LORENZ OBERLINNER . DIE PASTORALBRIEFE .
HERDERS THEOLOGISCHER KOMMENTAR ZUM NEUEN TESTAMENT Begründet von Alfons Wike...
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LORENZ OBERLINNER . DIE PASTORALBRIEFE .
HERDERS THEOLOGISCHER KOMMENTAR ZUM NEUEN TESTAMENT Begründet von Alfons Wikenhauser t fortgeführt von Anton Vögtle t und Rudolf Schnackenburg Herausgegeben von Joachim Gnilka und Lorenz Oberlinner
BANDXII2
DIE PASTORALBRIEFE Dritte Folge: Kommentar zum Titusbrief
HERD ER FREIBURG . BASEL· WIEN
DIE PASTORALBRIEFE DRITTE FOLGE
KOMMENTAR ZUM TITUSBRIEF
Auslegung von Lorenz Oberlinner Professor für neutestamentliche Exegese an der Universität Freiburg i. Br.
HERD ER FREIBURG . BASEL· WIEN
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Herders theologischer Kommentar zum Neuen Testament I begr. von Alfred Wikenhauser. Fortgef. von Anton Vögtle und Rudolf Schnackenburg. Hrsg. von Joachim Gnilka und Lorenz Oberlinner. - Freiburg im Breisgau ; Basel; Wien: Herder.
NE: Wikenhauser, Alfred [BegL]; Vögtle, Anton [Hrsg.]; Gnilka, Joachim [Hrsg.] Bd. 11,2. Oberlinner, Lorenz: Die Pastoralbriefe. - 1996. Oberlinner, Lorenz: Die Pastoralbriefe: Titusbrief I Auslegung von LOTenz Oberlinner. - Freiburg im Breisgau ; Basel; Wien: Herder, 1996. (Herders theologischer Kommentar zum Neuen Testament; Bd. 11,2) ISBN 3-451-26114-6
Alle Rechte vorbehalten - Printed in Germany © Verlag Herder Freiburg im Breisgau 1996 Satz: SatzWeise, Trier Druck und Bindung: Freiburger Graphische Betriebe 1996 Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem Papier ISBN 3-451-26114-6
INHALT
Vorwort . . . . . . . Texte und Literatur
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TITUSBRIEF 1. Die Grußzuschrift (1,1-4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Die Aufgabe des Titus auf Kreta: Einsetzung von Presbytern (1,5-9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Urteil über die Widersacher (1,10-16) . . . . . . . . . . Exkurs: Die Irrlehrer in den Gemeinden der Pastoralbriefe . . Exkurs: Gemeinde, Amt und Kirche nach den Pastoralbriefen 4. Die Aufgabe des Gemeindeleiters: Anweisungen für die verschiedenen Gruppen in den Gemeinden (2,1-10) . . . . . .. 5. Die heilsgeschichtliche Begründung für das Leben der christlichen Gemeinde (2,11-15) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Die Christologie der Pastoralbriefe . . . . . . . . . . .. 6. Die Berufung der christlichen Gemeinde für die Welt (3,1-7) 7. Letzte Bekräftigung der Autorität des Vorstehers für den rechten Glauben der Gemeinde (3,8-11) . . . . . 8. Persönliche Aufträge und Schlußgruß (3,12-15) . Rückfragen zur Auslegung der Pastoralbriefe . . . .
1 16 31 52 74 101 125 143 160 180 193 203
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VORWORT
Wie schon im Vorwort zur Auslegung von 1 Tim ausgeführt, hat sich der Plan, die Kommentierung der Pastoralbriefe in einem einzigen Band vorzulegen, aus verschiedenen Gründen nicht verwirklichen lassen. Die Aufteilung in drei Teilbände kann aber auch so interpretiert werden, daß auf diese Weise dem literarischen Verfahren des Verfassers entsprochen wird. Allerdings sind sowohl die Probleme als auch die "Antworten" des Pseudo-Paulus im Tit dieselben wie in 1 Tim und 2 Tim. Die gemeinsame Grundstruktur in der Thematik ermöglicht es auch, in den drei in diesem letzten Band eingefügten Exkursen die beiden Tim-Briefe zusammen mit Tit als vom Verfasser, wie schon in der Einleitung zu 1 Tim ausgeführt, konzipierte Einheit zu betrachten Zu den Exkursen ist vorweg zu sagen, daß sie von Leserinnen und Lesern je nach Erwartung unterschiedlich beurteilt werden können. Den einen werden sie als zu lang erscheinen, weil über die Past hinaus einige Querverbindungen in die neutestamentliche Literatur hergestellt werden; für andere wird genau dieser Punkt Anlaß zu Kritik sein, weil - etwa beim Exkurs zur Christologie - der Blick auf das Gesamte der neutestan;tentlichen Verkündigung, insbesondere auf Paulus, zu knapp ausgefallen ist, oder weil- beim Exkurs zu Gemeinde, Amt und Kirche - die Mitberücksichtigung der in etwa zeitgleichen Schriften der "Apostolischen Väter", insbesondere der IgnatiusBriefe, fehlt. Beim letztgenannten Themenbereich frühchristlicher Gemeindeorganisation wäre die Miteinbeziehung dieser Quellen aber nur sinnvoll, wenn sie ebenfalls in ihrer geschichtlichen Einordnung genauer bestimmt würden. Das jedoch hätte den Rahmen dieses Werkes gesprengt. Für tatkräftige Mithilfe bei der Fertigstellung des Bandes habe ich erneut meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu danken, Herrn Dr. Gerd Häfner, Frau Dr. Carola Diebold-Scheuermann, Frau Dipl.Theol. Barbara Herrmann, Frau cand. theol. Corinna Lienhart, sowie Frau Ingeborg Walter für die engagierte und zuverlässige Manuskripterstellung. Herr Diedrich Steen hat als Lektor im Verlag Herder durch beharrliche Geduld und durch organisatorisches Geschick bei der Drucklegung unentbehrliche Hilfe geleistet. Meine Frau Ruth und unsere Tochter Beate haben durch geduldige VII
Vorwort
und ermutigende Unterstützung durch manches Tal und über Klippen hinweg geholfen; dafür gilt ihnen mein Dank. Konnte der zweite Band meinem verehrten Lehrer Anton Vögtle zur Feier seines 85. Geburtstages am 17. Dezember 1995 gewidmet werden, so bleibt nach seinem Tod am 17. März 1996 ein dankbares Gedenken. Freiburg i. Br., im Oktober 1996
VIII
Lorenz Oberlinner
TEXTE UND LITERATUR
Die im folgenden aufgeführte Literatur ergänzt die Literaturverzeichnisse, die sich in den Bänden H1bK BD. XII2 1. Folge, Kommentar zum 1. Timotheusbrief, und H1bK Bd. XII2 2. Folge, Kommentar zum 2. Timotheusbrief, findet.
A. Quellen Didache. Zwölf-Apostel-Lehre, übers. und eingel. v. G. Schöllgen (FC1) (Freiburg LBr.1991). B Allgemeine Literatur
Beilner, W. - Ernst, M., Unter dem Wort Gottes. Theologie aus dem Neuen Testament (ThaurlWienIMünchen 1993) 799-812. Haubeck, W. - Siebenthal, H. V., Neuer sprachlicher Schlüssel zum griechischen Neuen Testament. Römer bis Offenbarung (Gießen 1994). Klauck, H.-I., Die religiöse Umwelt des Urchristentums, 11: Herrscher- und Kaiserkult, Philosophie, Gnosis (Kohlhammer-Studienbücher Theologie 9,2) (Stuttgart 1996). Metzger, R M., A Textual Commentary on the Greek New Testament (Stuttgart '1994). Stegemann, E. W. - Stegemann, W., Urchristliche Sozialgeschichte. Die Anfänge im Judentum und die Christengemeinden in der mediterranen Welt (Stuttgart 1995). Strecker, G., Theologie des Neuen Testaments, bearb., erg. und hrsg. v. E W. Horn (Berlin 1996) 607-625. Vouga, E, Geschichte des frühen Christentums (UTB 1733) (TübingenJBasel 1994). C. Kommentare Marcheselli-Casale, C., Le Lettere pastorali. Le due lettere a Timoteo e la lettera a Tito (SOCr 15) (Bologna 1995). Towner, Ph. H., 1-2 Timothy & Titus, The IVPNew Testament Commentary Series (Illinois/Leicester 1994).
D. Weitere Untersuchungen Brox, N., Der erste Petrusbrief (EKK XXI) (Zürich/Neukirchen 1979). Bruce, F. E, The Pauline Circle (Exeter 1985).
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Texte und Literatur HeiligenthaI, R., Werke als Zeichen. Untersuchungen zur Bedeutung der menschlichen Taten im Frühjudentum, Neuen Testament und Frühchristentum (WUNT 2.9) (Tübingen 1983). Han, T., Jewish Women in Greco-Roman Palestine. An Inquiry into Image and Status (TSAJ 44) (Tübingen 1995). Läger, K., Die Christologie der Pastoralbriefe (Hamburger Theologische Studien 12) (Münster 1996). Lips, H. V., Art. Ordination. III. Neues Testament: TRE 25 (1995) 340-343. Löning, K., Epiphanie der Menschenfreundlichkeit. Zur Rede von Gott im Kontext städtischer Öffentlichkeit nach den Pastoralbriefen: Und dennoch ist von Gott zu reden. FS H. Vorgrimler, hrsg. v. M. Lutz-Bachmann (Freiburg i. Br. 1994) 107-124. Ders., "Gerechtfertigt durch seine Gnade" (Tit 3,7). Zum Problem der Paulusrezeption in der Soteriologie der Pastoralbriefe: Der lebendige Gott. Studien zur Theologie des Neuen Testaments. FS W. Thüsing, hrsg. v. T. Söding (NTA 31) (Münster 1996) 241-257. Maloney, L. M., The Pastoral Epistles: Searching the Scriptures. Vol. 2: A Feminist Commentary (N ew York 1994) 361-380. Merk, 0., Verantwortung im Neuen Testament: E. Würthwein - 0. Merk, Verantwortung (Biblische Konfrontationen) (Stuttgart 1982) 117-183. Porter, S. E., Pauline Authorship and the Pastoral EpistIes: Implications for Canon: Bulletin for Biblical Research 5 (1995) 105-123. Sand, A., "Am Bewährten festhalten". Zur Theologie der Pastoralbriefe: Theologie im Werden. Studien zu den theologischen Konzeptionen im Neuen Testament, hrsg. v. 1. Hainz (Paderbom 1992) 351-376. Schille, G., Das älteste Paulus-Bild. Beobachtungen zur lukanischen und deuteropaulinischen Paulusdarstellung (Berlin 1979) 69-79. Simonsen, H., Christologische Traditionselemente in den Pastoralbriefen: Die paulinische Literatur, hrsg. v. S. Pedersen (Arhus/Göttingen 1980) 51-62. Thatcher, T., The Relational Matrix of the Pastoral Epistles: JETS 38 (1995) 41-45. VögtIe, A., Der JudasbrieflDer 2. Petrusbrief (EKK XXll) (NeukirchenlSolothurn1994).
E. Nachträge zu EinzelsteIlen in 1 Tim und 2 Tim Fowl, S. E., The Story of Christ in the Ethics of Paul. An Analysis of the Function of the Hymnic Material in the Pauline Corpus (JSNT.S 36) (Sheffield 1990) 155194 [zu 1 Tim 3,16b]. Kleinig, 1. W., Scripture and the ExcIusion of Women from the Pastorate: LTJ 29 (1995) 74-81.123-129 [zu 1 Tim 2,11-15]. Low, M., Can Woman Teach? A Consideration of Arguments from Tim. 2:11-15: Trinity Theological Journal 3 (1994) 99-123. Reed, 1. T., To Timothy or Not? A Discourse Analysis of 1 Timothy, in: Biblical Greek Language and Linguistics. Open Questions in Current Research, hrsg. v. S. E. Porter u. D. A. Carson (JSNT.S 80) (Sheffield 1993) 90-118.
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Titusbrief
1. Die GrußzuschriJt (1,1-4) 1,1 Paulus, Knecht Gottes, Apostel aber Jesu Christi gemäß dem
Glauben der Auserwählten Gottes und der Erkenntnis der Wahrheit, die der Frömmigkeit entspricht, 2 in der Hoffnung auf ewiges Leben, welches Gott, der nicht lügt, verheißen hat vor ewigen Zeiten. 3 In den dafür von ihm bestimmten Zeiten aber hat er sein Wort offenbart in der Verkündigung, mit der ich betraut worden bin gemäß dem Auftrag Gottes, unseres Retters: 4 An Titus, das rechtmäßige Kind dem gemeinsamen Glauben nach: Gnade und Friede von Gott, dem Vater, und von Christus Jesus, unserem Retter. I
Wie in den beiden Briefen an Timotheus und in grundsätzlicher Übereinstimmung mit den Präskripten der Paulusbriefe läßt der Verfasser den Apostel einleitend den Adressaten Titus grüßen und ihm den Segenswunsch zusprechen. Im Vergleich zu 1 Tim und 2 Tim ist die Briefeinleitung ausführlicher gestaltet, und zwar sowohl bei der (fiktiven) Selbstvorstellung des Paulus und in der Art und Weise der Bestimmung seiner Autorität, als auch bei der Beschreibung der Aufgabe, die dem Adressaten Titus übertragen wird 1 • Auffällig ist dabei die Übereinstimmung mit dem Präskript des Römerbriefes (Röm 1,1-7), vor allem was die Ausführlichkeit der Beschreibung der Funktion des "Paulus" betrifft. Den wesentlichen Unterschied kann man darin festmachen, daß im Röm-Präskript die Themenangabe EuayyEÄ.wv 8wu durch die Übernahme einer vorgegebenen "christologischen Prädikation" zum Titel "Sohn Gottes" in Röm 1,3f2 weiter entfaltet wird, der Akzent also auf der Christologie liegt', während im Tit-Präskript Dienst, Auserwählung und Beauftragung des Apostels Paulus betont werden, also die personale Be-
Zu den Unterschieden des Präskripts von Tit im Vergleich zu denen von 1 Tim und 2 Tim einerseits und zu den Übereinstimmungen mit den Präskripten des Römerbriefs und des Galaterbriefs andererseits vgl. G. LOHFINK, Theologie 71-79. 2 V gl. D. ZELLER, Der Brief an die Römer (RNT) (Regensburg 1985) 35 f. 3 V gl. F. J. SCHIERSE, Past 147. 1
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Tit 1,1-4
ziehung zwischen dem Apostel und seinem Nachfolger im Vordergrund steht'. In dieser Hinsicht gibt es eine Gemeinsamkeit mit dem Galaterbrief, in welchem Paulus, veranlaßt durch die Auseinandersetzungen um die uneingeschränkte Gültigkeit seines Evangeliums von der Rechtfertigung des Menschen allein aus Glauben, ohne Werke des Gesetzes (vgl. Gal2,16), ebenfalls seine Stellung als von Jesus Christus und von Gott legitimierter Apostel in einer im Vergleich zu den anderen Briefen auffälligen Ausführlichkeit betont (vgl. GaI1,t11f). Eine weitere Übereinstimmung mit dem Gal-Präskript liegt darin, daß so, wie in Gal 1,4 mit dem Bekenntnis zur Selbsthingabe Jesu für unsere Sünden ein zentraler Gedanke des Briefes vorweg thematisiert wird, auch hier im Präskript des Tit soteriologische Begriffe eingeführt werden, die später (vgl. Tit 2,11-14; 3,3-7) weiter entfaltet werdens.
Die Abweichung des Tit-Präskripts gegenüber 1 Tim und 2 Tim ist aber zu bewerten auf der Grundlage der Annahme, daß die Past als zusammengehöriges Briefcorpus konzipiert, verlaßt und auch tradiert worden sind. Die verwendeten Begriffe gehören zum Hauptwortschatz der Past: Glaube (n;lO"tL~) und Frömmigkeit (EÜOEßELa) werden immer wieder genannt als Kennzeichen der Mitglieder der rechtgläubigen Gemeinden bzw. auch derer, die in ihnen verantwortliche Positionen innehaben 6. Mit "Erkenntnis der Wahrheit" (En;i.yvO)OL~ äÄ.TJ8Ela~) wird der rechte Glaube auch in 1 Tim 2,4; 2 Tim 2,25; 3,7 umschrieben. Und der Ausblick auf "ewiges Leben" (vgl. Tit 3,7) bestimmt in 1 Tim 1,16; 6,12 die Zukunftshoffnung. Schließlich gehört der Titel aO)"t~Q zu den Kennzeichen der Past, sowohl für Gott (auch 1 Tim 1,1; 2,3; 4,10; Tit 2,10; 3,4) als auch für Christus Jesus (2 Tim 1,10; Tit 2,13; 3,6) . . Vom Umfang her ist das Tit-Präskript im Vergleich mit 1 Tim und 2 Tim also zwar auffällig; die darin verwendeten Begriffe und die anklingenden Themen haben aber übergreifende, das Briefcorpus insgesamt bestimmende Bedeutung 7 •
Es geht "in der gesamten superscriptio Tit 1,1-3 um den Apostolat des Paulus" (G. LOHFINK, Theologie 73). , Vgl. Y. REDALlE, Paul133-135. • Vgl. zu euoifleLu1 Tim 3,2; 3,16; 4,7.8; 6,3.6; 2 Tim3,5;zu:n:im;~ 1 Tim 1,5; 1,19;2,15; 3,9; 4,6; 4,12; 2 Tim 1,13; 2,22; 3,10.15; Tit 1,13; 2,10; euoifleLll zusammen mit :n:im;L~ noch 1 Tim 6,11. 7 "Die enge Verbindung von Paulus, dem Verkündiger, und seiner Botschaft, dem Evangelium von der Rettung durch Gott in Christus Jesus, sowie bestimmte Stichworte wie etwa EKAE1!:tOL Beo'Ü, E:n:Lyvrom~ aAT)BeLa~, EUoEfleLll, troTt al.cilvLO~ gehören ... zum cantus firmus der christologischen Texte in den Pastoralbriefen" (K. LÄGER, Christologie 92; vgl. 89-92). 4
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Tit 1,1-4
II
1 Bemerkenswert ist die Selbstbezeichnung des (fiktiven) Paulus als "Knecht Gottes". Paulus nennt sich allein (Röm 1,1) und zusammen mit dem Mitabsender Timotheus (Phil1,1) "Knecht(e) Christi Jesu" (vgl. auch Jud 1). Mit der Formel "Knecht Gottes" greift der Autor der Past einen Sprachgebrauch aus der alttestamentlich-jüdischen Überlieferung auf, wo Menschen im Dienst Gottes, wie Mose (Jos 1,1-7; Neh 1,7f; 9,14; Mal 3,22; Ps 105,26), David (Jer 33,2lf; Ez 37, 24f; Ps 78,70), die Propheten (Jer 7,25; Dan 9,10; Am 3,7; Sach 1,6), als "Knecht(e) Gottes" bezeichnet werden und damit sowohl als dem Willeh Gottes ganz unterstellt und zugleich durch diesen legitimiert und bevollmächtigt erscheinen. Diese Tradition wird ebenso im Hintergrund stehen wie das Vorbild der Paulusbriefe.
Der Gedanke der Bevollmächtigung kommt noch stärker zum Ausdruck durch die zweite Kennzeichnung des Paulus: "Apostel Christi Jesu". Darin stimmt die Vorstellung des (fiktiven) Paulus mit den Präskripten von 1 Tim und 2 Tim überein. Zwar lassen sich Unterschiede zwischen den beiden Selbstbezeichnungen "Knecht" und "Apostel" nicht eindeutig festlegen; mit dem Titel "Apostel" ist aber in Anknüpfung an die authentischen Paulusbriefe sicher der Gedanke der Verpflichtung des in der Nachfolge des Paulus stehenden Gemeindeleiters und zugleich dessen vom Apostel kommende Legitimation stärker betont 8 • Von der gleichen Zielsetzung ist die ähnlich lautende, ebenfalls fiktive Selbstvorstellung des "Petrus" in 2 Petr 1,1 bestimmt: "Simeon Petrus, Knecht und Apostel Jesu Christi ... " (in eine andere Richtung geht Jak 1,1: "Jakobus, Gottes und des Herrn Jesus Christus Knecht ... "). Die im Vergleich zu 2 Petr bemerkenswerte Doppelung in Tit 1,1 mag dadurch bedingt sein, daß im Rahmen des Präskripts die Aufgabe des Apostels ebenfalls in einer doppelten Beziehung formuliert ist - zum einen als Beauftragung durch den Retter-Gott (dabei entspricht dem Titel ÖoiiA.o~ 8eoii der Verweis auf die bu'taYll Gottes V 3), zum anderen in der Indienstnahme für die "Verkündigung" des "Wortes", welches die Botschaft von "unserem Retter Christus Jesus" zum Inhalt hat, wobei dem Titel a:7t6O"toA.o~ der Verweis auf das x:r'J(tuYlla V 3 entspricht. Die Funktionsbeschreibung erhält eine Präzisierung in den beiden mit der Präposition xm;u angeschlossenen Bestimmungen (xa'tu :7tLO"tLV ... xat E:7tLYVWOLV ... ). Von der Satzkonstruktion her und in Übereinstimmung mit dem Interesse der Past an der Ausrichtung auf den paulinischen Apostolat legt es sich nahe, darin eine Erläuterung Vgl. auch Y. REDALlE, Paul 137, zu Tit 1,1: "Dans l'apres Paul, la force du titre d'apotre sert a donner vigueur et autorite aus instructions, aus exhortations et aus enseignements transmis." 8
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Tit 1,1-4
zum Aposteltitel zu sehen, die bis V 3 weitergeführt wird 9. Doch diese Auslegung erscheint zu eng. Es soll mit diesen Bestimmungen vielmehr die doppelte Kennzeichnung des "Paulus" als "Knecht" und "Apostel" entfaltet und präzisiert werden. Im Anschluß an die biographischen Abschnitte 1 Tim 1,12-17 und 2 Tim 4,9-18 ist auch bei dieser Selbstvorstellung des "Paulus" an eine weitergehende Ausdeutung seiner heilsgeschichtlichen Stellung in seiner Beziehung zu Gott und zu den Menschen 10 zu denken. Diese seine Bestimmung zeigt sich zum einen in der Indienstnahme als Werkzeug der Verkündigung des Glaubens ll ; sie zeigt sich zum anderen aber auch im gemeinsamen Glauben, der die Gemeinschaft zwischen Apostel und Gemeinde konstituiert 12. Die beiden mit xm;a angeschlossenen Erläuterungen sind Kennzeichen dieser Gemeinschaft. In der Redeweise vom "Glauben der Auserwählten Gottes", in der die Bezeichnung OL EXAEX'tOL (8wu) als eine Art formelhafte Bezeichnung der Christen gelten kann (vgl. Röm 8,33; KoI3,12; ohne 8wu Mk 13,20.22.27; 2 Tim 2,10), wird ein Selbstbewußtsein demonstriert, welches zugleich exklusiven Anspruch ausdrückt. Im Blick auf Paulus und seinen Apostolat und Dienst liegt dabei eine Wechselwirkung vor: Knecht Gottes und Apostel Jesu Christi ist er, insofern er sich aufgrund seines Glaubens zu den "Auserwählten" zählen darf; für die christliche Gemeinde gilt, daß sie diesen Anspruch der Erwählung nur dann erheben darf, wenn sie sich in ihrem Glauben in Übereinstimmung mit dem Apostel Paulus befindet. Die hier gewählte Kennzeichnung des Paulus als Knecht Gottes und Apostel Jesu Christi und die Bezeichnung derer, die aufgrund ihres Glaubens als "Erwählte Gottes" mit ihm zusammengehören, bauen - zumindest indirekt - eine Front auf, vollziehen eine Scheidung und Abgrenzung der "Rechtgläubigen". Noch deutlicher bringt diesen polemischen Unterton die Beschreibung der Eigenschaft der "Auserwählten Gottes" als "Erkenntnis der Wahrheit" zum Ausdruck 13. Die Tendenz der Abgrenzung gegen die Häretiker und gegen deren Anspruch auf YVÖ>OL~, die ebenfalls exklusiven Charakter hat, läßt sich des weiteren begründen anhand des Ge-
, So etwa J. JEREMIAS, Past 68. _ Vgl. auch die Erklärung bei J. D. QUINN, Tit 62: "fi before God he is a slave, before men he is an apostle ... " 11 Vgl. J. FREUNDORFER, Past 291. In dieselbe Richtung geht auch die häufig gewählte Übersetzung von xo'ta mit "im Dienst des Glaubens" (vgl. G. HOLTZ, Past 203f; J. JEREMIAS, Past 68). 12 Vgl. H. v. LIPS, Glaube 32 Anm. 33. 13 Solche polemische Akzentuierung sehen hier auch G. HOLTz, Past 204; N. BROX, Past 279f. 10
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Tit 1,1-4
brauchs der Wendung E:7tLYV(()OL~ &Ä.T]eELa~ in den Past insgesamt 14 • Dies zeigt sich einmal in den beiden Belegen 2 Tim 2,25 und 2 Tim 3,7, wo damit jeweils die Differenz zu den Irrlehrem umschrieben wird (vgl. auch 1 Tim 4,3). "Erkenntnis der Wahrheit" ist gleichbedeutend mit Besitz des rechten Glaubens in der Form, wie er in den Past unter dem Anspruch der paulinischen Legitimation - vorgestellt wird 15. Noch klarer zeigt sich der Stellenwert dieser Wendung in der Einbindung in das fundamentale soteriologische Bekenntnis des Abschnittes 1 Tim 2,3-6. Was dort mit dem Verweis auf "Gott, unseren Retter", und der Beschreibung seines Willens festgehalten wird, daß nämlich "die Erkenntnis der Wahrheit" gleichbedeutend ist mit der Annahme des Glaubenssatzes vom universalen Heilswillen Gottes und dessen Vermittlung durch die Selbsthingabe des Menschen Christus Jesus "als Lösegeld für alle", das geschieht im Kontext des TitPräskripts unter anderem durch die Verknüpfung mit dem Titel U(()'t~Q für Gott und für Christus Jesus (Tit 1,3 f). Erkenntnis der Wahrheit ist wesentlich Annahme des Glaubens an das rettende Handeln Gottes und JesuChristi. Dieser Glaube ist aber immer tätiger, konkret gelebter Glaube, wie die ergänzende Bestimmung xa't' EuueßELav unterstreicht. EuoeßfLU gehört zu den Begriffen, die für die Past kennzeichnend sind und die zugleich ihre Einbindung in Sprache und Denken der hellenistischen Umwelt bezeugen. Im profanen Sprachgebrauch bezeichnet fuoeßfLo "die Achtung von gültigen Werten bzw. Wertordnungen"16. Da diese als von den Göttern geschützt und garantiert gelten, ist der Übergang zu einem religiösen Gebrauch fließend. Mit fuoellELO wird in den Past in einer recht allgemeinen und zugleich grundsätzlichen Weise die "Ehrfurcht vor dem Bereich des Göttlichen" bezeichnet 1', also Frömmigkeit in einem umfassenden Sinn. H. v. Lips stellt fest, daß in fuoeßfLo der "Doppelaspekt der religiösen Erkenntnis und des entsprechenden Thns" enthalten ist 18. Das bedeutet, daß die Akzentuierung jeweils aus dem Kontext zu erschließen ist.
Wenn die "Erkenntnis der Wahrheit" eingebunden wird in "die Frömmigkeit", dann liegt bei letzterem Begriff der Akzent auf der Vgl. dazu auch den Exkurs bei J. D. QUINN, Tit 276-282. Vgl. H. v. LIPs, Glaube 37: "Erkenntnis und Annahme der christlichen Glaubenswahrheit in ihrer traditionell geprägten Fonn". H. v. Lips verweist in diesem Zusammenhang auf Epiktet, in dessen Verwendung von EmYLvwcrxELv (Diss. I 6,42. 9,11. 29,61; IV 8,20) eine Erkenntnis ausgesprochen sei, "die unmittelbare Konsequenzen für den Erkennenden beinhaltet, also mehr als nur konstatierende Erkenntnis ist". Entsprechend gelte auch für E:n:l-YVOJ(J~ in den Past, daß diese Erkenntnis "praktische ,Anerkenntnis' einschließt, also Konsequenzen für die Lebensweise der Christen hat". 16 P. FIEDLER, EWNT II 213. 17 J. ROLOFF, 1 Tim 117. 18 H. v. LIPS, Glaube 83. 14
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Tit 1,1-4
Forderung einer Entsprechung von Glaubenswissen und Lebenspraxis 19. 2 Der Anschluß der Präpositionalwendung bt ' EÄ.:rtl,ÖL to>fj~ aLooVLo'lJ an V 1 ist nicht eindeutig. Da aber weiterhin der Absender "Paulus" sich vorstellt, ist der Hinweis auf die "Hoffnung" als Erläuterung des von "Paulus" erhobenen Anspruches zu interpretieren, welcher insbesondere mit dem Aposteltitel verknüpft ist 20. Allerdings ist nach den in V 1 eingeführten Stichwörtern, die den Apostel in der Gemeinschaft der Gläubigen und in seiner Verantwortung für die Auserwählten zeigten, ein ausschließlicher Bezug auf den Titel "Apostel" nicht zu halten. Wo und wenn es um die Hoffnung auf ewiges Leben geht (vgl. 3,7), da ist die Gemeinschaft der Christen betroffen 21. Es wird das gemeinsame Fundament des Glaubens beschworen. Wenn der Autor den Paulus sprechen läßt von der "Hoffnung auf ewiges Leben", dann ist dies weniger Ausdruck einer "Zukunftsorientierung" , die auf die Parusie Christi Ausschau hält 22 , als vielmehr Kennzeichnung der Gegenwart, die als die Zeit der Bewährung des Glaubens von dieser Hoffnung bestimmt und getragen ist. Diese Hoffnung ist ebenso Merkmal des Glaubens des "Paulus" wie der Mitglieder der von ihm angesprochenen Gemeinden. Eine eschatologische Perspektive, wie sie auch für apokalyptische Texte charakteristisch ist, wird damit nicht ausgeschlossen 23 ; wichtiger für den Autor aber ist es, mit dem Begriff "Hoffnung" die vom Dienst und von der Autorität des Apostels Paulus her bestimmte Gegenwart der christlichen Gemeinden zu kennzeichnen. Weil es diese Hoffnung auf ewiges Leben gibt, deshalb wurde Paulus zur Verkündigung auserwählt (vgl. V 3); und deshalb werden jetzt in der Nachfolge des Paulus über Titus die verantwortlichen Personen in den Gemeinden auf diese ihre Verantwortung hin ermahnt 24 • Im Blick auf den Gegenwartsbezug, der für die Past kennzeichnend ist, läßt sich dies noch verallgemeinern: Die Hoffnung auf ewiges Leben muß in der Gegenwart der christlichen Gemeinden lebendig " vgl. J. ROLoFF, 1 Tim 118. H. v. LIPs, Glaube 85.87, sieht im Vergleich mit nLatt; bei E'Öoi~ELU "mehr das praktisch-verhaltensmäßige Moment im Vordergrund". "nLatt; kennzeichnet das proprium des Christseins überhaupt; EiiaE~I!LU, die neben dem Bezug auf die Glaubenswahrheit zugleich das praktische Verhalten einschließt, dient als Bezeichnung christlicher I,ebensweise." ,. Vgl. B. WEISS, Past 332f; G. WOHLENBERG, Past 223; M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 98f; N. BROX, Past 280; M. WOLTER, Pastoralbriefe 82f; G. W. KNIGHT, Past 283f. 21 Vgl. C. SPIcQ, Past 593; TH. D. LEA - H. P. GRIFFIN, Past 267 f. 22 In diese Richtung geht die Deutung bei N. BROX, Past 280. 23 Vgl. dazu M. WOLTER, Pastoralbriefe 84 f. ,. Vgl. B. WEISS, Past 332f.
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Tit 1,1-4
bleiben und in der Praxis ihres Lebens sich bewähren 25 • "Paulus" ist für die Lebendigkeit und für die Tragfähigkeit dieser Hoffnung
ebenso zuständig wie der von ihm angesprochene Schüler und Nachfolger "Titus"; und gleiches gilt dann auch für die, die "Titus" im Auftrag des "Paulus" in den Gemeinden als Presbyter einsetzen wird (vgl. V 5). Der angeschlossene Relativsatz bestätigt, daß mit der Einführung des Kennzeichens der Hoffnung nicht der Zukunftsaspekt, also der Ausblick auf die noch ausstehende Erfüllung einer Verheißung, im Mittelpunkt steht 26 • Der Relativsatz hat die Funktion, die Gültigkeit dieser Hoffnung auf ewiges Leben zu untermauern; er betont die Zuverlässigkeit dieser Hoffnung aufgrund ihrer Verankerung in Gottes Verheißung. Dreifach wird vom Autor die Berechtigung dieser Hoffnung begründet. Es handelt sich (1) um eine Verheißung Gottes. Das Verbum elt'llyydAa'tO verweist auf ein außerhalb und unabhängig von Fähigkeiten des Menschen gegebenes Fundament, und es wird zugleich die Verwiesenheit christlichen Glaubens auf die nur von Gott her denkbare Initiative betont. Die Verknüpfung von ~(f)ti und eltaYYEAia findet sich auch in 1 Tim 4,8 und 2 Tim 1,1. Es ist auffällig, daß über den oder die Empfänger der Verheißung hier nichts gesagt wird. Aber auch unausgesprochen sind diese zusammen mit dem Apostel und seinem Schüler in den Mitgliedern der christlichen Gemeinden zu sehen, die in der Glaubensgemeinschaft mit "Paulus" .und seinen Nachfolgern stehen - wobei die Bedingungen dieser Kontinuität zu Paulus wiederum von der Gegenwart des Verfassers und den in seiner Zeit aktuellen Problemen und Fragestellungen her bestimmt werden. Der Verzicht auf eine ausdrückliche Nennung der Adressaten läßt den zeit- und raumübergreifenden Charakter dieser Verheißung hervortreten. Die Zuverlässigkeit und Unerschütterlichkeit dieser Verheißung wird (2) betont mit der Beschreibung Gottes als (hjJE'UÖti~. In diesem neutestamentlichen Hapaxlegomenon ist wiederum Einfluß
" H. V. LIPS, Glaube 91-93, sieht eine Übereinstimmung mit Paulus darin, daß auch für die Past das Heil "zukünftig" ist (vgl. 1 Tim 2,15; 2 Tim 2,10; 4,18), "wenngleich proleptisch schon gegenwärtig" (vgl. 2 Tim 1,9; Tit 3,5). Mit Verweis auf Tit 1,2 und 3,7 hält er dann aber daran fest, daß "Gegenstand bzw. Inhalt der Hoffnung ... die im Zusammenhang der 2. Epiphanie realisierte ~!llit al.WvLO~" sei. 26 Bei der vorn Verfasser gewählten Formulierung ist zu beachten, daß gesprochen wird von der "Hoffnung auf ewiges Leben" und nicht nur in absoluter Weise vorn "ewigen Leben". Dies ist m. E. bei M. WOLTER, Pastoralbriefe 83, zu wenig berücksichtigt, wenn er betont, "daß in Tit 1,2f. das Verheißene (ewiges Leben) nicht mit dem jetzt Offenbarten, dem A6yo~ (Secii) identisch ist und seine Erfüllung (anders als dies in Act 13,22f. ausdrücklich gesagt wird) mithin noch aussteht und der eschatologischen Zukunft vorbehalten bleibt".
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aus der hellenistischen (und vor allem auch jüdisch-hellenistischen) Tradition festzustellen 27 • Der Verfasser will damit nicht ein neues Gottesprädikat einführen; diese Eigenschaft Gottes garantiert vielmehr die Wahrheit und Zuverlässigkeit der auf Paulus gründenden und in den Gemeinden als paulinische Tradition weitergegebenen Verkündigung - einer Verkündigung, deren Inhalt eben auch "die Hoffnung auf ewiges Leben" ist. (3) Diese auf die Verheißung des von Trug und Täuschung freien Gottes gegründete Hoffnung gilt als "vor ewigen Zeiten" festgelegt. Diese letzte Bestimmung "vor ewigen Zeiten" darf nicht als eine irgendwie auswertbare konkrete Zeitangabe verstanden werden (etwa in dem Sinn: "vor Generationen"), die einen Zusammenhang mit den alttestamentlichen Verheißungen ermöglichen würde 28 • Auch entspricht es nicht der theologischen Konzeption der Past, wenn man dazu einzelne Stellen des Alten Testaments als Bezugspunkte nenn!". Und es ist schließlich auch nicht zu denken an ein gewissermaßen punktuell vorstellbares Datum der Heilsgeschichte, so daß man davon sprechen könnte, daß Gott in vorweltlicher Ewigkeit die Verheißung des ewigen Lebens gegeben hat., "als er den Erlösungsratschluß feststellte"'". Diese Zeitbestimmung bzw. besser: der Ausschluß einer zeitlichen Festlegung 31 ist Ausdruck der Uberzeugung, daß das von Gott zugesagte ewige Leben von Anfang an keine zeitlich eingrenzbare und damit etwa nur bedingte Gültigkeit hat. Die Bedeutung der Zeitbestimmung JtQo XQovwv ULWVLWV liegt also in der radikalen Zuordnung zu Gott; so wie Gott den Bedingungen von Raum und Zeit enthoben ist, so gilt es auch für die von ihm gegebene Verheißung ewigen Lebens. Mit dieser Form der Begründung der Verheißung in der "Vorzeitlichkeit" hat, worauf M. Wolter aufmerksam macht, eine Verschiebung stattgefunden. Die auch für die frühchristliche Zeit und für das Neue Testament noch bedeutsame Anknüpfung des Stichwortes von der Verheißung an die Geschichte Israels bzw. an das Alte Testament hat an Bedeutung verloren. Der Grund dafür liegt darin, daß für die Gemeinden der Zeit der Past die entscheidende Frage hinsichtlich der Kontinuität nicht mehr die nach den Möglichkeiten einer Einbindung in die Verheißungen an
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Zu (hjJE1JÖt\~ als Gottesprädikation: Plat., rep.II 382e (1tuV'tTI üQa Ct'\jJE1JÖE~ 1:0
ömllOVLOV 1:E xat 1:0 eEi:oV); Philo, ebr. 139 ( ... 0
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vgl. auch Weish 7,17. Bezogen auf Jesus Christus: Ign., Röm 8,2 (1:0 a'ljJEuöE~ mOlla, tv iii 0 1ta'tTJQ aATJeÖJ~ tAUATJOEV). V gl. weitere Belege bei M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 99. 28 So etwa J. FREUNDORFER, Past 292: " ... das in uralter Zeit gegebene Verheißungswort ... "; " ... die Kette der prophetischen Verheißungen im Alten Testament, das Alte Testament selbst ... " 29. Vgl. W. LOCK, Past 125: "from Gen 3,15 onwards ... "; vorsichtig auch G. HOLTZ, Past 205: "Ist an das Protoevangelium Gen. 3,15 gedacht? Oder an den Baum des Lebens im Paradies?" 30 J. JEREMIAS, Past 68. Vgl. auch C. SPICQ, Past 593; N. BRox, Past 280. 31 Zum Verständnis einer zeitunabhängigen Festlegung vgl. J. D. QUINN, Tit 65 ("timeless order"); G. W. KNIGHT, Past 284.
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Israel war, sondern die nach der Kontinuität mit der frühen christlichen Tradition, speziell mit der paulinischen Verkündigung".
In der Art der Formulierung mag auch ein polemischer, antignostischer Ton mitschwingen. Die Erwartung "ewigen Lebens" ist eine die Menschen und insbesondere alle Christen einende Hoffnung, seien es (im Urteil der Past) die am rechten Glauben, an der "gesunden Lehre" Festhaltenden, oder seien es die davon Abgewichenen, also die Irrlehrer. Diese Hoffnung ist aber nach Darstellung des Autors nur dann begründet, wenn sie sich radikal dem Weg der Vermittlung dieser Hoffnung bzw. der Zusage auf ewiges Leben von Gott her anvertraut. Ein erster, entscheidender Schritt ist, daß der glaubende Mensch dieses Leben als ganz und gar im Willen Gottes und in seiner Verfügung stehend anerkenne3 • Und der zweite Schritt wird gleich im nächsten Vers genannt, in der konkret geschichtlichen Offenbarung und Mitteilung dieses Verheißungsgutes.
3 Der Verheißung korrespondiert die Offenbarung; der Anschluß mit ö{; macht dabei deutlich, daß der zweiten Stufe, der Offenbarung, eine eigenständige Bedeutung im Vergleich zu der von Gott gegebenen Verheißung zukommt. Dies kommt auch zum Ausdruck in der Zeitbestimmung. Mit den XaLQOL tÖLOL bezeichnet der Verfasser (wie 1 Tim 6,15) die von Gott festgesetzte und damit ganz und gar in seiner Vollmacht und Verfügung stehende Gelegenheit der Erfüllung. Die Verwendung des Plurals könnte zum einen auf gewissen Formzwang zurückzuführen sein (vgl. 1 Tim 2,6; mit anderen Verbindungen auch 4,1; 2 Tim 3,1). In der hier vorliegenden Abfolge ist aber auch ein Ausgleich geschaffen zu den 'XQOVOL aLwvLOL von V 2; der Autor will ja nicht nur die überzeitliche Verheißung ewigen Lebens ansprechen, ihm geht es vor allem um die konkrete Gegenwärtigkeit 34 • Auffällig ist, daß in der Abfolge der Formulierung von Verheißung und Offenbarung die Kontinuität zwar insofern fest gehalten ist, als Gott jeweils handelndes Subjekt ist; die Offenbarungstat nimmt aber nicht, wie zu erwarten wäre, das Stichwort "ewiges Leben" wieder auf, Vgl. M. WOLTER, Pastoralbriefe 86. Vgl. zu dieser Akzentverlagerung auch E. SCHLARB, Lehre 161; Y. REDALlE, Paul145. " Vielleicht ist hier zu denken an Tendenzen gnostischer Erlösungsvorstellungen, die einmal die Kontinuität zur Heilsgeschichte in Frage stellten oder die auch die Hoffnung auf ewiges Leben weniger auf das "objektive" Handeln Gottes als auf die subjektive Fähigkeit des Erkennens legten. 34 V. HAsLER, Past 86, will dagegen den PluraillULQol so verstehen, daß damit "nicht auf einen einzelnen Zeitpunkt" Bezug genommen werde, "sondern auf eine ganze Reihe, auf eine andauernde Offenbarungszeit, in welcher nicht das Heil selber, sondern seine Verkündigung immer wieder geschichtlich Gegenwart und Wrrklichkeit wird". 32
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sondern nennt als Objekt "das Wort". Und das offenbarende Handeln Gottes ist hingeordnet auf das Kerygma des Paulus. Die Bedeutung von A.6Yo~ wird vom nachfolgenden Substantiv xitQUYIW her definiert. Solche Verbindung von A6yo~ und Verkündigungsauftrag ist für die Past kennzeichnend (vgl. 1 Tim 4,12; 5,17; 2 Tim 2,9; 4,2). Man könnte also den Text so verstehen, daß Gott "sein Wort im Kerygma" offenbart hat 35 , der kirchlichen Predigt vom Autor also "Offenbarungscharakter" zugesprochen wird 36 • Dazu würde auch passen, daß die XaLQOL in der oben erwähnten Weise nicht einen Zeitpunkt der Vergangenheit bezeichnen, etwa die Geschichte Jesu, sein Wrrken und seine Verkündigung, sondern die Zeit der christlichen Verkündigung, also die Zeit der Kirche und damit die Gegenwart der Past. Das Interesse ist darauf gerichtet, die kirchliche Verkündigung der Gegenwart über das Wrrken des Paulus als unmittelbar von Gott kommende Offenbarung auszuweisen 37. Bei solcher Hinordnung der von Gott ausgehenden "Offenbarung" auf das Kerygma ist zu fragen, ob damit nicht der Aspekt der geschichtlichen Einmaligkeit des Handeins Gottes zu kurz kommt. M. Wolter bezieht zu den genannten Erklärungen, die vor allem abheben auf die Aktualität der Verkündigungstätigkeit des Paulus und der Deutung von Kerygma auf den Offenbarungsvorgang, eine entschiedene Gegenposition. Der Hinweis auf das offenbarende Handeln Gottes (EqJuvEQ
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Mit der Wendung ilYLULVO\JOU aLaUO'X.UALU wird wieder eine für die Past typische Formel aufgegriffen. Derselbe Ausdruck steht erneut in 2,1 sowie in 1 Tim 1,10 und 2 Tim 4,3; dazu gehören die ähnlich lautenden Wendungen, die ebenfalls die "Lehre" mit Begriffen vom Wortstamm "gesund (sein)" verknüpfen: "gesunde Worte" (ilYWLvovtE~ A.6yOL) 1 Tim 6,3; 2 Tim 1,13, bzw. im Singular (ilYL~~ A6yo~) Tit 2,8; "gesund sein im Glauben" (ilYLULVELV [ev] "tU :n:LO"tEL) Tit 1,13; 2,2. Die Opposition zu "Anderslehrenden" (1Tim 1,3; 6,3), zu jenen, die von der Wahrheit sich abwenden (2 Tim 4,4), oder zu denen, "die widersprechen" (Tit 1,9), bestimmt dabei jeweils den Kontext. Mit "gesund" wird also ganz allgemein die orthodoxe Glaubenslehre bezeichnet, der sich der Autor der Past verpflichtet weiß und die er gegen andere, d.h. gegen falsche Lehrer, zu verteidigen hat. Die Bedeutung von "gesund", bezogen auf die "Lehre", wird zumeist in Entsprechung zum hellenistischen Sprachgebrauch gesehen 42 • Als "gesund" wird im übertragenen Sinn das bezeichnet, was als vernünftig, sachgemäß und als wahr gelten so11 43 • Die Past erheben damit den Anspruch, daß ihre Lehre und ihr Glaube nicht nur der apostolischen Überlieferung entsprechen, sondern sinnvoll und vernünftig sind. Das wird gleichzeitig denen abgesprochen, die von diesem Glauben, wie ihn die Past vertreten, abweichen. So bezeichnet das "krank sein" in 1 Tim 6,4 den Verlust der Wahrheit und den Abfall vom Glauben 44. Allerdings ist dieses rationale und dogmatische Moment, das in diesem Vers in der Bestimmung der Aufgabe des Gemeindeleiters mit "ermahnen" und "überführen" zum Ausdruck kommt, nicht isoliert zu sehen vom Verhalten, das diesen Glauben nach außen hin kundtut. Als Sachwalter der "gesunden Lehre" kommt der Gemeindeleiter nur in Betracht, wenn er auch die vorgenannten Bedingungen eines ordentlichen Lebens erfüllt. Umgekehrt gilt als Kennzeichen der Irrlehrer, daß sich die Abweichung. vom Glauben und von der Wahrheit niederschlägt in ihrem Leben (vgl. auch 1 Tim 4,lf; 6,3-5; 2 Tim 3,1-7). Zur "gesunden Lehre" gehört folglich die entsprechende "kirchliche Praxis" 4S. Da es sich hier um eine durch "Paulus" legitimierte Anweisung handelt, ist zum Inhalt dieser Lehre ganz allgemein festzuhalten, daß die paulinische Verkündigung dazu zählt, außerdem die in den Past ansatzweise entwickelte Ausgestaltung in der Christologie, aber auch die stärker entfaltete und betonte Ekklesiologie; und schließlich ent42 vgl. H. v. LIPS, Glaube 69f; 1. ROLOFF, 1 Tim 77f. " Belege dafür bei U. LUCK, ThWNT VllI 308. " Mit H. v. LIPS, Glaube 70; vgl. 71: "Der VOOÖlV (16,4) ... hat nicht geringere Erkenntnis, sondern gar keine ..... 45 Vgl. N. BRox, Past 107f; E. SCHLARB, Lehre 297.
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spricht der "gesunden Lehre" das, was - vielfach nicht eigens ausgeführt und entfaltet - den falschen Lehren entgegensteht. III (1) Der Schlußvers gibt an, welche Funktion die Past dem Gemeindeleiter zusprechen: Verkündigung der rechten Lehre und Verteidigung gegen Verfälschungen sowie Zurückweisung von abweichenden Meinungen. Es geht dabei um die christliche Gemeinde, die in ihrer Einheit gefährdet ist. Den Grund dieser Gefährdung der Einheit kann man unterschiedlich bestimmen. So will V. Hasler die Situation in den Gemeinden der Past in Entsprechung zu Entwicklungen sehen, wie sie in 3 Joh'und dann in 1 Klem belegt sind, daß nämlich in den Gemeinden die leitenden Presbyter zueinander in Konkurrenz getreten sind. Wie dort gehe es auch in den Past um die Frage der Legitimität der Presbyter; und die werde hier definiert durch die Rückführung auf die "apostolische Herkunft von Paulus" 46.
Es ist sicher zutreffend, daß die Past besonderes Interesse zeigen, den Gemeindeleiter an Paulus und die von ihm ausgehende Beauftragung zu binden; der zumindest prinzipiell bestimmende, wenn auch noch nicht reflektiert ausformulierte Sukzessionsgedanke bestätigt das. Allerdings läßt sich eine Eingrenzung des in den Gemeinden herrschenden Konflikts auf die Auseinandersetzung zwischen den Gemeindeleitern um ihre Rechtmäßigkeit und Legitimation nicht belegen. Denn zum einen wird die Qualifikation des Gemeindeleiters mit sehr allgemeinen Angaben beschrieben, so daß die Einsetzung durch den Apostelschüler im wesentlichen an diesen Merkmalen sich orientieren kann; eine Konkurrenzsituation, die bedingt wäre durch die Frage nach der Legitimation von Paulus her, wird noch nicht erkennbar. Und zum anderen zeigt sich hier wie auch an anderen Stellen, daß der entscheidende Grund für die Einsetzung qualifizierter Leiter die innergemeindliche Auseinandersetzung um theologische Fragen ist. Die "gesunde Lehre", also die der überlieferten Lehre (ÖLÖax~) entsprechende Verkündigung, ist gefährdet durch Leute, die ihr widersprechen. Gegen sie gilt es vorzugehen; und in dieser Konfliktsituation fordern die Past eine intakte und bewährte Gemeindeleitung. Die Auseinandersetzung mit den Irrlehrern wird zu einer kirchenamtlichen Aufgabe erklärt. (2) Dieser erste Abschnitt in Tit nach dem Präskript zeigt erneut die enge Zusammengehörigkeit von Gemeindeordnung und Irrlehrerbekämpfung. Mit dem Ausblick auf die Einsetzung von Presbytern durch den Paulusschüler im Auftrag eben dieses "Paulus" wird bereits .. v. HASLER, Past 88.
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deren bzw. des Episkopos Aufgabe in der Auseinandersetzung mit "Gegnern" angezielt (a.vtLAEYO'V'tE~ V 9). Wenn nun aber eine so enge Beziehung zwischen den amtsspezifischen Aussagen und ihrer Beauftragung zur Irrlehrerbekämpfung besteht, dann ist zu fragen, ob man die Stellung dieser Gegner überhaupt losgelöst von der Gemeindeleiterparänese sehen kann. Es ist auffällig, "daß die Past weniger die Irrlehre bekämpfen als die Irrlehrer selbst"47. Das hat zur Folge, daß eine inhaltliche Darstellung der Positionen, die bekämpft werden sollen bzw. zu deren Ablehnung vor allem die verantwortlichen Amtsinhaber ermahnt werden, nur selten und dann auch nicht ganz eindeutig erfolgt. Wie schon bei Paulus durch polemische Akzentuierung der gegnerischen Positionen der Versuch, die Positionen der Gegner aus dem Brief selbst zu erschließen, erschwert ist (besonders deutlich beim Galaterbrief), so auch und noch gravierender in den Past. Zum weitgehenden Verzicht auf inhaltliche Auseinandersetzung kommt hinzu; daß durch das Stilmittel der Pseudepigraphie die dargestellte Auseinandersetzung insgesamt künstlich ist. Es ist zwar so, daß der Paulus der Past in seinen Anordnungen und Weisungen den Problemen und Fragen der Zeit der Past entspricht; dadurch aber, daß die Autorität des Paulus in Anspruch genommen wird, erhalten diese Weisungen über die aktuelle Bestimmung hinaus einen grundsätzlichen und allgemeingültigen Charakter'".
(3) Wenn man das "Hauptanliegen" der Past darin zu sehen hat, daß das Amt und die Autorität des für den Glauben und die Verkündigung verantwortlichen Gemeindevorstehers in ihrer Bedeutung herausgestellt werden sollen, dann verliert der Kampf mit den Gegnern seine aktuelle, inhaltliche Bindung an bestimmte Probleme und Fragen der Zeit der Past 49 . Das könnte zu dem Schluß führen, daß der Verfasser eine grundsätzliche und möglichst allgemein gehaltene Wegweisung für den Umgang mit Irrlehrern, die jetzt und in Zukunft in den Gemeinden auftreten, geben wollte. Es trifft zwar zu, daß den Past nicht nur der Rückgriff in die apostolische Vergangenheit wichtig ist, um auf diese Weise mit der Autorität des Paulus ihr eigenes Tun und Verhalten zu legitimieren. Mit der zumindest im Grundsätzlichen entwickelten Sukzessionsidee wird aber die eigene Gegenwart als ein Punkt in der sich entfaltenden Geschichte der Kirche gesehen; die eigene Situation der Past verliert für sich genommen an Bedeutung, insofern sie paradigmatisch die zukünftige Entwicklung repräsentiert.
47 P. TRUMMER, Paulustradition 164. .. Vgl. auch bei P. TRUMMER, Paulustradition 16lf. .. Vgl. etwa bei 1. ROLOFF,l Tim 229: Die Past "interessieren - etwas überspitzt gesagtdie Irrlehrer mit ihren die Kirche bedrohenden Aktivitäten gleichsam als die dunkle Folie, vor der sich das Bild des verantwortlich vom Evangelium her die Gemeinde sammelnden und leitenden Amtes um so klarer abhebt".
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Allerdings darf diese Sicht nicht verabsolutiert werden. Die grundsätzliche Zielsetzung und die allgemeingültige Ausrichtung heben die Bindung an eine aktuelle Gemeindesituation nicht auf. Das bedeutet für die Bestimmung der sog. "Irrlehrer": Es gibt in den Gemeinden der Past Differenzen um theologische Sachfragen, und das Anliegen dieser Schreiben ist, in der dadurch hervorgerufenen Verunsicherung den Gemeinden einen zuverlässigen Leitfaden für den rechten Glauben an die Hand zu geben. Das Bemühen um eine Bestimmung der Positionen dieser "Abweichler" kann einige Aspekte und Gesichtspunkte aufgreifen, die in den Schreiben selbst zur Sprache gebracht werden, sei es in der Form der Anklage als Irrtum und Abweichung vom rechten Glauben, oder sei es in der nachdrücklichen und betonten Ausformulierung eigener Glaubenspositionen. Gewisse Unsicherheiten und offene Fragen werden aber bleiben. Denn zum einen begegnet uns das Bild der Gegner "in polemischer Verzerrung" und wird von den Past so gezeichnet, daß die Leser schon "affektiv" gegen sie eingenommen werden 50; und zum anderen ist "die eigentlich theologische Antwort der Past auf die Häresie ... keine inhaltliche, auch keine rein formale, sondern eine personale" 51. 3. Das Urteil über die Widersacher (1,10-16) Denn es gibt viele, die sich nicht unterordnen, leere Schwätzer und Verführer, insbesondere solche aus der Beschneidung1,- 11 ihnen muß man den Mund stopfen, da sie ganze Hausgemeinschaften zerstören, indem sie um schmutzigen Gewinnes willen lehren, was sich nicht ziemt. 12 Einer von ihnen hat als ihr eigener Prophet gesagt: "Kreter sind immer Lügner, böse Tiere und faule Bäuche." 13 Dieses Zeugnis ist wahr. Darum überführe sie mit Strenge, damit sie im Glauben gesund werden, 14 indem sie sich nicht an jüdische Fabeln halten und an Vorschriften von Menschen, die sich von der Wahrheit abwenden. 15 Den Reinen ist alles rein; denen aber, die befleckt sind und ungläubig, ist nichts rein, sondern befleckt sind sowohl ihr Verstand als auch 10
so So M. WOLTER, Paulustradition 263; allerdings erscheint es doch fraglich, ob man soweit gehen darf, die Gegner würden "durchgängig in polemischer Verzerrung beschrieben" (ebd.); denn manche Darstellung muß sicher auch als der Wrrklichkeit entsprechend anerkannt werden. Vgl. dazu auch E. SCHLARB, Lehre 59-73, der insgesamt die Möglichkeit, aus den Past selbst die Positionen der Irrlehrer zu bestimmen, positiver einschätzt. SI P. TRUMMER, Paulustradition 164. 1 Die Partikel xaL nach :n:oÄ.AoL ist textkritisch schlechter bezeugt und als nachträgliche Ergänzung, entsprechend klassischem Sprachgebrauch, zu bewerten (B. WEISS, Past 342; vgl. auch B.-D.-REHKOPF, Grammatik § 442,7a); vgl. dazu auch B. M. METZGER, Commentary 584f.
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ihr Gewissen. 16 Sie erklären, Gott zu kennen, mit ihren Werken aber verleugnen sie (ihn); abscheulich sind sie und ungehorsam und zu jeglichem guten Werk unbrauchbar. I Nun werden die Aufgaben konkretisiert, die entsprechend der in Tit gewählten Inszenierung der von Paulus auf Kreta zurückgelassene Titus und die von ihm einzusetzenden Gemeindeleiter zu erfüllen haben. Dies geschieht allerdings zunächst in der Weise, daß diejenigen, mit denen sie sich als für die Gemeinden Verantwortliche auseinanderzusetzen haben, ausschließlich mit negativen Eigenschaften vorgestellt werden. Schaut man auf die Adressaten, denen "Paulus" seine Anweisungen erteilt, so wird wiederum deutlich, daß der Verfasser den Apostel auf zwei Zeitebenen agieren läßt, die bewußt nicht gegeneinander abgegrenzt werden. In der vom Autor von Anfang an vorgestellten Konstellation, daß Paulus den Titus einsetzt, dann aber gleich über die Qualifikation der von diesem zu benennenden Gemeindeleiter und deren Aufgaben (V 9) spricht, gilt all das, was dem "Titus" gesagt wird, auch, ja eigentlich ausschließlich für die von "Titus" einzusetzenden Amtsträger. Die Vermischung der beiden Zeitebenen wird unter anderem erkennbar in der Wiederaufnahme von Begriffen aus den Anweisungen an die Presbyter und den Episkopos zur Beschreibung der Krise, die den Einsatz des Titus erfordert; besonders auffällig ist dabei die Parallele in der Beauftragung zum "überführen" (eAEYJ(ELv) V 9 und V 13. Der Verfasser baut eine katalogartige Irrlehrerpolemik auf, deren künstlicher Charakter auch ersichtlich wird durch einen Vergleich mit dem vorausgehenden Presbyter- und Episkopenspiegel. Der im Auftrag des Paulus bestellte Gemeindeleiter ist das Gegenteil dessen, was über die Falschlehrer gesagt wird. Wie die genannten Tugenden bzw. die Freiheit von Fehlern und Lastern (VV 6-8) zum Bild des bewährten Gemeindeleiters gehören, so macht es das Wesen der Irrlehrer aus, daß ihnen alle diese guten Eigenschaften fehlen bzw. daß sie das negative Gegenbild zum idealen Gemeindeleiter darstellen 2. Einzelne Fonnulierungen bzw. Kennzeichnungen der Irrlehrer stehen auch in anderen, zumeist ebenfalls katalogartig zusammengestellten Registern (vgl. dazu 1 Tim 1,3-11; 6,3-10; 2 Tim 2,14-18; auch 1 Tim 4,1-11)'; zum Vorwurf "hohle Schwätzer" (V 10) vgl.l Tim 1,6; zum Motiv der Verführung von
"Die negativen Äußerungen über die Häretiker sind gewissennaßen als Kontrastbild dem christlichen Ideal gegenübergestellt (VV 10.11.14.16)" (H. MERKEL, Past 93). V gl. auch R. SCHWARZ, Christentum 82; N. BROX, Past 286; W. STEGEMANN, Vorurteile 52. 3 V gl. M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 101; G. W. KNIGHT, Past 296; J. D. QUINN, Tit 106. 2
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"ganzen Häusern" (V 11) vgl. 2 Tim 3,6; zur Anklage der Abkehr von der Wahrheit (V 14) vgl.1 Tim 6,5.
Ansatzweise ergeben sich Anhaltspunkte für die Identifizierung der in den Gemeinden der Past agierenden Irrlehrer, da in den VV 10-14 eine Verbindung zu jüdischen Traditionen hergestellt wird. Eine besondere Note bekommt die Abrechnung mit den Irrlehrern schließlich dadurch, daß mit dem Zitat in V 12 die Ortsbestimmung Kreta aus V 5 noch einmal aufgegriffen und damit etwas "Lokalkolorit" eingetragen wird 4 • Verknüpft mit der andeutungsweisen Bezugnahme auf Inhalte der von den Gegnern vertretenen theologischen Positionen, liegt hier wieder ein Beispiel für das schon angesprochene Verfahren der Past vor: Konkrete Themen und Sachfragen, die auch in der Verkündigung des Evangeliums eine Rolle spielen (V 10: der Hinweis auf die "Beschneidung"; V 14: der Bezug auf "jüdische Fabeln" und "Vorschriften von Menschen"), werden verknüpft mit einer undifferenzierten, umfassenden Polemik gegenüber den Vertretern solcher Positionen. Diese Andeutungen eröffnen aber die Möglichkeit, die theologischen Positionen der "Irrlehrer" wenigstens in Grundzügen zu bestimmen. Dieser Aufgabe muß man sich stellen, auch wenn gleichzeitig gilt, daß man sich davor hüten muß, "aus diesen im polemischen Stil hingeworfenen Sätzen auf historische Daten zu schließen" 5. II
10 Die voranstehend genannte Aufgabe des Episkopos, Leute zu "überführen", also sie als im Unrecht befindlich zu erweisen, erhält, mit YUQ angeschlossen, eine erste Begründung. Dieser erste Vorwurf bzw. Anklagepunkt zeigt, in welchem Bereich sich nach den Past das Problem von Rechtgläubigkeit und Häresie festmachen läßt: auf der Ebene des Gehorsams und der Unterordnung. Die Einführung der Gegner als Leute, die sich nicht unterordnen wollen, entspricht der vorangehenden Beschreibung des Ideals eines Gemeindevorstehers. Als Kennzeichen des Presbyters, wie "Paulus" ihn haben will, war in V 6 genannt worden, daß er Kinder habensoll, die nicht durch Ungehorsam auffallen. Kennzeichen eines Gemeindeleiters muß es sein, daß er seinen Autoritätsanspruch durchsetzen kann; entsprechend gilt für die Gemeindemitglieder, daß sie sich diesem Anspruch unterzuordnen haben. Die hier erkennbare Gemeindestruktur hat grundsätzliche Bedeutung für das Kirchen- und Gemeindeverständnis der Past. V gl. dazu M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 1Ol. V. HASLER, Past 90. Diese polemische Form schließt allerdings nicht aus, daß Elemente der Lehre der bekämpften Häretiker darin enthalten sind.
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Ins Unrecht gesetzt müssen Gemeindemitglieder sich schon dann sehen, wenn ihr Verhalten oder die Äußerung einer Meinung als "ungehorsam" bezeichnet werden kann. Die Gemeindeordnung mit der Struktur der an der Spitze stehenden Presbyter bzw. des Episkopos, der schon aufgrund seiner Fähigkeit zur Durchsetzung von Gehorsam und Unterordnung als guter und qualifizierter Verwalter des Amtes angesehen wird, zeigt Züge einer auf formale Gegebenheiten gestützten Bewertung der Gläubigen. Wo die Fügsamkeit zur Norm der Rechtgläubigkeit erklärt wird - und der Zusammenhang von V 9 und V 10 macht deutlich, daß der Autor die Unterordnung zu einem zentralen Kriterium des rechten Glaubens, der "gesunden Lehre" erklären will -, da zeigt sich die Gefahr, daß sowohl der Glaube als auch die Eigenverantwortung der Glaubenden als zumindest zweitrangig angesehen werden; ja sie können sogar, mit dem bloßen Verdikt der fehlenden Unterordnung versehen, als gegen die Kirche und damit gegen den "Glauben gerichtet beurteilt und verurteilt werden. Wenn so die Durchsetzung der Amtsautorität zu einem wesentlichen Kriterium der Rechtgläubigkeit erklärt wird, ist auch verständlich, daß inhaltliche Auseinandersetzungen in den Hintergrund treten bzw. sogar, wie in 2 Tim, dem Gemeindeleiter untersagt werden (vgl. 2 Tim 2,14.16.23).
Verknüpft mit der mangelnden Konkretisierung der Auseinandersetzung mit den "Irrlehrern" , hat also die hier eingeleitete Form der "Widerlegung" doch eine eindeutige Mitte, um die herum alles geordnet ist, nämlich die Forderung zu diskussionsloser Anerkennung der Autorität des Gemeindeleiters. Aus der Feststellung, daß es "viele" solche Gegner gebe, ist nicht unbedingt zu schließen, daß die Irrlehre schon viele Anhänger hat; damit wird vielmehr für die Adressaten die Gefahr unterstrichen, die von den Widersachern ausgeht. Gleichzeitig soll auf diese Weise die Notwendigkeit der von "Paulus" angeordneten Einsetzung von Amtspersonen als Schutz gegen die "Abweichler" untermauert werden. Es folgen zwei weitere Charakterisierungen der Gegner mit abwertenden Bemerkungen. Die Vergeblichkeit, die "Hohlheit" der Bemühungen dieser Menschen wird angeprangert; sie werden bezeichnet als "hohle Schwätzer" (f,tat:aLoMym). Gleichzeitig aber wird von ihrer Gefährlichkeit gesprochen, indem sie als "Verführer" der Gemeinden gekennzeichnet werden (QJQEvuJt vUv awlVL) leben (Tit 2,11f). Um die Voraussetzungen für ein solches ungestörtes und ruhiges Leben in Ehrbarkeit und Frömmigkeit zu schaffen, müssen die Christen durch ihr Gebet für die weltliche Obrigkeit zur Stabilisierung der politischen Verhältnisse beitragen (1 Tim 2,1f; vgl. Tit 3,1f). Zwar gibt es die falsche Liebe zu diesem Äon (vgl. 2 Tim 4,10) und auch die Möglichkeit des Mißbrauchs von irdischen Gütern (vgl. 1 Tim 6,9 f). Doch das ist kein Grund, sich aus dieser Welt zurückzuziehen. Die Verantwortung der Gläubigen der nichtchristlichen Welt gegenüber wird immer wieder betont (1 Tim 3,7; Tit 2,5.8.10) 9. Der beschwörende Appell des auf seinen baldigen Tod vorausschauenden "Paulus" gilt deshalb auch seinem Nachfolger" Timotheus", daß dieser den vom Apostel geleisteten Dienst der Verkündigung des Evangeliums treu weiterführt (2 Tim 4,1-5). Es ist sicherlich auch diese Verantwortung für die Welt, die die Past grundlegend kennzeichnet. • Auf einer anderen Ebene liegt das von J.
ROLOFF, Weg 155 f, angesprochene ,,zurück. treten der heilsgeschichtlichen Perspektive", was sich in der "Israelvergessenheit" kundtue. Zwar ist auch dies als ein Resultat des veränderten Geschichtsbewußtseins zu interpretieren, allerdings nicht, wie das lukanische Doppelwerk mit der betonten Anbindung der heidenchristliclien Mission an die judenchristlichen UrsprUnge zeigt, als ein notwendiges Resultat. • N. BROX, Past 51, spricht von einer "Solidarität mit der Welt, in der sich die Kirche einzurichten beginnt".
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Exkurs: Die Christologie der Pastoralbriefe
c) Der Wandel in der Sicht des Menschen als Sünder Daß der Mensch Sünder ist und deshalb der Gnade Gottes bedarf, ist für die Past ebenso selbstverständlich wie für Paulus. Doch diese ge-
meinsame Grundüberzeugung wirkt sich in der Gesamtdarstellung sehr unterschiedlich aus. Während Paulus mit dem Begriff "Sünde" (alluQ'tLu) eine anthropologische Grundbefindlichkeit charakterisiert (vgl. bes. Röm 5,12-21; 6; Gal3, 22), kennzeichnen die Past damit Verfehlungen der Menschen gegen die Verkündigung des rechten Glaubens (2 Tim 3,6; vgl. 1 Tim 5,22.24). Dieselbe Differenz zeigt sich beim Gebrauch des Verbums alluQ'tavELv: Paulus kann - neben dem allgemeinen Sprachgebrauch mit der Bezeichnung persönlicher Schuld (vgl. 1 Kor 6,18) - davon sprechen, daß alle gesündigt haben (Röm 3,23; 5,12); in den Past heißt es vom Häretiker, daß er sündigt (Tit 3,11), und es wird davon gesprochen, wie mit solchen Presbytern zu verfahren ist, die sündigen (1 Tim 5,20). Und "Sünder" (alluQ'tlOAoL) werden in den Past - abgesehen von 1 Tim 1,15, wo eine vorgegebene formelhafte Wendung übernommen ist - in einer Aufzählung zusammen mit Gesetzlosen, Ungehorsamen und Gottlosen u. a. die genannt, deren Thn im Widerspruch zur "gesunden Lehre" steht (1 Tim 1,9 f). Für Paulus ist dagegen beim Substantiv alluQ'tlOM~ wieder der soteriologische Kontext prägend (vgl. Röm 5,8: ... E'tL alluQ'tlOAWv ÖV'tlOV ~llwV XQLO'tO~ U3tEQ ~llwV Ct3tEßUVEV). d)Es ist beinahe selbstverständlich, daß diese geschichtlich bedingten Veränderungen bedeutsame Rückwirkungen auf die Gestaltung der Soteriologie und damit auch der Christologie hatten 10. Dies soll im nächsten Abschnitt im einzelnen dargelegt werden.
3. Traditionelle Vorgaben christologischer Bekenntnisse und ihre redaktionelle Gestaltung
a) Soteriologische Bekenntnisaussagen Im folgenden seien einige soteriologische Texte kurz skizziert, die der Verfasser aus der Tradition übernommen hat, die aber gleichzeitig die These bestätigen können, daß die darin enthaltene soteriologische Christologie für die Past von zentraler Bedeutung ist 11 • . 1. ROLOFF, 1 Tim 361, spricht in diesem Zusammenhang von einer "Verflachung der paulinischen Anthropologie" und auch davon, daß "das Sündenverständnis verflacht (ist)". Es ist gewiß zutreffend, daß die für Paulus "zentrale Verbindung zwischen Sünde, Gesetz und Tod als den die Situation des natürlichen Menschen bestimmenden Verderbensmächten" in den Past "keine Entsprechung" hat (Weg 157); es ist dabei aber zu bedenken, daß etwa die Gesetzesthematik in der paulinischen Soteriologie ebenfalls einen zeit- und situationsbedingten Stellenwert hat. 11 Vgl. dazu I. H. MARSHALL, Christol~ 164-167; PH. H. TowNER, Goal 118f. Zu den 10
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(1) Christus Jesus kam in die Welt zur Rettung der Sünder (1 Tim 1,15) Im Zusammenhang der Paulus-Anamnese 1 Tim 1,12-17 zitiert der Verfasser das Bekenntnis, daß "Christus Jesus in die Welt gekommen ist, um Sünder zu retten" (V 15b). Im Vergleich zu dem Jesuswort Lk 19, 10 (~A.8EV yaQ 0 'ULO~ 'tou av8Qwno'U ~TJ'tfjom 'Kat omom 'to anoA.wA6~) bzw. zu dem Logion Mk 2,17 zeigt die in 1 Tim 1,15 stehende Wendung mit dem Verweis auf die Betroffenheit der "Welt" und der "Sünder" die Tendenz zu einem allgemeineren, umfassenderen Verständnis. Neben dieser universalistischen Ausrichtung 12 ist in der Kontexteinbindung das Interesse aktualisierender Bestimmung erkennbar: Es ist dies ein "Wort", das "zuverlässig und jeglicher Annahme wert" ist (V 15a)13; es hat also für die christlichen Gemeinden weiterhin uneingeschränkte Gültigkeit 14. Und dadurch, daß "Paulus" sich als "ersten" bezeichnet, der dieses Erbarmens gewürdigt worden ist (V 15c), und er damit auch "Urbild" für alle Glaubenden ist (V 16), wird die bleibende Aktualität dieses Bekenntnisses bestätigt 15. (2) Christus Jesus - "Lösegeld für alle" (1 Tim 2,6) Das Bekenntnis zur Selbsthingabe Jesu Christi als "Lösegeld für alle" (av'tLA.'U'tQOV unEQ nuV'twv) in dem ebenfalls formelhaften Text 1 Tim 2,5 f zeigt auch Übereinstimmung mit synoptischer Tradition (vgl. Mk 1O,45b). Die jeweilige Eigenständigkeit der Et~-Akklamation V 5a.b (vgl. 1 Kor 8,6) und der Selbsthingabeformel samt soteriologischer Applikation V 5c.6a (vgl. Gal1,4) spricht dafür, daß erst der Verfasser der Past beide zu der vorliegenden zweigliedrigen Wendung zusammengefügt hat; auch die Subjektbezeichnung äv8Qwno~ XQLO'tO~ 'ITJoou~ geht damit auf ihn zurück 16. Für das christologische Bekenntnis der Past ist einmal zu beachten, daß die soteriologische Funktion Jesu nicht nur mit der Selbsthingabe, also mit dem stellvertretenden
christologischen Implikationen im einzelnen PH. H. TOWNER, a. a. O. 78-118; K. LÄGER, Christologie 28-104. 12 Das dem Jesuswort zugrunde liegende Bekenntnis ist ein Topos der frühchristlichen Verkündigung, die Art der Formulierung (mit der Wortverbindung XQLO"tO!; 'IT]oO'Ü!; und dem Gebrauch von O~ELV) spricht dagegen nach K. LÄGER, Christologie 33f, dafür, daß der Verfasser den Bekenntnistext formuliert hat. 13 Die Past gebrauchen diese formelhafte Wendung insgesamt fünf Mal: :rtLO"tO!; 6 M'lyO!; in 1 Tim 3,1; 2 Tim 2,11; Tit 3,8; mit der Ergänzung Kat :n:CtOT]!; cl:n:OÖOXfj!; ä!;LO!; 1 Tim 1,15; 4,9. 14 Vgl. dazu A. T. HANSON, Past 41; PH. H. TOWNER, Goal 80-82. 15 Vgl. H. SIMONSEN, Traditionselemente 52f; K. LÄGER, Christologie 37 ("Das traditionelle christologische Motiv V. 15b wird durch seinen Kontext neu akzentuiert. Die Anwendung auf Paulus bewirkt, daß die allgemeine Aussage ins Konkrete gewendet wird"). 16 Vgl. K. WENGST, Formeln 72; L. OBERLINNER, Epiphaneia 203f; K. LÄGER, Christologie40.
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Sühnetod begründet wird, sondern auch und zuerst mit seiner Stellung als "Mittler" üu:ahl1~) zwischen Gott und den Menschen - betont: als "der einzige Mittler" (V 5b)17. Daneben gibt auch der Kontext wiederum wichtige Interpretationshinweise. Das zentrale Zitat des Gottes- und Christusbekenntnisses in VV 5.6 wird in den VV 3f eingeleitet mit der Beschreibung Gottes als "Retter, der will, daß alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen". Auf diese Weise kommt es zu einer bedeutsamen Wechselwirkung im Glaubensbekenntnis: Das Bekenntnis zu Gott und zu seinem Heilswillen ist, soll es in seiner vollen Bedeutsamkeit erfaßt werden, angewiesen auf das Bekenntnis, daß Jesus Christus durch seine Selbsthingabe dieses Heil den Menschen "vermittelt" hat. Und umgekehrt gilt: Die Hingabe Jesu kann in ihrer Heilsbedeutung nur dann recht verstanden werden, wenn Jesus als der unüberbietbare Mittler (d~ ftwL"tl1~) des Heilswillens Gottes gilt 18. Mit der anschließenden Beschreibung der Stellung des Paulus als "Verkündiger und Apostel", der von dieser im Sterben Jesu sich dokumentierenden, bleibend gültigen Heilzusage Gottes "Zeugnis" ablegt (VV 6b.7) 19, erfolgt wiederum eine aktualisierende Überleitung in die Gegenwart der Past. Das heißt dann auch: Das in den "paulinischen" Gemeinden verkündete Evangelium hat seine Mitte in dieser Botschaft von der Erfüllung des Heilswillens Gottes in der Selbsthingabe Jesu "für alle". (3) Der Christushymnus 1 Tim 3,16b Dieses vom Verfasser übernommene hymnusartige Christusbekenntnis, dessen urspünglicher Sitz im Leben am passendsten im frühchristlichen Gottesdienst zu sehen ist 20 , beschreibt zu Beginn als das zentrale Heilsereignis das geschichtlich einmalige Kommen Christi in die Welt (E~~:LV) ist ebenfalls an drei Stellen die Rede (1 Tim 2,4; 2 Tim 1,9; Tit 3,5), von dem Jesu Christi an zwei (1 Tim 1,15; 2 Tim 4,18). Und in Tit 2,11 wird von der Offenbarung der Gnade Gottes gesprochen, "die allen Menschen das Heil bringt (OO)1;tlQLO~ :rtiimv av8QW:rtOL~)". Da der Gebrauch der Bezeichnung owt~Q als christologischer Titel nur in Abhängigkeit von der Gottesprädikation erklärt werden kann, ist zuerst nach dem religionsgeschichtlichen Hintergrund für diese zweite Verwendung zu fragen 40. Dazu ist auf die in der LXX begegnende Gottesbezeichnung OWt~Q zu verweisen (vgl. u.a. Dtn 32,15; 1 Makk 4,30; Ps 23,5; Weish 16,7; Is 12,2; 45,15; 62,1; Hab 3,18). Die Tatsache, daß in den ältesten neutestamentlichen Schriften der Titel OWt~Q für Gott gar nicht begegnet und für den christologischen Gebrauch Phi13, 20 eine Ausnahme bleibt, daß sodann die Past (ähnlich 2 Petr und das lukanische Doppelwerk) in der Sprache und in der Vorstellungswelt deutlichen Einfluß der griechisch-hellenistischen Umwelt erkennen lassen 41, spricht dafür, daß der alttestamentlich-jüdische Hintergrund für die Erklärung des owt~Q-Titels nicht ausreicht. In der hellenistischen Welt war der Titel OWtTlQ als Bezeichnung der Götter und der Herrscher üblich, und dieser Sprachgebrauch dürfte den Verfasser zumindest mitbeeinflußt haben, mit dem Titel OWt~Q seinen Glauben an Gott und an Jesus Christus zu formulieren 42.
Für den Stellenwert des christologischen Titels OWttlg ist auf zwei Dinge hinzuweisen: (1) Durch die Tatsache der "doppelten Verwendbarkeit des Titels" für Gott und für Jesus Christus kann der Verfasser ein für ihn zentrales Anliegen verdeutlichen, daß nämlich in Jesus Christus Gott sich als der offenbart hat, der für alle Menschen das Heil, die Rettung will 43 ; das hat zur Konsequenz, daß die Christologie nur über das Gottesbekenntnis zu erfassen ist und daß umgekehrt die Theologie nicht ohne das christologische Bekenntnis auskommen kann. (2) Der Titel OWttlQ steht zwar in den Präskripten auch titular und ohne unmittelbar damit verbundene soteriologische Explikation (1 Tim 1,1; Tit 1,3.4). In den meisten Fällen aber ist er soteriologisch V gl. dazu K. LÄGER, Christologie 119-121. Für die Past ist dies eindrucksvoll mit dem Vokabular zu belegen. Diese sprachlichen Eigenheiten sind ein wichtiges Argument für den pseudepigraphischen Charakter der Past (vgl. HThK XI 2/1 XXXV-XXXVII). 42 Mit "Einflüssen von beiden Seiten" ist auch nach Überzeugung von K. LÄGER, Christologie 120, zu rechnen. - Die im Anschluß an 0. Cullmann bei PR. H. TOWNER, Goal 76, gebotene Erklärung, es gebe "probably a very natural development from the idea of salvation inherent in the name I€sous (Matt 1.21) to the Church's formal designation of the Messiah as soter" (ähnliche Überlegungen bei J. ROLOFF, 1 Tim 363), hat v. a. gegen sich, daß dieser Zusammenhang nirgendwo belegt ist, auch nicht in den dafür angeführten TextsteIlen Mt 1, 21; Lk 2,11; Apg 5,31; 13,21. 4l Vgl. N. BROX, Past 233. 40 41
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definiert und sicher nicht zufällig verbunden mit den oben genannten Stellen, in denen christologische Bekenntnisse aus der Tradition aufgegriffen sind (1 Tim 2,3-6; 2 Tim 1,8-10; Tit 2,11-14; 3,4-7). Der Verfasser der Past übernimmt die Bekenntnisformeln, die im weitesten Sinn soteriologisch bestimmt sind und gibt ihnen durch den a(J)"t~Q-Titel- in der Verwendung sowohl für Gott als auch für Jesus Christus - eine heilsgeschichtliehe Zuordnung: In der Selbsthingabe des Christus Jesus "für alle" verwirklicht sich Gottes Heilswille, der "allen Menschen" gilt (1 Tim 2,3-6); es gilt aber auch: Mit dem Auftreten Jesu, seiner Epiphaneia, ist der Weg Gottes als des Retters zu seinem Ziel gekommen, und deshalb ist das Evangelium von Jesus Christus als Gottes letztes Wort an die Menschen zu interpretieren (vgl. Tit 1, 3: Ecpuv~Q(J)aEv öe xmQoL~ LöLOL~ "tov Myov UVLO'u). Diese einheitliche heilsgeschichtliche Funktion Gottes und Jesu Christi verdeutlichen die Past dann mit dem Begriff E:7tLcpavELu 44 • b) Der Begriff EmcpaVELU Die Past übernehmen aus der griechisch-hellenistischen Welt auch den Begriff rmcpaVELU 45, der als "religiöser Terminus" diejenigen, die ihn hörten oder lasen, auf "das geschichtlich faßbare Eingreifen des Gottes zugunsten seiner Verehrer, als Ermöglichung des Sieges in einer militärischen Auseinandersetzung, aber auch allgemein verstanden als ,göttliche Hilfe'" verwies".
Für den Gebrauch des Begriffs EmcpaVELU in den Past ist charakteristisch, daß er fast ausschließlich für das Offenbarwerden Jesu Christi gebraucht wird 47 • An zwei Stellen ist zugleich von Jesus Christus als a(J)"t~Q die Rede (2 Tim 1,10; Tit 2,13); und im unmittelbaren Kontext, der die EmcpavELu Jesu Christi soteriologisch entfaltet, wird einmal auch Gott als a(J)"t~Q bezeichnet (Tit 3,4), einmal auf die Gnade Gottes verwiesen, "die allen Menschen Rettung bringt" (Tit 2,11). An den beiden letzten Stellen formuliert der Verfasser mit dem Verbum EmcpuLvw8m, bezogen auf "die Gnade Gottes" bzw. "die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes, unseres Retters". Bei der Frage, ob der Verfasser bei EmcpavELu jeweils ein konkretes Auf den Zusammenhang der wechselseitigen Bezeichnung Gottes und Jesu Christi als "Retter" mit dem Epiphanie-Modell "als Element der Soteriologie der Pastoralbriefe" verweist auch K. LÖNING, Gerechtfertigt 251. 45 Im N euen Testament nur noch in 2 Thess 2,8, wo er parallel mit JtuQouo[u gebraucht wird. 46 D. LÜHRMANN, Epiphaneia 195f. In gleicher Bedeutung steht EltL