William Corlett Die Stufen im Kamin Das Haus des Magiers – Band 01 Aus dem Englischen von Christa Holtei
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William Corlett Die Stufen im Kamin Das Haus des Magiers – Band 01 Aus dem Englischen von Christa Holtei
Deutsche Erstausgabe In neuer Rechtschreibung 5. Auflage Juni 2003 2001 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München www.dtvjunior.de © 1990 William Corlett Titel der englischen Originalausgabe: >The Steps up the ChimneyDas Haus des Magiers< hat er selbst fürs Fernsehen adaptiert.
Für Bryn und die Dysons
1 Bahnhof Druce Coven Der Bahnhof Druce Coven war ein einsamer Ort. Ein einziges Bahngleis führte von Manchester im Norden nach Bristol im Süden durch die raue und schöne Landschaft entlang der Grenze zwischen Wales und England. Es schlängelte sich durch abgelegene Dörfer und verlassene Bahnhöfe, die manchmal nur an einem schmalen Bahnsteig und einem grün gestrichenen Wartehäuschen als solche zu erkennen waren. William kam mit dem Zug aus Manchester als Erster in Druce Coven an. Seine Schwestern Mary und Alice fuhren mit dem Londoner Zug. Sie mussten in Bristol umsteigen und würden zehn Minuten später als er da sein. Onkel Jack wollte sie alle vom Bahnhof abholen und zum zwanzig Meilen entfernten Golden House fahren. Aber als William mit seinem schweren Koffer aus dem Zug gestiegen war und die Tür zugeworfen hatte, musste er erstaunt feststellen, dass er alleine auf dem Bahnsteig stand. Es gab noch nicht mal einen Bahnwärter oder einen Fahrkartenschalter, denn man bezahlte direkt beim Zugschaffner. Einen Augenblick war er unsicher, ob er überhaupt am richtigen Bahnhof ausgestiegen war. Er ließ seinen Koffer stehen und ging zum Zaun, wo ein Tor im Wind quietschend hin- und herschwang. Neben dem Tor verkündete ein Schild mit weißen Buchstaben auf der abgeblätterten grünen Farbe, dass es sich tatsächlich um Druce Coven handelte. Hier sollte er also auf seinen Onkel warten. Wenigstens bin ich als Erster hier, dachte er. Mary und Alice waren jünger als er und alleine hätte es ihnen hier bestimmt nicht gefallen. Selbst ihm kam es ein bisschen einsam und verlassen vor. Fröstelnd sah er sich um.
Der Dezembernachmittag war kalt und grau. Schwere Regenwolken hingen schon den ganzen Tag am Himmel. Der Wind fuhr stöhnend durch die Zaunpfähle und zerrte an einem losen Brett auf dem Dach des Wartehäuschens. Der Bahnsteig lag in einer tiefen Mulde zwischen den Hügeln, von wo man die umgebende Landschaft nicht sehen konnte. Eine Brücke führte über diese Mulde. Ein Stück weiter weg verschwand das Gleis Richtung Bristol in einem dunklen Tunnel. William steckte die Hände in seine Anoraktaschen und kickte nach einem Stein. Er schlidderte weg und sprang jenseits des Gleises gegen die steile Böschung, die mit Unkraut, verkümmerten Büschen und Bäumen überwuchert war. William lief ein paar Schritte über den Bahnsteig, drehte sich um und ging wieder zurück. Dann schaute er auf die Uhr. Der Zug aus Bristol würde in acht Minuten kommen. Er ging zu seinem Koffer und setzte sich darauf. Oben auf der gegenüberliegenden Böschung wuchsen dichte Baumreihen bis zu einem soliden Holzzaun. Als William sie betrachtete, tauchte plötzlich ein Fuchs aus dem Unterholz auf und spähte mit erhobener Vorderpfote in die Mulde hinunter. Sein Fell hob sich leuchtend rot gegen die düstere Umgebung ab. William war überrascht vom plötzlichen Auftauchen des Fuchses und beugte sich aufgeregt vor. Bei seiner Bewegung drehte das Tier seinen Kopf herum und blickte ihn an. Es kam William so vor, als hielten die Augen des Fuchses seine eigenen fest, als wären sie einen Moment lang mit einem unsichtbaren Band verbunden. »Hallo!« Eine Stimme unterbrach die unnatürliche Stille in der schmalen Talmulde. Die Stimme ertönte so überraschend und unerwartet, als hätte der Fuchs gesprochen, aber William wusste, dass das nicht sein konnte. Der Fuchs blickte ihn noch einen Moment lang an und verschwand dann so leise und heimlich im Unterholz, wie er gekommen war.
William blinzelte fröstelnd mit den Augen. Er fror und er war enttäuscht. Er mochte den Fuchs. Auf dem verlassenen Bahnsteig war er ihm fast wie ein Freund vorgekommen. Jetzt war er fort und schon fehlte ihm seine Gesellschaft. »Hallo, Junge!«, rief die Stimme wieder und holte William in die Gegenwart zurück. Er drehte sich um. Ein Mann stand auf der Brücke, lehnte am Geländer und sah zu ihm hinunter. Auch seine Augen hielten William fest und wieder verband ihn ein unsichtbares Band mit dem Mann. Sein starrer Blick schien wie der des Fuchses in Williams Kopf einzudringen, als wollte er seine Gedanken lesen. William versuchte wegzusehen, aber es gelang ihm nicht, der Blick war stärker als er. »Hat’s dir die Sprache verschlagen, mein Junge?«, rief der Mann. »Nein«, erwiderte William fast trotzig und erhob sich. Panik stieg in ihm auf und er sah sich nervös nach einem Versteck um. »Es tut mir Leid«, sagte der Mann etwas freundlicher. »Ich habe dich erschreckt. Aber du wartest doch sicher auf jemanden, der dich abholt?« »Auf meinen Onkel«, antwortete William. »Ach ja. Aber bist du allein?« »Meine Schwestern kommen mit dem nächsten Zug aus London.« Obwohl der Mann solche direkten Fragen stellte und sein Blick weiterhin Williams Augen festhielt, schien er eigentlich nicht unfreundlich zu sein. »Warte einen Moment«, sagte er und kurz darauf sah William ihn über den kurzen, steilen Weg zum Zauntor hinabgehen. Er kam zu William auf den Bahnsteig.
»Wie heißt du, mein Junge?«, fragte der Mann. »William. William Constant.« »William Constant«, wiederholte der Mann leise. Er lächelte und schwieg. Er war lang und dünn und hatte eine hohe Stirn, über der sich die Haare lichteten. Seine blaugrauen Augen waren sehr hell und die goldenen Punkte darin schienen fast Funken zu sprühen. Er hatte dünne, lange Haare, die der Wind wie eine rote Nebelwolke um seinen Kopf blies. Sein langer, schwarzer Regenmantel war bis zum Kinn zugeknöpft. »Nun, William Constant«, sagte er schließlich, »du bist der Älteste, nicht?« »Ja. Ich bin dreizehn.« »Und deine Schwestern?« »Mary ist elf und Alice ist acht.« Der Mann nickte langsam und nachdenklich. »Und ihr kommt nach Golden House zu Besuch, richtig?« »Mein Onkel wohnt da. Kennen Sie ihn?« »Vom Sehen. Und seine Frau auch. Sie ist seine Frau, oder?« »Sie heißt Phoebe.« »Ist sie seine Frau?« »So ungefähr«, antwortete William zögernd. Unter dem durchdringenden Blick wurde er nervös, und obwohl er dieses Kreuzverhör nicht mochte, fand er es schwierig, nicht auf die Fragen des Mannes zu antworten. »Du brauchst keine Angst zu haben, William. Ich will dir nichts Böses«, versicherte ihm der Mann und legte seine Hand leicht auf Williams Schulter.
»Ich habe keine Angst«, widersprach William trotzig, aber in Wirklichkeit wäre er lieber nicht alleine mit dem Mann gewesen, der ihm so eindringlich in die Augen blickte, wie der Fuchs es getan hatte. »War es der erste Fuchs, den du gesehen hast?«, fragte der Mann. Er schien tatsächlich seine Gedanken lesen zu können. »Ich habe natürlich welche im Fernsehen gesehen. Aber noch nie einen echten.« »Es gibt auch Dachse bei Golden House und Otter im Fluss. Ich denke, die wirst du auch noch sehen.« »Wohnen Sie denn in der Nähe?« »Ich kenne die Gegend«, antwortete der Mann leise und sein Gesicht sah traurig aus. »Wir bleiben die ganzen Weihnachtsferien da. Unsere Eltern sind im Ausland. Sie arbeiten als Ärzte in Äthiopien in einem Krankenhaus. Eigentlich ist es mehr ein Zeltlager…« William merkte, dass er plötzlich zu viel und zu schnell redete, aber irgendwie wollte er etwas sagen, weil der Mann so traurig aussah. Die Hand des Mannes lag jetzt schwer auf seiner Schulter. Er fasste Williams Anorak fester und zog ihn zu sich. In der Ferne hörte William den lang gezogenen Pfiff eines Zuges. »Da kommt der Zug«, sagte er ohne sich umzudrehen. »Sie können Mary und Alice kennen lernen. Wie heißen Sie überhaupt? Nur damit ich Sie vorstellen kann.« Der Mann umklammerte seine Schulter und starrte ihm weiter in die Augen. »Ich heiße Stephen Tyler, William. Wirst du dir das merken?«
Wieder ertönte der Pfiff des Zuges, diesmal viel näher. William drehte sich um und sah die Diesellok aus dem dunklen Tunnel auf sich zukommen. Zischend und stampfend kam der Zug zum Stehen. Einen Augenblick lang geschah nichts. Dann öffnete sich eines der Fenster und ein Mädchen mit kurzen braunen Haaren steckte den Kopf hinaus. »William«, rief sie. »Kannst du mir mal helfen? Die Tür klemmt.« William lief den Bahnsteig hinunter und öffnete die Tür für sie. Das Mädchen kletterte hinaus und drehte sich nach ihrem Koffer um. »Warte, Mary, ich mach das schon«, sagte William und wollte sich an ihr vorbeischieben. »Ich kann das allein«, gab Mary zurück und zerrte an dem schweren Koffer. »Du kannst mir ja helfen, Will«, rief seine jüngere Schwester Alice aus der Tür. »Aber beeil dich, sonst fährt der Zug wieder los.« William hob Alice’ Koffer auf den Bahnsteig und sah, dass Mr. Tyler sie beobachtete. Er drehte sich wieder um und nahm Alice bei der Hand, damit sie auf den Bahnsteig springen konnte. Kaum hatte er die Tür zugeschlagen, fuhr der Zug schon wieder an. Alice hielt Williams Hand einen Moment lang fest. Dann sprang sie hoch und gab ihm einen Kuss. »Jetzt hör aber auf, Alice«, protestierte er. Dann fiel ihm Mr. Tyler ein. »Dieser Mann kennt Golden House ziemlich gut«, sagte er und drehte sich um. »Welcher Mann?«, fragte Mary.
Der Bahnsteig war leer. »Komisch. Eben war er noch da… du musst ihn gesehen haben. Wir haben uns unterhalten, als du mich gerufen hast. Wohin ist er gegangen?« »Ich habe niemanden gesehen«, sagte Mary und hob ihren Koffer hoch. »Aber er war hier.« »Jetzt ist er jedenfalls weg.« »Aber – wohin ist er gegangen?« »Ich weiß es nicht«, sagte Mary achselzuckend. »O Mann, dieser Koffer wiegt eine Tonne!« »Vielleicht ist er in den Zug gestiegen, Will«, sagte Alice und nahm ihren Koffer. »Vielleicht«, sagte William, aber er war immer noch verwirrt. Wie konnte der Mann so schnell verschwinden? »Da ist Onkel Jack!«, quietschte Alice. Sie ließ ihren Koffer wieder fallen und rannte über den Bahnsteig zu einem Mann in Jeans und Pullover, der den Weg zum Tor heruntergelaufen kam. »Tut mir Leid!«, rief er. »Ein paar Schafe haben mich aufgehalten.«
2 Die Fahrt zum Golden House Jack hatte seinen uralten Landrover am Ende des Weges geparkt, der über die Brücke führte und nach beiden Richtungen hin im Wald verschwand. »Dies gehört alles zu einem alten Waldgebiet«, erklärte Jack, als er die Koffer der Mädchen in den Wagen stellte. »Früher reichte es bis zum Forest of Dean im Süden. Aber natürlich ist in den vergangenen Jahrhunderten viel abgeholzt worden.« »Es heißt Royal Forest of Dean«, verbesserte Mary ihren Onkel. »Von da hat Admiral Nelson alle Eichen für seine Schiffe bekommen. Haben wir in Geschichte gelernt.« »O Mary!«, sagte ihre Schwester und kletterte auf den Beifahrersitz. »Wir wollen jetzt nichts mehr von Geschichte hören. Das ist so langweilig!« »Alice! Ich will vorne sitzen«, rief William. Er stellte seinen Koffer hinten in den Wagen, dann ging er zur Beifahrertür. »Nein, ich war zuerst hier.« »Sie streiten sich dauernd«, vertraute Mary Onkel Jack an. »Das ist wirklich zu blöd.« »William, geh sofort runter!«, schrie Alice. Ihr Bruder hatte sich kurz entschlossen auf sie gesetzt. »Geh runter, William. Ihr sitzt beide hinten«, bestimmte Jack. »Ich will vorne bei dir sitzen«, jammerte Alice.
»Kannst du aber nicht. Komm her, Mary, du sitzt vorne«, sagte Jack und schwang sich auf den Fahrersitz. »Aber warum?«, protestierte Alice. »Weil sie gewartet hat«, sagte Jack. William und Alice maulten noch ein bisschen, aber dann stiegen sie hinten ein. Mary setzte sich auf den Beifahrersitz. Sie lächelte ihren Onkel an und strich sich dabei über ihre kurzen Haare. »Ich habe meine Haare abschneiden lassen. Sie gingen bis zur Taille. Meinst du, ich hätte sie lang lassen sollen?« »Igitt! Hör auf zu flirten, Mary«, sagte Alice. »Sei vorsichtig, Onkel Jack, sie ist hinter Männern her!«, kicherte sie. »Also wirklich, du bist so ein Baby, Alice«, sagte Mary. Sie schaute aus dem Fenster, damit niemand sah, dass sie rot geworden war. »Du bist rot geworden«, sang Alice. »Mary ist rot geworden.« »Halt die Klappe, Alice!«, rief Mary. Jetzt war sie wirklich böse. »Ja, halt die Klappe, Alice«, mischte Jack sich ein. Aber er lächelte Alice über die Schulter an, als er das sagte. Alice verzog achselzuckend den Mund. Alle gegen einen war ungerecht. Sie baumelte mit den Beinen und schaute auf den Boden. Im Wagen wurde es unbehaglich still. »Weißt du, dass ich einen Fuchs gesehen habe, Onkel Jack? Als ich am Bahnhof gewartet habe«, sagte William. Er sah die scharfen, fragenden Augen wieder vor sich.
»Es gibt hier viele Füchse. Wir haben auch einen beim Haus. Er kommt nachts in den Garten, aber man kann ihn auch oft tagsüber sehen.« »Und es gibt Dachse, ja? Und Otter im Fluss?«, fragte William begeistert. »Wer hat dir das alles erzählt?« »Der Mann.« »Welcher Mann?«, fragte sein Onkel und sah William im Rückspiegel an. »Das ist Wills geheimnisvoller Mann, der nicht da war«, warf Mary dazwischen. Sie kniete sich auf den Sitz und drehte sich so nach hinten, dass sie sich an der Rückenlehne festhalten konnte. »Er ist in den Zug gestiegen, Mary. Das haben wir doch schon geklärt«, spottete Alice. »Er war da«, behauptete William fest. »Ich habe lange mit ihm geredet. Er hieß Stephen Tyler.« Jack sah seinen Neffen wieder durch den Rückspiegel an. »Stephen wer?«, fragte er. »Stephen Niemand!«, kicherte Alice. »Tyler«, wiederholte William. »Er sagte, ich solle mir den Namen merken.« »Das ist nicht besonders schwer, oder?«, fragte Mary. »Nicht wie Alicia Borodevski.« »Alicia… wer?«, lachte Jack. »Borodevski«, wiederholte Mary, sehr zufrieden mit der erzielten Wirkung. »Sie ist in meiner Klasse. Ihr Urgroßvater war ein Weißrusse.«
»Sind die denn nicht alle weiß?«, fragte Alice. »Keine Ahnung«, gab Mary zurück. »Sie schon. Ihre Familie kann niemals wieder nach Moskau zurück, weil sie dann ins Gefängnis gesteckt würden. Das hat sie jedenfalls erzählt. Ihre Vorfahren waren Freunde des Zaren. Und sie sind geflohen und haben alle ihre Juwelen in die Kleidersäume eingenäht…« »Das ist aus diesem Film mit dem glatzköpfigen Schauspieler«, sagte William mit einem vernichtenden Blick. »Wirklich, Mary, du glaubst auch alles. Jedenfalls hat Mr. Tyler gesagt, dass es Otter und Dachse bei Golden House gibt.« »Otter habe ich hier noch nie gesehen. Aber Dachse gibt es. Wieso wusste dieser Mann so viel über Golden House?« »Vielleicht hat er mal da gewohnt«, meinte Mary. »Nein, es stand jahrelang leer. Die letzte Eigentümerin war eine Miss Crawden. Die alte Dame hat da sehr lange gelebt, zuerst mit ihrer Familie, glaube ich, und dann alleine.« »Er hat auch nur gesagt, dass er die Gegend kennt«, unterbrach William. »Wir haben noch niemanden hier kennen gelernt«, sagte Jack. »Aber ich nehme an, dass zwischen den Hügeln jede Menge Häuser versteckt sind.« Das Gespräch im Auto verstummte und die Kinder betrachteten die vorbeiziehende Landschaft durch die Fenster. Die Dämmerung hatte eingesetzt und es fing an zu nieseln. Die Straße wand sich durch den Wald und dann plötzlich durch eine ländliche Gegend mit Hecken statt dichter Baumkronen. Sie befanden sich in einem engen Tal mit ansteigenden Feldern zu beiden Seiten der steilen Straße. Als sie oben auf dem Hügel ankamen, hielt Jack das Auto für einen Moment an, damit sie die Aussicht bewundern konnten. Vor ihnen
erstreckte sich eine wellige Moorlandschaft, blass und grau im Abendlicht. Dahinter erhoben sich höhere Berge. »Da drüben ist Wales. Das walisische Wales, wie es genannt wird. Das hier ist dann wohl das englische Wales. Wir sind fast zu Hause«, sagte Jack zu ihnen. Nur wenig später bog er von der Landstraße in einen noch schmaleren Weg ein, der in Windungen die eine Seite des Tales hinaufführte. Die Hecken verschwanden und bald waren sie auf dem offenen Moor. »Diese Straße wird sehr schlecht, wenn es schneit«, sagte Jack, als ob er zu sich selbst spräche. »Wenn sie unpassierbar ist, sind wir von allem abgeschnitten.« »Hoffentlich geschieht das, solange wir hier sind«, sagte Alice zu ihm. »Dann brauchen wir nicht zur Schule zurück.« »Ich dachte, du gingest gern zur Schule«, sagte Jack. Er konzentrierte sich auf die Straße vor ihm. »Ja, schon«, antwortete Alice und war wieder still. Es wurde allmählich dunkler und im Zwielicht war kaum noch etwas zu unterscheiden. Jack schaltete die Scheinwerfer ein und trat sofort auf die Bremse, als plötzlich ein leuchtend roter Streifen zu sehen war. »Habt ihr das gesehen?«, rief er überrascht. »Ein Fuchs! Ich hätte ihn fast überfahren.« »Ich hab ihn gesehen!«, rief Mary. »Ich auch«, rief Alice aufgeregt. »Du auch, Will? Hast du ihn gesehen?« Aber William schwieg und starrte hinaus in die Schatten. Er fühlte sich durchbohrt von den beiden hellen Augen, die ihn aus den dunklen Tiefen des Straßengrabens ansahen. Als Jack den Motor wieder startete und der Landrover weiterfuhr,
drehte William sich um und sah aus dem Rückfenster. Er fühlte wieder das unsichtbare Band zwischen sich und den Augen. »Sind wir bald da?«, unterbrach Alice die Stille. »Ich habe Hunger!« »Es ist nicht mehr weit. Die Straße führt jetzt wieder hinunter und dann sind wir im Golden Valley.« Es war schon fast dunkel, als sie das Tal erreichten. Der Regen hatte aufgehört, nur der Wind zerrte noch an den Ästen der Bäume. Die Straße fiel wieder steiler ab und man hörte Wasser rauschen. »Der Bach fließt entlang der Straße«, erklärte Jack. »Schade, dass es dunkel ist. Aber ihr könnt euch morgen alles ansehen. Hört mal!« Eine Eule schrie irgendwo in der Nähe. »Warum heißt es >Goldenes TalGroßer Bruder<Stimme, »du machst Alice Angst.« »Tut sie nicht. Sie ist einfach blöd«, sagte Alice, den Kopf immer noch unter dem Federbett. »Und die Hexe kommt jeden Tag und mästet dich«, erzählte Mary weiter. Sie kniete auf dem Bett vor der zusammengekauerten Alice. »Und dann kommt sie und sticht dir mit einem Finger in die Seite, um zu sehen, ob sie dich schon FRESSEN kann!« Als sie das Wort Fressen rief, fuhr sie mit den Händen unter das Federbett und kitzelte ihre Schwester. »Hör auf, Mary! Hör auf!«, bat Alice, gleichzeitig quietschend und hilflos kichernd. »Mary, ich warne dich!«, sagte William und warf sich auf sie, um sie von Alice wegzuziehen. Dieser unerwartete Überfall brachte Mary aus dem Gleichgewicht, so dass sie vom Bett runterrutschte. Sie wollte sich an Alice festhalten, aber alle drei plumpsten keuchend und völlig außer Atem auf den Boden.
»Igitt! Jetzt ist mir schlecht«, stöhnte Alice und fing wieder an zu lachen. »He, ihr da oben!«, hörten sie Jack von der Galerie die Treppe hinaufrufen. »Abendessen.« »Igitt! Abendessen! Mir wird wieder schlecht«, ächzte Alice, stand auf und rannte zur Tür. »Mary will kein Abendessen, Onkel Jack, sie hat sich hingelegt«, brüllte sie. »Du lügst, Alice!«, rief Mary. Sie hatte sich gerade aufgerappelt, als Onkel Jack ins Zimmer kam. »Was ist los?«, fragte er besorgt. »Bist du krank?« »Du musst sie gar nicht beachten«, beschwichtigte ihn William. »Es geht ihnen wirklich gut.« »Sie hatte sich hingelegt«, sagte Alice. »Tja, Alice, so kann man auch mit kleinen Sachen Kindern eine Freude machen«, sagte Mary und stopfte sich ihre Bluse in den Hosenbund. Aber Alice war schon aus dem Raum gelaufen und polterte die Steinstufen hinunter. Der Tisch war in der Küche gedeckt, einem großen Raum im hinteren Teil des Hauses. Er war durch eine Türe von der Halle aus erreichbar. In einem alten, gusseisernen Küchenherd flackerte ein Feuer. Zwei hölzerne Lehnstühle mit leuchtend bunten Kissen auf den Sitzflächen standen zu beiden Seiten des Herdes. Im Küchenschrank waren Regalbretter voller Keramikgeschirr und Fächer für Töpfe und Pfannen. Ein Steinbecken an der Wand diente als Spüle und daneben stand eine Kaltwasserpumpe. Von der Pumpe lief ein Wasserrohr zu einem altmodischen, elektrischen Boiler an der Wand darüber. Über dem Steinbecken konnte man durch ein breites, niedriges Fenster in die schwarze Nacht hinaussehen. »Wir wollten so viel fertig haben, bevor ihr kommt, einschließlich der Küchenvorhänge«, entschuldigte sich
Phoebe. »Tut mir Leid! Aber es gibt hier immer so viel zu tun. Mary, setz du dich hierhin neben William, und Alice, du hierher neben mich.« Sie brachte eine Terrine zum Tisch und begann die dampfende Suppe zu verteilen. Jack schnitt inzwischen ein Graubrot in Scheiben. »Was esst ihr am liebsten?«, fragte Phoebe. »Würstchen mit Bohnen in Tomatensoße«, antwortete Alice wie aus der Pistole geschossen. »Hamburger«, riefen William und Mary gleichzeitig. »Oje!«, rief Phoebe aus. »Ich glaube, es wird euch hier nicht gefallen.« »Wir sind Vegetarier«, erklärte Jack. »Macht nichts«, sagte Mary nach einer Weile, denn jemand musste etwas sagen. »Was ist ein Vegetarier?«, fragte Alice. »Was meinst du wohl, Dummi«, sagte William und sah sehr verlegen aus. »Ich weiß es nicht. Deshalb habe ich gefragt.« »Sie essen nur Gemüse«, sagte William so leise, als ob er hoffte, dass ihn niemand hören konnte. »Igitt!«, kreischte Alice. »Ich hasse Gemüse!« »Wir essen auch andere Sachen«, lachte Jack. »Reis und Linsen und Käse und…« »Köstliche Suppe, Tante Phoebe… ich meine… Phoebe«, sagte Mary. Sie hatte die Situation retten wollen, verschlimmerte sie aber noch durch diesen Versprecher. Sie wurde rot.
»Du kannst ruhig Tante Phoebe zu mir sagen, wenn du möchtest«, lächelte Phoebe. »Aber du bist doch nicht unsere Tante, oder?«, warf Alice dazwischen, während sie in die heiße Suppe auf ihrem Löffel blies. »Du musst erst mit Onkel Jack verheiratet sein, damit du unsere Tante bist.« »Kann sein«, antwortete Phoebe und warf Jack einen Hilfe suchenden Blick zu. »Wann kommt das Baby auf die Welt?«, fragte Mary. Sie versuchte noch einmal das Thema zu wechseln. »Ende Januar«, erwiderte Phoebe. »Aber…«, platzte Alice heraus, obwohl William sie drohend ansah. Sie klappte den Mund zu und beschloss nichts mehr zu sagen. »Aber was, Alice?«, fragte Phoebe. »Nichts«, murmelte sie. Nach der Suppe gab es Nudelauflauf mit Ofenkartoffeln und Salat. Der Rest des Essens ging ohne allzu viele peinliche Bemerkungen vorüber, bis William nach Ketchup fragte. »Oje! Wir haben nur hausgemachtes Chutney. Geht das auch?«, fragte Phoebe erwartungsvoll. »Schon gut«, sagte William und wäre am liebsten im Boden versunken. »Es ist ganz lecker, Will«, versicherte Phoebe und ließ sich ihr Essen schmecken. »Ich liebe Ofenkartoffeln«, sagte Mary tapfer. Der Nachtisch wurde immerhin allgemein für »super« befunden. Mary sagte es, Alice stimmte ihr zu und William
nickte und bat um noch eine Portion. Es gab Bananentorte mit Sirup und Phoebe erzählte, dass sie das Rezept selbst erfunden habe. »Sie kann wahnsinnig guten Nachtisch machen«, sagte Jack und nahm sich auch noch eine Portion. »Wartet mal, bis ihr die Schokoladen-Mousse probiert habt.« »Habt ihr es gemerkt?«, fragte Mary später, als die Mädchen im Bett lagen und William, in sein eigenes Federbett gewickelt, auf dem Boden zwischen den Betten saß. »Er ist wahnsinnig verliebt in sie, das ist klar.« »Igitt! Wie abscheulich!«, empörte sich Alice. »Wieso klar?«, fragte William. »Es war doch gar nicht so klar.« »Frauen merken das«, sagte Mary selbstgefällig. »Du bist keine Frau, Mary«, fuhr Alice sie ungeduldig an. »Und überhaupt, wenn sie so verliebt sind – warum heiraten sie dann nicht? William, was passiert mit dem Baby, wenn sie nicht heiraten?« »Nichts«, antwortete William. »Das macht keinen Unterschied.« »Außer, dramatisch.
dass
es
unehelich
ist«,
wisperte
Mary
»Was ist unehelich?«, fragte Alice besorgt. Es hörte sich ziemlich schrecklich an. »Eltern zu haben, die nicht verheiratet sind. Das ist alles. Hör nicht auf Mary, sie ist wieder mal ein bisschen schrullig. Man muss nicht verheiratet sein, um Kinder zu haben«, sagte William. »Ich weiß das«, rief Alice wütend. »Aber trotzdem… ich meine, wenn es egal ist, warum heiratet man dann überhaupt?«
Die drei dachten einen Augenblick darüber nach. »Ich habe immer geglaubt, man müsste verheiratet sein, um Kinder zu haben«, sagte Mary schließlich. »Muss man aber nicht, oder?«, fragte Alice unsicher. »Nein, natürlich nicht.« »Das habe ich doch gerade gesagt, Mary. Sei doch nicht immer so superschlau.« »Hört auf mit der Streiterei, ihr beiden«, unterbrach William sie. »Natürlich muss man nicht verheiratet sein, um Kinder zu haben. Aber früher war es eine Sünde, wenn man es nicht war. Nur glauben die Leute das heute nicht mehr. Oder wenigstens manche nicht.« »Jetzt bin ich ganz durcheinander«, seufzte Alice. »Trotzdem wundere ich mich«, sagte Mary nachdenklich, »warum sie nicht geheiratet haben.« »Frag sie doch«, sagte William und wollte die Diskussion beenden. »Das kann ich nicht«, versicherte Mary. »Das wäre mir peinlich.« »Ich frage sie, mir macht das nichts aus«, sagte Alice. »Nein, Alice. Lass sie einfach in Ruhe«, riet ihr Bruder. »Mama hat jedenfalls gesagt, dass sie irgendwann heiraten werden.« »Aber das ist schon so lange her und sie haben es immer noch nicht getan.« »Vielleicht wollen sie erst mit dem Haus fertig sein«, schlug William wenig überzeugt vor. »Aber das dauert noch ewig und das Baby wird unehelich sein«, schluchzte Alice dramatisch und gähnte dann laut.
»Ich gehe ins Bett«, sagte William. Er stand auf und ging zur Tür. »Es ist eiskalt hier.« »Mir ist aber schön warm im Bett«, sagte Mary schläfrig. »Schlaf schön, Will.« »Süße Alpträume, Mary«, sagte William mit gespieltem Entsetzen. »Nacht, Alice.« Aber Alice schlief schon. Er schaltete beide Lichter aus und ging auf Zehenspitzen hinaus. Im Flur war es stockfinster und sein Zimmer füllte schwaches Mondlicht mit einem gruseligen weißen Schleier. Er ging zu dem kleinen Fenster und sah in die Nacht hinaus. Zuerst konnte er nichts erkennen, aber nach und nach gewöhnten sich seine Augen an das Halbdunkel. Er sah das steil abfallende Dach und darunter eine Ecke des mondhellen Gartens. Weiter weg ragte eine vom Wind zerzauste Baumgruppe in den Sternenhimmel. Die Wolken bewegten sich schnell über den fast schon vollen Mond, der ihm so nah vorkam, als könnte er das Fenster öffnen und nach ihm greifen. Er wollte sich gerade umdrehen und zu seinem Bett gehen, als etwas Schwarzes direkt vor ihm am Fenster flatterte. Erschrocken wich er zurück. Das Wesen landete genau unter dem Fenster auf dem abschüssigen Dach. Einen Moment lang war er verwirrt, dann merkte er, dass es ein großer, dunkler Vogel war. Das Tier legte seine Flügel an und drehte langsam seinen Kopf so weit herum, als wäre er auf einer Drehscheibe befestigt. Zwei riesige, weiß umrandete Augen starrten ihn an und blinzelten. William stand stocksteif und beobachtete atemlos, wie die Eule mit einem langen, traurigen und gespenstischen Schrei, halb Flötenton, halb menschlicher Seufzer, ihren Kopf wieder zurückdrehte und mit ausgebreiteten Flügeln im Mondlicht davonflog.
4 Der Schnee Mary schreckte aus dem Schlaf auf. Das Zimmer war ihr fremd und sie brauchte einen Moment, bis sie wusste, wo sie war. Helles Tageslicht blendete sie. Sie setzte sich im Bett auf und bekam eine Gänsehaut, als die Bettdecke ihr von den Schultern rutschte. Es war schrecklich kalt. Dann sah sie Alice in ihr Federbett gewickelt am Fenster knien. »Alice? Was machst du da? Du wirst noch erfrieren.« Ihre jüngere Schwester sah sich um und lächelte. »Komm her und sieh dir das an«, flüsterte sie und winkte sie zum Fenster. Mary schlug sich das Federbett um die Schultern und hüpfte über den kalten Boden zu Alice hinüber. Draußen schien die Sonne blassgelb von einem verhangenen Himmel. Das Land unter ihr war weiß. Das abschüssige Dach war weiß. Die Hügel waren weiß. Die Bäume waren weiß. Lange Eiszapfen hingen von der Regenrinne neben dem Gaubenfenster und glitzerten im Licht. Ein leichte Brise wehte zarte Schleier aus Schnee über das Dach. »Schnee«, flüsterte Mary. »Ist es nicht schön, Mary?«, murmelte Alice. »Es ist kalt«, sagte Mary und rannte zurück in ihr warmes Bett. »Ich sehe mal nach, ob Will schon wach ist«, sagte Alice und lief aus dem Zimmer.
Aber William schlief nicht nur, er wollte auch nicht geweckt werden. Alice schüttelte ihn ein paar Mal und versuchte ihn mit der Aussicht auf Schnee wachzubekommen. Aber er sagte nur: »Hau ab, Alice!«, und zog sich die Decke über die Ohren. Sie kehrte enttäuscht in ihr Zimmer zurück. Aber auch Mary hatte sich wieder ins Bett gekuschelt und schlief. Alice ging zum Fenster und starrte verdrießlich hinaus. Draußen war alles strahlend weiß. Alice musste die Augen ein bisschen zusammenkneifen, damit die Helligkeit sie nicht blendete. Durch ihren Atem war das Fenster beschlagen. Als sie mit ihrer Hand ein Guckloch freirieb, bemerkte sie eine Bewegung unter den Bäumen am Rand der Einfahrt, die man von hier aus gerade noch sehen konnte. Sie reckte sich zur Seite und konnte Fußstapfen im tiefen Schnee erkennen. Sie führten von der Einfahrt weg und verschwanden im Wald. Obwohl niemand zu sehen war, war sie sicher, dass sie gerade eben erst frisch entstanden waren. »Mary«, sagte sie, »da draußen ist jemand.« Aber Mary schlief. Alice zuckte ungeduldig mit den Schultern und zog sich an. Sie schlüpfte in ihre Jeans, einen dicken Pullover und ein Paar Socken und setzte sich eine Strickmütze auf. Sie konnte ihre Handschuhe nicht finden und merkte, dass sie die Gummistiefel nicht mitgebracht hatte. Aber ihre Turnschuhe standen noch unter dem Bett, wo sie sie gestern Nacht hingestellt hatte. Sie hob sie auf und rannte schnell aus dem Zimmer und die Wendeltreppe hinunter. Die Halle lag noch in düsteren Schatten. Alice blieb kurz stehen, um sich ihre Schuhe anzuziehen, dann ging sie hinüber zu der großen Eichentür. Sie war abgeschlossen, aber der Schlüssel steckte. Alice strengte sich sehr an und benutzte beide Hände, um den Schlüssel umzudrehen, aber die Tür
bewegte sich nicht. Dann merkte sie, dass sie oben und unten verriegelt war. Der untere Riegel war leicht zu handhaben. Aber um an den oberen zu kommen, musste sie sich auf einen Stuhl stellen. Schließlich konnte sie die Tür öffnen. Alice drehte den eisernen Knauf herum und zerrte und zog so lange, bis die Tür aufschwang. Dann ging sie hinaus in die frostige, frische Luft. Sie war in einer stillen, glitzernden Welt. Ihr Atem kam in kleinen Wölkchen aus ihrem Mund und die Kälte kribbelte auf ihren Wangen. Vor ihr lag der Schnee wie ein makelloser Teppich bis zum Waldrand. In einiger Entfernung konnte sie entlang der Einfahrt die dunklen Flecken der Fußstapfen erkennen, die sie von ihrem Fenster aus gesehen hatte. Alice trat aus dem Eingang und stellte einen Fuß leicht auf die Schneeoberfläche. Es knirschte, als er durch ihr Gewicht in den Schnee einsank. Sie ging noch einen Schritt und noch einen und noch einen. Jedes Mal machten ihre Füße im frischen Schnee dasselbe knirschende und quietschende Geräusch. Alice fühlte sich wie eine Entdeckerin in einem fremden Land oder wie der erste Astronaut auf dem Mond. Jeder Schritt war völlig neu. Als sie an die Stelle kam, an der sich die Fußstapfen von der Einfahrt entfernten, blieb sie stehen. Zum ersten Mal fragte sie sich, von wem sie wohl sein könnten. Wer immer es war, dachte Alice, er konnte nicht vom Haus gekommen sein. Sie hatte die unbestimmte Vorstellung gehabt, dass vielleicht Onkel Jack einen Morgenspaziergang gemacht hatte. Aber jetzt konnte sie sehr deutlich sehen, dass die Fußspur aus der der Einfahrt entgegengesetzten Richtung kam. Das fand sie ziemlich seltsam und es hielt sie davon ab, sofort loszurennen und der unbekannten Person nachzulaufen. Sie stand neben der Einfahrt und suchte die dichten Bäume mit den Augen ab. Vielleicht konnte sie ja etwas sehen und musste nicht zu weit in den Wald hinein. Große Stille umgab sie. Der Schnee
dämpfte jedes Geräusch. Sogar ihr eigener Atem hörte sich weit entfernt an. »Hallo«, rief sie mit schwacher Stimme. »Hallo! Ist da jemand?« Aber niemand antwortete ihr. Sie hob einen Fuß und setzte ihn in den Fußabdruck vor ihr. Der Abdruck war größer als ihr Fuß und die Entfernung zum nächsten Abdruck war fast zu weit für sie. »Hallo«, rief sie wieder. Sie streckte das andere Bein nach vorne und trat mit einem großen Schritt in den nächsten Abdruck. Ihre Füße standen nun so weit auseinander, dass sie fast umgefallen wäre, als sie den hinteren Fuß aus dem Schnee hob. »Das ist zu blöd!«, sagte sie laut und lief schnell an der Spur entlang auf den Wald zu. Der Wind hatte den Schnee schräg gegen die Bäume geweht und die Fußstapfen waren eine Weile gut zu erkennen. Sie verliefen mehr oder weniger geradeaus, umgingen Bäume und folgten einem steilen Hügel hinauf bis zu einer Lichtung. Auf der Lichtung hörten sie zu Alice’ Überraschung plötzlich auf. Bis zur Mitte der Lichtung gab es deutliche Fußabdrücke und dann – nichts mehr. Alice stand an der Stelle, wo sie abbrachen, und starrte auf den Schnee. Das war nicht möglich! Wo waren sie? Sie suchte den Boden vor sich ab. Vielleicht waren die Abdrücke ja nur verweht und tauchten ein Stück weiter wieder auf. Aber sie waren einfach weg. In einiger Entfernung war der Schnee auf der Lichtung allerdings ganz zerwühlt, als ob ein Tier dort gewesen wäre. Es gab auch viele Vogelspuren, aber die menschlichen Abdrücke blieben verschwunden. Langsam wurde Alice die Bedeutung ihrer Entdeckung bewusst und sie schaute sich nervös um. Den Hügel hinunter wuchsen die Bäume immer dichter. Sie konnte weder das Haus noch die Einfahrt sehen. Sie war tatsächlich so hoch gestiegen, dass sie auf die andere Seite des Tals schauen
konnte. Dort drüben waren die Bäume weniger verschneit. Wie auf einer Kohlezeichnung hoben sie sich schlank und dunkel von dem weißen Untergrund ab. Dahinter verschwammen die Umrisse höherer Berge in einem dünnen Nebelschleier. Der Wind trieb dunkle Wolkenwände vor sich her, die sich über das Tal legten und die Sonne verdunkelten. Plötzlich wurde es viel kälter. Irgendwo in der Nähe schrie ein Tier. Der Schrei hallte seltsam und gespenstisch von den Bäumen wider. Alice drehte sich sofort um und rannte so schnell sie konnte zurück in Richtung des Abhangs. Sie zwang sich, nicht zurückzuschauen, denn sie war davon überzeugt, dass das Tier – ein Wolf, ein tollwütiger Hund oder sonst ein schreckliches Wesen – direkt hinter ihr her war und sie jeden Augenblick mit Klauen und Zähnen zerfleischen würde. Sie erreichte den Rand der Lichtung und schlidderte und rutschte den Pfad zwischen den Bäumen hinunter. Gerade als sie bereits die Einfahrt sehen konnte, blieb sie an einer Wurzel hängen. Sie stolperte und purzelte kopfüber bis zum Fuß des Hügels, wo sie im dicken Schnee landete. Benommen und atemlos lag sie da. Aber einen Augenblick später schien sich ihre Furcht zu bestätigen. Ein riesiger schwarzweißer Hund kam in großen Sätzen aus dem Wald gelaufen und sprang bellend um sie herum. Alice blieb zusammengekauert und zitternd vor Angst auf dem Boden liegen. Aber der Hund griff sie nicht an. Er sprang um sie herum, wedelte mit dem Schwanz, grub seine Vorderpfoten in den Schnee und streckte hechelnd seine Zunge heraus. »Guter Hund«, flüsterte Alice unsicher und versuchte tapfer zu sein. Beim Klang ihrer Stimme winselte der Hund freudig, machte einen Satz nach vorne und schnappte nach der Luft.
Dann setzte er sich vor sie in den Schnee und hob eine Pfote hoch. »Guter Hund«, sagte Alice diesmal ein bisschen lauter und hielt ihm ihre Hand entgegen, damit er daran schnuppern konnte. Der Hund leckte ihr die Hand und kroch aufgeregt winselnd näher. Alice stand auf. Der Hund erhob sich auch, stellte sich neben sie und sah zu ihr auf, als ob er einen Befehl von ihr erwartete. »Ich muss jetzt nach Hause gehen«, sagte sie und lief zum Haus hinunter. Im Eingang drehte sie sich noch einmal um. Der Hund stand immer noch am selben Fleck, eine Pfote in der Luft, und beobachtete sie mit erhobenem Kopf. »Bis bald«, rief sie und sofort drehte sich der Hund um und jagte den Hügel hinauf in den Wald. »Wo warst du, Alice? Wir haben dich überall gesucht«, sagte William, als sie die Halle betrat. Er kam gerade die Treppe herunter und sah aus, als ob er gleich böse würde. »O Will«, sagte Alice. Sie lief zu ihm und umarmte ihn. »Weg da«, sagte er. »Du bist klatschnass. Was hast du angestellt?« »Ich war draußen im Schnee«, sagte sie und lief an ihm vorbei die Treppe hinauf. »Und wohin gehst du jetzt?« »Mich umziehen«, antwortete sie schmollend. »Du hast doch gerade gesagt, ich wäre klatschnass.« »Dann beeil dich. Das Frühstück ist fertig – und wage es bloß nicht, nach Schinken zu fragen!«, sagte er drohend. Er ging die letzten Stufen hinunter zur Küchentür.
»Will«, rief Alice. Sie blieb auf der Galerie stehen und beugte sich über das Geländer. »Was?«, fragte William und sah zu ihr hoch. »Irgendetwas stimmt hier nicht«, sagte Alice. »Ich weiß«, antwortete William ruhig. »Du denkst das auch?«, fragte Alice erstaunt. »Wir beraten uns nach dem Frühstück«, sagte er und ging in die Küche.
5 Die Beratung »Ich glaube, ihr macht zu viel Wind um nichts«, sagte Mary. Sie sah in den Spiegel und bürstete sich die Haare über die Stirn, um festzustellen, wie sie mit einem Pony aussah. »Nur weil du noch nichts bemerkt hast«, sagte William. »Wirklich, du bist manchmal unmöglich, Mary. Und hör endlich auf in den Spiegel zu glotzen. So was von eitel.« »Ich kämme meine Haare. Und überhaupt bin ich so schön, dass ich mich immerzu ansehen muss!«, grinste sie und streckte Bruder und Schwester die Zunge heraus. Sie hatten sich ins Zimmer der Mädchen zu einer Beratung zurückgezogen, so wie William vor dem Frühstück vorgeschlagen hatte. Beide Lampen waren an, denn es war, obwohl Vormittag, dunkel im Zimmer. Schwere Wolken hingen draußen am Himmel und kündigten mehr Schnee an. »Jedenfalls könnte ich mit dir zu der Stelle gehen, wo die Fußspur aufhörte«, rief Alice. »Ich könnte sie dir zeigen.« »Ah ja?«, sagte Mary. »Das beweist gar nichts. Vielleicht sind sie ja von einer Lawine verdeckt worden…« »Sei nicht blöd, Mary. Wir sind nicht in der Schweiz.« »Aber wir haben Schnee, oder nicht? Und Alice hat gesagt, er sei tief. Der Schnee könnte weggerutscht sein… mehr tut eine Lawine auch nicht.« »Ist er aber nicht, Mary. Er war ganz glatt. Ich möchte es dir am liebsten zeigen…«
»Ich glaube dir, Alice«, sagte William. Er stand auf und ging zum Fenster. »Aber wenn wir nicht bald gehen, wird die Fußspur weg sein. Es schneit gleich wieder.« »Und dann war da der Hund«, erzählte Alice weiter, während sie sich die Schuhe anzog. »Igitt! Die sind ja nass.« »Was ist so besonders an einem Hund hier auf dem Land? Er könnte jedem gehören.« »Aber es war so… ich weiß nicht, wie ich es erklären soll… es war so, als ob er mich schon kannte.« »Also wirklich!«, sagte Mary und ging hinüber zum Schrank. Sie nahm ein rotes Kleid am Bügel heraus und hängte es vor das Fenster an einen Balken. »Was um Himmels willen machst du da?«, fragte William verzweifelt. »Es ist vom Koffer ganz verknautscht. Ich möchte es an Weihnachten anziehen, wenn du es unbedingt wissen willst«, sagte Mary zu ihm. »Aber warum hängst du es dahin?« »Um es zu lüften.« William und Alice warfen sich mitleidige Blicke zu und William klopfte sich mit dem Finger an die Stirn. »Glaubst du, es gibt noch Hoffnung für sie, Will?«, fragte Alice mit leiser Stimme. William schüttelte ernst den Kopf. »Sie muss tatsächlich ins Irrenhaus. Armes Ding.« »Ja, armes dramatisch auf.
Ding«,
echote
Alice
und
schluchzte
»Jetzt haltet beide die Klappe!« Mary verlor die Geduld. »Wenn ihr mich schon für verrückt haltet, was ist dann mit euch? Alice mit der verschwundenen Fußspur und du, William, mit dem verschwundenen Mann.« »Und dem Fuchs, Mary«, fuhr William sie an. Er verlor nun auch die Geduld. »Du hast also einen Fuchs gesehen. Und was ist so besonders daran?« »Er sah mich an. Und die Eule auch. Sie sahen mich an, Mary.« William senkte die Stimme zu einem leisen Flüstern. »Als ob sie mich erwartet hätten.« »Mein Hund auch«, rief Alice dazwischen. Sie bestand auf ihrem Anteil an der Geschichte. Die drei Kinder sahen sich eine Weile schweigend an. »Aber was könnte das bedeuten?«, fragte Mary. »Warum sehen euch all diese Tiere an und wer war der Mann?« »Ich weiß es nicht«, sagte William leise. »Aber ich kann euch versichern, wenn er am Bahnhof in den Zug gestiegen wäre, hätte ich die Türe zufallen hören. Und das habe ich nicht. Ich weiß, dass ich es nicht gehört habe. Und wenn er sich da in Luft auflösen konnte, warum sollte er es nicht noch einmal tun? Heute Morgen da draußen im Schnee.« »O William«, flüsterte Mary. »Müssen wir jetzt Angst haben?« »Ich glaube nicht«, antwortete ihr Bruder. »Sie schienen alle freundlich zu sein…« »Wer – alle?«, unterbrach Mary nervös. »Der Fuchs und die Eule…« »Und mein Hund war sehr freundlich«, fügte Alice eifrig hinzu.
»Und der Mann?«, fragte Mary und sah William an. »Er war ziemlich freundlich«, erwiderte William nachdenklich. »Aber er war auch ein bisschen – nun, streng. Wie ein… Lehrer… wisst ihr, was ich meine? Er starrte mich so an…« »Aber das hat doch auch schon der Fuchs getan.« »Es war das Gleiche. Genau das Gleiche.« Sie schwiegen wieder und waren tief in Gedanken, als Phoebe ins Zimmer kam. »Oh, was habt ihr mich erschreckt«, rief sie aus. »Ich dachte, ihr wärt draußen. Es war so still hier oben. Geht es euch gut?« »Ja, danke, Phoebe«, antwortete William für alle drei. »Jack fährt in die Stadt. Ihr könnt mitfahren, wenn ihr wollt. Ich habe heißen Kakao gemacht. Kommt runter in die Küche, da ist es viel wärmer.« »Phoebe«, fragte Alice, als sie aus dem Zimmer gingen, »gibt es hier einen großen schwarzweißen Hund?« »Habt ihr ihn gesehen?«, fragte Phoebe überrascht. »Jack sagt, ich hätte ihn erfunden. Ich habe ihn oft gesehen, aber ich weiß nicht, wohin er gehört.« »Vielleicht lebt er hier irgendwo«, sagte William rasch. »Nun, er wäre hier willkommen, aber er kommt niemals ins Haus. Ich habe versucht ihn anzulocken. Ich mache mir Sorgen um ihn, besonders wenn er bei diesem Wetter herumstreunt.« »Ist es dir recht, wenn ich ihn einmal mitbringe?«, fragte Alice. »Er scheint mich zu mögen.«
»Da musst du erst Jack überreden. Er will keine Tiere im Haus, bis er mit der Renovierung fertig ist. Und dann kommt natürlich das Baby… Aber ich hätte gerne einen Hund hier. Besonders wenn Jack nicht da ist.« »Hast du Angst alleine?«, fragte Alice mit großen Augen. Phoebe sah sie einen Moment nachdenklich an. »Ich glaube nicht, dass das Haus uns schon angenommen hat«, antwortete sie in ernstem Ton. »Aber das wird es sicher noch.« Dann lächelte sie. »Ich möchte, dass ihr alle dabei helft. Ich glaube, Häuser mögen junge Menschen. Und dieses stand so lange leer und vorher lebten alte Leute hier.« »Sind sie hier gestorben?«, fragte Mary ängstlich. »Ich glaube schon«, antwortete Phoebe heiter. »Da ist nichts dabei, was euch Angst machen müsste. Der Tod ist das natürliche Ende des Lebens, das ist alles. Man muss sich nicht davor fürchten. Jetzt kommt. Wenn wir hier noch lange stehen, wird der Kakao kalt!« Sie ging aus dem Zimmer. »Ich will nicht mit in die Stadt, William«, flüsterte Mary. »Ich will hier bleiben und mir die Fußspur ansehen.« »Du glaubst mir also doch«, flüsterte Alice glücklich. Mary nickte ernst mit dem Kopf. »Wieso glaubst du mir jetzt?«, flüsterte Alice. Mary zuckte stirnrunzelnd mit den Schultern. »Die Art, wie Phoebe geredet hat. Ich glaube, sie weiß etwas.« »Was meinst du damit, Mary?«, fragte William. »Ich weiß nicht. Es ist nur so ein Gefühl.«
Bevor Jack in die Stadt fuhr, tranken sie alle in der Küche Kakao und aßen Kekse. »Vor allem will ich mir den Zustand der Straße ansehen«, erklärte er. »Seid ihr sicher, dass ihr nichts braucht?«, fragte Phoebe die Kinder. »Das ist eure letzte Chance vor Weihnachten.« Aber sie hatten schon alle Weihnachtsgeschenke eingekauft. Weil ihre Eltern ja in Afrika waren, hatten sie ihre Päckchen schon sehr früh schicken müssen. Mary war beauftragt worden eine Schachtel Pralinen für Jack und Phoebe zu kaufen. Und natürlich hatte jeder auch schon die Geschenke für die Geschwister. »Welche Schuhgrößen habt ihr?«, fragte Jack, als er in den Landrover einstieg. »Ich kaufe euch besser Gummistiefel. Wenn es weiter so schneit, werdet ihr sie brauchen.« Er fuhr langsam die Einfahrt hinunter. Die Autoreifen schnitten tiefe Rillen in den Schnee. »Also kommt«, sagte William, als sie den Landrover nicht mehr sehen konnten. »Zeig uns jetzt die Fußspur, Alice. Wenn wir noch länger warten, schneit es tatsächlich noch. Wir gehen spazieren, Phoebe, ist das okay?«, rief er durch die Küchentür. »Geht nicht zu weit. Das Wetter verspricht nichts Gutes«, rief sie zurück. »Mittagessen ist um eins!«, fügte sie noch hinzu. »Mittagessen!«, empörte sich Alice leise. »Wetten, dass es Kohl und Möhren gibt?« Das waren die Gemüsesorten, die sie am wenigsten mochte. Dann rannte sie voraus, quer über die verschneite Wiese, zu der Fußspur im Schnee.
6 Das Fenster Alice führte sie den steilen Hügel hinauf. Dabei folgte sie der geheimnisvollen Fußspur und ihren eigenen kleineren Abdrücken. Sie zeigte ihnen die Stelle, wo sie ausgerutscht und hingefallen war, und den zerwühlten Schnee, wo der Hund um sie herumgesprungen war. Auf der Lichtung blieb sie da stehen, wo die Fußstapfen plötzlich aufhörten. »Glaubt ihr mir jetzt?«, sagte sie triumphierend. »Ich habe dir eigentlich immer geglaubt, Alice«, beteuerte Mary. »Ich habe nur gesagt, dass es vielleicht eine einfache Erklärung für alles gibt.« »Aber welche?«, fragte William und starrte den Schnee nachdenklich an. Dann ging er zu den Bäumen auf der anderen Seite der Lichtung. Alice setzte ihre Füße in die letzten beiden Fußabdrücke. »Wo sind Sie?«, rief sie laut. »Nicht, Alice«, sagte William eindringlich. »Warum nicht?«, fragte Alice überrascht. »Ich mag das hier nicht. Es ist etwas… Gruseliges an allem hier.« »Ich habe keine Angst.« Alice steckte ihre Hände in die Anoraktaschen. »He, bleib mal ruhig stehen, Alice«, sagte Mary plötzlich und rannte auf Alice zu. »Ist dir etwas aufgefallen? Sind die Fußspuren irgendwie anders?«
Alice blickte hinunter auf ihre Füße in dem Schneeabdruck. »Hm… wem die auch immer gehören, er hat größere Füße als ich.« »Da ist noch was. Siehst du es nicht? Den ganzen Weg hierherauf verlaufen die Abdrücke hintereinander, weil derjenige gegangen ist. Aber diese letzten beiden sind nebeneinander.« »Also blieb die Person stehen«, sagte William, der merkte, worauf Mary hinauswollte. »Genau«, sagte Mary aufgeregt. »Und noch was. Sieh mal da drüben. Was erkennst du noch, Alice?« Alice starrte in die Richtung, in die Mary zeigte. »Ich sehe alles Mögliche«, antwortete sie. »Die Bäume, den Schnee…« »Was ist mit den Abdrücken?« Sie zeigte auf die Stelle, wo der Schnee zerwühlt war. »Da sind keine. Sie sind verschwunden. Da ist nur ein einziges Durcheinander, als ob die Person von hier nach da gesprungen und dann hingefallen wäre.« William schüttelte den Kopf und lief zu der zerwühlten Stelle im Schnee. Er maß die Entfernung zu Alice mit den Augen. »Nein. Das ist zu weit. Jemand, der so weit springt, müsste zuerst Anlauf nehmen. Aber er stand still.« »Ein Mensch müsste wohl zuerst Anlauf nehmen«, sagte Mary ruhig. Die anderen beiden sahen sie an. »Aber wer immer es ist, es muss ein Mensch sein. Das sind ganz eindeutig menschliche Fußabdrücke«, protestierte William.
»Ja, das ist richtig«, stimmte Mary zu. »Aber das hier«, sie lief zu dem zerwühlten Schnee, »das hier sind Tierspuren. Und ein Tier könnte von da, wo Alice steht, bis hierher gesprungen sein, oder nicht?« »Was für ein Tier?«, fragte Alice mit ängstlicher Stimme. »Ich weiß nicht«, sagte Mary achselzuckend. »Vielleicht ein großer Hund.« »Mary«, schrie Alice, »meinst du, der Mann hat sich in den Hund verwandelt?« »Ich weiß nicht«, sagte Mary leise. »Was meinst denn du, Will?« »Am Bahnhof habe ich mir den Fuchs angesehen… und… ich kann mich nicht so genau erinnern… ich habe den Fuchs angestarrt oder eher der Fuchs mich… und… ich habe gehört, wie der Mann mich rief. Ich erinnere mich, dass ich einen Moment lang glaubte, der Fuchs hätte gesprochen, bis mir einfiel, dass das nicht möglich ist. Dann verschwand der Fuchs und ich drehte mich um und sah den Mann, der mich genauso anstarrte wie der Fuchs.« William wandte sich um und sah Mary an. »Also hat der Fuchs sich in den Mann verwandelt? Glaubst du das?«, fragte sie ihn ruhig. »Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, antwortete er nachdenklich. »Meinst du denn, diese Fußspur stammt von dem gleichen Mann?«, fragte Alice. »Oder gibt es noch mehr… Männer?« »Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht«, sagte William verzweifelt. »Ihr wisst, wovon wir da sprechen, oder?«, fragte Mary.
»Wovon, Mary?«, würgte Alice hervor. »Magie«, antwortete Mary. Alice rannte zu ihrem Bruder und nahm ihn bei der Hand. »Lass uns zurückgehen, Will. Ich mag das hier nicht.« »Dann kommt«, sagte ihr Bruder und er klang fast erleichtert über den Vorschlag. Sie wollten so schnell wie möglich wieder weg von dem Hügel. Aber sie mussten vorsichtig sein, denn der Schnee war rutschig und sie wollten nicht hinfallen. Da blieb Mary plötzlich stehen. »Hört mal«, sagte sie. »Mir ist gerade noch etwas eingefallen. Der Name des Bahnhofs – Druce Coven.« »Was ist damit?«, fragte William und in seinem Gesicht stand deutlich seine Nervosität. »Siehst du es nicht? Coven heißt Hexenkreis.« Mit einem lauten Schrei rannte Alice los. Sie hatte genug gehört. Sie hatte genug und sie wollte weg. »Alice, warte auf uns!«, rief William. Aber sie verschwand schon zwischen den Bäumen am Rande der Lichtung. Mary und er liefen ihr nach und rutschten und schlidderten den Hügel hinunter in den dunkleren Wald. Alice wartete außer Atem auf sie in der Einfahrt. Als William und Mary zwischen den Bäumen hervorkamen, fielen die ersten zarten Schneeflocken vom Himmel. »Tut mir Leid«, sagte Alice und hakte sich bei beiden ein. »Ich wollte weg von da oben. Ich habe die ganze Zeit gedacht, jemand beobachtet uns.«
»Kommt, wir gehen einfach ins Haus. Es ist sowieso bald Zeit zum Mittagessen.« Schweigend gingen sie die Einfahrt entlang auf das Haus zu. Dann blieben sie einen Moment lang stehen und betrachteten es. »Eigentlich ist das Haus für Onkel Jack und Phoebe doch viel zu riesig«, sagte Alice. »Aber sie wollen doch ein Hotel daraus machen«, sagte William. »Müssen wir dann jedes Mal bezahlen, wenn wir kommen?«, fragte Mary. »Natürlich nicht. Wir gehören doch zur Familie.« »Ich finde es nicht gut, wenn noch andere Leute da sind, die wir gar nicht kennen.« »Es dauert bestimmt noch lange bis dahin«, sagte William und sah das Haus nachdenklich an. »Onkel Jack hat noch furchtbar viel Arbeit damit und er kann es sich nicht leisten, einen Architekten zu beauftragen.« »Aber versteht er denn etwas davon?«, sagte Mary. »Ich dachte, er wäre Wissenschaftler oder so.« »Er macht Bomben«, sagte Alice fröhlich. »Nein, das tut er nicht, Alice. Er hatte mit Atomenergie zu tun.« »Ich dachte, das wären Bomben«, sagte Alice und trat gegen den Schnee. »Es ist Energie. Wie Elektrizität, weißt du?« »Warum hat er aufgehört?«, fragte Mary. »Mama hat gesagt, er hat ein Vermögen verdient.«
»Er ist ausgeschieden«, sagte William, aber es hörte sich nicht so an, als sei er ganz sicher, was er meinte. »Vielleicht hat Phoebe ihn überredet.« »Aber warum?«, wollte Mary wissen. William zuckte mit den Schultern. »Vielleicht wollte sie immer schon ein Hotel führen«, sagte er. »Ich weiß noch nicht, ob das ein gutes Hotel wird«, sagte Mary mehr zu sich selbst. »Nicht, wenn man dauernd nur Gemüse zu essen bekommt. Wer will das schon?« »Andere Vegetarier«, sagte William. »Gibt es noch mehr?«, fragte Alice entsetzt. »Jede Menge«, sagte William. »Ich denke, sogar manche unserer Freunde gehören dazu.« »Tun sie nicht«, gab sie mit einem vernichtenden Blick zurück. »Alle meine Freunde essen Würstchen. Das ist eine meiner Regeln. Und überhaupt – was essen Vegetarier an Weihnachten?« »Kohlrouladen, nehme ich an«, grinste William. »Igitt!«, rief Alice und machte Geräusche, als ob ihr schlecht wäre. Mary war die ganze Zeit über still gewesen. Jetzt griff sie nach Williams Arm. »William«, sagte sie, »siehst du auch etwas Komisches am Haus?« »Nein, bitte nicht. Nicht noch mehr schreckliche Sachen!«, bat Alice. »Was denn?«, fragte William und betrachtete das Haus. »Sieh nur mal eine Minute hin«, sagte Mary zu ihm. »Du auch, Alice. Ich glaube, ich habe Recht.«
Der Schnee fiel jetzt viel heftiger und das Haus hob sich grau dagegen ab. Der mittlere Teil des Gebäudes mit dem Eingang war aus Stein gebaut. Fast wie eine Kirche stieg er zu dem steilen und spitzen Dach auf, wo ihre Schlafzimmerfenster waren. Zu beiden Seiten dieses Hauptteils gab es zusätzliche Flügel. Einer war aus Fachwerk mit schwarz angestrichenen Holzbalken und weißem Putz dazwischen. »Das ist wohl der Teil aus dem 16. Jahrhundert«, sagte William fachmännisch. »Onkel Jack sagte, der mittlere Teil sei viel älter. Wahrscheinlich aus dem Mittelalter. Er sieht wie ein altes Kloster aus. Dann hat Onkel Jack noch gesagt, das Dach wäre beim Anbau im 16. Jahrhundert auf das Hauptgebäude gesetzt worden…« »Hör doch auf mit deiner Geschichtsstunde, Will«, stöhnte Alice. »Ich finde das interessant. Ihr habt wohl nicht zugehört, als er uns das gestern Abend erzählt hat.« »Ich musste gerade das Essen wiederkäuen«, kicherte Alice. »Aber die Bananentorte war wirklich lecker«, sagte Mary. »O jaaa!«, machte Alice und strich sich mit der Hand über den Bauch. »Und dann wurde später der andere Flügel angebaut«, erzählte William weiter, »aber ich weiß nicht mehr genau, wann das war. Ist auch egal. Was soll mir denn auffallen?« »Soll ich es euch sagen?«, fragte Mary selbstgefällig. »Nun mach schon«, sagte William. »Da seht ihr unsere Fenster.« Mary zeigte zum verschneiten Dach, wo eine Reihe von Gaubenfenstern über
die steilen Ziegel ragten. »Ich weiß, dass das da unseres ist, weil ich mein rotes Kleid sehen kann.« »Und?«, fragte Geheimnistuerei.
William,
ärgerlich
über
die
»Ja«, fuhr Mary fort, »habt ihr nicht auch gedacht, wir wären ganz oben unter dem Dach?« »Das sind wir auch. Direkt darunter.« »Ich sehe aber noch ein Fenster etwas höher als unseres«, sagte Mary triumphierend. »Wo?«, wollte Alice wissen. »Ihr seht die Schornsteine.« Mary zeigte wieder auf das Dach. Die anderen beiden spähten durch die dicken Schneeflocken, die unaufhörlich vom Himmel fielen. Über den Gaubenfenstern erhob sich eine Ansammlung roter Ziegelschornsteine aus der Mitte des Daches. Sie sahen wie ein Bündel länglicher Lutscher aus. Jeder war spiralförmig verziert und endete oben wie eine spitze Krone. »Ja«, sagte William und sah genau hin. »Seht ihr es denn nicht? Am Fuß der Schornsteine. Wo der rote Ziegelstein auf das Dach trifft…« »Ja, jetzt sehe ich es, Mary. Du hast Recht. Da ist ein kleines Fenster im Fuß des Kamins. Es sieht wenigstens wie ein Fenster aus.« »Es ist ganz bestimmt eins«, sagte Mary. »Aber wie kann da ein Raum sein? Und wie kommt man hin?« »Es muss von unserem Flur aus einen Weg nach oben geben. Das untersuchen wir später«, sagte William.
»Es gibt bestimmt viele Geheimzimmer«, sagte Alice und wischte den weichen Schnee von ihrem Ärmel. »Ich glaube, man kann schon verloren gehen, wenn man bloß im Haus ist.« »Richtig. Lasst uns also einen Eid schwören«, sagte William mit seiner strengen Stimme. »Auf Ehre und Gewissen?«, fragte Alice im selben Ton. »Auf Ehre und Gewissen«, wiederholte William. Die drei legten ihre rechten Hände aufeinander, Mary ihre auf Williams und Alice ihre auf Marys. »Wir schwören feierlich«, sagte William vor und die Mädchen wiederholten es, »dass keiner von uns das Haus oder das Land drum herum auf eigene Faust untersucht…« »Was? Nie?«, rief Alice aus. »Niemals«, beharrte William. »Ach Will!« »Schwöre es, Alice!« »Aber es ist so langweilig, immer alles zusammen zu machen. Wir hätten die Fußspur niemals gesehen, wenn ich nicht allein rausgegangen wäre…« »Schwöre es, Alice!«, wiederholte er. »Glaubst du wirklich, es ist gefährlich?«, fragte Mary ihn. »Ich weiß es nicht. Aber wie schon gesagt, irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht. Es muss nichts Schlimmes sein, aber bis wir das wissen, sollten wir vorsichtig sein.« »In Ordnung«, sagte Alice mit vor Angst geweiteten Augen. »Ich will es jetzt schwören.« »Wir schwören es feierlich«, sagten sie gleichzeitig.
Als die Kinder in Richtung Küchentür liefen, regte sich der Fuchs, der sie im Schutz eines Ilexstrauches beobachtet hatte, und verschwand den schneebedeckten Hügel hinauf in den Tiefen des Waldes. »Was war das?«, fragte Mary und sah über ihre Schulter. »Was war was?«, fragte Alice. Sie hörte sich an, als hätte sie für diesen Tag genug Aufregendes erlebt. »Nichts. Schon gut«, sagte Mary. »Ich dachte, da wäre etwas, das ist alles.« »Dann lasst uns gehen«, bat Alice. »Ich erfriere.« Und sie rannte voraus. »Was war es?«, fragte William leise. »Ein Fuchs, glaube ich«, sagte Mary und versuchte gleichgültig zu klingen. William nickte mit dem Kopf. »Ich wusste, dass er es war«, sagte er. »Ich wusste es einfach.« »Lass uns reingehen, Will«, flüsterte Mary. »Alice hat Recht. Es ist kalt.« Aber William wusste, dass sie sich nicht nur wegen der Kälte so beeilte. »Was will er nur?«, sagte er wie zu sich selbst. »Uns, glaube ich«, antwortete seine Schwester und lief zur Küchentür.
7 Die Räume unter dem Dach Jack war zum Essen noch nicht zurück. Phoebe wartete, solange sie konnte, dann sagte sie den Kindern, dass sie schon essen sollten. Sie würde Jack etwas aufwärmen, wenn er zurück wäre. »Die Straße über das Moor ist bestimmt in einem schlechten Zustand bei all diesem Schnee«, sagte sie. »Er hat sich darüber Sorgen gemacht, seitdem wir hier eingezogen sind. Wegen des Babys, vermute ich. Also ehrlich! Die Menschen haben schon Kinder bekommen, lange bevor es Krankenhäuser gab und Autos, die sie dahin gefahren hätten. Armer Jack! Er muss bestimmt noch selbst Hebamme spielen, wenn es so weit ist.« »Aber es dauert doch noch so lange«, sagte Mary. »Der Schnee ist bis dahin bestimmt weg.« »Ende Januar?«, lächelte Phoebe. »Es könnte dann sogar schlimmer sein als jetzt.« »Armer Onkel Jack«, murmelte Alice. »Wieso, Alice?«, fragte Phoebe und sah sie an. »Er ist schließlich kein Arzt, oder?« Alice versuchte nicht allzu feindselig zu klingen. »Ist doch kein Wunder, dass er sich Sorgen macht.« »Mir wird es schon gut gehen«, sagte Phoebe zu ihr. »Vielleicht denkt er nicht nur an dich«, gab Alice zurück. »Es ist auch sein Baby, nicht?«
Auf diesen unerwarteten Ausbruch folgte eine peinliche Stille. Alice zerschnitt energisch ihr Essen und schob es dann an den Tellerrand. »Schmeckt es dir nicht?«, fragte Phoebe nach einer Weile. »Ich habe keinen Hunger«, antwortete Alice. »Mir schmeckt es sehr gut«, sagte Mary. »Was ist das, Phoebe?« »Oh, es sind nur Linsen und Gemüse, nichts Besonderes.« »Wirklich«, fuhr Mary fort und erwärmte sich gefährlich für das Thema, »man merkt gar nicht, dass kein Fleisch drin ist.« »Ich schon«, sagte Phoebe lächelnd. »Ich auch«, stimmte Alice zu. »Ist denn Fleisch für dich so wichtig, Alice?«, fragte Phoebe und sah sie immer noch lächelnd an. Alice zuckte mit den Schultern und sah schmollend auf ihren Teller. Eine schreckliche, verlegene Stille breitete sich aus. William sah Mary an, damit sie irgendetwas sagte, aber sie betrachtete ihre Fingernägel und tat so, als hätte sie seinen Blick nicht bemerkt. »Ich esse kein Fleisch, weil ich unmöglich das Tier töten könnte, das ich essen will. Weil das so ist, finde ich es auch nicht richtig, jemand anderen zu bitten, das Tier für mich zu töten. Ich glaube auch, dass fleischlose Kost eine genauso gute, wenn nicht sogar bessere Ernährung bietet. Hört sich das nicht vernünftig an?«
Sie richtete ihre Frage an Alice, die aber nichts sagte und weiter auf ihren Teller starrte. Nach einer endlos scheinenden Stille stand Phoebe auf und holte den Eintopf vom Herd. »Möchte jemand von euch noch etwas essen?«, fragte sie und sah William und Mary dabei an. »Nein danke«, sagte William betont munter. »Ich bin satt.« »Mary?« Phoebe hielt ihr den Topf hin. Mary schüttelte den Kopf und betrachtete dabei immer noch ihre Nägel. Phoebe seufzte. »Nachtisch habe ich nicht gemacht«, sagte sie. »Wir essen abends unsere Hauptmahlzeit. Aber hier sind ein paar Äpfel…« »Dürfen wir jetzt aufstehen?«, fragte William. »Natürlich.« »Wir spülen das Geschirr«, bot Mary halbherzig an. »Nein, das tut ihr nicht«, sagte Phoebe nachdrücklich. »Ihr habt Ferien.« Sie sah aus dem niedrigen Fenster in den eisigen Hof. Es schneite immer noch. »Obwohl ich nicht sicher bin, was ihr mit eurer Zeit anfangen wollt. Ich hatte gehofft, ihr könntet lange Spaziergänge machen und andere erholsame Dinge. Aber wahrscheinlich findet ihr das langweilig. Obwohl das Land hier herum wirklich aufregend ist. Aber bei diesem Wetter macht es keinen Spaß. Vielleicht ist es auch nicht ungefährlich.« Sie stand auf, lehnte sich an die Spüle und sah auf die Winterlandschaft. »Ich hoffe, mit Jack ist alles in Ordnung«, sagte sie mehr zu sich selbst. Hinter ihrem Rücken sah Alice hoch, zog eine Grimasse und streckte ihr die Zunge heraus. Mary sah es und schlug sich mit der Hand auf den Mund, um nicht loszukichern.
»Können wir oben spielen gehen?«, fragte William unschuldig. »Spielen?«, explodierte Mary empört. »Ich spiele nicht, William!« »Doch, das tust du«, sagte ihr Bruder und warf ihr einen wütenden Blick zu. »Ich habe Trivial Pursuit mitgebracht.« »Das ist zu schwer, William«, beklagte sie sich. »Und du kennst die Antworten auswendig.« »Kommt mit«, sagte er mit einem bedeutungsvollen Blick. »Ist das in Ordnung, Phoebe?« »Werdet ihr auch nicht frieren?«, fragte sie und drehte sich um. »Wir sind noch nicht richtig auf kaltes Wetter eingestellt. Jack wird an Weihnachten ein Holzfeuer in der Halle machen. Aber eigentlich ist es nur in der Küche richtig warm. Möchtet ihr nicht lieber hier spielen?« »Nein, ist schon gut, danke«, sagte er und stand auf. Mary tat es ihm nach und Alice glitt vom Stuhl, um hinterherzurennen. »Alice«, rief Phoebe. »Lass uns bitte Freunde sein.« Aber Alice schob sich an William vorbei durch die Tür und lief in die Halle. Phoebe sah enttäuscht aus. Sie begann den Tisch abzuräumen. »Macht euch da oben den elektrischen Heizofen an«, sagte sie zu William. Er folgte seinen Schwestern in die Halle und schloss die Tür hinter sich. »Ich hasse sie. Ich hasse sie. Ich hasse sie«, schluchzte Alice. Sie lag auf dem Bett, das Gesicht ins Kopfkissen gedrückt, und strampelte wütend mit den Beinen.
William und Mary saßen beobachteten sie niedergedrückt.
auf
Marys
Bett
und
»Ich hasse sie und ich hasse das Haus und ich wünschte, Mama und Papa wären nicht in Afrika und… oh…« Sie konnte vor lauter Schluchzen nicht weiterreden. William und Mary blieben immer noch still. William hatte seine Hände in die Hosentaschen gesteckt und Mary saß auf ihren. »Onkel Jack muss verrückt sein«, fing Alice wieder an. »Einfach verrückt. Von allen schrecklichen Frauen ausgerechnet die… Kein Wunder, dass er sie nicht geheiratet hat. Ich mache ihm keine Vorwürfe. Wenn es nicht um das Baby ginge… Wetten, dass es ein schreckliches Kind wird bei dieser Mutter? O Will…« Als Alice seinen Namen sagte, setzte sie sich mit großen Augen kerzengerade hin, völlig erschüttert von einem Gedanken, der ihr gerade kam. »Will«, flüsterte sie erschrocken, »glaubst du, sie ist eine Hexe? Ich wette, sie ist eine. Ich wette, das ist es. Phoebe ist eine Hexe. Sie hat Onkel Jack wahrscheinlich verzaubert und ihn zu dem Baby gezwungen, damit er mit ihr in diesem schrecklichen Haus zusammenlebt und für den Rest seines Lebens nichts außer Kohl und Möhren isst.« Alice zog die Nase hoch und wischte mit der Hand über ihr tränenverschmiertes Gesicht. Die anderen beiden sahen sie einfach nur weiter an. Sie wussten aus langer Erfahrung, dass sie am besten abwarteten, bis Alice’ Wutanfälle vorbei waren. Wenn sie etwas sagten, wurde alles nur noch schlimmer. Warten war das Einzige, was half. »Ja, das glaube ich«, fauchte sie, durch das Schweigen ihrer Geschwister aus der Fassung gebracht. Sie putzte sich die Nase. »Wartet nur, bis ich hier verhungert bin. Das wird euch dann Leid tun. Ich werde mich einfach aus Nahrungsmangel in nichts auflösen.«
»Alice, du magst Fleisch doch nicht mal so gerne«, sagte William versuchsweise. »Ich liebe Fleisch«, fuhr sie ihn mit neuer Energie an. »Jeder weiß, wie gerne ich Würstchen mag. Sie sind mein allerliebstes Lieblingsessen. Als wir damals Würstchen und Kartoffeln am Feuer gegrillt haben, war das das Beste, was ich je gegessen habe. Oh, ich wünschte, Mama und Papa wären hier«, sagte sie und fügte mit einer verzweifelt traurigen Stimme hinzu: »Weihnachten wird schrecklich.« Sie fing wieder an zu weinen, aber dieses Mal ruhiger. Dieses Mal waren es echte Tränen. William ging zu ihr, setzte sich aufs Bett und legte einen Arm um sie. »Wein doch nicht«, sagte er leise, »wein doch nicht, Alice. Du hast Mama und Papa versprochen, dass du tapfer bist. Sie mussten gehen, weil sie gebraucht werden. Tausende von Leuten sterben in Afrika an Hunger und weil es nicht genug Ärzte oder Medizin gibt. Mama und Papa mussten dahin, weil sie vielleicht ein bisschen helfen können. Oh Alice, bitte nicht weinen!« Als er sprach, fühlte er einen Kloß in seinem Hals und schluckte heftig, damit ihm nicht selbst die Tränen in die Augen schossen. »Jetzt kommt«, sagte Mary und stand auf. »Versuchen wir diesen Raum zu finden.« »Welchen Raum?«, fragte Alice. Sie putzte sich wieder die Nase. »Den hier über uns«, antwortete Mary nachdenklich und blickte zur Decke hoch. »Ich habe das Fenster gar nicht richtig gesehen«, sagte Alice. Sie hörte sich immer noch elend an. »Bist du sicher, dass da eins ist?«
»Ein kleines rundes Fenster direkt unterhalb der Schornsteine«, versicherte Mary, »wo die Backsteine auf das Dach treffen. Es sieht fast aus wie das Muster in den Steinen. Es ist da. Oder nicht, Will?« »Vielleicht war da mal ein Raum direkt unter dem Dach und jetzt gibt es ihn nicht mehr«, schlug William vor. »Aber woher weißt du, dass er nicht immer noch da ist?«, fragte Alice und sah ebenfalls zur Decke hoch. »Das ist leicht. Du kannst doch sehen, dass in diesem Zimmer die Wände schräg nach oben zulaufen. Es gibt keinen Platz für noch ein Zimmer darüber.« »An welcher Stelle sitzen die Schornsteine?«, fragte Mary und ging zur Tür hinaus auf den Flur. Die anderen beiden kamen hinter ihr her. Es war dunkel auf dem Flur. William drückte auf den Lichtschalter. Nichts geschah. »Die Birne ist hinüber«, sagte er. »Lass die Tür auf, Alice.« Er öffnete auch seine Tür und die des Badezimmers, das ein Fenster nach hinten hinaus hatte. Durch das Licht der drei Räume lag der Flur jetzt im Halbschatten. »Komisch«, sagte William. »Es gibt zwei Zimmer nach vorne raus, aber nur eins, nämlich das Bad, nach hinten. Ach natürlich! Mein Zimmer ist nicht so groß wie eures. Und…«, er ging ins Badezimmer, »den Rest des Raums nimmt diese Backsteinwand hier ein. Ich hab’s!« Er zeigte auf die Wand. »Die Schornsteine.« »Wo?«, fragte Alice und besah sich die Wand. »Hinter dieser Wand. Und…«, er rannte in sein Zimmer, »hier ist die andere Wand.«
Dann öffnete er sein Fenster und lehnte sich hinaus. Eine kalte Windbö fuhr herein und Schnee fiel wie Puder auf die Fensterbank. »Sei vorsichtig, Will. Das Dach ist so steil«, sagte Mary und zog sich fröstelnd ihre Jacke zu. »Wonach suchst du?«, fragte Alice. Sie versuchte sich durch die schmale Öffnung an ihm vorbeizuquetschen. »Warte mal, Alice«, sagte er. »Ja, das habe ich mir gedacht. Das Dach geht noch viel weiter.« William ging vom Fenster weg und lief zur Wand, die der Tür gegenüberlag. Er klopfte dagegen. »Hört sich nicht hohl an«, sagte er nachdenklich. »Warum sollte die Wand hohl klingen? Nun erklärt mir das doch mal bitte endlich«, bat Alice. »Ich könnte es dir von draußen zeigen«, sagte William. »Ich geh da nicht raus, es friert. Und mach das Fenster zu, William«, sagte Mary fröstelnd. Sie lief zurück in ihr Zimmer mit dem elektrischen Ofen. William und Alice folgten ihr. »Jetzt erzähl schon, Will, bitte!«, sagte Alice wieder. »Also«, fing William an, »erinnert ihr euch, dass der Mittelteil des Hauses wie ein Turm aussieht? Wie der Turm eines Klosters, nur nicht so hoch?« Die Mädchen nickten. »Zu diesem Mittelteil gehört unten die Halle mitsamt der Galerie. Das ist wahrscheinlich der einzige mittelalterliche Teil, den es noch gibt. Die Schlafzimmer unter uns befinden sich in dem Flügel aus dem 16. Jahrhundert.« »Da, wo Onkel Jack schläft«, sagte Mary, die mitdachte. »Richtig«, stimmte William zu.
»Mit ihr«, sagte Alice und tat so, als ob ihr schlecht würde. »Fang nicht schon wieder an, Alice, bitte«, sagte William und versuchte seinen Gedanken nicht zu verlieren. »Die Zimmer auf der anderen Seite der Galerie befinden sich im gegenüberliegenden Flügel. Onkel Jack sagte, sie wären noch später dazugekommen. Aber um die müssen wir uns nicht kümmern. Als hier dieser Flügel angebaut wurde, wollten sie ihn höher haben als den Turm. Also wurden diese Dachzimmer dazugebaut und das Dach reichte über diesen Flügel und über den Turm hinaus. Unsere Zimmer sind also im Flügel aus dem 16. Jahrhundert, richtig? Außer einem kleinen Teil des Badezimmers und meines Zimmers, okay? Aber wenn man aus meinem Fenster schaut, sieht man, dass das Dach noch ein ganzes Stück über den mittleren Turm hinausgeht. Also muss da noch mehr Platz sein. Versteht ihr? Platz, für den es keine Erklärung gibt. Mit anderen Worten«, beendete William seine Rede triumphierend, »weitere Räume.« Die Mädchen blinzelten ihn völlig verwirrt an. »Ich weiß nicht… Vielleicht sind auch mehr Räume auf der anderen Seite dieser Wand hier«, sagte Mary und klopfte gegen die Wand. »Natürlich sind sie da. Du kannst doch die Fenster auf dem Dach sehen«, stimmte William zu. »Und?«, fragte Mary. »Es muss eine Treppe weiter hinten in unserem Flügel geben, die hinaufführt. Aber – wo ist die Treppe zu dem Raum neben meinem Zimmer? Es kann da keine geben. Unsere Wendeltreppe ist die einzige, die hier heraufführt.« »Ich weiß es. Ich weiß es«, rief Alice. »Vielleicht gab es früher eine Tür hier oben und jemand hat sie zugemauert.«
»Ja«, sagte William, »aber das ist doch seltsam, oder? Räume zumauern, damit niemand hineingeht. Warum? Was ist da drin? Warum wurden sie zugemauert? Vielleicht wollten sie etwas verstecken? Aber wenn ja – was?« Sie sahen sich schweigend an. »O Will«, sagte Mary schließlich. »Ich bin froh, dass es deine Seite des Flurs ist.« Alice drückte sich an ihre Schwester und nahm ihre Hand. »Hier ist es richtig gruselig«, sagte sie leise. »Ich glaube, ich habe ein bisschen Angst.« »Ist schon in Ordnung, Alice«, sagte William, aber er klang nicht besonders sicher. »Es muss eine einfache Erklärung geben.« Er stand auf und lief zum Fenster. »Onkel Jack ist zurück«, sagte er erleichtert, als er sah, wie der Landrover in der Einfahrt rutschend zum Stehen kam.
8 Onkel Jacks Entdeckungen Die Straße über das Moor war auf der Hinfahrt gar nicht so schlecht gewesen. Es gab einige Schneeverwehungen aus der vergangenen Nacht, aber der Landrover bewältigte die eisige Oberfläche und Jack kam gut in der Stadt an. »Aber ich hatte nicht daran gedacht«, erzählte er ihnen später, »wie anders das Wetter in den Bergen ist. Hier unten schien ja die Sonne. Ich hätte nie geglaubt, dass es da oben in den Bergen schneien könnte.« Also hatte er sich mit der Rückfahrt nicht beeilt. Er hatte alles eingekauft – unter anderem drei Paar Gummistiefel für die Kinder – und war dann zum Stadtgeschichtlichen Museum gegangen. Die Leiterin Miss Prewett hatte ihm versprochen ein Buch über Golden House und das Tal zu besorgen, das einige interessante Informationen über die Geschichte des Hauses enthielt. Miss Prewett war sehr erfreut über sein Kommen gewesen. »Es ist alles so aufregend«, rief sie aus, als er mit einer Tasse Kaffee vor ihrem Schreibtisch saß. »Ich habe das Buch tatsächlich bekommen. Es gehört Major Blenkins, aber er ist so alt, er hatte sogar vergessen, dass er es besitzt. Seine Haushälterin gab es mir. Natürlich müssen wir es ihm zurückgeben, aber er leiht es Ihnen gerne, solange Sie es brauchen.« Sie klatschte mit beiden Händen auf ihren Schreibtisch und hob die Augen zur Decke. »Mein lieber Mr.…«, sie suchte in ihrem Kopf nach Jacks Nachnamen, an den sie sich nicht erinnern konnte, wenn sie ihn überhaupt jemals gewusst hatte, »natürlich habe ich nur kurz hineingeschaut« – sie zeigte auf ein dickes, zerfleddertes Buch vor ihr auf dem Schreibtisch – »und ich warne Sie, es ist keine
leichte Lektüre. Das Buch wurde um 1900 von einem Jonas Lewis geschrieben, der offensichtlich viel Fantasie, aber nicht unbedingt ein Talent zum Schreiben besaß… Trotzdem ist es faszinierend.« Sie zog das Buch zu sich und blätterte die Seiten durch. »Natürlich privat veröffentlicht. Ich glaube, der Major kaufte es vor Jahren auf einer Auktion.« Sie schüttelte den Kopf und seufzte beim Durchblättern. »So viel, was ich nicht wusste. Nun, um die Wahrheit zu sagen, ich wusste eigentlich überhaupt nichts. Sehen Sie den Titel?« Sie hielt das Buch hoch, so dass Jack gerade eben den verblassten Einband sah, und legte es wieder auf den Schreibtisch, bevor er den Titel überhaupt erkennen konnte. »Hier ist das Buch also. Was für ein Glück, nicht wahr?« Jack versuchte mehrere Male während des Gesprächs zu Wort zu kommen, aber es war zwecklos. »Verstehen Sie etwas von dem Thema?«, fragte sie ihn plötzlich und blinzelte ihn durch das kleine Metallgestell ihrer Brille an. Jack war so überrascht über die Frage, dass er einen Augenblick für die Antwort brauchte. Er stellte fest, dass er keine Ahnung hatte, wovon sie sprach. »Es tut mir furchtbar Leid, Miss Prewett. Welches Thema?«, sagte er ein wenig atemlos. »Dieses, Sie Dummkopf!«, rief sie. Sie klopfte auf das Buch vor sich und lächelte ihn dabei an. »Alchimie natürlich, Mann. Haben Sie mir nicht zugehört?« »Alchimie?«, antwortete Jack, jetzt völlig ratlos. »Das Buch ist über Alchimie?« »Nein, nein, nein, nein«, rief Miss Prewett. »Nun«, sagte sie dann, »ja, irgendwie schon. Aber denken Sie nach. Was wissen Sie über Alchimie?«
»Nicht sehr viel, fürchte ich«, antwortete Jack und versuchte verzweifelt sich an irgendetwas zu erinnern. »War das nicht… der Vorläufer der Chemie…?« »Weiter«, ermunterte ihn Miss Prewett und nickte heftig mit dem Kopf. »Die Alchimisten glaubten, dass sie einen Weg gefunden hätten, Metalle in Gold zu verwandeln. Das ist alles, was ich weiß.« »Richtig. Das ist wohl das, was wir alle darüber wissen. Eine Menge Unsinn, wie ich meine, und offen gesagt eine recht zweifelhafte Beschäftigung. Nicht alles ist Gold, was glänzt, nicht wahr? Falls das tatsächlich alles ist, worum es damals ging.« Sie machte eine nachdenkliche Pause. Dann schüttelte sie den Kopf, als ob sie sich anders besonnen hätte. »Aber überlegen Sie mal, Mr.…« Sie unterbrach sich wieder und schaute ihn an. »Es tut mir so Leid… wie heißen Sie?« »Green«, antwortete Jack. »Jack Green.« »Tatsächlich? Das wusste ich nicht. Ich bin auch nicht sicher, ob ich Ihren Namen behalten werde. Überlegen Sie mal, Mr.…« Sie wedelte mit der Hand herum; sie hatte den Namen schon vergessen. »Wie heißt Ihr Haus doch wieder?« »Golden House in Golden Valley.« Als Jack die Worte sprach, fügte sich das, was sie ihm hatte sagen wollen, zu einem Bild. »Dieses Buch heißt >Die alchimistischen Schriften von Jonas LewisStephen Tyler aus LondonSchuhuuuhConstant< zu heißen ist eine große Ehre. Ich kann nur hoffen, dass ihr dieser Ehre immer noch würdig seid. Konstant zu sein heißt treu und zuverlässig zu sein. Konstant zu sein heißt die Schwüre auch einzuhalten, die ihr ständig so feierlich leistet.« Nach dieser Erklärung wandte er seinen Blick langsam William zu und sah ihn mit seinen blitzenden, forschenden Augen an. William konnte ihn nicht ansehen. Er ließ beschämt den Kopf hängen. Er erinnerte sich daran, dass er den feierlichen Eid gegenüber seinen Schwestern gebrochen hatte. »Es tut mir Leid«, murmelte er. »Ich habe wirklich versucht sie zu wecken, aber sie haben geschlafen und Mary hat gesagt, ich soll weggehen. Das hat sie wirklich gesagt.« »Macht nichts, Will«, hörte er Mary flüstern und er war froh, als sie seine Hand aufmunternd drückte. »Höre auf meinen Rat, William Constant«, sagte der Mann. »Schwöre nur einen Eid, wenn du ihn wirklich halten willst und auch dazu in der Lage bist. Hast du gehört?« William nickte und war erleichtert, als Stephen Tyler sich abwandte. Er schüttelte seinen Kopf und schien plötzlich sehr müde zu sein. »Stellt mir jetzt eure Fragen«, sagte er ruhig und kehrte ihnen den Rücken zu. »Aber – denkt, bevor ihr sprecht.« »Sind Sie…«, begann William und dann musste er sich erst einmal räuspern, weil er immer noch nervös war.
»Bitte«, fing er wieder an, »sind Sie mit dem Stephen Tyler verwandt, der dieses Haus im 16. Jahrhundert gebaut hat? Ich meine, war er ein Vorfahr von Ihnen?« Der Mann drehte sich wieder herum und sah ihn an. Dann schüttelte er den Kopf. »Es ist so ein ungewöhnlicher Name, deshalb komme ich darauf«, stammelte William. »Sind Sie wirklich ein Magier?«, fragte Alice. Der Mann nickte. »Können Sie sich in einen Hund verwandeln?«, fuhr sie fort. »Eine gute Frage«, antwortete Stephen Tyler. »Die Antwort darauf ist: nein, nicht wirklich.« »Das ist aber keine gute Antwort«, sagte Alice zu ihm. Dann versteckte sie sich wieder hinter William, als der Mann die Stirn runzelte und tief aus seiner Kehle ein knurrendes Geräusch wie von einem Hund kam. »Alice«, zischte William warnend, damit sie den Mann nicht länger reizte. »Tut mir Leid«, sagte seine Schwester schnell. »Aber der Hund – mein Hund – der Hund draußen… Sie kennen ihn, oder? Ich glaube schon, denn Sie haben die gleichen Augen wie er.« »Ja, ich kenne den Hund, den du meinst«, antwortete Stephen Tyler. »Aber ich verwandle mich nicht in ihn. So geht es nicht. Der Hund bleibt er selbst, aber ich sehe manchmal durch seine Augen. Ich trete in ihn ein. Man könnte sagen, ich lebe durch ihn. Ist das eine bessere Antwort?« Alice zog die Brauen zusammen und rieb sich die Nase, ein sicheres Zeichen dafür, wie verwirrt sie war.
»Verstehst du mich, kleines Mädchen?«, beharrte Stephen Tyler. »Ich glaube schon, wenn Sie mir Zeit geben«, antwortete sie, dann stieß sie William an, damit er etwas – irgendetwas – sagte und der Mann aufhören würde, ihr noch mehr Fragen zu stellen. »Treten Sie auch manchmal in den Fuchs ein?«, fragte William. »Manchmal auch in den Fuchs, ja«, antwortete Tyler. »Und in die Eule?«, fragte Mary. »Die Eule und ich stehen uns sehr nahe«, sagte er zu ihr. »Aber… wie?«, fragte Alice verblüfft. »Ach«, seufzte Stephen Tyler. »Dafür ist jahrelange Übung nötig. Ich werde es euch einmal zeigen.« »Könnten wir das dann auch tun?«, fragte Mary ihn. »Mit meiner Hilfe«, antwortete der Magier. »Mit meiner Hilfe ist nicht abzusehen, was ihr alles leisten könnt.« »Und würden Sie uns helfen?«, fragte Alice. Sie hatte vor lauter Verwunderung die Augen weit aufgerissen und spähte an Williams Schulter vorbei. »Wenn es nötig ist, dann ja, natürlich.« »Nötig für was?«, fragte William kühn. »Das sind gute Fragen«, sagte Stephen Tyler strahlend. »Ihr seid auf dem richtigen Weg. Nötig für meine Arbeit.« »Was ist das für eine Arbeit?«, fragte William. »Alchimie«, antwortete Stephen Tyler.
»Sie meinen, Sie können aus Zinn Gold machen?«, rief William aufgeregt aus. »Nein«, sagte Stephen Tyler. Er schwang mit blitzenden Augen und erhobenem Stab herum, als wollte er William damit schlagen. William duckte sich ängstlich, bestürzt über diese Reaktion. »Aber ich dachte, dass Alchi-Dingsda dafür gut ist«, beteuerte er. »Ja, das denken die Leute. Hier war ein Mann Lewis? War das sein Name?« »Jonas Lewis?«, half William ihm. »Das ist der Name. Sehr gut. Woher kennst du ihn?« »Onkel Jack hat ein Buch mitgebracht, das er geschrieben hat. Deshalb haben wir die Stufen im Kamin entdeckt. Im Buch waren Zeichnungen. Eine davon zeigte eine Sonne und einen Mond auf beiden Seiten des Stocks, den Sie da haben… Manchmal kann man das Bild auf der Kaminwand sehen.« »Die geheimen Zeichen. Weil die Kunst so… sorgfältig gehütet wird, können wir nicht jeden hereinlassen.« Stephen Tyler lächelte. »Sehr gut, dass du sie gesehen hast. Bravo. Ich bin erfreut. Worüber haben wir gesprochen?« »Jonas Lewis«, half ihm William wieder weiter, erfreut über das Lob. »Ah ja«, fuhr Tyler ruhiger fort. »Jonas war ein gelehriger Schüler. Natürlich habe ich ihn auch gut unterrichtet. Aber er lernte auch schnell. Er war auf dem richtigen Weg. Dann geriet er in Schwierigkeiten.« Der alte Mann schüttelte seinen Kopf bei der Erinnerung. »Er geriet in Schwierigkeiten und trotzdem holte er sich bei mir keinen Rat.« Er schüttelte wieder den Kopf, und als er weitersprach, klang seine Stimme schroffer und geschäftsmäßiger. »Ein Mann, der Crawden hieß, wollte eine Spielschuld
zurückgezahlt bekommen. Armer Lewis, er spielte – Karten, wenn ich mich recht erinnere –, um seine alchimistischen Forschungen zu bezahlen. Ich habe ihn gewarnt… aber er wollte nicht auf mich hören…« Tyler schwieg einen Augenblick. Als er weitersprach, bekam seine Stimme einen eigenartig ernsten Ton. »Er benutzte die Kunst, um für sich selbst Gold herzustellen. Er bezahlte seine Schulden. Er dachte, er wäre frei…« »Was ist mit ihm passiert?«, fragte Mary. »Was am Ende immer passiert, wenn wir aus Selbstsucht handeln. Das Gold verwandelte sich zurück. Es wurde wertlos. Crawden bekam das Haus. Ich habe Lewis nie wieder gesehen.« »Waren Sie böse auf ihn?«, fragte Mary. »Böse? Warum?« »In dem Buch«, erzählte William ihm, »sagt er: >Der Magus weiß.< Er war anscheinend sehr verängstigt…« »Und Onkel Jack sagt«, unterbrach Mary ihn, »dass ein Magus so was wie ein Zauberer oder ein Magier ist…« »Ich war böse, ja«, seufzte der alte Mann. »Sind Sie wirklich ein Magier?«, fragte Alice mit großen Augen. Wieder betrachtete Stephen Tyler sie nachdenklich. »Ich kann Zinn in Gold verwandeln, wenn du das meinst«, sagte er schließlich. »Aber wozu? Wenn ich alles Zinn der Welt in Gold verwandeln würde, dann wäre Zinn wertvoller, als es Gold jetzt ist. Das Gleichgewicht würde sich verändern, das ist alles.« »Bitte«, sagte Mary, »was tun Sie denn genau?«
»Es ist richtig, dass die Kunst der Alchimie unedle Metalle in Gold verwandeln kann, aber das ist nur ein Schritt zu der bedeutenderen Arbeit.« Stephen Tyler schüttelte den Kopf und winkte verächtlich ab. »Die Worte, die ich für euch benutzen muss, sind viel zu einfach, um die wahre Kunst zu verdeutlichen. Trotzdem solltet ihr einiges darüber wissen, wenn ihr mir helfen wollt.« »Sie wollen, dass wir Ihnen helfen?«, fragte William, überrascht von dem Gedanken. »Natürlich«, antwortete Stephen Tyler. »Deshalb habe ich euch hergeholt.« »Sie haben uns hergeholt?«, sagte William entrüstet. »Das ist gut! Ich habe alles selbst herausgefunden. Ich habe die Stufen im Kamin entdeckt.« »Aber ich habe den Kamin gebaut, William«, sagte der Magier. »Denk daran.« »Dann sind Sie…«, fing William an, aber er unterbrach sich, denn was er dachte, war nicht möglich. »Sie wollen uns wohl veräppeln«, sagte er ungehalten. »Wie können wir Ihnen denn helfen?«, unterbrach Mary ihn schnell. Sie wusste, wie stur William sein konnte, und glaubte, dass dies nicht der rechte Moment für einen Streit war. Ganz besonders nicht mit einem Magier. »Ich lasse es euch wissen, wenn die Zeit gekommen ist.« »Aber wobei sollen wir Ihnen helfen?«, wollte Alice wissen. Für sie sah es so aus, als bekämen sie nie eine richtige Antwort. »Bei einer bedeutenden Arbeit«, antwortete der Magier. »Ich kann sie nicht ganz allein tun. Ich brauche Unterstützung, besonders in eurer Zeit. Ihr braucht mich. Aber gleichzeitig
brauche ich euch vermutlich auch. Deshalb ist es wesentlich, dass wir zusammenarbeiten.« »Zusammenarbeiten?«, rief William aus. »Aber wofür genau?«, fragte Mary. »Für die Zukunft… Sogar für eure Zukunft. Für die Menschheit.« »Meinen Sie etwa so was wie >Rettet die Welt< oder so?«, fragte Alice. Sie fing an sich zu langweilen und wollte witzig sein. »Sehr kluges Mädchen«, rief der Magier aus. »Ganz genau das meine ich. Wir müssen die Welt retten, bevor es zu spät ist.« Alice sah William an und schnitt eine Grimasse. Der Mann ist verrückt, dachte sie. »Glaubst du das wirklich?«, fragte er sie streng. Er konnte ihre Gedanken lesen. »Das ist wirklich gemein, dass Sie das tun«, protestierte Alice. »Gedanken lesen. Das ist unhöflich und überhaupt ungerecht, weil wir es nicht mit Ihnen machen können. Es ist wie Schwindeln… oder so.« »Alice! Halt die Klappe«, warnte William sie. Aber es war zu spät, der Magier war wütend. Er hielt den Silberstab waagerecht vor sich ausgestreckt und lief zischend und brüllend und mit den schrecklichsten Geräuschen auf sie zu. Die Kinder rannten vor ihm weg, zurück durch den Raum zur Tür, durch die sie hereingekommen waren. Aber kurz bevor sie sie erreichten, hörten sie einen seltsamen und schrecklichen Ton. Es klang wie ein schrilles Quieken, ein wenig wie Kreide, die über eine Tafel kratzt. Noch bevor sie
sich fragen konnten, was den Ton erzeugt haben mochte, kam die Antwort in Form einer riesigen und abscheulichen Ratte, die über ihre Köpfe sprang und mit gebleckten Zähnen und bösartigem Zischen vor ihnen landete. William schrie als Erster. Später stritt er es ab, aber es war tatsächlich so, obwohl die Mädchen nur eine Sekunde länger dazu brauchten. »O nein!«, kreischte Mary. Sie machte kehrt und rannte zurück in den Raum hinein, weg von dem schrecklichen Tier. Alice blieb inzwischen wie angewurzelt stehen und hielt sich die Augen zu. »Ist sie weg? Ist sie weg?«, piepste sie immer wieder mit einer hohen, erschreckten Stimme. Die Ratte war unvorstellbar groß. Sie hatte glatte, graue Haare und der lange, glänzende Schwanz schlug und zuckte und stand niemals still. Die Blicke aus ihren winzigen, grell leuchtenden Augen stachen wie Nadelstiche. »So«, zischte sie, »da wollen wir euch doch mal testen, was?« Als sie zu Ende gesprochen hatte, rannte sie direkt um Mary herum und machte den Kindern den Weg zur Tür frei, zwang sie aber gleichzeitig den Raum zu verlassen und die steile Wendeltreppe hinunter in die Dunkelheit zu flüchten. »Komm schnell, Alice«, schrie William, packte ihre Hand und zog sie aus dem Raum. »Wo ist sie? Wo ist sie?«, jammerte Alice, ließ sich aber die engen, dunklen Stufen hinunterziehen. »Ssss!«, zischte die Ratte in der Dunkelheit. »Ihr werdet getessstet.« Und weiter unten auf der Treppe konnte man Alice sagen hören: »Wenn ich eins hasse, dann sind es Ratten!«
16 Ratten Auf der Treppe war es kalt und furchtbar dunkel. Mary lief voraus und kam zuerst an die Tür. »O William«, rief sie, »wie geht sie auf?« Einen Augenblick später kam William mit Alice an der Hand schwer atmend hinter ihr an. »Ich weiß es nicht«, sagte er verzweifelt. »Auf dieser Seite gibt es kein Schloss.« »Mach schnell!«, jammerte Alice. »Sie kommt sicher hinter uns her.« »Schhhh!«, zischte William, damit sie in Ruhe lauschen konnten. Zuerst gab es in der Dunkelheit kein Geräusch außer ihrem eigenen Atmen, aber dann hörten sie ein tappendes, kratzendes Geräusch, so als ob jemand mit allen zehn Fingern über eine raue Oberfläche striche. »Was ist das?«, zischte Alice, als sie die Spannung nicht länger ertrug. »Ich weiß nicht genau«, antwortete William, aber er schien etwas zu ahnen. »Das sind Rattenpfoten auf der Treppe«, jammerte Mary. »Stimmt doch, oder? Ja, bestimmt. Ich bin ganz sicher.« »Jemand soll uns bitte rauslassen«, kreischte Alice und dann schrie sie kurz auf. »Etwas hat mein Bein berührt«, heulte sie. Sie sprang auf Williams Rücken und schlang die Arme um seine Schultern und die Beine um seine Hüften.
»Alice!«, protestierte William, dann schrie auch er entsetzt auf. »Da kriecht irgendetwas über den Boden«, wisperte er. »Ich glaube, ich werde ohnmächtig«, sagte Mary sachlich. »Bitte nicht«, sagte Alice zu ihr und klammerte sich fester an Williams Schultern. »Nicht jetzt. Mach bitte einfach die Tür auf.« Dann schrie sie wieder laut auf. »Was ist jetzt wieder los?«, jammerte William. »Es ist da unten, an deinen Füßen. Ich weiß es genau. O William…« Alices Stimme geriet zu einem weinerlichen Wimmern. William stampfte mit den Füßen auf die Steinstufen, um was immer da lauerte zu verschrecken. Mary begriff, was er tat, und machte es genauso. Sie sprangen beide auf und nieder und stampften dabei mit den Füßen. »Dir können sie nichts anhaben, Alice«, keuchte Mary, »William hält dich ja.« Dann spürte sie, wie William ihren Arm packte. »Hörst du das?«, fragte er angestrengt flüsternd. Sie hörten alle auf sich zu bewegen und hielten den Atem an. Noch einmal hörten sie das seltsam schleppende Geräusch, nur diesmal schienen es viel mehr Pfoten zu sein, so dass es sich eher wie das leise Trampeln einer Rinderherde anhörte oder wie eine kleine Lawine, die auf sie zukam. In das schreckliche Trappelgeräusch mischten sich quiekende, zischende und wispernde Töne. »Oh«, heulte Alice. »Da sind Hunderte von denen.« Und im gleichen Moment füllten sich die Stufen hinter ihnen mit glitzernden Augen und keuchenden, quiekenden Körpern.
Die drei Kinder konnten sich nur mit dem Rücken zur Tür enger aneinander drücken und voll Entsetzen auf die Mauer aus stinkenden Ratten starren, die auf sie zukam. William fühlte etwas über seine Füße gleiten und Mary stöhnte gleichzeitig hinter ihm auf. Die Woge aus glühenden Augen zog sich zurück und man hörte so etwas wie einen aufgeregten Seufzer, als etwas Dunkles weg von den Kindern die Stufen hinaufglitt. Dann blieb es stehen, drehte sich um und die Kinder erkannten die Ratte wieder, die sie im Geheimzimmer gesehen hatten. Die Bestie war so groß, dass alle anderen gegen sie klein aussahen. Sie stand da mit schlagendem Schwanz und zuckender, spitzer Schnauze, dann verzog sie ihr Maul sehr langsam zu einem abscheulichen Grinsen. Alice schlug sich die Hände vor die Augen und ließ dabei die Schultern ihres Bruders los. William kippte fast um, weil diese plötzliche Bewegung ihn aus dem Gleichgewicht brachte, und musste sich an der Seitenwand festhalten. Seine Hand streifte einen in der Wand befestigten Eisenring, den er ergriff, damit er nicht fiel. Mary, die hinter William und Alice mit dem Rücken zur Tür stand, fühlte einen plötzlichen Luftzug und fiel rückwärts, als die Tür aufschwang. Sie konnte sich gerade noch fangen, als William und Alice hinter ihr herpurzelten. »Schnell!«, schrie Mary und bremste ihren Fall ab. Sie drehte sich um und raste die Treppe hinunter, dicht gefolgt von den beiden anderen. Bald hatten sie alle drei das Ende der Treppe erreicht und standen auf dem steinernen Vorsprung an der Innenseite des Kamins. Ohne zu zögern sprang Mary auf den Boden und William und Alice folgten ihr sofort, so dass sie alle direkt vor dem Kamin der großen Halle in Golden House landeten.
»Au!«, schnaufte William, denn Alice war auf seinen Bauch gefallen. »Was ist?«, fragte sie und stieß ihm einen Ellbogen in die Seite, als sie versuchte sich aufzurichten. »Alice!«, brüllte er. »Ich bin doch kein Sandsack!« Er schob sie mit aller Kraft weg und setzte sich auf. Sein Knie schmerzte und war blutverschmiert. Mary lag immer noch da, wo sie hingesprungen war, aber jetzt rappelte sie sich auch auf und sah sich um. Hinter ihr begutachtete William sein blutendes Knie und Alice lag neben ihm. Mary wollte gerade etwas sagen, als eine Ratte von oben zur Feuerstelle hinuntersprang. »Sie sind hier«, keuchte sie. William wirbelte herum und im nächsten Augenblick war der Boden mit kriechenden, zappelnden, grau glänzenden Körpern übersät. Die Ratten waren überall. Ratten auf dem Boden oder in die Wände festgekrallt. Ratten auf dem Tisch und Ratten, die von Stühlen sprangen. Die ganze Halle schien von ihnen überflutet zu sein. Zuckende Schwänze, knirschende Zähne, kratzende Pfoten und die ganze Zeit über das schreckliche, aufgeregt hohe Quieken. »Was ist da unten los?«, rief eine Stimme von oben. Mary blickte hoch und sah Jack sich vor seiner Schlafzimmertür über das Geländer beugen. Sie hatte nur einen Moment nach oben geblickt, aber in dieser kurzen Zeit waren alle Ratten verschwunden. Als Mary sich umschaute, sah sie gerade noch etwas Grauschwarzes durch ein Loch in der Holzfußleiste verschwinden. Sonst hätte sie das ganze schreckliche Ereignis wohl für einen Traum gehalten. »Sie sind weg«, wisperte sie.
»William? Bist du das?«, rief Onkel Jack. William stand unsicher auf und ging zur Treppe. »Ja«, antwortete er mit zittriger Stimme. »Wer ist da bei dir? Ist das Alice?« »Und Mary«, rief Alice schuldbewusst. »Wir sind alle hier.« »Wie seht ihr denn aus«, sagte Onkel Jack und kam die Treppe herunter in die düstere Halle. »Was habt ihr nur angestellt? Ihr seid völlig schwarz vor Ruß.« Die drei Kinder sahen sich an und merkten, dass Onkel Jack Recht hatte. Überall waren schwarze Flecken auf ihren Gesichtern und Händen. »Ich habe das Feuer doch schon vorbereitet«, sagte Jack, weil er offensichtlich annahm, dass sie das hatten tun wollen. »Wie spät ist es eigentlich?«, fragte er und versuchte im Zwielicht seine Uhr zu erkennen. »Acht Uhr. Oje, ich wollte schon vor Stunden aufstehen. Tut mir Leid, ich muss verschlafen haben. Wir haben nicht sehr gut geschlafen. Phoebe hat ziemliche Beschwerden. Es weiß nicht zufällig jemand von euch, ob das normal ist?« Die drei Kinder schüttelten schweigend die Köpfe. Sie waren selbst noch zu aufgewühlt, um sich über Phoebes Zustand Gedanken zu machen. Onkel Jack streckte sich fröstelnd. Er hatte nur einen Morgenmantel an. Was hieß, entschied Alice, dass er ohne Schlafanzug schlief, was ja nun wirklich unanständig war. »Kommt«, sagte Jack. »Frühstücken. Ich ziehe mir nur eben etwas Wärmeres an.« Schon halb auf der Treppe drehte er sich auf dem Absatz um, ein breites Lächeln auf dem Gesicht. »Da könnt ihr es mal wieder sehen!«, sagte er. »Ich
habe fast vergessen, was für ein Tag heute ist. Frohe Weihnachten euch allen!« »Frohe Weihnachten, Onkel Jack«, erwiderten sie im Chor, obwohl es nicht sehr fröhlich klang. Jack sah sie einen Moment nachdenklich an. »Was immer ihr da gemacht habt, vergesst es jetzt«, sagte er zu ihnen. »Es ist Weihnachtsmorgen. Unser erstes Weihnachten in Golden House. Ich will, dass es ein Tag wird, an den wir uns unser ganzes Leben lang erinnern. Jetzt geht rauf, wascht euch und zieht euch um, und wenn ihr wieder runterkommt… bin ich auch fertig.«
17 Gedankenwirbel »Das war schrecklich!«, sagte Alice. Sie saß auf der Bettkante und zitterte wie Espenlaub. »Für dich war es nur halb so schlimm«, fauchte Mary. »William hat dich doch die meiste Zeit getragen. Dir sind sie nicht über die Füße gelaufen oder knabbernd und kratzend die Beine hoch.« »Sei still, Mary. Ich kann das nicht leiden. Du weißt, dass ich Ratten hasse.« »Du glaubst doch nicht etwa, dass ich sie mag!«, sagte Mary zu ihr. »Sie waren schleimig und glitschig und ihre Schwänze fühlten sich an wie Würmer…« Alice schrie auf und verschwand unter dem Federbett, um ihre Schwester nicht mehr hören zu müssen. Auf Marys Gesicht lag ein verstohlenes Lächeln. Irgendwie war es manchmal sehr befriedigend, Alice Angst einzujagen. Das war immer schon so gewesen und sie hatte ziemlichen Spaß daran. Manchmal hatte sie ein schlechtes Gewissen, was sie aber nicht daran hinderte, weiterzumachen. Um ihren Sieg abzurunden, ging sie auf Zehenspitzen durch das Zimmer und sprang wie verrückt piepsend und zischend auf das Federbett. Alice gab einen unterdrückten Schrei von sich und dann rollten sie kämpfend auf dem Bett herum, das Federbett zwischen sich. William kam mit der Zahnbürste in der Hand besorgt ins Zimmer gelaufen.
»Was ist jetzt passiert?«, fragte er und sah sich um, als erwartete er die Ratte wiederzusehen. Bei seiner Frage plumpste Mary mit dem Federbett auf den Boden und Alice strampelnd und schreiend hinterher. William beugte sich hinunter, packte Alice am Pullover und zog sie mit einem Ruck fort. Unglücklicherweise hatte sich Alice wie ein Schraubstock in das Federbett gekrallt. Es gab ein Geräusch, als ob Stoff zerrisse. William fiel rückwärts auf den Boden, Alice auf ihn drauf und einen Augenblick später war das Zimmer voll von herumwirbelnden Gänsefedern. »Oh!«, sagte Alice, als sie die Augen öffnete. »Hier drin schneit es.« »O nein!«, stöhnte William. »Wir haben es zerrissen.« Mary tauchte aus einem Haufen weißer Federn auf, die in die Höhe wirbelten und um sie herumflatterten, als sie sich bewegte. Sie blinzelte und sah hinüber zu ihren Geschwistern. »Tja«, sagte sie und spuckte ein paar Federn aus. »Das Federbett ist tatsächlich kaputt.« »Mist!«, sagte Alice und fing an zu kichern. »Wer sagt es Phoebe?«, sagte William grimmig und fing dann auch an zu kichern. »Das machst du, William«, antwortete Mary, wühlte mit den Händen in den Federn und ließ sie fliegen und schweben. »Schließlich bist du hier der Mann!« »Puh!«, erwiderte ihr Bruder. »So viel zur Gleichberechtigung der Frau!« Er warf sich zurück und lachte schallend. Alice rollte über den Boden und lachte so sehr, dass ihr der Bauch wehtat.
Mary sah die beiden eine Weile an. »William«, wisperte sie ernst, »sei doch mal eine Minute still. Wir haben nicht viel Zeit und wir haben so viel zu bereden.« »Nichts über die Ratten, Mary, bitte!«, quietschte Alice. »Ich will nicht über die Ratten reden.« Und dann kicherte sie weiter. »Aber wir müssen«, beharrte Mary. Sie stand auf und ging zum Fenster. »Wir können nicht einfach so tun, als sei nichts passiert.« Hinter ihr hörten William und Alice auf zu lachen und lagen nach Luft schnappend und schweigend auf dem Boden. Jeder erinnerte sich an die Ereignisse des Morgens und versuchte sich einen Reim darauf zu machen. Mary stützte sich auf die Fensterbank, betrachtete das steil abfallende Dach und die weiße Welt dahinter. Der Himmel war wolkenverhangen. »Es ist wie eine Schwarzweiß-Fotografie«, sagte sie zu sich. Und das stimmte. Draußen waren keine Farben oder Bewegungen, nur die grauweiße, schweigende Welt des unberührten Schnees. »Als ob wir irgendwo außerhalb der Zeit wären…« »In einem Schwebezustand«, sagte William. Er stellte sich neben sie und sah sich die schwach beleuchtete, wie ein halb fertiges Gemälde wirkende Aussicht an. »Haben wir wirklich einen Magier getroffen?«, kam Alice’ dünne Stimme vom Boden hinter ihnen. »Ich denke schon«, antwortete William. »Was meinst du, Mary?« »Wenn wir alle glauben, wir haben dasselbe gesehen, dann wird es schon stimmen, oder? Da war eine Eule…«
»Und der Magier hatte einen silbernen Spazierstock«, fiel Alice ein, »mit Drachen drauf.« »Und er hieß Stephen Tyler«, fügte William hinzu, aber er schien mehr mit sich selbst zu sprechen. Er vergrub stirnrunzelnd die Hände in den Hosentaschen, was immer ein Zeichen dafür war, dass er nachdachte. »Was ist, Will?«, fragte Mary, die diese Geste bei ihm kannte. »Er sagte, er hätte die Stufen im Kamin gebaut«, sagte William. »Aber sie sind doch schon so alt«, warf Alice ein. »Vielleicht meinte er auch nur die Steinvorsprünge im Kamin, die zur Wendeltreppe führen. Denn die echten Stufen müssen zum Turm des mittelalterlichen Gebäudeteils gehören«, fuhr William fort und versuchte immer noch sich auf alles einen Reim zu machen. »Aber dann können sie doch irgendwann gemacht worden sein, oder nicht?«, sagte Alice schon munterer. Aber William schüttelte den Kopf. »Es steht alles in dem Buch, das Onkel Jack aus der Stadt mitgebracht hat. Eigentlich steht es auf der Liste, die die Museumsleiterin ihm gegeben hat.« »Welche Liste?«, fragte Mary. »Eine Liste mit allen Leuten, die hier gelebt haben. Ich erinnere mich nicht an alle. Ich habe noch nicht einmal alles gelesen, weil der Anfang mir so einen Schock versetzt hat. Es war gruselig und ich wollte einfach in mein Bett.« »Was war gruselig, Will?« Mary begann auch schon wieder sich zu gruseln.
»Gelden Place war mal ein religiöser Ort. Es war eine Abtei oder so… ich weiß nicht… wie heißen die Häuser, wo fromme Leute leben können?« »Kirchen?« »So was Ähnliches, Alice, aber… mehr wie Zufluchtsorte oder so. Egal. Was ist 1540 passiert?« »König Heinrich VIII. löste die Klöster auf«, fiel Mary ein. »Löste die Klöster auf?«, rief Alice aus. Sie versuchte mitzukommen. »Er hat sie abgeschafft«, sagte William zu ihr, »und Gelden Place wurde von jemandem gekauft und in ein Wohnhaus umgebaut.« »Von wem?«, fragte Mary und wusste die Antwort schon halb. »Genau das ist es«, sagte William und sah sie an. »Nach den Informationen, die Onkel Jack mitgebracht hat, wurde das Grundstück um 1550 erworben und als Privathaus restauriert. Und der Mann, der es kaufte, hieß Stephen Tyler.« »Aber du hast ihn doch gefragt!«, rief Mary aus. »Er sagte, er wäre kein Nachkomme von diesem Stephen Tyler.« »Genau«, sagte William. »Ja und?«, beharrte Mary, als ob der Fall damit erledigt wäre. »Ich glaube, er hat gesagt, dass er kein Nachkomme von Stephen Tyler ist, weil er Stephen Tyler ist.« Einen Moment lang war es sehr still im Zimmer. Alice bekam runde Augen, als sie plötzlich begriff.
»Du meinst, er ist es selbst? Und immer noch am Leben? Aber er muss Hunderte von Jahren alt sein. Wie denn, William?«, keuchte sie. »Ich weiß es nicht. Aber genau das glaube ich. Und ich sag euch noch was«, fügte er hinzu. Sein Verstand arbeitete immer schneller. »Er wollte uns prüfen, nicht wahr?« »Ja, weil wir ihm helfen müssen«, stimmte Mary ihm zu. »Wir müssen die ganze Welt retten«, stöhnte Alice und ließ es so klingen, als wäre es furchtbar viel anstrengende Arbeit. »Was passierte, kurz nachdem er uns das gesagt hatte?«, fragte William, der eine Flut von Erinnerungen bewältigen musste. Die Mädchen zogen die Stirn kraus und dachten über die Ereignisse nach. »Die Ratte!«, sagte Alice plötzlich. »Sie sagte auch, wir würden getestet werden«, rief Mary aus. »Genau«, triumphierte William. »Also hat sich der Magier vielleicht selbst in die Ratte verwandelt, um uns zu testen.« »Oooh!«, rief Alice. »Wie gemein von ihm. Uns alle so zu erschrecken!« »Wenigstens wissen wir nun, dass es nur ein Test war und nicht wirklich«, sagte William erleichtert. »Ob wir den Test bestanden haben?«, überlegte Mary und schauderte dann. »Bist du im Badezimmer fertig, Will? Dann gehe ich jetzt rein. Ich möchte nämlich bald runter ins Warme.«
»Ich habe meine Zahnbürste verloren«, sagte William. Alice fand sie auf dem Boden, wo er sie fallen gelassen hatte, als er zwischen die streitenden Mädchen ging. Plötzlich wurde es im Zimmer sehr geschäftig, weil sie sich alle auf das Weihnachtsfest vorbereiten wollten. Wenn sie sich nicht so viel bewegt oder so viel geredet hätten, hätten sie vielleicht das schon vertraute schleppende Geräusch von Krallen gehört, das die Ratte machte, als sie verstohlen von ihrem Platz hinter der Fußbodenleiste wegkroch, wo sie jedes Wort gehört hatte. Wären sie ihr gefolgt, so hätten sie sie durch enge Gänge und über morsche Balken und bröckelnde Steine laufen sehen können, bis sie zu einem seit langem unbewohnten Teil des Hauses kam. Hier wohnte die Ratte und hier schmiedete sie ihre geheimen Pläne. Von hier aus konnte sie alle Geräusche im Haus hören und deshalb wusste sie alles über die darin lebenden Menschen und anderen Geschöpfe. Von hier aus hatte sie Zutritt zu jeder Ecke eines jeden Raumes, denn hier war ihr Reich. Nie war etwas in Golden House geschehen, von dem sie nicht wusste und das sie nicht zu ihrem eigenen Vorteil genutzt hätte. Denn die Ratte war ein böses Geschöpf und diente einem bösen Herrn. Aber das wussten die Kinder noch nicht.
18 Weihnachten in Golden House Die Halle war wie verwandelt, als sie herunterkamen. Ein großes Feuer brannte im Kamin mit Flammen, die bis in den dunklen Schacht hinaufloderten. Die Kinder rannten darauf zu und sahen ängstlich zum Vorsprung am Fuß der steilen Wendeltreppe hoch, aber der Sog im Schornstein war so groß, dass Rauch und Flammen von der Treppe weggezogen wurden, und es sah beinahe so aus, als könnte man sogar zum Geheimzimmer hochsteigen, wenn ein Feuer brannte. »Sehr schlau«, wisperte William und bewunderte den technischen Verstand des Erfinders. »Seht ihr, wie die heiße Luft nach oben steigt und die kalte Luft sie oben aus dem Schornstein saugt? Ich glaube, dass die Tür an der Wendeltreppe auch zum Plan gehört. Sie verhindert, dass ein zweiter Sog entsteht. Wirklich sehr schlau…« »Mary, sieh mal!«, rief Alice aus. Sie hatte sich bei Williams Erklärungen, wie der Kamin funktionierte, schnell gelangweilt und sich in der Halle umgeschaut. In der Ecke neben der Eingangstür stand ein riesiger Baum. Er war so hoch, dass er fast an die Decke stieß. Er war mit unzähligen Lichtern bedeckt, mit winzig kleinen Kerzen, die man fast nicht sah. Jede Kerze saß in einem kleinen Kerzenhalter und unter jedem dieser Halter baumelte und blitzte ein Silberstern und reflektierte das Licht der anderen Kerzen. Der einzige weitere Schmuck war ein großer, goldener Stern auf der Baumspitze. Dieser Stern hatte einen Schweif aus goldenen Ketten, die sich über alle Zweige hinunterwanden und dann im tiefen Grün des Baumes verschwanden.
»Er ist wunderschön!«, seufzte Mary. Die drei Kinder standen mit dem Rücken zum Feuer und starrten den Baum bewundernd an. »Aber brennen die Kerzen nicht sehr schnell herunter?«, sagte Alice schließlich. »Ich glaube, es sind Nachtkerzen. Die brennen länger«, sagte William und trat näher zum Baum. »Sehr gut, Junge!«, sagte Jacks Stimme hinter ihm. »Der Kandidat hat hundert Punkte!« Er stand in der offenen Küchentür, aus der warme, köstliche Gerüche drangen. In seinen Armen hielt er eine große Schale mit Stechpalmenzweigen voller roter Beeren, auf deren Blättern noch Schnee lag. »Wo soll ich das hinstellen? Mitten auf den Tisch?« Jack stellte die Schale auf den Tisch und bemerkte, dass der Schnee auf das Holz tropfen würde. »Ich lasse ihn besser erst schmelzen«, sagte er zu sich selbst. Er stellte die Schale auf den Boden in die Nähe des Baumes. »Aber wann hast du den Baum geschmückt, Onkel Jack?«, fragte Mary. »Gestern. Er war in einem der anderen Räume versteckt.« »Und wie hast du ihn hier hereinbekommen?« »Auf Rädern!«, lachte Onkel Jack. »Wundervolle Erfindung, das Rad! Seht mal.« Und er zeigte auf das Fass, in dem der Baumstamm steckte. Das Fass stand auf einem quadratischen Brett mit kleinen Rädern wie auf einer Karre. »Das hast du gemacht?«, fragte William beeindruckt.
»Eigentlich nicht. Ich habe es in einem der Nebengebäude gefunden. Ich glaube fest an das Aufbewahren von Sachen! Werft niemals etwas weg, ihr wisst nicht, wann ihr es wieder brauchen könnt. Und jetzt: zum Frühstück!« Damit marschierte er zur Küchentür und die anderen folgten ihm. Phoebe stand am Herd und röstete Brot an einer langen Gabel über dem offenen Feuer. Sie blickte sich um, als sie hereinkamen, hatte eine Hand in den Rücken gestemmt und hielt mit der anderen die Röstgabel vor sich. Haarsträhnen fielen ihr ins Gesicht und sie sah müde und abgespannt aus. Ihr schwangerer Bauch wölbte sich unter einem einfachen, blauen Kleid. Aber sie lächelte alle an und sogar Alice, die sich nicht von ihr einfangen lassen wollte, musste später zugeben, dass sie sich wohl tatsächlich bemühte fröhlich zu sein. »Da seid ihr ja«, rief sie. »Zuerst Frühstück und dann Geschenke unter dem Weihnachtsbaum, was haltet ihr davon?« Der Geruch von Toast und Kaffee mischte sich mit anderen Essensdüften und dem Holzfeuer in der Halle. »Frohe Weihnachten euch allen«, fügte Phoebe hinzu und ließ das getoastete Brot von der Gabel in den Brotkorb gleiten. Sobald das Frühstück vorbei war, rannten die Kinder hinauf, um ihre Geschenke zu holen, die sie zu den anderen unter den Baum in der Halle legten. Die Standuhr schlug gerade zehn, als sie sich alle vor dem Feuer versammelten und Jack mit einem Tablett aus der Küche kam, auf dem ein Eiskübel mit einer Flasche Sekt und Gläser standen. »Sekt«, verkündete Jack dramatisch, als er hereinkam. Der Korken kam mit einem Knall und viel Schaum aus der Flasche und Jack goss die sprudelnde Flüssigkeit in fünf Gläser. Dann gab er jedem ein Glas. Phoebe saß in einem der Lehnstühle vor dem Feuer und die Kinder knieten auf dem Kaminvorleger.
»Nicht trinken, bevor wir angestoßen haben. Erst der Toast«, sagte Jack. Alice wusste nicht, dass >Toast< auch >Trinkspruch< bedeutete, und sagte, sie wolle keinen Toast mehr essen, was die anderen für einen Riesenwitz hielten. Also ließ sie sich von den anderen für sehr schlau halten, obwohl sie gar nicht wusste, worüber sie lachten. Dann erhob Jack sein Glas. »Wir könnten auf vieles anstoßen: dass wir unser erstes Weihnachtsfest in Golden House feiern, dass wir hier alle zusammen sind, dass wir ein Baby bekommen. Aber vielleicht sollten wir auch nur auf eine Sache anstoßen, oder nicht?« »Bitte beeil dich, Onkel Jack«, rief Mary, »ich möchte so gerne den Sekt probieren.« »Na gut«, lachte er und hielt ihnen sein Glas entgegen. »Auf eure Eltern, meine Lieben. Wo immer sie sind und was immer sie gerade tun.« »Auf Williams und Marys und Alice’ Eltern«, sagte Phoebe und erhob ihr Glas. »Auf Mama und Papa«, sagte William mit einem Kloß im Hals. Alice warf Mary einen unbehaglichen Blick zu, weil sie nicht sicher war, was von ihr erwartet wurde. Sie sah Mary ihr Glas erheben. Tränen glänzten in ihren Augen. »Mama und Papa«, murmelte sie. »Ach, hört doch alle auf«, rief Alice. Die Tränen schossen ihr aus den Augen und liefen ihre Wangen hinunter. Sie nahm einen großen Schluck Sekt und musste eine Sekunde später heftig niesen. Jack warf lachend den Kopf in den Nacken. »Das sind die Luftblasen!«, sagte er. »Also es gibt auch Orangensaft, wenn ihr den lieber trinkt?«
»Ja bitte, Onkel Jack«, sagte Mary sofort. »Eigentlich mag ich Sekt gar nicht so gerne.« »Schäm dich, Mary! Eines Tages wirst du ihn für das beste Getränk der Welt halten.« »Kann ich auch Orangensaft haben?«, fragte William und stellte sein kaum berührtes Glas auf den Tisch. »Kann ich dann deinen Sekt haben, Will?«, fragte Alice und streckte die Hand danach aus. »Nein«, kam Phoebe dazwischen. »Er ist zu stark, Jack.« »Tut mir Leid, Herzchen«, sagte Jack und stellte Williams volles Glas und das von Mary wieder auf das Tablett. »Ein Glas reicht, danach gibt es Orangensaft.« »Aber was passiert mit dem Sekt?«, fragte Alice. »Du wirst ihn doch nicht wegschütten?« »Das ganz sicherlich nicht«, sagte er grinsend und zwinkerte ihr zu. »Und jetzt die Geschenke!«, sagte er und ging hinüber zum Baum. Die Kinder hatten eine Schachtel Pralinen für Phoebe und Jack. Mary bekam einen Bleistiftspitzer in Form eines Wales von William und ein Michael-Jackson-Plakat von Alice, weil Alice für Michael Jackson schwärmte. Mary mochte ihn eigentlich nicht besonders, aber Alice sagte, sie wäre verrückt, und wenn Mary das Plakat nicht haben wollte, dann würde sie es in ihr eigenes Schlafzimmer hängen. William bekam ein Geschicklichkeitsspiel von Mary, eine kleine, quadratische Schachtel, gefüllt mit kleinen Metallkugeln, die in eine Herzform eingepasst werden mussten. Alice schenkte ihm ebenfalls ein Plakat von Michael Jackson. William konnte Michael Jackson nicht ausstehen. Alice bekam auch ein Geschicklichkeitsspiel von Mary, eine ähnliche quadratische Schachtel wie Williams, aber die Kugeln mussten in einen
Stern eingepasst werden. Von William bekam sie einen Bleistiftspitzer in Form eines Elefanten, was sie unglaublich gemein fand, weil man den Bleistift zum Spitzen in den Elefantenpo stecken musste. Sie bekamen alle Geld von ihren Eltern und jeweils einen persönlichen Brief, den sie schnell lasen und dann in die Tasche steckten, um sich später noch mal in Ruhe darüber zu freuen. Aber die wirkliche Überraschung waren die Geschenke von Jack und Phoebe. Phoebe hatte jedem von ihnen einen Pullover in den schönsten Farben gestrickt. Williams war schwarz, rot und weiß mit einem unregelmäßigen, geometrischen Muster. Marys hatte blasse Blau- und Rosatöne und ein kräftigeres Grün und sah ein bisschen wie ein Bild von einem dunstigen, ländlichen Sommermorgen aus. Auf Alice’s Pullover prangte eine Sonne aus kräftigen Orange-, Gelb- und Blautönen. Sie waren alle weit und bequem mit runden Halsausschnitten und langen Ärmeln. Phoebe hatte auch für Jack einen Pullover gestrickt. Er war dunkelgrün und dunkelblau mit einer orangeroten Sonne auf dem Vorderteil. »Und schließlich«, sagte Jack, nahm das letzte Geschenk und las das Schild, »ist das hier für Miss Taylor, in ewiger Liebe von mir.« »Liz Taylor?«, sagte Mary überrascht. »Der Filmstar?« »Nein, Dummerchen«, sagte Jack lachend. »Miss Taylor ist die schönste werdende Mutter der Welt.« »Jack!«, protestierte Phoebe und nahm mit roten Wangen das Päckchen entgegen. Sie machte vorsichtig das Papier auf. Phoebe war offensichtlich eine von denen, die Geschenkpapier noch einmal benutzten. Eine lange, schwarze Schachtel kam zum Vorschein. Sie öffnete sie und die Kinder hörten sie tief einatmen.
»O Jack«, rief sie aus. »Wo hast du das nur her?« Die Kinder drängten sich um ihren Stuhl, um das Geschenk zu begutachten. In der Schachtel lag auf dunklem Samt eine dünne Goldkette mit einem Anhänger. Er bestand aus einem silbernen Mond und einer goldenen Sonne, die in einen ovalen Rahmen aus einem dunkelroten Metall gefügt waren. »Das ist wunderschön«, sagte sie. »Erkennst du es nicht wieder?«, fragte er. Phoebe sah sich den Anhänger stirnrunzelnd an. »Ist es der, den du gefunden hast? Aber der war schwarz und angelaufen.« »Genau der ist es. Ich bin nicht sicher, ob ich ihn wirklich als mein Geschenk bezeichnen kann. Er ist mehr ein Geschenk dieses Hauses. Ich habe ihn hier in der Feuerstelle gefunden«, fuhr er fort und drehte sich zu den Kindern um, »kurz nachdem wir eingezogen sind. Er lag einfach da auf dem Boden. Aber das Komische war, dass ich den Kamin gerade eine halbe Stunde vorher ausgekehrt hatte, und da war er noch nicht da. Keine Ahnung, woher er kam. Er war ganz schwarz und hässlich, man konnte kaum etwas erkennen. Ich habe nicht mehr daran gedacht. Ich habe ihn mit in unser Zimmer genommen und ihn in einer Schublade aufbewahrt. Vor einem Monat fand ich ihn wieder und fragte mich, wie er wohl sauber geputzt aussehen würde…« »Er ist wunderschön, Onkel Jack«, sagte Mary und betrachtete den Anhänger immer noch. »Ich bin ziemlich sicher, dass er aus reinem Silber und Gold ist«, sagte Jack und schaute Mary über die Schulter. »Obwohl ich keine Ahnung habe, was das rote Metall ist.
Möchtest du ihn nicht umlegen?«, fragte er an Phoebe gewandt. »Ich habe die Goldkette in der Stadt machen lassen.« Phoebe hob ihre langen Haare hoch und legte sich die Kette um den Hals. Dann fummelte sie mit beiden Händen hinter dem Kopf am Verschluss herum. »Soll ich, Phoebe?«, sagte Mary. »Würdest du das tun?«, fragte Phoebe fast schüchtern. Mary verschloss die Kette und legte sie Phoebe richtig um den Hals. Sie traten alle etwas zurück, um den Anhänger zu bewundern. Jacks Goldkette war ziemlich kurz, so dass der Anhänger auf der zarten Haut über dem Ausschnitt ihres Kleides lag. Sie legte die Hand darauf und wurde wieder rot. »Ich werde ihn in Ehren halten«, sagte sie leise und Jack beugte sich zu ihr und küsste sie zärtlich. »Frohe Weihnachten«, wisperte er ihr ins Ohr und dann drehte er sich um und lächelte die Kinder an. »Frohe Weihnachten euch allen.« Später gingen die Kinder ein Stück spazieren. Der Himmel war so dunkel und verhangen, als hätte die Abenddämmerung schon eingesetzt, obwohl es erst Vormittag war. »Was meint ihr, woher der Anhänger kam?«, fragte Mary, als sie durch den Schnee am Rand der Einfahrt stapften, wo er weniger tief war. »Könnte er aus dem Geheimzimmer stammen?«, fragte Alice. »Es ist so ein Muster, wie es ein Magier machen würde, oder?« »Ja«, stimmte William zu. »Aber er kann nicht von dort oben runtergefallen sein, nicht all diese Stufen hinunter. Und
wenn doch, dann wäre er nicht platsch! mitten in der Feuerstelle gelandet.« »Vielleicht ist im eigentlichen Schornstein ein Schatz versteckt«, schlug Mary vor. »Ich möchte den aber nicht auch noch hochsteigen«, jammerte Alice. »Vielleicht ist das Ganze ein Geschenk des Magiers«, sagte William. »Aber wieso?«, fragte Mary. William zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nichts. Es passieren zu viele seltsame Dinge.« Er hörte sich niedergeschlagen an. William war einer von denen, die gerne die Kontrolle über alles haben und es nicht leiden können, wenn sie etwas nicht wissen oder nicht erklären können. Er schlurfte weiter durch den Schnee, die Hände in die Hosentaschen vergraben und die Brauen zusammengezogen. »Was essen Wegelagerer zu Weihnachten?«, fragte Alice, die die Stimmung ihres Bruders gar nicht wahrnahm. »Vegetarier«, verbesserte Mary sie müde, obwohl sie es schon unzählige Male getan hatte. »Was macht das schon, wenn ich nicht das richtige Wort benutze? Du weißt, was ich meine. Ich weiß, was ich meine. Also was macht es?«, schimpfte Alice verärgert. Sie gingen schweigend weiter, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Schließlich sah William auf die Uhr. »Mittag«, verkündete er. »Wir gehen besser zurück. Phoebe hat gesagt, um ein Uhr gibt es Mittagessen.« »Ich sterbe vor Hunger!«, jammerte Alice.
»Du stirbst immer vor Hunger, Alice«, brummelte Mary. »Weil ich wachse. Ich brauche Nahrung für mein Wachstum. Truthahn mit kleinen Würstchen und Bratkartoffeln und Füllung und Schinken und noch mehr Würstchen und Soße…« »Mohrrüben und Pastinaken und Weißkohl und Rosenkohl«, sang William. »Steckrüben und Kohlrüben und…« »Erdartischocken!«, unterbrach Mary ihn triumphierend. »Jerusalem-Artischocken!« »Was ist das?«, quiekte Alice, auf das Schlimmste gefasst. »Du weißt schon, Alice«, sagte William finster. »Diese knubbeligen, grauen Dinger, die Mama manchmal in die Suppe getan hat«, sagte Mary zu ihr und grinste boshaft. »Knubbelige, graue Dinger?«, fragte Alice entsetzt. »Die Suppe, von der wir immer pupsen mussten!«, verkündete William und fing an zu lachen. »O nein«, rief Alice, als sie sich erinnerte. »Du meinst diese furchtbaren Kartoffeldinger, wo wir die ganze Nacht fast geplatzt sind?« »Die ganze Nacht?«, fragte Mary und lachte schallend. »Du hast bestimmt eine ganze Woche gefurzt, Alice!« William schüttelte sich vor Lachen. »Dafür musst du Geld in die Fluchdose tun!«, schrie Alice. »Wir haben keine«, rief Mary. »Ich habe nicht geflucht«, sagte William.
»Hast du wohl, William Constant. Du hast >furzen< gesagt.« »Oooh! Wie ungezogen, Alice! Wirklich!«, sagte Mary und zeigte auf ihre Schwester. »Du hast >furzen< gesagt.« »Du auch«, antwortete Alice und fing ebenfalls an zu lachen. »Wir haben es alle gesagt«, verkündete William. »Also sagen wir es noch mal.« Gemeinsam brüllten sie das Wort, dass es durch das ganze enge, verschneite Tal hallte. »Furzen… furzen… furzen.« Sie kamen laut lachend an der Hintertür an. Jack stand mit besorgtem Gesicht im Eingang. »Da seid ihr ja«, sagte er. »Ich habe euch gesucht. Kommt schnell.« »Was ist los, Onkel Jack?«, fragte William, als sie ihre Gummistiefel auszogen. »Es ist was mit Phoebe«, antwortete Jack grimmig. »Ist sie wieder krank?«, fragte Mary und wickelte den Schal von ihrem Hals. »Ich glaube…«, Jack zögerte einen Moment und fuhr dann fort: »Ich glaube, es kommt.« »Es kommt?«, fragte Alice, wie immer verwirrt. »Das Baby«, sagte Jack zu ihr. »Das Baby kommt zur Welt.«
19 Durch den Schneesturm Phoebe lehnte an der Spüle in der Küche. Jack ging schnell zu ihr hinüber und legte seinen Arm um ihre Schultern, um sie zu stützen. »Wie geht es dir jetzt?«, fragte er ruhig. »Immer noch dasselbe«, antwortete sie und strich ihm leicht über die Wange. »Mach dir keine Sorgen. Mir geht es bald besser. Frauen haben schon seit Adam und Eva Kinder bekommen.« Die Kinder standen verlegen an der Küchentür. Sie kamen sich vor, als würden sie ein ganz privates Gespräch belauschen. Aber Phoebe sah über ihre Schulter und lächelte sie an, so dass sie sich dazugehörig fühlten. »Es tut mir Leid«, Weihnachtsfest verderbe.«
sagte
sie,
»dass
ich
euer
»Du kannst doch nichts dafür«, sagte William und wollte sie plötzlich in Schutz nehmen. »Es ist nicht dein Fehler und die Geburt deines Babys ist sowieso das Wichtigste. Wir können immer Weihnachten feiern.« Mary sah ihren Bruder stolz an. Was für nette Dinge er manchmal sagen konnte! Aber Alice glaubte immer noch, dass Phoebe eine Hexe war, also war sie nicht so großzügig. Tief drinnen hielt sie es für typisch, dass Phoebe sich schon wieder so anstellte, wo sie doch alle eigentlich Gemüseburger essen sollten oder was auch immer für einen schrecklichen Fraß sie vorbereitet hatte.
Aber sie sagte nichts, weil Phoebe traurig aussah und Onkel Jack so offensichtlich besorgt war. Da stemmte Phoebe beide Hände in den Rücken, streckte sich und schrie auf, als ob sie Schmerzen hätte. Jack drückte sie verzweifelt an sich. Dann, als der Krampf vorüber war, führte er sie zu einem Stuhl neben dem Küchenherd. »Setz dich hierhin, während ich den Landrover fertig mache.« »Sollen wir fahren?«, fragte sie. »Je eher du ins Krankenhaus kommst, desto besser. Alice, kannst du bitte eine Decke aus unserem Schlafzimmer holen? Und Mary, geh doch mit ihr. Du findest einen fertig gepackten Koffer neben dem Kleiderschrank. Bring ihn herunter und dann hol ein paar Wärmflaschen aus diesem Schrank da und…« – während er sprach, schwang er den Wasserkessel über die Flamme des offenen Feuers -»behalte den Kessel im Auge, ja? Das Wasser wird bald kochen. Aber noch nichts in die Wärmflaschen füllen, das mache ich, wenn ich wieder zurück bin. William, komm mit mir. Ich brauche vielleicht Hilfe, wenn ich den Landrover starte.« Jack schritt zur Hintertür und sprach weiter. »Hol deine Gummistiefel und komm dann zu mir raus in den Hof.« Dann war er weg und die Tür schlug zu, so dass die kalte Luft draußen blieb. Mary und Alice liefen aus dem Zimmer und taten, was Onkel Jack ihnen aufgetragen hatte. William rannte hinter ihnen her in die Halle und Phoebe blieb verlegen auf dem Stuhl sitzen und starrte in die Flammen. »Wird es ihr wieder besser gehen, Will?«, rief Mary, als sie mit Alice die Treppe hinaufrannte.
»Das weiß ich doch nicht!«, murrte William.»Ich war noch nie dabei, wenn jemand ein Baby bekommt.« Es war wieder eine von diesen Situationen, die er nicht unter Kontrolle hatte, und das hasste er. Er ging zur Eingangstür unter die Überdachung und zog seine Gummistiefel an. Als er durch den tiefen Schnee zum Hof hinter dem Haus lief, bemerkte er in einiger Entfernung einen schwarzweißen Hund, der auf dem Boden kauerte und das Haus beobachtete und dabei langsam mit seinem Schwanz hin und her wedelte. Aber bevor er das noch richtig wahrgenommen hatte, wurde er von etwas anderem überrascht. Jack stand unter dem Dach des Unterstellplatzes neben dem Landrover. Er starrte ungläubig auf die Autoreifen. »Was ist los, Onkel Jack?«, fragte William und rannte zu ihm, weil er fühlte, dass etwas Schlimmes passiert war. Jack schüttelte den Kopf, aber er sah William nicht an. »Ich kann es nicht glauben«, sagte er. »So etwas habe ich noch nie gesehen.« »Was?«, fragte William, der neben ihm stand. Dann sah er es auch und sein Onkel musste ihm nichts mehr erklären. Jeder der vier Reifen des Kombiwagens war in Stücke gerissen und die Fetzen lagen auf dem Boden. Das Metall der Felgen grub sich in die festgetretene Erde. »Man kann ihn natürlich so nicht benutzen«, sagte Jack mehr zu sich selbst. »Aber wie ist das passiert?« Er sah sich um und betrachtete den verschneiten Hof, als hoffte er, die Antwort läge auf dem Boden. Und irgendwie lag sie auch da und William fand sie. Eine Spur wie von zwei schmalen Schlittenkufen führte von der Hauswand zum Unterstellplatz und wieder zurück zum Haus.
»Glaubst du, das war irgendein Tier?«, fragte William. Jack beugte sich hinunter und untersuchte die Spur. »Eine Ratte«, antwortete er. Bei diesem Wort lief es William kalt über den Rücken. »Aber was will sie mit Gummireifen? O verdammt. Phoebe hat mir gesagt, dass sie manchmal eine Ratte hört, aber ich habe das nicht beachtet. Was soll ich jetzt nur tun? Ich kann sie nicht zum Krankenhaus fahren.« Er sah zu den dunklen, bedrohlichen Wolken auf. »Bald wird es wieder schneien und dann werden wir hier im Tal festsitzen.« »Gibt es hier nicht irgendwo eine Telefonzelle?«, fragte William, der verzweifelt zu helfen versuchte. »Doch, es gibt eine unten an der Straße durch das Moor, kurz bevor man in dieses Tal abbiegt.« »Wie weit ist das weg?« »Ungefähr zwei Meilen. Aber was soll das nützen, wenn der Schnee kommt? Ich muss Phoebe in ein Krankenhaus bringen. Und je eher, desto besser, so wie dieser Himmel aussieht.« Sie blickten beide zu den dunklen, tief hängenden Wolken hoch. Sie sahen aus, als könnten sie jeden Moment unter ihrer Schneelast aufbrechen. »Wenn ich noch länger warte, dann kann nichts und niemand mehr ins Tal hinein und niemand hinaus.« »Sie könnten einen Hubschrauber schicken, Onkel Jack. Das sieht man manchmal in den Nachrichten.« »Richtig, William. Ich muss sofort los«, sagte Jack und ging zur Küchentür. »Ich komme mit«, rief William und lief hinter ihm her. »Du bleibst besser hier«, sagte Jack zu ihm.
»Nein«, antwortete William fest entschlossen. »Es könnte etwas passieren. Wir wissen nicht, wie hoch der Schnee liegt oder ob die Straße passierbar ist. Wenn wir zu zweit gehen, kommt vielleicht einer durch.« Jack sah seinen Neffen einen Moment an und nickte dann. Sie gingen zusammen in die Küche und Jack erklärte Phoebe, was geschehen war. »Nein, Jack«, protestierte sie. »Wir werden es auch so irgendwie schaffen.« »Ich will nicht noch mehr Risiken eingehen«, antwortete Jack fast ärgerlich. »Wir hätten uns besser vorbereiten sollen.« »Es ist mein Fehler«, sagte Phoebe mit schwacher Stimme. »Ich wollte das Kind hier in Golden House bekommen. Ich hätte auf dich hören sollen.« »Jetzt ist keine Zeit für Vorwürfe«, sagte Jack und umarmte sie. »Konzentrier dich einfach und halte aus, bis Hilfe kommt. William, zieh dich besonders warm an. Und ihr Mädchen passt auf, dass das Feuer in der Halle und hier in der Küche nicht ausgeht. Wir kommen so schnell wie möglich zurück.« Der wärmste Pullover, den William hatte, war der, den Phoebe ihm gestrickt hatte. Darüber zog er seinen Anorak und seinen Schal. Mit dicken Socken stieg er in die Gummistiefel, stopfte seine Hosenbeine noch hinein und zog ein Paar Handschuhe an. Er und Jack, der sich gegen den beißenden Wind ähnlich vermummt hatte, brachen sofort auf, als sie fertig waren, und liefen mit knirschenden Schritten über den gefrorenen Boden. Alice und Mary beobachteten sie von der Tür aus.
»Da ist mein Hund«, sagte Alice und zeigte auf ihn. Die Mädchen beobachteten, wie der Hund über den Schnee zu William und Jack hinsprang. Dann blieb er stehen und sie sahen, wie William zum Haus zeigte. »Was sagt er wohl?«, überlegte Alice. »Es ist mein Hund.« »Geh zurück«, sagte William zu dem Hund. »Pass auf die Mädchen auf.« Der Hund jaulte und scharrte mit der Pfote über den Boden. »Tu, was man dir sagt«, sagte William mit strenger Stimme. Dann fügte er hinzu: »Bitte.« Der Hund sprang in die Luft, schlug freudig bellend einen Purzelbaum und lief wie der Blitz über die weiße Wiese hin zur Eingangstür. »Ein Freund von dir?«, wollte Jack wissen, als er das Tier beobachtete. »Ja, ich glaube schon«, antwortete William. Dann hob er eine Hand und winkte seinen Schwestern, die im Türrahmen standen. Er sah, wie Alice sich hinkniete und den Hund in die Arme schloss. »Eigentlich ist er mehr Alice’ Freund«, fügte er hinzu. »Dann komm«, sagte Jack und sah die Wolken grimmig an. »Wir sollten uns in Bewegung setzen.« Noch während er sprach, fielen die ersten dicken Flocken vom Himmel. Der erste Teil des Weges war nicht so schwierig. Es schneite zwar heftig und man konnte kaum etwas sehen, aber das Haus lag ja in einer Talmulde und wurde von Norden her geschützt. Doch als sie aus dem Gatter traten und den ersten Hügel hinaufgingen, konnten sie fühlen, wie der Wind stärker wurde, und als sie oben angekommen waren, traf er sie mit voller Wucht.
Die Schneeflocken wurden fast waagerecht vorangetrieben und fühlten sich auf ihrer Haut wie Nadelstiche an. William schützte seine Augen mit den Händen und spähte in das wirbelnde Schneetreiben. Die Bäume ringsum beugten sich unter dem Wüten des Sturms und große Schneewehen blockierten ihren Weg. Onkel Jack rief etwas, aber seine Worte wurden vom Sturmgeheul weggerissen, so dass William nichts verstand. Jack winkte ihn heran und streckte ihm seine Hand entgegen, an der William sich festhielt. Zusammen kämpften sie sich auf eine Seite des Pfades durch und duckten sich hinter eine Mauer, die ihnen ein wenig Schutz bot. »Das schaffen wir nicht«, keuchte Jack. »Wir müssen!«, sagte William zu ihm. »Aber noch nicht einmal ein Hubschrauber könnte durch diesen Sturm kommen«, brüllte Jack gegen den tobenden Wind. »Es kann nicht ewig dauern«, beharrte William. »Wenn wir die Telefonzelle erreichen, können wir wenigstens jemandem Bescheid geben. Sie kommen dann, wenn sie können. Das ist besser als nichts.« Jack blickte um sich und nickte. »Oben im Wald ist es besser«, sagte er. »Dort liegt weniger Schnee und der Wind ist schwächer.« William ließ seinen Blick zweifelnd über den steilen Hang des Tales schweifen. »Gibt es da oben einen Weg?«, fragte er. »Ich weiß es nicht«, gab Jack zu, »aber es ist unsere einzige Chance. Die Schneewehen auf der Straße sind zu hoch, da kommen wir nicht durch. Komm.« Er streckte seine Hand
aus und zog William auf die Füße. »Schließlich wolltest du, dass wir es wenigstens versuchen.« Jack ging über das schmale, ansteigende Feld voraus. Der Wind zerrte so stark an ihnen, dass sie sich gegen ihn lehnen mussten. Dann erreichten sie den Wald. Die Äste krachten und brachen im Sturm, aber es lag dort wenigstens weniger Schnee. Und obwohl es unter den Bäumen düsterer war, konnten sie besser sehen, weil der Schnee ihnen nicht ins Gesicht getrieben wurde. Die Böschung stieg jedoch sehr steil an und sie mussten langsam gehen. »Wenn wir nur irgendeinen Weg finden könnten«, brummte Jack. In dem Moment sah William weiter oben etwas Rotes unter den Bäumen aufblitzen und einen Augenblick später kam der Fuchs aus der Deckung und starrte zu ihnen hinunter. Sein Atem dampfte in der frostigen Luft. »Der Fuchs«, rief William aufgeregt. »Wo?«, fragte Onkel Jack. Aber bevor er einen Blick auf ihn werfen konnte, war der Fuchs wieder zwischen den Bäumen verschwunden. William runzelte die Stirn. Er war sicher, dass der Fuchs ihm irgendetwas mitteilen wollte. Aber was? »Was willst du?«, wisperte eine Stimme, die ihm bekannt vorkam, in seinem Kopf. »Einen Weg«, wisperte William zurück, und als ihm dieser Gedanke kam, spürte er, dass der Fuchs ihm den Weg zeigte. »Komm mit, Onkel Jack«, sagte er aufgeregt. »Weiter oben gibt es einen Weg.« Und schon begann er die steile Böschung in die Richtung hinaufzuklettern, die der Fuchs genommen hatte.
Es war kein breiter Weg, nur ein schmaler Pfad, der sich durch die hohen Fichten den Hügel entlangschlängelte, aber er machte das Gehen für Jack und William leichter. Sie konnten sogar ihr Tempo beschleunigen und rannten schon fast über den holprigen Boden. Das Licht schimmerte nur schwach durch den Wald und das Tosen des Sturms wurde von den riesigen Bäumen abgefangen, die über ihnen emporragten. Zum zweiten Mal fühlte William sich in einem seltsamen Schwebezustand zwischen zwei Welten, ohne wirklich zu einer von ihnen zu gehören. Er spähte in der Düsternis nach irgendeiner Spur des Fuchses, aber er schien verschwunden zu sein. Das tat ihm Leid. Er wusste nun, dass der Fuchs sein Freund war. Schließlich hatte der Magier gesagt, der Fuchs sei ein Freund von ihm, und der Magier wollte, dass sie ihm halfen. Also war ein Freund des Magiers zweifellos auch ihr Freund. Diese plötzliche Erinnerung an den Magier ließ ihn abrupt stehen bleiben. Womöglich, dachte er, womöglich gehörten die schrecklichen Dinge, die sie erlebten – Phoebe kurz vor der Niederkunft, der tobende Sturm, die Ratte, die die Reifen zerstört hatte –, womöglich gehörten all diese Ereignisse zu dem Test des Magiers. Denn so etwas Ähnliches hatte er ja gesagt: »Ihr müsst erst beweisen, dass ihr den Namen >Constant< auch verdient…« Irgendetwas in der Art hatte er gesagt. Es muss etwas sehr Wichtiges sein, wofür er uns braucht, schloss William daraus. Aber dann wurden seine Grübeleien unterbrochen, denn vor sich auf dem Weg sah er Jack stolpern und ungünstig auf den Boden stürzen. William konnte gerade noch verhindern, dass er selbst über eine große Baumwurzel stolperte, die breit über den Weg gewachsen war. Darüber war Jack gefallen. »Onkel Jack«, rief er, wich der Wurzel aus und rannte zu Jack, der schwer atmend mit dem Gesicht auf dem Boden lag. »Bist du in Ordnung?«, fragte er. Er kniete sich neben ihn und versuchte seine Schultern anzuheben.
»Nicht sehr«, stöhnte Jack. »Mir ist es schon besser gegangen.« Dann schrie er auf vor Schmerz. »Was tut dir weh?«, fragte William. »Das Bein«, sagte Jack grimmig. Er zog sich hoch und setzte sich hin. Mit der Hand befühlte er sein Bein unterhalb des Knies. »Mist!«, sagte er. »Ich glaube, es ist gebrochen. Ausgerechnet jetzt muss ich… Ich kann mich nicht bewegen, William. Aber ich muss… Kannst du mir einen Stock holen…« Dann schrie er wieder auf. »Du kannst nicht laufen, Onkel Jack. Das tut dir zu weh.« »Ich kann aber auch nicht hier bleiben, oder?« »Lass mich allein weitergehen«, sagte William. »Wenn ich zur Telefonzelle durchkomme, erzähle ich der Polizei, was passiert ist, und dann komme ich wieder hierher.« »Das schaffst du nie allein«, stöhnte Jack. »Doch, ich schaffe es«, sagte William fest. »Wenn ich muss, dann kann ich es.« Er sprang auf und lief den Pfad hinunter. Jack lehnte sich gegen einen Baumstamm. William hörte zuerst das schwere Atmen. Es war wie ein Keuchen. Er blickte nach rechts und meinte die rote Gestalt des Fuchses zu sehen, der zwischen den Bäumen neben ihm herlief. Aber dann merkte er einen Moment später, dass das Keuchen aus seinem eigenen offenen Mund kam und dass seine Zunge heraushing. Er sah an sich hinunter und entdeckte eine rote Pfote, die direkt unter ihm auf dem Schnee aufsetzte. Dann sah er auch die zweite Pfote. Er blickte sich um und sah seinen glänzenden, roten Körper in voller Länge mit dem buschigen Schwanz, der wegen des schnellen Tempos waagerecht nach hinten abstand. Er senkte seine Nase auf den Boden und schnüffelte. Kaninchen und Dachs konnte er
riechen und dann den strengen Geruch von Rehen. Er blickte auf, spitzte die Ohren und schnupperte in die bitterkalte Luft. Er wandte sich nach links, weg vom Weg, und jagte den fast senkrecht abfallenden Hügel hinab, immer durch die Baumstämme hindurch. Der Schneegeruch wurde stärker und das Geräusch des Sturmes auch. Einen Augenblick später tauchte er aus der Deckung der Bäume auf und stand leuchtend rot und keuchend in der wirbelnden, grauweißen Welt des Sturms. Vom steilen Abhang des Hügels aus konnte er tief unten mehrere Felder weiter das Rot der Telefonzelle sehen. Er hob den Kopf und reckte sich, so dass er die Schultermuskeln an seinen Vorderbeinen ziehen fühlte. Dann füllte er seine Lungen mit der eiskalten Luft und bellte den Wind an. Was für ein überraschender Ton, dachte William. So laut und durchdringend. Dann schoss er den Hügel hinunter, wobei seine Füße kaum den Schnee berührten. Vor ihm verstellte eine graue Mauer den Weg. William sammelte alle seine Kräfte und sprang mit Hilfe der Muskeln in seinen Hinterbeinen ohne zu zögern über die Mauer. Dreimal musste er über Mauern springen. Er hatte gar nicht vermutet, dass es sich wie Fliegen anfühlte. Dann, genauso plötzlich, stand William vor der Telefonzelle in dem wütenden Sturm und in einiger Entfernung keuchte und streckte sich der Fuchs im Schutz von ein paar Büschen. Ohne über das seltsame, zauberhafte Ereignis weiter nachzudenken, das gerade stattgefunden hatte, stemmte William die Tür zur Telefonzelle auf und nahm den Hörer ab.
Er zog die Handschuhe aus, rieb die kalten Hände warm und steckte den Zeigefinger in die altmodische Wählscheibe. »Notruf?«, sprach eine Stimme in sein Ohr. »Können wir Ihnen helfen?«
20 Spot Mary beobachtete, wie William und Jack in der Düsternis verschwanden. Plötzlich fühlte sie sich niedergeschlagen. Immer durfte William alle Abenteuer bestehen. Alice kniete zu ihren Füßen und machte viel Wirbel um den Hund. »Ach Mary, er ist so toll«, rief sie und sah zu ihr auf. »Streichel ihn doch auch mal, wenn du willst.« Sie benahm sich, dachte Mary, als gehöre der Hund schon ihr. Und, um fair zu sein, auch der Hund schien Alice als seine lebenslange Freundin auserkoren zu haben. Er saß vor ihr, klopfte mit seinem Schwanz auf die Steine im Eingang und sah ganz hingebungsvoll zu ihr auf. »Wie sollen wir ihn nennen?«, fragte Alice. Sie hielt seinen Kopf in beiden Händen und ließ sich ausgiebig durchs Gesicht lecken. »Ich weiß nicht, ob er das tun sollte«, sagte Mary schaudernd. »Hunde fressen alles mögliche Zeug und jede Menge schreckliche Sachen.« »Mir egal«, erwiderte Alice muffelig. »Bis mir was Besseres einfällt, werde ich dich >Spot< nennen, wegen des weißen Flecks auf deinem Gesicht«, sagte sie zu ihrem neuen Freund. »O Alice!«, rief Mary aus. »Das ist nicht sehr einfallsreich! >Spot
Kälte draußen herumstreunen lassen. Ob wir ihn wohl mit reinnehmen können?« »Mach, was du willst«, sagte Mary, drehte sich um und ging zurück in die Halle. »Ich habe damit nichts zu tun. Es ist nicht mein Hund.« Sie ärgerte sich über sich selbst, weil sie so mürrisch war, aber sie konnte nicht anders. Manchmal kamen solche Launen über sie und sie konnte nichts dagegen tun. Wenn sie sich so fühlte, hasste sie jeden einschließlich sich selbst und wollte dann eigentlich nur noch in die nächste Ecke kriechen, wo niemand sie sehen konnte, und sich ausweinen. Das Feuer im Kamin war heruntergebrannt. Mary ging zu dem Holzstapel auf der einen Seite des Kamins und hob ein Scheit hoch. Es war furchtbar schwer und sie musste es mit beiden Händen fassen. Sie ging wieder hinüber zum Kamin und ließ das Scheit in die Glut fallen. Sofort züngelten kleine Flammen daran hoch. Sie legte noch ein paar Holzscheite mehr darauf, so dass sie eine Pyramide um die Glut in der Mitte bildeten. Dann kniete sie sich auf den Kaminvorleger und beobachtete, wie die Flammen größer wurden und das Feuer wieder aufloderte. Die Tür war immer noch offen und draußen im Eingang sprach Alice leise mit Spot. »Bleib hier«, sagte sie zu ihm. »Ich bin in einer Minute wieder da. Sitz!« Sie stand auf und ging rückwärts zur Tür. Der Hund blieb sitzen und beobachtete sie schwanzwedelnd. »Mary, sieh mal«, murmelte Alice. »Er ist so gut erzogen.« Dann drehte sie sich um und rannte durch die Halle zur Küche.
Phoebe beugte sich über den Ofen, als Alice hereinkam. »Phoebe«, rief sie aufgeregt, »kann der Hund reinkommen? Bitte! Er ist sehr gut erzogen und er heißt Spot und es ist furchtbar kalt draußen und er wird auch nicht stören…« Während dieses Geschnatters stellte Phoebe eine große ovale Terrine auf den Tisch und nahm den Deckel ab. Der Dampf stieg zu ihrem Gesicht auf und der köstlichste Duft wehte hinüber zu Alice. »Oh«, sagte Alice und unterbrach ihren Redeschwall. »Was ist das?« »Nur olles Gemüse und so Zeug«, sagte Phoebe lächelnd. Dann streckte sie ihren Rücken, griff nach der Tischkante und ihr Gesicht verzog sich vor Schmerz. »Geht es dir gut?«, fragte Alice. Als Phoebe nicht antwortete, rannte sie in die Halle und rief: »Mary, kannst du mal kommen?« Mary saß in sehr düsterer Stimmung Kaminvorleger und schien sie kaum zu hören.
auf
dem
»Mary!«, rief Alice lauter. »Ich glaube, Phoebe kann es nicht mehr lange aushalten.« »Was?«, sagte Mary verärgert, weil sie gestört wurde. »Wovon redest du, Alice?« »Irgendetwas stimmt mit Phoebe nicht«, keuchte sie, immer noch im Türrahmen, und blickte zurück in die Küche. Mary stand schnell auf und lief zu ihr. »Alles in Ordnung, Phoebe?«, fragte sie. Phoebe drehte sich halb zu ihr um, hob eine Hand vom Tisch, als wollte sie winken, dann kippte sie im Zeitlupentempo nach hinten um.
»Phoebe!«, schrie Mary und rannte zu ihr. »Alice, schnell, sie fällt hin.« Die beiden Mädchen sprangen auf Phoebe zu und fassten sie fest unter den Armen, um sie aufrecht zu halten. »Wo sollen wir dich hinbringen?«, fragte Mary. »In die Halle«, flüsterte Phoebe. »Bringt mich bitte nur zum Feuer.« Sehr vorsichtig halfen sie ihr aus der Küche hinaus und durch die Halle zum Kaminvorleger vor dem Feuer. Sie ließen sie sanft hinuntergleiten, und während Spot sie beschnüffelte und ihr die Hand leckte, machte sie es sich auf dem Boden so bequem wie möglich. »Solltest du nicht ins Bett gehen?«, fragte Mary sie unsicher. Spot, der neben ihr saß, sah über seine Schulter auf die vielen Stufen der Treppe. »Nein«, sagte Phoebe zu ihr, »Spot hat Recht. Hier vor dem Feuer geht es mir besser. Das Schlafzimmer ist kalt und… sollte etwas passieren, ist es hier einfacher.« »Was kann denn passieren?«, fragte Mary und fürchtete sich vor der Antwort. »Naja, mit ein bisschen Glück werde ich wohl ein Baby bekommen!«, antwortete Phoebe mit einem zarten Lächeln. »Hilfst du mir dabei, Mary?« Mary schluckte und fühlte, wie ihre Wangen heiß wurden. »Ich weiß doch gar nicht, was ich tun muss«, sagte sie und wischte sich mit einer nervösen Geste die Haare aus dem Gesicht. »Ich denke, das werden wir zwei schon herausbekommen«, sagte Phoebe. Dann blickte sie zur
Eingangstür, die noch angelehnt war und eiskalte Luft hereinließ. »Ich vermute, Jack und William sind jetzt schon weit weg?«, sagte sie. Alice stand auf, ging zur Türe und sah hinaus. »Ich kann sie nicht sehen«, sagte sie. »Und es fängt wieder an zu schneien.« »Sollen wir sie holen gehen?«, fragte Mary eifrig. Irgendwie wollte sie viel lieber hinaus in den Sturm gehen als bei einer Geburt helfen. »Nein«, antwortete Phoebe mit angespannter Stimme. »Ich brauche dich hier.« »Au wei«, wisperte Alice. »Heißt das, du kannst es nicht mehr weiter halten, Phoebe?« »Ich versuche es«, sagte Phoebe mit einem halbherzigen Lächeln. »Mach die Tür zu, Alice. Es ist kalt, wenn sie offen ist.« »Sollen wir dir Bettzeug holen?« Mary war plötzlich einfallsreich. »Bettlaken und Kissen?« »Ja, das ist eine gute Idee«, sagte Phoebe dankbar. »Ich glaube nicht, dass ich eine Matratze tragen kann.« »Nein, nur ein paar Kissen. Und Bettlaken und das Federbett.« »Und Wärmflaschen?«, schlug Alice vor. »Ja bitte. Aber zuerst das Bettzeug. Und Mary«, rief sie, als die beiden Mädchen zur Treppe rannten. »Bring mein Nachthemd mit. Du musst mir beim Ausziehen helfen.« »Okay«, sagte Mary und polterte mit Alice die Treppe hinauf zur Galerie.
Als sie zu Phoebes Schlafzimmertür gingen, schlüpfte die graue Silhouette der Ratte von ihrem Aussichtspunkt am Geländer weg. »Hast du das gesehen?«, wisperte Alice, als sie ins Schlafzimmer gingen. Mary nickte mit dem Kopf. »Ist schon in Ordnung, Alice«, sagte sie. »Wenn die Ratte wirklich der verzauberte Magier ist, dann will er uns wohl nur helfen.« Aber Alice hatte ihre Zweifel. Sie konnte einfach nicht an eine hilfreiche Ratte glauben. Sie machten es Phoebe vor dem Feuer so bequem wie möglich. Die Wehen kamen jetzt immer häufiger und Mary vermutete, dass dies ein Zeichen dafür war, dass die Geburt näher rückte. Aber Phoebe versuchte sie zu beruhigen. Sie sagte ihnen, sie sollten etwas Suppe essen, aber sie selbst wollte nichts. Sie schlug auch vor, heißes Wasser bereit zu halten. »Um das Baby zu waschen«, erklärte sie. »Und wir brauchen viele Handtücher. Ich denke, ich werde etwas ins Schwitzen kommen. Ein Baby zu bekommen ist anstrengend.« Alice und Mary setzten sich neben sie auf den Kaminvorleger und aßen die dampfende Suppe. Spot saß auf der anderen Seite neben Phoebe und fraß Haferflocken mit ein wenig warmer Suppe. »Wir müssen ihm richtiges Futter kaufen«, sagte Phoebe. Armer Spot, dachte Alice. Er muss auch Wegelagerer werden und immer Gemüse essen. Aber sie sagte nichts, weil sie Phoebe nicht aufregen wollte. Immer wieder sah Spot auf, spitzte die Ohren und schnupperte in die Luft. Ein- oder zweimal musste er sogar lange und tief knurren.
»Was ist los?«, fragte Alice ihn dann und er setzte sich auf seine Hinterbeine und sah zur Galerie hoch. »Er kann etwas hören oder spüren«, sagte Phoebe einmal mit schwacher Stimme. Dann hielt sie auch den Kopf hoch und horchte angestrengt. Das Geräusch der Rattenkrallen, die über die Galerie kratzten, war deutlich zu hören. »Die Ratte«, sagte Phoebe mit angstvollen Augen. Spot setzte sich bellend auf. Dann trottete er zum Fuß der Treppe, blickte hinauf, horchte aufmerksam und knurrte. »Nein. Nein, ist schon in Ordnung, Spot«, sagte Mary und lief zu ihm. »Die Ratte ist ein Freund«, flüsterte sie in sein Ohr. »Sie ist der Magier.« Aber Spot hörte nicht auf tief zu knurren, und obwohl er ihre Hand leckte, wollte er nicht zum Feuer zurück, sondern blieb am Fuß der Treppe und starrte zum Flur hinauf. Alle Nackenhaare standen hoch, während seine Augen die Dunkelheit erforschten und seine Nase die mögliche Gefahr witterte. Je später es wurde, desto stärker blies der Wind draußen, bis er nur so um das Haus heulte und stöhnte. Die Halle war nur schwach beleuchtet, aber das Feuer brannte hell. Jack hatte vorher glücklicherweise eine ganze Ladung Holz hereingebracht, so dass die Mädchen immer nachlegen konnten, wenn es nötig war. Phoebe fiel in einen fiebrigen Schlaf. Sie schwitzte stark, fror aber gleichzeitig auch. Mary tupfte ihr von Zeit zu Zeit mit einem feuchten Handtuch über die Stirn und Alice hielt ihre Hand. »Ich glaube nicht, dass sie eine Hexe ist«, sagte sie zu Mary. »Oder wenn sie eine ist, dann eine gute – wie die kleine,
runde Hexe mit den blonden Haaren im Zauberer von Oz. Aber ich verstehe immer noch nicht, warum sie nicht erst geheiratet haben. Wie soll das Baby denn heißen? Es sollte den Namen seines Vaters haben. Aber sie ist nicht seine Frau, also welchen Namen bekommt das Baby? Ihren oder seinen?« »Das ist jetzt egal, Alice«, sagte Mary. »Wenigstens im Moment. Egal, wie es heißen wird, es ist nur ein Name. So wie du dem Hund den Namen >Spot< gegeben hast. Spot war schon ein Hund, bevor er so hieß, und das Baby wird genauso einfach nur ein Baby sein.« »Ich fände eine Heirat heuchlerisch von mir«, unterbrach Phoebe sie. Sie sprach mit geschlossenen Augen und hörte sich fast an, als spräche sie mit sich selbst. »Ich gehe nicht in die Kirche und ich brauche ganz bestimmt kein Papier, um zu beweisen, dass Jack und ich zusammengehören. Was würde das schon ausmachen? Wir wissen, dass wir zusammengehören. Wir lieben uns. Das ist doch sicher genug?« »Aber…«, wollte Alice gerade einwenden. »Aber was, Alice? Bist du schockiert? Ist es das?«, fragte Phoebe sie, öffnete die Augen und sah sie direkt an. »Das ist doch sehr altmodisch von dir! Siehst du nicht, wie glücklich Jack und ich zusammen sind? Was willst du mehr?« »Aber das Baby, Phoebe«, beharrte Alice. »Es bekommt keinen richtigen Namen.« »Ich dachte, du kämst aus einer vernünftigen Familie, Alice. Natürlich wird es einen Namen haben. Meinen Namen. Taylor.« »Taylor?«, sagte Mary verblüfft. »Aber was ist, wenn es Onkel Jacks Namen haben will? Was dann?«, sagte Alice herausfordernd. »Green ist ein wirklich guter Name, weißt du? Mama hat einmal Green geheißen.«
»Dann kann es doch Jacks Namen annehmen. Um Himmels willen! Mach doch nicht so viele Probleme. Es kann Jacks Namen haben oder meinen oder beide mit einem Bindestrich. Das ist nicht wichtig, Alice. Wichtig ist, dass das Kind später lernt, wer es wirklich ist. Du bist nicht nur Alice Constant…« »Bin ich doch. Natürlich bin ich das!« »Nein, du bist noch viel mehr als das. Du hast eine eigene Persönlichkeit.« »Ich bin Alice Constant«, beharrte Alice. »Nun«, antwortete Phoebe erschöpft, »das Baby kann entscheiden, wie es heißen will. Entweder Green oder Taylor…« »Taylor«, wiederholte Mary nachdenklich. Dann klatschte sie in die Hände. »Natürlich«, rief sie. »Ich wette, deine Familie hieß einmal Tyler.« Aber die beiden anderen hörten sie nicht. Phoebe war wieder in einen unruhigen Schlaf gefallen und Alice kniete neben Spot und versuchte ihn zu beruhigen. Er lief rastlos hin und her, knurrte und bellte und kratzte ungeduldig an den Stufen. »Ist ja gut, Spot«, sagte sie zu ihm. »Ich hasse Ratten ja auch. Aber ehrlich, wir glauben, dass diese der Magier ist. Also ist sie wohl ein Freund. Weißt du, wir werden getestet… Es ist alles sehr verwirrend und ich kann vieles nicht verstehen…« »Die Ratte ist nicht der Magier«, knurrte Spots Stimme in Alice’ Kopf. Sie war so überrascht, dass sie nichts mehr sagte. »Also gut«, knurrte die Stimme wieder, aber nur in ihren Gedanken. Sie konnte sie nicht wirklich hören, es war mehr
wie >Hörendenkennatürlichen< Dinge, zu peinlich, um darüber zu sprechen. Deswegen lief sie zum Eingang und suchte nach Spot. »Spot! Spot!«, rief sie und merkte, dass er und der Fuchs verschwunden waren. Dann sah sie ihre Spuren im Schnee, die in Richtung Wald verliefen. »Spot!«, rief sie wieder. »Onkel Jack will dich bei uns im Haus wohnen lassen.« Weit entfernt hörte sie ein Bellen als Antwort, aber sie konnte den Hund nirgendwo entdecken, und weil es jetzt bitterkalt war, ging sie zurück in die Halle und schloss die Tür. Die Kinder halfen Phoebe und Jack die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Mary schüttelte das Bettzeug auf und William brachte Wärmflaschen. Das Baby wurde in seine Wiege neben Phoebes Bett gelegt. Phoebe sagte, sie werde bis zum Morgen allein zurechtkommen und die Kinder sollten in der Küche zu Abend essen und dann ins Bett gehen. »Ihr seid bestimmt alle furchtbar müde«, sagte sie und tatsächlich schnarchte Jack schon leise neben ihr. Mary versicherte ihr, dass sie leicht alleine zurechtkämen, und bald saßen die drei Kinder vor dem Küchenherd und erzählten sich alles, was passiert war, seit Jack und William sich auf den Weg zur Telefonzelle gemacht hatten. Als jeder seine Geschichte erzählt hatte, schwiegen sie und starrten in die letzte Glut des Feuers. »Was für ein Weihnachtsfest!«, sagte Mary schließlich. »Weißt du noch, wie Onkel Jack gesagt hat, es soll ein Tag werden, an den wir uns immer erinnern?« »Ach stimmt ja!«, sagte Alice und fing an zu kichern.
»Was hat die Ratte wohl gemeint?«, fragte William. »Sag uns noch mal, was sie gesagt hat, Alice.« Alice zuckte mit den Schultern und baumelte mit den Beinen. Es war schön, wenigstens einmal der Mittelpunkt zu sein. »Sie sagte, dass sie zu einem Magier gehört, aber nicht zu unserem.« »O nein!«, stöhnte William. »Nicht zwei Magier!« »Wisst ihr, was ich glaube?«, sagte Mary nach einer Weile. »Ich glaube, die Ratte wollte verhindern, dass das Baby geboren wird.« »Aber – warum?«, fragte Alice. Mary zuckte mit den Schultern. »Zweimal musste die Eule sie während der Geburt verjagen.« »Hab ich’s euch nicht gesagt?«, sagte Alice selbstgefällig. Sie freute sich wirklich, dass sie Recht gehabt hatte. »Ich habe einer Ratte noch nie über den Weg getraut.« »Die Ratte hat die Reifen zerstört«, sagte William. »Ich nehme an, damit wir keine Hilfe holen konnten.« »Es sei denn«, überlegte Mary, »es sei denn, das war alles ein Teil der Prüfung. Die der Magier mit uns machen wollte.« »Nein«, protestierte Alice. »Spot fragte sie nach der Parole und sie wusste sie nicht. Diese Ratte hat nichts mit unserem Magier zu tun, da bin ich mir sicher.« »Was für eine Parole?«, fragte William neugierig. Alice zuckte mit den Schultern. »Weiß ich nicht«, sagte sie. »Ich werde Spot fragen. Ach, es war so schön, in dem Hund zu sein. Findest du nicht auch, Will? Warst du gerne im Fuchs?«
»Ich verstehe nicht, wie wir das überhaupt konnten«, sagte William trotzig. »Ich glaube, es war eine Art Traum oder so. Wie soll man das sonst erklären?« Alice stöhnte. William war manchmal so dumm. »Wir müssen es nicht erklären. Warum sollten wir? Es ist einfach passiert. Ich konnte Gerüche aufnehmen und wir liefen durch den Schnee mit der Nase so nah am Boden, dass der Schnee in die Nasenlöcher kam und wir niesen mussten.« »Und ich hätte fast ein rohes Huhn gegessen«, sagte William. »Hör auf, William!«, rief Mary aus. »Wieso denn das?« »Der Fuchs hatte Hunger«, sagte William. »Igitt! Wie widerlich.« Alice verzog das Gesicht vor Ekel. »Da wird man ja freiwillig zum Wegelagerer und isst nur noch Gemüse!« »Ihr habt Glück«, seufzte Mary. »Ich durfte in niemanden hineinschlüpfen!« »Aber du hast bei der Geburt geholfen«, sagte Alice zu ihr. »Du hattest die wichtigste Aufgabe.« »Hättest du es vielleicht tun wollen?«, fragte Mary ziemlich spitz. »Nicht unbedingt«, musste Alice zugeben. »Siehst du. Ihr zwei bekommt so viel Zauberei, wie ihr nur wollt, und ich muss zu Hause bleiben. Typisch!«, sagte Mary schmollend. Sie schwiegen für eine Weile und jeder durchlebte noch einmal in Gedanken die Ereignisse. »Die Eule hat gesagt, der Magier wird wütend sein«, sagte Mary wie zu sich selbst.
»Worüber?«, fragte William. »Das Baby. Weil es ein Mädchen ist«, erklärte Mary ihm. Alice nickte. »Spot sagt, der Magier kann sich nicht mit Frauen aufhalten«, sagte sie und nahm sich noch eins von Phoebes Pfefferminztörtchen. »Warum nicht?«, fragte William. »Weil er wohl ein männlicher Dingsda ist«, sagte Mary. »Du weißt schon, diese komischen Typen.« »Ein Macho«, erklärte William ernsthaft. »Was ist das?«, fragte Alice. »Das sind die Männer, gegen die Frauen kämpfen müssen«, sagte Mary wichtig. »Wie, gegen sie kämpfen?«, fragte Alice mit erstaunter Miene. »Müssen wir das alle?« »Es sind diese männlichen Dingsda-Typen, die Frauen nicht gleichberechtigt behandeln wollen«, erklärte Mary ihr. »Gleichberechtigt womit?«, fragte Alice. »Gleichberechtigt geduldig.
mit
Männern«,
antwortete
Mary
»Pah!«, rief Alice. »Aber das ist doch doof. Natürlich sind Frauen nicht wie Männer. Ich wäre viel lieber ein Mann. Die haben es doch viel besser. Eigentlich sollte ich wohl ein Mann werden, da bin ich mir sicher, sie haben mich nur im Krankenhaus verwechselt.« »Ach, sei doch nicht so blöd«, sagte Mary und verlor die Nerven. »Jetzt haltet beide die Klappe«, unterbrach William sie. »Ich muss nachdenken.«
»Siehst du?«, brummelte Mary. »Das ist typisch männliches Verhalten.« »Okay«, sagte William und beachtete sie gar nicht. »Ich denke, wir sollten zum Magier gehen.« »Jetzt?«, sagte Mary. »Warum nicht?«, fragte William sie. »Ich kann nicht schlafen, solange ich nicht alles über die Ratte weiß.« »O William«, wisperte Alice. »Ist das Baby vor der Ratte sicher?« »Ich weiß es nicht«, antwortete William. »Das müssen wir den Magier fragen.« Sie liefen aus der Küche in die Halle. Das Feuer war zu schwacher, glühender Asche zusammengefallen und die Kerzen am Weihnachtsbaum waren erloschen und qualmten nur noch. »Es sieht aus wie nach einem Fest«, sagte Mary traurig. »Dabei haben wir gar nicht richtig Weihnachten gefeiert.« »Und gar nichts Richtiges zu essen bekommen«, beklagte sich Alice, was aber eigentlich nicht stimmte. Sie hatte gerade zwei große Teller Eintopf verspeist und eine riesige Menge Pfefferminztörtchen, und genau das sagte William ihr auch. »Aber das zählt nicht. An Weihnachten muss man zu viel essen. Richtiges Essen: Truthahn mit Füllung und Plumpudding und Biskuittorte und kleine Würstchen und Rosenkohl – den kann man ja liegen lassen, wenn man ihn nicht mag, und ich mag ihn nicht – und wie heißt das rosa Zeug, Mary? Räucherlachs, wenn diese Verwandten aus Schottland welchen schicken, und…« »Ach, halt die Klappe, Alice«, sagte William, ernsthaft darum bemüht, sie zum Schweigen zu bringen. Diese Litanei
konnte noch stundenlang weitergehen, und wenn Alice einmal in Fahrt kam, war das sogar sehr wahrscheinlich. Sie durchquerten die Halle und traten vor den warm und süß nach rauchigem Holz duftenden Kamin. Der Aufstieg zum Geheimzimmer verlief überraschend ereignislos. Weil die Kinder die Treppe schon kannten, war das Ganze irgendwie nicht mehr so geheimnisvoll. Wie eine Abkürzung oder ein kleiner Waldweg einem schnell vertraut wird, so stiegen sie jetzt nacheinander zur Tür hinauf, gingen hindurch und wussten, dass der Metallring an der Wand sie von innen wieder öffnen würde. Nur Alice zögerte für einen Moment, als sie sich an die Ratten erinnerte. »Sie sind nicht hier, oder?«, fragte sie William flüsternd, der vor ihr ging. »Nein«, versicherte er ihr. Dann sickerte das silbrige Licht von oben auf die Treppe hinunter und schließlich traten sie atemlos keuchend in den Raum. Einer der beiden Fensterspiegel reflektierte das Mondlicht, so dass der Raum von seinen schwachen Strahlen erfüllt war. »Hallo?«, rief William. Aber er bekam keine Antwort. Enttäuscht wanderten die drei Kinder durch den Raum und waren überrascht, wie leer und staubig er war. »Aber…«, sagte Mary verwirrt. »Ich dachte, er stünde voller Möbel und anderer Sachen. Ich weiß genau, dass hier ein Tisch war und ein Stuhl und…«
»Bücher«, sagte Alice traurig. »Hier waren überall Bücher, wie in Miss Attertons Arbeitszimmer in der Schule. O Will, was ist nur passiert?« William wusste die Antwort darauf genauso wenig wie sie und war ebenfalls enttäuscht. »Es ist so, als ob nie etwas gewesen wäre«, sagte er. »Als ob wir alles nur geträumt hätten.« »Haben wir aber nicht«, protestierte Mary. »Das weiß ich genau.« »Und wohin sind dann die Sachen verschwunden?«, wollte William wissen. Alice untersuchte die dunklen Ecken, weil sie hoffte, einen Hinweis darauf zu finden, was geschehen war, und schrie plötzlich überrascht auf. »Was ist los?«, fragten William und Mary gleichzeitig und liefen zu ihr. »Seht mal hier!«, rief ihre Schwester. Sie zeigte auf einen runden Spiegel mit einem dunklen Holzrahmen, der an der Wand hing. »Ist doch bloß ein Spiegelglas, Alice«, sagte William und war selbst erstaunt, dass er ein so altmodisches Wort benutzte. Warum nicht einfach >Spiegel