den Marsch auf die Moschee organisierte. In den Oktober-Kämpfen wurden mehr als 150 Dörfer zerstört und 35.000 Moslems in Flüchtlingslager getrieben. Kaschmir: Der alte Streit um Kaschmir flammte 1988 erneut auf. Eine Reihe militanter Moslem-Gruppen, die für die Unabhängigkeit oder die Abtretung Kaschmirs an Pakistan eintraten, wandten sich der Gewalt zu. Ihre Waffen bekamen sie aus Pakistan oder Afghanistan. Im August begann die ‡Jammu and Kashmir Liberation Front— mit Bombenanschlägen auf öffentliche Gebäude, zwang Firmen zur Schließung und terrorisierte Hindus. Im Dezember 1989 entführten sie die einundzwanzigjährige Tochter des neuen Bundesinnenministers, Mufti Mohammed Sayeed, ein Moslem aus Kaschmir. Das Mädchen wurde unverletzt freigelassen. Im Januar 1990 kam es in Srinagar, der Hauptstadt des Staates, zu ernsthaften Auseinandersetzungen, bei denen 12 Menschen getötet wurden. Schließlich setzte die Bundesregierung Truppen ein, um den Frieden wiederherzustellen. Dabei starben am 25. Januar vier Angehörige der Luftwaffe. Regierungskreise behaupten, daß die Nationalisten die Ausrufung der -306-
Unabhängigkeit planten, daran aber durch eine völlige Ausgangssperre in Singapur gehindert wurden. Ende Januar betrug die offizielle Zahl der Opfer mehr als 70 Tote. Dann wurde Pakistan mit hineingezogen. Am 5. Februar sammelte sich auf der pakistanischen Seite der Grenze eine große Menschenmenge an und versuchte, hinüber zu stürmen. Mehr als 200 Männer durchbrachen den Polizeikordon. Die indische Polizei erschoß zwei und verletzte zwölf. Am nächsten Tag wurde in Pakistan aus Protest dagegen der Generalstreik ausgerufen. Beide Regierungen beteuerten, daß sie nicht beabsichtigen würden, einen vierten Krieg in dieser Sache zu führen. Schließlich hatte es in den vergangenen Jahren immer wieder Bemühungen um eine Verbesserung des Verhältnisses gegeben. Die Bundesregierung versuchte, die Initiative wieder an sich zu ziehen. So löste sie am 19. Februar 1990 das Parlament von Kaschmir auf und versprach freie Neuwahlen. Der neue Gouverneur Jagmohan begann mit einer Reform der korrupten und schwerfälligen Verwaltung. Aber seine Maßnahmen bewirkten vorläufig nichts: Am 23. Februar gingen in Srinagar nach offiziellen Angaben 400.000 Menschen auf die Straße, die halbe Bevölkerung der Stadt. Sie forderten abermals Unabhängigkeit oder den Anschluß an Pakistan. Als es am 1. März zu einer ähnlich machtvollen Demonstration kam, schossen indische Soldaten in die Menge. 32 Menschen starben, viele wurden verletzt. In den sechs Wochen waren mehr als 120 Menschen umgekommen, darunter einige Hindu-Regierungsbeamte, die von Kaschmir-Terroristen ermordet worden waren. Das KaschmirProblem bedeutet möglicherweise für die indische Zentralregierung die größte Bedrohung. Bis zum Sommer 1990 kam es immer wieder zu Zwischenfällen mit Hunderten Toten, aber offensichtlich wollte keiner der Kontrahenten die Verantwortung für einen neuen Krieg übernehmen. Ladakh: Diese Provinz im Hochland des Himalaya war seit der Unabhängigkeit Indiens Teil von Kaschmir und wurde genauso zwischen Indien und Pakistan aufgeteilt. Die meisten seiner Bewohner sind Buddhisten, die jetzt die Abtrennung von Kaschmir fordern. Sie sind zu gleichen Teilen für die Moslems und Hindus. Die Unruhen begannen im Juli 1989 mit einem Streit im Basar von Leh, einer -307-
vorwiegend buddhistischen Stadt in fast 4.000 Meter Höhe. Am 27. August schoß Polizei aus Kaschmir in eine buddhistische Demonstration und tötete drei Menschen. Sri Lanka (siehe SRI LANKA): Im Juli 1987 stimmte Rajiv Gandhi der Entsendung indischer Truppen in den nördlichen Teil von Sri Lanka zu, die den Waffenstillstand und das Friedensabkommen überwachen sollten, die zwischen der Regierung von Sri Lanka und den rebellischen Tamilen ausgehandelt worden waren. Es sollte eine kurze und reibungslose Aktion werden, aber als die Kämpfe zwischen Sinhalesen und Tamilen wiederaufflammten, nahm die Regierung im Oktober Jaffna unter Belagerung. Dabei verlor sie 500 Soldaten, und es gab ständig Verluste. Auf dem Höhepunkt der Krise waren rund 60.000 indische Soldaten in Sri Lanka stationiert, sie waren so beliebt wie die Briten in Nordirland. Im April 1990 mußten die Inder die Erfolglosigkeit ihrer Intervention eingestehen, und der letzte Soldat wurde abgezogen. Ob das der letzte Vorstoß indischer Truppen über die Landesgrenzen hinweg bleibt, wird sich erst herausstellen. DIE MALEDIVEN Am 3. November 1988 überfiel eine Bande tamilischer Söldner von Sri Lanka die Malediven und versuchte einen Staatsstreich. Sie waren von einem früheren Präsidenten des Inselstaates angeheuert worden, der 1980 abgesetzt worden war und nun auf eine Rückkehr hoffte. Indien schickte sofort Truppen in die Hauptstadt Male und setzte die Regierung wieder ein. Die Söldner flüchteten mit dem Schiff, mit dem sie gekommen waren und wurden später von der indischen Kriegsmarine aufgebracht. Insgesamt wurden bei diesem Umsturzversuch 12 Menschen getötet. Die Malediven sind eine Inselkette im Indischen Ozean, südwestlich von Indien. Wie die Seychellen weiter westlich, waren sie früher ein britisches Protektorat, und obwohl die Republik Malediven ein unabhängiges Land ist, behält Indien seinen dominierenden Status. Nach Sri Lanka war das schon die zweite nachbarliche Intervention innerhalb von zwei Jahren. Andere Nachbarstaaten waren besorgt, daß Indien imperiale Gelüste entwickeln und die ganze Region überwachen wollen könnte. Eine Region, in der Indien das bei weitem mächtigste Land ist. -308-
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INDONESIEN
Geographie: 1.919.433 km2. Rund 13.600 Inseln erstrecken sich über eine Entfernung von mehr als 5.600 Kilometern œ eine größere Ausdehnung als der Nordatlantik. Bevölkerung: 187.726.000 (Berechnung von 1989). Die dichtestbevölkerte Insel ist Java mit mehr als 100 Millionen Einwohnern. Es gibt 10 große und mehr als 300 kleinere ethnische Gruppen, die mehr als 200 verschiedene Sprachen sprechen, weiters eine reiche und ziemlich ungeliebte chinesische Minderheit (rund 4 Millionen). Die Staatssprache ist Bahasa Indonesia, eine Weiterentwicklung des Hochmalaiischen. 90 % der Indonesier sind Moslems, aber zumeist ist die Zugehörigkeit zum Islam nur nominell. Unter der kleinen Minderheit gläubiger Moslems gibt es eine noch kleinere Gruppe fanatischer Fundamentalisten, die eine Islamische Republik errichten wollen. Die Insel Bali ist mehrheitlich von Hindus bewohnt, und auf Ambon in den Süd-Molukken herrscht der Calvinismus. Der Wappenspruch des Landes ist ‡Einheit in der Vielfalt—. Ausfuhrgüter: Erdöl, Erdgas, Mineralien, Harthölzer und andere tropische Produkte; Fisch. BSP: 490 $/Einw. Flüchtlinge: nach Indonesien: 2.490 Vietnamesen; aus Indonesien: 9.500 aus Ost-Timor nach Papua-Neuguinea. Verluste: Bei den Massakern von 1965 kamen zwischen 400.000 und 1.000.000 Menschen ums Leben. In Ost-Timor wurden seit 1975 mindestens 100.000 Menschen getötet. In der Weltbevölkerungszahl liegt Indonesien an der fünften Stelle. Es hat umfangreiche Rohstoffvorkommen, und obwohl sich das Land nicht so schnell entwickelt wie Südkorea oder Taiwan, bewegt es sich eindeutig in derselben Richtung. Wenn nicht politische oder wirtschaftliche Katastrophen hereinbrechen, wird Indonesien in einer Generation den Stand Japans von vor zwanzig Jahren erreichen. Die Welt wird Indonesien ernst nehmen müssen. -310-
DIE GESCHICHTE Die ersten Europäer, die Indonesien im frühen 16. Jahrhundert erreichten, waren Spanier und Portugiesen, und sie begründeten eine Zivilisation mit vielen verschiedenen Grundlagen. Ursprünglich war Indonesien hinduistisch, dann nahm es den Buddhismus an, und durch Jahrhunderte existierten die beiden Religionen in der besonderen Form des Hindujavanismus friedlich nebeneinander. Einer der größten buddhistischen Tempel der Welt wurde in Borobudur errichtet, wenige Kilometer entfernt von Prambanan, einem riesigen religiösen Hindu-Zentrum. Im Mittelalter brachten arabische Händler den Islam auf die Inseln, der die hinduistisch-buddhistischen Traditionen überdeckte. Dennoch sind sie niemals verlorengegangen œ vielleicht dank der Ankunft der Europäer. Der Handel zwischen den sogenannten ‡Gewürzinseln— und Europa war enorm lukrativ, und die europäischen Mächte kämpften über ein Jahrhundert um die Vorherrschaft über die Inseln. Mitte des 17. Jahrhunderts hatten die Holländer alle Konkurrenten außer den Portugiesen vertrieben. Portugal behielt eine kleine Kolonie auf Timor, östlich von Java, und die Spanier blieben auf den Philippinen. Bis um 1800 waren die Inseln œ mit staatlicher Protektion œ im Besitz der ‡Vereinigten Ostindischen Handelskompanie—, danach übernahm der Staat die allmählich um weitere Inseln vergrößerte Kolonie Niederländisch-Indien. Der Mittelpunkt dieses Kolonialreiches war Java, wo die Holländer die Hauptstadt Batavia (heute Jakarta) errichteten, als ein fernöstliches Amsterdam. Sie unternahmen keine Anstrengungen, die Einwohner zu missionieren. Auf Ambon, dem Zentrum des Gewürznelkenanbaues, wurden die Bewohner zunächst von den Portugiesen zum Katholizismus bekehrt und später von den Holländern zur Übernahme des Calvinismus bewegen. Die Holländer befaßten sich fast ausschließlich mit dem Handel und kümmerten sich um die Verwaltung des Hinterlandes wie der entfernter gelegenen Inseln nur so weit, als es zur Sicherung des Handels und zur Fernhaltung aller Rivalen notwendig war. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Archipel völlig willkürlich aufgeteilt: die Briten bekamen Malaya und Nord-Borneo, die Holländer das Gebiet des heutigen Indonesien und die Spanier die -311-
Philippinen. Holländer, Briten und Deutsche teilten Neuguinea unter sich auf. Im 20. Jahrhundert kam unvermeidlich der Nationalismus über das Land. Die erste Kommunistische Partei Asiens, die PKI, wurde 1920 in Batavia gegründet, und 1927 gründete Ahmed Sukamo die Nationalistische Partei. Im späteren Unabhängigkeitskampf gegen die Holländer wurde sie zur herrschenden Kraft. Die Japaner marschierten 1942 in Indonesien ein, und Sukamo und sein wichtigster Gefolgsmann Mohammed Hatta arbeiteten mit den neuen Herren zusammen œ um die Sache der Unabhängigkeit zu fördern, wie sie sagten. Sukamo blieb bei der eingeschlagenen Linie der Kollaboration, auch als die Japaner Indonesien 1943 annektierten, während Burma und die Philippinen für unabhängig erklärt wurden, und er akzeptierte auch ohne Einwände, daß die Japaner die Bevölkerung zur Zwangsarbeit heranzogen. Die japanische Besatzung forderte mehrere hunderttausend Tote. Als die Amerikaner 1944 näher kamen, änderten die Japaner ihre Politik und hofften, Indonesien durch das Versprechen der Unabhängigkeit als Verbündeten zu gewinnen. Der neue Staat sollte Portugiesisch-Timor, Malaya, Singapur und Britisch-Borneo umfassen (obwohl Sukamo nur Niederländisch-Indien gefordert hatte). Am 17. August 1945 wurde schließlich ein unabhängiges Indonesien unter der Präsidentschaft von Sukamo ausgerufen œ zwei Tage nach der Kapitulation Japans. Es gelang Sukamo, sich fest in den Sattel zu setzen, ehe die Holländer zurückkamen, und er stellte mit den zurückgebliebenen Waffen der Japaner eine Armee auf die Beine. Als erster der Alliierten erreichten die Briten Indonesien, und im Oktober 1945 kam es bei Surabaya in Ost-Java zu einer richtigen Schlacht zwischen britischen und indonesischen Einheiten. Die Holländer anerkannten Sukamos Republik, allerdings nur in Java. Sie stellten die Herrschaft über das übrige Niederländisch-Indien wieder her, errichteten eine ‡Niederländische Union— und drängten die Republik schrittweise zurück, bis sie im Januar 1948 auf Zentral-Java beschränkt war. Dann versuchten linke Armeeangehörige in Madiun auf Java einen Putsch gegen Sukamo. Die Kommunistische Partei unterstützte sie und wurde dafür von General Abdul Haris Nasution, -312-
einem der wichtigsten Kommandeure Sukamos, brutal unterdrückt. Im Dezember 1948 eroberten die Holländer die letzten Stützpunkte der Republik bei Jakarta; Sukamo und Hatta wurden gefangengenommen und nach Sumatra verbannt. Das war allerdings das letzte Aufbäumen des niederländischen Kolonialismus. Die Holländer hatten keine Verbündeten. Die Briten hatten Indien aufgegeben, und die USA drohten mit der Sperre der Marshall-PlanGelder, wenn die Holländer Indonesien nicht in die Unabhängigkeit entließen. Vor allem aber war es ihnen gar nicht mehr möglich, ein Land von derartiger Ausdehnung und Bevölkerung unter Kontrolle zu behalten. Die Staatshoheit wurde am 17. Dezember 1949 übertragen; West-Neuguinea behielten die Holländer vorläufig œ sehr zu ihrem späteren Kummer. Die neue Regierung schlug etliche Revolten nieder und bekam allmählich die Inseln in den Griff. Die calvinistische Molukkeninsel Ambon rief ihre Unabhängigkeit aus und mußte von den Indonesiern erobert werden. Im April 1950 wurden 12.000 ambonesische Soldaten und ihre Familien in die Niederlande evakuiert (siehe TERRORISMUS). Mitte der fünfziger Jahre war die Regierung schwach und zersplittert. Es gab verschiedene Putschversuche. Die extremistische Islamische Bewegung ‡Darul Islam— kämpfte gegen die Zentralregierung in Java, und eine Gruppe abtrünniger Armeeoffiziere zettelte auf Sumatra eine Rebellion an. Die Rebellen in Sumatra und Celebes konnten die CIA überzeugen, daß Sukamo antiwestlich eingestellt sei und wurden daher mit geheimen Waffenlieferungen unterstützt. Dessen ungeachtet verkündete Präsident Eisenhower, ‡Unsere Politik ist eine der sorgfältigen Neutralität, eines korrekten Verhaltens, und wir bevorzugen keine Seite, wo es nicht unsere Angelegenheit ist.— Und sein Außenminister John Foster Dulles erklärte vor einem Kongreßausschuß im März 1958: ‡Wir mischen uns in die inneren Angelegenheiten dieses Landes nicht ein.— Beide haben gelogen. Die CIA versorgte nicht nur die Rebellen mit Waffen, sondern bombardierte auch Regierungsstützpunkte. Bei einem der Angriffe wurde versehentlich ein Spital getroffen, und am 18. Mai 1958 mußte -313-
eine B-26 auf Ambon in von der Regierung kontrolliertem Gebiet notlanden. Der Pilot, ein Amerikaner namens Allan Pope, wurde gefangengenommen. Das Flugzeug hatte keine Fracht an Bord, aber kurz vor dem Absturz waren Fallschirme gesichtet worden. Sie wurden gefunden œ mitsamt den daranhängenden Kisten mit Springfield-Gewehren; auf den Kisten stand ‡Interarms—, der Name einer bedeutenden amerikanischen Waffenfirma mit guten Verbindungen zur CIA. Ihr Besitzer Sam Cummings leugnete jede Verwicklung in diese Angelegenheit, aber die Herkunft der Waffen war unwesentlich. Was zählte war, daß die CIA auf frischer Tat ertappt worden war. Nach diesem Zwischenfall vertraute Sukamo niemals wieder den Amerikanern. Sukamo verkündete eine neue politische Philosophie œ die ‡gelenkte Demokratie—, im Gegensatz zur parlamentarischen œ, und seine beiden Hauptverbündeten waren der Generalstabschef General Nasution und die PKI. Im März 1957 verhängte er den Ausnahmezustand, und 1959 begann er seine Kampagne gegen die niederländische Herrschaft über West-Neuguinea. Er bezeichnete das Gebiet als Irian Jaya (West-Jaya). Die Holländer bereiteten WestNeuguinea auf die Unabhängigkeit vor und wiesen Sukamos Forderungen zurück. Er verstaatlichte den gewaltigen niederländischen Besitz œ eine Maßnahme, die Indonesien an den Rand des Bankrotts führte. Die Armee mußte die Verwaltung der verstaatlichten Firmen übernehmen und wurde dadurch auch in der Wirtschaft des Landes zu einem bedeutenden Faktor. 1960 schickte Sukamo ‡Freiwillige— nach West-Neuguinea. Einmal mehr mußten die Holländer entdecken, daß sie keine Verbündeten hatten, und 1963 ging ‡West Irian— an Indonesien über. Die Wirtschaft des Landes war in einem üblen Zustand. Sukamo erfand neuerlich eine politische Philosophie œ ‡Nasakom— (Nationalismus, Religion und Kommunismus) œ und vertrieb 119.000 Chinesen aus dem Land. Aber auch diese Maßnahmen halfen nichts. 1960 traten die Briten ihre beiden Kolonien in Borneo œ Sarawak und Sabah œ an Malaya ab, sie sollten einen Teil des neuen Staatenbundes von Malaysia bilden. Sukamo rief den Mob auf die Straße. Britischer Besitz wurde verstaatlicht, und Sukamo kündigte an, daß Indonesien ‡Malaysia roh runterschlucken würde—. Die -314-
indonesische Armee begann mit bewaffneten Einfallen in MalaysischBorneo und über die Straits nach Malaya selbst. Die Briten entsandten Armeeeinheiten zum Schutz Malaysias; die Niederlage der indonesischen Angreifer fügte Sukamo einen erheblichen Prestigeverlust zu. Um diese Scharte auszuwetzen, ließ Sukamo die Britische Botschaft und die Häuser vieler Briten und Amerikaner anzünden. (Siehe MALAYSIA). DER STAATSSTREICH VON 1965 Sukamo kündete an, daß 1965 ‡ein Jahr des gefährlichen Lebens werden würde—. Die PKI war nunmehr die vorherrschende politische Kraft in Java. Am frühen Morgen des 1. Oktober putschte eine Gruppe jüngerer Offiziere unter Führung von Oberstleutnant Untung, einem der Kommandeure der Präsidentengarde, gegen das Armeekommando. Es ist möglich, daß Sukamo und die PKI in diese Pläne eingeweiht waren. Sechs hohe Generäle wurden ermordet und im ‡Krokodilloch— auf dem Luftwaffenstützpunkt Halim bei Jakarta in eine Zisterne geworfen. Unter den Toten war General Ahmed Yani, der Generalstabschef. Verteidigungsminister Nasution entkam durch einen Hinterausgang, aber seine fünfjährige Tochter wurde getötet. Die Rebellen besetzten den Radiosender und verkündeten den Staatsstreich. Sie sagten, daß die Generäle ein Komplott gegen Sukamo geschmiedet hätten. Sie riefen eine neue Regierung aus, angeführt von der ‡Bewegung des 30. September—. Sukamo fuhr nach Halim, eine Entscheidung, die er nie begründen konnte. Der Kommandeur der Reserve-Armee, General Suharto, war nicht auf der Todesliste gestanden. Aber die Verschwörer lebten nicht mehr lange genug, um dieses Versäumnis zu bedauern. Er stellte fest, daß die meisten Truppenteile nicht in den Staatsstreich verwickelt waren und loyal bleiben würden. Er zog blitzartig Truppen zusammen, und mit einer Panzerdivision an der Spitze überrollte er buchstäblich die Rebellen. In weniger als vierundzwanzig Stunden war der Putsch vorbei. In Jakarta und ganz Java kam es zu gewalttätigen antikommunistischen Demonstrationen, und der Mob und die Armee töteten einträchtig jeden Kommunisten, den sie finden konnten. Die -315-
meisten PKI-Führer waren unter den Toten. Die Partei hatte drei Millionen Mitglieder, und die Armee jagte systematisch alle Funktionäre und erschoß sie. Viele der Toten waren Dorfbewohner, die mit der PKI nichts zu tun hatten, sondern Opfer lokaler Zwistigkeiten wurden. Die große Zahl der Toten in den Flüssen wurde zu einem ernsthaften Gesundheitsproblem. In einem Bezirk in WestJava wurden Verdächtige guillotiniert, und ihre Köpfe wurden zur Abschreckung in den Dörfern zur Schau gestellt. Viele Chinesen, nach manchen Angaben bis zu 20.000, waren unter den Toten, und der Mob griff die Chinesische Botschaft an. Die endgültige Zahl der Toten bleibt umstritten. Offizielle Regierungsangaben sprechen von 80.000 Opfern. Moslemführer, deren Leute die meisten Morde begingen, geben 500.000 Tote zu, und andere sprechen von bis zu einer Million. Etliche frühere PKIFunktionäre sind noch immer inhaftiert, und von Zeit zu Zeit werden einige aus dem Gefängnis geholt und hingerichtet. So starben 1986 neun von ihnen, und ein früheres Mitglied des Politbüros, das seit 1968 inhaftiert war, wurde im November 1987 hingerichtet. Suharto übernahm die Kontrolle über die Regierung und verringerte schrittweise den Einfluß Sukamos. Das war ein mühseliger und subtiler Vorgang, typisch javanesisch: Sukamo war durch Jahrzehnte der bedeutendste Politiker des Landes und offensichtlich von wohlwollenden Geistern begünstigt gewesen. Nun, da sich die guten Geister von ihm abgewandt hatten, mußte er allmählich ausgeschaltet werden. Am Ende dieser schrittweisen Entwicklung wurde er im März 1968 auf legale Weise abgesetzt. Er starb 1970. DIE HERRSCHAFT SUHARTOS Suharto veränderte die Allianzen Indonesiens. Er brach die diplomatischen Beziehungen zu China ab œ die erst 1989 wieder aufgenommen wurden œ und wurde ein enger Verbündeter der USA. Sukamos unausgegorener Sozialismus wurde fallengelassen, eine Gruppe in Amerika ausgebildeter Ökonomen (die ‡Berkeley-Mafia—) übernahm die Führung der Wirtschaft des Landes und steuerte sie aus dem Desaster heraus. Suharto herrscht jetzt seit mehr als 20 Jahren über Indonesien, und -316-
1988 wurde er für weitere fünf Jahre wiedergewählt. Er hat seine Diktatur in eine Philosophie der ‡Neuen Ordnung— verpackt, die Unterwerfung und Gehorsam gegenüber der Autorität verlangt. Es gibt ein gewisses Maß an Opposition, mehr als in China oder Singapur, aber nicht viel. Oppositionsparteien dürfen bei Wahlen rund 30 Prozent der Stimmen gewinnen œ bei Wahlen zu einem Parlament ohne Bedeutung. Indonesien erfreut sich wirtschaftlichen Wachstums und einer Stabilität, der Lebensstandard ist enorm angestiegen, und das Land ernährt sich selbst. Zwischen 1965 und 1985 stieg das ProKopf-Einkommen um jährlich 4,2 Prozent. Aber die latente Unzufriedenheit über die anwachsende Kluft zwischen der dünnen, reichen, herrschenden Schicht und der breiten Masse der Armen in den Städten hält an. 1975 brach der staatliche Ölkonzern Pertamina in einem riesigen Skandal zusammen: In Singapur wurde ein Erbstreit gerichtlich behandelt. Es ging um die Erbschaft eines Pertamina-Beamten, der offiziell nur 600 Dollar im Monat verdient, aber Grundbesitz im Wert von 32 Millionen Dollar hinterlassen hatte. Die Habgier von Suhartos eigenen Kindern ist eine Quelle ständiger Kritik: Sie werden gemeinsam TOSHIBA genannt, nach den Anfangsbuchstaben ihrer Namen, oder ‡das Familienunternehmen—. Die Beschuldigungen der Korruption gelten allerdings niemals Suharto selbst, dem man nur vorwirft, mit seiner Frau und seinen Kindern zu nachsichtig zu sein. Die Parallele zu den Philippinen ist offenkundig. Es gibt auch eine Parallele zum Iran œ nicht nur bezüglich der Korruption der Schahfamilie, sondern auch wegen des Sturzes des Regimes durch eine Islamische Revolution. Der islamische Fundamentalismus stellt für Indonesien eine große Bedrohung dar. 1981 entführten fanatische Moslems eine indonesische Verkehrsmaschine, und im September 1984 gab es ernste islamische Unruhen in Jakarta, bei denen Soldaten in die Demonstranten schossen. Die Regierung meldete neun Tote, die moslemischen Organisationen gaben 400-600 Tote an. Amnesty International berichtete von mindestens 30, wahrscheinlich aber mehr Opfern. Der Unterschied zum Iran oder den Philippinen besteht darin, daß es keinen Ajatollah und keine Corazo Aquin an der Spitze der Opposition gibt. Die Mittelschicht bleibt ruhig, und bislang hat es -317-
eigentlich nur kleinere Studentenunruhen gegeben, nicht vergleichbar mit denen in Südkorea oder auf den Philippinen. Aber immerhin im November 1987 wurden in Ujung Padang zumindest 10 Studenten getötet œ bei einem Aufruhr, der als Studentenprotest gegen ein Gesetz zur Tragepflicht des Motorradhelmes begonnen hatte. Indonesien steht seit vielen Jahren auf der kurzen Liste der Länder, deren Regierungen zum Sturz reif erscheinen. Andere auf dieser Liste œ Iran, Südkorea, die Philippinen, Burma œ haben alle Krisen überstanden. Aber auch die raffinierteste Diktatur kann nicht für immer Bestand haben. Suharto regiert Indonesien seit 1965. Er wurde 1921 geboren. Indonesien wird wohl auf der Liste bald ganz oben stehen. OST-TIMOR Die Portugiesen behielten ihre Kolonie in Ost-Timor (und eine kleine Enklave an der Nordküste von West-Timor) bis nach der Revolution in Portugal im April 1974. Es war eine kleine, vernachlässigte und verarmte Kolonie mit einer Fläche von rund 19.000 km2. Ungefähr ein Drittel der Einwohner waren Katholiken. Joseph Conrad beschrieb die Hauptstadt Dili als einen ‡höchst pestträchtigen Ort—. Im 2. Weltkrieg wurde die Kolonie von den Japanern besetzt, dabei brachten sie rund 40.000 Menschen um oder ließen sie verhungern. Nach der Portugiesischen Revolution gab die neue linke Regierung in Lissabon alle Kolonien (außer Macao auf dem chinesischen Festland) auf. In Ost-Timor wurden drei politische Parteien gegründet: die ‡Frente Revolucionara de Timor Leste Independente— (FRETILIN), die für die sofortige Unabhängigkeit eintrat; die ‡Uniao Democratica Timorense— (UDT), die eine weitere Zugehörigkeit zu Portugal mit dem Endziel der Unabhängigkeit anstrebten, und die ‡Associacáo Populär Democratica Timorense— (APODETI), die den Anschluß an Indonesien wollte. APODETI hatte ungefähr 5 % der Bevölkerung auf ihrer Seite, die beiden anderen teilten sich den Rest ziemlich gleich auf, Portugal behielt die nominelle Herrschaft, war aber in Wahrheit viel zu sehr mit seinen eigenen politischen Problemen und den Krisen in Angola und Mosambik beschäftigt, um -318-
sich mit dem Schicksal von Ost-Timor auseinanderzusetzen. So wie in Angola favorisierte die portugiesische Regierung die am weitesten links stehende der neuen Parteien œ in diesem Fall die FRETILIN, die schnell zur beherrschenden Macht in Ost-Timor wurde. Am 10. August 1975 versuchte die UDT einen Putsch. Es kam zu einem kurzen Bürgerkrieg zwischen ihr und der APODETI auf der einen und der FRETILIN auf der anderen Seite, den die FRETILIN gewann. Dabei starben 1.500 Menschen, Portugal zog sich endgültig zurück. Die zivilen Behörden übersiedelten auf eine Insel vor der Küste von Dili, und die FRETILIN übernahm die Kontrolle. Am 28. November rief die FRETILIN die Demokratische Republik von Timor aus. Indonesien entsandte ‡Freiwillige—, die am 7. Dezember Dili besetzten, und dann trat die indonesische Armee zur Eroberung des Landes an. Im Frühjahr darauf waren 30.000 indonesische Soldaten in Timor stationiert. Die Indonesier setzten eine Marionettenregierung ein, die im Mai 1977 den Anschluß an Indonesien forderte. Am 17. Juli wurde Ost-Timor zur 27. Provinz Indonesiens erklärt. Die indonesischen Truppen begannen unmittelbar nach ihrer Ankunft mit einem Massaker an den Timoresen œ in Dili wurden in den ersten paar Tagen wahrscheinlich 2.000 Zivilisten getötet. Die FRETILIN hatte während der vergangenen 18 Monate eine Armee gegründet, die Ost-Timor kontrolliert hatte. Die Portugiesen hatten sie bei ihrem Abzug ausgerüstet. Bald entwickelte sich ein regelrechter Krieg zwischen diesen Truppen und den indonesischen Regierungssoldaten. Die indonesische Luftwaffe bombardierte hemmungslos Dörfer, und die Armee setzte gegen die FRETILIN und ihre zivilen Helfer schwere Artillerie ein. Tausende Menschen, die als FRETILIN-Sympathisanten verdächtigt wurden, wurden eingesperrt, gefoltert und ermordet. Timoreische Bauern wurden in Arbeitssiedlungen geschickt, um dort leichter bewacht werden zu können. Die traditionelle dörfliche Lebensform der Timoresen wurde zerstört. Zwischen und 20 und 30 Prozent der Bevölkerung sind œ je nach Schätzung getötet worden, verhungert oder Krankheiten ais Kriegsfolge zum Opfer gefallen. Eine vorsichtige Schätzung lautet auf rund 100.000 Tote bei einer Bevölkerungszahl von 650.000 im Jahr 1975. -319-
Die FRETILIN-Armee wehrte sich verzweifelt, aber Ende 1978 war sie weitgehend zerstört. Ihr Führer Nicolau Lobato wurde am 31. Dezember 1978 getötet, und die Überlebenden flüchteten in die Berge. 1981 trieb die indonesische Armee alle timoreischen Männer zwischen 15 und 55, derer sie habhaft werden konnte, als lebenden Schutzwall vor sich her und griff die FRETILlN-Stellungen an. Nach dieser ‡Operation Sicherheit— gab es einen kurzen Waffenstillstand, dem eine neuerliche großangelegte Angriffsoperation folgte. Amnesty International berichtet zahlreiche Fälle von Folter, ungesetzlichen Hinrichtungen, Massakern und Mißhandlungen von Zivilisten. Internationale Hilfsorganisationen, die 1979 den Zutritt zu Ost-Timor erlangten, fanden sich mit einer riesigen Hungersnot konfrontiert, und eine Zeitlang galt Ost-Timor als ein neues Biafra. Das Land war zugrunde gerichtet, die Bevölkerung großteils zwangsumgesiedelt, und die Kaffeeplantagen, die alles überstanden hatten, wurden von der indonesischen Armee übernommen. OstTimor ist vom Rest der Welt fast völlig abgeschnitten, seine Bewohner dürfen die Inseln nicht verlassen, und abgesehen von ein paar Journalisten sind Besucher aus Indonesien oder aus anderen Ländern nicht zugelassen. Natürlich gibt es auch keinerlei politische Freiheiten, keine Bürgerrechte, keine Presse. Die FRETILIN existiert weiter und führt einen zähen Kleinkrieg gegen die Regierung. 1988 teilte der indonesische Kommandeur mit, daß jährlich weniger als 100 indonesische Soldaten durch Guerillas getötet würden œ er vergaß allerdings, die Zahl der timoreischen Opfer mitzuteilen. Er stellte auch fest, daß die Guerillatätigkeit sich mittlerweile auf die Berge im Osten und Südosten des Landes beschränkte und aus Hinterhalten für Regierungstransporte und Überfällen auf Siedlungen bestünde. Die Regierung schätzt die Zahl der FRETILIN-Kämpfer auf 500 bis 1.000. Die FRETILIN spricht von 3.000 und von 165 getöteten indonesischen Soldaten im Jahre 1987. Angeblich sind rund 20.000 indonesische Soldaten in Ost-Timor stationiert. Die Welt hat zugesehen. Im September 1974 machte Australien, verkörpert durch den Labour-Premierminister Gough Whitlam, Suharto das Zugeständnis, daß es für Ost-Timor wohl das Beste wäre, -320-
ein Teil von Indonesien zu werden. 1975 wurde Australien von einer Verfassungskrise erschüttert, was die Indonesier zur Invasion OstTimors ermutigt haben dürfte. Der amerikanische Präsident Gerald Ford und sein Außenminister Henry Kissinger besuchten Jakarta am 5. und 6. Dezember 1975, einen Tag vor der Invasion, und unternahmen nichts, um Suharto zurückzuhalten. Und auch danach wurde keine Kritik geäußert. Die Weltmächte, Ost und West, haben auch die Nachrichten von den Massakern ignoriert. Indonesien hat zu viele Einwohner, ist zu reich und hat zu viel Einfluß in der Dritten Welt, daß die USA, China oder die UdSSR eine Verstimmung riskieren würden. Indien sah darin eine Parallele zu Goa, einem anderen Relikt der portugiesischen Kolonialherrlichkeit, das Indien ohne nennenswerten Widerstand der Goaner annektiert hatte, und unterstützte Indonesien. Das bedeutet, daß die vier bevölkerungsreichsten Länder der Welt den fünften Staat bei einem kleinen Völkermord unterstützt haben. Die UNO verurteilte die Annexion 1976 und hat diese Verurteilung bei verschiedenen Gelegenheiten wiederholt, allerdings gab es jedesmal weniger Stimmen gegen die indonesische Regierung. Die UdSSR hat immer gegen Indonesien gestimmt, aber dafür liegen die Ursachen anderswo. In den vergangenen Jahren hat Indonesien um die Loyalität der timoreischen Bevölkerung geworben und gewaltige Investitionen in Ost-Timor unternommen, so daß das Pro-Kopf-Einkommen so hoch ist wie in keiner anderen Provinz außer Jakarta. Lebensstandard, Gesundheits- und Erziehungswesen und vieles mehr sind rapid angestiegen, aber die politische Knebelung ist so fest wie zuvor. Doch vielleicht siegt das Zuckerbrot über die Peitsche. Im November 1988 hat die Washingtoner Menschenrechtsgruppe ‡Asia Watch— einen Bericht über Indonesien und Ost-Timor herausgebracht, in dem die Situation als verbessert dargestellt wird. 1988 sind in Ost-Timor mehr als 100 politische Gefangene freigelassen worden, und die Zahl der Verschwundenen ist wesentlich zurückgegangen. Der Bericht stellt fest, daß ‡die schlimmsten Ausschreitungen der Besatzung aufgehört haben, aber die Timoresen müssen täglich Verletzungen ihrer fundamentalen Rechte hinnehmen.— -321-
IRIAN JAYA Das frühere Niederländisch-Neuguinea ist jetzt eines der rückständigsten Gebiete der Welt. Die Stämme, von denen etliche noch in der Steinzeit leben, sprechen mehr als 800 Sprachen. Kannibalismus und Kopfjagd sind in voller Blüte. 1975 wurde eine Gruppe von 13 zum Christentum Bekehrten von ihren Stammesgenossen getötet und aufgegessen, als der europäische Missionar verreist war. Indonesien annektierte Irian Jaya im Jahr 1963 und kümmerte sich dabei kaum um die Wünsche der Einwohner. In den letzten Jahren kam es zu Guerillakämpfen œ eine Reaktion auf die Umsiedlung von Javanern in die unberührten Urwälder der äußeren Inseln, einschließlich derer von Irian Jaya. 1963 wurde die ‡Free Papua Movement— (OPM) gegründet, die sich aus den höhergebildeten Schichten rekrutierte und auf den traditionellen Stammeszwistigkeiten beruhte. Der Einfluß der OPM reicht in gewissem Ausmaß über die Grenzen auf andere Stämme in Papua-Neuguinea, einem unabhängigen Staat, der die östliche Hälfte der riesigen Insel umfaßt. Die OPM behauptete, Tausende indonesische Soldaten und Zivilisten getötet zu haben, aber dafür gibt es keine Beweise. Der OPM-Führer Jacob Prai wurde 1979 in Papua-Neuguinea verhaftet und nach Schweden abgeschoben. Die Irian Jaya-Guerillas haben keine Chance, den Kampf zu gewinnen, genausowenig wie die FRETILIN: dazu sind die Volksgruppen im Verhältnis zur Bevölkerung von Indonesien einfach zu klein. Aber Neuguinea ist so groß und wild und ein so schwieriges Gelände, daß es auch für Indonesien unmöglich sein mag, den Kampf zu gewinnen.
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KAMBODSCHA
Geographie: Fläche 181.305 km2. Kambodscha und Kampuchea gelten als offizielle Schreibweise. Bevölkerung: 1975 waren es rund 8,6 Millionen, nach einer Zahlung von 1981 6,6 Millionen, derzeit geschätzte 7,5 Millionen. BSP: unterschiedliche Angaben zwischen 80 und 155 $/Einw. Flüchtlinge: 314.450 in anderen Ländern. Verluste: Von 1970 bis 1975 fielen zwischen 700.000 und 1:100.000 Kambodschaner dem Bürgerkrieg und dem Krieg der Amerikaner gegen Nord-Vietnam zum Opfer. Von 1975 bis 1979 töteten die Roten Khmer zwischen 1 und 2 Millionen, Die vietnamesische Invasion ab Dezember 1978 und der Rückzug der Roten Khmer kosteten rund 100.000 Menschen das Leben. Die Vietnamesen beziffern ihre Verluste während der Okkupation (1978 1988) mit 25.000 Mann. Zwischen 50.000 und 100-000 Menschen starben als Resultat des Guerillakrieges seit 1979. Zwischen 1975 und 1978 erlitt Kambodscha ein Schicksal, einzigartig, desaströs und tragisch, so schlimm wie kein anderes Land der Welt seit 1945. Die kommunistische Regierung (die Roten Khmer), die einen langwierigen Bürgerkrieg gewonnen hatte, setzte sich zum Ziel, die Schichten der Intellektuellen, Unternehmer, Beamten und Landbesitzer auszuradieren und die Städte von ihren Einwohnern zu entvölkern. Man nimmt an, daß rund 25 Prozent der Bevölkerung, etwa 2 Millionen Menschen, in diesen dreieinhalb Jahren ermordet wurden oder verhungerten. In diesem Jahrhundert haben nur die europäischen Juden und die Armenier in der Türkei ein vergleichbares Schicksal erlitten, und nur in der Sowjetunion unter Stalin verübte eine Regierung einen solchen Genozid an ihrem eigenen Volk. GESCHICHTE Vor tausend Jahren war Kambodscha ein reiches und mächtiges Königreich, das sich bis tief nach Siam (das heutige Thailand) und in -323-
das heutige südliche Vietnam hinein erstreckte. Seine Könige errichteten eine gewaltige Tempelstadt in Angkor Wat, ein wahres Weltwunder, und ihre Macht beruhte auf einem ausgeklügelten und ausgedehnten Bewässerungssystem, das von Sklaven errichtet wurde. Das Reich verfiel im 14. Jahrhundert, und 1431 eroberten die Siamesen Angkor Wat. Kambodscha kam herab zu einem kleinen und ohnmächtigen Königreich, eingezwängt zwischen Siam und dem Kaiserreich von Annam (Vietnam), die beide im Lauf der Jahrhunderte den Großteil Kambodschas annektierten. Das ist eine der großen Teilungen einer Nation in der Welt: Vietnam ist das Produkt der chinesischen konfuzianischen Zivilisation. Siam, Kambodscha und Laos leiten ihre Kulturen vom buddhistischen Indien ab. Die Franzosen erretteten das Land vor der völligen Auflösung. Sie eroberten Vietnam in der Mitte des 19. Jahrhunderts und errichteten 1864 ein Protektorat über Kambodscha. Sie zwangen Siam, die annektierten Provinzen zurückzugeben und machten aus Phnom Penh eine freundliche französische Provinzstadt in den Tropen. Sie ließen dem König von Kambodscha zwar seinen Thron, wie auch dem König von Laos und dem Kaiser von Annam, er wurde aber völlig entmachtet, und die Dynastien wechselten in dem Jahrhundert zweimal. Die Franzosen gruben die Tempel- und Palastanlagen von Angkor Wat aus und restaurierten sie, und sie bildeten in Paris eine kleine Oberschicht aus, während sie sonst nicht in die Lebensweise der Kambodschaner eingriffen. Es war ein friedliches Land, in dem man angenehm lebte, offensichtlich unberührt von den Spannungen und Konflikten des 20. Jahrhunderts. Im Landesinneren von Kambodscha gibt es einen Binnensee, den Tonle Sap, der in einen gleichnamigen Fluß entwässert, der bei Phnom Penh in den Mekong mündet. Jedes Jahr, wenn die Fluten des Monsunregens vom fernen Himalaya in den Mekong strömen, wird das Wasser des Tonle Sap-Flusses hinaufgedrückt, fließt zurück in den See und überschwemmt das umliegende Land. Jedes Jahr wurden der König und sein Gefolge auf den See hinausgerudert, um dieser Naturerscheinung zu huldigen. Sie streuten Blumen ins Wasser und sahen ihnen zu, wie sie stromabwärts schwammen, innehielten, wieder stromaufwärts getragen wurden und so die Umkehr der Strömung anzeigten, die eine reiche Ernte -324-
versprach. Kambodscha überstand den Zweiten Weltkrieg ebenso unbeschadet wie den Krieg der Franzosen in Indochina, der auf der Genfer Friedenskonferenz 1954 mit der Teilung Vietnams endete. Kambodscha wurde 1953 als unabhängig erklärt, und König Norodom Sihanouk, der 1941 als neunzehnjährige Marionette auf den Thron gesetzt worden war, begann nun ernsthaft zu regieren. Der 1922 geborene Sihanouk bleibt eine der Schlüsselfiguren in Kambodscha. William Shawcross beschrieb das so: ‡Norodom Sihanouk herrschte von 1941 bis 1970 als feudaler König über Kambodscha, Staatschef, Fürst, Ministerpräsident, Haupt der politischen Bewegung, Jazzband-Leader, Zeitschriftenherausgeber, Filmregisseur und Glückspielkonzessionär, und er vereinte in seiner Herrschaft die nicht zusammenpassenden Grundsätze des Buddhismus, des Sozialismus und der Demokratie.— 1955, in Vorbereitung der auf der Konferenz von Genf beschlossenen Wahlen, dankte Sihanouk zugunsten seines Vaters ab, ernannte sich selbst zum Bürgerlichen und gründete eine Partei, die die Wahlen gewann. Er ist zweifellos einer der buntesten Thronerben, und obwohl er der Königswürde 1955 entsagte, herrschte er bis zu seinem Sturz 1970 als absoluter Monarch. Ein gewiefter Diplomat, intelligent, charmant, mit klaren Vorstellungen über die Gefahren, die seinem Land drohen, war er auch korrupt, autokratisch und innenpolitisch kurzsichtig. Er verfeindete sich mit den gebildeten Schichten, von denen viele sich auf die Seite der Opposition schlugen oder in den Dschungel zu den Roten Khmer flohen, und er gängelte seine Minister und die Armee. Die Landbevölkerung war ihm treu ergeben und ist es auch heute noch. Kambodscha hätte sich auf ähnliche Weise wie Thailand oder Malaysia zu einem modernen Staat entwickeln können, wäre es nicht in den Vietnam-Krieg hineingezogen worden. Dieser furchtbare Krieg griff über die Grenzen nach Laos und Kambodscha über. Die kambodschanische Grenze verläuft 65 Kilometer von Saigon, und die Berge und der dichte Dschungel auf der kambodschanischen Seite boten den Vietcong und den einsickernden Nordvietnamesen eine ideale Zuflucht. Prinz Sihanouks Regierung hatte keine Chance, diese -325-
Verletzung der kambodschanischen Neutralität zu verhindern. Vietnam war 1954 wirtschaftlich und sozial weit höher entwickelt als Kambodscha. Es hatte 30 Millionen Einwohner, von denen 18 Millionen im Norden lebten, 12 Millionen im Süden. In Kambodscha lebten 6 Millionen Menschen. Zu dieser demographischen Ungleichheit trat die grenzenlose militärische Unterstützung NordVietnams durch Chinesen und Sowjets sowie Süd-Vietnams durch die USA. Kambodscha hätte sich gegen eine dieser Mächte nur dann verteidigen können, wenn es sich der anderen voll und ganz in die Arme geworfen hätte. Sihanouk wollte natürlich auf der Seite der Gewinner stehen, und das bedeutete in den frühen sechziger Jahren, zunächst gut mit Hanoi auszukommen, und später, den verstärkten Forderungen der USA und Süd-Vietnams zu genügen. 1963, als Sihanouk noch fest im Sattel saß, verließ eine kleine Gruppe von Kommunisten unter der Führung von Pol Pot (damals noch Saloth Sar), Heng Sary und anderen Phnom Penh und begann im nördlichen Dschungel des Landes einen Aufstand, aber viele Jahre bedeuteten sie keine Bedrohung für die Regierung. Eine andere Gruppe linksorientierter Kräfte œ von denen einige, wie Khieu Samphan, Mitglieder der Regierung Sihanouks gewesen waren œ, schloß sich ihnen 1967 an. Pol Pot wurde 1928 als Sohn eines Bauern in Kompong Thom geboren. Er besuchte zunächst eine technische Schule in Phnom Penh und ging 1949 nach Paris, um Radioelektronik zu studieren. Wie andere junge Kambodschaner, die in Paris studierten, geriet er in den Einfluß der französischen Kommunistischen Partei, die ultrastalinistisch orthodox war. Nach seiner Rückkehr nach Phnom Penh arbeitete er als Journalist und als Geschichte- und Geographielehrer an einer Privatschule. Er machte sich in linken politischen Zirkeln einen Namen, trat der illegalen Kommunistischen Partei bei und arbeitete sich bis zum Stellvertretenden Generalsekretär der Partei hoch. Khieu Samphan wurde 1931 als Sohn eines untergeordneten Beamten geboren. Er wurde während des Kriegs der Militärische Kommandeur der Roten Khmer und später Staatsoberhaupt. Auch er ging 1954 zum Studium nach Frankreich. 1959 schrieb er seine -326-
Dissertation an der Universität von Paris über ‡Kambodschas wirtschaftliche und industrielle Entwicklung.— Sie wurde später die Grundlage der Roten Khmer-Wirtschaftspolitik. Darin stellte er fest, daß sich Kambodscha nur auf der Grundlage einer prosperierenden Landwirtschaft entwickeln könne, daß aber die herrschende Klasse der Landbesitzer dies unmöglich mache; daß die Städte Parasiten seien und daß die bestehenden internationalen Beziehungen Kambodschas dieser Entwicklung im Wege stünden. Er kam zu der Schlußfolgerung, daß die Lösung des Problemes wäre, die Stadtbevölkerung auf das Land umzusiedeln und zur Arbeit zu zwingen und die Landwirtschaft zu kollektivieren. Khieu Samphan arbeitete nach seiner Rückkehr nach Phnom Penh als Journalist, und anders als Pol Pot stand er bis 1967 auf der Seite der Regierung, bis er vor der drohenden Verhaftung zu Pol Pot floh. Er erlangte zunächst keinen Zugang zu dem inneren Kreis, der bereits 1963 in die Berge gegangen war, aber anders als andere, die sich zu diesem Zeitpunkt den Roten Khmer anschlossen, kam er mit dem Leben davon. Als Kambodscha erstmals in den Vietnam-Krieg verwickelt wurde, geschah dies in den Östlichen Bergen und in der Verborgenheit des Dschungels. Als der kommunistische Aufstand in Süd-Vietnam anwuchs, kamen Nachschub und Kämpfer über den Ho-Chi-MinhPfad von Nord-Vietnam. Der Pfad war ein verzweigtes Netzwerk von Wegen durch Gebirge und Dschungel, ein Großteil davon verlief in Kambodscha. Es war ein langer und mühsamer Weg, um moderne Waffen darüber zu transportieren, und bald suchte der Vietcong nach anderen Möglichkeiten. In den fünfziger Jahren hatten die Chinesen für Kambodscha einen Hafen am Golf von Siam errichtet, der Sihanoukville genannt wurde (später dann Kompong Som), und die Amerikaner hatten ihn mit der ‡Freundschaftsstraße— mit Phnom Penh verbunden. 1965 brach Prinz Sihanouk die diplomatischen Beziehungen zu den USA ab, nachdem Präsident Johnson die Landung der US-Marineinfanterie in Da Nang befohlen hatte. 1966 forderte der chinesische Ministerpräsident Tschou Enlai von Sihanouk das Einverständnis zur Landung von Hilfsgütern für den Vietcong in Sihanoukville und den Weitertransport über die ‡Freundschaftsstraße.— -327-
Sihanouk willigte ein. Wenn er sich geweigert hätte, hätten die vietnamesischen Kommunisten ihre direkte Kontrolle über das östliche Kambodscha ausgeweitet und ihren Transport hinter den Linien von Pol Pots kommunistischen Aufständischen abgewickelt, denen Sihanouk den Namen ‡Khmer Rouge— gegeben hatte. 1969 gab es noch nicht mehr als 4.000 aktive Rote Khmer-Guerillas in Kambodscha. Nachdem Sihanouk 1963 die amerikanische Militärhilfe zurückgewiesen hatte, hatte er nun nichts, um den schwer bewaffneten Vietcong entgegenzutreten. Seine Armee war 30.000 Mann stark, von denen höchstens 11.000 relativ einsatzbereit waren, und ihre Ausrüstung war veraltet und ungenügend. Sihanouk dachte, daß er keine Wahl hätte. Er gestattete den Vietcong die Benützung Sihanoukvilles, und schnell wurde daraus ihr Hauptnachschubweg. Seine Entscheidung führte unausweichlich zur amerikanischen Intervention in Kambodscha. Daraus resultierte ebenso unausweichlich der Sturz Sihanouks im Jahre 1970 und der Sieg Pol Pots im Jahr 1975 mit den nachfolgenden Horrorgeschehnissen. In einem Verzweiflungsversuch, seine Unterstützungspolitik für den Vietcong auszubalancieren, wandte Sihanouk sich wieder den Amerikanern zu. Am 18. März 1969 flog die amerikanische Luftwaffe in der ‡Operation Breakfast— einen massiven Bombenangriff gegen das vermutete kommunistische Hauptquartier im Landesinneren Kambodschas. Der Angriff brachte keineswegs die gewünschten Resultate, und die US-Luftwaffe begann mit einer andauernden und geheimen Luftoffensive (‡Operation Menü—) gegen die ‡Heiligtümer— œ angenommene kommunistische Stützpunkte in Kambodscha. Sihanouk war über diese Angriffe informiert, protestierte aber nicht. Am 8. Juni stimmte er der Wiedereröffnung der amerikanischen Botschaft in Phnom Penh zu. Dennoch mißtrauten die Amerikaner Sihanouk, vor allem Präsident Nixon und Außenminister Henry Kissinger, der niemals versuchte, seine Unterstützung zu gewinnen oder seine Popularität und seine Fähigkeiten als Barriere gegen die Vietnamesen einzusetzen. Erst als es viel zu spät war, begriff man in Washington die Tiefen des kambodschanisch-vietnamesischen Konfliktes. Die Amerikaner waren völlig blockiert von ihrer Domino-Theorie, der die Annahme einer -328-
weltweiten kommunistischen Verschwörung zugrunde lag. Außerdem war Kambodscha nur ein Nebenschauplatz. Die wirkliche Aufmerksamkeit galt Vietnam. Am 18. März 1970 übernahm der Ministerpräsident General Lon Nol während einer Reise Sihanouks nach Moskau die Macht. Es war ein verworrener und unorganisierter Staatsstreich, der in der Hauptsache wegen eines Streites Sihanouks mit seiner Regierung über die kambodschanische Verwicklung in den Vietnam-Krieg erfolgte. Die USA begrüßten den Regierungswechsel. Am 30. April 1970 fielen amerikanische und südvietnamesische Truppen in Kambodscha ein, um ‡die Heiligtümer— auszuräumen. Am 4. Mai wurden vier Studenten bei Protestdemonstrationen in der Kent State University in Ohio von Nationalgardisten getötet. Als sich die amerikanisch-vietnamesischen Streitkräfte Ende Juni zurückzogen, hatten sie sehr wenig erreicht. Nach der Invasion errichtete Sihanouk zusammen mit den Roten Khmer eine Exilregierung in Peking, und Lon Nol rief die Republik aus. Der Vietcong und die Chinesen boten den Roten Khmer nun jede Unterstützung an, und ihre Offensive gegen die Lon Nol-Regierung griff rasch auf das ganze Land über. Dabei wurden der Name und der Mythos von Prinz Sihanouk bei den Bauern gezielt eingesetzt, um die Position der Roten Khmer zu verbessern. 1972 war Kambodscha beinahe ebensosehr im Krieg versunken wie Vietnam selbst. Mehr als 3 Millionen Bauern waren in die Städte geflüchtet, und nordvietnamesische Truppen besetzten den Großteil des östlichen Kambodscha, während die Roten Khmer den Norden kontrollierten. Beide wurden von den Amerikanern gleichermaßen anhaltend bombardiert. Am 27. Januar 1973 unterzeichneten in Paris die USA und die drei Kriegsparteien in Vietnam ein Friedensabkommen. Eine der Klauseln schrieb das Ende der ausländischen Intervention in Kambodscha fest. Die Amerikaner zogen sich bald mit allen ihren verbliebenen Truppen aus Vietnam zurück, bombardierten aber bis August weiter die Stellungen der Roten Khmer in Kambodscha, bis Präsident Nixon dem Druck des Kongresses nachgab und das Bombardement einstellte. Insgesamt hatte die US-Luftwaffe 539.129 Tonnen Bomben auf -329-
Kambodscha abgeworfen, davon allein in den letzten sechs Monaten 257.465 Tonnen, um einen Preis von insgesamt 7 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: während des gesamten Zweiten Weitkrieges wurden œ nicht gerechnet die Atombomben œ 160.000 Tonnen Bomben auf Japan abgeworfen. Dieses Maß an Vernichtungskraft zerstörte das Land und trieb die Hälfte der Bevölkerung als Flüchtlinge in die Städte, aber die Roten Khmer wurden nicht abgewehrt œ wenn es sie vielleicht auch von der Eroberung Phnom Penhs bereits 1973 abgehalten hatte. Im Gegenteil, die Bombenangriffe schürten ihren Fanatismus und den Haß gegen die Amerikaner und ihre ‡Marionetten—. Der Krieg in Vietnam ging weiter, obwohl er seine Natur änderte, während sich die Kommunisten auf ihre letzte Offensive vorbereiteten, und in Kambodscha nahm er an Intensität zu. Die Roten Khmer hatten nun 50.000 Soldaten und waren von den Pariser Verträgen nicht betroffen, obwohl sie ihr Mißtrauen gegen Vietnam verstärkten. Die Roten Khmer fanden, daß Hanoi, wie Washington, Kambodscha hauptsächlich als Nebenschauplatz betrachtete. Lon Nols Armee war zu korrupt und unfähig, ohne amerikanische Hilfe die Roten Khmer aufzuhalten. Die Schlußoffensive begann am Neujahrstag 1975 und dauerte so lange wie die kommunistische Schlußoffensive in Vietnam. Lon Nol flüchtete am 1. April aus dem Land, der amerikanische Botschafter und sein Stab wurden am 12. April per Hubschrauber aus Phnom Penh evakuiert, und die Roten Khmer stürmten die Stadt am 17. April. Am 30. April fiel Saigon in die Hand der Kommunisten. DIE VOLKSREPUBLIK KAMPUCHEA Die Roten Khmer begannen ihre Herrschaft damit, daß sie die gesamte Bevölkerung von Phnom Penh œ 2,5 Millionen Menschen œ hinaus trieben auf das Land. Die meisten waren Flüchtlinge vor dem Krieg und den amerikanischen Bombenangriffen, deren Dörfer zerstört worden waren und die keine Zuflucht hatten. Aus den Spitälern wurden Patienten auf Tragbahren aus der Stadt gekarrt, neben ihnen liefen verzweifelte Krankenschwestern her, die in dem sinnlosen Bemühen, Leben zu retten, die Infusionsflaschen in die -330-
Höhe hielten. Europäer, die in die französische Botschaft geflüchtet waren und ihre Evakuierung erwarteten, mußten voll Schrecken dem andauernden Rattern der Maschinengewehre zuhören, als die Sieger ihre Gegner umbrachten. Alle Beamten der besiegten Regierung, die nicht flüchteten, wurden ebenso ohne Zögern hingerichtet wie sämtliche gefangenen Offiziere. Die Chans, ein Gebirgsstamm, der im Mittelalter den Islam angenommen hatte, wurden wegen ihrer Religion abgeschlachtet œ rund 60.000 von ihnen, die Mehrheit des Volkes, wurden ermordet. Drei Jahre und acht Monate lang war Kambodscha ein Land ohne Städte, ohne Währung. Religion, Familie, aller Besitz waren abgeschafft. Die Roten Khmer sprengten die Nationalbank und verstreuten die Währungsbestände in den Straßen. In dem Versuch, die Wirtschaftstheorie, die Khieu Samphan als Student aufgestellt hatte, umzusetzen, trachtete die Regierung, alle Spuren von Industrie und städtischer Gesellschaft auszutilgen, die sie als vom Westen korrumpiert betrachtete. Die Absicht war, eine bäuerliche kommunistische Gesellschaft und dann darauf eine neue Ordnung zu errichten. Kambodscha fiel zurück ins finsterste Mittelalter, mit einer kleinen regierenden Schicht über einer Nation von Sklaven. Im Kambodscha des Jahres 1975 war als ‡Intellektueller— jeder definiert, der eine Brille trug, eine Fremdsprache beherrschte, Universitäts- oder Mittelschulzeugnisse oder eine abgeschlossene Berufsausbildung hatte. Als ‡Entrepreneurs— galten Ladenbesitzer und freischaffende Künstler ebenso wie jeder, der in irgendeiner Firma eine Führungsposition einnahm. ‡Herrschende und verwaltende Klassen— schlossen jeden ein, der irgendwann ein Regierungsamt bekleidet hatte oder in den Streitkräften oder der Polizei der besiegten Regierung gedient hatte. Alle, die in den Städten gelebt hatten, einschließlich der Flüchtlinge vom Land, wurden als ‡neue Menschen— definiert œ eine Klasse, die die Roten Khmer ausradieren wollten. ‡Grundbesitzer— waren alle jene, die mehr als die kleinstmögliche Einheit Land besaßen oder sich der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft widersetzten. Die ganze Familie aller dieser Menschen wurde gleichermaßen schuldig befunden, und sie wurden alle umgebracht oder durch Sklavenarbeit getötet. Alte Menschen und ‡neue Menschen— wurden gemeinsam den -331-
Notwendigkeiten des ‡fortschrittlichen Sozialismus— unterworfen. Ein weiterer Horror war die Zahl der sehr jungen Knaben in den Armeen und Exekutionskommandos der Roten Khmer. Zehn- und Zwölfjährige wurden darin unterwiesen, ihre Gefangenen zu Tode zu prügeln oder ihnen den Bauch aufzuschlitzen um Munition zu sparen œ, Männer und Frauen abzuschlachten, Alte und Junge. Die Roten Khmer brachten ihre Opfer nicht zu Hunderten im Gas um oder schossen sie in großen Gruppen mit Maschinengewehren nieder, wie es die Deutschen getan hatten. Jeder ermordete Kambodschaner war ein individuelles Mordopfer. Der Film ‡Killing Fields—, der auf Augenzeugenberichten beruht, zeigt eine Exekutionsmethode: ein Mann, dessen Hände verdächtig weich waren, also möglicherweise ein Intellektueller, wurde von den Wächtern aus dem angeketteten Arbeitstrupp herausgeholt. Dann stülpte ihm eine Frau einen Plastiksack über den Kopf und zog ihn um seinen Hals zusammen, so daß er erstickte. 1969 hatte es 4.000 Rote Khmer gegeben; die Zehntausende, die an den Massentötungen teilnahmen, waren alle zwischen 1970 und 1978 rekrutiert worden. Als die Vietnamesen Phnom Penh im Januar 1979 besetzten, fanden sie eine frühere Schule, nun Tuol Sleng genannt, die das Zentralkomitee der Partei als Polizeizentrale benützt hatte. Es war ein Folterzentrum und Hinrichtungsort für höhere Funktionäre, und 20.000 Menschen waren dort ermordet worden. Diese Einrichtung wurde von einem Mann namens Kong Kech Eav geleitet, der den Namen Duch benützte. Von den Grausamkeiten gab es genaue Aufzeichnungen, einschließlich der genauen täglichen Opferstatistiken und Photos der Gefangenen vom Tag ihrer Ankunft und dem Moment ihres Todes. Weniger wichtige Kambodschaner wurden auf die Todesfelder hinausgeführt und abgeschlachtet. Die Schädel wurden in Reihen aufgestellt, die Knochen in Haufen aufgeschlichtet. Der Bericht von Amnesty International über Kambodscha zitiert aus den Unterlagen zu einem Schulungstreffen der Tuol Sleng-Leute: ‡Der Feind wird nicht leicht Geständnisse ablegen. Wenn wir politischen Druck ausüben, gestehen die Gefangenen nur sehr wenig. Daher können sie der Folter nicht entkommen. Der einzige Unterschied ist nur, ob viel oder wenig Folter angewendet wird. Die -332-
Folter ist eine notwendige Maßnahme ... Sie ist notwendig, um jede Frage von Zögern oder Halbherzigkeit zu unterbinden, nicht zu foltern zu wagen, was es völlig unmöglich machen würde, auf unsere Fragen von den Feinden Antworten zu bekommen. Das würde unsere Arbeit nur behindern und verzögern.— Der AI-Report setzt fort: ‡Die Foltermethoden waren unter anderem Prügel, Auspeitschungen, Elektroschocks, gewaltsame Fütterung mit Exkrementen, nahezu Ersticken und Ertränken.— Tuol Sleng (auch bekannt als S21) war ein asiatisches Dachau œ mit zwei Unterschieden: weit weniger seiner Insassen überlebten (es sind nur sieben Überlebende bekannt), und wenn die SS ihre Gefangenen gefoltert hatte, geschah es für medizinische Experimente oder um andere Gefangene einzuschüchtern. Folter war kein integraler Bestandteil des deutschen Lagersystems. In der ‡Volksdemokratie Kampuchea— war es notwendig, daß die wichtigeren Gefangenen und alle Parteimitglieder unter der Folter ihre Irrtümer gestanden und einsahen, bevor sie getötet wurden. Tuol Sleng war die Verwirklichung von George Orwells ‡Ministerium für Liebe—. Die herrschende Gruppe in Kambodscha zwischen 1975 und 1978 war eine ‡Sechserbande—. Pol Pot wurde Ministerpräsident und Generalsekretär der Kommunistischen Partei. Die anderen waren Außenminister Ieng Sary, der Verteidigungsminister Son Sen, die beiden Schwestern Khieu Ponnary und Khieu Thirith œ die eine leitete die Vereinigung der demokratischen Frauen von Kampuchea, die andere war Sozialministerin; Ponnary war mit Pol Pot verheiratet, Thirith mit Ieng Sary. Das sechste Mitglied war die Frau von Son Sen, Yun Yat, die Erziehungsministerin. Nach dem Sieg der Roten Khmer kehrte Prinz Sihanouk als nominelles Staatsoberhaupt nach Phnom Penh zurück. Die meiste Zeit stand er unter Hausarrest, aber gelegentlich durfte er ins Ausland fahren, um das Loblied der Roten Khmer zu singen. So trägt Sihanouk durchaus ein Maß an Mitschuld an dem Schrecken, der über sein Land kam. Wie andere Revolutionen begann auch die Kambodschanische Revolution bald ihre Kinder zu fressen. Nachdem sie ihre Feinde aus dem Alten System vernichtet hatten, begannen Pol Pot und die Angka -333-
œ die Organisation der Roten Khmer, die die Regierung des Landes bildete œ mit der systematischen Ermordung jedes, der irgendeine Verbindung mit den Vietnamesen hatte. Das schloß die Hälfte der kambodschanischen Kommunisten mit ein und ungefähr vierzig Prozent derer, die die Roten Khmer 1975 zum Sieg getragen hatten. Die Dokumente, die in Tuol Sleng gefunden wurden, beinhalten detaillierte Mitschriften ihrer Verhöre. Im Sommer 1978 gipfelten die Säuberungsaktionen in einer Serie von Massakern in Ost-Kambodscha, jenem Landesteil, der die meisten Verbindungen mit den Vietnamesen hatte. Führende Parteifunktionäre wurden in kleinen Gruppen nach Phnom Penh befohlen, und man hörte nie wieder von ihnen. Dann schickte Pol Pot die Armee los, um Parteibüros im Osten zu umzingeln. So Phim, der Kommandeur von Ost-Kambodscha und Mitglied des fünfköpfigen Politbüros der Kommunistischen Partei, erschoß sich selbst. Rund 3.000 Rote Khmer und ungefähr 30.000 Zivilisten flüchteten in den Dschungel und begannen einen Widerstandskampf, während die Bauern die Kämpfe zwischen ihren Sklaventreibern nützten, um die Gemeinschaftsküchen und andere Symbole des Regimes zu stürmen. Pol Pot besiegte bald die Opposition und brachte jeden um, den er finden konnte. In drei Monaten wurden ungefähr 100.000 Menschen getötet, und ein Drittel der überlebenden Bevölkerung wurde ins westliche Kambodscha getrieben. Pol Pot griff seine Feinde als ‡Khmer Körper mit vietnamesischen Seelen— an. Seine Wut ging über die Grenzen hinaus, und er befahl seinen Truppen Vorstöße auf vietnamesisches Gebiet, wo sie Tausende Bauern töteten. Das waren nicht die ersten Grenzkonflikte. Im September 1977 hatten Kambodschaner vietnamesische Grenzdörfer angegriffen und Hunderte Einwohner getötet. Im Oktober und Dezember 1977 hatte Vietnam mit richtigen Militäraktionen zurückgeschlagen. Das alles schreckte Pol Pot nicht ab. Im Dezember 1977 brach er einfach die diplomatischen Beziehungen zu Hanoi ab. Aber nach den neuerlichen Angriffen im Spätsommer 1978 beschloß Hanoi, daß die Roten Khmer nicht länger zu tolerieren seien und stellte eine Guerillaarmee von oppositionellen Kambodschanern auf, einschließlich der überlebenden Führer der Ostprovinz, die in den Dschungel geflüchtet waren. Viele von ihnen hatten auf beiden Seiten -334-
der Grenze an Massakern an Vietnamesen teilgenommen, aber Hanoi kümmerte sich nicht um ihre Vergangenheit. Einer von ihnen war Heng Samrin, der gerettet worden war, als die Vietnamesen im September 1978 eine Panzerkolonne nach Kambodscha geschickt hatten. Wenn die Kambodschaner irgendwelchen politischen Grips besessen hätten oder wenn Pol Pot weniger ideologiebesessen gewesen wäre, dann hätte das Land zweifellos China gegen Vietnam ausspielen und seine Unabhängigkeit und territoriale Unversehrtheit behalten können. Aber Pol Pot proklamierte, daß jeder Kambodschaner dreißig Vietnamesen töten könne und müsse. So würde Kambodscha zwar zwei Millionen Menschen verlieren, aber die 50 Millionen Vietnamesen wären ausgerottet und Kambodscha könnte die verlorenen Gebiete im Osten œ einschließlich Saigon œ wieder zurückholen. Am 24. Dezember 1978 marschierte Vietnam in Kambodscha ein und eroberte am 7. Januar Phnom Penh. Ende Januar hatten die Vietnamesen den Großteil des Landes besetzt (siehe VIETNAM!) Das Pol Pot-Regime konnte nicht einmal einen so kläglichen Widerstand leisten wie die Regierung Lon Nol im Jahr 1975. Die Ursache war zum Teil sicher die mangelnde militärische Ausrüstung, zum Großteil aber wohl, daß die Bevölkerung das Regime haßte. Die Roten Khmer nahmen auf ihrem Rückzug einige hunderttausend Bauern mit, um in den Bergen unter ihrer Kontrolle Enklaven zu errichten. Solange diese Phantomregierung währte, hörte sie nicht auf, ihre Phantasien von ‡fortgeschrittenem Sozialismus— mit Terror durchzusetzen. Noch einmal starben Tausende, vielleicht 100.000 Menschen, und die Überlebenden wurden nur durch eine internationale Hilfsaktion 1979 vor dem Hungertod gerettet. Ende des Jahres stürmten die Vietnamesen diese letzten Widerstandsnester, und die Roten Khmer zogen sich in Lager an der Grenze zu Thailand zurück. KAMBODSCHA DIE VIETNAMESISCHE BESATZUNG Vietnam setzte in Phnom Penh sofort eine Quisling-Regierung unter -335-
Heng Samrin ein. Sie wurde nur von der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten sowie von Indien anerkannt, und es ist Vietnam nicht gelungen, den Guerillawiderstand zu brechen. Die Roten Khmer sind die wichtigste Gruppierung in der Widerstandsbewegung; andere Armeen stehen Sihanouk und anderen nichtkommunistischen Gruppierungen nahe. China unterstützt die Roten Khmer, während der Westen und Thailand den nichtkommunistischen Widerstandsgruppen an der thailändischen Grenze nur geringe und unzulängliche Unterstützung bieten. Neun Jahre lang, bis zur vietnamesischen Ankündigung der Absicht zum Rückzug im Mai 1988 schien das Patt absolut. Aber alles war besser als die Regierung Pol Pot. 1984/85 unternahmen die Vietnamesen einen massiven Angriff entlang der Grenze, um all die Flüchtlingslager und militärischen Stützpunkte der Roten Khmer sowie Son Sanns KPNLF (siehe unten) auszuheben. Die Offensive erreichte ihr Ziel, zerstörte aber nicht die Roten Khmer. Die Flüchtlinge gingen einfach über die Grenze nach Thailand, und die Roten Khmer-Einheiten teilten sich in Guerillabanden auf, die weiterhin die Vietnamesen und die kambodschanischen Regierungstruppen bekämpften. Sie wurden auf dem sogenannten ‡Deng Xiaoping-Pfad— von China bewaffnet und versorgt, der von China durch die Dschungel des nördlichen Thailand verläuft. Ihre Strategie war, den Abzug der Vietnamesen auszusitzen und dann an die Macht zurückzukehren. Als Vietnam seinen geplanten Rückzug ankündete, schienen sie ihrem Ziel einen großen Schritt nähergekommen zu sein. Nachdem sie die Stellungen an der thailändischen Grenze zerstört hatten, begannen die Vietnamesen, die Grenze mit einem Zaun und Minenfeldern zu befestigen. Sie fanden sich unversehens selbst in der Rolle der Amerikaner in Vietnam, indem sie versuchten, eine schwache und entmutigte lokale Regierung am Leben zu erhalten und gleichzeitig die anstürmenden Guerillas aus dem Land draußen zu halten. Vieles über die Untaten des Pol Pot-Regimes war in den vergangenen drei Jahren bekannt geworden. Nicht alle Berichte fanden Glauben, vor allem bei denen, die lautstark das amerikanische Engagement in Vietnam verurteilt hatten. Aber nach der vietnamesischen Besetzung des Landes war es nicht mehr möglich, an -336-
diesen Berichten zu zweifeln. Ausländische Regierungen und Journalisten wurden ebenso wie die UNO eingeladen, sich selbst an Ort und Stelle zu überzeugen. Es war unwiderlegbar. Das internationale Entsetzen über die Roten Khmer löste nicht das Problem, wie Kambodscha zu regieren sei. Westliche Staaten, die mit den Sowjets im Zweiten Weltkrieg verbündet gewesen waren, hatten der Errichtung fremder Regierungen in Osteuropa zugestimmt. Diesen Fehler wollten sie in Kambodscha nicht noch einmal begehen, wie schrecklich auch immer das gestürzte Regime gewesen sein mochte. Die kambodschanische Regierung, die von den Vietnamesen eingesetzt ist, hat nicht mehr Legitimität als die von der Sowjetunion 1979 in Afghanistan eingesetzte (oder als die Regierungen in den osteuropäischen Staaten bis zum Umbruch von 1989). China und die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten anerkannten die von Prinz Sihanouk geführte Koalition als die legitime Regierung von Kambodscha und stellten sicher, daß sie Kambodschas Platz bei den Vereinten Nationen einnahm. Diese Länder bemühen sich, andauernd zu beteuern, daß sie die Roten Khmer nicht anerkennen und sind immer wieder erstaunt, daß der prominente Rote Khmer Khieu Samphan die Koalition international vertritt und regelmäßig in den Westen reist. DlE ZWEI KOALITIONEN Derzeit gibt es zwei Allianzen, die direkt in Kambodscha verwickelt sind. Auf der einen Seite sind das die Vietnamesen und die Regierung, die sie in Phnom Penh eingesetzt haben, die ‡Sozialistische Volksrepublik Kampuchea—, die am 1. Mai 1989 in ‡Staat Kampuchea— umbenannt wurde. Ihnen gegenüber steht die lose Oppositionseruppierung ‡Widerstandsbündnis Demokratisches Kampuchea—, das aus Roten Khmer, der Partei Prinz Sihanouks und der nichtkommunistischen ‡Nationalen Befreiungsfront— (KPNLF) unter Son Sann besteht. China, die Sowjetunion, die USA und Thailand bleiben im Hintergrund, aber sie spielen wichtige Rollen. DIE SOZIALISTISCHE VOLKSREPUBLIK KAMPUCHEA -337-
Die Regierung in Phnom Penh wird geführt von Heng Samrin, dem Vorsitzenden der provietnamesischen ‡Revolutionären Volkspartei Kampucheas—, und Ministerpräsident Hun Sen. Beide sind frühere Rote Khmer, die während der Säuberungsaktion unter allen vietnamfreundlichen Kambodschanern wüteten. In einer amerikanischen Bürgerrechtsstudie von 1985 wird beschrieben, wie auch heute die Folter offiziell zugelassen ist, ebenso wie unmenschliche Behandlung und die Mißachtung der bürgerlichen Freiheiten in Kambodscha. Amnesty International belegte 1987 das Prinzip politischer Gewalttaten, ungesetzlicher Hinrichtungen und Folterung durch die Regierungsbehörden. Die Volksrepublik paßt daher gut in das Muster anderer kommunistischer Staaten, ist aber unbedingt der Regierung Pol Pot vorzuziehen. Die Regierung behauptet, das ganze Land unter Kontrolle zu haben, aber es gibt regelmäßig Guerillaüberfälle auf Regierungskonvois, und in den abgelegeneren Teilen des Landes ist es wohl nicht weit her mit der Macht der Regierung, besonders im Westen und Norden. Die Regierungsarmee ist mit rund 30.000 Mann nicht groß genug, die Armeen der Opposition ohne die Hilfe der Vietnamesen zu besiegen. Kambodscha ist so verzweifelt arm wie Vietnam. Eine katastrophale Hungersnot unmittelbar nach dem vietnamesischen Sieg von 1979 wurde durch eine internationale Hilfsaktion noch einmal abgewendet. Eigentlich ist das Land reich und fruchtbar und auch nicht überbevölkert, so daß Kambodscha zumindest seinen Reisbedarf selbst decken könnte, da nun wieder halbwegs sichere Verhältnisse Einzug gehalten haben. Aber die Wirtschaft vegetiert am Rand des Existenzminimums, und die wenigen Ausländer, denen der Zutritt zu Phnom Penh gestattet worden ist, berichten über die Unterernährung der Bevölkerung, vor allem der Kinder. Sie berichten auch, daß die Stadt allmählich wieder mit Menschen besiedelt wird, aber das Leben erscheint gedrückt und freudlos. Die Lebenserwartung beträgt 45 Jahre und die Kindersterblichkeit 21,6 Prozent (In Vietnam sind es 60 Jahre und 9,8 Prozent). Das Durchschnittseinkommen beträgt 2 Dollar im Monat. DIE KOALITIONSREGIERUNG DES DEMOKRATISCHEN -338-
KAMPUCHEA Die Roten Khmer: Nach ihrer Niederlage von 1979 haben die Roten Khmer erkannt, daß sie internationale Unterstützung brauchen und ihre Bewegung reorganisiert. Pol Pot trat vom Amt des Ministerpräsidenten zurück, Khieu Samphan wurde sein Nachfolger. Zunächst errichteten sie eine fiktive Vereinigungsfront: die ‡Patriotische und Demokratische Nationale Einheitsfront der Großen Nationalen Union von Kampuchea—. Im Juni 1982 wurde diese Organisation wieder aufgelöst, als die Roten Khmer in eine Koalition mit Prinz Sihanouk und Son Sann eintraten. Wie auch immer die Organisation heißt, Pol Pot blieb Sekretär des Zentralkomitees der (antivietnamesischen) Kommunistischen Partei und Oberbefehlshaber der Armee der Roten Khmer œ der Nationalarmee des Demokratischen Kampuchea. Er und seine engsten Vertrauten sind nach wie vor in Kambodscha oder in China und führen den Widerstand. Die Rote-Khmer-Armee ist mehr als 40.000 Mann stark, die größte in Kambodscha, und sie hat Flüchtlingslager an der Grenze unter ihrer Kontrolle, in denen mehr als 70.000 Menschen leben. ‡Die Nationale Befreiungsfront— (KPNLF): Diese antikommunistische Organisation wurde von Son Sann gegründet, der mehrere Male unter Prinz Sihanouk Ministerpräsident des Landes gewesen war. Es ist der Versuch, alle Kambodschaner zu vereinen, die nicht entweder der vietnamesischen Marionettenregierung ergeben sind oder den Roten Khmer, und sie genießt die Unterstützung der thailändischen Regierung und des Westens, obwohl diese Unterstützung mehr moralischen als militärischen Wert hat. Die KPNLF kontrolliert die meisten Flüchtlingslager in Thailand, und in ihrem Namen operieren in Kambodscha Guerillaeinheiten, die aber weder die Regierung in Phnom Penh gefährden können noch eine direkte Auseinandersetzung mit den Roten Khmer überleben würden. Im Bericht des Juristenkomitees für Menschenrechte wurde festgestellt, daß, obwohl die KPNLF die Menschenrechte zu achten bemüht ist, und ‡ungeachtet wiederholter Anstrengungen der KPNLFFührer, unter ihren Soldaten die Disziplin zu verbessern und in den KPNLF-Grenzsiedlungen gesetzliche Zustände einzuführen, sich oft -339-
eine Situation von Gesetzlosigkeit ergibt—. In den schlimmsten Phasen wurden Zivilisten und Soldaten geschlagen, unter grausamen Bedingungen eingesperrt und manchmal von Militär- oder Verwaltungsangehörigen getötet. ‡Die Nationale Vereinigte Front für ein Unabhängiges, Neutrales, Friedliches und auf Zusammenarbeit bedachtes Kambodscha— (FUNCINPEC): Diese Organisation mit dem pompösen Namen besteht aus Prinz Sihanouk und seinem Gefolge. Ihr unterstehen einige kleine Lager an der thailändischen Grenze, und sie behauptet, ebenfalls eine Guerillaarmee in Kambodscha zu unterhalten, aber in Wahrheit ist die einzige Stärke der Front die Person von Sihanouk. Im Ausland genießt er weiterhin ein gewisses Ansehen, und nach dem Abzug der Vietnamesen aus Kambodscha wird er wohl wieder einen erstaunlichen Einfluß in Phnom Penh ausüben. Er ist das nominelle Oberhaupt der Dreiparteien-Koalition. Im Dezember 1987 und Januar 1988 führte er mit der Regierung der Volksrepublik Kampuchea in Paris Verhandlungen, die aber zu keinen Ergebnissen führten. Im Mai 1987 und erneut im Januar 1988 kündete Sihanouk seinen Rücktritt von der Leitung der Koalition an, beim ersten Mai wegen Angriffen der Roten Khmer auf seine Anhänger, beim zweiten Mal wegen Auseinandersetzungen mit der KPNLF. Beide Male wurde er nicht ernst genommen. DIE AUSLÄNDISCHEN MÄCHTE Kambodscha bleibt ein Nebenschauplatz. Die Hauptsorgen Vietnams sind die eigenen abgewirtschafteten Verhältnisse und seine Beziehung zu China. Das kommunistische Vietnam besetzte Kambodscha aus demselben Grund wie seine Vorgänger in Saigon œ um den Zugang zu Saigon freizuhalten und sich den ZweifrontenKrieg zu ersparen. Nach ihrem Grenzkrieg von 1979 bleiben die Beziehungen zwischen Vietnam und China aufs äußerste gespannt. Die Vietnamesen fürchten ihren riesigen Nachbarn im Norden, und die Chinesen fürchten die Einkreisung. Chinas Hauptsorge ist die Bedrohung durch die Sowjetunion, und es betrachtet Vietnam als einen von der UdSSR abhängigen Staat. Daher unterstützte China Pol Pot, solange er an der Macht war, und unterstützt ihn heute noch. -340-
Die Sowjets benützen umgekehrt ihre Position in Vietnam, wo sie gern gesehen sind, als Druckmittel gegen Vietnam. Ohne sowjetische Unterstützung konnte Vietnam seine Armeen in Kambodscha nicht erhalten œ und der Wechsel des politischen Kurses in Moskau wirkte sich auch auf Vietnam aus. Es ist bestimmt kein Zufall, daß die Entscheidungen zum Rückzug der Sowjets aus Afghanistan, der Vietnamesen aus Kambodscha und Kubas aus Angola innerhalb von sechs Monaten gefallen sind. Thailand unterstützt aus Angst vor Vietnam die Guerillas aller Provenienz. Es kann keinen so mächtigen und kriegserfahrenen Nachbarstaat brauchen. Thailand beherbergt 75.580 Flüchtlinge aus Laos, 293.210 aus Kambodscha und 15.170 aus Vietnam (Zahlen von 1988, siehe unten GRENZKRIEG THAILAND-LAOS). Wie die Vereinigten Staaten hat Thailand entdeckt, daß der Fall der indochinesischen Domino-Steine seine Sicherheit nicht beeinträchtigt. Es wäre froh, wenn die Sowjetunion den Hafen Cam Ranh Bay räumen würde, aber in den Augen der USA hat das keine Eile. Das Trauma des Vietnam-Krieges ist nicht vergessen, und das amerikanische Volk hat kein Interesse an einer nochmaligen Verwicklung in Indochina. Als die Philippinen mit der Schließung der US-Stützpunkte drohten, falls die Amerikaner die Pachtzahlungen nicht wesentlich erhöhen sollten, nahm das die Regierung Reagan gelassen hin. Sobald sich die Sowjets aus Vietnam zurückziehen, gibt es keinen vernünftigen Grund mehr für eine derart große amerikanische Präsenz auf den Philippinen. Es ist schon bemerkenswert, daß es keinem der an diesem Spiel der mächtigen Beteiligten um Ideologie oder Moral geht. DIE ZUKUNFT Der Schlüssel zu Kambodschas Zukunft liegt in Moskau und Peking. Michail Gorbatschow möchte die Beziehungen der Sowjetunion zu China verbessern, und die Chinesen bestehen darauf, daß die Sowjetunion ihr Bündnis mit Vietnam aufgeben und Vietnam seine Besetzung von Kambodscha beenden muß. Im Frühjahr 1988 gab es die ersten Anzeichen einer möglichen Vereinbarung. Zu diesem Zeitpunkt waren œ nach einem Höhepunkt -341-
von 180.000 Mann während der Offensive von 1984/85 œ zwischen 125.000 und 140.000 vietnamesische Soldaten in Kambodscha stationiert. Am 25. Mai kündete Vietnam den Rückzug von 50.000 Soldaten bis Jahresende und den des Restes im Laufe des Jahres 1990 an, ein Termin, der später auf September 1989 vorverlegt wurde. Ende Juni 1988 zog Vietnam sein Militärkommando aus Kambodscha ab und unterstellte die verbleibenden Truppen dem kambodschanischen Oberbefehl. Bei einer Pressekonferenz in Saigon bezifferte ein vietnamesischer General die eigenen Verluste während des Kriegs in Kambodscha: 30.000 Vietnamesen waren 1977/78 bei den Angriffen der Roten Khmer über die Grenzen hinweg gestorben, 25.000 weitere im Lauf der vietnamesischen Invasion und der neun Besatzungsjahre. Viele davon waren der Malaria und den zurückgelassenen Minen der Roten Khmer zum Opfer gefallen. Die Vietnamesen teilten auch den Abzug von 25.000 Soldaten aus Laos mit. Nach neunjähriger Anstrengung mußte Vietnam zuletzt sein Scheitern eingestehen. Es besteht nur wenig Zweifel, daß diese Entscheidung das Ergebnis der eigenen wirtschaftlichen Katastrophe war œ es bestand tatsächlich die Gefahr einer Hungersnot! œ und des Drucks von der Sowjetunion. Wenn es den Sowjets möglich war, aus Afghanistan abzuziehen, dann konnten sie auch Vietnam zum Rückzug aus Kambodscha bringen, einer Besetzung, die sie politisch zumindest gleich viel kostete, ohne irgendeinen erkennbaren Vorteil zu bringen. Die UdSSR unterstützte Vietnam damals mit zwei Milliarden Dollar jährlich, davon floß die Hälfte in die Besatzungskosten in Kambodscha, der Rest ging zum Großteil in die vietnamesischen Verteidigungsanstrengungen gegen China. Gorbatschow war klar, daß kluge Verhandlungstaktik hier gewaltige Einsparungen möglich machen würde. Die vietnamesische Entscheidung zum Abzug aus Kambodscha erzeugte unverzüglich heftige diplomatische Aktivitäten. Verschiedene Konsequenzen schienen möglich: Eine Koalitionsregierung unter Sihanouk, in der einige oder alle der unterschiedlichen Fraktionen vertreten sein würden; ein Wiederaufflammen des Bürgerkrieges; oder eine Rückkehr der Roten Khmer. Auch eine Abfolge aller drei Varianten nacheinander schien möglich. -342-
Ausländische Beobachter hielten es für möglich, daß Kambodscha zu einem fernöstlichen Libanon werden könnte, aufgeteilt in einander befehdende Zonen; oder ein Birma mit einer schwachen Zentralregierung und verschiedenen Guerillaorganisationen, die die Grenzgebiete kontrollieren; oder eine Art Philippinen, mit einer Zentralregierung, die einen starken und aggressiven Guerillagegner bekämpfen muß. Bei dem Modell á la Libanon würde Vietnam die Rolle Syriens zufallen, und Ostkambodscha, die reichste Provinz des Landes, wo sechzig Prozent der Bevölkerung leben, würde das BekaaTal darstellen. Es ist allerdings nicht wahrscheinlich, daß die verschiedenen Guerillagruppen untereinander zu einer Übereinkunft kommen, und es scheint ziemlich sicher, daß Kambodscha solange keinen Frieden finden wird, bis die Gefahr der Wiederkehr der Roten Khmer beseitigt ist. Während der vietnamesischen Besetzung bestanden die nichtkommunistischen südostasiatischen Staaten, die im ASEAN-Pakt zusammengeschlossen sind, auf einem Abzug der Vietnamesen als erstem Schritt. Nun ist ihre Verhandlungsvoraussetzung Wirklichkeit geworden. Ihre erste Reaktion war die Wiederbelebung einer Idee, die seit Jahren herumgeisterte: die Kambodschaner sollten zu einer ‡Cocktail-Party— eingeladen werden. Keine formalen Verhandlungen, einfach eine Party. Sihanouk wählte diesen Augenblick einmal mehr, um als Haupt einer Koalitionsregierung zurückzutreten. Er griff die Roten Khmer an und sagte, daß jeder, der glaube, sie hätten sich grundlegend geändert, ‡entweder naiv sei oder ein Idiot—. Er ließ sich von seinem Sohn, Prinz Norodom Ranariddh, auf dieser ‡Cocktail-Party— vertreten, die unter der Bezeichnung Jakarta-Treffen am 25. Juli 1988 in Bogor in Indonesien stattfand. Sihanouk besuchte Jakarta zur selben Zeit als ‡persönlicher Gast— von Präsident Suharto. Die anderen Delegierten bei diesem Treffen waren der vietnamesische Außenminister Nguyen Co Thach, der Repräsentant der Regierung in Phnom Penh, Ministerpräsident Hun Sen, Kieu Sarnphan für die Roten Khmer und Son Sann für die KPNLF. Dazu kamen die Delegierten von Laos und der ASEAN-Staaten. Das Treffen war kein Erfolg. Die Gespräche dauerten vier Tage, und es kam dabei nichts heraus. Keine der kambodschanischen Fraktionen rückte von ihrem Standpunkt ab (obwohl Sihanouk sie am dritten Tag zu sich beorderte -343-
und sie über die Notwendigkeit der nationalen Einheit belehrte). Ein chinesischer Plan sah eine Koalitionsregierung vor, geleitet von Sihanouk, an der jede der vier wesentlichen Parteien teilnehmen sollte (Sihanouks FUNCINPEC, Son Sanns KPNLF, die Regierung in Phnom Penh und die Roten Khmer). Jede Partei sollte gegen jeden von den anderen für die Regierung Nominierten ein Vetorecht haben, die Truppen sollten auf dem Ist-Stand eingefroren werden und unter internationaler Kontrolle sollten Wahlen stattfinden. Dieser Plan wurde natürlich abgelehnt, da er Pol Pot ungeachtet aller Formalitäten die stärkste Armee zugesichert hätte. Die Chinesen ließen auch die Überlegung durchsickern, Pol Pot und seine Leute nach Peking in ein komfortables Exil einzuladen. Nachdem darüber in westlichen Zeitungen berichtet wurde, leugnete Peking diesen Plan œ aber von allen Vorschlägen, um Kambodscha vor der Rückkehr der Roten Khmer zu bewahren, hätte dieser den meisten Erfolg versprochen. China und die Sowjetunion kamen auch überein, direkte Gespräche über die Zukunft Kambodschas zu führen, und im Februar 1989 luden die Chinesen Gorbatschow zum ersten chinesisch-sowjetischen Gipfeltreffen seit 1959 nach Peking ein. Die anderen kambodschanischen Fraktionen versuchten in ihrer verfahrenen Situation weiterzukommen. Im November 1988 besuchte der kambodschanische Regierungschef Hun Sen Prinz Sihanouk in Paris, um vielleicht zu einer gemeinsamen Front gegen die Roten Khmer zu kommen. Er versicherte, daß die Vietnamesen ihre Zusage eines Abzuges aus Kambodscha einhalten würden, versprach freie Wahlen und eine Koalitionsregierung œ unter Ausschluß der Roten Khmer. Sihanouk war weit weniger zuversichtlich. Er spürte, daß nur China die Macht hatte, die Roten Khmer von der Macht fernzuhalten, und daher lehnte er es ab, es sich mit den Chinesen durch die Bildung einer Koalition mit der vietnamesischen Marionettenregierung in Phnom Penh zu verderben. Die Roten Khmer bereiteten sich in ihren Lagern an der thailändischen Grenze darauf vor, unmittelbar nach dem vietnamesischen Abzug in Kambodscha einzumarschieren. Sie mobilisierten die Flüchtlinge und zwangen alle körperlich geeigneten jungen Männer und Frauen, Munition und Ausrüstung in Verstecke -344-
auf kambodschanischem Gebiet zu tragen, und sie verlegten die Lager über die Grenze. Die Vietnamesen beschossen die Lager und trieben die Flüchtlinge zurück. Das konnte aber nur eine zeitweilige Maßnahme sein. Seit die Roten Khmer aus ihren letzten Stützpunkten in Kambodscha verdrängt worden sind, haben sie ihre Armee mit chinesischer Hilfe und thailändischem Einverständnis wieder aufgebaut. Angeblich haben sie jetzt genug Waffen und Material, um zwei Jahre Krieg durchzuhalten. Im Dezember 1988 kündeten die Vietnamesen an, ihren Truppenabzug auf September 1989 vorzuverlegen, falls bis dahin eine diplomatische Lösung gefunden würde. Die offenen Fragen sollten in einer Reihe von Konferenzen gelöst werden, aber die Hauptgegner œ die Regierung in Phnom Penh und die Roten Khmer zeigten keine Bereitschaft zum Kompromiß. Einmal mehr hing alles von Peking und Moskau ab. Am 5. April 1989 ging Vietnam von seiner Forderung ab, daß vor seinem Abzug die ausländische Hilfe für die Opposition eingestellt werden müßte und versprach den Abzug seiner letzten Einheiten für den 26. September 1989. In Paris wurde eine Konferenz abgehalten, um noch einmal zu versuchen, ein Wiederaufflammen des Bürgerkrieges zu verhindern. Daran nahmen abermals die vier kambodschanischen Parteien, Vietnam, China, die ASEAN-Staaten teil, die Außenminister von Frankreich und Indonesien führten den Vorsitz. Am 30. August endete die Konferenz im Streit, der über die Rolle der UNO als Überwacher eines Waffenstillstandes und der Wahlen und vor allem der Bildung einer erhofften Interimsregierung ausgebrochen war. Die kambodschanische Regierung, angeführt von Hun Sen, weigerte sich, den Roten Khmer eine Beteiligung zuzugestehen, und die Roten Khmer und ihre chinesischen Beschützer mit Prinz Sihanouk im Kielwasser weigerten sich wiederum, irgendeine Lösung ohne ihre Beteiligung zu akzeptieren. Es schien nur zu offensichtlich, daß ein neuer Bürgerkrieg im neuen Jahr ausbrechen würde. Das beste, was für Kambodscha möglich schien, war eine Wiederholung der Ereignisse von Afghanistan, wo die von den Sowjets eingesetzte Regierung deren Abzug zwar überlebt hat, aber wo es außerhalb der Städte zu furchtbaren Kämpfen gekommen ist. Aber alles ist besser als eine Rückkehr der Roten Khmer. -345-
Nach dem Abzug der Vietnamesen, vielleicht auch beeinflußt von den Ereignissen in China und Europa, nahm Hun Sen viele frühere Funktionäre der Sihanouk- und Lon Nol-Regime in die Regierung hinein, und er baute schrittweise den Einfluß der Regierung in der Wirtschaft des Landes ab. Kambodscha hatte zwischen 1975 und 1989 niemals zu einem so strikt kommunistischen Wirtschaftssystem gefunden wie etwa Polen oder China. Dort hatte der Staat systematisch alle wirtschaftlichen Aktivitäten an sich gezogen. In Kambodscha verwüsteten die Roten Khmer das Land, und ihre Nachfolger mußten die Gesellschaftsordnung von Grund auf erneuern. Es war für Hun Sen viel leichter, wieder eine Marktwirtschaft zu errichten, nach zwanzig Jahren revolutionärem Chaos, als für Polen, einen bürokratischen kommunistischen Staat umzubauen. Ende 1989 waren 70 Prozent der Wirtschaft wieder in Privatbesitz, und Hun Sen kündete für 1990 oder 1991 freie Wahlen an, überwacht von den USA oder der UNO. Im Januar 1990 nahmen die ständigen Mitglieder des UNOSicherheitsrates die Diskussion über die Zukunft Kambodschas wieder auf, und sie stimmten überein, daß die UNO in dieser Zukunft eine Rolle spielen sollte. Die USA unter Präsident Bush ordneten weiterhin die Sorge um das Wohlergehen Kambodschas ihren eigenen guten Beziehungen zu China unter. Sie unterstützten Prinz Sihanouk, ungeachtet seiner wachsenden Exzentritzität und der offensichtlichen Tatsache, daß seine Partei in der Guerillabewegung keine wirkliche Rolle mehr spielte. Die UdSSR und China, einst die rivalisierenden Führer aller politischen Entwicklungen in Indochina, waren nun mit ihren internen Angelegenheiten dermaßen beschäftigt, daß sie sich nicht ernsthaft mit der Lösung der Kambodschafrage beschäftigen konnten. Die Roten Khmer begannen ihre Trockenperiode-Offensive, und obwohl die Regierung darauf bestand, selbst mit ihren Feinden fertig zu werden, blickten die Kambodschaner voll Sorge auf die Möglichkeit, daß ihr schlimmster Alptraum, die Wiederkehr von Pol Pot, Realität werden könnte. Im Sommer 1990 änderte die US-Regierung ihre Haltung und entzog Sihanouk die Unterstützung. Die Regierung in Phnom Penh erschien ihr mit einem Mai doch als möglicher Verhandlungspartner. -346-
DER GRENZKRIEG ZWISCHEN THAILAND UND LAOS 1987/88 Im November 1987 entstand aus einem Grenzstreit zwischen Thailand und Laos ein kurzer Krieg. Dabei ging es um einen Gebirgsstreifen von 43 km2 im Norden; bei einem Grenzabkommen zwischen Frankreich und Siam im Jahre 1907 war der genaue Verlauf ungeklärt geblieben. Aber anscheinend ging es bei diesem Streit um mehr als eine unmarkierte Grenze. Diese abgelegenen Berge sind das Zentrum des Opiumhandels im Goldenen Dreieck, und sie liegen auf dem Weg, über den China seine Verbündeten im kambodschanischen Bürgerkrieg versorgt hat und über den antikommunistische vietnamesische Guerillas nach Vietnam einsickern. Zuletzt hat sich zwischen den beiden Ländern ein heftiger Streit über die Flüchtlingsfrage entwickelt. Angehörige des Hmong-Stammes in Laos haben versucht, nach Thailand zu entkommen, und die thailändische Armee wollte sie daran hindern œ mit unterschiedlichem Erfolg. Wie bereits festgestellt, gibt es 75.000 Flüchtlinge aus Laos in Thailand. Als am 17. Februar 1988 die Kämpfe beendet wurden, hatten die Thailänder zwischen 70 und 100 Mann verloren, die Laoten ungefähr 200. Laos und Thailand hatten beide Truppen in das umstrittene Gebiet verlegt, laotische Artillerie hatte thailändische Dörfer beschossen, die thailändische Luftwaffe hatte laotische Stellungen bombardiert. Nach dem vietnamesischen Truppenabzug aus Laos œ mit 20.000 Mann die Hälfte seiner Garnison œ könnte sich aber auch dieser Konflikt vorderhand entspannen.
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KOREA
Geographie: NORD-KOREA: 120.538 km2. SÜD-KOREA: 98.454 km2. Bevölkerung: NORD-KOREA: 20,8 Millionen. SÜD-KOREA: 42 Millionen. BSP: NORD-KOREA: 1.170 $/Einw. SÜD-KOREA: 2.370 $/Einw. Seit dem Korea-Krieg (von 1950 bis 1953) haben sich die beiden koreanischen Staaten ständig und mit wachsender Geschwindigkeit auseinanderentwickelt, die Wirtschaft Süd-Koreas wächst mit atemberaubendem Tempo, während die des Nordens stagniert. Im Dezember 1987 gab es in Süd-Korea Präsidentenwahlen, aus denen zum ersten Mal seit Jahrzehnten ein demokratisch gewählter Präsident hervorging, Roh Tae Woo. Im folgenden April bestand Süd-Korea einen weiteren demokratischen Reifetest: Präsident Rohs Partei wurde bei Parlamentswahlen geschlagen, und der Präsident muß jetzt mit einem Parlament zusammenarbeiten, in dem die Opposition die Mehrheit hat. In Nord-Korea herrscht seit vierzig Jahren Kim Il Sung. Er hat einen außergewöhnlichen Personenkult entwickelt und alles vorbereitet, daß die Macht auf seinen Sohn übergehen kann, um so die einzige kommunistische Dynastie der Welt zu begründen. Die Grenze zwischen den beiden Koreas ist eine der gefährlichsten der Welt. Nord-Korea ist ein feindseliges Land im permanenten Kriegszustand: Im Oktober 1983 ermordeten nordkoreanische Kommandosoldaten siebzehn Mitglieder einer südkoreanischen Regierungsdelegation in Rangun. Und im November 1987 schmuggelten zwei nordkoreanische Terroristen in Abu Dhabi eine Bombe in eine Maschine der südkoreanischen Fluglinie KAL. Bei der Explosion über dem Indischen Ozean kamen alle 115 Menschen an Bord ums Leben. GESCHICHTE Korea entwickelte im Lauf der Jahrhunderte seine nationale -348-
Identität im Zuge ständiger Kriege gegen China und Japan, die auch beide immer wieder in das Land einfielen. 1907 errichtete das durch den Sieg im Krieg gegen Rußland gestärkte Japan ein Protektorat über Korea und annektierte es schließlich 1910. Am 8. August 1945 erklärte die Sowjetunion Japan den Krieg und marschierte in der Mandschurei und in Korea ein œ zwei Tage nach dem Abwurf der Atombombe Über Hiroshima und eine Woche vor der japanischen Kapitulation. Die USA hatten lange genug Druck auf Stalin ausgeübt, in den Krieg gegen Japan einzutreten und mußten nun die Konsequenzen tragen. Truman hatte kein Interesse daran, daß die Sowjets in Korea Fuß fassen würden, jenseits der Meeresstraße zu Japan, und er schlug vor, daß die Halbinsel vorläufig entlang dem 38. Breitengrad aufgeteilt werden sollte, halbwegs in der Mitte des Landes. Stalin, der sich eine Auseinandersetzung mit den USA im Fernen Osten nicht leisten konnte, stimmte unverzüglich zu, und Korea, das eben dem japanischen Kolonialismus entronnen war, fand sich plötzlich zwischen den beiden Supermächten aufgeteilt. Die Sowjets begannen unverzüglich mit der Errichtung eines kommunistischen Staates im Norden. Es muß gesagt werden, daß Nord-Korea, die Demokratische Volksrepublik, aus eigener Kraft überlebt hat. Die letzten sowjetischen Truppen wurden 1949 abgezogen. Die Amerikaner waren hauptsächlich mit Japan beschäftigt und vernachlässigten ihren Teil Koreas. Diplomatische Bemühungen um die Wiedervereinigung des Landes waren fruchtlos. Beide Seiten verweigerten jede Übereinkunft. Stalin wollte nur ein geeintes kommunistisches Korea akzeptieren, Truman nur ein demokratisches. Nord-Korea baute eine Armee von 200.000 Mann auf und wollte das Land mit Gewalt wiedervereinen. Ob Stalin den Angriff befahl oder nicht, ist heute eine überflüssige Diskussion. Damals wurde es als ein weiterer Schritt des sowjetischen Traumes von der Eroberung der Welt angesehen. Der amerikanische Außenminister Dean Acheson erklärte in einer Rede vor dem National Press Club in Washington am 12. Januar 1950, daß ‡der amerikanische Verteidigungsgürtel von den Aleuten nach Japan und von dort zu den Ryukyu-Inseln (einschließlich Okinawa) -349-
verlaufe—. Korea erwähnte er nicht. Später warfen ihm seine Gegner vor, daß diese Nichterwähnung von Nord-Korea als Einladung zum Angriff verstanden worden sei. Diese Behauptung war ein Teil des McCarthy-Rufmordes an der Truman-Regierung œ was Acheson als den ‡Angriff der Primitiven— bezeichnete. Trotzdem können die ‡Primitiven— hierin recht behalten haben. Die sowjetische Diplomatie, ganz zu schweigen von der Diplomatie Nord-Koreas, war immer schlicht strukturiert, und es ist zumindest möglich, daß Achesons Versäumnis in Verbindung mit ihrer Unkenntnis der USA œ sie in diesen katastrophalen Irrtum hineintrieb. Die Invasion begann am 6. Juni 1950. Anfang August hatte NordKorea mit Ausnahme eines Restes im Südosten ganz Süd-Korea besetzt. Amerikanische Einheiten in Korea wurden besiegt, und den aus Japan eingeflogenen Verstärkungen erging es kaum besser. Allerdings muß zu ihrer Verteidigung gesagt werden, daß dies in die Zeit der Umstrukturierung fiel, als die amerikanischen Truppen im Fernen Osten abgebaut und verdünnt wurden, um die Verstärkung der US-Streitkräfte in Europa zu ermöglichen. Selbst auf dem Höhepunkt des Korea-Krieges wurden die besten Einheiten aus den USA nach Europa geschickt. Korea war ein Nebenschauplatz. Am Tag nach dem Angriff betraute Präsident Truman General Douglas MacArthur mit der Verteidigung von Süd-Korea. Der General ließ seine Position als Prokonsul in Japan fahren, schickte genügend Truppen nach Korea, um den letzten Gebietsrest zu halten, befahl der Luftwaffe, die nordkoreanischen Nachschublinien zu bombardieren und bereitete den Gegenangriff vor. Zu diesem Zeitpunkt boykottierte die Sowjetunion die UNO, und so konnte die Vollversammlung ohne Veto Nord-Korea als Aggressor verurteilen und die USA mit der Bildung einer UNO-Truppe betrauen, um Süd-Korea zu verteidigen. Die Hauptmasse dieser UNO-Truppe stellte aber immer die US-Armee. Am 15. September landete MacArthur mit seinen Truppen an der Westküste Koreas in Inchon, nahe von Seoul. Obwohl die nordkoreanischen Truppen bereits erschöpft waren und ihre Niederlage, sobald die USA einmal in den Kampf eingetreten waren, klar schien, muß die Landung in Inchon als eine der -350-
bemerkenswertesten militärischen Leistungen des 20. Jahrhunderts betrachtet werden. Die Aktion wurde in drei Monaten geplant und glänzend durchgeführt, und in wenigen Wochen befreite MacArthur Süd-Korea zur Gänze und wandte sich gegen Norden. Vielleicht, wenn er unauffälliger gehandelt hätte; vielleicht, wenn er nicht darüber gesprochen hätte; vielleicht, wenn Washington die kommunistische Regierung Chinas anerkannt hätte (was es seit 1949 verweigert hatte) und sie zu Verhandlungen über die Korea-Frage eingeladen hätte œ vielleicht hätten die Chinesen einer Niederlage Nord-Koreas und der Wiedervereinigung des Landes nichts entgegengestellt. Aber MacArthur verlegte seine Armeen an die chinesische Grenze, verkündete seine Absicht, Korea wiederzuvereinen und drohte, seinen Angriff über den Yalu-Fluß hinweg durch China hindurch zu führen. Die Chinesen schickten zahlreichen Warnungen nach Washington, daß sie dem auf keinen Fall zustimmen würden. Die Warnungen wurden ignoriert, und im Oktober überquerte die Chinesische Volksbefreiungsarmee den Yalu. Die UNO-Truppen œ hauptsächlich Amerikaner, aber auch Briten, Kanadier, Türken und Einheiten aus zahlreichen anderen Ländern œ wurden davon völlig überrascht und rasch zurückgedrängt. Die Chinesen und Nord-Koreaner eroberten Seoul. Nur unter größten Anstrengungen konnte MacArthur mitten im Winter eine Verteidigungslinie quer über die Halbinsel aufbauen. Im folgenden Jahr gelang es dem UNO-Kommando allmählich, mit überwältigender technischer Überlegenheit und dank kluger Ausnutzung des Geländes, die Chinesen auf die ursprüngliche Frontlinie zurückzuwerfen. Präsident Truman hatte am 11. April 1951 MacArthur wegen Insubordination des Kommandos enthoben, und General Matthew Ridgeway führte nun den Oberbefehl. Die Amerikaner gruben sich ein und wehrten eine ‡Menschenwelle nach der anderen— ab. Am 27. Juli 1953 wurde schließlich ein Waffenstillstand unterzeichnet. Nach den Angaben des UNO-Kommandos waren Im Korea-Krieg folgende Verluste zu verzeichnen: USA: 37.904 Tote (einschließlich 12.939 Vermißter und für tot Erklärter); 101.368 Verwundete. Andere UNO-Mitgliedstaaten: 4.521 Tote, darunter 537 Briten und -351-
312 Kanadier. Süd-Korea: 103.248 Tote; 159.727 Verwundete. Das US-Oberkommando schätzte, daß Nord-Korea 316.579 und China 422.612 Tote zu verzeichnen hatten. Rund 2 Millionen Zivilisten, im Norden und im Süden, wurden getötet oder verletzt. Während die Verlustangaben der UNO-Streitkräfte genau sind, sind die für Nord-Korea und China mit äußerster Vorsicht zu bewerten. Zum einen ist ihre Präzision offensichtlich merkwürdig: Für China werden 401.401 Tote und 21.211 Vermißte angegeben œ Zahlen, die einfach zu schön sind, um stimmen zu können, und offensichtlich zu genau, um genau zu sein. Offensichtlich sind sie das Ergebnis irgendwelcher statistischen Berechnungen. Außerdem, wie die Erfahrung in Vietnam fünfzehn Jahre später gelehrt hat, neigen die Amerikaner grundsätzlich dazu, die Opferzählung hinaufzuschrauben, I. F. Stone stellte fest, daß das Oberkommando tägliche chinesische Verluste in Höhe einer vollen Division verlautbarte œ eine Verlustrate, dreimal so hoch wie die der deutschen Armee vor Verdun. Aber auch wenn man die Opferangaben radikal herunterrechnet und auch für die Verluste der Zivilbevölkerung andere Schätzungen heranzieht, ergibt sich für die drei Jahre des Korea-Krieges eine Gesamtopferzahl zwischen 1 und 1,5 Millionen. DAS NACHKRIEGS-KOREA Das Land wurde im Norden wie im Süden erheblich zerstört. Es wurde auf die Verhältnisse in Deutschland im Jahr 1945 reduziert, seine Städte lagen in Trümmern, die Industrien waren zerstört. Beide Teile des Landes machten sich an die schmerzliche Aufgabe des Wiederaufbaues, kompliziert durch den gegenseitigen Haß. Die chinesischen Truppen zogen sich 1958 zurück, aber die Amerikaner blieben. Süd-Korea ist, ungeachtet Achesons Bemerkung, sehr wohl ein Bestandteil des amerikanischen Verteidigungsgürtels. Gemeinsam mit Hong Kong, Taiwan und Singapur ist Süd-Korea jetzt einer der vier ‡kleinen Drachen— œ ostasiatische Länder, die auf den Spuren Japans im industriellen Wachstum wandeln. Seine Bevölkerung ist doppelt so groß wie die des Nordens, sein -352-
Bruttonationalprodukt viermal so groß und wächst ständig weiter. Der Vergleich mit Deutschland drängt sich auf. Aber es gibt Unterschiede: Die DDR überlebte nur so lange, wie die UdSSR das Regime stützte. Als diese Rückenstärkung abnahm, brach der Staat zusammen. NordKorea hingegen ist auch alleine überlebensfähig. Außerdem hat die DDR niemals den Westen gefährdet, während Nord-Korea ständig mit Krieg droht. Nord-Korea wendet 22,2 % seines Bruttonationalproduktes für Verteidigungszwecke auf, Süd-Korea 5,5 %. In Relation zur Bevölkerung ist die nordkoreanische Armee dreimal so groß wie die südkoreanische (in absoluten Zahlen: NordKorea 784.000, Süd-Korea 600.000 Soldaten). Sicher ist auch das mit eine Ursache für das wirtschaftliche Davonziehen Süd-Koreas. Nord-Korea unter Kim Il Sung ist ein merkwürdiges Land: ein kleineres Land, das sich dem Ziel geweiht hat, in ein größeres einzumarschieren und es zu besiegen œ in eines, dessen Verteidigung von den USA garantiert wird. Eine vernünftige Regierung würde ihren Militärhaushalt radikal kürzen und sich auf die wirtschaftliche Entwicklung konzentrieren. Die Tatsache, daß eine Regierung durch Jahrzehnte eine völlig sinnlose Politik einschlagen, Süd-Korea durch Akte offenen Terrorismus provozieren und auch ernsthaft über einen zweiten Korea-Krieg nachdenken kann, ist ein weiterer Beweis der Macht des Irrationalen im menschlichen Dasein. Am 18. Januar 1968 überquerten 31 nordkoreanische Kommandosoldaten die Demilitarisierte Zone zwischen den beiden Ländern. Sie waren als südkoreanische Soldaten und Zivilisten verkleidet, und ihr Ziel war Seoul, um Präsident Park Chung Hee zu ermorden. Sie erreichten die Hauptstadt am 21. Januar, wurden aber von Polizeieinheiten aufgehalten. In dem folgenden Schußwechsel starben fünf der Nordkoreaner, ein südkoreanischer Polizist und fünf Zivilisten. Einige der Kommandosoldaten starben später bei einem Feuergefecht mit amerikanischen Soldaten, als sie versuchten, über die Demilitarisierte Zone zurückzukommen. Der Anführer der Aktion wurde gefangengenommen und gab zu, daß ihr Ziel der Präsident gewesen sei. Park überlebte einen anderen Anschlag im August 1974, bei dem seine Frau ums Leben kam, schließlich wurde er aber bei einem privaten Abendempfang von seinem eigenen Polizeichef ermordet. -353-
Im Oktober 1983 stattete Präsident Chun Doo Hwan von Süd-Korea Birma einen Staatsbesuch ab. Am 9. Oktober war er auf dem Weg zum Märtyrerdenkmal in Rangun, das an Thakin Aung San erinnert, den Gründer des unabhängigen Birma, der 1947 ermordet wurde. Chuns Auto blieb im Verkehr stecken, er kam zu spät. Wenige Augenblicke vor seiner Ankunft zerstörte eine Bombe das Denkmal, tötete 21 Menschen und verletzte weitere 46. Unter den Opfern waren der koreanische Außenminister Lee Bum Suk, der Wirtschaftsplanungsminister und Stellvertretende Ministerpräsident Suh Suk Joon und der Minister für Handel und Industrie Kim Dong Whie. Die anderen waren Ratgeber des Präsidenten, Journalisten und Sicherheitsbeamte. Unmittelbar vor der Explosion war der südkoreanische Botschafter in einem großen Auto eingetroffen, und ein Trompeter hatte begonnen, den Zapfenstreich zu blasen. Möglicherweise hatten die Terroristen aus der Entfernung geglaubt, der Präsident sei eingetroffen und die Zeremonie hätte begonnen und daher die Bombe per Funk gezündet. Drei Bomben waren in den Raum im Denkmal eingeschmuggelt worden. Aber nur eine explodierte. Zwei Tage später verhaftete die Polizei den ersten Verdächtigen, der versuchte, sich mit einer Handgranate selbst in die Luft zu sprengen. Am selben Tag meldeten Dorfbewohner zwei verdächtige Fremde, und als Polizeibeamte sie verhören wollten, versuchten sie ebenfalls, mit Handgranaten Selbstmord zu begehen. Eine Granate explodierte, und drei Polizisten starben. Die beiden verwundeten Männer wurden als Nordkoreaner identifiziert, und sie gestanden ein Mordkomplott gegen Präsident Chun. 1986, sechs Tage vor der Eröffnung der Asien-Spiele in Seoul, explodierte eine Bombe im Flughafen von Seoul und tötete fünf Menschen. Seoul beschuldigte Nord-Korea der Drahtzieherschaft. Am 29. November 1987 explodierte eine Linienmaschine der Korean Airlines 12 auf dem Flug von Europa nach Korea über dem Indischen Ozean, und alle 115 Insassen kamen dabei ums Leben. Beim letzten Zwischenstop in Abu Dhabi hatten zwei Passagiere die Maschine verlassen. Sie wurden von Sicherheitskräften aufgegriffen, und beide schluckten sofort Zyankali. Der siebzigjährige Kim Sung Il starb, die sechsundzwanzigjährige Kim Hyon Hui überlebte. -354-
Sie wurde an Süd-Korea ausgeliefert und legte ein Geständnis ab. Sie waren beide nordkoreanische Geheimdienstagenten, und ihre Einsatzbefehle waren von Kim Chong Il, dem Sohn von Präsident Kim Il Sung, persönlich unterschrieben worden. Die Frau hatte sich als Japanerin ausgegeben, und die beiden hatten eine Flasche mit explosiver Flüssigkeit und einen Sprengsatz in einem Radio in der Gepäckablage des Flugzeugs zurückgelassen. Sie sagte, daß dieser Anschlag Süd-Korea während des Präsidentschaftswahlkampfes destabilisieren und die internationale Nervosität vor den kommenden Olympischen Spielen steigern hätte sollen. Auf einer Pressekonferenz im Januar 1988 erklärte sie, daß sie seither ihre Einstellung zu SüdKorea geändert habe, seit sie südkoreanisches Fernsehen gesehen habe und von ihren Bewachern durch Seoul geführt worden sei. Manchmal reagierte Süd-Korea zu sehr auf die Drohungen aus dem Norden. 1986, als Süd-Korea mitten in den Vorbereitungen zu den Olympischen Spielen von 1988 steckte, begann Nord-Korea mit der Errichtung eines großen Staudammes am Pukhan, einem Fluß, der die Demilitarisierte Zone durchquert und auf seinem Weg zum Meer durch Seoul fließt. Süd-Korea beschuldigte den Norden, daß mit Hilfe dieses Staudammes eine riesige Wassermenge gestaut und dann mit einem Schlag freigesetzt werden sollte. Dadurch würde Seoul von einer riesigen Flutwelle überschwemmt, und zwei Millionen Menschen einschließlich der Besucher und Sportler aus aller Welt würden sterben. Die Südkoreaner reagierten ziemlich hysterisch und errichteten in Windeseile um einen Preis von 250 Millionen Dollar einen ‡Friedensdamm—, um die gefürchtete Flut abzuhalten. Nachdem dieser Damm in Rekordzeit fertiggestellt war, mußten die Südkoreaner feststellen, daß der nordkoreanische Damm kaum weitergekommen war und offensichtlich noch Jahre bis zu seiner Vollendung vergehen würden. Im Mai 1988 begann eine Reihe antiamerikanischer Demonstrationen der südkoreanischen Studenten. Sie machten die USA für die Teilung des Landes verantwortlich, was absurd ist, aber auch für die Unterstützung einer Abfolge undemokratischer Regierungen in Süd-Korea, was der Wahrheit schon näher kommt. Insbesonders wagten die Studenten die USA der Verantwortung für das Kwangju-Massaker an, bei dem im Mai 1980 südkoreanische -355-
Truppen, die theoretisch unter US-Oberbefehl standen, Hunderte Demonstranten getötet hatten. Nun forderten die Studenten den sofortigen Abzug der 40.000 amerikanischen Soldaten und die unverzügliche Wiedervereinigung des Landes. Sie kündeten einen Marsch in den Norden an, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Präsident Roh befahl der Polizei, sie aufzuhalten, gab aber zu, daß Süd-Korea in seiner Ablehnung des Nordens vielleicht zu radikal sei. Er kündete die Aufnahme direkter Gespräche an, und in Panmunjom, einem Dorf in der Demilitarisierten Zone, fanden drei Gesprächsrunden statt. Die Treffen waren kein Erfolg. Der Süden bot dem Norden an, eine gemeinsame Mannschaft zu den Olympischen Spielen zu entsenden, was der Norden nur dann annehmen wollte, wenn Nord-Korea auch als Gastgeber mitwirken würde. Süd-Korea lehnte diese Forderung ab. Der andere unlösbare Punkt des Zwistes war die amerikanische Stationierung in Süd-Korea. Ungeachtet aller Studentenproteste war Roh nicht gewillt, die Amerikaner zum Abzug aufzufordern. So wurden die Gespräche ergebnislos abgebrochen. Zweifellos gibt es in Korea eine große Fremdenfeindlichkeit. Die USA üben Druck auf Süd-Korea aus, seinen heimischen Markt für amerikanische Exporte zu öffnen, um ihr riesiges Handelsdefizit zu verringern. Das wird von vielen Koreanern als Bedrohung empfunden, die den erstaunlichen wirtschaftlichen Aufstieg ihres Landes auf harter Arbeit und dem Exporterfolg nach Amerika aufgebaut haben. Und sie hegen den Verdacht, daß die Amerikaner sie gerne in ihre frühere Abhängigkeit zurückführen wollen. Die Ablehnung früherer USPolitik ist auch durchaus berechtigt: Die USA haben tatsächlich eine Reihe Militärdiktatoren unterstützt und immer akzeptiert, daß der Demokratisierungsprozeß wegen der Bedrohung durch den Norden hintangestellt wurde. Darüberhinaus ist die Allpräsenz der Amerikaner erdrückend œ so gibt es mitten in Seoul einen riesigen USMilitärstützpunkt, und konservative Koreaner treffen sich hier in ihrer Ablehnung der Amerikaner mit den Radikalen. Offensichtlich hat die extreme Linke œ Kommunisten maoistischer Ausprägung viele Anhänger. Die Mehrheit der Koreaner hat natürlich kein Verlangen danach, von Kim Il Sung beherrscht zu werden, und vielleicht werden die koreanischen Radikalen einen ähnlichen Weg -356-
gehen wie die Radikalen Japans in den fünfziger und sechziger Jahren, die auch die USA für alle ihre Mißstände œ eingebildet oder tatsächlich œ verantwortlich machten. Es gab in Japan einen so starken Antiamerikanismus, daß Präsident Eisenhower 1960 einen Staatsbesuch in letzter Minute absagen mußte. Aber diese früheren Radikalen sind jetzt alle höhere Angestellte in der ‡Firma Japan—, und vielleicht werden ihre koreanischen Nachahmer auch diesem Beispiel folgen. Es ist aber auch möglich, daß sie dem maoistischen Glauben treu bleiben werden, wie die Radikalen auf den Philippinen, die Anfang der siebziger Jahre gegen die USA demonstrierten und dann die NPA gründeten (siehe PHILIPPINEN). Der Unterschied ist, daß die Philippinen dann unter die Alleinherrschaft Marcos‘ gerieten, während Süd-Korea sich gerade eben aus einer langanhaltenden Militärdiktatur gelöst hatte. Die Demonstrationen und der bizarre Wunsch nach einem vereinigten kommunistischen Korea sind ein Test für die koreanische Demokratie. Wenn die Regierung mit dieser Herausforderung zurechtkommt, mit den Molotowcocktails gegen Polizisten und Morden mit Keulen und Eisenstangen, ohne mit übertriebener Gewalt zu antworten, wird Süd-Korea überleben. Bei den vielen Demonstrationen 1986 und 1987, die zu freien Präsidentschaftswahlen im Dezember 1987 und Parlamentswahlen im April 1988 geführt haben, gab es zahlreiche gewalttätige Zusammenstöße zwischen Sicherheitspolizei und Demonstranten. Aber die Polizei hat immer Disziplin bewahrt, und es scheint, daß sie von dem Grundsatz geleitet wurde, daß auch die Demonstranten Koreaner seien, ihre Kinder und die Zukunft des Landes, und daher wurde niemals scharfe Munition eingesetzt. (Der Gegensatz zwischen dieser Politik und den Methoden der Israelis gegen die palästinensische Intifada ist erstaunlich.) Die verbesserten Beziehungen zwischen China, der UdSSR und den USA haben Nord-Korea ebenso isoliert wie Vietnam. Es ist nicht anzunehmen, daß vor dem Tod oder Sturz Kim Il Sungs ein nennenswerter diplomatischer Fortschritt zu verzeichnen sein wird, und in der Zwischenzeit bleibt die Gefahr eines Zusammenstoßes zwischen Nord-Korea und Süd-Korea bestehen. Die Olympischen Spiele in Seoul 1988 waren ein großer Erfolg. Es gab aus Furcht vor nordkoreanischen Anschlägen strengste -357-
Sicherheitskontrollen, aber keine Zwischenfälle. (China und die UdSSR, die beide an den Spielen teilnahmen, hatten zugesagt, ihren Einfluß auf Nord-Korea entsprechend geltend zu machen.) Die Spiele boten vielen Süd-Koreanern die Möglichkeit, ihre Unzufriedenheit mit den USA zu demonstrieren. Der grinsende Chauvinismus der amerikanischen TV-Reportagen, in denen Korea und die koreanischen Leistungen bei den Spielen ständig herablassend behandelt wurden, fand in der südkoreanischen Berichterstattung ebenso breiten Raum wie mehrere Zwischenfälle, bei denen sich amerikanische Sportler schlecht benahmen. Umgekehrt waren die Amerikaner über die ständigen antiamerikanischen Demonstrationen, denen sie begegneten, verärgert. Die Koreaner hatten ernstere Sorgen. Der Übergang zur Demokratie war langwierig und schmerzhaft. Eine Parlamentsuntersuchung über die Untaten früherer Militärregierungen deckte ein Geflecht von Korruptionismus auf, das auch den früheren Präsidenten Chun miteinbezog, und legte den Schluß nahe, daß das Kwangju-Massaker ein Resultat verfehlter Regierungspolitik gewesen war. Angehörige der Familie Chuns wurden verhaftet und unter Korruptionsanklage gestellt. Eine Reihe von gewalttätigen Demonstrationen der Studenten und anderer Radikaler zwangen Präsident Roh Tae Woo, sich von seinem Freund und Gönner abzuwenden, und er bestand darauf, daß Chun in einer Fernsehansprache die Nation um Vergebung bat. Dann zog sich Chun in ein Kloster auf dem Land zurück. Die Demonstrationen gingen trotzdem weiter.
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MALAYSIA
Geographie: 330.434 km2. Malaysia umfaßt die Halbinsel (West )Malaysia (131.587 km2) und Ost-Malaysia (Nordborneo) mit den Bundesstaaten Sabah und Sarawak. Bevölkerung: 16,1 Millionen, davon leben 2,5 Millionen in Borneo, der Rest in Malaysia: Ungefähr 7 Millionen sind Malaien, 4 Millionen Chinesen, 1,3 Millionen Inder œ hauptsächlich Tamilen. Der Rest sind eingeborene Stämme in Borneo. Rohstoffe: Zinn, Gummi, tropische Produkte; die Leichtindustrie entwickelt sich rasch. BSP: 1.859$/Einw. Flüchtlinge: 90.000 von den Philippinen, 8.220 aus Vietnam. Die Kommunistische Partei von Malaya, die seit 1948 gegen die Regierung gekämpft hatte, stellte schließlich im Dezember 1989 den Kampf ein. Die 1.200 Guerillas, die noch im Dschungel des Grenzgebietes zu Thailand kämpften, erklärten sich bereit, die Waffen niederzulegen und ins normale Leben zurückzukehren, während die Regierung eine umfassende Amnestie erließ. Die Auseinandersetzung mit Indonesien (siehe INDONESIEN) ist längst vergessen, und die beiden Länder sind jetzt im ASEAN-Pakt Verbündete. 1969 gab es größere antichinesische Ausschreitungen in Kuala Lumpur, bei denen Hunderte Menschen getötet wurden, aber seit damals haben die vorherrschend malaiische Regierung und die chinesischen und indischen Volksgruppen zusammengearbeitet, um soziale Ungleichheiten und Rassenkonflikte abzubauen. In diesen Bemühungen war Malaysia offensichtlich weit erfolgreicher als beispielsweise Sri Lanka. Im Moment ist Malaysia ein Bollwerk der Stabilität und des friedlichen Zusammenlebens der Volksgruppen in einer gefährlichen Welt. Malaysia spielt in einer Reihe aktueller Konflikte eine besondere Rolle. Die kommunistischen Umsturzversuche zwischen 1948 und 1960 wurden vehement zurückgeschlagen œ ein Erfolg, den die Amerikaner mit ihrer Intervention in Vietnam vergeblich nachzuahmen versuchten. Unglücklicherweise steht die malaysische -359-
Erfahrung weltweit einzigartig da. GESCHICHTE Die malaysische Halbinsel kam im 19. Jahrhundert im Zuge der Eroberung des indischen Subkontinents unter britische Verwaltung, vor allem dank der Unternehmungslust des britischen Abenteurers Stamford Raffles. Er begründete 1819 in Singapur ein Handelsimperium, das sich rasch auf die Strait Settlements ausdehnte und zum größten Handelsplatz in Südostasien wurde. Zum Schutz Singapurs weiteten die Briten ihren Einfluß auf die Halbinsel aus. Ein anderer Abenteurer, Sir James Brooke, räumte mit den Piraten von Saráwak an der Nordwest-Küste von Borneo auf und ließ sich als der ‡Weiße Radscha von Saráwak— nieder. Am 10. Dezember 1941 erlitt die britische Marine ein Debakel, schlimmer als Pearl Harbor: Die Japaner versenkten das Schlachtschiff Prince of Wales und den Kreuzer Repulse vor Singapur. Singapur fiel am 15. Februar 1942. Die meisten der zahlreichen britischen und australischen Kriegsgefangenen starben in den Lagern. Die Japaner hetzten die Malaien gegen die Chinesen auf, Tausende Chinesen wurden hingerichtet. Der Widerstandskampf begann zuerst unter den Chinesen, in Malaya und Singapur angeführt von der Kommunistischen Partei, und er wurde grausam unterdrückt. Nach dem Krieg, und nicht zuletzt als eine Auswirkung der demütigenden Niederlage der Briten durch die Japaner, fanden die meisten asiatischen Einwohner des Britischen Empire, daß dessen Tage gezählt seien. Den Briten blieb gar nichts anderes übrig, als ihnen recht zu geben. Der letzte Brooke, der als Weißer Radscha von Saráwak herrschte, wurde 1946 von der Regierung in London enteignet, und Malaya wurde 1957 als ‡Federation of Malaya— unabhängig. 1963 wurden Singapur und die Territorien in Borneo, die noch britische Kolonien oder Protektorate waren, zu dem Bundesstaat zusammengeschlossen, der das heutige Malaysia darstellt. Singapur trat 1965 aus dieser Föderation wieder aus; das Sultanat Brunei, das über reiche Erdölvorkommen verfügt, verweigerte den vorgesehenen Beitritt, verfolgte seinen eigenen Kurs und wurde 1984 unabhängig. -360-
DER NOTSTAND Der Notstand Malayas begann im Juni 1948. Kommunistische Terroristen griffen Regierungsstationen an und überfielen Polizei- und Militärpatrouillen in den Gummiplantagen und Zinngruben-Gebieten. Die ersten drei Opfer waren europäische Plantagenverwalter. Die Aufständischen wollten nach klassischer Guerillastrategie die Wirtschaft untergraben, indem sie Pflanzer und ihre Verwalter töteten, Gummibäume zerstörten und lebenswichtige Anlagen in den Plantagen und Minen sprengten oder niederbrannten. Besonders gerne überfielen sie auch malaysische Beamte. Die meisten Terroristen (CT) der ‡Malayan Communist Party— (MCP) œ sie selbst bezeichneten sich als ‡Min Yuen— œ waren Chinesen, und ihr Kampf war auch ein Produkt des Hasses, den die Japaner gesät hatten. Am erfolgreichsten waren die CT 1949-1951, als es ihnen als ‡Höhepunkt— ihres Treibens gelang, den britischen Hochkommissar Sir Henry Gurney am 6. Oktober 1951 in einem Hinterhalt zu ermorden. Während dieses Notstands wurde jeder zehnte Plantagenbesitzer umgebracht. Die Briten antworteten, indem sie die chinesischen Plantagen- und Minenarbeiter in ‡neue Dörfer— zusammentrieben. Rund 300.000 Arme lebten rund um die Plantagen, und sie waren nach Maos Theorien ‡das Meer—, in dem ‡der Fisch— CT schwimmen konnte. Bis 1952 hatten die Briten diese Siedler in 400 neuen Dörfern zusammengepfercht, die unter strenger Regierungskontrolle standen. Diese Maßnahme bot viele Vorteile, z. B. im Gesundheits- und Hygienewesen, war für die betroffenen Menschen aber auch von großer Härte. Nach der Aufhebung des Notstandes blieben die Dörfer erhalten: Die chinesischen Einwanderer und ihre Kinder hatten zum Teil Hypotheken auf ihre Häuser aufgenommen, und sie waren ein anerkannter Teil der malaysischen Gesellschaft geworden. Als Maßnahme im Kampf gegen die CT wurde jeder Einwohner mit einem Personalausweis ausgestattet. Das gab den Chinesen ein Gefühl von Sicherheit und Zugehörigkeit und trug wesentlich zum Gedeihen des unabhängigen Malaysia bei. Die Politik, die CT von ihrer Unterstützung im Volk und œ noch wichtiger œ von ihren Nachschublinien abzuschneiden, war -361-
erfolgreich. Daran orientierte sich das Modell der ‡strategischen Dörfer—-Politik, die später von den Amerikanern in Vietnam erfolglos nachgeahmt wurde. Darüberhinaus bildeten die Briten ihre Soldaten in den Techniken des Guerillakampfes aus. Kleine Fußpatrouillen durchkämmten den Dschungel und überfielen die CT. Für einen Kampfkontakt mit den CT mußten rund 1.000 Stunden Dschungelstreife aufgewendet werden.. Die Briten stellten sich als die besseren Dschungelkämpfer heraus, und außerdem brachten sie von Borneo eingeborene DayakSpurenleser mit. Sie teilten das Land, das sich topographisch sehr dafür eignet, in Bezirke ein und suchten sie systematisch ab. Sobald ein Bezirk als ‡weiß— deklariert wurde, verlegten die Briten ihre Einheiten und Flugzeuge in den nächsten. So arbeiteten sie sich systematisch von Süden nach Norden durch. Zur Zeit der Unabhängigkeit waren die überlebenden rund 500 CT über die Grenze nach Thailand verjagt. Als Sukamo zehn Jahre später indonesische Guerillas nach Sarawak schickte, bewiesen die Briten, daß sie an Kampfkraft nichts eingebüßt hatten. Die Indonesier wurden mit denselben Methoden besiegt wie die malaysischen Kommunisten. Der grundlegende Unterschied zwischen den Erfahrungen der Briten in Malaysia und denen der Amerikaner in Vietnam (oder denen der philippinischen Regierung heute) ist der, daß der malaysische Aufstand auf eine kleine Minderheit innerhalb einer bestimmten Volksgruppe begrenzt war. Die Mehrzahl der Chinesen unterstützte die CT nicht und wurde durch die neuen Dörfer von ihnen abgesondert, während die malaiische Bevölkerungsmehrheit die Kommunisten aktiv bekämpfte. In Vietnam war eine solche Unterscheidung ebensowenig möglich wie auf den Philippinen. Und die zweite Säule der britischen Strategie, Fußpatrouillen in den Dschungel zu schicken und mit den Guerillas Katz und Maus zu spielen, wurde in Vietnam nicht wirklich ausprobiert. Auf dem Höhepunkt des Notstandes waren œ einschließlich dem Malaysier-Regiment œ 40.000 reguläre Soldaten in Malaysia stationiert, dazu kamen 70.000 Reservisten, hauptsächlich Malaien, -362-
und bis zu 250.000 Milizmänner, die ihre eigenen Dörfer und Gemeinden verteidigten. Die CT waren zu Beginn des Notstands 4.000-5.000 Guerillas stark, in den frühen fünfziger Jahren hatten sie vielleicht 8.000 Mann. Rund 13.000 mutmaßliche Terroristen wurden getötet, die Briten und Malaysier verloren insgesamt 525 Männer.
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PAKISTAN Geographie: Fläche 796.095 km×. Bevölkerung: Rund 110 Millionen Einwohner. Die größten ethnischen Gruppen sind: Pandschabi (65 %), Sindhi (13 %), Beludschi (2,5 %), Paschtu (11 %). 70 Prozent der Bevölkerung sind sunnitische Moslems, 30 % Schiiten, viele davon Ismailiten. Die Staatssprache ist Urdu, aber Englisch ist weit verbreitet. BSP: 350 $/Einw. Flüchtlinge: 3,5 Millionen Afghanen. Am 17. August 1988 wurde der Herrscher von Pakistan, General Mohammed Zia ul-Haq, bei einem Flugzeugabsturz getötet. Drei Monate später, am 16. November, wurden allgemeine Wahlen abgehalten. Es war eine korrekte Wahl, und die ‡Pakistanische Volkspartei— (PPP) unter der Führung von Benazir Bhutto gewann 92 der 215 Sitze in der Nationalversammlung. Sie wurde am 2. Dezember Ministerpräsidentin die erste Frau an der Spitze der Regierung eines islamischen Landes, und mit 35 Jahren jüngster Regierungschef der Welt. Auch sie mußte sich mit den sozialen und wirtschaftlichen Problemen herumschlagen, die bisher jede pakistanische Regierung zum Scheitern gebracht haben, bis sie im August 1990 gestürzt wurde. Als Zia starb, steckte Pakistan mitten in einer tiefen politischen Krise. Sein Tod rief eine ihrer Ursachen wieder ins Bewußtsein: die blutige Fehde zwischen ihm und der Opposition, seit er 1977 Zulfikar Ali Bhutto gestürzt und 1979 aufgehängt hatte. Unter dieser Oberfläche brodelt der Gegensatz zwischen den verschiedenen Regionen Pakistans und zwischen der Armee und den Zivilisten. Seit Pakistan als unabhängiger Staat aus dem Desaster der Aufteilung von Britisch-Indien 1947 hervorgegangen ist, ist es von einer Krise in die nächste getaumelt. Es hat drei Kriege gegen Indien geführt und alle drei verloren (siehe INDIEN). Der dritte, 1971, war der Unabhängigkeitskrieg Ostpakistans, der mit der Staatsgründung von Bangladesch endete (siehe BANGLADESCH). Es gab zwei Militärputsche, der zweite brachte 1977 Zia an die Macht. Es gab starke Oppositionsbewegungen in den Provinzen Baluchistan und -364-
Sind, und in allen Teilen des Landes kam es immer wieder zu Unruhen. Zuletzt haben Flüchtlinge aus Afghanistan in Karachi für Unruhe gesorgt. Das prägende Merkmai der pakistanischen Außenpolitik, seine Feindschaft gegen Indien, führte zu einer engen Allianz mit China, das 1962 einen Grenzkrieg gegen Indien führte. Als ein Symbol dieser Allianz gibt es eine wettersichere Straße von Sinkiang in Westchina über den Himalaya ins nördliche Pakistan. Pakistan übernahm von den Briten ein tiefsitzendes Mißtrauen gegenüber der UdSSR. Es betrachtet Afghanistan als einen Pufferstaat, und als die Sowjets 1979 dort einmarschierten, unterstützte Pakistan natürlich die Widerstandskämpfer. Ebenso erschien es natürlich, daß Indien enge Beziehungen zur Sowjetunion entwickelte, getreu dem Grundsatz, ‡der Feind meiner Feinde ist mein Freund—. Indien ist der einzige unabhängige Staat von Bedeutung, der den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan nicht heftig verurteilt hat. Aus ähnlichen Überlegungen haben die USA Pakistan von Anfang an unterstützt und die amerikanischindischen Beziehungen waren immer kühl; dabei blieb auch unberücksichtigt, daß Indien eine Demokratie ist, während Pakistan fast immer eine Militärdiktatur war. Es gab nur eine kurze Phase der amerikanischen Annäherung an Indien: das war unter Präsident John F. Kennedy, als John Kenneth Galbraith Botschafter in Neu-Delhi war. Nach dem Krieg von 1965 stellten die USA ihre Waffenlieferungen an beide Länder ein œ eine Maßnahme, die aber Pakistan viel härter traf, da Indien weiterhin von der Sowjetunion versorgt wurde. Während des Krieges von 1971 ordnete Präsident Nixon die Bevorzugung Pakistans an, und sein Nationaler Sicherheitsberater Henry Kissinger beeilte sich, dem nachzukommen. Der Washingtoner Kolumnist Jack Andersen erfuhr von dieser Weisung und veröffentlichte sie. Die Bevorzugung nützte Pakistan nichts. Nixons Nachfolger folgten dem eingeschlagenen Weg, auch nachdem pakistanischer Mob im November 1979 die US-Botschaft in Islamabad stürmte und zwei Beamte tötete, ohne daß die Behörden versucht hätten, sie zu schützen. Die Waffenverkäufe an Pakistan wurden unter Carter wieder aufgenommen, und während des Afghanistankrieges wurde Pakistan einer der größten Empfänger -365-
amerikanischer Wirtschaftshilfe. Es gibt allerdings im amerikanischen Kongreß starken Druck, diese Hilfe einzuschränken, einerseits wegen Pakistans Atombauprogramm, anderseits wegen der Heroinherstellung in den Grenzdistrikten œ nahezu ein Drittel der Weltproduktion. GESCHICHTE Auf dem langen Weg zur indischen Unabhängigkeit gab es zwei große politische Lager: die Kongreßpartei, geführt von Nehru, Patel und Gandhi; und die Moslemische Liga, angeführt von Mohammed Ali Dschinnah (bekannt als Quaidi-Azam) und Liaquat Ali Khan. Die Kongreßpartei wollte ein vereinigtes Indien; die Liga trat für einen eigenen moslemischen Staat ein, bestehend aus Nordost-Indien und Ost-Bengalen. Der Nachteil dieser Regelung war œ abgesehen von der tief wurzelnden Feindschaft zwischen den beiden Staaten œ, daß dadurch eine große Zahl Moslems, jetzt rund 90 Millionen, als Minderheit in Indien verblieb und daß zwischen den beiden Teilen des pakistanischen Territoriums rund 1.600 Kilometer indischen Staatsgebietes lagen. Die Unabhängigkeit von 1947 wurde von ausgedehnten Völkerwanderungen und von gewaltigem Blutvergießen begleitet: 12 Millionen wurden aus ihrer Heimat vertrieben œ in Indien und in Pakistan œ, und ungefähr 800.000 Menschen wurden getötet. Aus verschiedenen Gründen, die immer noch heftig diskutiert werden, ist es in Pakistan nicht gelungen, so wie in Indien eine dauerhafte demokratische Regierungsform zu erreichen. Dschinnah starb 1948, und Liaquat Ali wurde 1951 ermordet. Die folgenden schwachen und machtlosen Regierungen sahen sich konfrontiert mit dem Aufruhr der Baluchen und der Paschtunen, vor allem aber mit unüberbrückbaren Differenzen zwischen den beiden Landesteilen. Der fundamentale Konflikt herrschte zwischen den Bengalen, der weitaus größten der ethnischen Gruppen, die bald auch die absolute Mehrheit der Bevölkerung stellte, und den Punjabi. Diese umfaßten 60 Prozent der Bevölkerung von West-Pakistan und dominierten diese Region. Jede Gruppe beanspruchte die Führung der Nation für sich. Unter diesem Druck zerbrach die Zivilregierung, und am 7. Oktober 1958 setzte der Präsident, General Iskander Mirza, die Verfassung außer Kraft und verhängte den Ausnahmezustand. Er ernannte General -366-
Ayub Khan zum Kriegsrechtverwalter. Am 28. Oktober schickte Ayub Khan Mirza ins Exil nach London und übernahm die ganze Macht. Ayub versuchte die wirtschaftliche Stabilisierung nach amerikanischen Vorschlägen und hatte damit einigen Erfolg. Aber auch er scheiterte an der Lösung der grundlegenden Probleme des Landes, und 1965 begann er einen Krieg gegen Indien, den er verlor. 1968 zelebrierte er seine zehnjährige Herrschaft mit pompösen Feiern und provozierte die Pakistani damit derart, daß im ganzen Land der Aufruhr losbrach. Ayub mußte im März 1969 zurücktreten und wurde von einem anderen General, Yahya Khan, abgelöst. Die politischen Parteien wurden wiederbelebt, und für den November 1970 wurden Wahlen angesetzt. DER KRIEG VON 1971 UND DIE UNABHÄNGIGKEIT VON BANGLADESCH Die wichtigsten Parteien im Land waren die Awami-Liga in Ostpakistan unter Führung von Scheich Mujibur Rahman und die Pakistanische Volkspartei (PPP) von Zulfikar Ali Bhutto, der unter Ayub Khan Außenminister gewesen war. Die PPP war in Sind und im Punjab verankert; sie fand keine Unterstützung in der nordwestlichen Grenzprovinz Paschtunistan oder in Baluchistan. Die Wahlen mußten allerdings verschoben werden, da im November 1970 ein Zyklon Ostpakistan verwüstete und 250.000 Menschenleben forderte. Als sie im Dezember schließlich doch stattfanden, gewann die Awami-Liga 160 der 162 Sitze in Ostpakistan, und die PPP errang 81 der 138 für den Westteil vorgesehenen Mandate. Damit hatte Mujibur die absolute Mehrheit, und er bestand darauf, möglichst schnell die Regierung zu bilden. Er beabsichtigte, die Wahlankündigungen seiner Partei wahrzumachen, was bedeutete, die Zentralregierung in Islamabad mit Ausnahme der Außen- und Verteidigungspolitik zu entmachten. Yahya und Bhutto weigerten sich, dem zuzustimmen. Daraus ergab sich ein völliges Patt, und am 25. März 1971 verhängte Yahya den Ausnahmezustand über Ostpakistan, löste die Awami-Liga auf und ließ ihre Führer, einschließlich Mujibur, unter der Anschuldigung des -367-
Verrates verhaften. In Ostpakistan waren 40.000 Soldaten der Regierungsarmee stationiert, die rasch auf 75.000 Mann verstärkt wurden. Sie unterdrückten die 75 Millionen Bengalen mit grausamer Gewalt, und bis zum Ende des Jahres hatten sie rund 300.000 Menschen getötet. (Bangladesch behauptet jetzt, es seien 3 Millionen Tote gewesen œ eine klare Übertreibung). Am 14. April 1971 riefen Mujiburs überlebende Gefährten in einem Dorf nahe der indischen Grenze ein unabhängiges Bangladesch aus, aber als die pakistanische Armee vorrückte, gingen sie klugerweise über die Grenze nach Kalkutta. Indien bot Bangladesch jede Unterstützung. Es bildete bengalische Guerillakämpfer aus œ die Mukti Bahini. Eine ihrer ersten ‡Taten— war die Ermordung des Gouverneurs von Ostpakistan, Abdel Monen Khan. Bald wuchs die Widerstandsarmee auf 100.000 Mann an, angeführt von bengalischen Offizieren, die aus der pakistanischen Armee desertiert waren. Ein Flüchtlingsstrom von Bengalen ergoß sich über die Grenze nach Indien. Am Ende waren es mehr als 10 Millionen. Nixon unterstützte die Regierung in Islamabad, obwohl es klar war, daß die Einheit des Landes nicht wiederhergestellt werden konnte. Kissinger benützte die Regierung Yahya als seinen supergeheimen Kanal nach China, und im Juli, während der Presse mitgeteilt wurde, daß er krank sei, flog er von Islamabad nach Peking. Die propakistanische Politik der USA erzeugte in Indien heftigen Widerstand, und so kam es im August zu einem Zwanzig-JahresVertrag über Frieden, Freundschaft und Zusammenarbeit mit der Sowjetunion. Indira Gandhi reiste durch die Hauptstädte des Westens und Moskau, um allen klarzumachen, daß Indien zum Eingreifen gezwungen sein würde, wenn Pakistan nicht seinen Krieg im Ostteil des Landes beendete. Indien untersagte pakistanischen Flugzeugen, indisches Staatsgebiet zu überfliegen, so daß die Maschinen die lange Route über Sri Lanka nehmen mußten. Die Massaker wurden immer häufiger, und der Guerillakampf nahm an Ernsthaftigkeit zu. Die Guerilleros kündeten für November eine Generaloffensive an, und am 2. November überschritten indische Truppen an mehreren Stellen die Grenze zu Ostpakistan und stießen auf Dacca vor. Später stritt Indien die Invasion ab und stellte sie als -368-
Antwort auf einen pakistanischen Angriff dar. Yahya rief den nationalen Notstand aus und begann in seiner Verzweiflung die Vorbereitungen für einen Krieg gegen Indien an allen Fronten. Am 3. Dezember versuchte die pakistanische Luftwaffe, die Taktik der Israelis aus dem Sechs-Tage-Krieg zu kopieren und die indische Luftwaffe auf dem Boden zu zerstören. Der Versuch mißlang. 1967 hatten die Israelis Ägypten völlig überrascht und den Krieg in einem dreißigminütigen Luftkampf gewonnen. 1971 griffen die Pakistani die falschen Flugplätze an, und wenn sie die richtigen fanden, verfehlten sie die Flugzeuge; im Gegenzug wurden ihre Maschinen von den Indern angegriffen und zerstört. Am 4. Dezember schickte Indien ganz offen seine Armee nach Ostpakistan und besiegte die pakistanischen Truppen in fünf Angriffskeilen. Die Pakistani ergaben sich am 16. Dezember. Zur gleichen Zeit hatten indische Truppen bereits die Grenze zu Westpakistan überschritten. Kissingers Abneigung gegen Indien ist bemerkenswert. Er behauptet, es habe die reale Gefahr bestanden, daß Indien œ mit Unterstützung der Sowjetunion œ auch Westpakistan angegriffen hätte, um Kaschmir zu annektieren. Er behauptet ferner, daß es das Verdienst der amerikanischen Diplomatie gewesen sei, Druck auf Moskau ausgeübt zu haben, Indien in diesem Vorhaben zu entmutigen. Wie auch immer, am 17. Dezember verkündete Indira Gandhi einen einseitigen Waffenstillstand. Yahya Khans Militärregierung brach zusammen. Er trat am 20. Dezember zurück, und Ali Bhutto übernahm die Macht. Es war ein ähnlicher Ablauf wie bei den griechischen Obristen nach Zypern und bei der argentinischen Junta nach dem Falklandkrieg. Während seiner viereinhalb Jahre dauernden Regierungszeit war Bhutto zwar erfolgreich in der Wiederherstellung des nationalen Selbstvertrauens und der Schaffung eines Einheitsgefühls, aber er rief bei der Armee und großen Bevölkerungsteilen heftigen Widerstand hervor. Die PPP gewann die Wahlen vom März 1977, was Unruhen und Protestaktionen in den Provinzen auslöste, die von der Opposition beherrscht wurden. Am 5. Juli 1977 putschte die Armee, und der Stabschef Zia ul-Haq rief sich zum Präsidenten aus. Am 4. August -369-
1979 ließ Zia schließlich Ali Bhutto, ungerührt von weltweiten Regierungsprotesten, unter der Anklage eines Mordkomplottes gegen einen politischen Rivalen hängen. Als Zia starb, stellten die Flüchtlinge aus Afghanistan und Iran für Pakistan ein ernsthaftes Problem dar. Mehr als 3,5 Millionen Afghanen leben in Pakistan, die meisten davon in Flüchtlingslagern in den nordwestlichen Grenzprovinzen, aber auch viele im Land verstreut. Dazu kommen rund 20.000 persische Flüchtlinge, die hauptsächlich in Karachi leben. Zwischen den afghanischen Fraktionen gibt es ständige Spannungen œ Schiiten und Sunniten, Gefolgsleute des Ajatollah und seine Gegner eine Situation, die vor allem in Karachi noch durch den Konflikt zwischen Biharsi, Flüchtlingen aus Ost-Indien und anderen Pakistani verschärft wird. Hunderte Menschen sind bei Attentaten, Bombenanschlägen und Unruhen getötet und verwundet worden. 1987 starben mehr als 200 bei Bombenexplosionen; allein am 14. Juli 1987 kamen bei Autobombenattentaten in Karachi 72 Menschen ums Leben, und Hunderte wurden verletzt. Die pakistanische Regierung hofft, daß die afghanischen Flüchtlinge in den nächsten Jahren zurückkehren werden, aber deswegen werden die Probleme Pakistans nicht sofort kleiner werden. Ein weiteres Problem ist auch, daß Indien das Nachbarland beschuldigt, die aufständischen Sikhs im Punjab zu bewaffnen. Pakistan steht an der Schwelle zur Herstellung seiner ersten Atomwaffen. (Indien hat seine entsprechenden Fähigkeiten bereits unter Beweis gestellt.) 1987 wurde aufgedeckt, daß pakistanische Geschäftsleute in verschiedenen Staaten, einschließlich der USA und Kanada, die einzelnen Bestandteile gekauft haben, die zur Errichtung der Anlagen benötigt werden, um Plutonium aus nuklearem Brennmaterial zu gewinnen. Dieser Plan ging offensichtlich direkt von der Regierung aus. Im Mai 1988 veröffentlichte die New York Times einen aus US-Regierungsquellen stammenden Bericht, daß Pakistan mit Erfolg eine Boden-Boden-Rakete getestet habe, die einen atomaren Sprengkopf nach Delhi oder Bombay tragen könnte. Indien hatte eine ähnliche Rakete im Februar erprobt. Im Dezember 1985 hob Zia das Kriegsrecht auf, das er 1977 -370-
verhängt hatte. Das politische Leben blühte wieder auf, und Benazir Bhutto, die Tochter des getöteten Ministerpräsidenten, betrat als Führerin der PPP die politische Arena. Es gab eine Nationalversammlung, einen Ministerpräsidenten, eine Regierung und eine Verfassung, aber in Wahrheit war alles Schwindel. Zia blieb der absolute Herrscher, der Diktator des Landes. Am 29. Mai 1988 löste er ohne Befragen der Regierung das Parlament auf œ die von ihm eingesetzte Zivilregierung hatte Zeichen von Unabhängigkeit erkennen lassen. Er entließ den Ministerpräsidenten Mohammed Khan Junejo, den Führer der Moslemischen Liga, und setzte Wahlen für November 1988 an. Diese Meldung wurde allgemein mit großer Skepsis aufgenommen; Benazir Bhutto war nicht die einzige, die massiven Wahlschwindel erwartete. Am 17. August 1988 wurde Präsident Zia getötet, als seine Luftwaffen-C-130 kurz nach dem Start abstürzte. Zia hatte einen Stützpunkt inspiziert, und an Bord waren mehrere hohe Offiziere und der amerikanische Botschafter Arnold Raphel. Einer der Toten war der Generalstabschef Akhtar Abdul Rahman, der die ausgedehnten Operationen zur Versorgung des afghanischen Widerstandes mit Waffen geleitet hatte. Zia war ein vehementer Unterstützer dieses Widerstands, und seine Gefolgsleute halten es für möglich, daß der afghanische Geheimdienst an diesem Flugzeugabsturz schuld ist. Die Untersuchungskommission konnte aber keine Anzeichen von Sabotage feststellen, und es bleibt offen, ob das Flugzeug von einer Rakete getroffen worden oder in der Luft explodiert ist. Die neue Regierung versprach, die Wahlen wie angekündigt im November abzuhalten, und der Interimspräsident Ghulam Ishaq Khan und der neue Generalstabschef Mirza Aslam Beg hielten dieses Versprechen ein. Die Wahlen waren seit 1972 das erste echte Lebenszeichen der Demokratie in Pakistan, und es gab einen heißen Kampf zwischen verschiedenen Parteien. Benazir Bhutto gelang es, die PPP über das Kernland Sind ihres Vaters hinaus durchzusetzen, aber sie benötigte (mit 92 von 237 Parlamentssitzen die relativ stärkste Partei) immer noch die Unterstützung anderer Parteien für eine regierungsfähige Mehrheit. Sie brauchte auch die Unterstützung der Armee. So versprach sie, die Privilegien und die Machtfülle der Armee nicht anzutasten und die afghanischen Rebellen weiterhin zu -371-
unterstützen. Anders als Corazon Aquino auf den Philippinen wurde Benazir Bhutto nicht von einer Volksbewegung gegen ein verhaßtes Regime zum Sieg getragen. Im Gegenteil, Zia war sehr populär; mehr als eine halbe Million Menschen nahm an seinem Begräbnis teil. Und Aquino kontrollierte das Militär. Das tat Bhutto nicht. Sie mochte Ministerpräsidentin sein, aber die wahre Macht im Land übte weiterhin die Armee aus, und ihr Kommandeur, General Beg. Bhuttos eigene Partei ist in sich tief zerstritten, und die Oppositionsparteien, vor allem im Punjab, hätten sie jederzeit stürzen können. Nach dem Tod Zias war das Land genauso zersplittert wie 11 Jahre zuvor, als er die Macht übernommen hatte. Die Beziehungen mit Indien waren kaum verbessert, und die Wirtschaft war stark von amerikanischen Zahlungen abhängig, aber auch von den Überweisungen der pakistanischen Arbeiter am Persischen Golf. Bhutto mußte sich auch mit den Auswirkungen des Krieges in Afghanistan herumschlagen, vor allem mit den 3,5 Millionen Flüchtlingen, und auch mit dem enormen Potential an Waffen, das überall im Land verstreut ist. Am 6. August 1990 löste Staatspräsident Ghulam Ishaq Khan das Parlament auf. Er entließ die Regierung Bhutto und ordnete die Ausschreibung von Neuwahlen an. Gleichzeitig wurde der Ausnahmezustand ausgerufen. Ishaq Khan warf der Ministerpräsidentin ‡Machtmißbrauch und Korruption— vor. Bhutto bezeichnete die Maßnahmen der Präsidenten als ‡illegal und verfassungswidrig— und meinte, der Staatspräsident: sei vom Militär zu diesem Schritt gezwungen worden. Ishaq Khan ernannte den konservativen Oppositionsführer Ghulam Mustafa Jatoi zum geschäftsführenden Ministerpräsidenten und kündete für den 24. Oktober Neuwahlen an. Abgesehen von den ständigen innenpolitischen Problemen war Pakistan in eine ernste Krise geschlittert. Die Drohung des Kriegsgegners Indien, um den Kaschmir-Konflikt in einer neuen Runde fortzusetzen, bot zwar ein nationales Ventil, aber die Lage im Land verschaffe sich, im ersten Halbjahr 1990 waren Hunderte Menschen ums Leben gekommen œ bei Massendemonstrationen, bei -372-
Scharmützeln, bei Volksgruppen.
Überfällen
und
Kämpfen
zwischen
den
BALUCHISTAN Baluchistan ist die größte pakistanische Provinz, aber da sie hauptsächlich aus Bergen und Wüste besteht, hat sie die wenigsten Einwohner. Es gibt ungefähr 6 Millionen Baluchen; die vier Millionen in Pakistan besiedeln das Gebiet westlich des unteren Industales; der Rest lebt in einem größeren Teil des südlichen Afghanistan und im südöstlichen Iran. Sie haben lange um einen eigenen Staat gekämpft. Ihre Aufteilung auf drei Staaten, in denen sie überall mit Mißtrauen betrachtet und verfolgt werden, ist eine historische Panne, eine weitere Auswirkung des gedankenlosen imperialistischen Expansionismus der Briten im 19. Jahrhundert. 1973 wurde aus den ständigen Stammeskämpfen und den Widerstandsaktionen gegen die Regierung ein regelrechter Aufstand. Am Höhepunkt der Auseinandersetzungen kämpften 55.000 Stammesangehörige in den Guerillaarmeen. Ali Bhutto setzte 70.000 Soldaten zu ihrer Niederwerfung ein. Der Schah von Persien fürchtete, daß die Unruhen auf die Baluchen in seinem Land übergreifen könnten und stellte 25 Kampfhubschrauber mit Besatzungen ab. Die Hubschrauber waren die gleichen wie in Vietnam, und genauso zerstörten sie auch die Dörfer der Baluchen œ genauso wie die Sowjets in Afghanistan. Die pakistanische Luftwaffe bombardierte Dörfer und vermutete Guerillastützpunkte, während Afghanistan zum Schutz der Stämme mit Krieg drohte. Aber es war eine leere Drohung: Afghanistan hatte mit seinen eigenen Problemen genug zu tun. Ende 1974 waren die Rebellen in ihre Bergstellungen zurückgetrieben worden, und dort bleiben sie auch. 1976 wurden zwei Armeedivisionen gegen sie losgeschickt, und hin und wieder finden Strafexpeditionen in die Berge statt. Die geschätzten Verluste auf beiden Seiten betragen etwa 3.000 Menschen. PASCHTUNISTAN Der Widerstandskampf in der nordwestlichen Grenzprovinz war nie -373-
so ernsthaft wie in Baluchistan, aber das Gefahrenpotential ist weit größer. Die Paschtunen (oder Paschtu) sind weit mehr œ 11 Millionen Menschen gegen 4 Millionen pakistanische Baluchen. Sie sind mit der modernen Kriegführung besser vertraut, und der Krieg in Afghanistan hat die Durchschlagskraft des Guerillakampfes in diesem abgeschlossenen und schwierigen Bergland erwiesen; außerdem sind dadurch enorme Mengen an Waffen ins Land gekommen. Die Paschtunen sind zwischen Pakistan und Afghanistan aufgeteilt, und viele Jahre lang forderte die Regierung in Kabul regelmäßig die Abtretung von Paschtunistan. Von den 3,5 Millionen afghanischen Flüchtlingen in Pakistan sind die meisten Paschtunen. Mitte der achtziger Jahre versuchte die Zentralregierung in Islamabad, ihre Herrschaft über die Grenzprovinzen zu verstärken, da das Anwachsen des Opiumhandels die Beziehung zu den USA ernsthaft belastete. Im März 1986 schickte die Regierung eine kleine Streitmacht œ angeblich 8 Bataillone stark œ, um einen Stammesführer in der Gegend des Khyber-Passes zu befrieden. Es war sinnlos. Der Opiumhandel blühte weiter, und der Schmuggel über den Khyberpaß erreichte ein staunenswertes Ausmaß: Güter aus Osteuropa und der Sowjetunion œ vom Eiskasten bis zum Kaviar œ wurden in Grenzstädten offen gehandelt, so wie auch jede erdenkliche Schußwaffe. Das wurde alles mit amerikanischem Geld finanziert, das die Mudjaheddins hereinbrachten, durch internationale Hilfsorganisationen, die mit den Flüchtlingen zusammenarbeiteten, und durch die riesigen Profite aus dem Opiumhandel. Zia träumte von einer sauberen Islamischen Republik Pakistan œ statt dessen herrschte er über eine uneindämmbare Flut der Korruption.
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PHILIPPINEN
Geographie: Der Archipel erstreckt sich über rund 1.600 Kilometer in nordsüdlicher Richtung. Die 7.103 Inseln umschließen eine Fläche von rund 300.000 km2. Bevölkerung: 56 Millionen Einwohner mit acht Hauptsprachen: die Staatssprache Filipino (von Tagalog abgeleitet und aus nationalistischen Gründen umbenannt); Englisch und Spanisch sind ebenfalls Amtssprachen. Filipino ist Muttersprache von ungefähr 30 % und wird von rund 55 % der Bevölkerung gesprochen. 85 % der Einwohner sind Katholiken, 5 % Protestanten, 5 % Moslems, der Rest hängt Naturreligionen an. BSP: 570 $/Einw. Flüchtlinge: Ins Ausland: 90.000 (hauptsächlich Moslems) nach Malaysia. Ins Land: 8.800 aus Vietnam, 2.920 aus Laos, 230 aus Kambodscha. Nach zwanzigjähriger Amtszeit wurde Präsident Marcos am 26. Februar 1986 von der Macht verjagt. Seine Nachfolgerin wurde Corazon Aquino, die Witwe von Benigno Aquino, des 1983 ermordeten Oppositionellen. Präsidentin Aquino muß sich mit unglaublichen wirtschaftlichen Problemen herumschlagen. Auf Mindanao, der wichtigsten Insel im Süden der Philippinen, herrscht seit vielen Jahren ein Aufstand moslemischer Extremisten, und von der Insel Luzon im Norden geht eine kommunistische Revolte aus. Über dem Land hängt das Damoklesschwert eines Militärputsches. Seit ihrem Amtsantritt hat es bereits mehrere gescheiterte Umsturzversuche gegeben, und die Macht der kommunistischen ‡Neuen Volksarmee— (NPA) hat weiter zugenommen. Aquino und ihre Gefolgsleute, die im Namen der Freiheit Panzer und Maschinengewehre besiegt haben, mußten die deprimierende Feststellung machen, daß Marcos nicht die Wurzel der Probleme des Landes war, sondern ein Symptom für das System. GESCHICHTE Vor der Landung der Spanier im Jahr 1521 hatten die Philippinen -375-
keine nationale Geschichte. Es war anders als in Java oder Vietnam, wo schon tausend Jahre vor der europäischen Kolonialisierung blühende Staatswesen bestanden hatten, Länder, deren Völker heute die Kolonialzeit als Zwischenspiel in einer langen Geschichte betrachten können. In der Geschichte der Philippinen gibt es vor der Landung von Ferdinand Magellan auf Cebu, einer Insel im Zentrum des Archipels, kein nennenswertes Ereignis, und dieses Bewußtsein einer Nation auf der Suche nach einer eigenen Identität ist ein wesentliches Element der modernen Geschichte des Landes. 380 Jahre lang waren die Philippinen der abgelegenste Teil des Spanischen Weltreichs. Manila war eine Handelsstation, wo Silber aus Potosi in Südamerika gegen Seide aus China getauscht wurde. Zweimal jährlich überquerte die mit Schätzen angefüllte Acapulco-Galleone den Pazifik in beiden Richtungen. Bis 1821 wurden die Philippinen von Mexiko aus regiert, und während dieser ereignislosen Jahrhunderte war das einzige Außergewöhnliche eine kurze Besetzung von Manila durch die Briten, im Verlauf des Siebenjährigen Krieges, von 1762-1766. Die spanische Herrschaft in Manila hatte auf die übrigen Inseln wenig Einfluß. Nur fünf Prozent der heutigen Bevölkerung sprechen Spanisch. Der bedeutendste Beitrag Spaniens war religiöser Natur: 85 % der Bevölkerung sind katholisch. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts büßte Spanien allmählich die Macht über die Reste seines Kolonialreiches ein. Auf Kuba herrschte der Aufstand, und auf den Philippinen begann eine nationale Erhebung. Die spanischen Behörden versuchten sie zu unterdrücken, indem sie die intellektuelle Leitfigur des Landes, Jose Rizal, erschossen und den militärischen Führer der Rebellen, Emilio Aguinaldo, korrumpierten, aber das Ende der spanischen Herrschaft zeichnete sich bereits ab. Am 15. Februar 1898 explodierte im Hafen von Havanna das amerikanische Schlachtschiff USS Maine. Möglicherweise war es auch ein Unglücksfall, jedenfalls machten die Amerikaner daraus einen Casus Belli und erklärten Spanien den Krieg. Im Mai zerstörte Admiral Dewey ein spanisches Geschwader auf den Philippinen. Am 1. Juli stürmte Theodore Roosevelt in Kuba den San Juan Hill, die kubanische Festung Santiago ergab sich am 17. Juli, und am 4. August landeten amerikanische Truppen in Manila. Am 10. Dezember wurde -376-
in Paris ein Friedensvertrag unterzeichnet. Kuba wurde ein unabhängiges amerikanisches Protektorat, und Spanien mußte Puerto Rico, die Philippinen und Guam an die USA abtreten. Das war das Ende der großen Welteroberung, die Ferdinand und Isabella 1492 begonnen hatten, und die USA erwarben auf diese Weise ihre ersten Übersee-Kolonien. Es war ein offener Akt imperialistischer Gewalt, nichts anders als die Eroberungen der Europäer während der letzten Jahrhunderte. Das war allerdings nicht Amerikas erster Kolonialkrieg: 50 Jahre zuvor schon hatten die USA einen großen Teil Mexikos kurzerhand annektiert. Der Militärgouverneur von Manila war General Arthur MacArthur, ein Held des Amerikanischen Bürgerkriegs und der Vater von Douglas MacArthur. Die Karriere des Sohnes illustriert eindrucksvoll das beschleunigte Tempo der modernen Geschichte. Er wurde an der ‡Western—-Grenze Amerikas geboren, wo sein Vater Siedler gegen die Indianer beschützte und hatte als Kind noch in Forts gelebt, die von Indianern mit Pfeil und Bogen angegriffen wurden. Später war er Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte im Pazifik, als die ersten Atombomben auf Japan abgeworfen wurden. Die Philippinen bekämpften die neue Besetzung. Arthur MacArthur brauchte zwei Jahre und 150.000 Soldaten, um den Aufstand niederzuschlagen. Agutnaldo verschwand aus der Geschichte (obwohl er lange genug lebte, um die Besetzung durch die Japaner und die Unabhängigkeit der Philippinen zu erleben), und sein Stellvertreter Manuel Quezon wurde zur beherrschenden politischen Figur des Landes. Der US-Präsident McKinley hatte proklamiert: ‡Wir werden die Einwohner der Philippinen erziehen, entwickeln und christianisieren und mit der Hilfe Gottes das Beste für sie tun, was wir können.— Die Amerikaner beschränkten sich darauf, den Philippinern Englisch beizubringen und einen modernen Staat nach amerikanischem Muster zu errichten, mit Exekutive und Legislative, mit Aktienmarkt und Baseball, mit umfassender Schulbildung und Religionsfreiheit. Es gab eine ständige Debatte zwischen den Demokraten Wilsons und den Republikanern Tafts über den Zeitpunkt der Unabhängigkeit der -377-
Philippinen: Taft, der in frühen Jahren Präsident der USZivilverwaltung auf den Philippinen gewesen war, sprach von den Philippinern als von ‡unseren kleinen braunen Brüdern—, und er war der Meinung, sie sollten in alle Ewigkeit von der amerikanischen Weisheit geführt werden. Die Angehörigen der Elite der Philippinen œ die ‡ilustrados— œ paßten sich leicht ans amerikanische System an. Ihre Privilegien und ihr Landbesitz blieben gewahrt, und sie gelangten unter amerikanischer Anleitung zu vermehrtem Reichtum. Die Diskussion über die Unabhängigkeit wurde unter der Regierung von Franklin D. Roosevelt beendet, der einen Commonwealth der Philippinen begründete œ praktisch eine philippinische Selbstverwaltung unter amerikanischer Aufsicht, der zehn Jahre später die volle Unabhängigkeit folgen sollte. Dieser Commonwealth wurde 1935 errichtet, und Quezon wurde zum Präsidenten gewählt. Er engagierte den pensionierten General Douglas MacArthur für den Aufbau und das Oberkommando einer philippinischen Armee. Die Japaner griffen die Philippinen am 7. Dezember 1941 an, zehn Stunden nach Pearl Harbor. MacArthur, der nunmehr neben dem Kommando über die philippinische Armee das Oberkommando über alle amerikanischen Streitkräfte im Fernen Osten innehatte, erklärte Manila zur Offenen Stadt und zog sich auf die Festungsanlagen der Halbinsel Bataan und der Insel Corregidor in der Bucht von Manila zurück. Die Japaner besetzten Manila am 2. Januar 1942, aber die Festungen ergaben sich erst nach fünfmonatiger Belagerung. Präsident Quezon hatte das Land bereits verlassen, und MacArthur wurde der Rückzug nach Australien befohlen. Er schwor, zurückzukehren. Die ‡ilustrados—, denen es unter den Amerikanern so gut gegangen war, fanden, daß es sich mit den Japanern gleichermaßen gut auskommen ließ, und kollaborierten offen. Die Japaner setzten eine Quisüng-Regierung ein, deren Präsident Jose Laurel wurde. Er gehörte einer prominenten Ilustrado-Familie an, und sein Sohn wurde Aquinos Vizepräsident. Die Mehrzahl der Philippiner haßte die Japaner und bekämpfte sie. Die Kluft zwischen der Elite des Landes und den Bauern, weiterhin das soziale Hauptproblem des Landes, wurde dadurch erheblich -378-
vertieft. Den meisten Philippinern erschienen die Angehörigen der Oberschicht als Landesverräter. Im ganzen Land herrschte Guerillakrieg gegen die Japaner, der einzige in Südost-Asien. Auf den Philippinen konnten sich die Japaner nicht als Befreier darstellen, wie sie es in Indonesien, Malaya, Indochina und Burma taten. Sie waren Invasoren und Besatzer. Die Philippinen verloren in diesem Krieg eine Million Menschen, die meisten von ihnen Zivilisten. Die Kämpfe dauerten bis zum letzten Tag des Krieges an. Insgesamt kämpften 260.000 Männer in den Guerilla-Einheiten, darunter auch Ferdinand Marcos. Die schlagkräftigste Guerillagruppe war die ‡Hukbalahap— (Antijapanische Volksarmee, Huk), in Zentral-Luzon. Sie wurde vom Kommunisten Luis Taruc geführt und beherrschte am Ende des Krieges den Großteil der Insel. Die Huk organisierten eine Landreform und setzten im Land Bauernsowjets ein, während sie die Japaner bekämpften. Am 20. Oktober 1944 landete MacArthur auf Leyte, einer Insel im Zentrum des Archipels, und kämpfte sich bis Ende Januar 1945 nach Manila durch. Die japanische Marine grub sich in Manila ein und zerstörte den Großteil der Stadt œ sie wurde so schwer beschädigt wie vergleichsweise Berlin, Warschau oder Budapest. Die Japaner ermordeten 100.000 philippinische Zivilisten, wahllos verstümmelten und töteten sie Kinder und Erwachsene. Das komplette Geschäftsviertel und 80 % der südlichen Wohnviertel, dazu 75 % der Fabriken wurden zerstört. 1945 lag die Pro-Kopf-Produktionsquote tiefer als 1899, und das Bruttonationalprodukt war auf 39 % des Standes von 1937 gefallen œ als die Philippinen noch unter den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise gelitten hatten. DIE UNABHÄNGIGEN PHILIPPINEN Am 4. Juli 1946 wurden die Philippinen unabhängig. Es war eine neue Art der Unabhängigkeit, die später als Neo-Kolonialismus bezeichnet wurde. Die Vereinigten Staaten kontrollierten die Wirtschaft der Philippinen so vollständig wie die Bananenrepubliken in Zentralamerika. Im Kongreß wurde ein Paritätsabkommen beschlossen, das den US-Firmen gleiche Rechte wie den -379-
einheimischen Firmen garantieren sollte, um die Wirtschaft des Landes zu entwickeln. Die amerikanischen Stützpunkte sollten für 99 Jahre gepachtet werden, und die USA sollten den Wechselkurs des Peso steuern. Der Kongreß bot Ausgleichszahlungen für die Kriegszerstörungen an, aber nur unter der Bedingung, daß die philippinische Regierung das Stützpunktabkommen und das Paritätsgesetz akzeptieren würde. Die Philippiner waren natürlich gegen diese Einschränkungen ihrer Souveränität, die seither auch laufend abgebaut worden sind. Sie verstanden auch nicht, daß Japan und Deutschland, zwei frühere Feinde, weit großzügigere Wiederaufbauhilfe als die Philippinen erhielten, die loyal an der Seite der USA gekämpft hatten. Darüber hinaus spaltete die Frage der Kollaborateure die philippinische Gesellschaft. MacArthur ordnete an, daß Manuel Roxas, ein alter Freund, der in der Kollaborationsregierung Vizepräsident gewesen war, unschuldig sei. Bei den Wahlen von 1946 besiegte Roxas Präsident Sergio Osmena, der Quezon nach dessen Tod 1944 nachgefolgt war und die Kriegszeit in Washington zugebracht hatte. 1948 begnadigte Roxas alle Kollaborateure (ein einziger wurde vor Gericht gestellt). 1947 begann der Aufstand der Huk. Es war zum Teil ein typischer Bauernaufstand, zum Teil eine kommunistische Revolte. Der Verteidigungsminister Ramon Magsaysay schlug ihn nieder; 1950 nahm er die Huk-Führer gefangen und zerschlug ihre Einheiten. Ein kleiner Rest überlebte in den Bergen von Luzon, übte allerdings nur mehr eine Art Banditenunwesen aus. Viele ehemalige Huks wurden in Mindanao angesiedelt, was zwar ihre Probleme löste, aber dafür die Moslems aufbrachte, die dort lebten und nun fürchteten, von den Christen aus dem Norden übervölkert zu werden. Die Vorkriegsoligarchie erlangte wieder die volle Kontrolle über das Land. Die Regierung funktionierte nach dem Patronanzprinzip, einer Art institutionalisierter Korruption. Die Oligarchen wurden reicher, aber die rasch anwachsende Bevölkerung, von der Millionen nach Manila zogen, versank in tiefe Armut. Die riesigen Waffenmengen, die aus dem Krieg übriggeblieben waren, trugen zur Verschärfung der sozialen Konflikte bei, und Manila wurde eine Stadt mit einer der welthöchsten Kriminalitätsraten. -380-
1965 wurde Marcos zum Präsidenten gewählt. Er präsentierte sich als Kriegsheld, der mit der Korruption der bisherigen Regierung aufräumen würde. Tatsächlich war seine Amtsführung unanfechtbar, bis er 1969 beschloß, als erster philippinischer Präsident wiedergewählt zu werden. Das gelang ihm auch œ durch Beamtenbestechung und Ströme von Geld, die in die Provinzen flossen. Die politische Gewalt nahm während Marcos‘ offizieller zwei Amtsperioden stark zu. Der Konflikt zwischen der Polizei und den Studenten wurde zu einem der Katalysatoren, die zum Ausbruch der kommunistischen Rebellion beitrugen (siehe unten NPA). Im Oktober 1970 wurden Handgranaten in eine Parteiversammlung der oppositionellen Liberalen geworfen, die zehn Menschen töteten, und im November 1971 starben bei einem Anschlag auf eine Wahlversammlung mehr als 200 Menschen. Am 22. September wurde (nach unterschiedlichen Aussagen) auf das Auto des Verteidigungsministers Juan Ponce Enrile eine Bombe geworfen (oder eine Salve abgefeuert). Marcos nützte diesen Zwischenfall, um das Kriegsrecht zu verhängen. Der Minister war zu der Zeit nicht im Auto gesessen, und Jahre später gestand er ein, was man bereits damals vermutet hatte œ daß das Attentat fingiert worden war, damit Marcos die demokratische Regierung ausschalten konnte. Auch etliche andere ‡Bombenanschläge— gelten als sein Werk. Das Dekret, in dem das Kriegsrecht verhängt wurde œ die Proklamation 1081 œ war bereits am 17. September unterschrieben worden. Marcos löste den Kongreß auf und suspendierte die Habeas CorpusAkte ebenso wie die Pressefreiheit. Er ließ Oppositionsführer verhaften, darunter auch Senator Benigno Aquino, verbot alle Oppositionszeitungen und privaten Radiostationen und errichtete binnen weniger Tage eine regelrechte Diktatur. Er beschrieb sein neues Regime als ‡konstitutionellen Autoritarismus—. Er hob auch die Verfassung auf, in der ein Artikel die Begrenzung der Präsidentschaft auf zwei Wahlperioden vorsah. Viele Philippiner begrüßten den Staatsstreich. Sie waren die politische Gewalt leid, und Marcos überzeugte sie, daß er ihnen Wohlstand und ein ruhiges Leben bieten würde. Er betrog sie. Seine vierzehnjährige Herrschaft war ein Desaster für die Philippinen. Die Demokratie, die das Land von den USA bekommen hatte, war nicht -381-
stark genug gewesen, den Staatsstreich zu verhindern, und da die USA Marcos beinahe bis zu seinem Sturz unterstützten, wurde deren Beliebtheit in den Philippinen erheblich angekratzt. Im Juni 1981 veranstaltete Marcos eine Scheinwahl und verfälschte die Ergebnisse zu seinen Gunsten. Der damalige Vizepräsident der USA, George Bush, der die USA bei der Amtseinführung Marcos‘ vertrat, sagte: ‡Wir bewundern Ihr Festhalten an demokratischen Grundsätzen und an demokratischen Entwicklungen.— Es war ein ziemlich unglücklicher Satz. Die Korruption erreichte ein erstaunliches Ausmaß. Jedermann folgte dem Beispiel von Marcos und seiner Frau Imelda und stahl. Imelda war Gouverneur von Groß-Manila, und ihre Unterschrift mußte unter jedem Regierungsauftrag stehen. Dafür nahm sie einen festen Prozentsatz. Regierungsunternehmen ließen bei amerikanischen Banken gewaltige Kontoüberziehungen auflaufen, so daß die leitenden Beamten sich hübsche Provisionen abzweigen konnten. Als Marcos nach der Revolution schließlich entkam, hinterließ er dem Land eine riesige Schuldenlast, die wohl niemals zurückgezahlt werden kann. Die Regierung Aquino behauptete auch, daß er einige Milliarden Dollar gestohlen und in New York sowie in Banken in der Schweiz und in der Karibik untergebracht haben soll. Der führende Oppositionelle vor dem Staatsstreich war Senator Benigno Aquino, der offensichtlich die Nachfolge Marcos‘ im Präsidentenamt anstrebte. Er wurde während des Staatsstreiches verhaftet, gefoltert, vor Gericht gestellt und zum Tod verurteilt. Das Urteil wurde ausgesetzt, und 1980 gestattete Marcos ihm unter dem Druck der Regierung Carter die Ausreise ins Exil. Im Sommer 1983 entschloß er sich, zurückzukehren und Marcos direkt herauszufordern. Seine Familie und seine Freunde versuchten, ihn davon abzuhalten, aber es war vergeblich. Am 27. August kam er mit einer Linienmaschine aus Tokio. Freunde und Reporter begleiteten ihn, von denen einer die Ereignisse im Inneren des Flugzeugs filmte und auch danach durchs Fenster einige Aufnahmen machte. Im selben Moment, in dem das Flugzeug am Flughafen von Manila ausrollte, stürmten Sicherheitsbeamte hinein und verhafteten Aquino. Er wurde aus der Tür gedrängt und über eine Gangway hinuntergestoßen, die direkt auf die Rollbahn führte. Schüsse fielen, -382-
und Aquino wurde getötet. Die Polizei behauptete, der Mörder sei ein kommunistischer Revolvermann namens Ronaldo Galman gewesen, der unmittelbar darauf selbst von Polizisten erschossen wurde. Niemand glaubte diese abenteuerliche Geschichte, und später gaben Zeugen, einschließlich einiger der Sicherheitsleute zu, daß Aquino in den Hinterkopf geschossen wurde, als er die Stufen auf die Rollbahn hinunterging. Galman war aus einem Polizeiauto herausgeworfen worden, ob tot oder lebendig, ist nicht besonders wichtig; unmittelbar danach wurden in seinen Körper Kugeln gejagt, um die Lügengeschichte zu untermauern. Der Mord war von General Fabian Ver angeordnet worden, einem der loyalsten Henker Marcos‘. Die wirklich interessante Frage war, ob Marcos diesen Mord selbst angeordnet oder stillschweigend gutgeheißen hatte. Der Mord brachte die Philippinen zum Kochen. Hunderttausende Menschen, die vielleicht mit dem Regime nicht einverstanden waren, sich aber niemals zur Opposition zusammengeschlossen hätten, gingen nun auf die Straße. Aquinos Begräbnis wurde zum Anlaß der größten Massendemonstration in der Geschichte der Philippinen. Millionen Menschen aus allen Schichten des Landes, vom Bauern bis zum Banker, formierten sich zu Protestmärschen. Die amerikanische Regierung wurde alarmiert, und die katholische Kirche, die sich bislang soweit wie möglich von jeder organisierten, offenen Opposition ferngehalten hatte, forderte jetzt den Rücktritt Marcos‘. Jaime Kardinal Sin, katholisches Oberhaupt der Philippinen, stellte sich an die Spitze der Bewegung. Marcos war schwer nierenkrank, klammerte sich aber trotzdem mit allen Mitteln an die Macht. Der Schriftsteller William Chapman denkt, daß er sich tatsächlich hätte halten können, wenn er nicht plötzlich beschlossen hätte, für den 7. Februar 1986 Präsidentenwahlen auszurufen, um seine Position zu stärken. Die Wahl wurde ein Fehlschlag. Zum Erstaunen aller gelang es der Opposition, sich im letzten Augenblick zusammenzuschließen und sich auf Corazon Aquino und Salvador Laurel als Kandidaten für das Präsidenten- und Vizepräsidentenamt zu einigen. Das Gelingen dieser Aktion ist vor allem Kardinal Sin zuzuschreiben. Der US-Senator Richard Lugar, damals Vorsitzender des Senatskomitees für auswärtige Beziehungen, der an der Spitze einer Gruppe von -383-
Wahlbeobachtern stand, kommentierte die Geschehnisse: ‡Es spielen sich erstaunliche Dinge ab. Die Wahlauszählung wird so gehandhabt, wie Präsident Marcos es braucht.— Marcos verkündete, daß er die Wahl mit 13 Millionen Stimmen bei 11 Millionen Gegenstimmen gewonnen hätte, aber der Betrug war offensichtlich. In einer Provinz verkündete ein übereifriger Marcos-Anhänger gar ein hundertprozentiges Votum für Marcos und keine Stimme für Aquino. Nach den Wahlen verkündete auch Frau Aquino ihren Sieg und erhob Anspruch auf das Präsidentenamt. Manche hatten eine feine Witterung für die neue Windrichtung, Verteidigungsminister Enrile und Generalstabschef Fidel Ramos wechselten in ihr Lager, und ihre Gefolgsleute kontrollierten das Armeekommando. Als Marcos die nächstgelegenen Militäreinheiten zur Niederschlagung der Meuterei aufrief und gepanzerte Einheiten in die Stadt einzogen, stellten sich ihnen Hunderttausende unbewaffnete Bürger in den Weg und brachten sie zum Stehen. Präsident Reagan schickte einen Sonderbevollmächtigten, Philip Habib, um Marcos zum Aufgeben zu überreden. Der verzweifelte philippinische Präsident rief seinen alten Freund Senator Paul Laxalt an, der ein Vertrauter von Reagan war. Laxalt war eben im Weißen Haus, als ihn dieser Anruf erreichte, und auch er riet Marcos, das Feld zu räumen. Die Amerikaner hatten sich von ihm abgewandt. Das Regime brach wie ein Kartenhaus zusammen. Marcos versuchte, sich über das Fernsehen an die Nation zu wenden und sich von der Nationalversammlung im Amt bestätigen zu lassen, aber Armee und Polizei ließen ihn im Stich. Am 25. Februar schickte das US-Militärkommando vom Luftwaffen Stützpunkt Clark ein Hubschraubergeschwader los, um Marcos, seine Frau Imelda, General Ver und die engsten Vertrauten des Präsidenten in Sicherheit zu bringen. Sie verbrachten die Nacht in Clark Air Base und wurden dann nach Hawaii geflogen, wo US-Zollbeamte Schmuck, Gold und Banknoten im Wert von mehreren Millionen Dollar beschlagnahmten, die sie mit sich führten. Imelda hatte alle ihre Schuhe zurückgelassen, und als erstes ging sie auf dem Militärstützpunkt, wo sie zunächst untergebracht wurden, einkaufen. Das Ehepaar Marcos fand aber keine Ruhe. Staats- und Bundesbeamte, die philippinische Regierung und Behörden in der -384-
Schweiz und in anderen Ländern, wo Marcos sein Vermögen versteckt hatte, machten sich an die Aufdeckung seiner Verbrechen. Besonders intensiv waren die Nachforschungen in New York, wo er Gebäude im Wert von Hunderten Millionen Dollar erworben hatte; die wahren Eigentumsverhältnisse waren verschleiert worden: angeblich waren sie auf den saudiarabischen Finanzmann Adnan Kashoggi überschrieben worden. Wegen dieser vermuteten Gesetzesverstöße wurden Ferdinand und Imelda Marcos in New York angeklagt, und im November 1988 mußte Imelda Marcos bei der formellen Anklageeröffnung anwesend sein. Marcos starb am 28. September 1989. Der Prozeß gegen Imelda Marcos begann schließlich im März 1990, endete aber mit einem Freispruch. DIE MOROS Die Moslems auf den Philippinen wurden von den Spaniern Moros genannt, eine Folge des jahrhundertelangen Kampfes zwischen den Spaniern und den Mauren. Sie sind rassisch und sprachlich von den christlichen Philippinern nicht zu unterscheiden, aber sie haben eine andere Kultur und Geschichte. Die Moros leben hauptsächlich auf den südlichen Inseln, auf Mindanao und im Sulu-Archipel. Sie haben die spanische Herrschaft niemals akzeptiert, und die Spanier waren niemals stark genug, sie tatsächlich zu unterwerfen. In Wahrheit gab es bis zur Errichtung britischer Protektorate in Nord-Borneo in der Mitte des 19. Jahrhunderts (siehe MALAYSIA) keine klaren Gebietsabgrenzungen der Inseln, die von den Holländern, Briten und Spaniern beansprucht wurden. Nach 1960 erst erhoben die Philippinen Anspruch auf Britisch-Nord-Borneo, nunmehr Sabah, und schlossen sich dem indonesischen Widerstand gegen die Einverleibung dieses Gebietes in den Bundesstaat Malaysia an. Während der amerikanischen Periode wurden Mindanao und Sulu mit Gewalt unter die Kontrolle Manilas gebracht. Die Amerikaner ermutigten landlose Bauern von Luzon, sich auf den dünn besiedelten südlichen Inseln niederzulassen, ein Kurs, den die philippinische Regierung später weiterverfolgte. Jetzt gibt es auf Mindanao mehr Christen als Moslems. Daher rührt die Hauptsorge der Moros, in einer christlichen Mehrheit unterzugehen. 1968 gründete eine Gruppe -385-
Moros die ‡Moro-Befreiungsfront— (MNLF). Ihr Vorbild war der indonesische und malaysische Nationalismus, und in den siebziger Jahren sahen sie sich in den arabischen Staaten, von Libyen bis Saudiarabien, nach moralischer und finanzieller Unterstützung um. Nach der Verhängung des Kriegsrechts versuchte Marcos die moslemischen Aktivitäten zu unterdrücken, indem er die Moros entwaffnete. Daraufhin begann der Aufstand der MNLF. Bis 1974 kämpften bereits zwischen 50.000 und 60.000 Guerillas (nach Regierungsangaben), und auf dem Weg über Malaysia wurden sie aus Libyen mit Waffen versorgt. Darüber hinaus schwebte über den Philippinen ständig die Drohung eines arabischen Erdölboykotts. 1977 band der Guerillakrieg in Mindanao zwei Drittel der Kampftruppen der Armee. Marcos gelang es, in den Moro-Gebieten eine gewisse stabile Kontrolle wiederherzustellen, aber er konnte den Aufstand niemals beenden. 1977 wurde in Tripolis zwischen der Regierung in Manila und MNLF-Funktionären ein Abkommen unterzeichnet, und Marcos garantierte den Moros ein Maß an Autonomie sowie Vertretung in der Regierung. Danach tauchten viele der früheren MNLF-Führer wieder aus dem Dschungel auf und nahmen entsprechende Positionen ein. Eine Hardliner-Fraktion, aus dem Exil gesteuert von Nur Misauri, forderte weiterhin die volle Unabhängigkeit für Mindanao, Sulu, Basilan und Palawan, insgesamt rund ein Drittel des Staatsgebietes. Misauri behauptet, daß seit 1972 mehr als 100.000 Moros getötet worden seien; nach anderen Schätzungen ist es ungefähr die Hälfte. Nach der Revolution von 1986 erreichte Präsidentin Aquino ein Abkommen mit der MNLF, und Nur Misauri kehrte zurück. Die neue Verfassung, die 1987 ausgearbeitet worden war, sah für die MoroProvinzen regionale Autonomie vor. Am 19. November 1989 wurde in den betroffenen Gebieten dieser Plan durch eine Volksabstimmung angenommen. Der Widerstand der Moros hat sich nun in drei Gruppen aufgeteilt: die ursprüngliche MNLF, deren Ausgangspunkt die Sulu-Inseln waren, und die ‡Islamische Moro-Befreiungsfront— (MILF) auf Mindanao, von denen jede rund 20.000 Mitglieder für sich reklamiert. Und dann gibt es noch die ‡Reformierte— MNLF. Die Regierung hat -386-
für Mindanao ein großes Wirtschaftsentwicklungsmodell geplant und durch das Angebot von Geld und Macht die Spaltung der Widerstandsbewegungen zumindest gefördert. Im Januar 1988 kam es zu einem heftigen Streit zwischen MNLF und MILF, der in einer Schießerei mit mindestens 20 Toten mündete und 7.000 friedliche Einwohner aus ihren Häusern vertrieb. DIE ‡NEW PEOPLE‘S ARMY— Die Kommunistische Partei (CPP) wurde am 26. Dezember 1968 von einer Gruppe von 11 radikalen Studenten gegründet, die den Ideen Mao Tsetungs anhingen und sich von der offiziellen moskauorientierten KP enttäuscht abgewandt hatten. Sie waren von den radikalen Studentenbewegungen in Europa und den USA sowie von der chinesischen Kulturrevolution inspiriert und beabsichtigten die Aufstellung einer Guerillaarmee außerhalb der Städte, die schließlich nach Maos Beispiel die Städte umzingeln und die Macht ergreifen sollte. Im März 1969 gründeten sie mit einem Arsenal von zwanzig Gewehren und einigen Handfeuerwaffen die ‡New People‘s Army— (NPA). Seit damals hat sich dieses versprengte Häufchen zu einer beachtenswerten militärischen und politischen Macht entwickelt. Ihre Stärke basiert auf der Allianz von ländlicher Unzufriedenheit und Nationalismus, untermauert und geführt durch marxistische Theorie. Allmählich greift sie auf die Städte über und gewinnt in den Slums eine neue Basis. Aus dieser Kombination sind auch die Revolutionen in China und Vietnam entstanden. Die Partei ist die treibende Kraft hinter der ‡National Democratic Front—, die 1973 als Sammelbecken für alle linken Oppositionsgruppen gegründet wurde. Ihr ursprünglicher Führer und Theoretiker war Jose Ma Sison, der unter dem Decknamen Amando Guerrero schrieb. Er wurde 1977 eingesperrt, aber die Revolution ging auch ohne ihn weiter. Präsidentin Aquino amnestierte ihn 1986; diese Geste war ein Versuch, die NPA dazu zu bewegen, die Waffen niederzulegen und am demokratischen Entwicklungsprozeß teilzuhaben. Sison und seine Freunde entwickelten ihre politischen Theorien in den sechziger Jahren. Das Marcos-Regime wurde immer -387-
bedrückender, und die radikalen Studenten wurden vom VietnamKrieg und der alles überschattenden amerikanischen Präsenz auf den Philippinen stark geprägt. Die Demonstrationen gegen die amerikanischen Stützpunkte begannen 1965, und sie nahmen an Heftigkeit derart zu, daß Marcos sie 1972 als Vorwand für die Verhängung des Kriegsrechtes benützen konnte. Sison und seine Genossen studierten Maos ‡Kleines Rotes Buch— und gingen hinaus aufs Land, um die Bauern zu bekehren. Am Anfang hatten sie keinen Erfolg. Sison rekrutierte einen letzten Überlebenden der Huk-Revolte, Commander Dante, den er zum militärischen Führer der NPA machte. Die ersten Unternehmungen waren ein Fiasko. Kleine NPA-Gruppen wurden ständig von der Polizei gejagt, und es gelang ihnen nicht, die geplanten Stützpunkte zu errichten. Die Polizei erbeutete ihre kompletten Archive und veröffentlichte sie. Schließlich zog sich die NPA in abgelegene Gegenden von Luzon zurück, wo man sie in Ruhe ließ. Dante wurde zur gleichen Zeit wie Sison gefangen, aber zu diesem Zeitpunkt hatte die NPA bereits ihre eigenen Anführer hervorgebracht, die den Kampf fortführen konnten. Einer der ersten Erfolge der NPA war ihre Beschützerrolle über den Kaiinga-Stamm in den Cordillera-Bergen im nördlichen Luzon. 1974 plante die Regierung, vier Staudämme und ein riesiges Wasserkraftwerk am Chico zu errichten; dafür hätte ein großes Tal überflutet werden und Tausende Bauern hätten ihre Häuser verlassen müssen. Die NPA wählte den Weg der gezielten Ermordung von Beamten und Ingenieuren, und bald wurde der Plan fallengelassen. Sison schrieb eine Analyse der Fehler der Huks: Rectify Errors and Rebuilt the Party. Er gab zu, daß der größte Fehler der Guerillas in den vierziger Jahren das Ziel einer Staatsstreich-Politik gewesen war. Sie hatten versucht, eine Armee aufzubauen und auf Manila zu marschieren œ und waren besiegt worden. Ihr zweiter Fehler war gewesen, die politische Natur des Guerillakampfes zu unterschätzen: Die Guerilla mußte die Unterstützung der Bauern gewinnen, ehe irgendeine militärische Aktion beginnen konnte. Drittens stellte Sison fest, daß es falsch war, sämtliche Anstrengungen auf Luzon zu konzentrieren, statt sie über das ganze Land zu verteilen. Dieses Dokument wurde zum Handbuch der NPA, und die Guerillas -388-
bereiteten sich auf einen langen Krieg vor. Sie versuchten zunächst, das Vertrauen der Arbeiter in den Zuckerrohrplantagen zu gewinnen, ebenso wie das besitzloser Landarbeiter und kleiner Bauern, bevor sie an militärische Aktionen herangingen. Sie schickten Funktionäre in jeden Winkel des Landes, so daß die philippinische Armee sich wie ein dünner Schleier über das Land hätte ausbreiten müssen, um sie zu erwischen. Während der siebziger Jahre verkündete Marcos immer wieder dramatische Siege über die NPA. Philippiner und Amerikaner lernten, diese Ankündigungen richtig einzuschätzen, die offensichtlich frei erfunden waren, und auch anzunehmen, daß die NPA gar keine richtige Bedrohung darstellte. In der Zwischenzeit folgte die NPA Sisons Instruktionen und baute ihren Einfluß ständig aus. Mitte der achtziger Jahre hatte sie bereits 20.000 Guerillas und 12.000 moderne Waffen, die Partei hatte 30.000 Mitglieder und konnte sich auf eine ‡Massenbasis— von einer Million Menschen stützen. Das war das ‡Wasser—, in dem der kommunistische ‡Fisch— unerkannt schwimmen konnte. Die NPA operierte in 60 der 73 philippinischen Provinzen und reklamierte für sich gehörigen Einfluß in 25 Prozent der ‡Barangays—, dieser besonderen Gruppe von rund 100 Familien-Clans, die das Fundament der philippinischen Gesellschaft bilden. Darüberhinaus hatte sich die NPA als eine wesentliche Kraft in den Slums verschiedener Städte etabliert, einschließlich Davao im südöstlichen Mindanao und Bacolod auf der Insel Negros im Zentrum des Archipels. Die NPA hatte sich wie die sizilianische Mafia zu einer alternativen Ordnungs- und Regierungsgewalt entwickelt. Die Armee und Polizei der Philippinen sind korrupt, ineffizient und brutal. Die Polizei kümmert sich nicht darum, was in den Barrios und abgelegenen Dörfern vor sich geht, und die NPA bietet ihre Dienste an, um ungerechte Landbesitzer, kleine Gauner und untreue Ehemänner zur Räson zu bringen. Ihre Politik der gezielten Ermordung ist höchst populär, und die Partei behauptet, daß die Bauern bereitwillig kleine Beträge abführen œ teilweise Beitrag zum politischen Kampf, teilweise Schutzgeld. Das Marcos-Regime hat sich, einem AI-Bericht von 1988 zufolge, in seinem Kampf gegen die NPA grausamer und systematischer -389-
Foltermethoden bedient. Der Bericht stellt fest: ‡Als Marcos abtrat, gab es ein festgefügtes System von regelmäßiger Menschenrechtsverletzung.— Schon unter dem Kriegsrecht (1972 1981) waren die hauptsächlichen Gesetzesverletzungen willkürliche Verhaftungen, illegale Haft und Folter, aber nachdem es von Marcos aufgehoben wurde, stieg die Zahl der ‡Verschwundenen— œ Menschen, die von den Sicherheitskräften ermordet wurden œ dramatisch an. Amnesty International: ‡Unter den Opfern waren Politiker, Anwälte, Priester, Kirchenaktivisten, Journalisten und Studenten, die alle verdächtigt wurden, an subversiven Aktionen teilzunehmen oder sie zu unterstützen.— Die Morde wurden oft von Verbrecherbanden mit Billigung der Regierung ausgeführt. Viele von ihnen waren von Großgrundbesitzern oder Religionsführern engagiert und hatten Namen wie ‡Lord of the Sacred Heart— œ besser bekannt als ‡Chop-Chop—, da sie ihre Opfer mit der Machete zu verstümmeln pflegten œ, ‡Rock Christ—, ‡The Red Ones— und ‡The Four Ks— (für die Pilipino-Wörter für Sünde, Erlösung, Leben und Besitz). Der Sturz des Marcos-Regimes bedeutete für die NPA keine reine Freude. Es hätte eine Parallele zum Sturz der Regierung Nhu 1963 in Süd-Vietnam sein können, dem eine Reihe von Staatsstreichen und ein starkes Anwachsen des kommunistischen Einflusses gefolgt waren. Aber die neue Präsidentin Corazon Aquino ist sehr populär, und obwohl viele ihrer Anhänger von ihren Aktivitäten und ihrem Scheitern an der unmittelbaren Lösung der Probleme des Landes enttäuscht sind, bleibt sie eine legitime und populäre Führerin des Staates, anders als die lächerlichen und korrupten Generäle, die Vietnam nach Nhu regiert haben. Die Kommunisten haben während der Revolution einen großen taktischen Schnitzer begangen. Sie schlugen die drängenden Angebote der Gemäßigten und Linken nach einer gemeinsamen Oppositionsfront ab und blieben am Weg zurück, so daß sie keinen Anspruch auf ein Stück des Ruhmes haben, zum Sturz Marcos‘ beigetragen zu haben. Im Gegenteil, die Regierung Aquino konnte im Gegensatz zu Marcos mit Recht behaupten, das Volk zu vertreten und daß die Kommunisten gegen die Demokratie kämpfen. -390-
Am 27. Februar 1986, unmittelbar nach der Machtübernahme, befahl Präsidentin 8 Aquino die Freilassung aller politischen Gefangenen, einschließlich Sisons und anderer NPA-Führer. Die Regierung ratifizierte die UNO-Konvention gegen Folter, hob die Marcos-Gesetze über die Inhaftierung politischer Gefangener auf und setzte die Bürgerrechte wieder in Kraft. Dann trat sie in Verhandlungen mit der NPA ein, und im Dezember 1986 wurde ein sechzigtägiger Waffenstillstand vereinbart. Die Kommunisten feierten ihre Freiheit, Fernsehinterviews zu geben und Journalisten in die ‡befreiten Gebiete— einzuladen. Als aber Regierungssoldaten am 27. Januar 1987 das Feuer auf eine Landarbeiterdemonstration in Manila eröffneten und 12 Menschen töteten, brach die NPA die Gespräche ab. Der Waffenstillstand war zu Ende und machte schweren Kämpfen Platz. In den folgenden zwei Monaten wurden mehr als 400 Menschen getötet. Seit damals steht es nicht besonders gut um die Sache der NPA. Die öffentliche Meinung ist mittlerweile vehement gegen den kommunistischen Terrorismus eingestellt. Ein Startversuch der Stadtguerilla in Manila wurde zu einem Fehlschlag. Die NPA schickte 1.200 bewaffnete Männer in die Stadt, die mehr als 100 Polizisten und Beamte töteten. Die Öffentlichkeit war empört, und die Manila-NPABrigade verkündete im Dezember 1987, daß keine weiteren Polizisten mehr getötet werden sollten und daß sie ihre ‡Ziele— sorgfältiger wählen würde. Linksparteien, besonders die von Sison gegründete ‡Partido ng Bayan—, gingen bei den Kongreßwahlen im Mai 1987 und bei Kommunalwahlen im Januar 1988 kläglich ein. Mehr als 100 Menschen wurden anläßlich der Kommunalwahlen bei politischen Gewalttaten getötet. Ein weiteres Problem für die NPA war die Entdeckung von Massengräbern in Mindanao mit Hunderten Toten œ alles Leute, die die NPA wegen ‡Verrates— hingerichtet hatte. Eine lokale Miliz œ die ‡Alsa Masa— (Massen, erhebt euch) œ griff NPA-Stellungen in Agdao an, einem Slumbezirk von Davao, wo sie starken Rückhalt hatte, und vertrieb sie. Die Regierung bewaffnet jetzt örtliche Bürgerwehren, um die Dörfer gegen die NPA zu verteidigen, und viele der Verbrechen, die man früher den Marcos-Schlägertrupps -391-
zuschrieb, werden jetzt den Aquino-Vigilanten angelastet. Amnesty International prangerte an, daß die Menschenrechtsverletzungen 1987 und 1988 markant angestiegen sind, und die Regierung Aquino begann, das Marcos-Regime diesbezüglich einzuholen. 1988 stellte Amnesty fest ‡daß es fundierte Beweise gebe, daß die Bemühungen der Regierung Aquino zum Schutz der Menschenrechte und der Einrichtung eines funktionierenden Überwachungssystems zu großen Verbesserungen geführt habe ... Aber zur Zeit der dritten AI-Inspektion im Juli 1987 hatte die politische Gewalt stark zugenommen, und die Regierung schien zunehmend unwillig oder unfähig, ihre Sicherheitskräfte dazu zu bringen, die Bürgerrechte zu respektieren, die sie ein Jahr vorher so energisch vorangetrieben hatte, vor allem sobald Angehörige der Polizei und Streitkräfte Ziel der NPA-Mordkommandos waren.— Die Armee hält sich wieder an das seit Marcos bewährte Rezept der Rache. Amnesty halt eine Reihe besonderer Fälle fest: - Im Februar 1987 wurden 17 Dorfbewohner, darunter sechs Kinder, von Soldaten umgebracht, nachdem bei einem NPA-Angriff ein Armeeleutnant getötet worden war. - Im April starben bei einem NPA-Angriff auf eine Kaserne 17 Soldaten; eine Militärpatrouille tötete 13 Bewohner eines nahen Dorfes. - Im selben Monat wurde ein fünfundzwanzigjähriger Bauer, der von Soldaten verschleppt worden war, tot aufgefunden, stranguliert mit seinem eigenen Hemd. Seine Hände waren zusammengebunden, ein Auge war ausgeschlagen, die Fingernägel waren herausgerissen, und er hatte Stichwunden in der Brust und Achselhöhle. Der Armee ist die Regierung Aquino in ihrer Behandlung der Kommunisten zu nachgiebig, und sie meint, ihr seien die Hände durch die Bemühungen der Regierung um den Schutz der Menschenrechte gebunden. In Wahrheit wurde während Aquinos Regierung noch kein einziger Armeeangehöriger wegen Verletzung der Menschenrechte angeklagt. Vielmehr ist die Zahl der ‡Verschwundenen— wieder steil angestiegen, seit der militärische Geheimdienst Verdächtige ohne Haftbefehl und ohne Rechtfertigung einsperrt. Die Menschenrechtsgruppe ‡Finden—, die es sich schon unter Marcos zur -392-
Aufgabe gemacht hat, das Schicksal Verschwundener zu klären, hat weiterhin viel zu tun. In den ersten 21 Monaten nach dem Amtsantritt Aquinos erstellte ‡Finden— eine Liste von Hunderten Verschwundenen, von denen 212 Fälle unaufgeklärt blieben. Ein Führer der Gruppe meinte bitter: ‡Von vielen müssen wir annehmen, daß sie bereits erlöst sind.— Und ‡erlöst— bedeutet im heutigen philippinischen Verständnis getötet. Im März 1988 verhaftete die Polizei fünf kommunistische Spitzenfunktionäre in Manila, darunter Romulo Kintanar, den Kommandanten der NPA, und Rafael Baylosis, den Generalsekretär der Partei. Ein ganzer Haufen belastender Dokumente wurde gefunden, auch Protokolle von Politbürositzungen, alles fein säuberlich auf Computerdisketten œ es handelt sich schließlich um eine moderne Revolution. Die gefundenen Dokumente zeigen, daß es innerhalb der Partei eine heftige Auseinandersetzung über den einzuschlagenden Kurs gibt. Die Festnahmen wurden von der Polizei als ein schwerer Schlag für die NPA bezeichnet: Kintanar gilt als der Organisator der Mordwelle in Manila. Er entkam aber am 12. November. Er und die anderen NPA-Führer waren in einem Militärlager inhaftiert œ und sie waren alle zu einer Party eingeladen. Kintanar und seine Frau wurden von Komplizen mit Autos erwartet und einfach aus dem Stützpunkt in die Freiheit hinausgefahren. Die NPA hat sich auf einen langen Kampf eingerichtet und kann durch den Verlust einiger Führer nicht besiegt werden. Ein Geheimbericht der philippinischen Armee, der im Mai 1988 erstellt und unter der Hand an Marcos‘ Verteidigungsminister, den korrupten und lasterhaften Juan Ponce Enrile, weitergegeben wurde, zeigte, daß die NPA in den ersten drei Monaten in 6 von 67 Auseinandersetzungen mit Regierungstruppen siegreich geblieben war. Die Armee der Philippinen muß dringend reformiert werden und ihre Taktik ändern œ als erstes muß ihr klargemacht werden, daß es ihre Aufgabe ist, das Volk der Philippinen zu schützen, nicht zu terrorisieren. Ein erster Schritt in dieser Richtung war sicherlich die Entlassung Enriles am 23. November 1986, der im letzten Moment von seinem Herrn und Meister zu Aquino übergelaufen war. Dafür hat jetzt General Fidel Ramos, Kommandeur der philippinischen Gendarmerie vor der Revolution, als Folter und ungesetzliche -393-
Hinrichtungen von Verdächtigen Routine geworden waren, Enriles Platz eingenommen. DIE REGIERUNG AQUINO Im Juni 1988 verabschiedete die Regierung Aquino endlich die lange angekündigten Gesetze zur Landreform. Sie wurden aber sofort von Linken und Gemäßigten als unzureichend kritisiert. In den Versuchen, die Vorherrschaft der Großgrundbesitzer zu brechen, gibt es viele Schlupflöcher, einschließlich einem Passus, daß das Gesetz für bestimmte Körperschaften keine Geltung habe. Diese Klausel betraf eindeutig auch die Hacienda Lusita, die Zuckerplantage im Besitz der Familie Aquinos. Das grundlegende Problem, in den Philippinen wie in Lateinamerika, daß zuwenig Land für die anwachsende Bevölkerung vorhanden ist. Selbst wenn alles Land umverteilt würde, blieben immer noch Hunderttausende Familien ohne Land, und die aufgeteilten Grundstücke wären viel zu klein, um ihre Eigentümer zu ernähren. Kurz gesagt, die größte Gefahr für die Regierung Aquino droht von Seiten der Armee. Es gab viele Umsturzversuche, die beiden gewalttätigsten im August 1987 und im Dezember 1989. Pessimisten sind der Ansicht, daß es nur eine Frage der Zeit sei, bis ein Staatsstreich Erfolg hat. Es gab zwei Putschversuche 1986 und drei im Jahr 1987, von denen der dritte am 28. August 1987 von Oberst Gregorio ‡Gringo— Honassan geführt wurde. Die aufständischen Truppen griffen den Präsidentenpalast und den regierungseigenen Fernsehsender Channel 4 an, aber sie wurden zurückgeschlagen. Dann besetzten sie einige private Fernsehsender und den Stützpunkt Camp Aguinaldo. Der Polizeichef von Cebu City, der zweitgrößten Stadt des Landes, schloß sich der Rebellion an und verhaftete die örtlichen Militärkommandeure. General Ramos stellte sich an die Spitze loyaler Truppen und griff Camp Aguinaldo mit Panzern, Artillerie und Weltkriegs-Bombern an. Es war offenkundig, daß dabei mehr Lärm als echter Kampf stattfand: Keine Seite wollte große Verluste verursachen. Beinahe wäre Aquinos Sohn getötet worden. Als er beim Palast ankam, wurde er von den Rebellen aufgehalten, die seine drei -394-
Leibwächter ermordeten. Es gelang ihm aber, sich zu retten, indem er um sein Leben flehte. Der Putsch scheiterte; er hatte 53 Menschenleben gekostet. Honassan entkam, wurde aber am 9. Dezember festgenommen. Er wurde auf einem Kanonenboot der Kriegsmarine im Hafen von Manila eingesperrt und erwartete seinen Prozeß, es gelang ihm aber, seine Wächter zu bestechen und am 2. April 1988 mit 14 Anhängern in zwei Schlauchbooten zu entfliehen. Er schloß sich der Opposition an. Der sechste und ernsthafteste Putschversuch begann am 1. Dezember 1989 um ein Uhr früh. Ohne das Eingreifen der Amerikaner hätte er möglicherweise Erfolg gehabt. Aufständische Truppen, darunter auch die Eliteeinheit der Scout Rangers, griffen den Malacanang-Palast an und stürmten Regierungsgebäude und Militärstützpunkte in ganz Manila, einschließlich dem Hauptquartier und dem Regierungsfernsehsender. Sie wurden vom Regierungspalast zurückgedrängt, drohten aber, ihn von den Luftwaffenstützpunkten Vilamor und Sangley Point aus zu bombardieren. Aquino richtete einen verzweifelten Hilferuf an die Amerikaner. Präsident Bush war auf dem Weg nach Malta zum Gipfeltreffen mit Gorbatschow. Nach einer Telefonkonferenz zwischen Manila, Washington und der Luftwaffen in Maschine des Präsidenten erging der Einsatzbefehl an die US-Luftwaffe auf den Philippinen. F-4-Jagdbomber von Clark Field überflogen beide Rebellenflugplätze und machten klar, daß jede startende Maschine sofort abgeschossen würde. Aquino hatte Bush zwar aufgefordert, die Rebellen zu bombardieren, aber er begrenzte den amerikanischen Einsatz auf die Niederhaltung der Rebellenkampfflugzeuge. Diesmal führten die Aufständischen den Kampf mit großem Einsatz. Bei jedem Vorstoß der Regierungstruppen zogen sie sich zurück. Nach jeder Siegesmeldung von Regierungsseite griffen sie erneut an. Sie besetzten mehrere Hotels und drei besonders günstig gelegene Wohnblocks in Manilas bester Gegend, Ziele, die die Regierungstruppen weder bombardieren noch mit Geschützen beschießen konnten. Sie achteten darauf, daß weder Zivilisten noch Hotelgäste zu Schaden kamen, und ihre Anführer gaben regelmäßige Pressekonferenzen. -395-
Im Gegensatz dazu war die Kampfführung der Armee und der Regierung unentschlossen und schlecht. Wie in den vorangegangenen Umsturzversuchen legten Rebellen- und Armeesoldaten großen Wert darauf, einander nicht zu verletzen. Es wurde gewaltig viel geschossen, aber es gab nur wenige Verluste. Endlich, nach einer Woche sinnlosen Kampfes, beschlossen die Scouts und andere Rebelleneinheiten, in ihre Kasernen zurückzukehren. Aquino verkündete, daß sie diesmal die Verschwörer bestrafen würde, einschließlich ihres eigenen Vizepräsidenten Salvador Laurel und des früheren Verteidigungsministers Juan Ponce Enrile. Am 5. Juni 1990 schlug der Oberste Gerichtshof das Verfahren gegen Enrile und 22 weitere Angeklagte nieder. Auch die Anklage ‡Rebellion in Verbindung mit Mord— wurde vom Gericht für nichtig erklärt. Das Urteil beruhte auf einem Präzedenzfall aus dem Jahre 1956. Damals hatte ein philippinisches Gericht entschieden, daß Tötungen während eines bewaffneten Aufstandes anders zu bewerten seien als Verbrechen aus anderen Motiven. Die Episode schwächte Aquino ernsthaft. Laut Umfragen war ihre Popularität bereits vor dem Putschversuch auf 45 % gesunken, und ihr unentschlossenes Handeln mag viele ihrer Anhänger überzeugt haben, daß sie zu schwach ist, das Land zu regieren. Ihre Amtszeit läuft 1993 aus, und die Wetten, ob sie wirklich die volle Periode durchstehen wird, stehen gegen sie.
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SRI LANKA
Geographie: 65.610 km2. Als Ceylon 1972 seine Bindung an die Britische Krone löste, wurde das Land in Sri Lanka umbenannt. Auf Singhalesisch bedeutet das ‡strahlendleuchtendes Land—. Bevölkerung: 16,1 Millionen Einwohner, davon 74 % buddhistische Singhalesen, 12,6 % hinduistische Ceylon-(Jaffna-)Tamilen und 5,5 % Indien-Tamilen, der Rest sind Christen und ‡Moors—, die Nachkommen arabischer Händler, die vor allem Tamilisch sprechen. Die Staatssprache ist Sinhala (Singhalesisch). BSP: 400 $/Einw. Flüchtlinge: 100.000 im Landesinneren, 125.000 in Indien. Verluste: Nach Angaben von Menschenrechtsgruppen aus dem Jahre 1988 wurden bei Terror- und Gegenterroranschlägen zwischen 12.000 und 16.000 Menschen getötet. Die offiziellen Angaben lauten auf 7.000 Opfer. Ende 1989 waren es wahrscheinlich insgesamt bereits 25.000 Tote. Die indische Armee hatte bis zu ihrem Abzug im März 1990 1.155 Soldaten verloren. Sri Lanka war das Paradies. Es gibt kein schöneres Land auf der Welt, und seine Einwohner und alle Besucher sind sich darüber einig, daß das Leben nirgendwo angenehmer war. Im Mittelalter hatte es Invasionen aus Indien gegeben und Kriege zwischen singhalesischen und tamiläschen Fürstentümern. Aber das war vor langer Zeit. Die Portugiesen errichteten im 16. Jahrhundert Handeisstationen. Sie wurden zuerst von den Holländern, dann von den Briten abgelöst. Der Kolonialismus schien dem Land zu nützen. Im ganzen 19. Jahrhundert sicherte die Pax Britannica Frieden und Wohlstand, und 1948, errang das Land kurz nach Indien, ohne Kämpfe seine Unabhängigkeit. Die Briten führten ein modernes Regierungssystem und die englische Amtssprache ein œ aber die Trennung blieb bestehen, die herrschenden Schichten waren Singhalesen, die Beamten und Lehrer waren Tamilen. Rund drei Viertel der Bevölkerung sind buddhistische Singhalesen, etwa 18 Prozent Tamilen hinduistischen Glaubens. Mit den übrigen Christen und Moslems haben sie mehr als zwanzig Jahre nach der -397-
Unabhängigkeit friedlich zusammengelebt. Das Land war eine starke Demokratie: Wenn die Regierungen Wahlen verloren ging die Macht auf die Opposition über. Die Wirtschaft hatte ein solides Fundament im Export von Tee, Edelholz und anderen tropischen Produkten sowie im Tourismus. Nichts sprach gegen die Entwicklung zu einem modernen Industriestaat. Es sollte nicht sein. Statt dessen wurde Ceylon, das 1972 seinen Namen in Sri Lanka abänderte, eine Fallstudie der Auswirkungen nationaler Zwietracht. Singhalesischer Chauvinismus und die Demagogie singhalesischer Politiker, der unausgegorene Marxismus einander ablösender Regierungen und nationalistische und rassistische Phantasien unter arbeitslosen und gut ausgebildeten jugendlichen Tamilen führten zu Rassenspannungen, Morden und schließlich zu einem ausgewachsenen Terrorismus und Bürgerkrieg. Sri Lanka war typisch für die Dritte-Welt-Staaten, die nach dem Zerfall der europäischen Kolonialreiche zurückblieben. Die Bevölkerung besteht aus ethnischen Gruppen, deren Loyalität ausschließlich der Volksgruppe gilt, nicht dem Staat. Sri Lanka hatte gegenüber den meisten anderen Ländern zwei Vorteile: durch die Insellage waren die Grenzen unstreitig, und die eine Ethnie umfaßte den Großteil der Bevölkerung. Aber 32 Kilometer von der nördlichen Spitze der Insel entfernt liegt Indien, und der südlichste Staat der Indischen Union ist Tamil Nadu, dessen 56 Millionen Menschen mit den Tamilen Sri Lankas eng verwandt sind. Es ist eine mit Zypern vergleichbare Situation, wo rund 18 % der Bevölkerung der Minderheit angehören. Die Tamilen in Sri Lanka konnten stets auf die Unterstützung der Staatsregierung in Madras zählen, so wie die Zypern-Türken der Unterstützung Ankaras gewiß sind. Und die Singhalesen, wie die Griechen in Zypern oder die Iren, obwohl sie auf ihrer Insel in der Mehrheit sind, sahen sich als die Opfer einer übermächtigen Nachbarschaft. Sie betrachteten die Tamilen nicht als eine Minderheit, die es zu schützen und zufriedenzustellen gilt, sondern als eine Bedrohung des nationalen Überlebens. Der Konflikt entwickelte seine Eigendynamik. Sobald er als Gefahr betrachtet wurde, brach der tamilische Nationalismus in helle Flammen aus und bedroht jetzt tatsächlich die Existenz des -398-
Staates. GESCHICHTE Während der Kolonialzeit unterband die britische Verwaltung zwar die christliche missionarische Tätigkeit bei den Singhalesen, ließ sie aber bei den Tamilen zu. So wurden Missionsschulen in Nordceylon errichtet, wo es eine Tamilen-Mehrheit gibt. Anderthalb Jahrhunderte europäischen Bildungswesens brachten eine gut ausgebildete Schicht Tamilen hervor, die die meisten unteren Ränge in Regierung und Verwaltung besetzten und die meisten Bildungsberufe wie Rechtsanwälte und Ärzte ergriffen. Die singhalesischen Besitzer der großen Teeplantagen studierten in Großbritannien. Nach der Unabhängigkeit beklagten die Singhalesen die Vorherrschaft der Tamilen in diesen Berufen (eine ähnliche Erscheinung wie in vielen anderen früheren Kolonien) und mit der Verbesserung des singhalesischen Bildungswesens verloren die Tamilen ihre Positionen, was wiederum unter ihnen zur Unzufriedenheit führte. 1956 wurde Solomon West Ridgeway Bandaranaike zum Ministerpräsidenten gewählt. Er entstammte einer der bedeutendsten Singhalesen-Familen, war in England erzogen und ein skrupelloser Demagoge, der seine Macht dadurch festigte, daß er bei seinen Landsleuten den Haß gegen die Tamilen schürte. Er erhob Singhalesisch zur Staatssprache und schlug tamilische Protestdemonstrationen brutal nieder. Er führte eine Quotenregelung für die Tamilen in der Verwaltung, in den freien Berufen und an den Universitäten ein und verstaatlichte einen Großteil der Wirtschaft. 1956 bekleideten die Tamilen knapp die Hälfte der Beamtenstellen. 1980 war ihr Anteil auf 11 Prozent gefallen. Bandaranaike versprach dem Land eine goldene marxistische Zukunft, reformierte die Wirtschaft hin zum Sozialismus und steuerte das Land auf Bankrottkurs. Er wurde im September 1959 ermordet; seine Nachfolge trat seine Witwe an, Sirimavo Bandaranaike, weltweit die erste Frau an der Spitze einer demokratischen Regierung. Sie behielt den Kurs ihres Mannes bei, trieb das Land in den steten Niedergang und heizte die -399-
Diskriminierung der Tamilen an. Die Arbeitslosigkeit wurde für junge Singhalesen und Tamilen gleichermaßen ein Problem, und in jeder der beiden Gruppen begannen Extremisten Gewalt zu predigen. Sie schoben die Schuld an ihren sozialen und wirtschaftlichen Problemen auf die jeweils andere Gruppe. In den sechziger und siebziger Jahren nahm die Zahl der gewalttätigen Zwischenfälle zwischen den beiden Gruppen zu. 1971 begann die revolutionäre singhalesische Organisation ‡Janatha Vimukthi Peramuna— (Volksbefreiungsfront, JVP) einen Aufstand, der blutig niedergeschlagen wurde. Nach Angaben der Regierung starben dabei 1.000 Menschen, nach Angaben der JVP hatten die Streitkräfte 10.000 Tote auf dem Gewissen. Die JVP war in den späten sechziger Jahren von Rohana Wijeweera (geboren 1945) gegründet worden. Der Medizinstudent hatte die Patrice-Lumumba-Universität in Moskau besucht. Die Partei blieb nach dem Umsturzversuch von 1971 im Untergrund, wurde aber 1977 legalisiert. Wijeweera kandidierte 1982 für das Präsidentenamt, aber nach den Unruhen in Colombo von 1983 wurde die Partei abermals verboten, und Wijeweera ging wieder in den Untergrund. Er nützte den Konflikt mit den Tamilen für die Entwicklung eines ultrasinghalesischen Programmes und versprach Tod und Vernichtung allen Tamilen und allen Singhalesen, die sich ihm in den Weg stellten œ angefangen bei Präsident Jayewardene. EIN STAAT IN SCHWIERIGKEITEN Die Unfähigkeit der Regierung löste schließlich eine Krise aus. Bei den Wahlen von 1977 wurde Bandaranaike geschlagen. Ihr folgte ein Mann aus dem singhalesischen Adel, der bereits siebzigjährige Junius Richard Jayewardene. Er baute die Verfassung um und machte sich nach französischem Vorbild selbst zum Staatspräsident (mit einem Ministerpräsidenten), und nachdem er 1982 wiedergewählt wurde, verschob er die Parlamentswahlen auf unbestimmte Zeit. Er versuchte, die Wirtschaftspolitik seiner Vorgängerin zu korrigieren und die Spannungen zwischen Singhalesen und Tamilen abzubauen, aber er scheiterte. Vielleicht war es dazu auch bereits zu spät. Ein grundlegender Fehler war wohl auch, daß er die Krise als einen Fall -400-
von Terrorismus betrachtete, der mit Polizeimitteln gelöst werden könnte, und nicht als eine Frage der innenpolitischen Beziehungen, die eine politische Lösung brauchten. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Tamilen in Tamil Nadu um Hilfe angesucht. Die komplizierten Verhältnisse der indischen Innenpolitik führten dazu, daß Ministerpräsidentin Indira Gandhi der Regierung in Madras gestattete, die Tamilen in Sri Lanka zu unterstützen. Tamilische Terroristen wurden in Tamil Naud ausgebildet, Waffen und Munition wurden über die Meerenge geschmuggelt, und die Marine von Sri Lanka hatte keine Möglichkeit, diese Aktionen zu unterbinden. Extremistische Tamilen, angestachelt durch Schauergeschichten von singhalesischen Grausamkeiten, sprachen von ‡Tamil Eelam—, einem unabhängigen Tamilen-Staat im Norden und Osten von Sri Lanka. Die wichtigste Stadt des Nordens ist Jaffna (138.000 Einwohner), auf einer Halbinsel, die auf Indien zeigt, das größte einer Reihe von Fischerdörfern und kleinen Städtchen, die das Zentrum des tamilischen Kampfes sind. Velupillai Prabakaran, der Sohn eines Fischers, wurde 1954 in einem dieser Dörfer geboren. Mit vier Jahren mußte er zusehen, wie ein Onkel im Lauf der Unruhen nach der Einführung des Singhalesischen als Staatssprache bei lebendigem Leibe verbrannt wurde. Er ist jetzt der Kommandant der gewalttätigsten Terroristenorganisation, der ‡Befreiungstiger von Tamil Eelam— (LTTE). Prabakaran betrachtet sich als den perfekten Terroristen: er ist stolz auf seine Fähigkeiten als Scharfschütze und führt viele Anschläge selbst aus. Sein großes Vorbild ist eindeutig Fidel Castro, aber er ist weder gebildet noch marxistisch geschult. Zur Entspannung sieht er sich angeblich am liebsten Clint Eastwood-Filme an. Die ‡Tiger— begannen mit Raub und Mordanschlägen. 1975 erschoß Prabakaran zusammen mit zwei Genossen den Bürgermeister von Jaffna, ein Tamile, den sie als Verräter betrachteten. Dann begannen die ‡Tiger— eine Mordserie unter den Tamilen im Dienste der Zentralregierung. Im Juli 1983 führte Prabakaran einen Kommandoangriff auf einen Armeeposten in Jaffna, bei dem 13 singhalesische Soldaten ums -401-
Leben kamen. Bei darauffolgenden Unruhen der Singhalesen in Colombo und anderen Städten sind nach offiziellen Angaben rund 140 Menschen œ davon die meisten Tamilen œ ums Leben gekommen. Wahrscheinlich (It. M. A. Weaver, siehe LITERATURVERZEICHNIS) waren es 1.000, und die Schadenssumme betrug allein in Colombo 300 Millionen Dollar. 100.000 Tamilen wurden aus ihren Häusern vertrieben. Die Unruhen wurden von der JVP entfesselt und angeführt, die sich nun aus der Vergessenheit wieder zurückgemeldet hat und für die Regierung beinahe schon eine solche Gefahr darstellt wie die ‡Tiger—. Ihr sollen rund 2.000 Kämpfer angehören. Die Kämpfe von 1983 gaben den ‡Tigern— großen Auftrieb: Tausende junger Tamilen flohen in den Dschungel und wurden zu Guerillas ausgebildet. Obendrein wurden tamilische Abgeordnete aus dem Parlament verjagt. Die gewalttätigen Zwischenfälle nahmen laufend zu. Am 14. Mai 1985 griffen die ‡Tiger— einen heiligen buddhistischen Schrein bei Anuradhapura an. Mehr als 150 Singhalesen wurden getötet, und der Tempel wurde ebenso schwer beschädigt wie der heilige Bo-Baum, der aus einem Schößling jenes Baumes gezogen war, unter dem Buddha seine Erleuchtung erfahren hatte. Die ‡Tiger— errangen die Kontrolle über Jaffna und den Großteil der nördlichen Provinz, vertrieben die Singhalesen und schlossen die Armee- und Polizeieinheiten in ihren Kasernen ein. Die Sicherheitssituation im gesamten Land verschlechterte sich zunehmend. Die Armee von Sri Lanka, die nahezu vierzig Jahre hauptsächlich protokollarische Aufgaben erfüllt hatte, war auf den Kampf gegen die von indischen Offizieren in Tamil Nadu gut ausgebildeten ‡Tiger— überhaupt nicht vorbereitet. Die Soldaten waren undiszipliniert und unausgebildet; sie massakrierten Hunderte tamilische Zivilisten. Die Berichte über Fälle von Folter, Massakern und ungesetzlichen Hinrichtungen häuften sich. Amnesty International hat eine lange Liste von Tamilen, die von Sicherheitskräften eingesperrt wurden und seither spurlos verschwunden sind. Erst als ein Veteran des Zweiten Weltkriegs, General Cyril Ranatunge, aus dem Ruhestand geholt wurde und die Ausbildung der -402-
neuen Rekruten übernahm, kam Disziplin in das Heer, die Armee konnte erstmals ihre Aufgaben erfüllen, und die Massaker von Armeeangehörigen hörten auf. Die Armee wurde, so wie die anderen Sicherheitskräfte, verdoppelt, von 25.000 auf 50.000 Mann. Der Verteidigungshaushalt stieg um 1.700 Prozent, auf 500 Millionen Dollar pro Jahr. 1987 kam es zur wirklichen Krise. Am 17. April, dem Karfreitag, überfielen die ‡Tiger— mitten im Land eine Autobuskolonne. Von den Insassen wurden 128 unbewaffnete Singhalesen, Kinder, Frauen, Männer, von den Tamilen und Moslems abgesondert und ermordet. am 21. April tötete eine Bombe im Busbahnhof in Colombo 113 Menschen. Die Zentralregierung beschloß, die Kontrolle über die Jaffna-Halbinsel zurückzuerobern. Am 26. Mai trat die Armee zur Generaloffensive an. Nach zwei Wochen hatte sie die äußeren Distrikte der Nord-Provinz eingenommen, gewaltige Zerstörungen angerichtet und 132 Guerillas sowie 300 Zivilisten getötet, bei 62 eigenen Verlusten. Vor der Offensive bombardierte die Luftwaffe die Provinz und zerstörte reihenweise Dörfer. Dann griff Indien ein. Am 3. Juni 1987 genehmigte Ministerpräsident Rajiv Gandhi, daß eine Fischerbootflotille ‡humanitäre— Hilfsgüter an die belagerten Tamilen in Jaffna lieferte. Die Boote wurden von der srilankischen Marine zurückgeschickt. Am nächsten Tag gab Gandhi Weisung an die indische Luftwaffe, die Lieferungen per Fallschirm abzuwerfen. Die abgeworfenen Hilfsgüter umfaßten nur rund 25 Tonnen, aber die symbolische Bedeutung war enorm. Bei einer Intervention Indiens hätte die Regierung in Colombo keine Chance auf einen Sieg gehabt. Gandhi hatte verschiedene Überlegungen. Die Unterstützung des tamilischen Separatismus war allerdings nicht darunter. Das hätte das schlimmstmögliche Beispiel für andere Teile der Indischen Union geboten, wie zum Beispiel den Punjab oder den Nordosten des Landes. Er wollte hingegen die politische Unterstützung der Tamil Nadu-Regierung abschwächen. (Dabei unterlief ihm ein Irrtum: Nach einem Tumult im Januar 1988 im Staatsparlament löste Gandhi die Regierung in Madras ab, dafür erlitt seine Kongreßpartei bei den -403-
Wahlen im Januar 1989 eine vernichtende Niederlage.) Gandhi wollte auch die Vorherrschaft Indiens über das Nachbarland verstärken. Er lehnte Sri Lankas prowestliche Politik ab, und noch mehr verdroß ihn die Tatsache, daß Jayewardene bei China, Pakistan, Südafrika und Israel zur Ausbildung seiner Truppen ebenso Hilfe gesucht hatte wie bei britischen Söldnern. Und nicht zuletzt hatte er ein Auge auf den strategischen Hafen Trincomalee an der Ostküste Sri Lankas geworfen, einer der besten Naturhäfen der Welt, vergleichbar mit New York, San Francisco oder Sydney. Die Armee von Sri Lanka stellte ihre Offensive ein, und es begannen Verhandlungen zwischen der Regierung und Indien, das wiederum die Tamilen-Parteien hinzuzog, einschließlich der ‡Tiger— und anderer terroristischer Gruppen œ insgesamt sind es fünf, Jayawardene hatte bereits im vorangegangenen Dezember der nördlichen Tamilenprovinz ein Autonomiestatut angeboten, und jetzt weitete er dieses Angebot auf die Ostprovinz aus, die zwischen Singhalesen und Tamilen umstritten ist. Trincomalee ist Hauptort und Schmuckstück der Provinz. Die beiden Provinzen sollten von einer Regierung unter Tamilenführung mit umfangreichen Kompetenzen verwaltet werden. Für Ende 1988 war eine Volksabstimmung in der Ostprovinz über diesen Plan vorgesehen. Tamilisch und Englisch sollten gleichberechtigte Staatssprachen neben Singhalesisch werden. Im Gegenzug sollten die tamilischen Terroristen den Kampf einstellen. Indien sollte den Waffenstillstand überwachen. Alle Tamilenführer nahmen diesen Vorschlag an, außer Prabakaran, der in Neu-Delhi unter Hausarrest gestellt wurde. Militante Singhalesen, aufgehetzt von der JVP, demonstrierten am 28. Juli in Colombo gegen dieses Abkommen. Bei den Ausschreitungen wurden 70 Menschen getötet. Am nächsten Tag flog Gandhi zur Vertragsunterzeichnung nach Colombo. Dabei wurde er von einem singhalesischen Soldaten der Ehrenkompanie angegriffen. Eine bange Woche lang lehnten die ‡Tiger— den Waffenstillstand ab. Schließlich kehrte Prabakaran aus Neu-Delhi zurück und befahl seinen Soldaten, die Waffen niederzulegen. Bei einer Großveranstaltung in Jaffna sagte er: ‡Wir haben keine andere Wahl, als den Plan der indischen Regierung zu akzeptieren. Wenn wir das nicht tun, stehen wir vor dem Kampf gegen die indische Armee. Das -404-
wollen wir nicht. Indien ist ein mächtiges Land, und wir wären außerstande, es aufzuhalten.— Tonnen von Waffen wurden ausgeliefert, wahrscheinlich rund ein Fünftel des Arsenals der ‡Tiger—. Acht Monate später stellte sich heraus, daß die indische Regierung den ‡Tigern— viel Geld für ihre Kooperation bezahlt hatte. Es gab einen kurzen Moment der Hoffnung. Ungeachtet all der Morde und spurlos Verschwundenen, ungeachtet des tiefen Hasses zwischen Tamilen und Singhalesen und der Verbitterung jener Tamilen, deren Dörfer zerstört worden waren, bot das Abkommen eine gute Ausgangslage für eine dauerhafte Lösung. Gandhi schickte die ersten Einheiten der insgesamt 60.000 Besatzungssoldaten zur Überwachung in die Nordprovinz. Aber das bedeutete nur eine Pause des Terrorismus. Die ‡Tiger— brachten weiterhin Mitglieder rivalisierender Terrorbanden um, innerhalb von sechs Wochen waren es rund 150 Tote. Die Inder blieben untätig. Prabakaran übernahm in der provisorischen Ratsversammlung für die Nord- und Ostprovinzen die Macht. Die JVP setzte ihren Kampf gegen das Übereinkommen fort. Am 18. August wurden zwei Granaten in einen Versammlungsraum im Parlament geworfen, und danach wurde der Saal mit automatischen Waffen beschossen. Zwei Politiker starben, beinahe hätte es auch Präsident Jayewardene erwischt. Im April 1908 gab die Polizei die Verhaftung des Täters bekannt, es war ein Mann vom Reinigungspersonal, Mitglied der JVP. Der Waffenstillstand hielt weniger als zwei Monate. Am 3. Oktober 1987 brachte die Marine von Sri Lanka vor Jaffna einen Trawler auf. An Bord waren 17 ‡Tiger—, darunter drei von Prabakarans engsten Mitarbeitern; einer davon wurde verdächtigt, der Bombenattentäter von der Busstation in Colombo zu sein. Sie hatten versucht, eine große Menge Waffen aus Indien ins Land zu schmuggeln. Die Behörden bestanden darauf, sie nach Colombo zu bringen. Als sie auf dem Flugplatz die Maschine zum Flug in den Süden besteigen sollten, schluckten sie alle zugleich Zyankali. Die ‡Tiger— tragen ständig Zyankalikapseln am Körper und schwören, lieber Selbstmord zu begehen als in Gefangenschaft zu geraten. Dreizehn der siebzehn Tamilen starben. -405-
Die ‡Tiger— erklärten das Friedensabkommen für ungültig. Sofort kam es zu einer Reihe von Terroranschlägen im Osten von Sri Lanka; die ‡Tiger— töteten 8 singhalesische Soldaten, die sie in ihrer Gewalt hatten. Mindestens 188 Menschen kamen ums Leben, und Jaffna war wieder einmal unter der Kontrolle der ‡Tiger—. Das war eine ernsthafte Herausforderung für Gandhi, der den Frieden um jeden Preis sichern wollte. Er gab seiner Armee den Befehl, Jaffna zu erobern. Die Inder belagerten Jaffna und nahmen es schließlich ein. Sie bedeckten sich dabei nicht mit Ruhm. Die ‡Tiger— in Jaffna hielten sich 17 Tage lang gegen die übermächtige indische Armee, die ihr Arsenal an sowjetischen Raketen, Kampfhubschraubern und Artillerie gegen sie einsetzte. Die Inder verloren nach offiziellen Angaben 460 Mann und konnten die ‡Tiger— weder besiegen noch gefangennehmen œ die meisten entkamen mit all ihren Waffen. Zwischen 300 und 400 ‡Tiger— und rund 1.000 Zivilisten kamen ums Leben. Es gibt unterschiedliche Schätzungen über die Zahl der von den Tamilen getöteten Inder und der von den Indern getöteten Tamilen. Ein Jahr nach Beginn ihres Einsatzes meldete die indische Armee 530 eigene Tote und 2.000 auf der Gegenseite. Offizielle srilankische Angaben (nicht unbedingt genauer) lauteten auf 1.000 tote indische Soldaten und etwa 1.000 Verwundete. Ungeachtet der 50.000-60.000 indischen Soldaten im Land hielt der tamilische Terror an. Bei einem Anschlag am 27. Dezember 1987 starben 25 Menschen, weitere 10 wurden getötet, als die ‡Tiger— am Neujahrstag ein singhalesisches Dorf 42 Kilometer südlich von Trincomalee überfielen, die Dorfbewohner an die Wand stellten und auf sie schossen. In demselben Dorf hatten die ‡Tiger— bereits im Mai zuvor 23 Menschen getötet. Das war Teil der ‡Tiger—-Strategie. Sie wollten die singhalesischen Dorfbewohner aus der östlichen Provinz vertreiben, die sie wie den Norden für sich beanspruchen, und ihre Methode dazu ist der Mord. Im Frühjahr 1988 war bereits die gesamte singhalesische Bevölkerung von Trincomalee geflüchtet. 1988 wurde ebenso blutig wie 1987. Am 23. Februar erschossen die ‡Tiger— vier indische Soldaten in einem Hinterhalt, darauf töteten die -406-
indischen Truppen 20 Tamilen. Am nächsten Tag bot Präsident Jayewardene in einer Rede vor dem Parlament den ‡Tigern— und der JVP, die seit den Vereinbarungen von 1987 mehr als 200 Regierungsbeamte, Polizisten und regierungstreue Bürger getötet hatten, erneut eine Amnestie an. Am 2. März brachten ‡Tiger— in Armeeuniformen sechs Erwachsene und neun Kinder in Colombo um. Drei Tage später explodierte bei Trincomalee eine Mine unter einem Lastwagen und tötete 19 Menschen, davon sechs Frauen und zwei Kinder. Die meisten Opfer waren Singhalesen. Im März und April gab es eine Reihe weiterer Anschläge auf Busse, unter anderem wurde im April südlich von Trincomalee ein Bus in die Luft gejagt œ die 26 Opfer waren Singhalesen, die vom Markt kamen. Bei einem weiteren Anschlag starben sechs Menschen, und bei Überfällen auf ihre Dörfer in der Ostprovinz kamen 40 Moslems um. Während im Norden die Inder die ‡Tiger— bekämpfen, kämpft im Süden die Armee von Sri Lanka gegen die JVP. Mehr als 10.000 srilankische Soldaten stehen im Einsatz gegen die geschätzten 2.000 JVP-Terroristen. In fünf Jahren wurden zwischen 7.000 und 16.000 Menschen getötet, und mehr als eine halbe Million mußten ihre Häuser verlassen. Die Mordrate nahm stark zu, und die Auswirkungen für die Wirtschaft waren katastrophal. Der Fremdenverkehr war erledigt. Die Provinzen im Norden und Osten waren Schlachtfelder, und viele Teeplantagen im Hochland im nördlichen Zentral-Sri Lanka wurden aus Angst vor den Terroristen aufgegeben. Am 10. Mai 1988 unterzeichneten die Regierung und die JVP ein Waffenstillstandsabkommen. Die JVP sicherte zu, den Kampf einzustellen, und die Regierung erklärte sich bereit, die Organisation als gesetzmäßig anzuerkennen und die eingesperrten Mitglieder zu amnestieren, außer denen, die unter Mordanklage standen. Aber das Abkommen wurde niemals eingehalten, und die JVP unternahm große gewalttätige Anstrengungen, um die Provinzwahlen am 2. Juni zu beeinträchtigen œ Bombenanschläge auf Regierungsgebäude und Überfälle auf Polizeistationen waren auf der Tagesordnung. Indien war in die Kämpfe hineingezogen worden, und die indische Armee, die eigentlich den Frieden hätte bringen sollen, wird jetzt von -407-
zwei Seiten angegriffen. Im Sommer 1988 hatte die indische Armee im nördlichen und östlichen Sri Lanka eine Art Ordnung wiederherstellen können œ durch schwerbewaffnete Patrouillen im Landesinneren und auf den Hauptstraßen, aber die ‡Tiger— blieben außerhalb der Städte aktiv und wären offensichtlich zu allen Aktionen in der Lage, wann immer sie wollen. Im Juni 1988 kündete Indien den Abzug von 3.000 bis 5.000 Mann aus Sri Lanka an. Es war eine symbolische Geste. Gandhi sagte, daß das Hauptkontingent seiner Truppen bis nach Parlamentswahlen in den umkämpften Provinzen und bis zu einem gesicherten Waffenstillstand auf der Insel bleiben würde. Für einen solchen Frieden aber gab es keinerlei Anzeichen. Jayewardene bot den Tamilen alle Zugeständnisse an, die zwanzig Jahre zuvor vielleicht den Ausbruch der Kämpfe verhindert hätten, aber die ‡Tiger— wurden dadurch nicht befriedet. Sie hatten Blut getrunken, und es war unwahrscheinlich, daß sie den Kampf einstellen würden. Die 60.000 indischen Soldaten in Sri Lanka wurden mit einer hoffnungslosen Situation konfrontiert, und es bestand wenig Aussicht auf eine Änderung dieser Situation. Die Unternehmungen der JVP nahmen im Laufe des Jahres 1988 an Gewalt zu. Am 10. September verkündete das indische Oberkommando œ in Jayewardenes Namen œ die formelle Entscheidung, die nördliche und die östliche Provinz zu vereinen. Das war ein weiteres Zeichen des Abhängigkeitsverhältnisses, in das Sri Lanka zu Indien geraten war und führte zum Ausbruch erneuter JVPAusschreilungen. Colombo wurde für einen Tag lahmgelegt, als die JVP auf Plakaten die geplante Zusammenlegung der Provinzen kritisierte und zum Generalstreik aufrief. Am 15. September kündete Jayewardene Präsidentenwahlen für den Dezember an œ und auch, daß er nicht kandidieren würde. Damals war er bereits 82 Jahre alt, und es war Zeit für den Rückzug aus der Politik. Außerdem wurden Parlamentswahlen für die neugebildete nordöstliche Provinz für November angekündigt, und während dieses Wahlkampfes verstärkten ‡Tiger— und JVP abermals ihre terroristischen Aktivitäten. Es hatte auch den Anschein, als würden die beiden Organisationen nunmehr zusammenarbeiten. Unter vielen -408-
Anschlägen war der am 10. Oktober besonders blutig, bei dem die ‡Tiger— 47 singhalesische Dorfbewohner umbrachten. Jayewardene versuchte einmal mehr, die JVP zu bewegen, von ihrem zerstörerischen Kurs abzulassen und zu den Präsidentenwahlen beizutragen. Er scheiterte, und die JVP unternahm mit ihren üblichen Methoden, Mord und Einschüchterung, alles, die Wahlen zu behindern. Bei Massendemonstrationen der JVP in Colombo und anderen südlichen Städten am 10. November wurden mindestens 10 Menschen von Soldaten getötet. Es kam in singhalesischen Distrikten zu einer Reihe von Streiks, auch im Fremdenverkehrswesen, und die Regierung forderte alle Touristen auf, das Land zu verlassen. Die JVP tötete täglich 25 bis 50 Menschen. Singhalesische Bezirke standen unter Armeeverwaltung; Schulen und Universitäten wurden geschlossen, und Dienstleistungen wie Müllabfuhr oder Elektrizitätsversorgung brachen zusammen. Die Provinzparlamentswahlen im November fanden statt œ allen Anstrengungen der ‡Tiger— zum Trotz. Ganz nebenbei kämpften etliche ‡Tiger— als Söldner für einen Exilpolitiker, der auf den Malediven einen Putschversuch unternahm. Indische Truppen schlugen den Putsch nieder (siehe INDIEN). Rund 55 Prozent der Wahlberechtigten nahmen am 19. Dezember an den Präsidentenwahlen teil, weit weniger als sonst bei Wahlen in Sri Lanka, aber durchaus viel angesichts der Gewaltaktionen und Einschüchterungsversuche von Tamilen und Singhalesen. Der Kandidat von Jayewardenes regierender ‡Vereinigter Nationalpartei—, Ministerpräsident Ranasinghe Premadasa, gewann knapp vor Sirimavo Bandaranaike, die ein politisches Comeback anstrebte. Prompt bezichtigte sie ihn des Wahlbetruges. Die letzte Amtshandlung von Jayewardene war die Auflösung des Parlaments und die Festsetzung neuer Wahlen für den Februar 1989. Am 2. Januar 1989 wurde Premadasa vereidigt. Der neue Präsident hatte bei der Lösung der Probleme des Landes nicht mehr Erfolg als sein Vorgänger. Er hob den Ausnahmezustand auf, aber es war nur eine Geste. Der JVP-Terror ging weiter, Fremdenhaß und marxistische Ideologie waren zu einem tödlichen Gemisch geworden. Die ‡Tiger— kämpften weiter gegen die Inder, die -409-
Regierung und andere Tamilen-Parteien, und die Spannungen zwischen den Regierungen von Indien und Sri Lanka nahmen zu. Präsident Premadasa forderte ultimativ den Abzug aller indischen Truppen bis zum 29. Juli 1989, dem zweiten Jahrestag ihres Einmarsches. Die Inder setzten sich darüber hinweg. Die indische Armee wurde beschuldigt, tamilische Dorfbewohner massakriert zu haben œ Sri Lanka ähnelt mehr und mehr dem Libanon. Premadasa hob den Ausnahmezustand auf, und einmal mehr begann der fast hoffnungslose Versuch, mit den verschiedenen Terrorgruppen zu Friedensverhandlungen zu kommen œ ohne Erfolg. Im Lauf des Jahres gab es mehr Morde denn je. Vor den Parlamentswahlen im Februar 1989, bei denen Premadasas UNP gewann, wurden mehr als 1.000 Menschen getötet. Am 20. Juni wurde abermals der Ausnahmezustand verhängt. Die Armee führte nun uneingeschränkten Krieg gegen die JVP, was nach eigenen Angaben mehr als 7.500 Menschenleben forderte. Im Sommer gab es täglich 30 bis 40 Tote. Die Armee jagte und tötete mit Erfolg die Führer der JVP. Am 12. November wurde Wijeweera erwischt und œ nach offiziellen Angaben œ bei einem Fluchtversuch erschossen. Es ist auffällig, daß eine ganze Reihe JVP-Funktionäre bei Fluchtversuchen erschossen wurde. Am 26. Dezember wurde der letzte Überlebende des JVP-Politbüros, Saman Piyarsiri Fernando, gefangen, und er starb sogleich, ‡als die Polizeieskorte aus einem Haus heraus beschossen wurde", berichtete der Außenminister. Im Norden hielt ein stillschweigender Waffenstillstand zwischen Regierungstruppen und den ‡Tigern— an, aber die ‡Tiger— eroberten allmählich das Gebiet zurück, das sie seit 1987 an die indische Armee verloren hatten. Die neue indische Regierung stimmte dem Abzug ihrer Truppen aus Sri Lanka bis Ende März 1990 zu und begann mit der laufenden Evakuierung der Tamilen-Gebiete. Jaffna sollte zuletzt geräumt werden. Sobald die Inder draußen waren, griffen die ‡Tiger— andere Tamilen-Organisationen an, einschließlich der ‡Tamilen Nationalarmee— und der ‡Eelam Peoples Revolutionary Liberation Front—, die beide von der indischen Regierung gestützt waren, und der ‡Volksbefreiungsorganisation von Tamil Eelam—. Bei einem typischen Zwischenfall am 27. Dezember 1989 überfielen die ‡Tiger— zwei Lastwagen mit Mitgliedern der EPRLF und töteten 28 von ihnen. Die -410-
letzten indischen Soldaten wurden am 24. März 1990 aus Trincomalee und Jaffna abgezogen. Auf dem Höhepunkt der Intervention waren 125.000 auf Sri Lanka stationiert gewesen. Indien meldete den Verlust von insgesamt 1.155 Mann. Im Nordosten von Sri Lanka hatten nunmehr die ‡Tiger—, da die srilankische Regierung keine Versuche unternahm, das Vakuum nach dem Abzug der Inder sogleich durch Polizei- oder Armeekräfte zu ersetzen. Das Land wurde faktisch zwischen Tamilen und Singhalesen aufgeteilt; in jedem Sektor herrscht Bürgerkrieg, und die Erneuerung der großen Konflikte scheint leicht möglich. In der Zwischenzeit haben die Moslems auf Sri Lanka, mehr als 1.250.000 Menschen, von denen die meisten in der tamilenbeherrschten Ostprovinz leben, begonnen, sich zu bewaffnen, um sich gegen die ‡Tiger— zu verteidigen. Im Juli 1990 begann die srilankische Armee mit einer neuen Offensive gegen die Tamilen im nördlichen Distrikt Kilinochchi, und in Teilen des Landes wurde abermals der Ausnahmezustand verhängt.
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VIETNAM Geographie: 329.556 km×. Bevölkerung: 66,7 Millionen Flüchtlinge: Aus dem Land: ungefähr eine Million seit 1975; rund 46.000 leben als anerkannte Flüchtlinge in verschiedenen Ländern. Ins Land: 21.000 aus Kambodscha. BSP: ca. 100 $/Einw. Am 30. April 1975 siegte das kommunistische Vietnam im größten aller nationalen Befreiungskriege und in der kompliziertesten aller kommunistischen Revolutionen. In der Nacht des 29. April wurden der US-Botschafter und sein Stab mit Hubschraubern aus der Botschaft ausgeflogen. Die letzten Marineinfanteristen verließen Saigon in den frühen Morgenstunden des 30., wenige Stunden bevor nordvietnamesische Panzer in die Stadt einrollten. Um einen Preis von 2,5 Millionen Menschenleben hatten Ho Chi Minh und seine Nachfolger die Unabhängigkeit und nationale Einigkeit errungen. Sie hätten sie fünfundzwanzig Jahre zuvor von den Franzosen umsonst haben können, wenn sie auf ihre Revolution verzichtet hätten. Fünfzehn Jahre nach diesem Tag im Jahr 1975 hat sich der Triumph in Asche verwandelt, und die Revolution steht am Rand des Zusammenbruchs. Vietnam befindet sich im dauernden Konflikt mit China, als Besatzungsmacht von Kambodscha war es chancenlos, und die vietnamesische Wirtschaft liegt in Trümmern. Vietnams einziger Verbündeter, die Sowjetunion, zeigt klare Ermüdungserscheinungen, und die einzige Hoffnung Vietnams auf ein Überleben ist die, sich nach der Evakuierung Kambodschas mit dem Westen zu arrangieren. Im Frühjahr 1988 gab es die ersten Anzeichen von Wirtschaftsreformen, die von der seit 1954 strikt verfolgten Politik abwichen, und zum Ende des Jahres wurde vereinbart, bis September 1989 alle vietnamesischen Soldaten aus Kambodscha abzuziehen. Vietnam kann seine Bevölkerung kaum ernähren, und 1988 richtete es an die USA mehrere direkte Ersuchen um Lebensmittelhilfe. Die jährliche Inflation erreicht bis zu 1.000 Prozent, und der -412-
Lebensstandard fällt ständig. Das durchschnittliche Einkommen wird derzeit auf etwa 100 Dollar pro Jahr geschätzt. Zum Vergleich: Haiti, das ärmste Land der westlichen Hemisphäre, erreicht derzeit ein Bruttojahreseinkommen pro Kopf von 330 Dollar. Tausende Vietnamesen flüchteten über Land und in Booten œ nach Hong Kong, Malaysia und Thailand. Sie werden regelmäßig von thailändischen Piraten angegriffen, die die Männer ermorden und die Frauen vergewaltigen. Seit der siegreichen Revolution von 1975 haben mehr als eine Million Flüchtlinge das Land verlassen. GESCHICHTE Rund dreißig Jahre lang beruhte die amerikanische Politik in Ostund Südost-Asien auf der ‡Domino-Theorie—. Washington ging von einer weltweiten kommunistischen Verschwörung aus, die von einem Land auf das andere übergreifen würde. Nach China würde Vietnam fallen, danach Kambodscha und dann Thailand, Malaysia und so weiter. Jedes Land, das dem Westen verloren ginge, würde dem vereinten kommunistischen Weltreich hinzutreten. Dieses Komplott sollte vom Kreml gesteuert werden, den Ronald Reagan später als das ‡Reich des Bösen— bezeichnete. Aber die Ereignisse der siebziger Jahre machten deutlich, daß Nationalismus und ethnischer Haß weit stärkere Kräfte waren als Ideologie. Sobald der amerikanische Druck aufgehört hatte, begannen die ‡Dominosteine— sofort mit dem Kampf untereinander. Sowjets und Chinesen bekämpften einander ebenso wie Chinesen und Vietnamesen und Vietnamesen und Kambodschaner. Kambodscha betrachtete China als einen Verbündeten gegen Vietnam, so wie Vietnam die Sowjetunion als Alliierten gegen China einschätzte. China verbündete sich mit den USA gegen die Sowjetunion, und so fanden sich die USA als stiller Teilhaber in einer antivietnamesischen und daher auch antisowjetischen Allianz, die sogar die Roten Khmer einschloß œ insgesamt eines der besten Beispiele für die Machtpolitik der Gegenwart. Im nachhinein kann man leicht klüger sein. Zur Zeit ihrer Geltung schien die Domino-Theorie höchst plausibel, und alles deutet darauf hin, daß auch die Chinesen und Vietnamesen daran geglaubt haben. China unterstützte die vietnamesischen Kommunisten während all -413-
ihrer Kriege: Das begann, als Maos Armeen 1949 Süd-China besetzten und Ho Chi Minh gesicherte Stützpunkte zum Angriff auf Tonking zur Verfügung stellten. Der chinesischsowjetische Streit der sechziger und siebziger Jahre stellte Nord-Vietnam allerdings vor ernste Probleme. China verlangte von Hanoi, in diesem Streit seine Partei zu ergreifen, und ging zur gleichen Zeit mit dem Erzfeind der Vietnamesen, den USA, eine Defacto-Allianz ein. Im Februar 1972, auf dem Höhepunkt des amerikanischen Bombenkrieges gegen NordVietnam, empfing Mao Präsident Nixon in Peking. Hanoi brauchte beide, China und die UdSSR. China behauptet, Vietnam über all die Jahre hinweg 20 Milliarden Dollar Hilfsgelder zur Verfügung gestellt zu haben, eine riesige Summe für ein armes Land, und von der UdSSR wurden die vietnamesischen Kommunisten immer mit Kriegsmaterial versorgt. Die Vietnamesen wiesen allerdings von Anfang an die chinesische Bevormundung zurück. Zwischen dem ‡Reich des Himmels— und seinem zeitweiligen Vasallen, dem Kaiserreich von Annam, bestand eine tausendjährige Abneigung, und die vielen Jahre des französischen Kolonialismus, der Revolution und der Kriege in Indochina konnten an dieser durchaus gegenseitigen Ablehnung nichts ändern. Unmittelbar nach dem Sieg Nord-Vietnams im Jahre 1975 verschlechterten sich die Beziehungen ernsthaft. China fürchtete offensichtlich weiterhin die Sowjetunion und ihren vermuteten Plan der Einkreisung Chinas durch die Ausdehnung ihrer Hegemonie auf Vietnam. Es war eine selbsterfüllende Prophezeiung. Vietnam gestattete den Sowjets die Errichtung eines dauernden Stützpunktes in Cam Ranh Bay, bis China 1979 Vietnam angriff. Danach stieg die sowjetische Unterstützung Vietnams dramatisch an. Chinas Furcht vor der Sowjetunion war nicht nur paranoid œ und selbst Paranoide können tatsächlich Feinde haben. 1969 hatte es zwischen den beiden Ländern ernsthafte Grenzzwischenfälle gegeben (siehe CHINA) und noch ernster zu nehmende sowjetische Drohungen. Aber die Furcht vor der Einkreisung war völlig verrückt. China ist zu groß, um, von welcher Allianz auch immer, eingekreist, beherrscht oder erobert zu werden œ aber verrückt oder nicht, die Chinesen fürchteten sich davor. -414-
Der kommunistische Sieg in Vietnam ermöglichte das Wiederaufleben der auch schon tausend Jahre alten Feindschaft mit Kambodscha (siehe KAMBODSCHA). Pol Pot war der extremste ideologische Fanatiker in der Welt, aber er war auch ein kambodschanischer Nationalist, der die Vietnamesen, die seit Jahrhunderten ein Drittel des Territoriums seines Landes besetzt hatten, haßte. Saigon war ursprünglich ein kambodschanisches Dorf gewesen, und das ganze Mekong-Delta ein Teil Kambodschas. Die Roten Khmer provozierten ihre erste Auseinandersetzung mit Vietnam am 4. Mai 1975, kaum zwei Wochen nachdem sie Phnom Penh eingenommen hatten. Sie besetzten zwei Inseln im Golf von Siam, die die Franzosen an Vietnam übertragen hatten, und töteten mehrere hundert Einwohner, alles Vietnamesen. Ein Überlebender, der einige Monate nach dem Massaker auf die Inseln zurückkehrte, fand sie von Skeletten übersät. Der US-Frachter Mayaguez geriet am 12. Mai mitten in die Auseinandersetzung und wurde von den Kambodschanern aufgebracht. Präsident Ford befahl einen massiven Bombenangriff gegen kambodschanische Küstenstellungen. Es war der letzte amerikanische Luftangriff im Vietnamkrieg. Tausende Kambodschaner wurden getötet, 41 US-Marineinfanteristen und andere Angehörige der Streitkräfte kamen ums Leben, und die angerichteten Schäden waren gewaltig. Zur Rettung der 40 Besatzungsmitglieder der Mayaguez trug die ganze Aktion aber nichts bei, da sie bereits freigelassen worden waren. Die Vietnamesen eroberten die Inseln zurück und rieben die kambodschanischen Einheiten auf. Pol Pot blieb keine andere Wahl, er mußte sich entschuldigen und bezeichnete die Besetzung der Inseln als übereifrige Aktion eines lokalen Kommandeurs. In Wahrheit war es der unverhohlene Versuch gewesen, das Gebiet einzukassieren, ehe noch die neue vietnamesische Regierung ihre Ansprüche erheben konnte. Es war ein Fehlschlag, aber ein Anzeichen bevorstehender Entwicklungen. Die Roten Khmer waren natürlich die ideologischen Schüler von Mao Tsetung, und sie priesen ununterbrochen die Fortschritte der Kulturrevolution. Als aber die Viererbande im Oktober 1976 verhaftet -415-
wurde und eine neue pragmatische Regierung in Peking ans Ruder kam, stimmten die Roten Khmer unverzüglich zu. Obwohl Deng Xiaoping sein Leben und seine Karriere lang gegen den Extremismus in China gekämpft hatte, schützte er weiterhin Pol Pot und die Roten Khmer. Ihre Prinzipien waren ihm zwar zuwider, aber noch größer war seine Abneigung gegenüber Vietnam und der Sowjetunion. DER KRIEG UM KAMBODSCHA In den Kämpfen mit Vietnam waren die Roten Khmer immer die Aggressoren. Zuerst massakrierten sie Vietnamesen in Kambodscha, dann überschritten sie die Grenze und schlachteten vietnamesische Dorfbewohner ab. Im Dezember 1978 marschierten die Vietnamesen in Kambodscha ein, und bald besetzten sie das ganze Land (siehe KAMBODSCHA). Als sich die Beziehungen zwischen Vietnam und Kambodscha verschlechterten, stellten die Chinesen im Sommer 1978 alle technischen und wirtschaftlichen Hilfsprogramme für Vietnam ein. Im Gegenzug wies Vietnam die meisten der in Vietnam lebenden Chinesen aus; im selben Jahr flüchteten mehr als 150.000 von ihnen auf dem Landweg nach China, rund 250.000 versuchten die Flucht in kleinen Booten über das offene Meer. 30.000 bis 40.000 von ihnen kamen auf dem Meer um. Die trostlose Saga dieser ‡Boat People— war einer der Schrecken der achtziger Jahre. Die vietnamesische Besetzung Kambodschas bedeutete für China den schlimmsten diplomatischen Rückschlag seit dem Einmarsch General MacArthurs in Nord-Korea 1950. Diesmal war allerdings das chinesische Staatsgebiet nicht bedroht, und Peking machte Pol Pot klar, daß er im Guerillakrieg auf sich allein gestellt bleiben würde. DER KRIEG ZWISCHEN CHINA UND VIETNAM Die Chinesen waren nicht bereit, diesen Schlag gegen ihr Prestige hinzunehmen. Sie beschlossen, Vietnam eine Lektion zu erteilen. Am 17. Februar 1979 befahl Deng Xiaoping den Einmarsch, und an 20 Stellen überschritten insgesamt 75.000 Soldaten die Grenze. Bald waren 250.000 chinesische Soldaten in die Kämpfe verwickelt. Deng -416-
dachte möglicherweise, die Erfolge von 1962 wiederholen zu können, als China Indien eine eindeutige Lektion über militärische Realitäten erteilt hatte. Diesmal kam es allerdings anders. Die chinesische Volksbefreiungsarmee war zwar die größte der Welt, hatte aber seit dem Korea-Krieg keine wirkliche Kampferfahrung mehr gesammelt und war durch die politischen Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre geschwächt. Ihre Bewaffnung war veraltet und unzureichend. Die Vietnamesen waren im Gegensatz dazu seit 1946 ununterbrochen im Kampf gestanden und verfügten über modernste sowjetische Waffen, ganz zu schweigen von der milliardenschweren Ausrüstung, die sie von den Amerikanern 1975 erbeutet hatten. Der Krieg dauerte 16 Tage. Durch die reine Stärke ihrer Truppen konnten die Chinesen die Grenzposten überrennen und fünf Provinzhauptstädte erobern. Durch eine Ironie der Geschichte war die bedeutendste davon Lang Son, wo die Viet Minh im Indochina-Krieg den Franzosen 1950 aus ihren neuen Angriffsbasen im kommunistischen China heraus die erste bedeutende Niederlage zugefügt hatten. Diesmal eroberten die Chinesen Lang Son, und sie machten es wie die vier anderen Hauptstädte dem Erdboden gleich. Diese fünf Städte waren die letzten französischen Kolonialstädte gewesen, die den Vietnamkrieg unversehrt überstanden hatten, da die Amerikaner sie, um jede Provokation der grenznahen Chinesen zu vermeiden, bei ihren Bombenangriffen ausgespart hatten. Es gelang den Chinesen nicht, die Vietnamesen zu besiegen, und nach schweren Verlusten erklärte sich Deng einfach zum Sieger und rief seine Truppen zurück. Nach chinesischen Angaben waren rund 20.000 Menschen getötet worden, auf beide Seiten ungefähr gleich verteilt. Ausnahmsweise waren die Opfer hauptsächlich Soldaten. Das war für die Chinesen eine schwere Niederlage, und darüber hinaus war das Ziel der Invasion nicht erreicht worden, nämlich die Vietnamesen zum Abzug aus Kambodscha zu veranlassen. Die Vietnamesen verlegten keine einzige Division aus Kambodscha in den Norden. Aber auf lange Sicht war der Krieg zu kostspielig für Vietnam: einerseits wurden mehrere Provinzen verwüstet œ die sich -417-
bis heute nicht erholt haben œ, anderseits war es auch notwendig, an der Nordgrenze Befestigungsanlagen zu errichten und starke Truppenverbände in ständiger Alarmbereitschaft zu halten. Während der darauffolgenden zehn Jahre gab es immer wieder Gefechte zwischen vietnamesischen und chinesischen Einheiten, in die manchmal Tausende Soldaten verwickelt waren. Beide Seiten beschossen die Stellungen des Gegners, monatelang feuerten die Chinesen täglich 10.000 Granaten ab, und als sie 1988 auf 7.000 pro Tag heruntergingen, wurde das als Anzeichen einer Entspannung bewertet. Der Krieg illustrierte eindrücklich die katastrophalen Konsequenzen von Mao Tsetungs und Lin Biaos Glauben an die Unbesiegbarkeit von Guerillaarmeen. Es gelang Deng, die Schuld an dieser Niederlage Mao und der Viererbande zuzuschieben, und er benützte die Gelegenheit, die Armee von Maoisten zu säubern. Die Niederlage im Ausland stärkte Dengs Position in China. DER STREIT UM DIE SPRATLY-INSELN Der erste Konflikt zwischen Vietnam und China in diesem Jahrhundert fand bereits vor dem Sieg Nord-Vietnams über Saigon statt. Dabei ging es um zwei Inselketten im Südchinesischen Meer, die von Vietnam und China gleichermaßen beansprucht werden. Das sind die Paracel-Inseln, vor der Küste von Vietnam, und die Spratlys, weiter im Süden. Der chinesische Anspruch ist ziemlich absurd (die Spratlys liegen näher an Borneo als an China), und die Inseln, winzige Korallenatolle, sind ohne jeden strategischen oder wirtschaftlichen Wert, außer im Meeresgebiet rundherum würde Erdöl gefunden. Taiwan, die Philippinen und Malaysia erheben ebenfalls Ansprüche auf die Spratlys, haben aber niemals ernsthafte Anstrengungen unternommen, sie auch durchzusetzen. Das Thieu-Regime in Saigon begann 1972, international Ölbohrkonzessionen im Gebiet der Inseln anzubieten. Prompt besetzte China die Amphitriten-Kette in den Paracelen. Daraufhin schickte Süd-Vietnam ein kleines Marinedetachement in einen anderen Teil, die Crescent-Inseln und auf die Spratlys. 1974 kündete Nord-Vietnam seinerseits an, Bohrrechte im Südchinesischen Meer zu verkaufen. Die -418-
Chinesen reagierten mit der Besetzung der Crescent-Inseln, und sie verjagten auch die Südvietnamesen. Während der Dauer des Krieges unternahm Nord-Vietnam nichts gegen die chinesischen Forderungen, aber am 1. April 1975, als die kommunistischen Armeen Saigon bereits einschlossen, besetzten nordvietnamesische Marineeinheiten die Spratlys. China protestierte sofort. Seither schwelt dieser Konflikt, und gelegentlich kommt es zu wechselseitigen Machtdemonstrationen. Im Januar 1988 kreuzte eine chinesische Streitmacht vor den Spratlys auf, und am 14. März versenkten chinesische Marineeinheiten ein vietnamesisches Kanonenboot. Vietnam meldete 3 Tote und 74 Vermißte, entsandte Marineverstärkungen auf die Inseln und warnte China vor einer angekündigten ozeanographischen Expedition. China wiederum kritisierte die vietnamesischen Marineverstärkungen. Am Ende zog sich Vietnam zurück und überließ China das Feld. Niemand weiß, ob es im Südchinesischen Meer Erdöl gibt, und falls ja, ob es gewonnen werden kann. Kein Erdölkonzern nimmt das Risiko von Forschungen in einer zwischen zwei so kriegslüsternen Nachbarn umstrittenen Zone auf sich. Bei diesem Streit geht es natürlich nicht wirklich um Öl oder um abgelegene Koralleninseln. Der wahre Grund ist eine tiefsitzende nationale Rivalität, angeheizt durch die Furcht der Chinesen vor der Sowjetunion, und der unmittelbare Anlaß ihrer Feindseligkeit ist Kambodscha. Daß Vietnam 1988 de facto der Annexion der Spratlys durch China zustimmte, war eines der ersten Anzeichen einer grundsätzlichen Änderung der Politik gegenüber seinen Nachbarn. VIETNAM HEUTE 1988 stand Vietnam vor einer Hungersnot. In den Jahren zuvor hatte es eine Reihe von Mißernten gegeben, und dieses Problem wurde durch das überdurchschnittliche Bevölkerungswachstum und die katastrophalen Auswirkungen der kommunistischen Politik auf die Produktivität der Landwirtschaft noch verstärkt. 1981 wandte sich die Regierung von den strikten kommunistischen Prinzipien ab und erlaubte den Bauern, den Überschuß über dem abzuliefernden Ernteertrag hinaus privat zu verkaufen. Daraufhin stieg die Produktion -419-
in fünf Jahren von 13 Millionen Tonnen auf 18 Millionen Tonnen an, aber das ist bei weitern nicht genug, einem jährlichen Bevölkerungszuwachs von 2,6 % zu begegnen. Im April 1988 wandte sich die vietnamesische Regierung zum erstenmal an die USA. Das State Department gab zu verstehen, daß die USA an der Unterstützung Vietnams so lange kein Interesse haben würden, als Vietnam Kambodscha besetzte. Die US-Sanktionen, die 1979 nach der vietnamesischen Besetzung Kambodschas verhängt worden waren, blieben weiter in Kraft. Im Mai wandte sich die vietnamesische Regierung mit dem Eingeständnis, daß 3 Millionen Menschen vor dem Hungertod stünden, an die Weltöffentlichkeit. Die europäischen Staaten schickten 10.000 Tonnen Reis, die UdSSR 60.000 Tonnen. 1987 war die Ernte um 1,5 Millionen Tonnen unter den Erwartungen geblieben, und 1988 war sie nicht besser. Im Juni 1988 wurde in der Nationalversammlung verkündet, daß die Reisproduktion pro Kopf von 581 Pfund (1982) auf 506 Pfund (1987) gesunken sei. Vietnam stand vor einer Katastrophe. Auch der Finanzhaushalt war ein Problem. In den ersten Monaten des Jahres 1988 erreichte die Inflation eine Rate von monatlich 60 %. Im März führte die Zentralbank neue Banknoten mit einem Nominale von 1.000, 2.000 und 3.000 Dong ein, und die Inflationsrate stieg weiter. 1987 warf die Regierung weitere Prinzipien über Bord und erließ ein Gesetz über ausländische Investitionstätigkeit. Es galt zwar als das liberalste im gesamten kommunistischen Machtbereich, bewirkte aber keine Investitionen. Indochina ist noch immer ein zu unsicherer Boden für ausländisches Kapital. Ho-Chi-Minh-Stadt, das frühere Saigon, leidet unter unzureichender Wasser- und Stromversorgung. Nordwestlich der Stadt wurde im März 1988 mit sowjetischer Hilfe ein Wasserkraftwerk eröffnet, das sogleich wieder geschlossen werden mußte. Es war so schlecht konstruiert, daß die Turbinen beim Anstarten zerbarsten, und auch der Damm war nicht sicher. Bereits im Mai 1988 berichteten lokale Zeitungen zwar, daß die Reparaturarbeiten abgeschlossen seien, aber die Berichte klangen wenig überzeugt. Vietnam hatte keine anderen Verbündeten als die Sowjetunion und seine eigenen Marionettenstaaten Laos und Kambodscha. Als Rajiv -420-
Gandhi im April 1988 Hanoi besuchte, schlug er Vietnam jede Unterstützung in seiner Auseinandersetzung mit China über die Spratlys ab, obwohl Indien im allgemeinen grundsätzlich ein Freund der Gegner Chinas ist und die Alliierten der UdSSR unterstützt. Im Mai 1988 kündete Vietnam den Abzug seines halben Kontingents aus Kambodscha œ 50.000 Mann œ bis Jahresende und den Abzug des Restes bis 1990 an. Es versuchte, die Rückzugsbedingungen mit einem politischen Abkommen zu verknüpfen, aber als alle Verhandlungen zwischen der Regierung in Phnom Penh und den verschiedenen Oppositionsparteien scheiterten, überlegten es sich die Vietnamesen anders: Der letzte vietnamesische Besatzungssoldat wurde im September 1989 aus Kambodscha abgezogen. Zur gleichen Zeit reduzierte Vietnam seine Truppen in Laos von 45.000 auf 20.000 Mann. Es schien, daß Vietnam sich gleichermaßen dem Druck der UdSSR wie den Notwendigkeiten beugte. Vierzehn Jahre nach seinem großen Sieg war es an die Grenzen seiner Unabhängigkeit gestoßen. Vietnam versuchte, seine Beziehungen zu China und den USA zu verbessern, mußte aber feststellen, daß beide Staaten den völligen Abzug aus Kambodscha abwarten würden. Vietnam verminderte den Druck auf seine chinesische Minderheit und gestand ein, daß es einiges von Dengs Reformen übernehmen müßte. Es versuchte auch, die amerikanischen Forderungen nach Rückstellung der Überreste der gefallenen US-Soldaten zu erfüllen. Armut und Verzweiflung trieben einmal mehr Tausende Vietnamesen zur Flucht. Eine neue Welle von ‡Boat People— fuhr aufs Meer hinaus, egal, welches Schicksal sie erwarten würde. Sie mußten bald feststellen, daß die Welt sie weit weniger bereitwillig empfing als 1975. Viele von ihnen erreichten Hong Kong, eine Stadt, die von Flüchtlingen erbaut ist, und sie wurden in Lagern auf abgelegenen und lebensfeindlichen Inseln zusammengepfercht, weit weg von den hellen Lichtern und den Jobs der großen Stadt. Ende 1989 entschied die britische Regierung, die mehr als 57.000 vietnamesischen Flüchtlinge in Hong Kong nach Hause zu schicken. Manche konnten zum Verlassen Hong Kongs überredet werden, die anderen sollten gewaltsam außer Landes gebracht werden. In der Nacht zum 12. Dezember 1989 wurde eine erste Gruppe von 51 Vietnamesen -421-
ausgeflogen. Dieses Ereignis löste weltweite Empörung aus. Die USA, die Flüchtlinge aus Haiti in Lagern einsperren und nach Hause zurückschicken, protestierten am lautesten. Die Schwierigkeiten der Regierung Thatcher wurden durch das unglückliche Zusammentreffen verstärkt, daß sie zur gleichen Zeit beschloß, britische Pässe an 50.000 Bürger von Hong Kong und ihre Familien auszustellen. Vietnam, das zunächst mit den Briten übereingekommen war, die Flüchtlinge zurückzunehmen, änderte seine Meinung. Die Regierung verlautbarte, nur freiwillige Heimkehrer wieder aufzunehmen. In der Zwischenzeit gestattete sie immerhin einer Gruppe von früheren Beamten der Regierung von Süd-Vietnam, Armeeoffizieren und Kindern amerikanischer Soldaten, in die USA auszureisen. Von dieser Genehmigung sind einige tausend Menschen betroffen. Vietnam bleibt ein Paradoxon: Es ist eines der ärmsten Länder der Welt, mit einer der größten und mächtigsten Armeen; 1975 waren nur die Armeen der USA, der UdSSR und Chinas größer. Es hatte die Macht, Kambodscha in einem Monat zu überrennen und unbeschränkt besetzt zu halten œ aber es konnte die Roten Khmer nicht besiegen, da sie von China unterstützt wurden. Kambodscha gilt als ‡das Vietnam Vietnams—, und der Vergleich trifft zu œ mit einem Unterschied. Die USA konnten sich den Vietnam-Krieg ‡wirtschaftlich leisten—; für Vietnam war der Krieg gegen Kambodscha zu teuer, auch wenn die UdSSR die Rechnungen bezahlte. Vietnam und Kambodscha sind die extremen Beispiele für den Preis der Revolution. Es läßt sich darüber diskutieren, ob Ho Chi Minh und seine Genossen 1946 den Kampf auch dann begonnen hätten, hätten sie im voraus den Preis von 5 Millionen Toten gewußt. Außer Streit steht, daß sie und ihre Nachfolger letztlich gescheitert sind. Sie haben Indochina unter kommunistische Vorherrschaft gebracht, aber sie haben es ruiniert. Es war niemals Teil ihres Traumes, daß sie vierzig Jahre nach dem Beginn ihres Kampfes und fünfzehn Jahre nach ihrem Sieg als Bettler vor die USA und China hintreten müßten, um ihre Völker vor dem Verhungern zu bewahren.
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NAHER UND MITTLERER OSTEN
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IRAK Geographie: 438.317 km2. Bevölkerung: 16,5 Millionen. Rund 50 % sind Schiiten, 25 % sunnitische Araber, 20 % sunnitische Kurden, 5 % Christen. 75 % sprechen Arabisch, die anderen sprechen Kurdisch, Türkisch oder Persisch. Bodenschätze: Die Erdölreserven werden offiziell mit 44,5 Milliarden Barrel angegeben, sind aber wahrscheinlich weit höher. Der Irak ist der weltgrößte Dattelexporteur. BSP: 1.808 $/Einw. (im Jahre 1980 waren es noch 3.020 Dollar). Flüchtlinge: im Landesinneren: 20.000 bis 50.000 Iraker, 75.000 Iraner. Ins Ausland: 404.000. Der Krieg zwischen Iran und Irak, der von September 1980 bis zum Waffenstillstand im August 1988 dauerte, war der blutigste seit dem Vietnam-Krieg. Es war bei weitem der aufwendigste konventionelle Krieg seit dem Korea-Krieg, mit dem Einsatz regulärer Armeen in sorgfältig geplanten Schlachten. Es war von Anfang bis Ende ein Krieg zwischen zwei Nationen, anders als andere Konflikte. Bald wurde daraus auch ein Krieg zwischen Völkern, die Araber bekämpften die Perser, wie sie das zumindest seit dem siebenten Jahrhundert getan haben, seit dem ersten Jahrhundert der Spaltung der gläubigen Moslems in Schiiten und Sunniten. Ajatollah Khomeini verkündete den Heiligen Krieg und rief alle Schiiten zum Kampf gegen die häretischen Sunniten auf. Bald mußte er erkennen, daß die irakischen Schiiten, die im Land die Mehrheit bilden, zunächst einmal Araber sind: Sie unterstützten ihre Sunniten-Regierung im Kampf gegen die persischen Invasoren. Der Krieg endete, als der Iran um Frieden bat (siehe IRAN). Das Regime konnte nicht länger die Menschen und Waffen aufbringen, um das Vaterland zu verteidigen, ganz zu schweigen, den Durchbruch durch die irakischen Linien zu schaffen. Der Irak akzeptierte den Waffenstillstand längs der internationalen Grenze. Aus diesem Krieg resultierte keine territoriale Veränderung, obwohl die -424-
Auseinandersetzung um den Grenzverlauf im Schatt el-Arab ungelöst geblieben ist. Der Irak beanspruchte für sich den Sieg, hatte aber seine Kriegsziele ebenfalls nicht erreicht: Die Besetzung von Khusistan, der arabischsprachigen Provinz in der Ebene von Mesopotamien und den Sturz der Revolutionsregierung in Teheran. Es gibt keine zuverlässigen Zahlenangaben über die Menschenverluste in diesem Krieg. Der Iran hat wahrscheinlich zwischen 400.000 und 600.000 Tote zu verzeichnen, der Irak zwischen 100.000 und 150.000. DIE GESCHICHTE Der Irak ist wie viele anderen Staaten der modernen Welt eine durch und durch künstliche Schöpfung, ein Resultat der Grenzziehung von Franzosen und Briten, als sie Vorder-Asien nach 1918 aufteilten. Das Land wird von uralten Auseinandersetzungen beherrscht. 539 v. Chr. eroberte der Perserkönig Kyros der Große Babylon und schlug König Belsazar. Der Schah von Persien feierte den zweitausendfünfhundertsten Jahrestag der Gründung der persischen Monarchie im Jahre 1971 œ mindestens zehn Jahre zu spät. Die Araber feiern einen anderen Jahrestag: die Perser herrschten über Mesopotamien 1.100 Jahre lang, eine Herrschaft, die nur von Alexander dem Großen und den Diadochen unterbrochen wurde, aber im Jahr 637 nach Christus siegten die Araber in der Schlacht von alQadisiya über die Perser, eines der einschneidendsten Ereignisse der Geschichte. Während der meisten der folgenden 1.300 Jahre war Mesopotamien mit Syrien verbunden (das damals auch die Gebiete des heutigen Libanon, Israels und Jordaniens umfaßte). Der Staat wurde zunächst von Damaskus regiert, später, bis zum 16. Jahrhundert, von Bagdad, und einen Teil dieser Zeit erstreckte er sich über den heutigen Iran und Zentralasien. Unter dem Kalifat der Abbasiden (750-1258) war Bagdad eines der größten geistigen Zentren der westlichen Welt. Es wurde vom Enkel Dschingis Khans, Hulegu Khan, 1258 zerstört. Er ließ aus den Schädeln der Gelehrten, Theologen, Dichter und Beamten von Bagdad eine Pyramide errichten und die Bibliotheken in den Tigris werfen. Die Tinte färbte das Wasser des Flusses schwarz. Es war eine der großen Katastrophen der -425-
Geschichte. Das finstere Mittelalter im Mittleren Osten währte drei Jahrhunderte, erschüttert von den Eroberungen Tamerlans, der 1401 Bagdad einnahm. Im 16. Jahrhundert wurde Mesopotamien zum Schlachtfeld zwischen den persischen Safawiden und den Ottomanen in Konstantinopel: Das Osmanische Reich beherrschte Bagdad von 1534 bis 1918, mit gelegentlichen blutigen Zwischenspielen der Safawiden, die immer wieder versuchten, Mesopotamien zu erobern und die heiligen Stätten der Schuten zu erobern. Die Schlachten des Altertums zwischen Arabern und Persern, vom siebenten bis zum zwölften Jahrhundert, haften in beiden Ländern durchaus lebendig im Gedächtnis und spielten in ihrer Kriegspropaganda eine wesentliche Rolle. Genauso war es mit den Streitigkeiten zwischen sunnitischen und schiitischen Moslems, die ebenfalls im 7. Jahrhundert in Mesopotamien ihren Ursprung nahmen. Zunächst ging es um die Nachfolge in dem Reich, das Mohammed und die ersten Kalifen errichtet hatten œ die Kontrahenten waren die sunnitischen Umaiyaden und Mohammeds Schwiegersohn Ali und sein Enkel Hussein. Hussein wurde 680 in der Schlacht von Karbala geschlagen und getötet, und er liegt in Najaf begraben; beide Städte sind heute die heiligsten Orte der Schiiten. Najaf hat die größten Friedhöfe der Welt: Hunderttausende, vielleicht Millionen Schiiten sind hierhergebracht und begraben worden. Die iranische Bevölkerung ist zu 80 Prozent schiitisch, und selbst im Irak stellen die Schiiten die Mehrheit, auch wenn das Land immer von Sunniten beherrscht wurde. Die Geschichte des Irak seit 1918 ist ähnlich wie die von Syrien und dem Libanon, gekennzeichnet durch das pausenlose Ringen des Staates um die Bildung einer Nation aus verschiedenen Völkern, Sprachen, Religionen und Traditionen, die innerhalb seiner Grenzen bestehen. Die Briten zogen die heute noch gültigen Grenzen des Irak und Jordaniens, und sie setzten in Bagdad und Amman Könige aus der Haschemiten-Dynastie ein. Die Familie, die aus Arabien kommt, hat in Jordanien überlebt, ein Wüstenkönigreich, in Mesopotamien aber hat sie niemals Fuß fassen können. In dieser ältesten städtischen Kultur der Welt wurde die königliche Familie immer als Kreaturen der Briten und Amerikaner verachtet. -426-
Am 14. Juli 1958 stieß ein Armeeputsch die Monarchie vom Thron, als der Einfluß des ägyptischen Präsidenten Nasser in der arabischen Welt auf dem Höhepunkt war. Die Nasseriten kämpften in Syrien, im Libanon und in Jordanien ebenso um die Macht wie im Irak. Die königliche Regierung mißtraute der Armee und gab den Soldaten niemals scharfe Munition. Dann wurden zwei Bataillone zur Unterstützung König Husseins gegen einen möglichen Umsturzversuch an die jordanische Grenze abkommandiert und mit scharfer Munition ausgerüstet. Sie standen unter dem Befehl von Brigadier Abd al-Karim Kassem und Oberst Abd al-Salam Arif. Der Regierung war verborgen geblieben, daß Kassem der Vorsitzende und Arif ein führendes Mitglied der geheimen ‡Freie Offiziere— Bewegung waren, die seit Jahren einen Staatsstreich geplant hatte. Statt nach Westen abzumarschieren, fielen sie in den frühen Morgenstunden in Bagdad ein und eroberten das Verteidigungsministerium und andere Schlüsselpositionen in der Stadt. Arif schlug sein Hauptquartier in der Rundfunkanstalt auf und befehligte den Angriff auf den Königspalast. Nach einer mehrstündigen planlosen Belagerung kapitulierte Kronprinz Abdul Illah. Die Angehörigen des Königshauses mußten sich im Innenhof versammeln: König Feisal II., sein Onkel der Kronprinz, mehrere Frauen, darunter die Schwester des Königs und Abdul Illahs Mutter sowie einige Diener, insgesamt 25 Menschen. Sie wurden an die Wand gestellt und erschossen, Der Ministerpräsident Nuri es-Said war aus seinem Haus geflüchtet und hatte sich in Bagdad versteckt. Er wurde am nächsten Tag gefangen, als er, verkleidet als Frau, zu entkommen versuchte, und wurde vom Mob gelyncht. Sein Körper und der des Kronprinzen wurden hinter Land Rover gebunden und durch die Straßen von Bagdad geschleift. Viele Beamte des alten Regimes erlitten das gleiche Schicksal, dies wurde zur beliebtesten Hinrichtungsmethode der Revolution. Etliche der Opfer, die zuvor bei Schießereien verletzt worden waren, wurden aus ihren Spitalsbetten herausgeholt, um diesen Tod zu erleiden. Die britische Botschaft wurde gestürmt. Für eine Weile waren Touristen aus dem Westen aus Bagdad ausgesperrt, und wer dieses Verbot mißachtete, mußte mit dem Schlimmsten rechnen. -427-
DER AUFSTIEG DER BAATH-PARTEI Nach diesem Staatsstreich wurde Abd al-Karim Kassem Staatspräsident. Nach zwei Monaten hatte er Arif, der mit der BaathPartei und den Nasseriten sympathisierte, entmachtet. Arif wurde zum Tod verurteilt, 1962 aber begnadigt. Kassem stützte sich in seiner Abwehr der Baath-Partei auf die Hilfe der Kommunistischen Partei; er war ein unfähiger, exzentrischer und fremdenfeindlicher Staatsführer. Die Gefahr, in der er war, begriff er spätestens 1959, als er mit knapper Not einem Anschlag entrann. Der Führer des Mordkommandos, der verwundet entkam, war Saddam Hussein. Im Norden revoltierten die Kurden (siehe DIE KURDEN), und 1961 versuchte Kassem Kuwait zu annektieren. Großbritannien, das damals noch mit Kuwait verbündet war und die Golfscheichtümer regierte, entsandte Truppen, um Kuwait gegen diesen Angriff zu schützen. Kassem zog sich zurück. Die einzigen Verluste waren einige englische Soldaten, die einen Hitzschlag erlitten. Sie waren an einen der heißesten Plätze der Welt gekommen, ausgerüstet für den Sommer in England. Am 8. Februar 1963 kam es zu einem neuerlichen Armeeputsch, den Arif zusammen mit Oberst Ahmad Hasan al-Bakr, einem Führer der Baath, geplant hatte. Die Operation war schwieriger und aufwendiger als 1958, aber sie endete mit dem gleichen Resultat. Die Verschwörer besetzten die Schlüsselstellungen der Stadt und belagerten das Verteidigungsministerium. Als Kassems kommunistische Gefolgsleute zu seiner Unterstützung auf die Straßen eilten, wurden sie von den Soldaten niedergemäht. Es gab Hunderte Tote. Kassem hielt sich den ganzen Tag im Ministerium, am Abend entkam er mit einigen Getreuen. In den frühen Morgenstunden wurde er verhaftet und in die Rundfunkstation gebracht, die abermals den Aufständischen als Hauptquartier diente. Nach einem Schreiduell mit Arif wurde Kassem gemeinsam mit drei überlebenden Adjutanten in einem Fernsehstudio erschossen. Später wurden Bilder von diesen Ereignissen ausgestrahlt. Al-Bakr wurde Ministerpräsident, und Arif wurde mit dem Amt des Präsidenten abgespeist. Die neue Baath-Regierung wandte sich dem -428-
systematischen Mord an den Mitgliedern der Kommunistischen Partei zu, die zum Großteil Schiiten waren. Die Regierung selbst war tief gespalten in Nasseriten, geführt von Arif, und die prosyrische Fraktion unter Al-Bakr. Arif löste das Problem kurzerhand mit einem Staatsstreich am 18. November 1963. Er verbot die Baath-Partei und säuberte die Regierung von allen ihren Mitgliedern. Dann ebnete er den Weg für eine Union zwischen Syrien und dem Irak, blies sie aber im letzten Moment wieder ab (die Syrer hatten ohnedies nicht viel davon gehalten) und entledigte sich statt dessen lieber seiner früheren nasseritischen Mitstreiter. Es gab mehrere Umsturzversuche von Nasseriten und BaathParteigängern. Im April 1966 starb Arif bei einem Hubschrauberabsturz, wahrscheinlich ein Unfall, und ihm folgte sein Bruder General Abd el-Rahman Arif. Er versuchte, das Land aus der wirtschaftlichen Krise, in die es von seinem Vorgänger hineingeführt worden war, herauszuholen und die Kurdenfrage zu lösen, aber die Zugeständnisse, die er den Kurden zu machen bereit war, stießen bei den irakischen Nationalisten auf scharfe Kritik, ebenso wie bei der Baath-Partei. Nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 steuerte er den Regierungskurs scharf nach links und suchte die Verständigung mit den irakischen Kommunisten und anderen Gruppen. Am 17. Juli 1968 gelang der Baath und einer Allianz von Konservativen und Gemäßigten ein Staatsstreich. Zum ersten Mal wurde dabei niemand getötet. Arif wurde ins Exil geschickt, al-Bakr wurde Staatspräsident und bildete eine neue Regierung der nationalen Einheit. Baath-Offiziere übernahmen rasch das Kommando über die Armee, und am 30. Juli warfen sie bei einem weiteren Staatsstreich die restlichen Nicht-Baath-Minister aus der Regierung. Die meisten führenden Mitglieder der neuen Regierung stammten aus Tigris, einer Stadt nördlich von Bagdad. Viele von ihnen waren miteinander eng verwandt, einschließlich al-Bakr und Hussein. Sie unterstrichen diese Tatsache noch dadurch, daß sie alle den Beinamen al-Tikriti annahmen. Nicht alle Tigriten blieben aber Mitglied des inneren Führungszirkels. 1971 schickte Saddam Hussein General Hardan alTikriti ins Exil, und später ließ er ihn in Kuwait ermorden. Die Baath hat sich in ihrer Macht seit 1968 durch eine Politik rücksichtslosen Terrors und der Ermordung ihrer Gegner, ob -429-
Kommunisten, Nasseriten, Pro-Syrer, islamischer Fundamentalisten oder Dissidenten der eigenen Partei, gefestigt. Am 27. Januar 1969 wurden neun Juden und fünf andere Irakis unter dem Verdacht der Spionage für Israel in Bagdad öffentlich gehenkt. Seither unternehmen die Mitglieder der kleinen jüdischen Gemeinde im Irak jede Anstrengung zur Auswanderung. Der erste Umsturzversuch geschah schon zwei Monate nach der Machtübernahme des neuen Regimes, aber er blieb ebenso erfolglos wie die vielen danach. Im Juli 1973 starb bei einem davon der Verteidigungsminister General Hammad Shibab (al-Tikriti). Ungeachtet seiner Brutalität und seiner Verankerung durch die Geheimpolizei kann sich das Baath-Regime auch einige anerkennenswerte Leistungen gutschreiben. Sein pures Überleben während des langen Krieges gegen den Iran zeigte, daß es im Volk hinreichend Unterstützung fand, aber der Haupterfolg liegt im Bereich der Wirtschaft. Der Irak spielte eine führende Rolle bei der ersten OPEC-Preissteigerung 1973/74. Die großen Gewinne im Ölgeschäft wurden vernünftig eingesetzt, und das Land machte bis zum Krieg von 1980 rasche Fortschritte. Die Außenpolitik der Baath war unversöhnlich und egoistisch. Der Irak bekannte sich zu seiner unerschütterlichen Feindschaft gegen Israel, unterstützte den palästinensischen Terrorismus, kaufte Waffen von der Sowjetunion; er schloß mit ihr im April 1972 einen Freundschaftspakt ab und griff die USA bei jeder möglichen Gelegenheit an. Aber der Irak war niemals ein ergebener Satellit der Sowjetunion, und wann immer es sich als günstig herausstellte, die Unterstützung des Westens zu suchen, wechselte Saddam Hussein ohne jedes Schamgefühl die Seite. Die Geschichte des Irak ist weiterhin ein bitterer und blutiger Wettstreit zwischen Kräften in der irakischen Gesellschaft: Die BaathPartei (siehe SYRIEN), die säkularistisch und sozialistisch ist und von sunnitischen Arabern aus Tigris geführt wird; die schiitische Bevölkerungsmehrheit; die Kommunistische Partei, deren Mitglieder meistens Schiiten sind; verschiedene andere linke und nasseritische Gruppen; die Kurden; und die Armee. Saddam Hussein al-Tikriti, der derzeitige Präsident aus der Baath-Partei, hat versucht, den Krieg gegen den Iran als Mittel einzusetzen, die Einheit des Landes gegen die Perser zu erreichen und so seine Spaltungen zu Überwinden. Aber -430-
nachdem er seit seiner Machtergreifung potentielle Gegenspieler in Armee und Partei liquidiert, Kommunisten und religiöse Schiiten massakriert, den obersten Religionsführer der irakischen Schiiten ermordet und Giftgas gegen Kurdendörfer eingesetzt hat, wird er wohl damit keinen Erfolg haben. Jahrzehntelang gab es einen offenen Grenzstreit zwischen dem Irak und dem Iran über den Schatt el-Arab; das ist der Zusammenfluß von Euphrat und Tigris und markiert die südliche Grenze zwischen den beiden Ländern. Der Iran pochte auf den Grenzverlauf in der Mitte des Flußes, während der Irak die endgültige Anerkennung der Grenze auf dem Ostufer forderte, wie sie seit 1937 bestand. Darüber hinaus hatte der Iran von 1961 bis 1975 den aufständischen Kurden im Norden des Irak jede Unterstützung geboten. Der Krieg zehrte an den irakischen Rohstoffreserven, und schließlich anerkannte der Irak 1975 den Anspruch des Iran auf den Schatt, im Gegenzug zur Einstellung der Unterstützung der Kurden. Das Abkommen wurde auf dem OPEC-Gipfeltreffen in Algier im März verkündet, und im Juni wurde in Bagdad ein Vertrag unterzeichnet. Ungeachtet des großen Nutzens, den die Iraker daraus zogen, betrachteten sie diese Entscheidung als nationale Demütigung und warteten auf die Gelegenheit, ihre Ansprüche auf die Wasserstraße wieder aufleben zu lassen. Die Spannungen zwischen den Sunniten und den Schiiten und zwischen der säkularen BaathPartei und militanten Moslems wurden durch die Revolution im Iran angeheizt. Khomeini hatte seit 1965 in Najaf im irakischen Exil gelebt. Dort hatte er eng mit einem irakischen Ajatollah zusammengearbeitet, Baqir al-Sadr, der für die Errichtung einer Islamischen Republik im Irak eintrat. Das Abkommen mit dem Iran über den Schatt el-Arab und die Kurden sah auch vor, daß es beiden Seiten verboten sein sollte, Oppositionsgruppen gegenüber der anderen zu unterstützen. Im September 1978 beriefen sich die Iraner darauf und forderten vom Irak die Ausweisung Khomeinis, der prompt nach Paris geschickt wurde. Das stellte sich als Verhängnis für die Perser heraus: Er fand Paris als Operationsbasis gegen den Schah weit besser geeignet, und die Ausweisung verstärkte seinen Haß gegen den Irak. Unmittelbar nach der iranischen Revolution im Februar 1979 begann das neue Regime in Teheran, die irakischen Schiiten zur -431-
Revolte anzustacheln. Die Schuten bilden die Mehrheit im Irak, und daher bedeutete das eine ernsthafte Gefahr für die Regierung. Eine schiitischislamische Partei, die ‡Dawa—, unter iranischem Einfluß, plante eine Verschwörung gegen die Regierung und hatte mit einer Terrorkampagne begonnen. Saddam Hussein, damals Vizepräsident und der starke Mann der Regierung, stellte den Ajatollah al-Sadr in Najaf unter Hausarrest. Anschließende gewalttätige Ausschreitungen in Schiitenvierteln von Bagdad wurden mit großer Brutalität niedergeschlagen. Am 16. Juli 1979 überzeugte Hussein Präsident Hassan al-Bakr von der Notwendigkeit seines Rücktritts und übernahm selbst das Amt des Präsidenten. Von da ab konsolidierte er in kurzer Zeit seine Position. Am 28. Juli meldete Radio Bagdad, daß ‡eine verräterische und gemeine Verschwörung, geplant von Abtrünnigen der Partei und Revolution aufgedeckt worden sei—. Fünf führende Mitglieder des Baath-Kommandorates und sechzehn weitere höhere Mitglieder wurden in Anwesenheit von Saddam Hussein und anderen führenden Parteifunktionären hingerichtet. Die Radiomeldung beschuldigte die fünf auch des Kontakts mit einer ausländischen Macht (also Syrien); in einem Bericht wurde festgestellt, daß vier von ihnen Schiiten gewesen seien. Im April 1980 ließ Hussein nach einem Mordversuch an einem seiner engsten Mitarbeiter den Ajatollah al-Sadr und seine Schwester kurzerhand aufhängen. Damit zeigte er die brutalen Seiten des wahren Tyrannen. Die Unterdrückung der Schiiten wurde verstärkt, 15.000 bis 20.000 von ihnen wurden in den Iran vertrieben, Hunderte hingerichtet. 1980 war Saddam Hussein im Irak fest im Sattel. Der Erdölerlös war von 1,8 Milliarden Dollar im Jahre 1973 auf 26,1 Milliarden im Jahr 1980 angestiegen, und zu Beginn 1981 stieg der Preis auf 35 Dollar pro Faß, fünfmal so viel wie 1973. Der Irak war nicht der einzige Staat, der dachte, diese goldenen Zeiten würden ewig währen. In den 18 Monaten nach der Flucht des Schah im Januar 1979 war der Iran an den Rand des Zerfalls geschlittert. Die Armee hatte praktisch alle ihre höheren Offiziere eingebüßt und schien außerstande, die Kurden und Aserbeidschaner unter Kontrolle zu halten. Das Institut für Strategische Studien in London schätzte, daß in dieser Phase der Revolution 60 Prozent der Soldaten im Iran -432-
desertierten. Zwischen den Linken und Gemäßigten und den islamischen Fundamentalisten herrscht in Teheran ein erbitterter Machtkampf. Das Verhalten des Iran, vor allem die Erstürmung der US-Botschaft und die Geiselnahme hatten das Land in der Staatengemeinschaft isoliert, und durch den Bruch mit den USA hatten die Iraner ihren Hauptwaffenlieferanten verloren. Der Schah hatte ganze Flotten moderner Flugzeuge gekauft, aber durch den Ersatzteilmangel und die schlechte Wartung waren die meisten nicht mehr einsatzbereit. Der Irak behauptete, ‡im Iran herrsche an jeder Straßenecke eine andere Regierung—. Die iranische Politik der grundsätzlichen Militanz erstreckte sich auch auf die Beziehungen mit dem Irak. Anstatt mit den Nachbarn zu einer Einigung zu kommen, während sie mit ihren inneren Problemen fertig würden, wurde der schiitische Fundamentalismus im Irak weiter angefacht. Saddam Hussein, neu ins Präsidentenamt eingesetzt, protestierte erbittert. Zur selben Zeit schien ihm der Zeitpunkt günstig, den irakischen Anspruch auf den ganzen Schatt el-Arab wieder hervorzuholen. Natürlich kann eigentlich keiner dieser Punkte als Casus Belli genügen. Der wahre Grund für die Aggression des Irak war unzweifelhaft der Wunsch, aus den Schwierigkeiten des Iran Kapital zu schlagen, ihm eine demütigende Niederlage zuzufügen und Khomeini zu besiegen, ja vielleicht sogar zu stürzen. Möglicherweise hoffte Hussein auch, Khusistan zu annektieren, die iranische Provinz in der Ebene, wo die größten Erdölvorkommen liegen. Die Bevölkerung Khusistans besteht hauptsächlich aus Arabern, und vielleicht glaubte Hussein auch, daß sie froh sein würden, vom iranischen Joch befreit zu werden. DER IRANISCH-IRAKISCHE KRIEG Am 17. September 1980 kündigte Hussein den Vertrag von 1975 auf, und fünf Tage später traten seine Truppen zur Generaloffensive an. Die Iraker drangen tief in den Iran ein. Der größte Hafen des Iran, Koramschar, fiel Ende Oktober. Ahwaz, die Provinzhauptstadt von Khusistan, und Abadan, die größte Ölstadt des Landes, waren bedroht. Obwohl es zunächst schien, als würde der Irak leicht gewinnen, wurde es bald offensichtlich, daß die irakischen Armeen schlecht -433-
geführt wurden und nur wenig Angriffsgeist hatten und daß der Irak die militärischen Möglichkeiten des Iran erheblich unterschätzt hatte. Die irakische Offensive blieb Ende 1980 stecken, als es den Iranern gelang, in Koramschar erneut Fuß zu fassen und Abadan gegen heftigen irakischen Beschuß zu halten. Die irakischen Truppen wurden kurz vor Ahwaz zum Stehen gebracht. Im Frühling und Sommer 1981 gingen die Iraner zum Gegenangriff über, und sie konnten die Iraker von Abadan zurückdrängen. Die Begründungen Husseins für die frühen Niederlagen waren bemerkenswert. Die Autorin Christine Moss Helms berichtet, daß er sagte, die irakischen Nachschublinien wären ursprünglich zu lang, die irakischen Streitkräfte aufgesplittert und die Reservisten zu unerfahren gewesen, die Iraner hätten besser gekämpft, ihre Heimat verteidigt, den besseren Geheimdienst und die bessere Geländekenntnis gehabt. Außerdem hätte der Iran einen Vorteil gehabt, da die Iraker auf Panzertruppen gesetzt, die Iraner aber unsportlicherweise in der Nacht angegriffen hätten, wenn die Panzer manövrierunfähig waren. In den meisten Ländern würde ein General, der für so viele Fehleinschätzungen verantwortlich ist, auf der Stelle entlassen werden. In vielen Ländern würde man ihn erschießen. Aber der Irak ist eine Ein-Parteien-Diktatur, und Saddam Hussein hat all das überlebt. Man darf nicht vergessen, daß die Baath eine Zivilistenpartei ist, von deren Führungsgarnitur nur Hussein über militärische Erfahrung verfügt œ auch wenn er nur Leutnant war, als er 1959 die Armee verließ und sich der Revolutionspolitik zuwandte. Der Irak ist mit der Sowjetunion von 1941 vergleichbar, und militärische Überlegungen sind stets den politischen untergeordnet, einschließlich der Notwendigkeit der absoluten Kontrolle der Partei über die Armee. Während all das passierte, geschah am 7. Juni 1981 einer der dramatischsten Zwischenfälle der jüngeren irakischen Geschichte. Die israelische Luftwaffe bombardierte den Osirak-Atomreaktor, den die Franzosen bei Bagdad errichtet hatten. Acht israelische F-16 waren aufgestiegen, jede mit zwei 2.000-Pfund-Bomben, sechs F-15 sorgten für den Geleitschutz. Sie flogen hoch über Jordanien und dann in Baumwipfelhöhe unter dem irakischen Radar nach Bagdad. Kein Flugzeug ging verloren. Weder das irakische noch das saudische Radar, noch die amerikanischen AWAC-Maschinen, die den -434-
saudischen Luftraum überwachen, sahen sie beim An- oder Abflug. (Die Amerikaner behaupteten später etwas lahm, daß sie in die andere Richtung geschaut hätten). Ein französischer Techniker und einige Iraker wurden getötet. Die israelische Regierung unter Menachem Begin behauptete, daß der Irak auf dem besten Weg gewesen sei, Atomwaffen herzustellen. Die französischen Techniker und die Iraker leugneten das. Der Krieg ging weiter. Bis zum Frühjahr 1988 gab der Iran die Initiative nicht mehr aus der Hand. Am 24. Mai gelang es den Iranern, in einer Generaloffensive die Iraker aus Koramschar hinaus- und auf ihre Grenzen zurückzuwerfen. In einer Reihe weiterer Angriffe überquerten die Iraner die Grenze in Kurdistan und drangen durch die Wüste in Richtung Tigris vor, und im Februar 1984 eroberten sie die Insel Majnun im südlichen Irak. Dieses Landstück war Marschland und von einem Araberstamm bewohnt worden, der sich von allen anderen unterschieden hatte. Aber Land und Leute waren dem Ölgeschäft geopfert worden, die Sümpfe trockengelegt und die Ölbohrtürme errichtet worden. Die Eroberung dieses Gebietes war für den Iran ein bedeutender Sieg. Beide Seiten versuchten, unter schweren Verlusten, Einheiten durch diese Sümpfe vorzuschicken. Die Iraker setzten gegen die iranischen Soldaten Giftgas ein, sowohl das Senfgas, das bereits im Ersten Weltkrieg verwendet worden war, als auch Nervengas. Seit 1918 war nur ein einziges Mal Giftgas eingesetzt worden: 1935, beim Angriff Mussolinis auf Abessinien (siehe ÄTHIOPIEN). Iranische Soldaten mit Gasvergiftungen wurden zur medizinischen Behandlung nach Europa gebracht. 1986 überquerten iranische Einheiten die Sümpfe an der Mündung des Schalt el-Arab und besetzten die Halbinsel Fao. Im Jahr darauf stürmten sie gegen die zweitgrößte irakische Stadt, Basra, und beinahe hätten sie den Durchbruch durch die Verteidigungslinie geschafft. Die meisten Einwohner flüchteten: Viele Monate lag die Stadt in Reichweite der iranischen Geschütze, die sie gnadenlos beschossen. Die Iraker hatten mittlerweile aber ebenfalls dazugelernt und konnten die Iraner vor Basra zum Stehen bringen, wenn auch um den Preis der Schwächung der Nordfront. Jedes Jahr begannen neue iranische Offensiven, und jedes Jahr hielt -435-
der Irak die Stellungen. Die Iraner erlitten immense Verluste, schickten fanatische Revolutionswächter gegen irakische Bunker. Im schiitischen Glauben hat das Märtyrertum eine große Bedeutung, und Hunderttausende Iraner opferten sich freiwillig auf. Die Revolutionswächter gingen in Wellen aus Menschenleibern vor, die die Iraker um jeden Preis zurückdrängen und eine Bresche schlagen wollten für die reguläre iranische Armee. Die Iraker konnten sie erst stoppen, nachdem sie richtige Schützengrabenstellungen angelegt hatten. Und trotzdem bestand immer die Möglichkeit eines iranischen Durchbruchs œ wie bei der Eroberung der Halbinsel Fao im Jahre 1986. Diese Kämpfe waren enorm verlustreich, die Schätzungen schwanken: Der Iran verlor von 1980 bis 1988 zwischen 400.000 und 600.000 Mann, der Irak etwa 150.000 Tote, 500.000 Verletzte und 70.000 Gefangene. Bei den Angriffen auf Basra im Januar 1987 verlor der Iran 25.000 bis 30.000 Tote, der Irak 5.000 bis 10.000. Der Iran konnte sich dieses Mißverhältnis leisten: seine Bevölkerung beträgt 45 Millionen, die des Irak 15 Millionen. DER TANKERKRIEG Ab Ende 1980, nachdem die Südfront stabilisiert war, konnte der Iran alle irakischen Ölexporte auf der Route durch den Schatt el-Arab unterbinden. Im April 1982, als sich das Kriegsglück gegen den Irak wandte, schloß Syrien die irakische Pipeline zum Mittelmeer, und eine Weile schien es, als würde der Irak wirtschaftlich abgewürgt, ehe der Krieg zu einer militärischen Entscheidung käme. Die anderen arabischen Staaten retteten ihn. Der Irak mag zwar eine der unbeliebtesten Regierungen der gesamten Region haben, und hatte sich gegenüber den Monarchien in Jordanien, den Golfstaaten und in Saudi-Arabien immer feindselig gebärdet, aber diesen Ländern schien der persische Fundamentalismus weit bedrohlicher, und so konnten es sich die konservativen arabischen Länder gar nicht leisten, den Irak untergehen zu lassen. König Hussein von Jordanien öffnete den Hafen Akaba den irakischen Importen œ vor allem Waffen œ, und in großer Eile wurden Pipelines quer durch die Wüste zum Roten Meer und durch die Türkei zum Mittelmeer errichtet. Eine Weile gingen die -436-
irakischen Exporte sogar durch Kuwait. Außerdem unterstützten die konservativen Araber den Irak direkt mit jährlichen Dollarsummen in Milliardenhöhe œ insgesamt waren es während der acht Kriegsjahre 60 Milliarden Dollar. Der Tankerkrieg begann 1984. Der Irak griff iranische Tanker und die größte iranische Ölladestation auf der Insel Kharg an, die in bequemer Reichweite der irakischen Luftwaffen Stützpunkte lag. Der Iran schlug zurück, indem er Tanker unter der Flagge Kuwaits und anderer Golfstaaten angriff, und da diese Staaten den Irak unterstützten, waren dies legitime Angriffsziele. Es gelang allerdings keinem der beiden Kontrahenten, die Exporte des anderen ernsthaft zu schädigen. Der Ölpreis, der ab 1982 wieder rapid fiel, wurde durch den Tankerkrieg niemals ernsthaft beeinflußt. Der Iran verlagerte einfach seine wichtigen Öldepots auf die Insel Larak in der Straße von Hormuz. Kleinere Tanker brachten das Öl von Kharg und anderen Ölfeldern nach Larak, wo es in Supertanker umgeladen wurde. 1987 richtete Kuwait ein Hilfsersuchen an die USA, die kuwaitischen Tanker zu schützen. Elf kuwaitische Tanker wurden umgeflaggt und fuhren unter dem Sternenbanner, und die amerikanische Kriegsmarine patrouillierte im Golf, um sie zu schützen. Am 17. Mai feuerte eine irakische Super-Etendard zwei ‡Exocet—-Raketen auf eine amerikanische Fregatte ab. Die Iraker hatten die USS Stark offensichtlich versehentlich für ein iranisches Kriegsschiff gehalten. Die Abwehrsysteme der Stark funktionierten nicht, sie wurde erheblich beschädigt, und 37 amerikanische Matrosen fanden den Tod. Die Regierung Reagan akzeptierte die Entschuldigungen des Irak. Von da ab herrschte auf den amerikanischen Schiffen ständig höchste Alarmstufe, und zwischen den amerikanischen Flotteneinheiten, amerikanischen und saudischen AWAC-Flugzeugen und dem Irak wurde eine enge Zusammenarbeit vereinbart, um ähnliche Zwischenfälle zu vermeiden. Der Iran beschuldigte die Amerikaner der Unterstützung des Irak, und offenkundig war an diesem Vorwurf etwas dran. Als ein amerikanisches Kriegsschiff am 3. Juli 1988 eine iranische Verkehrsmaschine abschoß (siehe IRAN), war dieses Mißgeschick zum erheblichen Teil auf die Angst der Schiffsoffiziere vor einer Wiederholung des Stark-Zwischenfalles zurückzuführen. -437-
Iran antwortete mit der Verminung des Golfes, und mehrere Schiffe erlitten Minentreffer. Am 14. April 1988 wurde die amerikanische Fregatte USS Samuel B. Roberts durch eine iranische Mine schwer beschädigt. Als Gegenschlag versenkte die US-Marine sechs iranische Kriegsschiffe und Patrouillenboote und zerstörte zwei iranische Ölbohrplattformen. DER LUFTKRIEG Eine andere Erscheinung des iranischirakischen Krieges war der Einsatz von Bombern und Raketen gegen Städte. 1984 begann der Irak mit Luftangriffen auf iranische Städte; im Februar wurde Dizful angegriffen, später auch Teheran und andere Stadtgebiete. Diese Angriffe erreichten niemals die Intensität früherer Kriege des 20. Jahrhunderts œ keine der beiden Seiten hatte dafür genug Bomber œ, aber im Verlauf der Auseinandersetzungen stieg die Zahl der Zivilopfer beträchtlich. 1987 richtete der Irak Raketen gegen iranische Städte. Es waren SCUD-Raketen sowjetischer Bauart, die derart umgebaut wurden, daß sie das Hauptziel Teheran erreichen konnten. 4 Millionen Teheraner, die Hälfte der Bevölkerung, soll aufs Land geflüchtet sein. Andere Städte wurden ebenfalls getroffen, wenn auch nicht so schwer, darunter Isfahan, Schiraz und Kermanschah. Isfahan ist eine der schönsten Städte der Welt, vergleichbar mit Venedig, und die Möglichkeit, daß die Denkmäler dieser Stadt beschädigt werden könnten, bedeutet die gefährlichste Drohung für das kulturelle Erbe der Welt seit 1945. Daraufhin nahm der Iran Bagdad unter Raketenbeschuß. DER IRAKISCHE SIEG In ihrer militärischen Bedeutung waren der Tanker- und der Luftkrieg nur Nebenschauplätze. Was zählte, war der Krieg auf dem Boden. Im Frühjahr 1988 griff der Iran in seiner letzten Offensive Kurdistan an. Seine Armeen stießen vor, bis in Sichtweite des großen Stausees von Darbandi Khan und der Wasserkraftwerke von Dukan, die Bagdad mit Strom versorgen. Der Iran nahm mehr als 4.000 irakische Soldaten gefangen, darunter einen Divisionskommandeur, -438-
und eroberte rund 640 km2 irakischen Gebietes. Der Verlust des Staudamms hätte für den Irak einen schweren Schlag bedeutet. Die Iraner hatten sich allmählich durch die Berge bis Kirkuk vorgearbeitet, und wenn sie den Durchbruch in die Ebene geschafft hätten, hätten sie vielleicht den Krieg gewonnen. Um sie zum Stehen zu bringen, setzte der Irak Giftgas ein. Im März 1988 wurde das irakische Kurdendorf Halabjah, zu diesem Zeitpunkt iranisch besetzt, vom Gas getroffen. Die Leichen von mehr als hundert Dorfbewohnern œ Frauen, Kinder und alte Männer œ wurden westlichen Reportern vorgeführt, die für diese ‡Besichtigung— aus Teheran hingebracht wurden. Der Iran meldete mehr als 2.000 Tote, und eine UNO-Kommission bestätigte den Giftgas-Einsatz. Ohne Rücksicht auf die Gefahr des iranischen Vorstoßes in Kurdistan schickten die Iraker keine Verstärkungen. Sie waren überzeugt, die Front halten zu können. Außerdem brauchten sie die Einheiten im Süden: Am 17. April starteten sie eine überraschende Offensive gegen die Halbinsel Fao und trieben die Iraner in dreitägigen schweren Kämpfen über den Schatt el-Arab zurück. Die Befreiung Faos nach zweijähriger Besetzung war der größte Sieg des Irak und die entscheidende Schlacht des Krieges. In den folgenden Monaten, in einer anderen Offensive, holten die Iraker das Gebiet um Basra zurück, damit hatten sie praktisch das gesamte Territorium zurückerobert, das sie im Verlauf des Krieges verloren hatten. Berichte von der Front von Fao wie von Basra zeigten auf, daß der iranische Widerstand überraschend schwach war. Die persische Armee, die so tapfer und schwungvoll gekämpft hatte, brach mit einem Schlag zusammen und floh vor den Arabern. Im Juni griff der Irak an der Mittelfront an und eroberte das Majnun-Ölgebiet zurück, das der Iran 1984 eingenommen hatte, und mit einigen kleineren Vorstößen wurden die letzten paar Quadratkilometer von der iranischen Besetzung befreit. Im selben Monat griff Massoud Rajavis exiliranische ‡Nationale Befreiungsarmee— (NLA) über die Grenze in Kurdistan an. Die NLA, die von khomeinifeindlichen Mudschahedin gebildet wurde, hatte angeblich 15.000 Soldaten, ausgerüstet vom Irak œ nicht genug, in diesem Krieg das Gleichgewicht zu verändern, aber durchaus ausreichend, im Falle eines Zusammenbruchs des Revolutionsregimes -439-
im Iran eine Rolle zu spielen. In ihrer Sommeroffensive nahmen sie die iranische Stadt Mehran ein und hielten sie einige Tage, ehe sie sich wieder hinter die Front zurückzogen. Dieses Ereignis war im Rahmen einer Reihe kleinerer Offensiven in Kurdistan zu sehen, mit denen die Iraner vom Dukan-Damm ferngehalten werden sollten. Es gab mehrere Gründe für die irakischen Siege von 1988. Der erste war die Kriegsmüdigkeit des Iran, und vielleicht auch der Verlust des revolutionären Enthusiasmus. Ein zweiter Grund war, daß der Irak ungeachtet aller Anstrengungen der USA, Waffenlieferungen an beide Kontrahenten zu unterbinden, sich stets ausreichend mit Waffen und Gerät versorgen konnte. Nach dem Scheitern der ersten Offensive 1980 verbesserte der Irak seine Beziehungen zu Saudi-Arabien, Kuwait und Jordanien und baute seine guten Beziehungen zur Türkei aus. Er blieb auf Distanz zur Sowjetunion und unternahm alle Anstrengungen, sich als berechenbarer, moderner Staat zu präsentieren, der einen fanatischen Aggressor in Teheran bekämpfte. Mit dieser Politik erwarb er, wenn schon keine Waffen, so doch die Sympathien von Washington, und zuletzt wurden auch die seit 1967 abgebrochenen diplomatischen Beziehungen wieder aufgenommen. Und verbesserte Beziehungen zu den Amerikanern ermöglichten Geschäfte mit den europäischen Waffenhändlern, namentlich den Franzosen. Die konservativen Araber lieferten das Geld, die Europäer die Waffen, aber letztlich wurde der Krieg durch die Ausdauer der irakischen Soldaten gewonnen. In der Zwischenzeit mußte der Iran, durch seinen eigenen Fanatismus isoliert, feststellen, daß es ihm unmöglich war, weiterhin seine Armeen auszurüsten. Der Irak hatte auch einen geographischen Vorteil auf seiner Seite. Die Schlachtfelder waren allesamt in der Reichweite der irakischen Luftwaffe, die Hauptstraßen des Landes führten zu ihnen hin, und so konnte der Irak seine Truppenverbände leicht und schnell verschieben, während der Iran Truppen und Nachschub von der Hochebene herunterbringen mußte, über Gebirge und gewundene und schwierige Straßen, Auf dem Boden kämpften die Iraker von 1981 bis 1988 einen Verteidigungskrieg und ließen es zu, daß die Iraner eine Reihe von Offensiven starteten und sich darin erschöpften œ auf ähnliche Weise, wie die Deutschen 1914 und 1918 ihre Kräfte gespart und den -440-
alliierten Armeen fruchtlose Siege an der Westfront zugestanden hatten, um in einem letzten gewaltigen Vorstoß auf Paris vorzumarschieren. Die irakischen Armeen hielten die Front, was während der iranischen Großoffensive auf Basra 1986/87 besonders schwierig war, und das Baath-Regime hatte genügend Kraft und Unterstützung in der Bevölkerung, daß auch die Heimatfront standhielt. Das ist wohl die erstaunlichste seiner Leistungen: 1980 hätte kaum jemand geglaubt, daß Saddam Hussein sieben Jahre Stillstand überstehen könnte. DER WAFFENSTILLSTAND Diese irakischen Siege gaben dem Iran den Rest. Am 18. Juli 1988 verkündete die Regierung in Teheran, daß sie den von der UNO vorgeschlagenen Waffenstillstand annehmen würde. Der Ajatollah teilte persönlich sein Einverständnis mit dieser Entscheidung mit, und am 8. August trafen die Außenminister der beiden Kontrahenten den UNO-Generalsekretär Perez de Cuellar in New York; sie kamen überein, daß der Waffenstillstand am 20. August in Kraft treten sollte. Eine UNO-Friedensstreitmacht wurde eilig zusammengestellt und in den Golf entsandt. Es gab noch kleinere Gefechte, in deren Verlauf die Iraker die iranischen Truppen aus Kurdistan hinauswarfen und demonstrierten, daß sie jederzeit in iranisches Territorium eindringen könnten, zumindest an der Mittelfront. Nach dem Waffenstillstand wandte Saddam Hussein seine Aufmerksamkeit den kurdischen Rebellen im Norden zu und stellte rasch wieder die Macht der Zentralregierung im gesamten irakischen Kurdistan her. Der Krieg war vorbei. (Die diplomatische Vorgeschichte des Waffenstillstandes wird im Kapitel IRAN ausführlich behandelt, die Rückeroberung von Kurdistan im Kapitel DIE KURDEN). NACH DEM KRIEG Der Irak hatte den Krieg 1980 begonnen, um die völlige Herrschaft über den Schatt el-Arab wiederzuerlangen, um den Iran an der weiteren Aufhetzung der irakischen Schuten zum Aufstand zu hindern -441-
und um den Ajatollah Khomeini zu demütigen und möglichst auch zu stürzen. Hussein mag auch Khusistan im Auge gehabt haben. Der Irak war eindeutig der Aggressor. Acht Jahre später waren nur wenige dieser Ziele erreicht worden, und doch hat der Irak einen großen Sieg gefeiert. Der Preis war aber enorm hoch. Der Irak hat mindestens 150.000 Tote zu beklagen, schuldet den anderen arabischen Staaten rund 60 Milliarden Dollar, Basra und andere Städte sind schwer beschädigt, und dem Land bleibt die unversöhnliche Feindschaft des weit größeren und reicheren Nachbarstaates Iran erhalten. Der Krieg führte auch zu einer Militarisierung der irakischen Gesellschaft, und es war nicht immer sicher, ob die Baath-Partei die Loyalität der Armee haben würde. Bei den Siegesparaden und Feiern im August 1988 badete das Regime euphorisch im Triumph. Vielleicht werden die Rechnungen erst später präsentiert. Der Krieg war vorbei, nicht aber die Auseinandersetzung. Iranische und irakische Delegationen trafen sich in Genf unter dem Schirm der UNO, um das Waffenstillstandsabkommen in einen Friedensvertrag umzuwandeln. Alles sprach dafür, daß die Verhandlungen lang und zäh sein würden. Von Anfang an forderten beide Seiten die volle Herrschaft über die Wasserstraße im Schatt el-Arab, und der Iran bestand darauf, daß der Irak als Aggressor verurteilt würde. Das Regime sah sich aber noch vielen anderen ungelösten Aufgaben gegenüber. Erstens waren da immer noch die Kurden, die unablässig versuchten, aus den Schwierigkeiten des Irak Kapital zu schlagen und deren Führer sich ständig mit den Persern gegen die Araber verbündeten. Das wurde ihnen nicht verziehen. In der letzten Augustwoche, während des Eröffnungstreffens der Genfer Konferenz, begann der Irak in Kurdistan mit einer neuen Offensive, um eine der bedeutendsten Widerstandsbewegungen auszumerzen. Und einmal mehr setzte der Irak Giftgas ein (siehe DIE KURDEN). Dann folgte der Streit mit Syrien. Die schlachterprobten irakischen Armeen waren nun frei, um die Frage über den Euphratdamm neu aufzurollen (siehe SYRIEN) und die Allianz Syriens mit dem Iran zur Debatte zu stellen. Und dann war da Israel: Seit 1948 war der Irak ein lautstarker, wenn auch ineffizienter Feind Israels. Jetzt kann das Land seine Armeen ungehindert einsetzen, und schließlich hat der Irak noch eine Rechnung wegen der Zerstörung seines Atomreaktors offen. -442-
IRAK Zuletzt stellt sich die Frage nach den zukünftigen Beziehungen des Irak mit den konservativen arabischen Staaten im Süden, mit dem Westen und mit der UdSSR. Vor dem Krieg waren die Beziehungen des Irak zu Saudi-Arabien und Kuwait auf einem absoluten Tiefpunkt, er war zutiefst verfeindet mit den USA und Verbündeter der Sowjetunion. Während des Krieges geriet das Land in die Abhängigkeit vom arabischen Erdölgeld und in bestimmtem Ausmaß auch von Waffenlieferungen aus dem Westen. Die UdSSR stahl sich diplomatisch vom Platz, sorgte aber weiterhin für die Instandhaltung der gewaltigen Mengen an iranischen Beutewaffen. Im Sommer 1990 fiel der Irak in Kuwait ein und löste eine Weltkrise aus œ die erste nach dem Ende des Kalten Krieges. CHRONOLOGIE DES KRIEGES ZWISCHEN IRAN UND IRAK 1980 17. September: Saddam Hussein kündigt den Vertrag mit dem Iran über den Schalt el-Arab auf und fordert die ganze Wasserstraße für den Irak. Der Iran weist diese Forderung zurück. 22. September: Der Irak bombardiert Teheran und marschiert im Iran ein. Er besetzt Khoramschar und erreicht das Weichbild von Abadan, ehe die Offensive zum Stehen kommt. Ende des Jahres bricht die irakische Offensive zusammen. 1981 Mai: Die erste Gegenoffensive des Iran wirft den Irak von Abadan zurück. Die Iraner überschreiten im mittleren und nördlichen Frontabschnitt die Grenze. 1982 29. März: Saddam Hussein schlägt den beiderseitigen Rückzug auf die Grenzen und einen Waffenstillstand vor. Der Iran lehnt diesen Vorschlag ab. 24. Mai: Der Iran erobert Khoramschar zurück. -443-
1984 22. Februar: Der Iran greift an der Mittelfront an und erobert die Insel Majnun. 27. März: Der Irak beginnt den Tankerkrieg im Persischen Golf mit Raketenangriffen auf iranische Öltanker. Der Iran kontert mit Angriffen auf saudische und kuwaitische Tanker. November: Der Irak nimmt wieder diplomatische Beziehungen zu den USA auf. 1985 11. März: Iranische Truppen überschreiten den Tigris und greifen Basra an, werden aber abgeschlagen. Der Städtekrieg beginnt mit Raketenangriffen auf Teheran und Bagdad. 1986 9. Februar: In einem Nachtangriff überqueren iranische Einheiten den Schatt el-Arab p und besetzen die Halbinsel Fao. 25. Februar: Der Iran erobert Chwarta im irakischen Kurdistan. 12. August: Der Irak bombardiert die iranische Ölraffinerie auf der Insel Sirri im Persischen Golf. 24. Dezember: Der Iran beginnt mit einer großen Offensive gegen Basra und wird nach mehrwöchigem Kampf zurückgeschlagen. 1987 23. April: Kuwait sucht Hilfe im Tankerkrieg. Die USA erklären sich bereit, kuwaitische Schiffe in amerikanische umzuflaggen und zu schützen. 17. Mai: Ein irakisches Kampfflugzeug greift die USS Stark an, dabei sterben 37 Matrosen. 20. Juli: Der UNO-Sicherheitsrat ruft in einer Resolution zum Waffenstillstand auf. 22. Juli: Die US-Marine eskortiert den ersten Tankergeleitzug unter US-Flagge durch den Golf. 1988 16. März: Die Iraner erstürmen Halabjah in Kurdistan. Bei einer irakischen Gegenoffensive wird Giftgas eingesetzt, 2.000 Zivilisten sterben. 18. April: Die US-Marine zerstört zwei iranische Erdölplattformen -444-
und versenkt sechs iranische Marineeinheiten als Antwort auf den Minentreffer auf USS Samuel B. Roberts. Der Irak erobert Fao zurück. 26. Juni: Der Irak holt die Insel Majnun zurück. 3. Juli: USS Vincennes schießt eine iranische Verkehrsmaschine ab, dabei sterben 290 Passagiere und Besatzungsmitglieder. 11. Juli: Der Irak erobert Halabjah und andere kurdische Gebiete zurück. 18. Juli: Der Iran verkündet die Annahme des sofortigen Waffenstillstandes. 30. August: Der Irak beginnt mit einer neuen Offensive gegen die Kurden. 1990 Im März 1990 lieferte Saddam Hussein der Welt eine Demonstration seiner Macht und Grausamkeit œ vielleicht auch seiner Unsicherheit. Er befahl die Hinrichtung eines iranischen Journalisten. Farzad Bazoft arbeitete für den britischen Observer und hatte versucht, Informationen über eine große Explosion zu sammeln, die sich im August 1989 in einer Munitionsfabrik südlich von Bagdad ereignet haben sollte. Er war auf Einladung der irakischen Regierung ins Land gekommen. Er wurde verhaftet, wegen Spionage angeklagt, sechs Monate in Isolationshaft gehalten und schließlich am 10. März von einem ‡geheimen Revolutionstribunal— zum Tod verurteilt. Am 15. März wurde er gehenkt. Die Hinrichtung Bazofts belastete die Beziehungen des Landes zum Westen ernsthaft. Die Briten protestierten, und das Baath-Regime stellte unverzüglich große antibritische Demonstrationen in Bagdad und anderen Städten auf die Beine. Offensichtlich war der unglückselige Bazoft zum Opfer eines Machtkampfes geworden, ähnlich wie die amerikanischen Geiseln in Teheran 1979 und wie Salman Rushdie im Iran. In allen drei Fällen wogen die inneren Notwendigkeiten schwerer als die außenpolitischen Verwicklungen mit wichtigen Handelspartnern. Vielleicht befand es Hussein für notwendig, die nationalistische Trommel zu schlagen. Achtzehn Monate nach dem Ende des Krieges IRAK waren immer noch -445-
100.000 irakische Kriegsgefangene unter elenden Bedingungen im Iran gefangen, die Lebensbedingungen im Land hatten sich seit dem Kriegsende nicht verbessert, und die Gewaltherrschaft des HusseinClans lastete schwer auf dem Irak. Wenige Wochen später wurde der Waffenkonstrukteur Gerald Bull von unbekannten Männern erschossen. Bull galt als genialer Geschütz- und Raketenerfinder, der sich in den Dienst Saddam Husseins gestellt hatte und ihm Geschütze mit enormer Reichweite konstruiert hatte. Auf dem Londoner Flugplatz Heathrow wurde eine Schmuggelladung von Zündern entdeckt, die zum Bau von Atombomben dienen. Auch eine Lieferung von scheinbar harmlosen Stahlröhren wurde enttarnt, die insgesamt für Bulls Geschütze die Spezialläufe gebildet hätten. Hussein rüstete sein Land auf œ nicht ohne die massive Unterstützung europäischer Waffenfirmen. KRISE AM GOLF Im Juli 1990 erhob der Irak gegenüber Kuwait ständig Forderungen, die immer drängender wurden œ es ging um Öl und um Territorialrechte. Daraus entwickelte sich mit einem Schlag eine Krise, die möglicherweise das gesamte politische Gefüge nicht nur dieses Raumes verändern wird. 1. August: In der saudiarabischen Stadt Dschidda scheitern die Verhandlungen zur Beilegung des Konfliktes zwischen den beiden Staaten. Die Grenzen zwischen Irak und Kuwait werden geschlossen. 2. August: Um 02.00 Uhr Ortszeit überschreiten irakische Truppen die kuwaitische Grenze und besetzen innerhalb weniger Stunden die Hauptstadt Kuwait-City und große Teile des Öl-Emirats. Dem kuwaitischen Emir, Scheich Dschabir al-Ahmed as-Sabah, gelingt die Flucht nach Saudi-Arabien. Der UNO-Sicherheitsrat verurteilt den Überfall und fordert den sofortigen Abzug der Invasoren. Bush ordnet die sofortige Einfrierung der irakischen und kuwaitischen Vermögenswerte an. 3. August: Irakische Verbände stoßen bis nahe an die saudische Grenze vor. Auch der Außenministerrat der Arabischen Liga verurteilt -446-
den irakischen Überfall und fordert den sofortigen Rückzug. Die Außenminister der USA und der UdSSR geben in Moskau eine gemeinsame Erklärung ab, in der die Aggression verurteilt, die Durchsetzung der Resolution des Sicherheitsrates und der Abzug der Invasoren verlangt wird. Das Wirtschaftsembargo der USA gegen den Irak tritt in Kraft. 4. August: Bagdad setzt eine ‡Freie Provisorische Regierung Kuwaits— ein. Die EC beschließt die Verhängung eines Ölboykotts gegen die beiden Länder sowie ein Waffenembargo gegen Irak. Die 19. Außenministertagung der Organisation der Islamischen Konferenz verurteilt in Kairo die irakische Aggression. 5. August: Saddam Hussein ordnet die Aufstellung von 11 neuen Armeedivisionen an. 6. August: Die UNO verhängt œ bei Stimmenthaltung des Jemen und Kubas œ weltweite Wirtschaftssanktionen gegen den Irak. 7. August: Die EG verhängt ein generelles Handelsembargo. Die durch die Türkei führenden Pipelines werden abgestellt. Bush gibt den Befehl zur Truppenentsendung nach Saudi-Arabien, um das Königreich vor einem eventuellen irakischen Angriff zu schützen. 8. August: Irak gibt die Annexion Kuwaits bekannt, die Verschmelzung wird als ‡vollständig und unumstößlich— bezeichnet. 9. August: Der Irak läßt nur noch Diplomaten aus- und einreisen. Hunderte Ausländer werden aus Kuwait nach Bagdad gebracht und in Hotels als Geiseln festgehalten. 10. August: Saddam Hussein ruft die Araber zum Aufstand ‡gegen ausländische Einmischung im Golf— auf. Die NATO-Außenminister begrüßen die US-Reaktion. Die Arabische Liga beschließt auf einem Krisengipfel in Kairo mit knapper Mehrheit, dem Ersuchen Riads zu folgen und eine arabische Streitmacht nach Saudi-Arabien und in andere Golf-Staaten zu entsenden. 12. August: Saddam Hussein verknüpft in einer Erklärung den Abzug seiner Truppen aus Kuwait mit der Freigabe der besetzten Gebiete durch Israel. Ferner sollen unter der Aufsicht des Sicherheitsrates stehende arabische Streitkräfte die amerikanischen und anderen westlichen Truppen in Saudi-Arabien ersetzen. Die USA -447-
lehnen diese Vorschläge kategorisch ab. 13. August: am Flottenaufmarsch beteiligen sich nun schon Großbritannien, Frankreich, die Niederlande und Australien. Später stoßen immer mehr Einheiten auch anderer Länder dazu. 14. August: Der irakische Botschafter in Paris erklärt, sein Land mache das Schicksal der in Kuwait und Irak festgehaltenen Ausländer vom Verhalten ihrer Regierungen abhängig. 15. August: Saddam Hussein kündet den Abzug der irakischen Truppen aus den iranischen Gebieten an, die der Irak seit dem Ende des iranischirakischen Krieges besetzt hat. Die Kriegsgefangenen werden unverzüglich repatriiert. 16. August: Bush trifft den jordanischen König Hussein. Hussein gibt der Forderung Washingtons nach der Schließung seines Hafens Aqaba für den Irak vorläufig nicht nach. 17. August: Die US-Marine stoppt erstmals irakische Handelsschiffe. 18. August: Bagdad warnt vor den Auswirkungen des Handelsembargos auf die festgehaltenen Ausländer. Dutzende werden als ‡lebende Schutzschilde— zu strategisch wichtigen Zielen gebracht. Großbritannien gibt seinen Kriegsschiffen im Golf Schießerlaubnis. 19. August: Der Sicherheitsrat berät erneut über eine militärische Kooperation. 20. August: Irak verlegt die aus Iran abgezogenen Divisionen in den Süden, wo an der Grenze zu Saudi-Arabien bereits 160.000 irakische Soldaten stehen. Auch die Vereinigten Arabischen Emirate lassen die Stationierung amerikanischer und arabischer Truppen auf ihrem Territorium zu. In den folgenden Tagen zieht sich der Ring um den Irak immer enger. Zusätzlich wird eine Luftblockade verhängt, der Aufmarsch internationaler Streitkräfte unter Beteiligung immer mehr Länder geht weiter. Saddam Hussein beantwortet dies mit der Erklärung Kuwaits zur 19. irakischen Provinz und dem Aufruf zur Befreiung Jerusalems. Kuwaitis werden systematisch umgesiedelt, Iraker in das Land gebracht. In den Flüchtlingslagern in Jordanien und Saudi-Arabien wird die -448-
Situation immer dramatischer. Die Repatriierung der Zehn- und Hunderttausenden Gastarbeiter aus Dritte-Welt-Staaten geht nur schleppend vor sich, die klimatischen Bedingungen machen den unzureichend versorgten Menschen ebenso zu schaffen wie der Zusammenbruch der Nahrungsmittel- und Medikamentenlieferungen.
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IRAN Geographie: 1.648.000 km2. Bevölkerung: 45 Millionen. 45 % sprechen Persisch, 23 % verwandte iranische Umgangssprachen (bes. der Kurden, Luren und Belutschen) 26 % Turksprachen (Aserbeidschanisch, Aseri, Arabisch). Bodenschätze: Erdölreserven von 48,5 Milliarden Barrel, Mineralienvorkommen, Erdgas. Hauptexportgüter sind Pistazien, Teppiche, Kaviar u. a. Flüchtlinge: Im Landesinneren: 1 Million Iraner, 2,6 Millionen Afghanen, 400.000 Iraker. Ins Ausland: 800.000 in der Türkei. Verluste: Für den iranischirakischen Krieg gibt es keine verläßlichen Angaben. Die zuverlässigsten Schätzungen betragen zwischen 400.000 und 600.000 toten Iranern und 100.000 bis 150.000 toten Irakern. Am 20. Juli 1988 akzeptierte der Ajatollah Khomeini zögernd den UNO-Vorschlag eines Waffenstillstands im Golfkrieg. Er sagte: ‡Diesen Vorschlag anzunehmen ist für mich tödlicher als Gift. Aber ich ergebe mich in Gottes Willen. Ich leere diesen Kelch zur Erfüllung von Gottes Willen.— Wie auch immer die militärische Situation oder die langfristigen Aussichten für den Iran sein mögen, der Ajatollah hat klar eingestanden, daß er eine vernichtende Niederlage erlitten hat: ‡Heute hat Khomeini seine Brust allen Pfeilen des Vorwurfs des Mißgeschicks und der verhängnisvollen Ereignisse dargeboten, und im Angesicht all der Geschütze und Geschosse des Feindes zählt er wie alle dem Martyrium Ergebenen die Tage, sein Martyrium erfüllen zu können.— Als der Waffenstillstand am 20. August in Kraft trat, stellte sich für die Vereinten Nationen und für die kriegführenden Staaten das Problem, den Krieg zu einem Ende zu bringen und die tieferen Ursachen zu beseitigen. Der Schlüssel zu beidem war die Zukunft der Islamischen Revolution im Iran. GESCHICHTE Persien ist einer der ältesten Staaten der Erde, seine durchgehende Geschichte erstreckt sich zurück bis zu Kyros dem Großen, dessen -450-
Laufbahn als Eroberer 549 v. Chr. begann. Schah Reza Mohammed Pahlevi feierte 1971 den behaupteten zweitausendfünfhundertsten Jahrestag der Gründung mit einer Feier in Persepolis die den Iran 100 Millionen Dollar kostete. Seine Rechenkunst war ebenso fehlerhaft wie sein politisches Urteil. In den Jahrhunderten nach Kyros wurde das Persische Reich stets wieder erobert aber ebenso regelmäßig kam es wieder empor. Es war immer ein Reich, in dem ein Volk die anderen beherrschte. Die Perser selbst waren immer in der Minderheit und mußten daher ihre Regierung den Bedürfnissen ihrer Untertanen anpassen Der zeitgenössische Nationalismus hat jetzt die Kurden, Aserbeidschaner, Araber, Belutschen und Turkomanen infiziert, die die Mehrheit der Bevölkerung im Iran stellen und auch in Zukunft die Herrschaft der Perser in Frage stellen werden. Von der Zeit Kyros‘ bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts wurde das Land Persien genannt, bis Schah Reza in einem Anfall von faschistischer Begeisterung den Namen in ‡Iran— änderte. Er wollte damit dokumentieren, daß die Perser die wahren Arier seien, ein noch reineres Volk als die von ihm so bewunderten Nationalsozialisten Die Wurzeln der Iranischen Revolution reichen zurück in die Anfänge der modernen Monarchie und der Politik von Reza Khan Pahlevi, des Generals der sich 1925 zum Schah ausrief. Er war ein harter, klardenkender Reformer, der sich am Vorbild von Kemal Atatürk in der Türkei orientierte. Aber wo Atatürks Reformen an Grenzen stießen, ging Reza Schah weiter. Die Türkei war nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches für Reformen reif œ Persien war es nicht. Aber noch wichtiger: Atatürk betrieb seine Reformen konsequent zwanzig Jahre lang, und er hinterließ fähige Reformer und die Struktur eines modernen Staates. Reza Schah begründete eine Dynastie. Als er 1941 von den Briten wegen seiner achsenmächtefreundlichen Politik vertrieben wurde, hing der Fortbestand all seiner Errungenschaften von den Fähigkeiten seines Erben ab. Dieser Erbe war sein Sohn Mohammed Reza, der zweite und letzte Schah der Pahleyi-Dynastie, dem die Durchschlagskraft und die Fähigkeiten seines Vaters vollständig fehlten. Rezas Reformen waren auf heftigen Widerstand der Ulama der Priesterschaft gestoßen, aber -451-
anders als Heinrich VIII. oder Atatürk versäumte er sie unter Kontrolle zu bringen. Er hatte sie angegriffen und beherrscht, aber niemals besiegt. Auch sein Sohn schaffte es nicht, sie zu beherrschen, im Gegenteil er erwarb sich ihre unversöhnliche Feindschaft. Die säkulare Nationale Front, angeführt von Mohammed Mossadegh, hatte einen kurzfristigen Erfolg, indem sie Mohammed Schah von seinem Thron vertrieb Er wurde von der Armee wieder eingesetzt, mit Hilfe der CIA, eine Episode die beiden Institutionen klarmachte, wie einflußreich sie in diesem Land waren. Die Ereignisse von 1953 wiederholten sich ein Vierteljahrhundert später und holten die Amerikaner ein. Rujhollah Khomeini, der 1902 geboren wurde, entwickelte seine politischen Ideen in Opposition zu Reza Schah. Bereits in den dreißiger Jahren war er ein prominenter Theologe, Koranexeget und Führer der Priesterschaft in Chom, dem theologischen Zentrum Persiens. Die Niederlage der Nationalen Front im August 1953 rückte die klerikale Ulama ins Zentrum des Widerstandes. Khomeinis Einfluß in der Ulama nahm ständig zu. 1962 kämpfte er gegen ein Gesetz, das den Frauen und Nicht-Moslems bei lokalen Wahlen das Wahlrecht geben sollte. Er bezeichnete diesen Gesetzesentwurf als einen ‡Angriff auf den Koran und den Islam—. Der Schah gab nach œ was sein Vater niemals getan hätte œ, und im Juni 1963 richtete Khomeini einen neuerlichen wilden Angriff gegen die Regierung. Es kam zu Demonstrationen, die vom Regime schonungslos niedergeschlagen wurden. Fallschirmjäger griffen Khomeinis Seminar in Ghom an und nahmen ihn fest. Daraufhin kam es zu weiteren Ausschreitungen in Teheran und Ghom, die abermals grausam unterdrückt wurden. Einige Studenten wurden vom Dach des Seminars geworfen, andere wurden in einem Teich ertränkt. Insgesamt wurden zumindest 200 Menschen getötet. Nach der Revolution wurde der General, der diese Aktion geleitet hatte, als einer der ersten erschossen. Khomeini wurde im August 1964 begnadigt, und der Schah versuchte, die Unruhen durch Wahlen einzudämmen. Khomeini rief zum Boykott auf und wurde abermals eingesperrt. Er wurde im Frühjahr darauf wieder freigelassen, aber dann erließ die Regierung -452-
eine andere unpopuläre Maßnahme: ein Gesetz, das allen Angehörigen der amerikanischen Streitkräfte im Iran diplomatischen Status verlieh. Das Gesetz war so unpopulär, daß der Schah sogar Probleme hatte, es in seinem Jasager-Parlament durchzubringen. Khomeini prangerte es als Beleidigung des iranischen Nationalismus an, ‡ein Dokument zur Versklavung des Iran ... ein Eingeständnis, daß der Iran eine amerikanische Kolonie sei.— Diesmal wurde er in die Türkei abgeschoben. 1965 ging er in die den Schiiten heilige Stadt Najaf im Irak. Aus dieser geschützten Position heraus setzte er seine Angriffe gegen den Schah und seine Regierung fort. Seine Rolle in den Ereignissen von 1962 bis 1964 sicherte ihm eine große Gefolgschaft unter den Studenten in Ghom, von denen viele später die geistlichen Führer der Revolution wurden. DAS ANCIEN REGIME Der Zusammenbruch der Monarchie im Juni 1979 war ebenso überraschend wie unvermeidlich. Überraschend, weil der Schah ohne wirkliche Opposition 25 Jahre lang geherrscht hatte, eine 400.000 Mann-Armee und eine große und schlagkräftige Polizeitruppe befehligte, darüber hinaus eine skrupellose und schlagkräftige Geheimpolizei, die SAVAK. Die enormen Gewinne der iranischen Erdölindustrie sollten dem Land ein ständiges Wirtschaftswachstum bescheren und dadurch der Regierung auch die Loyalität der Bevölkerung sichern. Die Revolution war aber unvermeidlich œ dank der Tyrannei, Korruption und wirtschaftlichen wie politischen Unfähigkeit der Regierung. Der Schah hatte nur geringe Fähigkeiten, und seine Politik machte eine Gruppe nach der anderen zu erbitterten Feinden: die Bauern, die Kleriker, die städtische Mittelschicht, die Industriellen, die Studenten. Als die Opposition sich ab 1977 zum Kampf formierte, führten die aufgestaute Feindseligkeit und Wut im Land zu einem unkontrollierbaren Ausbruch. Der Schah hatte keine Idee, um dieser plötzlichen Wendung der Ereignisse zu begegnen. Im Gegenteil, er versprach Reformen und gab Armee und Polizei den Befehl, die Opposition zu zerschlagen. -453-
Im Januar 1978 gingen die Seminaristen von Ghom zu einer ProKhomeini-Demonstration auf die Straße. Die Polizei eröffnete das Feuer und tötete etliche von ihnen. Die Trauerzeit im Iran dauert 40 Tage. Vierzig Tage nach den Morden von Ghom gab es weitere Demonstrationen und weitere Tote. Das Muster wiederholte sich. Die Protestwelle überschwemmte das Land. Im September, während der Festlichkeiten, die das Ende des Ramadan begleiten, gab es in Teheran mehrere große Demonstrationen. Der Schah verhängte das Kriegsrecht, und Hunderte starben, als die Polizei am 8. September in die Menschenmenge auf dem Jaleh-Platz schoß. Das Massaker wurde als ‡Schwarzer Freitag— bekannt, und der Platz und das MärtyrerDenkmal darauf wurden zum bevorzugten Ort revolutionärer Demonstrationen, eine iranische Place de la Bastille. Die Reaktion des Schahs war zögernd und halbherzig. Er machte Zugeständnisse, löste seine Ministerpräsidenten ab, ließ den Kommandeur der SAVAK verhaften und befahl der Armee, die Ordnung wiederherzustellen. Er hoffte, daß Washington ihm Anweisungen geben würde, was er tun solle, und wurde von den widersprüchlichen Signalen aus der Carter-Administration verwirrt. Einerseits riet ihm der US-Außenminister Cyrus Vance zu Verhandlungen mit der Opposition. Andrerseits verlangte der Nationale Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski von ihm, die Opposition mit aller notwendigen Gewalt zu zerschlagen. Im Oktober 1978 wurde Khomeini auf das Drängen des Schahs hin aus dem Irak ausgewiesen. Er ging in einen Vorort von Paris, nach Neuphlele-Cháteau. Es war ein entscheidendes Ereignis. Zwischen Frankreich und Iran bestanden hervorragende Telephon- und Telexverbindungen, und Khomeinis Botschaften wurden jeden Tag nach Teheran gesendet und im ganzen Land verbreitet. Revolutionäre Propaganda wurde per Fernschreiber und Photokopie weitergegeben. Khomeini war nun der Sprecher der Revolution, und alle Oppositionskräfte im Iran sammelten sich um ihn. Die Gemäßigten dachten, sie könnten ihn benützen. Sie sollten sich irren. Der Schah schwankte weiterhin zwischen Härte und Nachgiebigkeit, aber es war zu spät. Keiner der beiden Wege konnte ihn noch retten. Er suchte das Gespräch mit Vertretern der Opposition, die entweder den Dialog verweigerten oder von ihm forderten, das -454-
Land zu verlassen. Er ernannte einen Oppositionspolitiker, Shapour Bakhtiar, zum Ministerpräsidenten, der das Amt unter der Bedingung übernahm, daß der Schah unverzüglich das Land verlasse. Der Schah ging am 16. Januar 1979 ins Exil. Die Generäle und Leibwächter, die ihn verabschiedeten, weinten. Bakhtiar und andere Politiker wahrten gerade noch die Formen der Höflichkeit. Der Ministerpräsident erließ eine Reihe wichtiger Maßnahmen: Er löste die SAVAK auf, erklärte die Pressefreiheit und kündete eine Reihe grundlegender demokratischer Reformen an. Es war alles umsonst. Am 31. Januar flog Khomeini nach Teheran œ wie Lenin nach Finnland fuhr œ, und am 11. Februar rief er die Islamische Republik aus. DIE REVOLUTION In diesem Jahrhundert hat es in der Welt viele gewaltsame Regierungswechsel gegeben: In den letzten vierzig Jahren sind die Monarchien von Ägypten, Irak und Libyen durch Armeeputsche hinweggefegt worden; Griechenland, Türkei, Spanien und Portugal haben zwischen militärischen und zivilen Regierungen geschwankt; in Frankreich hat es seit 1940 drei Wechsel der Regierungsform gegeben. Aber in all diesen Fällen haben die lebensnotwendigen Instrumente des Staates den Wechsel überstanden, sowie auch bei allen Staatsstreichen in Lateinamerika, mit der Ausnahme von Kuba. Was im Iran geschah, war aber kein gewöhnlicher Staatsstreich. Es war eine Revolution. Die Polizei, die Justiz, die gesamte Struktur staatlicher Autorität brach zusammen, und das Vakuum wurde von militanten Geistlichen und Studenten gefüllt. Die Verfassung, die Gesetze, das Erziehungssystem, die Wirtschaft œ alles wurde über den Haufen geworfen. Der Wechsel war so katastrophal wie die Russische oder die Chinesische Revolution, das Ende der Monarchie in Äthiopien oder der Untergang der portugiesischen Kolonialregierungen in Afrika. Noch gravierender ist, daß der Iran ein relativ moderner, entwickelter Staat war, nicht ein rückständiges Land wie Äthiopien, und auch keine verheerenden Kriege hinter sich hatte wie Rußland oder China. Und trotzdem fiel das Land binnen 18 Monaten von einer Diktatur des 20. Jahrhunderts zurück in eine -455-
mittelalterliche Theokratie. Die iranische Außenpolitik änderte sich sofort. Die israelische Botschaft in Teheran wurde in aller Eile aufgegeben. Amerikanische Techniker, die Horchposten zur Überwachung der sowjetischen Raketentestgelände im nordöstlichen Iran bedienten, wurden hastig aus dem Land gebracht und ließen den Großteil ihrer Ausrüstung zurück. Am 14. Februar wurde die US-Botschaft angegriffen, und das US-Konsulat in Täbris im Westen des Landes œ einem bedeutenden Vorposten und Schauplatz wichtiger Begegnungen œ wurde vom Mob gestürmt. Fünf Tage nach der Machtübernahme Khomeinis wurden die ersten hohen Offiziere der Armee des Schah hingerichtet. Bald ging der revolutionäre Terror los: Zwischen Februar 1979 und Januar 1980 wurden zumindest 582 Menschen exekutiert, in den folgenden 18 Monaten waren es 906 Tote. Nach den Morden des Sommers 1981 (siehe unten), als die Revolution eindeutig auf der Kippe stand, kam es im ganzen Land zu Massenhinrichtungen. Die Opposition im Untergrund stellte eine Liste zusammen, die zwischen Juni 1981 und September 1983 7.746 Hingerichtete umfaßte. Der Historiker Shaul Bakhash schätzt, daß insgesamt 10.000 Menschen zwischen 1979 und 1983 exekutiert worden sind. Die Tötungen gingen während des Krieges gegen den Irak weiter, und nach dem Waffenstillstand 1988 wurden mindestens 3.000 Gefangene aus dem Kerker geholt und erschossen. So entledigte sich das Regime überlebender Monarchisten wie Linker gleichermaßen. Wie bei anderen Revolutionen gab es einen ständigen Konflikt zwischen den gemäßigten Führern und den Extremisten, und die Extremisten gewannen immer. Das besondere am Iran war, daß die Extremisten keine Linken waren, sondern fundamentalistische Moslems. Mehdi Barzagan, der erste Ministerpräsident, den Khomeini ernannte, hielt sich neun Monate (Bakhtiar hatte klugerweise das Land verlassen). Er versuchte, die Staatsmaschinerie am Laufen zu halten und Beziehungen zu den USA herzustellen. Das war allerdings ziemlich unmöglich: Der frühere Schah, der seit seiner Exilierung eine Wanderschaft von Marokko nach Panama auf die Bahamas hinter sich -456-
gebracht hatte, erhielt am 2. Oktober 1979 die Einreiseerlaubnis in die USA, um sich medizinischen Untersuchungen zu unterziehen. (Später stellte sich heraus, daß er an inoperablem Krebs litt). Das führte zu einem Aufschrei im Iran, und die USA wurden als Werkzeug der Konterrevolution bezeichnet. Am 1. November traf Barzagan in Algier mit Brzezinski zusammen, am 4. wurde die amerikanische Botschaft in Teheran besetzt œ wobei 55 Geiseln genommen wurden œ , und am 6. trat Barzagan zurück. Abol-Hasan Bani-Sadr wurde im Januar 1980 unter einer neuen Verfassung Präsident. Er war in Paris ein enger Vertrauter Khomeinis gewesen, war aber weniger extrem als seine islamischen Kollegen, die er als ‡eine Handvoll faschistischer Mullahs— bezeichnete. Er hoffte, die Revolution unter Kontrolle zu bekommen, scheiterte aber völlig und mußte zuletzt flüchten, um sein Leben zu retten. Seine Autorität als Staatspräsident wurde unterminiert von den Führern des Wächterrates, von den Revolutionsgarden, von den Revolutionskomitees und von den Studenten, die die amerikanischen Geiseln festhielten œ und über allem von Khomeini selbst, der für Mäßigung so wenig Zeit hatte wie Mao Tsetung. Die Revolution nahm ihren Lauf, und die Geiseln wurden eine wichtige Waffe der Extremisten. Durch nahezu kriminellen Leichtsinn waren ihnen auch die Akten der US-Botschaft in die Hände gefallen. Der letzte Botschafter beim Schah, William Sullivan, hatte Ende 1978, als das Regime zusammenbrach, die Akten nach Washington bringen lassen und nur die wichtigsten Unterlagen in Teheran behalten. Als die Botschaft am 14. Februar 1979 zum ersten Mal angegriffen wurde, jagte man diese Dokumente auch prompt durch den Reißwolf. Als Sullivan aber das Land verließ, wurden die meisten Akten wieder zurückgebracht und nach der Stürmung der Botschaft von den Iranern unversehrt aufgefunden. Viele iranische Politiker wurden verhaftet œ und zum Teil auch hingerichtet œ, da sich den Akten entnehmen ließ, daß sie mit den Amerikanern vor der Revolution zusammengearbeitet hatten. Linke Gruppen im Iran und die geistlichen Extremisten benützten die Geiselaffäre als Mittel, die Gemäßigten und die USA zu diskreditieren. Khomeini stellte mehrere unmöglich zu erfüllende -457-
Bedingungen für ihre Freilassung, und Bani-Sadr versuchte, zwischen der Unnachgiebigkeit der Extremisten œ und Khomeinis œ und der amerikanischen Forderung nach Freilassung der Geiseln zu manövrieren. Am 24. April unternahmen die Amerikaner einen schlecht organisierten Befreiungsversuch, der kläglich scheiterte und acht Menschenleben forderte. Die Extremisten nützten die Gelegenheit, der Welt die amerikanische Perfidie vor Augen zu führen und außerdem zu demonstrieren, daß im Iran noch viele Verräter am Werk seien. Es gab eine Säuberungsaktion unter den Kommandeuren der Streitkräfte, und zwei angebliche Putschpläne wurden aufgedeckt. Mehr als 100 Offiziere wurden exekutiert. Bani-Sadr wurde zunehmend zur Seite gedrängt, und zwischen den Linken und den islamischen Extremisten kam es zu offenen Feindseligkeiten. Im modernen Iran bedeutete das, daß bei Ausschreitungen und willkürlichen Hinrichtungen Hunderte Menschen getötet wurden, als die Mullahs, von Khomeini ermutigt, ihre Angriffe auf die Linken steigerten. Zugleich revoltierten die nationalen Minderheiten im Iran. Die wichtigsten waren die Kurden im Westen (siehe DIE KURDEN) und die Aserbeidschaner im Nordwesten, aber es gab auch heftige Unruhen unter den Belutschen im Osten und anderen Stämmen längs der sowjetischen Grenze. Das Land schien auseinanderzubrechen. Als der Irak am 22. September 1980 zu Land und in der Luft angriff (siehe IRAK), verdankte die Revolution ihr Überleben dem Schah. Er hatte so gewaltige Mengen an militärischer Ausrüstung zusammengekauft und so viele Soldaten ausgebildet, daß die iranische Armee dem ersten irakischen Ansturm standhalten konnte. Wie in der Sowjetunion 1941 mußte die Regierung in aller Eile Hunderte Armee- und Luftwaffenoffiziere aus dem Gefängnis holen, um das Vaterland zu retten. Die Krise machte die Armee wieder zu einem Machtfaktor im Land, führte aber auch zu einer Erstarkung der Revolutionswächter. Sie erlitten zunächst schreckliche Verluste an der Front, aber im Verlauf des Krieges wurden sie zu einer schlagkräftigen Kampftruppe umgeformt, eine Art SS, die früher oder später mit der Armee in -458-
Konflikt geraten muß. Der Krieg gegen den Irak beschleunigte die Lösung der Geiselaffäre. Präsident Carter hatte alle iranischen Konten in den USA und in amerikanischen Banken im Ausland beschlagnahmt. Der Iran brauchte das Geld für den Krieg, und außerdem war jetzt Saddam Hussein vom Irak der Feind. Gegen Ende 1980 gelangten die Verhandlungen über einen Austausch der Geiseln gegen die Freigabe der Konten zum Abschluß, wobei die algerische Regierung als tatkräftiger Vermittler auftrat. Die Geiseln wurden schließlich am 21. Januar 1981 freigelassen, just als Ronald Reagan in Washington das Präsidentenamt übernahm. Bani-Sadr versuchte in dieser Situation seine Autorität wiederzugewinnen, scheiterte aber damit, und die politischen Kämpfe wurden heftiger. Seine Anhänger wurden von Mitgliedern klerikaler Parteien angegriffen, manchmal auch getötet. Dann entmachtete ihn der Ministerpräsident Mohammed Ali Rajai völlig, und Ende März 1981 ließ auch Khomeini ihn im Stich. Er wurde im Juni als Oberkommandeur der Armee abgesetzt und mußte sich verstecken. Die Linken unternahmen einen letzten Versuch, an die Macht zu gelangen. Die Mudschahedin œ bei weitem die größte Organisation, eine nationalistische, sozialistische Gruppe, die an den ‡revolutionären Terror— glaubte œ bildeten eine lose Allianz mit Kommunisten und kurdischen Sozialisten und schickten ihre Gefolgsleute in die Straßen zum Kampf gegen die Revolutionswächter. Bei den mehrtägigen Kämpfen starben einige hundert Menschen. Am 21. Juni wurde von den Mullahs Anklage gegen Bani-Sadr erhoben œ eine schallende Niederlage für die Gemäßigten und die Linken. Am 29. Juli flohen Bani-Sadr und der Mudschahedin-Führer Massoud Rajavi aus dem Land. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Mudschahedin eine Terrorkampagne in Teheran begonnen. am 28. Juni zerstörte eine Autobombe das Hauptquartier der Regierungspartei, der ‡Islamischen Republikanischen Partei—, tötete vier Minister und mehr als 30 weitere Beamte, vor allem aber den Generalsekretär der Partei, Mohammed Beheshti, möglicherweise der wichtigste Mann in der Regierung nach Khomeini selbst. Am 30. August starb der neue Präsident Mohammed -459-
Ali Rajai, der als Ministerpräsident Bani-Sadr verfolgt hatte, durch eine Bombe. Bei anderen Bombenanschlägen starben der neue Ministerpräsident und der Polizeichef, sowie eine Woche später der Generalstaatsanwalt. Die Mordanschläge gingen in Wellen durch das Land, Hunderte Beamte fielen ihnen zum Opfer. Im September gingen die Mudschahedin abermals auf die Straßen, in der Hoffnung, das Regime genauso zu Fall zu bringen wie einige Jahre zuvor den Schah. Die Straßenschlachten gipfelten am 27. September nach tagelangen Kämpfen in einer erbitterten Schlacht zwischen Mudschahedin und Revolutionswächtern. Die Wächter siegten. Die Regierung reagierte mit aller Gewalt und exekutierte Tausende angebliche Feinde. Die meisten der Erschossenen kamen von links, aber die Gefängnisse wurden auch gleichzeitig von gefangenen Schahtreuen und anderen Oppositionellen gesäubert. Der Ajatollah Shariatmadari, der geistige Führer der Aserbeidschaner in Täbris, wurde abgesetzt. Es waren die gefährlichsten Augenblicke für die Revolution. Das Regime machte keinen Unterschied zwischen Alter und Geschlecht. Zwölfjährige Knaben wurden erschossen, weil sie an Demonstrationen teilgenommen hatten. Mehr als die Hälfte der Hingerichteten waren Studenten. Die meisten Oppositionsgruppen wurden ausradiert, zurück blieben nur die Kurden in ihren Bergen und die Mudschahedin, die zahlreich und erfahren genug waren, um zu überleben. Für den Augenblick zumindest hatte die Islamische Republik ihre Feinde besiegt. 1986 gab die französische Regierung dem starken iranischen Druck nach und wies Massoud Rajavi aus Paris aus. Er ging nach Bagdad und kündete an, weiterhin eine Guerillaarmee gegen das Regime zu führen. Er scheint bisher keinen sichtbaren Erfolg erzielt zu haben, obwohl er mit seinen Truppen in den letzten Tagen des Krieges im Iran einfiel und kurze Zeit eine Grenzstadt besetzte. DIE DÄMMERUNG DES AJATOLLAH Ajatollah Khomeini blieb der unangefochtene Führer des Iran, aber aufgrund seines Alters (geboren 1902) kam es zu dem -460-
unvermeidlichen Kampf um die Nachfolge. Die Ereignisse in China haben gezeigt, wie schwierig es ist, unter solchen Umständen eine Vorhersage zu treffen. Ein führender Geistlicher mag Khomeinis Amt erben, aber nicht seine Autorität. Das endgültige Ergebnis wird davon abhängen, wie das Kräfteverhältnis zwischen Armee, Revolutionswächtern und der Islamischen Republikanischen Partei aussehen wird. Die Politik in Teheran war vom Krieg gegen den Irak beherrscht. Am Anfang brachte der Enthusiasmus der Revolutionswächter Erfolge. Die erste irakische Offensive wurde bei Abadan und Ahwaz zum Stehen gebracht, und die erste iranische Gegenoffensive 1981 trieb die Iraker zurück auf ihre eigenen Grenzen. Die Iraner gewannen zwei bedeutende Ölfelder am Mittelabschnitt der Front. Und im Februar 1986 überquerten sie den Schatt el-Arab und besetzten die Halbinsel Fao. Der Großangriff auf Basra im Dezember 1986 war ein Fehlschlag. Nachdem die Stadt wochenlang unter Artilleriebeschuß gelegen war, stürmten die Revolutionswächter über die deckungslose Ebene gegen die irakischen Stellungen wie einst die Engländer an der Somme oder die Franzosen vor Verdun œ und sie erlitten das gleiche Schicksal. In der modernen Kriegsführung ist die organisierte Verteidigung allemal dem Angriff überlegen, ganz gleich, mit welchem Fanatismus er durchgeführt wird. Es gab ununterbrochen Demonstrationen in Teheran und anderen Städten, in denen Hunderttausende junger Männer sich dem Märtyrertum weihten, aber ebenso ununterbrochen gab es Begräbnisse, wenn die Iraner ihre gefallenen Söhne begruben. Der Märtyrereifer der Nation war an seine Grenzen gekommen: Sieben Jahre waren genug. Die Revolutionswächter hatten wie Maos Rotgardisten 20 Jahre zuvor geglaubt, sie könnten mit ihrem Enthusiasmus und ihrer Hingabe alles erreichen. Hatte nicht der Ajatollah jedem Gefallenen das Paradies versprochen? Aber die Ereignisse hatten gezeigt, daß diese Aussicht nicht mehr genügte, daß mit religiösem Märtyrertum allein keine Kriege mehr zu gewinnen sind. Aber schlimmer noch, nicht alle Moslems der Welt unterstützten den Kurs des Ajatollah. Sogar die Schiiten im Irak zogen die blutige Tyrannei des sunnitischen Saddam Hussein dem schiitischen Paradies Khomeinis vor. Hussein war Araber, Khomeini Perser, und 13 -461-
Jahrhunderte Feindschaft lassen sich nicht durch eine Freitagspredigt wegwischen. Die einzigen, die sich dem Ajatollah wirklich verschworen, waren die führungslosen Schiiten im Libanon, und selbst von denen folgten nicht alle dem Ruf zum Heiligen Krieg. Die iranische Wirtschaft stand vor dem Zusammenbruch. Krieg und Revolution hatten ihren Tribut gefordert. Nur die Kriegsindustrie überlebte, und der Lebensstandard fiel dramatisch. Es gab nicht mehr genug Rekruten für die Revolutionsgarden; die iranische Kriegsmaschine konnte die riesigen Armeen, die in den frühen Tagen singend in den Kampf gezogen waren, nicht mehr auf die Beine stellen. Der gewaltige Waffenvorrat aus den Zeiten des Schah war aufgebraucht. Der große Vorteil des Iran gegenüber dem Irak œ die vierfache Bevölkerungszahl œ war nutzlos, wenn es keine Gewehre für die Soldaten gab. Das Land schlitterte unaufhaltsam in den Bankrott. Der Koran verbietet Zinsgeschäfte, und Khomeini interpretierte dieses strenge Gesetz so, daß der Iran nicht gegen zukünftige Erdölerträge Geld aufnehmen dürfe, um die Kriegskosten zu bezahlen. Der Iran bezahlte bar, und als die Reserven erschöpft waren, mußten die Erdöleinkünfte herhalten. Diese Erlöse sanken aber von 20 Milliarden Dollar im Jahre 1982 auf 5 Milliarden 1988. Bei einem OPEC-Treffen im Juni 1988 blockierte Saudi-Arabien, das die diplomatischen Beziehungen zum Iran zwei Monate zuvor abgebrochen hatte, einen verzweifelten Vorschlag der Iraner, die Erdölförderung zu drosseln und dadurch den Preis wieder anzuheben. 1988 waren die iranischen Importe für nichtmilitärische Zwecke, einschließlich so notwendiger Güter wie Ersatzteilen für die Ölförderung, auf ein Minimum zusammengeschrumpft, um wenigstens den Waffeneinkauf zu ermöglichen, aber es gab einfach nicht mehr genug Geld, um all die von der Armee dringend benötigten Waffen zu kaufen. Der Krieg war bis ins Hinterland vorgedrungen. Das ständige Bombardement von Teheran und anderen Städten mit irakischen Raketen hatte einen Großteil der Bevölkerung aufs Land hinausgetrieben. Die Angriffe erreichten niemals ein solches Ausmaß wie die deutschen V-2-Angriffe gegen London, ganz zu schweigen von den Bombenangriffen des 2. Weltkriegs, aber sie drückten sicherlich schwer auf die Moral der Iraner. -462-
Zum erstenmal seit Jahren gab es wieder öffentliche Opposition. Khomeinis erster Ministerpräsident Mehdi Bazargan schrieb im Mai 1988 einen offenen Brief an den Ajatollah, in dem er die Kriegspolitik für falsch erklärte: ‡Seit 1986 haben Sie nicht aufgehört, den Sieg zu verkünden, und jetzt rufen Sie die Bevölkerung zum Durchhalten bis zum Sieg auf. Ist das nicht ein Eingeständnis des Scheiterns Ihrer Politik?— In dem Brief wurde festgestellt, daß die irakische Wirtschaft überlebte, während der Iran am Rand des Bankrotts stünde. 1988 traten die iranischen Truppen nicht zu einer abermaligen Generaloffensive an, sondern stießen durch die irakischen Verteidigungslinien im Zagrosgebirge. Sie nahmen zwei irakische Divisionen und ihren Kommandeur gefangen. Die Front verlief nun in Sichtweite des Staudammes, der den Hauptanteil der Wasserversorgung Bagdads sichert, aber es waren noch 160 Kilometer Gebirge, bevor die Iraner in die Ebene durchbrechen hätten können. Es war ihr letzter Erfolg, und er wurde durch den Verlust der Halbinsel Fao am 17. April und weitere Gebietsverluste bei Basra am 25. Mai mehr als zunichtegemacht. In diesen beiden Schlachten eroberte der Irak beinahe das gesamte Gebiet im Süden zurück, das er im Lauf des Krieges verloren hatte. Am 26. Juni eroberte er auch die Insel Majnun zurück, und am 11. Juli wurden die Iraner aus Kurdistan hinausgetrieben. Diese irakischen Siege wurden schnell und leicht errungen. Die Iraner leisteten kaum Widerstand. Sie waren offensichtlich erschöpft. Ende Mai verkündete Khomeini seinen Rücktritt vom Oberbefehl der Streitkräfte. Zu seinem Nachfolger ernannte er Ali Rafsanjani. Dieser bekam den Auftrag, die Streitkräfte, die Revolutionswächter, die Sicherheitskräfte und freiwillige Milizen zusammenzufassen. Welche Bedeutung diese Ernennung auch immer für die späteren Nachfolgekämpfe hatte, sie zeigte auf jeden Fall ein großes Problem auf, dem sich der Iran gegenüber sah: Der Konflikt zwischen den Streitkräften und den Revolutionsgarden. Kurz gesagt, dadurch wurde den Profis die Kontrolle über die Kriegsmaschine eingeräumt. Hojatolislam Ali Akbar Hashemi Rafsanjani, Sprecher der Mullahs, war jener iranische Würdenträger, mit dem die Regierung Reagan 1985 und 1986 verhandelte, um die Freilassung der amerikanischen Geiseln im Libanon zu erreichen œ eine Affäre, die später als -463-
‡irangate— bekannt wurde. Die amerikanische Überlegung war, daß Rafsanjani ein potentieller Nachfolger Khomeinis sei und daß frühzeitige Kontakte mit ihm auf Dauer den amerikanischen Interessen nützen würden. Seine Gunst könnte durch Waffenlieferungen an den Iran gewonnen werden, und im Gegenzug sollte er die Freilassung der Geiseln durchsetzen. Die geheimen Gespräche dauerten mehrere Monate und schlossen auch einen Besuch von Rafsanjanis Sohn in Washington ein, der von Oliver North, einem Angehörigen des Stabes des Nationalen Sicherheitsrates, durch das Weiße Haus geführt wurde. North wurde später in dem Iran-Contra-Skandal zur amerikanischen Zentralfigur. Es gab mehrere Waffenlieferungen, einschließlich Panzerabwehr- und Luftabwehr-Raketen, und zwei amerikanische Geiseln im Libanon wurden tatsächlich freigelassen. Es ist niemals klar geworden, ob Rafsanjani die amerikanischen Vorleistungen angenommen hat œ die angestrebten Beziehungen blieben unverändert schlecht. Rafsanjani ist ein Mann von großer Anpassungsfähigkeit, anders als viele seiner Rivalen, die unbeugsame Fanatiker sind; seine persönliche Absicht war, den Nachfolgekampf langfristig zu gewinnen, was nicht unbedingt sofort nach Khomeinis Tod funktionieren muß. Das Oberkommando der Streitkräfte würde ihm entweder die Waffen in die Hand geben, die er für den Sieg brauchte, oder ihn zum unrettbaren Sündenbock für den verlorenen Krieg machen. Die Tatsache, daß der Ajatollah die Verantwortung für den Waffenstillstand auf sich nahm, bot Rafsanjani einigen Schutz. Nur die Zeit wird erweisen, ob er auch tatsächlich ausreicht. DIPLOMATIE Während des ganzen Krieges versuchten die UNO und die arabischen Länder immer wieder, zwischen den beiden Kriegsparteien zu vermitteln. Algerien unternahm bereits ganz früh Anstrengungen, stellte diese aber abrupt ein, als der Irak am 3. Mai 1982 ein Flugzeug abschoß, in dem der algerische Außenminister Mohammed Ben Yahia mit 12 Kabinettskollegen saß. Sie waren auf dem Flug nach Teheran, und die Algerier vermuteten, daß der Abschuß kein unglücklicher Zufall war. Dieser Zwischenfall folgte auf Saddam Husseins erste -464-
Anstrengungen, aus der selbstgestellten Falle zu entkommen: Im März 1982 hatte er angeboten, die irakischen Streitkräfte auf die ursprüngliche zwischenstaatliche Grenze zurückzuziehen. Der Iran hatte diesen Plan abgelehnt. Er würde sein Territorium aus eigener Kraft zurückerobern, und der Iran forderte, daß Hussein abgesetzt werden, der Irak formal zum Angreifer erklärt und zur Leistung von Wiedergutmachungszahlungen verpflichtet werden müßte. In dieser Haltung verharrten beide Seiten während der nächsten sechs Jahre. Der Weltsicherheitsrat verabschiedete am 20. Juli 1987 die Resolution 598. Darin rief er zum unmittelbaren Waffenstillstand auf, schlug die Einsetzung einer internationalen Kommission zur Klärung der Kriegsschuldfrage vor und legte Sanktionsmaßnahmen fest, die in Kraft treten sollten, falls einer der beiden Kriegführenden das Abkommen verletzen würde. Während des darauffolgenden Jahres versuchten die USA, die anderen Sicherheitsratmitglieder dazu zu bringen, Sanktionen zu verhängen, kamen damit aber nicht recht weiter. Es war ausschließlich die Serie der Niederlagen des Iran, die im Frühjahr 1988 zum vorläufigen Ende des Krieges führte. Kurz bevor der Iran den Waffenstillstand akzeptierte, schoß am 3. Juli das amerikanische Kriegsschiff USS Vincennes einen Airbus der iranischen Zivilluftfahrtgesellschaft ab, und alle 290 Menschen an Bord starben. Dieser Abschuß war ein schlagender Beweis für die Fehlerträchtigkeit moderner Technologie. Die Vincennes war mit dem modernsten und ausgeklügeltsten Luftabwehrsystem der Welt ausgerüstet dem ‡Aegis—-System œ, aber sein Erfolg beruht darauf, daß jeder Matrose so präzis und ruhig arbeitet wie ein Computer. Einer der Waffenoffiziere interpretierte die Meldungen falsch und hielt den Airbus für eine angreifende F-15. Am 18. Juli 1988 verkündete Rafsanjani, daß der Iran die Resolution 598 annehme. Zwei Tage später wurde Khomeinis Rede über den Rundfunk ausgestrahlt. Sie war voll der alten, wilden Schmähungen seiner Feinde: ‡Wir haben wiederholt in unserer auswärtigen und internationalen islamischen Politik gezeigt, daß wir die Absicht hatten und haben, den Einfluß des Islam in der Welt zu verbreiten und die Herrschaft der die Welt Verschlingenden zu mindern. Nun behaupten die Knechte der -465-
Vereinigten Staaten, diese Politik sei expansionistisch und von dem Wunsch getrieben, ein großes Reich zu errichten. Wir fürchten das nicht, sondern heißen es willkommen ... Wir müssen die Klauen und Zähne der Supermächte zerschlagen, vor allem der USA. Und wir müssen eine der beiden Alternativen wählen œ Sieg oder Märtyrertum, und wir betrachten beides als Sieg.— Er setzte mit Drohungen gegen Saudi-Arabien und Kuwait fort: ‡Ihr alle werdet mitschuldig an den Abenteuern und Verbrechen der Vereinigten Staaten. Wir haben noch nicht mit jenem Kampf begonnen, der die gesamte Region mit Blut und Feuer überziehen und alles verändern würde.— Er gab freimütig zu, daß der Krieg verloren war: ‡Die Annahme dieser Resolution war wahrhaftig eine sehr bittere und tragische Sache für jeden, besonders für mich. Bis vor wenigen Tagen glaubte ich an die Methoden der Verteidigung und die Standpunkte, die wir im Krieg vertreten haben ... Aber im Zuge der Ereignisse und Faktoren, über die ich im Moment nicht weiter nachdenken möchte, aber mit Gottes Hilfe in der Zukunft Klarheit erlangen werde und angesichts der Meinungen all der hochrangigen politischen und militärischen Experten des Landes, in deren Kompetenz, Sympathie und Ernsthaftigkeit ich volles Vertrauen setze, stimmte ich der Annahme der Resolution und des Waffenstillstandes zu.— Die Iraner verlagerten ihre Tätigkeit an den Verhandlungstisch, was lange und erbitterte Auseinandersetzungen mit den Irakern über ein Friedensabkommen versprach. Beide Seiten verlangten die Herrschaft über den Schatt el-Arab. Iran hatte seine Anstrengungen zum Sturz von Saddam Hussein eingestellt, verweigerte aber die Rücknahme irgendeiner der anderen Forderungen. Der Iran sah sich nach dem Krieg gewaltigen wirtschaftlichen und sozialen Problemen gegenüber, und es war offensichtlich, daß er ohne Hilfe von außen keine Hoffnung haben konnte, die Erdölindustrie, ganz zu schweigen von allen anderen Industriezweigen, wieder in Schwung zu bringen. Die Regierung unternahm vorsichtige Schritte, um die Beziehungen zum Rest der Welt zu normalisieren, aber am 14. Februar 1989 verhängte Khomeini über den in Pakistan geborenen -466-
Schriftsteller Salman Rushdie wegen Blasphemie und Gotteslästerung das Todesurteil. Dieser plötzliche Ausbruch fundamentalistischer Unnachgiebigkeit brachte jeden diplomatischen Fortschritt zum Stillstand. Khomeini starb am 3. Juni 1989, aber sein Gedankengut beherrschte weiter den Iran. Seine Nachfolger hoben das Todesurteil über Rushdie nicht auf. Rafsanjani wurde zum Staatspräsidenten gewählt und legte das Amt des Parlamentspräsidenten nieder. Er entfernte die militantesten Fundamentalisten aus der Regierung, ließ aber keine Anzeichen einer Wiederannäherung an den Westen erkennen. Er unternahm auch nichts zur Freilassung der Geiseln in Beirut. Der Iran bleibt ein Außenseiter der Staatengemeinschaft, der über seiner Revolution brütet. In einem Versuch, sich angesichts der internationalen Reaktion auf den Überfall auf Kuwait den Rücken freizumachen, bot Saddam Hussein am 15. August 1990 dem Iran unvermittelt die Friedenshand. Die irakischen Truppen räumten das gesamte Gebiet, das sie nach acht Kriegsjahren erobert hatten œ wodurch Divisionen frei wurden œ, und unmittelbar darauf begann die Repatriierung der Kriegsgefangenen. Trotz dieser Geste war der Iran zunächst nicht bereit, auf die Seite von Bagdad zu treten.
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ISRAEL Geographie: 20:770 km2. Besetzte Gebiete: 7.115 km×. Bevölkerung: 4,2 Millionen israelische Bürger: 3,5 Millionen (82,9 %) Juden; 550.000 (13,5 %) Moslems; 86.000 (2,3 %) Christen; 53.000 (1,3 %) Drusen. Seit 1967 hat es keine Volkszählung unter den Arabern der besetzten Gebiete gegeben. 1988 wurden folgende Zahlen geschätzt: Westbank 790.000; Gaza-Streifen 540.000; Ost-Jerusalem 130.000. Auf den Golan-Höhen leben 12.000 Drusen. 1987 lebten rund 51.000 Israelis in der Westbank, 2.000 im Gaza-Streifen, 6.700 auf den Golan-Höhen. Flüchtlinge: 385.630 Menschen in der Westbank und 459.070 im Gaza-Streifen sind von der UNRWA (1988) als Flüchtlinge anerkannt. Verluste: Am 40. Jahrestag der Unabhängigkeit Israels, dem 20. April 1988, wurde die Zahl der in den verschiedenen Kriegen und Auseinandersetzungen getöteten Israelis mit insgesamt 16.450 angegeben. Ende 1989. drei Jahre nach dem Beginn der Intifada, sind 530 Araber durch Sicherheitskräfte, 150 Palästinenser durch andere Araber und 39 Israelis durch Araber getötet worden. Während seiner gesamten frühgeschichtlichen Zeit als eine jüdische Kolonie in Palästina und während der ersten 20 Jahre seiner Unabhängigkeit sah sich Israel als einen David im Angesicht eines unbesiegbaren arabischen Goliath, der auf seine Vernichtung aus war. Die Wende kam im Juni 1967, als David die vereinigten Armeen von Ägypten, Jordanien und Syrien besiegte und die Altstadt von Jerusalem ebenso eroberte wie die Höhen von Samaria und Judäa. Seit damals war Israel die beherrschende Militärmacht im Nahen Osten, und all die internationale Sympathie, die dem eingekreisten David entgegengebracht worden war, ging langsam zurück und wurde zunehmend auf die unterdrückten Palästinenser übertragen. Als Israel 1982 im Libanon einmarschierte und Beirut bombardierte, blieben nur die USA sein unbeirrbarer Freund, einerseits wegen der Größe der jüdischen Gemeinde in Amerika, anderseits wegen der sowjetischen Unterstützung der Araber, die im Bewußtsein der amerikanischen -468-
Öffentlichkeit mit den Mächten des Bösen verknüpft wurden. Arabische Terroristen richteten ihre Angriffe auch gegen Amerikaner und festigten dadurch natürlich die amerikanischisraelische Allianz noch mehr. Als sich der ägyptische Präsident Anwar Sadat zum Frieden mit Israel entschloß, spielten die USA die notwendige Rolle des Vermittlers. Zehn Jahre danach haben wechselnde amerikanische Regierungen versucht, andere arabische Regierungen dazu zu bewegen, diesem Beispiel zu folgen œ ohne Erfolg. Die Araber bestehen darauf, daß das ohne die Miteinbeziehung der Palästinenser unmöglich und daß der wahre Repräsentant der Palästinenser die PLO sei. Schließlich beugte sich Yassir Arafat, der Vorsitzende der PLO, 1988 der Realität. Hatte er jahrzehntelang das Existenzrecht Israels geleugnet und geschworen, die Juden ins Meer zu treiben, so stimmte er nun zu, daß zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer zwei Staaten bestehen sollten, Israel und Palästina, und daß man sich diesem Ziel in offenen Verhandlungen mit Israel nähern müsse. Die USA zögerten, aber sie akzeptierten diese politische Veränderung. Israel hatte nunmehr seinen letzten diplomatischen Rückhalt verloren und stand alleine gegen die Welt. GESCHICHTE Nicht viele Nationen haben eine Geburtsurkunde. Die des Staates Israel war ein Brief, den der britische Außenminister Sir Arthur Balfour am 2. November 1917 an Lord Rothschild richtete: Verehrter Lord Rothschild, Ich bin sehr erfreut, Ihnen im Namen der Regierung Seiner Majestät die folgenden Erklärungen der Sympathie mit den jüdisch-zionistischen Bestrebungen übermitteln zu können, die dem Kabinett vorgelegt und von ihm gebilligt worden sind: Die Regierung Seiner Majestät betrachtet mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina und wird ihr Bestes tun, die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern, wobei, wohlverstanden, nichts geschehen sollte, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der bestehenden nichtjüdischen Gemeinschaften in Palästina oder die Rechte und den politischen -469-
Status der Juden in anderen Ländern in Frage stellen könnte. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diese Erklärung zur Kenntnis der Zionistischen Weltorganisation bringen würden. Ihr ergebener Arthur Balfour Man muß beachten, daß diese Balfour-Deklaration, der sich auch bald die französische Regierung anschloß, den Juden nicht Palästina als nationale Heimstätte versprach, sondern eine Heimat in Palästina. Genausowenig legte sie Grenzen Palästinas fest. Siebzig Jahre später ist es ebenso unmöglich wie nutzlos, darüber zu diskutieren, ob Balfour und die anderen Politiker unaufrichtig waren. Auf jeden Fall ist es klar, daß die britische Regierung innerhalb weniger Jahre bemerkt hatte, daß die beiden Versprechen in der Deklaration nicht gleichermaßen eingehalten werden konnten. Es war nicht möglich, Juden und Palästinenser zufriedenzustellen. Einen Monat, nachdem diese Deklaration geschrieben worden war, besetzten britische Truppen unter Lord Allenby Palästina. Nach dem Krieg teilten Briten und Franzosen die Levante auf, die Briten bekamen den Irak und Palästina als Völkerbundmandate, die Franzosen nahmen Syrien. Obwohl die USA dem Völkerbund nicht angehörten, wurde diese Vereinbarung vom Kongreß ratifiziert. Aufgrund dieser Abwesenheit der USA kontrollierten Briten und Franzosen den Völkerbund, und sie konnten daher auch die Bestimmungen ihrer Mandate nach Belieben festsetzen. Diese Bestimmungen sollten gewährleisten, daß die Schutzmächte ihre Mandate im Interesse der jeweiligen Einwohner handhabten. Die Balfour-Deklaration wurde dem britischen Mandatsstatut für Palästina einverleibt, die Schaffung einer ‡nationalen Heimstätte für die Juden— wurde zu einer internationalen Verpflichtung. Briten und Franzosen legten die nördliche Grenze von Palästina fest, nun die Grenze zwischen Israel und dem Libanon, und die Briten übergaben Ostpalästina, als Transjordanien, dem Emir Abdullah ibn Hussein (siehe SYRIEN). Die Wünsche der Araber in diesen Gebieten wurden nicht beachtet, obwohl Präsident Wilson eine Untersuchungskommission in die Levante schickte, die zu der Erkenntnis gelangte, daß die Araber unter keiner wie immer gearteten -470-
fremden Regierung stehen wollten. Aber sollte eine solche Lösung unvermeidlich sein, würden sie ein amerikanisches Mandat einem britischen vorziehen, und das britische immer noch einem französischen. Am 1. Juli 1920 trat Sir Herbert Samuel, ein prominenter englischer (und jüdischer) Politiker sein Amt als Hochkommissar in Palästina an. Am Sabbath nach dem Tischah b‘Ab, dem Tag des Gedenkens an die Zerstörung des Tempels, besuchte Samuel den Gottesdienst in der Großen Synagoge in Jerusalem und las aus dem Buch Jesaja: ‡Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott. Redet Jerusalem zu Herzen und verkündet der Stadt, daß ihr Frondienst zu Ende geht, daß ihre Schuld beglichen ist.— Er war der erste unbestritten jüdische Gouverneur von Jerusalem, seit der Zerstörung des Tempels durch Titus im Jahre 70 n. Chr. Dieser verheißungsvolle Anfang löste sich bald in einem erbitterten Konflikt zwischen der britischen Mandatsmacht und den Juden in Palästina auf, und gegen Ende der Mandatszeit unternahmen die Briten den Versuch, Israel den Atem abzuschnüren. Von Anfang an waren die britischen Beziehungen zu den Arabern schlecht. Das Problem wurde 1921 durch eine Fehleinschätzung Samuels verschärft, deren Folgen lange nachwirkten. Samuel betrieb die Wahl von Hadsch Amin al-Husseini zum Großmufti von Jerusalem, in der Hoffnung, dadurch das Verhältnis zu den radikalen Arabern zu entspannen. Aber Husseini entpuppte sich als ein fanatischer Gegner der Briten und der Zionisten. Er bekämpfte jeden Kompromiß mit ihnen und trieb die Palästinenser zu Terroraktionen an. Den Zweiten Weltkrieg verbrachte er in Berlin, wo er von Hitler als Verbündeter hofiert wurde. PALÄSTINA In den letzten Jahren der osmanischen Herrschaft war Palästina eine abgelegene und uninteressante Randprovinz eines verfallenden Reiches. Jerusalem hatte im 19. Jahrhundert eine jüdische Bevölkerungsmehrheit, aber im Rest des Landes waren die Juden eindeutig in der Minderzahl. Zionistische Behauptungen, daß Palästina unbevölkert gewesen sei, oder daß die arabischen Einwohner über die Landesgrenzen hinweg nomadisiert wären, ohne sich -471-
anzusiedeln, sind ziemlichlächerlich. Die ersten zionistischen Siedler ließen sich an der Küstenebene nieder, und die erste jüdische landwirtschaftliche Ansiedlung, Petach Tikvah, wurde 1878 östlich des heutigen Tel Aviv gegründet. Bis 1914 wurden noch weitere Siedlungen errichtet, aber die jüdische Gemeinde war niemals sehr groß. Die ernstzunehmende Einwanderung begann erst mit dem Mandat. Zur Zeit der Balfour-Deklaration, 1917, bestand die Bevölkerung von Palästina, also dem Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer, aus schätzungsweise 610.000 Arabern (Moslems und Christen} und 50.000 Juden. Aufgrund der türkischen Verfolgung war die jüdische Gemeinde während des Ersten Weltkriegs um ein Drittel zurückgegangen, aber viele von denen, die geflüchtet waren, kehrten nach der britischen Eroberung Palästinas wieder zurück, und ihnen folgte eine Welle jüdischer Einwanderer. Unter den Neuankömmlingen war auch David Ben Gurion, ein Einwanderer aus Rußland, der von den Türken wegen sozialistischer Agitation ausgewiesen worden war. 1922 gab es bereits 84.000 Juden und 668.000 Araber. Die Juden kauften Land von den Arabern, oftmals von Großgrundbesitzern im Ausland; davon waren große Teile völlig wertlos. 1922 verfügte die Jewish Agency über 60.120 Hektar Land, bis 1939 war dieser Besitz auf 155.140 Hektar angewachsen. Die Juden legten die Sümpfe trocken und bewässerten die Wüste. Sie errichteten Kibbuzim, um das Land zu bebauen und zu besiedeln. Innerhalb einer Generation hatte sich das jüdische Land, rund die Hälfte des bewohnbaren Palästina, bis zur Unkenntlichkeit verwandelt. Die Wüste blühte, Wälder wurden auf den Hügeln gepflanzt, und die Juden errichteten eine eigene Stadt an der Küste: Tel Aviv. Dreißig Jahre nach seiner Gründung, 1909, hatten Menschen aus Polen und Rußland sich das Leben einer mediterranen Hafenstadt geschaffen, wie Alexandria oder Tunis, Piräus, Marseille oder Genua. In diesen ersten unendlich wichtigen schöpferischen Jahren legten die Juden die Fundamente eines modernen Staates. 1919 wurde ein zentralisiertes hebräisches Schulsystem eingeführt, und im Jahr darauf erklärte Samuel Hebräisch neben Arabisch und Englisch zur -472-
offiziellen Amtssprache. Im selben Jahr wurden eine gewählte jüdische Nationalversammlung und die ‡Histadrut— (Allgemeine Arbeitergewerkschaft) gegründet. 1921 wurde ein Oberrabbinat errichtet, 1924 das Technologische Institut in Haifa und 1925 die Jüdische Universität in Jerusalem eröffnet. 1920 wurde die Haganah begründet, der militärische Arm der Jewish Agency, um jüdische Siedler gegen herumstreifende Banditen zu beschützen. Aus diesen Anfängen entstanden ein Vierteljahrhundert später in direkter Linie die sozialen Organisationen, die politischen Parteien, die Knesset, das Erziehungssystem und die Armee des unabhängigen Israel. In den frühen zwanziger Jahren war die Einwanderung nach Palästina zu einem gewaltigen Strom geworden, der dann allerdings wieder zu einem Rinnsal wurde. Es kam sogar zu einer erstaunlichen jüdischen Auswanderungsbewegung. Palästina war noch eine ‡nationale Heimstätte—, kein Refugium. Die Sowjetunion hatte den Auswanderungswilligen den Weg versperrt, die russischen Juden sollten mit allen anderen sowjetischen Bürgern die Vorzüge des Bolschewismus genießen. Aber obwohl sogar die USA die freie Einwanderung gestoppt hatten, gab es keinen Ansturm auf die Alternative Palästina. Polen wechselte zwischen Ausbrüchen des Antisemitismus und Liberalisierungsphasen, aber Frankreich hatte sich von den letzten Ausläufern der antisemitischen Dreyfus-Affäre erholt, und die Weimarer Republik hatte die letzten Beschränkungen der deutschen Juden beiseitegefegt. Es war die Phase der letzten Hochblüte des europäischen Judentums. Man darf auch nicht vergessen, daß unter den Juden die Zionisten nur eine Sekte waren, und beileibe nicht die wichtigste. Viele betrachteten die ‡nationale Heimstätte— nur als ein interessantes Experiment. Dieser Rückgang der Einwandererzahlen war auch darauf zurückzuführen, daß das Leben der Immigranten hart war. Es gab ständig Schwierigkeiten mit den britischen Behörden und mit dem Druck der zionistischen Bewegung von auswärts. Ende der zwanziger Jahre erlitt auch Palästina eine ernsthafte Wirtschaftskrise, und die Abneigung der Araber gegenüber der jüdischen Einwanderung flammte wieder auf. Lokale Unruhen wurden zur täglichen Erscheinung, und es kam regelmäßig zu Angriffen auf jüdische Siedlungen. Nach einem -473-
heftigen Gewaltausbruch seitens der Araber, bei dem es in Hebron zu einem Massaker an sechzig Juden kam, ging die erste einer Reihe britischer Kommissionen nach Palästina. Bei ihrer Rückkehr traf sie wie auch ihre Nachfolger œ die Feststellung, daß die freie jüdische Einwanderung mit den Rechten der palästinensischen Araber unvereinbar sei. Zu dieser Zeit war das ein akademisches Problem, da die jüdische Einwanderung stark zurückgegangen war. Aber von den insgesamt 4.075 Einwanderern im Jahre 1931 stieg die Zahl im Jahr 1932 auf 9.553, und dann kam die große Flut: 1933 kamen 30.327 Juden nach Palästina; 1934 waren es 42.359 und 1935 schließlich 61.854. Die Briten sahen sich mit dem Resultat ihrer Versprechungen konfrontiert. 1936 kam es zu einem arabischen Aufstand, bei dem 80 Juden, 28 Briten und 197 Araber getötet wurden. Die Briten versuchten nun, ihr Dilemma mit strikten Begrenzungen der jüdischen Einwanderung zu lösen œ genau zu dem Zeitpunkt, da sich die größte Katastrophe in der neueren Geschichte des Judentums anbahnte. DER HOLOCAUST Am 30. Januar 1933 kam Hitler an die Macht. Eine der Wurzeln des Erfolges der NSDAP war der offene Antisemitismus, und vom ersten Tag des Dritten Reichs an lastete die Hand des Staates schwer auf den Juden. Sie wurden vom öffentlichen Leben ausgeschlossen, vom Unterricht und von den freien Berufen, und ihre wirtschaftliche Tätigkeit wurde durch einschneidende Maßnahmen behindert. Die Nürnberger Gesetze vom 15. September 1935, die den Juden das Bürgerrecht nahmen, verschlimmerten die Bedingungen jüdischer Existenz in Deutschland noch einmal. Noch ging die planmäßige Verfolgung nicht weiter. Ab 1933 gerieten viele deutsche Juden in Panik und flüchteten; viele von ihnen ließen ihren gesamten Besitz zurück, da es ihnen nicht gestattet war, mehr als eine lächerliche Summe mitzunehmen. Später stellte sich dann ihre Panik und Flucht als lebensrettend heraus, und alle, die in Geduld abgewartet hatten, waren dem Untergang preisgegeben. Die Verfolgung der Juden wuchs an, als Hitler seine Herrschaft in Deutschland festigte und die wirtschaftliche und militärische Macht -474-
des Reiches ausbaute. Nach dem ‡Anschluß—, der Annexion Österreichs am 12. März 1938, waren die österreichischen Juden brutalen Akten und Demütigungen ausgeliefert, die ein Vorgeschmack des Kommenden waren. Adolf Eichmann, ein RSHA-Offizier österreichischer Abstammung, wurde nach Wien geschickt, um die Vertreibung von sovielen österreichischen Juden wie möglich, die Beschlagnahme ihres Besitzes und ihren völligen Ausschluß aus der österreichischen Gesellschaftsordnung durchzuführen und zu überwachen. Dann ordnete Hitler die Ausweisung aller ausländischen Juden aus dem Deutschen Reich an. Am 7. November 1938 wurde in der deutschen Botschaft in Paris ein Diplomat erschossen. Der Täter war ein siebzehnjähriger Jude, dessen polnischstämmige Familie seit 1914 in Deutschland gelebt hatte und nun ausgewiesen worden war. Die deutsche Regierung nahm, von Goebbels organisiert, mit einem landesweiten Pogrom in der Nacht vom 9. auf den 10. November Rache an den Juden œ ‡Reichskristallnacht— hieß das in der Diktion der Nationalsozialisten, da Myriaden von Fensterscheiben dabei zu Bruch gingen. Synagogen, Häuser und Geschäfte wurden niedergebrannt, mehr als 100 Juden wurden ermordet, und Tausende wurden in Konzentrationslagern in ‡Schutzhaft— genommen. Sie mußten sich freikaufen. Von diesem Moment an versuchten die Juden in Österreich und Deutschland verzweifelt zu entkommen, ebenso die in den benachbarten Ländern wie der Tschechoslowakei und Polen, die augenscheinlich die nächsten auf der Liste waren. Nach dem arabischen Aufstand von 1936 schickten die Briten eine andere Kommission unter Führung von Lord Peel nach Palästina. Dr. Chaim Weizmann hielt ein bewegendes Plädoyer für die Juden, die in Europa in der Falle saßen: ‡In diesem Teil der Welt sind sechs Millionen Menschen dazu verdammt, an einem Ort zu leben, wo sie nicht gewollt werden, und für die die Welt in Orte geteilt ist, an denen sie nicht leben können, und in Orte, die sie nicht betreten dürfen.— Peel zog einmal mehr die Schlußfolgerung, daß die zionistischen und die arabischen Bedürfnisse unvereinbar seien und kam, erstmals, zur naheliegenden Erkenntnis: Palästina sollte in einen jüdischen und einen arabischen Staat geteilt werden, letzterer mit Transjordanien zu einer Föderation zusammengeschlossen. Auf Drängen Chaim -475-
Weizmanns nahmen die Juden den Vorschlag an, obwohl das ihnen zugedachte Gebiet sehr klein war. Die Araber lehnten diesen Vorschlag ab, eine Entscheidung, die sie seither noch oft bereut haben werden: Ihnen wurde mehrmals ein eigener Staat angeboten, aber nach jedem Sieg Israels war das zur Debatte stehende Territorium kleiner. Das letzte Angebot kam vom US-Außenminister George Shultz im Jahr 1988; aber die Palästinenser und Jordanien wiesen es zurück, und die israelische Regierung fand Formalgründe, es ebenfalls abzulehnen. Die arabische Erhebung dauerte von 1936 bis 1939, bis die Briten sie schließlich niederschlugen, und während dieser Zeit wurde die Haganah zum Schutz der jüdischen Siedlungen ausgebaut. Seltsamerweise unterstützten die britischen Behörden in Palästina die Juden zu einer Zeit, da die britische Regierung mit ihrer Appeasement-Politik den Deutschen nachgab, ebenso wie sie die Araber bevorzugte. Orde Wingate, ein schottischer Offizier und leidenschaftlicher Zionist, organisierte Nachtpatrouillen, um die Haifa-Pipeline zu verteidigen, und viele der späteren Armeeführer Israels begannen ihre Karriere in diesen Kämpfen an seiner Seite. Zum erstenmal seit Jahrhunderten kämpften Juden, um sich zu verteidigen. Es war eine Erfahrung von entscheidender Bedeutung. Im Sommer 1938 lud Präsident Roosevelt zu einer internationalen Konferenz nach Evian in den Französischen Alpen, um das Problem der jüdischen Flüchtlinge zu diskutieren. Delegierte aus 31 Nationen setzten sich zusammen, um die Bitten der Vertreter all der Juden aus Mittel- und Osteuropa anzuhören und ihnen danach zu erklären, warum sie unglücklicherweise nichts für sie unternehmen könnten. Die Briten bestanden hartnäckig darauf, daß ein Limit für die Einwanderung in Palästina erreicht sei. Nach Evian stimmten die USA der jährlichen Aufnahme von 30.000 jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland zu, und Großbritannien übernahm ein gleiches Kontingent. Von den 685.000 Juden in Deutschland und Österreich emigrierten zwischen 1933 und 1940 rund 426.000. Die 100.000, die in die USA gelangten, waren ebenso gerettet wie die 65.000 nach Großbritannien Geflohenen und die 140.000, die Palästina erreichten. Aber viele gingen nach Frankreich, Polen oder, wie die Familie der Anne Frank, in die Niederlande, wo die Gestapo sie später erwischte. Für die Juden Osteuropas gab es -476-
keine Rettung. Die Briten beriefen im März 1939 eine arabischjüdische Konferenz ein. Sie fand im Londoner St. James‘ Palace statt, und sie war ein völliger Fehlschlag. Die Araber, und vor allem die Palästina-Araber, stellten derart extreme Forderungen, daß sie niemals angenommen werden konnten. Sie weigerten sich auch, mit der zionistischen Delegation zusammenzutreffen, und so wurde den Zionisten wenigstens die Unannehmlichkeit erspart, die Vorschläge der Briten zurückzuweisen. am ergebnislosen Schlußtag der Konferenz marschierte Hitler in Prag ein. Der Fall der Tschechoslowakei war das direkte Ergebnis der britischen Appeasementpolitik. Nach der Zerstörung der Tschechoslowakei gab Großbritannien eine Garantie für Polen ab und bereitete sich auf den Krieg vor. Den Deutschen gegenüber war das Appeasement vorbei. Aber die Briten machten die Rechnung auf, daß die luden im Kampf gegen Hitler auf jeden Fall auf ihrer Seite stehen würden, da sie gar keine andere Wahl hätten. Und in jedem Fall waren die Araber weit wichtiger für die Kriegswirtschaft, und so entschied sich die britische Regierung, die Araber zu beschwichtigen, indem sie die Juden verriet. Das ‡infame Weißbuch— erschien am 17. Mai 1939. Darin wurde festgehalten, daß Palästina nicht geteilt würde, daß es seine Unabhängigkeit 1949 erlangen sollte und daß Araber und Juden die folgende Dekade mit der Vorbereitung dieses Ereignisses verbringen sollten. Die jüdische Einwanderung sollte strikt begrenzt werden. In dem Jahr, in dem Hitler die Hand auf 3 Millionen polnische Juden legte, sollte 35.000 Juden die Einwanderung nach Palästina erlaubt werden. In jedem der vier darauf folgenden Jahre würde weiteren 10.000 Juden die Einwanderung gestattet, und während der übrigen fünf Jahre des Mandates sollte es ohne die Einwilligung der Araber überhaupt keine jüdische Immigration mehr geben. Dieses Dokument wird von den Juden heute als Teil des generellen Betruges an ihnen seitens der Demokratien betrachtet. Es ist wichtig zu bedenken, daß die Deutschen mit dem systematischen Judenmord nicht vor dem Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 begannen. Die Wannsee-Konferenz, auf der die deutsche Regierung formell -477-
beschloß, alle Juden in Europa zu ermorden, fand im Januar 1942 statt. Die britischen und amerikanischen Beamten, die den jüdischen Flüchtlingen die Einreise verwehrten, betrachteten sie als Auswanderer aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen, nicht als Menschen, die um ihr Leben liefen. Zwischen 1933 und 1941, als die deutschen Armeen einen Großteil Europas besetzt hielten, schienen die Juden in keiner schlimmeren Situation als der Rest der Bevölkerung von Polen, Jugoslawien, Griechenland, Frankreich, der Niederlande und der Sowjetunion. Im Laufe des Zweiten Weltkriegs wurden mehr als 25 Millionen Zivilisten aller Nationalitäten, Rassen, Ethnien und Religionen getötet. Auf den Vorwurf ‡Was taten die Alliierten, um die Juden zu retten?— ist die Antwort, daß im September 1939, zwei Jahre vor Beginn des Holocaust, Britannien, Frankreich und die britischen Dominien Deutschland den Krieg erklärten, die einzigen Länder also, die das taten, ehe sie selbst angegriffen worden waren. Im Jahr 1941 wurden die USA (im Dezember) und die Sowjetunion (im Juni) angegriffen und in den Krieg hineingezogen. Die Alliierten bekämpften Hitler bis zum Tod und zerstörten seine Herrschaft. Es waren die Soldaten der Roten Armee, die Auschwitz befreiten, die Briten, die Bergen-Belsen befreiten, die Amerikaner, die Dachau befreiten. Man kann den Alliierten nicht vorwerfen, daß sie nichts für die Juden unternommen hätten: Immerhin besiegten sie Hitler. Der Vorwurf muß vielmehr dahin lauten, daß sie den Holocaust nicht vorhersahen und für die Juden, die ihm entkommen wollten, vorsorgten, und daß sie nach dem Beginn des Mordens nichts zur Rettung der wenigen Tausend unternahmen, die irgendwie aus Hitlers Europa herausgekommen wären. Die Briten blieben bei der Politik des Weißbuches und beschränkten die jüdische Einwanderung in Palästina auf ein Minimum. Wenn Flüchtlingsschiffe das östliche Mittelmeer erreichten, wurden sie aufgebracht und nach Haifa geschleppt, und die meisten Flüchtlinge wurden nach Mauritius oder Zypern weitergeschickt. Der Zwischenfall, der heute noch am lebendigsten im israelischen Bewußtsein steht, besiegelte das Schicksal einer Gruppe rumänischer Flüchtlinge. Es war ihnen gelungen, den alten Viehtransporter Struma -478-
zu chartern und Ende 1941 in die Türkei zu entkommen. Sie hofften, auf dem Landweg weiter nach Palästina geschickt zu werden (die Deutschen kontrollierten die Ägäis), aber die Briten verweigerten ihre Zustimmung. Auch die Türken ließen sie nicht landen. Die Struma sank am 24. Februar 1942 vor Istanbul. 767 Menschen kamen ums Leben. Im Jahr 1942 erfuhr die Außenwelt vom Holocaust. Es war ein beispielloses Verbrechen. Anders als andere Zahlenangaben in diesem Buch ist die Zahl der dabei Ermordeten genau erfaßt. Die Zahl der jüdischen Einwohner in all den Ländern, die Hitler besetzte, ist bekannt. Die Zahl derer, die entkamen und überlebten, ebenfalls, und die üblichen demoskopischen Methoden lassen sich auf die Berechnung der natürlichen Todesfälle und Geburten während dieser sechs Jahre anwenden. Insgesamt wurden 5.820.000 Juden ermordet. Die Deutschen schätzten, daß rund 10 Millionen Juden in Europa lebten, und sie wollten alle töten. Am Ende hatten sie mehr als ein Drittel der Juden der Welt ermordet. Hätten sie die UdSSR besiegt, so hätten sie ihr Werk in Europa vollendet. Und wenn Rommel die Briten in El Alamein besiegt hatte, wäre der Nahe Osten den Deutschen in die Hand gefallen, einschließlich Palästina, und der Holocaust wäre auf die Juden dort und die sephardischen Juden in Nordafrika ausgedehnt worden. Die Deutschen waren in ihrer Systematik völlig verrückt. In Holland wurden alte, bettlägerige Juden auf Tragbahren in Züge gebracht und quer durch Europa geschickt, um in den Todeslagern in Ostpolen umgebracht zu werden. Während die Rote Armee die Deutschen aus dem Osten zurückdrängte, und auch nach dem Durchbruch der westlichen Alliierten durch die Siegfried-Linie im Westen, requirierte die Gestapo immer noch Züge, um Juden nach Auschwitz zu bringen. Jüdische Facharbeiter, die für die Wehrmacht Munition herstellten, wurden in den Tod geschickt. Der Holocaust ist das zentrale Ereignis in der Geschichte des Staates Israel. Die Araber argumentieren nicht zu Unrecht, daß die Welt die Palästinenser dazu bestimmt hat, für die Verbrechen der Deutschen zu bezahlen. Es wäre besser, sie würden die moralische Anstrengung unternehmen, die Auswirkungen der Erinnerung an -479-
Auschwitz und Majdanek zu begreifen. Der Satz ‡Niemals wieder!— ist kein Schlagwort, er ist ein Programm. So hätte sicherlich Nasser 1967 davon profitiert, wenn er diesen zentralen Punkt besser begriffen hätte. DAS ENDE DES MANDATES David Ben Gurion stellte die jüdische Haltung zum Weißbuch klar: ‡Wir werden gemeinsam mit England gegen Hitler kämpfen, als gäbe es kein Weißbuch, und wir werden das Weißbuch bekämpfen, als gäbe es keinen Krieg.— Praktisch alle Juden in Palästina folgten seiner Führung, mit der einzigen Ausnahme einer winzigen Gruppe von Fanatikern unter Führung von Avraham Stern, dessen Haß gegen die Briten ihn zu einer antibritischen Allianz mit Hitler trieb. Obwohl der Holocaust noch nicht eingesetzt hatte, war es doch eine reichlich groteske Verbindung. Das ist nur deshalb heute noch der Erwähnung wert, da die ‡Stern-Bande—, wie sie die Briten nannten oder die ‡Lehi—, die ‡Kämpfer für die Freiheit Israels—, wie sie auf Hebräisch bekannt wurden œ, während des Krieges britische Soldaten angriffen und eine Anzahl Beamter ermordeten; schließlich ermordeten sie 1948 den UNO-Hochkommissar Graf Bernadotte. Eines der Bandenmitglieder war Itzak Sharnir, später Führer der Likud-Partei und israelischer Ministerpräsident. Viele palästinensische Juden dienten in der britischen Armee, und im Verlauf des Krieges stellten die Briten eine jüdische Brigade auf, die in Italien zum Einsatz kam. In Palästina selbst wurde die Haganah von den Briten ausgerüstet und ausgebildet, und die EliteKommandoeinheiten, die Palmach, wurden im ganzen Nahen Osten für Kommandoaktionen eingesetzt. Die Stern-Bande griff weiterhin die Briten an, sogar als Rommels Armeen vor den Toren Kairos standen. Stern selbst wurde 1942 bei einem Schußwechsel in Tel Aviv getötet. Im Oktober 1944 ermordeten die Überlebenden der Bande Lord Moyne, den britischen Gouverneur für den Nahen Osten in Kairo. Ben Gurion und die Haganah arbeiteten mit den Briten zusammen, um die Terroristen in Palästina aufzureiben, und Ben Gurion nützte die Gelegenheit, um mit den Revisionisten zu einem Übereinkommen zu gelangen. So kam es zum Kompromiß zwischen -480-
der rechten Opposition, der ‡Herut—, geführt von Menachem Begin, deren militärischer Arm der Irgun Zvai Leumi (Etzel) war. Der politische Kampf zwischen den beiden Fraktionen hält bis zum heutigen Tage an. Nach dem Krieg setzten die Briten die Politik des Weißbuchs von 1939 fort. Die jüdische Einwanderung war theoretisch scharf begrenzt: Die Hunderttausenden Überlebenden in Auffanglagern überall in Europa sollten dort bleiben. Die Araber in Palästina sollten unterstützt, und ein ‡binationaler Staat—, dominiert von den Arabern, sollte errichtet werden. Tatsächlich gelang es zwischen 1944 und 1948 ungefähr 200-000 Menschen, nach Palästina einzuwandern. Die Briten brachten die Juden durch ihre Politik des Einwanderungsverbotes gegen sich auf, während sie in Wahrheit nichts dagegen unternahmen und so die Araber verärgerten. Es war eine außergewöhnliche Zeit. Dieselbe Regierung, die Indien im Jahre 1947 in die Unabhängigkeit entließ, setzte ihr imperialistisches Spiel im Nahen Osten fort, als hätte sich gar nichts verändert. Die Briten bestehen heute darauf, daß sie ihr Empire großzügig aufgegeben haben, anders als die Franzosen, die um den Erhalt ihres Kolonialreiches gekämpft haben. Das ist nicht wahr. Die Briten mußten aus Indien hinausgedrängt werden, und an Teile des Nahen und Mittleren Ostens klammerten sie sich noch mehr als 20 Jahre nach dem Krieg. Eine Mischung aus Gewalt und politischem Druck mußte angewendet werden, um ihren Griff vom Irak, von Ägypten, Palästina und Aden zu lösen. Ben Gurion wandte sich mit der Bitte um Unterstützung an die Amerikaner. Er forderte, daß 100.000 Flüchtlingen die Einwanderung nach Palästina gestattet werden müßte, und Präsident Truman schloß sich dieser Forderung an. Es gab in Palästina einen Unabhängigkeitskrieg, in dem Haganah und Irgun die Briten bekämpften, aber verglichen mit anderen solchen Kriegen war er relativ harmlos. Ben Gurion rechnete damit, daß die britische Öffentlichkeit, erschöpft vom Zweiten Weltkrieg und verstört von den Bildern aus den europäischen Konzentrationslagern (vor allem Bergen-Belsen), die Situation nicht mehr lange akzeptieren würde. Der dramatischste Zwischenfall in diesem Konflikt geschah am 22. -481-
Juli 1946, als das King David-Hotel in Jerusalem, das als britisches Militärhauptquartier diente, in die Luft flog. Bei der Explosion wurden 25 Briten getötet, 40 Araber und 17 Juden. Es war die Rache für einen britischen Großeinsatz im Juni und war von Begin nach einem Mißverständnis zwischen der Haganah und dem Irgun angeordnet worden. Ben Gurion und die Haganah-Kommandeure verurteilten diesen Angriff œ obwohl ihre eigene Verstrickung weit größer war, als sie zugaben. Am 29. Juli henkten die Briten drei Irgun-Terroristen, und am nächsten Tag befahl Begin, zwei schon früher gefangengenommene britische Unteroffiziere aufzuhängen. Ihre Leichen wurden vermint und an einem Hügel so aufgehängt, daß die Briten sie entdecken mußten. Diese Aktion schadete der israelischen Sache ebenso wie die Morde an Moyne und Bernadotte und später das Deir YassinMassaker, und sie wurden immer wieder in Erinnerung gerufen, wenn Begin, Shamir oder ihre Apologeten den arabischen Terrorismus verurteilt haben. Allerdings waren die meisten Israelis vom jüdischen Terror abgestoßen und versuchten niemals, ihn zu rechtfertigen. Das bleibt ein grundlegender Unterschied zwischen den meisten Israelis und den meisten Palästinensern. Ben Gurions Einschätzung war richtig. Die Briten hielten den Kampf nicht durch, und am 18. Februar 1947 verkündete der Außenminister Ernest Bevin, daß sie das Mandat aufgeben würden. Im Mai setzte die UNO eine Sonderkommission zur Klärung der Palästinafrage ein. Sie empfahl die Aufteilung des Landes in zwei Staaten. Graf Bernadotte, ein schwedischer Diplomat, der eine beachtenswerte Rolle bei der Errettung europäischer Juden während der letzten Kriegsmonate gespielt hatte, wurde zum UNOHochkommissar für Palästina ernannt. Nach seiner Ermordung folgte ihm der schwarze Amerikaner Ralph Bunche. Die UNOGeneralversammlung nahm den Teilungsplan am 27. November an. Wieder einmal akzeptierten ihn die Juden, obwohl die vorgesehenen Grenzen nicht zu verteidigen waren, und einmal mehr lehnten ihn die Araber von A bis Z ab. Die Briten verlautbarten, daß sie Palästina am 15. Mai 1948 verlassen würden, ob die UNO nun bereit sein würde, das Gebiet zu verwalten oder nicht. -482-
DER ERSTE ARABISCH-ISRAELISCHE KRIEG Die Palästinenser bereiteten sich auf den Krieg vor, und sie waren sich der Unterstützung der Armeen der angrenzenden arabischen Staaten sicher. Die bedeutendste davon war die Arabische Legion, die Armee des Emir Abdullah von Transjordanien (später Jordanien). Ihr Kommandeur, Generalleutnant Sir John Glubb, war wie viele seiner Offiziere Brite, und die arabischen Offiziere waren von ihnen ausgebildet worden. Die Kriege zwischen Arabern und Israelis haben das alte Sprichwort nachdrücklich bestätigt, daß es keine schlechten Soldaten gibt, sondern nur schlechte Offiziere. Die arabischen Armeen (außer der Arabischen Legion) kämpften schlecht, weil sie schlecht geführt wurden, und die israelische Armee schlug sich hervorragend, da sie hervorragend geführt wurde. 1973 mußten die Israelis feststellen, daß die ägyptischen und syrischen Soldaten unter guter Führung durchaus ernst zu nehmende Gegner waren. 1948 wurden nicht nur die arabischen Armeen schlecht geführt, sondern die arabischen Staaten waren korrupt, unfähig, und ununterbrochen mit ihrem Streit untereinander beschäftigt. Es gab keine Koordination zwischen den angreifenden Armeen, und die kläglichen israelischen Einheiten konnten sich und ihre noch kläglichere Ausrüstung unbehindert zwischen den Fronten durchmanövrieren. Der Kampf begann noch vor dem Abzug der Briten, und die Briten erwiesen sich als eindeutig parteiisch zugunsten der Palästinenser. Der beschämendste Zwischenfall geschah am 13. April 1948, als ein jüdischer Konvoi versuchte, Mount Scopus zu entsetzen, nahe im Osten von Jerusalem, wo die Hebräische Universität und das Hadassah-Spital belagert wurden. Der Transport geriet in einen arabischen Hinterhalt. Die meisten der rund 80 Menschen im Konvoi waren Ärzte und Krankenschwestern, aber es waren auch Soldaten dabei und Munitionslastwagen. Die britischen Vorposten griffen trotz der flehentlichen Appelle jüdischer Stellen nicht ein. Der gesamte Konvoi wurde ausgelöscht. Noch weit dramatischer war ein Zwischenfall einige Tage zuvor gewesen. Am 9. April hatte eine Irgun-Einheit Feindberührung in dem -483-
arabischen Dorf Deir Yassin, westlich von Jerusalem, und sie massakrierten rund 250 Araber, die meisten von ihnen Zivilisten. Begin war theoretisch dafür verantwortlich, da er den Irgun kommandierte. Aber er war nur der politische Kopf, ein Feigenblatt an Respektabilität für die Terroristen. Er selbst war niemals ein Kämpfer, noch war er in Terroranschläge verwickelt (anders als Shamir). Die Nachricht von dem Massaker breitete sich in Windeseile im ganzen Land aus und bewog viele Araber zur Flucht. Seither gibt es eine ununterbrochene Debatte über die Verantwortlichen für das Flüchtlingsproblem. Die Israelis argumentieren, daß die Araber den Zivilisten befahlen, zu ihrer eigenen Sicherheit die Schlachtzone zu verlassen, und die Araber beschuldigen die Israelis einer Politik des Massenterrors. In den BBC-Mitschnitten aus dieser Zeit von allen Sendungen, die in arabischen Hauptstädten ausgestrahlt wurden, findet sich kein Anzeichen offizieller arabischer Aufforderungen an die Zivilbevölkerung zur Flucht. Im Gegenteil: Die Menschen wurden gedrängt, in ihren Dörfern zu bleiben. Natürlich werden an manchen Orten arabische Kommandanten Zivilisten gedrängt haben, aus dem Kampfgebiet zu verschwinden. Anderseits gab es keine israelische Politik der Vertreibung der Araber, obwohl es unzweifelhaft vorkam, daß lokale Behörden genau das taten. Eher typisch war die Situation in Haifa, wo die jüdischen Behörden die Araber zum Bleiben aufforderten aber sie gingen trotzdem. Ein Deir Yassin war genug. Die Araber flüchteten. Aber Zivilisten versuchen immer zu entkommen: In der neueren Geschichte Europas sind verzweifelte Marschkolonnen von Flüchtlingen vor der einen oder anderen Invasionsarmee ein vertrautes Bild. 1967 flüchteten Zehntausend