Marlis Gielen
Die Passionserzählung in den vier Evangelien Literarische ,Gestaltung - theologische Schwerpunkte
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Marlis Gielen
Die Passionserzählung in den vier Evangelien Literarische ,Gestaltung - theologische Schwerpunkte
Verlag W. Kohlhammer
Alle Rechte vorbehalten © 2008 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Reproduktionsvorlage: Andrea Siebert, Neuendettelsau Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany ISBN 978-3-17-020434-8
Inhalt Vorwort
9
1.
Einführung............................................................................
1.1.
Traditionsgeschichtliche Wurzeln und theologische Intention der urchristlichen Passionsüberlieferung ................................ Das Verhältnis zwischen den synoptischen Passionserzählungen und der Passionserzählung nach Johannes .............................
16
Die Passionserzählungen der Evangelien ein erster Überblick über Bestand und Abfolge der einzelnen Szenen ..................................................................
19
Die Geschichte des Leidens und Sterbens J esu im Spiegel der vier Evangelien ..........................................
25
Der Todesbeschluss der jüdischen Autoritäten gegen Jesus ... Die markinische Darstellung Mk 14,1-2 ................................
25 25
Exkurs 1: Jesu Tempelaktion und seine Hinrichtung als politischer Rebell im Horizont der politischen und rechtlichen Verhältnisse Judäas im 1. Jahrhundert n.ehr. ...................
27
3.1.2. 3.1.3. 3.1.4.
Die matthäische Bearbeitung Mt 26,1-5 ................................ Die lukanische Bearbeitung Lk 22,1-2 .................................. DiejohanneischeVersionJoh 11,47-53 ................................
36 38 39
3.2. 3.2.1. 3.2.2. 3.2.3. 3.2.4.
Die Salbung Jesu in Betanien ................................................. Die markinische Darstellung Mk 14,3-9 ................................ Die matthäische Bearbeitung Mt 26,6-13 .............................. Die lukanische Version Lk 7,36-50 ....................................... Diejohanneische Version Joh 12,1-8 ....................................
43 43 44 45 47
Exkurs 2: Maria Magdalena - die Frau, die Jesus salbte? .................
50
3.3. 3.3.1.
53 53
1.2.
2.
3.
3.1. 3.1.1.
Judas sucht Kontakt mit den Jerusalemer Autoritäten ............ Die markinische Darstellung Mk 14,10-11 ............................
13
13
Inhalt
6
3.3.2. 3.3.3.
Die matthäische Bearbeitung Mt 26,14-16 .......................... .. Die lukanische Bearbeitung Lk 22,3-6 ................................ ..
54 56
3.4. 3.4.1. 3.4.2. 3.4.3.
Die Vorbereitung des letzten Mahles Jesu mit seinen Jüngern Die markinische Darstellung Mk 14,12-16 .......................... .. Die matthäische Bearbeitung Mt 26,17-19 .......................... .. Die lukanische Bearbeitung Lk 22,7-13 .............................. ..
57 57 59 60
3.5. 3.5.1. 3.5.2. 3.5.3.
Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern .............................. .. Die markinische Darstellung Mk 14,17-25 .......................... .. Die matthäische Bearbeitung Mt 26,20-29 .......................... .. Die lukanische Bearbeitung Lk 22,14-38 ............................ ..
60 62 67 70
Exkurs 3: Die neutestamentliche Herrenmahlüberlieferung ..............
74
3.5.4.
Die johanneische Version J oh 13,1-17,26 ............................ . 3.5.4.1. Die Mahlszene Joh 13,1-30 .................................... .. 3.5.4.2. Die johanneischen Abschiedsreden 13,31-17,26 .... ..
86 86 90
3.6. 3.6.1. 3.6.2.
Der Gang zum Ölberg und die Ansage der Verleugnung Jesu durch Petrus ........................................................................... . Die markinische Darstellung Mk 14,26-31 .......................... .. Die matthäische Bearbeitung Mt 26,30-35 .......................... ..
98 98 100
3.7. 3.7.1. 3.7.2. 3.7.3.
Jesus im Garten Getsemane ................................................... . Die markinische Darstellung Mk 14,32--42 ........................ , .. . Die matthäische Bearbeitung Mt 26,36--46 .......................... .. Die lukanische Bearbeitung Lk 22,39.40--46 ........................ .
101 101 104 105
3.8. 3.8.1. 3.8.2. 3.8.3. 3.8.4.
Die Verhaftung Jesu .............................................................. . Die markinische Darstellung Mk 14,43-52 .......................... .. Die matthäische Bearbeitung Mt 26,47-56 .......................... .. Die lukanische Bearbeitung Lk 22,47-53 ............................ .. Die johanneische Version Joh 18,1.2-12 .............................. .
108 108 111 114 117
3.9. 3.9.1. 3.9.2. 3.9.3. 3.9.4.
Das Verhör Jesu durch die jüdischen Autoritäten und seine Verleugnung durch Petrus ............................................ . Die markinische Darstellung Mk 14,53-15,1 ........................ . Die matthäische Bearbeitung Mt 26,57-27,2 ........................ . Die lukanische Bearbeitung Lk 22,54-23,1 .......................... . Diejohanneische Version Joh 18,13-28a .............................. .
119 121 128 133 138
3.10.
Der Tod des Judas Mt 27,3-10 .............................................. .
144
Inhalt 3.11. 3.11.1. 3.11.2. 3.11.3. 3.11.4.
7
Jesus vor dem römischen Präfekten Pontius Pilatus ............... Die markinische Darstellung Mk 15,2-15 .............................. Die matthäische Bearbeitung Mt 27,11-25 ............................ Die lukanische Bearbeitung Lk 23,2-25 ................................ Diejohanneische VersionJoh 18,28b-19,16a ........................
148 148 154 161 170
3.12. Die Verspottung Jesu durch die römischen Soldaten ............. 3.12.1. Die markinische Darstellung Mk 15,16-20a .......................... 3.12.2. Die matthäische Bearbeitung Mt 27,27-31a ..........................
181 181 183
3.13. Die Hinrichtung Jesu am Kreuz .............................................. 3.13.1. Die markinische Darstellung Mk 15,20b-32 ..........................
185 189
Exkurs 4: Der Kreuzestod in der antiken Welt ..................................
192
3.13.2. Die matthäische Bearbeitung Mt 27,31b-44 .......................... 3.13.3. Die lukanische Bearbeitung Lk 23,26-43 .............................. 3.13.4. Die johanneische Version Joh 19,16b-27 ..............................
199 202 209
3.14. 3.14.1. 3.14.2. 3.14.3. 3.14.4.
Der Tod Jesu .......................................................................... . Die markinische Darstellung Mk 15,33-41 .......................... .. Die matthäische Bearbeitung Mt 27,45-56 .......................... .. Die lukanische Bearbeitung Lk 23,44-49 ............................ .. Die johanneische Version Joh 19,28-37 .............................. ..
214 214 220 221 224
3.15. 3.15.1. 3.15.2. 3.15.3. 3.15.4.
Die Grablegung Jesu .............................................................. . Die markinische Darstellung Mk 15,42-47 .......................... .. Die matthäische Bearbeitung Mt 27,57-61 .......................... .. Die lukanische Bearbeitung Lk 23,50-56 ............................ .. Die johanneische Version Joh 19,38-42 .............................. ..
226 226 228 230 231
3.16.
Die Sicherung des Grabes Mt 27,62-66 ................................ .
233
4.
Literaturhinweise ................................................................ .
237
Vorwort Seit vielen Jahren schon zieht die Überlieferung der Leidensgeschichte Jesu in den Evangelien immer wieder mein besonderes Interesse auf sich. So war es schon längst überfällig, diesem Interesse endlich einmal auch mit einer Publikation Ausdruck zu verleihen. Doch sind die Forschungsbeiträge innerhalb der exegetischen Fachdiskussion zur Passionsthematik Legion, ohne dass sich - insbesondere bei den bevorzugt erörterten Fragen des Überlieferungsprozesses und des historischen Informationswertes der Passionserzählunge en) - konsensfähige Antworten abzeichnen. Daher war für mich die Vorstellung wenig verlockend, die ohnehin ausufernde Literatur um einen weiteren fachexegetischen Beitrag zu bereichern. Zudem beunruhigt mich seit geraumer Zeit die Erkenntnis, dass die Ergebnisse exegetischer Forschung fast ausschließlich im Elfenbeinturm des wissenschaftlichen Fachdiskurses wahrgenommen werden, jedoch kaum an die gesellschaftliche und vor allem kirchliche Basis gelangen. So wuchs also die Idee, die Passionsüberlieferung so, wie sie konkret in den vier Evangelien begegnet, bewusst für einen weiteren Kreis interessierter Leser und Leserinnen zu erschließen. Primär denke ich dabei an solche, die in Gemeinde oder Schule mit der Verkündigung bzw. mit der Vermittlung biblischer Überlieferung beauftragt sind. Als Pfarrer und Pfarrerinnen, als Gemeindereferenten und -referentinnen oder als Religionslehrer und -lehrerinnen haben sie zwar alle einmal eine theologische Ausbildung absolviert. In der Mühe der Alltagsarbeit aber werden sie sich in aller Regel überfordert fühlen, exegetische Fachliteratur zu konsultieren und die detaillierten - und oft auch detailverliebten - Argumente gegeneinander abzuwägen. Über diesen Kreis von Personen hinaus, die sich unter pastoralem oder religionspädagogischem Vorzeichen mit biblischen Themen befassen, möchte die hier vorgelegte Darstellung der Passionserzählung im Spiegel der vier Evangelien aber auch interessierte theologische Laien erreichen. Daher habe ich möglichst weitgehend auf eine Dokumentation der wissenschaftlichen Diskussion in Fußnoten verzichtet, die - wie Fachkundige ohnehin leicht erkennen werden - die Grundlage meiner Ausführungen bildet. Für solche, die nach der Lektüre dieses Buches neugierig geworden sind und weiterlesen wollen, habe ich am Schluss einige ausgewählte Literaturhinweise zusammengestellt. Für diejenigen, die der altgriechischen Sprache kundig sind, finden sich wichtige Begriffe oder Wendungen bisweilen umschriftlich in Klammern hinzugesetzt. Für die große Mehrheit derer, die Altgriechisch nicht gelernt haben, finden sich alle diese Begriffe und Wendungen selbstverständlich zuvor in deutscher Übersetzung. Zudem rückt das hier vorgelegte Buch die historische und vor allem die überlieferungsgeschichtliche Fragestellung, die die exegetische Forschung zu den Passionserzählungen dominiert, in den Hintergrund. Stattdessen will es
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VorwOli
bewusst einen anderen Schwerpunkt setzen, der in besonderer Weise den Verkündigungs- und Erzählcharakter der Evangelien würdigt: Einerseits nämlich wollen die Evangelien weder vom öffentlichen Wirken Jesu noch von seinem Leiden und Sterben ein historisches Protokoll bieten. Andererseits - und dies ist in den letzten Jahren in der Evangelienforschung immer überzeugender nachgewiesen worden - wollen sie als Gesamterzählung ernst genommen, und nicht als "Zusammenstückelung" einzelner, ursprünglich eigenständiger Überlieferungs- bzw. Texteinheiten betrachtet werden. Im Rahmen der Evangelien als eines erzählerisches Gesamtwerks aber bildet die Passionserzählung einen integralen Bestandteil und nimmt zugleich breiten Raum ein. Dieser breite Raum entspricht der Bedeutung, die der Pass ionsüberlieferung in der urchristlichen Traditionsbildung von Anfang an zugemessen wurde. Angesichts dessen gilt es, die Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen den Passionserzählungen der vier Evangelien unter primär literarischer wie theologischer Perspektive herauszuarbeiten: Was kennzeichnet die literarische Gestaltung der markinischen Passionserzählung? Was übernehmen Matthäus und Lukas davon? Wo gehen dagegen sie und in besonderer Weise auch Johannes eigene Wege? Welche theologischen Aussageabsichten verfolgen die jeweiligen Evangelisten? Wie konturieren sie entsprechend die handelnden Personen? Wenn ich daher zum Beispiel vom markinischen oder matthäischen Jesus spreche, so meine ich damit die rur Markus bzw. Matthäus kennzeichnende literarische und theologische Ausgestaltung der Person Jesu innerhalb ihrer jeweiligen Passionserzählung. Meine Darstellung konzentriert sich also im Wesentlichen auf die vier verschiedenen Passionstexte, wie sie uns in den Evangelien vorliegen, und vergleicht sie miteinander. Dieser Vergleich wird um der Übersichtlichkeit willen nach Erzähleinheiten durchgeführt. Da ich bei den synoptischen Evangelien (Mk - Mt - Lk) die Zweiquellentheorie voraussetze (~ 1.2.), beginne ich stets mit der mk Darstellung einer Erzähleinheit, stelle dann die matthäische und lukanische Bearbeitung vor und präsentiere abschließend die johanneische Version. Trotz dieses Ansatzes der Texterschließung unter literarischen und theologischen Gesichtspunkten erhält auch eine (bisweilen exkursartige) Erörterung historischer und überlieferungsgeschichtlicher Rückfragen ihr Recht da, wo sie wertvolle Hintergrundinformationen beizusteuern hat. Dieses hier präsentierte Konzept der Erschließung der Passionstexte hat verschiedene "Probeläufe" bestanden. Dabei sind zunächst zu nennen ein Seminar im Sommersemester 2006 und eine V orlesung im Sommersemester 2007 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Salzburg. Darüber hinaus habe ich aber auch mit den Mitgliedern des Bibelkreises der Pfarrei St. Rupert in Freilassing die Passionstexte in der beschriebenen Weise erarbeitet. Bei ihnen handelt es sich fast ausschließlich um theologische Laien. Gleichwohl zeigten sie sich offen für das ihnen nicht vertraute
Vorwort
11
Lesen der Texte anband einer Evangeliensynopse - das sich begleitend auch bei der Lektüre dieses Buches empfiehlt - und blieben interessiert und engagiert bei der Sache. Den Studierenden in Salzburg wie auch den Mitgliedern des Bibelkeises in Freilassing danke ich rür alle Anregungen durch ihre Fragen, aber auch durch eigene Beobachtungen und Ideen. Ihnen allen sei daher dieses Buch gewidmet. Freilassing, 17. September 2007
Marlis Gielen
1. Einführung
1.1. Traditionsgeschichtliche Wurzeln und theologische Intention der urchristlichen Passionsüberlieferung Die in der Ostererfahrung wurzelnde Botschaft, dass Jesl1s von Nazaret durch Gottes Macht von den Toten auferweckt worden war, konnte nicht unter Ausblendung seines gewaltsamen Todes verkündet werden. Dies bestätigt nicht zuletzt eine sehr alte Verkündigungsformel, die den Kontrast zwischen dem Handeln der Menschen und dem Handeln Gottes an Jesus herausstellt: "Jesus, den ihr gekreuzigt habt, den Gott auferweckt hat von den Toten" (Apg 4,1 Ob; vgl. Mk 16,6; Röm 8,34a). Die Entstehung dieser so genannten Kontrastformel dürfte zurückreichen in die Anfange der Jerusalemer Urgemeinde, genauer: in die Phase ihrer frühen nachösterlichen Umkehrpredigt an die Adresse Israels. So fmden sich deutliche Rückgriffe auf diese Kontrastformel wiederholt in der Apg (vgl. 2,2224.36; 3,13-15; 5,30; 10,39f; 13,28-30), und zwar mit Ausnahme von 1O,39f stets im Kontext der (Missions-) Verkündigung an jüdische Adressaten. Die Verwendung der Kontrastformel durch Lukas in der Apostelgeschichte spiegelt also noch deutlich ihren ursprünglichen Sitz im Leben, nämlich die Umkehrpredigt an die Adresse Israels, wider.
Nun hielt allerdings die Kontrastformel nur knapp und prägnant das Faktum des Gegens,atzes zwischen menschlichem und göttlichem Handeln an Jesus fest. Doch sahen sich die Jünger und Jüngerinnen Jesu schon bald auch vor die Aufgabe gestellt, die Erfahrung und Bedeutung seiner Auferweckung im Licht der Passionsereignisse theologisch zu reflektieren. Die Passionserzählung darf daher berechtigterweise zum Urbestand der Jesusüberlieferung gerechnet werden. Dagegen hat sich die bisweilen vertretene These, Markus, den Erfinder der literarischen Gattung Evangelium, auch als Schöpfer der Passionserzählung zu betrachten, mit guten Gründen nicht durchgesetzt. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Markus bei der Abfassung seines Evangeliums die Passionsüberlieferung bereits in einer schriftlichen Version vorlag. Diese vormarkinische Passionserzählung dürfte aber ihrerseits das Ergebnis eines allmählichen Wachstumsprozesses darstellen, der schon in frühester nachösterlicher Zeit einsetzte. Denn die Erfahrung der Auferweckung Jesu nötigte und ermutigte seine Anhänger gleichermaßen, den in der heidnischen Gesellschaft als Sklaven- und Rebellenschicksal verachteten und in jüdischen Kreisen als Schicksal eines von Gott verfluchten Menschen (Dtn 21,22f; vgl. Gal 3,13) verpönten Kreuzestod (~ 3.13.1. Exkurs 4) in völlig neuem Licht zu sehen. So begann man etwa, anhand der Heiligen Schriften Israels - vor allem anhand der Leidenspsalmen
14
1. Einführung
22 und 69 - die Passion Jesu als Schicksal des leidenden Gerechten zu deuten, der von den Menschen verfolgt wird, dem von Gott aber Rechtfertigung zuteil wird. Den Kern der Passionserzählung bildete daher mit ho her Wahrscheinlichkeit die Kreuzigungsszene selbst. Doch wurde sie wohl kaum jemals isoliert überliefert. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sie von Beginn an durch weitere Erzähleinheiten gerahmt wurde. So dürfte die Kreuzigungsszene schon immer mit der abschließenden Szene der Grablegung durch Josef von Arimathäa verbunden gewesen sein. Ihr unmittelbar vorgeschaltet war wohl ebenfalls von Anfang an die Überlieferung vom Verhör Jesu durch Pilatus und seine anschließende Geißelung und Verspottung durch das römische Exekutionskommando. Dies war wichtig. Denn der römische Statthalter Pontius Pilatus hatte Jesus als Messias bzw. König der Juden und damit als politischen Rebell verurteilt. Darauf deutet die Schuldtafel am Kreuz hin, deren Aufschrift im Grundbestand mit erstaunlicher Konstanz in allen vier Evangelien gleich lautend überliefert ist mit: der König der Juden (ho basileus tön Iudaiön) (Mk 15,26 paff. Mt 27,37; Lk 23,38; vgl. loh 19,19). Daher musste einer theologischen Reflexion der Passionsereignisse nicht zuletzt daran gelegen sein aufzuzeigen, dass die Messianität Jesu durch seine Auferweckung bestätigt worden war. Zugleich aber galt es klarzustellen, dass diese Messianität Jesu sich nicht in politischen Kategorien erfassen ließ, sondern von endzeitlicher Qualität war: Durch seine Auferweckung von den Toten war Jesus in seine endzeitlich gültige Machtstellung zur Rechten Gottes eingesetzt worden (vgl. Röm 1,3f)! Dies wurde - auch außerhalb der Passionstradition - vor allem durch eine intensive Bezugnahme auf Ps 110,1 1 als schriftgemäß ausgewiesen (Mk 14,62 paff. Mt 26,64; Lk 22,.69; vgl. Mk 12,36 paff. Mt 22,44; Lk 20,42f; Apg 2,34f; 1Kor 15,25; Röm 8,34; Hebr 1,13 u.ö.). Die übrigen Bestandteile der Passionserzählung lagerten sich erst nach und nach an diesen inneren Kern an. Zum Teil existierten sie bereits als eigenständige mündliche Tradition. Ein Beispiel hierfür ist etwa die Überlieferung von der Einsetzung der Eucharistie (Mk 14,22-24 parr.). Sie hatte ihren ursprünglichen Sitz im Leben in der Liturgie (Feier des Herrenmahls) (vgl. 1Kor 11,23-25) und fehlt etwa in der johanneischen Erzählung vom letzten Mahl lesu mit seinen Jüngern. Ein weiteres Beispiel ist die Erzählung von der Salbung Jesu durch eine Frau, die sich etwa im Lukasevangelium außerhalb der Passionserzählung findet (vgl. Lk 7,36-50). Auch Johannes, der diese Salbung in Übereinstimmung mit Mk 14,3-9 par. Mt 26,6-13 als vorweggenommene Totensalbung versteht, überliefert sie in 12,1-8 und damit zwar in zeitlicher und sachlicher Nähe zu den Passionsereignissen, aber denPs 110,1 (EÜ): SO spricht der Herr zu meinem Herrn: Setze dich mir zur Rechten, und ich lege dir deine Feinde als Schemel unter die Füße.
1.1. Traditionsgeschichtliche Wurzeln und theologische Intention
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noch außerhalb seiner Passionserzählung, die mit 13,1 beginnt. Zum Teil aber dürften die später hinzu gekommenen Erzähleinheiten auch bewusst zur Erweiterung der bereits kursierenden Passionstradition komponiert worden sein. Mit ihnen verband sich die Absicht, die intendierte christliche Leserschaft zu erbauen oder auch zu ermahnen. Als Beispiel hierfür lässt sich etwa die Getsemaneszene (Mk 14,32-42 parr. Mt 26,36-46; Lk 22,39.40-46) anführen. So dient in dieser Erzählszene einerseits Jesu Verhalten als Vorbild der Ergebung in Gottes Willen, andererseits aber das Jüngerverhalten als Warnung vor den Gefahren drohender Versuchung. Verschiedentlich wird auch die Erzählung von der Verleugnung Jesu durch Petrus (Mk 14,6672 parr. Mt 26,69-75; Lk 22,56-61) in diesem Zusammenhang genannt. Doch ist hier meines Erachtens Vorsicht geboten. Denn es ist doch eher zu bezweifeln, dass diese Episode, die das wohl prominenteste Mitglied des vorösterlichen Jüngerkreises Jesu und zugleich eine der wichtigsten Führungspersönlichkeiten des Urchristentums in ein solch ungünstiges Licht rückt, allein aus Gründen der mahnenden Unterweisung der Gemeinden nachösterlich konzipiert worden sein sollte. Plausibler dürfte dagegen sein, dass die Erinnerung an die tatsächlich erfolgte Verleugnung des gefangengenommenen J esus durch Petrus in den ersten Gemeinden zunächst durch mündliche Weitergabe wachgehalten wurde und ähnlich wie die Herrenmahltradition erst später an den ältesten Kern der Passionserzählung angelagert wurde.
Eine grundlegende Übereinstimmung zwischen der Passionsüberlieferung und den später entstandenen Evangelien besteht also darin, dass sie von Beginn an kein historisches Protokoll der (Leidens-)Geschichte Jesu sein wollten. Vielmehr war es von Beginn an Absicht der entstehenden und sich weiter entwickelnden Passionstradition, das geschichtliche Faktum der Hinrichtung Jesu von Nazaret am Kreuz durch die Römer im Lichte des Osterglaubens und mit Hilfe der religiösen Traditionen Israels theologisch zu deuten. Für die Überlieferung vom Leiden und Sterben Jesu wählten die nachösterlichen Trägerkreise und ihnen folgend die Verfasser der Evangelien also nicht die Gattung des Berichts oder der Chronik, sondern der Geschichtserzählung. Eine solche Geschichtserzählung kennzeichnet es aber, dass ihr zwar wirkliche Geschehnisse zugrunde liegen. Diese werden jedoch nicht nur als bloß geschichtliche Fakten notiert, sondern sie werden aus der Perspektive des Glaubens interpretierend erzählt. Damit also leistet eine solche Geschichtserzählung sehr viel mehr als ein Bericht oder eine Chronik, denn sie gibt den Lesern und Leserinnen einen Interpretationsschlüssel zum Verständnis der Geschehnisse an die Hand. Dieser Vorzug aber kann nur dann zur Geltung kommen, wenn man die urchristliche Passionserzählung, wie sie uns in den vier kanonischen Evangelien vorliegt, gattungsgerecht liest und nicht unsachgemäß und intentionswidrig zu einem historischen Protokoll degradiert. Davor aber kann auch und gerade eine sorgfältige synoptische Lektüre der Passionstexte bewahren. Denn sie lässt nicht nur ihre Gemeinsamkeiten erkennen, sondern macht eben auch ihre Unterschiede bewusst, die sich nicht einfach historisch einebnen und harmonisieren lassen.
16
1. Einführung
Vielmehr fordern diese Unterschiede dazu auf, den jeweiligen Besonderheiten in der literarischen Gestaltung und der theologischen Akzentuierung nachzuspüren, um so die je eigenen Aussageabsichten und -schwerpunkte der Passionserzählungen nach Markus, Matthäus, Lukas und Johannes zu entdecken.
1.2. Das Verhältnis zwischen den synoptischen Passionserzählungen und der Passionserzählung nach Johannes Die drei Evangelien nach Mk, Mt und Lk weisen - bei allen eigenen Akzenten, die sie setzen - so große Übereinstimmungen auf, dass man sie in Spalten nebeneinander drucken und zusammenschauen, eben syn-optisch lesen kann. Als Erklärungsmodell für die unverkennbar engen Beziehungen zwischen diesen drei ersten Evangelien, die daher auch als synoptische Evangelien bezeichnet werden, hat sich in der exegetischen Forschung seit über hundertfünfzig Jahren die so genannte Zweiquellentheorie bewährt. Sie geht von folgenden Grundannahmen aus: Mk ist das älteste Evangelium. Es stand Mt und Lk gleichermaßen als Quelle zur Verfügung. Beide legten es ihren Evangelienschriften zugrunde und arbeiteten - abgesehen von ihrem jeweiligen Sondergut - eine weitere Quelle in den von Mk vorgebenen und von ihnen übernommenen Erzählrahmen ein. Diese Quelle enthielt überwiegend Jesusworte und wird daher als Spruch-, Reden- oder Logienquelle bezeichnet. Als eigenständiges Werk ist sie nicht erhalten, sondern kann nur aus dem Vergleich zwischen den zahlreichen Passagen, die Mt und Lk zusätzlich zum Markusstoff gemeinsam aufweisen, rekonstruiert werden. Dieser Vergleich bringt eine so hohe Übereinstimmung im Wortlaut dieser Passagen zutage, dass die Logienquelle Mt und Lk in schriftlicher Form vorgelegen haben muss. Für eine Unabhängigkeit zwischen Mt und Lk spricht aber ebenso zwingend die unterschiedliche Art, wie sie die Logienquelle in die Konzeption des Mk einbauen: Während Lk die Logienquelle in zwei Blöcken in die mk Erzählabfolge einschaltet (Lk 6,20-8,3; 9,51-18,14), verteilt Mt ihr Material über die gesamte Phase des bei Mk geschilderten öffentlichen Wirkens Jesu. Der synoptische Vergleich zeigt im Übrigen auch, dass die Logienquelle offenbar keine Passionsüberlieferung enthielt.
Das Johannesevangelium dagegen weicht von den synoptischen Evangelien doch erheblich ab. Zwar ist es vor dem Hintergrund von Mk, Mt und Lk unschwer als weiteres Beispiel der literarischen Gattung "Evangelium" zu identifizieren. Vor allem weist es einen mit den Synoptikern übereinstimmenden Gesamtrahmen der Erzählung auf, die einsetzt mit dem Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu, und zwar in Verbindung mit dem Auftreten Johannes des Täufers, und die sich erstreckt bis zu den Passions- und Osterereignissen. Doch im Unterschied etwa zum synoptischen Jesus verkündet der johanneische Jesus nicht den Anbruch der endzeitlichen Herrschaft Gottes. Entsprechend fehlen auch die synoptischen Gleichnisse als typische Sprachform rur die jesuanische Verkündigung der Gottesherrschaft. Bei Joh verkündet Jesus vielmehr sich selbst und zwar in seinem Verhältnis zum himmlischen Vater. Als charakteristische Sprachform hierfür finden sich im
1.2. Das Verhältnis zwischen den Passionserzählungen
17
vierten Evangelium die Offenbarungsreden Jesu. Auch im Bereich der Wundererzählungen, die bei Joh "Zeichen" heißen, gibt es nur wenige Überschneidungen zur synoptischen Überlieferung. Zu nennen ist hier allenfalls die Heilung des Knechtes (synoptisch) bzw. Sohnes Goh) des Hauptmanns von Kafarnaum (Lk 7,1-10 par. Mt 8,5-13; vgl. Joh 4,46b-54) und die große Speisung mit anschließendem Seewandel Jesu (Mk 6,32--44.45-52 parr. Lk 9,10b-17; Mt 14,13-21.22-33; vgl. Joh 6,1-15.16-21). Mit Beginn der Passionserzählung Joh 13,1 allerdings ändeli sich das Bild. Hier geht nun Joh plötzlich vor allem in der Abfolge und im Inhalt der Erzählabschnitte, teilweise aber sogar auch bis in den Wortlaut hinein, mit den synoptischen Evangelien so weitgehend parallel, dass man seinen Text sinnvoll in einen synoptischen Vergleich einbeziehen kann. Dies gilt ungeachtet der joh Eigenheiten in der jeweiligen Ausgestaltung, wie sie etwa besonders deutlich in den Abschiedsreden (Joh 13,31-17,26) zutage treten. Eine allgemein akzeptierte Erklärung für das Phänomen der deutlichen Annäherung zwischen den Synoptikern und Joh im Rahmen der Passionserzählung gibt es bis heute noch nicht. Zwei Erklärungsmodelle erweisen sich als besonders einflussreich. Das eine Modell geht davon aus, dass Joh eine vorjoh Passionserzählung verarbeitete, die zusammen mit der Passionserzählung, die Mk vorfand, auf einen gemeinsamen Grundbestand zurückgefümi werden könne. Vor der Übernahme in das MkEv bzw. JohEv sei noch eine Phase zu postulieren, in der sich aus diesem Grundbestand unabhängig voneinander die vormk und die vorjoh Passionserzählung weiter entwickelten. Dieses Modell setzt eine Kenntnis des Mk (bzw. der Synoptiker) durch den Verfasser des JohEv nicht voraus. Das andere wichtige Erklärungsmodell nimmt dagegen an, dass Joh zumindest das MkEv kannte, eine These, die in der jüngeren Johannesforschung - wie ich meine zu Recht - zunehmend an Gewicht gewinnt. Für diese These sprechen folgende Überlegungen: Ist es wirklich realistisch anzunehmen, dass Joh geraume Zeit nach Mk und ohne Kenntnis des von ihm verfassten Evangeliums die Gattung neu erfunden haben sollte? Und warum sollte ausgerechnet in der joh Gemeinde das MkEv unbekannt geblieben sein, obwohl es im Urchristentum offenbar rasch weite Verbreitung fand?
Ausgehend von der Annahme einer Kenntnis des MkEv durch Joh (und seine Gemeinde) sei es aber nahe liegend - so die logische Schlussfolgerung des zweiten Erklärungsmodells -, dass die joh Passionserzählung auf der mk Passionserzählung fuße und von ihr abhängig sei. Vielleicht ist der Überlieferungsprozess sogar noch vielschichtiger. So müssen sich die beiden Erklärungsmodelle keineswegs ausschließen, sondern können sich durchaus ergänzen. Das heißt, der Verfasser des Joh könnte etwa ungeachtet seiner Kenntnis des Mk und damit der mk Passionserzählung eine vorjoh Passionsüberlieferung zur Verfügung gehabt haben. Noch komplexer stellt sich die Problematik dar, wenn man die lk Passions-
18
1. Einführung
erzählung in die Überlegungen einbezieht. So fällt der hohe Anteil an Sondergut in Lk 22f auf. Zu nennen sind hier etwa folgende Szenen: Jesus bei Herodes (23,6-12), Begegnung mit den weinenden Frauen auf dem Kreuzweg (23,27-31) sowie das Gespräch zwischen den beiden Schächern und Jesus am Kreuz (23,39-43). Eine Besonderheit innerhalb der synoptischen Evangelien stellen in der lk Passionserzählung auch die Abschiedsreden Jesu im Anschluss an das letzte Mahl mit seinen Jüngern dar (22,24-38). Sie besitzen eine formale - wenngleich inhaltlich sehr unterschiedlich gestaltete und umfangmäßig erheblich erweiterte - Parallele in den joh Abschiedsreden (Joh 13,31-17,26). Zugleich gibt es weitere auffällige Berührungen zwischen der lk und joh Passionserzählung: l. Satan spielt eine aktive Rolle beim Verrat des Judas (Lk 22,3; Joh 13,27); 2. dem Knecht des Hohenpriesters wird das rechte Ohr abgehauen (Lk 22,50; Joh 18,10); 3. Pilatus erklärt dreimal Jesu Unschuld (Lk 23,4.14.22; Joh 18,38; 19,4.6); 4. der Kreuzigungsrufdes Volkes wird verdoppelt (Lk 23,21; Joh 19,6); 5. die Information, dass das Grab Jesu neu war (Lk 23,53; Joh 19,41). All diese Beobachtungen werfen die Frage nach einer eigenen vorlk Passionserzählung auf, die verbunden ist mit der Frage nach möglichen überlieferungsgeschichtlichen Querverbindungen zwischen einer vorlk und einer vorjoh Passionserzählung. Auch Mt weist einen gewissen Sondergutanteil in seiner Passionserzählung auf. So erzählt nur er im Kontext des Leidens und Sterbens Jesu vom Tod des Judas Iskariot (27,3-10). Doch findet sich diese Thematik - allerdings in deutlich anderer Akzentuierung - auch in Apg 1,15-20. Dies legt die Vermutung nahe, dass es eine eigenständige Überlieferung vom Schicksal des Judas gab, die wahrscheinlich außerhalb der Passionstradition kursierte und erst von Mt in den Passionskontext eingefügt wurde. Eine weityre Besonderheit innerhalb der mt Passionserzählung, die eine eigene Erzähleinheit bildet, stellt die Bitte der Hohenpriester und Pharisäer um die Sicherung des Grabes Jesu dar (27,62-66). Sie findet im Rahmen der mt Osterüberlieferungen ihre abschließende Fortsetzung mit der Sonderguterzählung von der Bestechung der Grabwächter durch die Hohenpriester (28,11-15). Erwähnung verdienen darüber hinaus noch zwei mt Sondergutnotizen, die sich innerhalb von Erzählabschnitten finden, die Mt von Mk übernommen hat. Bei der ersten Notiz in 27,19 (Pilatusverhör) handelt es sich um die Warnung vor einer Verurteilung Jesu, die die Frau des Pilatus dem Statthalter aufgrund eines Traumes zukommen lässt. Die zweite Notiz in 27,52f (Kreuzigungs szene) hält die Öffnung der Gräber und die Auferstehung der Heiligen beim Tod Jesu fest. Doch ungeachtet seines Sondergutes weist Mt die engste Beziehung zur mk Passionserzählung sowohl im konzeptionellen Aufbau wie auch in der Gestaltung der einzelnen Erzähleinheiten auf. Eine eigenständige vormt Tradition der Passionserzählung wird daher nicht diskutiert. Das mt Sondergut im Rahmen der mt Passionserzählung dürfte sich am ehesten mündlicher Gemeindeüberlieferung und/oder mt Redaktion verdanken.
2. Die Passionserzählungen der Evangelienein erster Überblick über Bestand und Abfolge der einzelnen Szenen
Bestand und Abfolge der Szenen in den Passionserzählungen der vier Evangelien Die Szenen und ihre Themen
Joh
Mt
Mk
Todesbeschluss der jüdischen Autoritäten
26,1-5
14,1-2
22,1-2
[11,47-53]
Salbung Jesu
26,6-13
14,3-9
[7,36-50]
[12,1-8]
Judas bei den jüdischen Autoritäten
26,14-16
14,10-11
22,3-6
xxxxxxx
Vorbereitung zum letzten Mahl
26,17-19
14,12-16
22,7-13
xxxxxxx
Letztes Mahl Jesu mit den Zwölfen
26,20-29
14,17-25
22,14-23
13,1-30
Abschiedsreden Jesu nach dem Mahl
xxxxxxx
xxxxxxx
22,24-38
13,31-17,26
Gang zum Ölberg und Ansage der Verleugnung des Petrus
26,30-35
14,26-31
22,39 [22,31-34]
18,1 [13,36-38]
Getsemane
26,36-46
14,32-42
22,40-46
xxxxxxx
Lk
[12,27; 18,llb] Verhaftung Jesu
26,47-56
14,43-52
22,47-53
18,2-12
Verhör Jesu durch die jüdischen Autoritäten
26,57-68
14,53-65
22,54f. 22,63-71
18,13f. 18,19-24
Verleugnung des Petrus und ÜbersteIlung Jesu an Pilatus
26,6927,2
14,6615,1
22,56-62; 23,1
18,15-18.2528a
Tod des Judas
27,3-10
xxxxxxx
[Apg 1,15-20] xxxxxxx
Verhör Jesu durch Pilatus
23,11-25
15,2-15
23,2-5.13-25
18,28b-19,16a
Jesus vor Herodes
xxxxxxx
xxxxxxx
23,6-12
xxxxxxx
Kreuzigung Jesu
27,26-44
15,16-32
23,26-43
19,16b-27
Tod Jesu
27,45-56
15,33-41
23,44-49
19,28-37
Grablegung Jesu
27,57-61
15,42-47
23,50-56
19,38-42
Sicherung des Grabes
27,62-66
xxxxxxx
xxxxxxx
xxxxxxx
Bevor wir uns den einzelnen Szenen bzw. Erzählabschnitien der Leidensgeschichte widmen und sie auf ihre spezifische literarische Gestaltung und
20
2. Die Passionserzählungen der Evangelien - ein erster Überblick
theologische Akzentuierung in den vier Evangelien befragen, ist es hilfreich, sich eine erste, grundlegende Orientierung über Bestand und Abfolge der Szenen in den jeweiligen Passionserzählungen nach Mk, Mt, Lk und Joh zu verschaffen. Dabei dient Mk als Leitfaden der Orientierung, weil es sich bei diesem Evangelium einem breiten Forschungskonsens nach um das älteste Evangelium handelt und weil es unter Voraussetzung der Zweiquellentheorie zumindest von Mt und Lk als literarische Vorlage genutzt wurde. Doch darf auch mit einiger Berechtigung eine Kenntnis des Mk und damit der mk Passionserzählung bei Joh angenommen werden, ungeachtet der Möglichkeit, dass ihm eine von Mk unabhängige Tradition zur Verfügung stand (---) 1.2.). Die mk Passionserzählung setzt in 14,1 f. mit der knappen Notiz vom Todesbeschluss der jüdischen Autoritäten gegen Jesus ein. Diese Anfangsszene übernehmen auch Mt in 26,1-5 und Lk in 22,1 f für ihre Darstellung des Leidens und Sterbens Jesu. Auch Joh kennt die Szene vom Todesbeschluss der jüdischen Autoritäten. Anders als Mk und seine Seitenreferenten verwendet er sie jedoch nicht, um mit ihr die Schilderung der Passionsereignisse zu eröffnen. Er arbeitet sie vielmehr bereits in 11,47-53 im Anschluss an die Erzählung von der Auferweckung des Lazarus durch Jesus ein. Auf den Todesbeschluss folgt bei Mk als nächste Szene in 14,3-9 die Salbung Jesu durch eine anonyme Frau, die als vorweggenommene Totensalbung gedeutet wird (14,8). Mt übernimmt in 26,6-13 diese mk Vorgabe. Erneut im Vorfeld der Leidensgeschichte, jedoch aufgrund der mit Mk übereinstimmenden Deutung in sachlichem Bezug zu den Passionsereignissen erzählt auch Joh in 12,1-8 von einer Salbung Jesu, die in joh Darstellung von Maria, der Schwester des Lazarus vorgenommen wird. Ganz eigene Wege geht dagegen Lk. Bei ihm sucht man im Kontext der Passion Jesu vergeblich nach einer Salbungserzählung. Stattdessen wird man in einem viel früheren Stadium seiner Jesusgeschichte fündig. Schon in 7,36-50 erzählt Lk nämlich, dass Jesus noch während seines Wirkens in Galiläa von einer ebenfalls namenlos bleibenden - Sünderin als Zeichen ihrer Reue und Ehrerbietung gesalbt wird. In der mk Passionserzählung folgt auf die Salbung Jesu zunächst die Szene, die den zum Verrat entschlossenen Judas bei den jüdischen Autoritäten zeigt (14,10-11). Die anschließende Szene (14,12-16) lenkt den Blick dann auf die Vorbereitung des letzten Mahles Jesu mit den Zwölfen. Beide Szenen werden sowohl von Mt (26,14-16.17-19) als auch von Lk (22,36.7-13) übernommen. Bei Joh dagegen fehlen sie. In 14,17-25 erzählt Mk vom letzten Mahl Jesu mit seinem engsten Jüngerkreis. Zentrale Themen dieser Erzähleinheit sind zum einen die Ansage Jesu, dass einer aus diesem Kreis ihn verraten werde, und zum anderen die Einsetzung der Eucharistie. Mt schließt sich in 26,20-29 einmal mehr eng an seine mk Vorlage an. Lk erweitert die Szene vom letzten Mahl (22,14-38), indem
2. Die Passionserzählungen der Evangelien - ein erster Überblick
21
er über die mk Vorlage hinausgehend in 22,24-38 Abschiedsreden einfügt, in die er auch die jesuanische Vorhersage von der Verleugnung durch Petrus (22,31-34) integriert. Mit der Szene vom letzten Mahl Jesu mit den Zwölfen setzt nun auch die joh Passionserzählung in 13,1-30 ein. Im Unterschied zur synoptischen Abendmahlsüberlieferung fehlt bei Joh die Erzählung von der Einsetzung der Eucharistie. Stattdessen bietet er eine Erzählung von der Übernahme des Sklavendienstes der Fußwaschung an den Jüngern durch Jesus, wobei diese Handlung eigens gedeutet wird (13,3-20). In Übereinstimmung mit den Synoptikern erzählt auch Joh im Kontext der Abendmahlsszene von der jesuanischen Ankündigung des Verrats aus dem Jüngerkreis (13,21-30). Strukturell besonders enge Berührungen zeigen sich darüber hinaus zwischen der lk und der joh Abendmahlsszene. Wie Lk fügt auch Joh der Erzählung vom letzten Mahl Abschiedsreden Jesu an, allerdings in erheblich größerem Umfang (13,31-17,26), und wie Lk integriert auch Joh die Ansage der Petrusverleugnung in diese Abschiedsreden (13,36-38). Auf die Abendmahlsszene folgt in der mk Passionserzählung in 14,26-31 der Gang zum Ölberg. Erst auf dem Weg dorthin sagt der mk Jesus seine Verleugnung durch Petrus voraus. Mt rezipiert Mk 14,26-31 in 26,30-35. Entsprechend der in die Abschiedsreden vorgezogenen Verleugnungsankündigung können sich Lk in 22,39 und Joh in 18,1 auf eine kurze Notiz des Orts wechsels beschränken. Die Szene des Ringens Jesu mit Gott im Gebet um Abwendung oder Annahme seines drohenden Leidens im Garten Getsemane schließt sich in Mk 14,32-42 an und wird von bei den Seitenreferenten übernommen (Mt 26,3646; Lk 22,40-46). Die joh Passionserzählung weist die Getsemaneszene nicht auf. Aus 12,27 und 18,llb geht aber untrüglich hervor, dass Joh diese Szene bekannt war. Die in Mk 14,43-52 unmittelbar auf die Getsemaneszene folgende Erzähleinheit von der Verhaftung Jesu findet in Mt 26,47-56 sowie in Lk 22,47-53 ihre Entsprechung. Auch der vierte Evangelist erzählt in 18,2-12 von dieser Aktion der Gefangennahme, die in der joh Regie des Geschehens allerdings aufgrund der fehlenden Getsemanepassage unmittelbar mit der Notiz des Ortswechsels in 18,1 verbunden ist. Die beiden nächsten Szenen, nämlich das Verhör Jesu durch die jüdischen Autoritäten (Mk 14,53-65) sowie Jesu Verleugnung durch Petrus samt der abschließenden Notiz der ÜbersteIlung Jesu an Pilatus (Mk 14,66-15,1), müssen gemeinsam betrachtet werden.
22
2. Die Passionserzählungen der Evangelien - ein erster Überblick Joh 18,13-28a
Mk 14,53-15,1
Lk 22,54-23,1
57 Überstellung in hp Palast
53 Überstellung in hp Palast
54 Überstellung in hp Palast
58 Notiz über Aufenthalt des Petrus
54 Notiz über Aufent- 55 Notiz über Aufent- 15-18: Notiz über Aufenthalt des Petrus halt des Petrus halt des Petrus
59-66 Verhör vor HR (nachts)
55-64 Vel'hör vor HR (nachts)
56-62 Verleugnung durch Petrus
19-23 Befragung durch Hannas
67-68 Misshandlungsszene
65 Misshandlungsszene
63-65 Misshandlungsszene
22 Misshandlungsszene
Mt 26,57-27,2
12-14: Überstellung an Hannas
24 Überstellung an Kaiaphas 69-75 Verleugnung durch Petrus
66-72 Verleugnung durch Petrus
66-71 Verhör vor HR (tagsüber)
25-27 Verleugnung durch Petrus
27,1 f Überstellung anPilatus
15,1 Überstellung an Pilatus
23,1 Überstellung an Pilatus
28a Überstellung von Kaiaphas an Pilatus
Die mk Ereignisfolge, die Mt exakt übernimmt, beginnt mit einer kurzen Notiz der ÜbersteIlung Jesu zum Hohenpriester Kaiaphas (14,53 par. Mt 26,57), der sich eine ebenso knappe Erwähnung über den Aufenthaltsort des Petrus anschließt (14,54 par. Mt 26,58). In 14,54-64 par. Mt 26,59-66 folgt darauf die Schilderung des nächtlichen Verhörs Jesu vor dem Hohen Rat, das vom Hohenpriester Kaiphas geführt wird und in ein einstimmiges Todesurteil mündet. Die Szene endet mit einer Misshandlung Jesu durch die Ratsmitglieder (14,65 par. Mt 26,67f), bevor dann in der nächsten Szene der Blick auf Petrus gelenkt wird, der - vom Gesinde des Hohenpriesters mehrfach auf seine Bekanntschaft mit Jesus angesprochen - diesen beharrlich verleugnet (14,66-72 par. Mt 26,69-75). Die Notiz von der ÜbersteIlung Jesu an Pilatus (15,1 par. Mt 27,1f) leitet schließlich zur nachfolgenden Szene des Verhörs Jesu durch den römischen Statthalter über. Die lk wie die joh Passionserzählung stimmen nun mit der mk Darstellung in der Szenenfolge grundsätzlich überein. In der konkreten Ausgestaltung aber gehen sie je eigene Wege. Zunächst noch parallel zu Mk erzählt auch Lk von der Überstellung Jesu zum Hohenpriester Kaiaphas unmittelbar nach seiner Verhaftung (22,54; vgl. Mk 14,53) und erwähnt darauf den Aufenthalt des Petrus (22,55; vgl. Mk 14,54). Dann aber zieht er die Verleugnung Jesu durch Petrus vor, indem er sie unmittelbar an die Aufenthaltsnotiz anschließt (22,5662). Erst danach lenkt er die Aufmerksamkeit auf die Geschehnisse um Jesus selbst. Erneut kehrt er dabei die Handlungsfolge um. Denn die Misshandlung Jesu geht in 22,63-65 seinem Verhör vor dem Hohen Rat (22,66-71) voraus, das der lk Darstellung nach in Abweichung der mk/mt Chronologie nicht bereits während der Nacht, sondern erst bei Tagesanbruch stattfindet. Entsprechend zeichnen rür die Misshandlung Jesu bei Lk auch nicht die Ratsmit-
2. Die Passionserzählungen der Evangelien - ein erster Überblick
23
glieder, sondern die Bewacher lesu verantwortlich. Nochmals eigene Akzente setzt loh. Auch bei ihm setzt die Szene des Verhörs lesu durch jüdische Autoritäten mit einer kurzen Überstellungsnotiz ein (18,12-14). Doch wird Jesus zunächst nicht zum amtierenden Hohenpriester Kaiaphas geführt, sondern zu dessen Schwiegervater Hannas. In Übereinstimmung mit der Abfolge bei Mk und seinen Seitenreferenten folgt dann auch bei Joh eine Notiz über den Aufenthalt des Petrus (18,15-18). Strukturell vergleichbar mit dem nächtlichen Verhör lesu durch Kaiaphas in mk/mt Darstellung ist der Erzählabschnitt Joh 18,19':"-23. Doch statt eines offiziellen Verhörs durch einen Amtsträger in Anwesenheit des Hohen Rates erfolgt in joh Darstellung nur eine eher informelle Befragung Jesu durch Hannas. In die Darstellung dieser Befragung ist bei Joh in 18,22 die Misshandlung Jesu integriert, die freilich gegenüber der synoptischen Version reduziert ist auf eine Ohrfeige, die Jesus von einem dabeistehenden Diener erhält. Die Befragung schließt joh mit einer Notiz von der Überstellung Jesu an den Hohenpriester Kaiaphas (18,24). Sie wird in 18,28a ergänzt durch eine weitere Notiz von der Überstellung Jesu von Kaiaphas zu Pilatus, die sachlich wie strukturell der synoptischen Darstellung entspricht. Zwischen diese beiden Überstellungsnotizen fUgt Joh in 18,25-27 die Erzählung von der Verleugnung Jesu durch Petrus ein. Durch diese geschickte Erzählanordnung lenkt er davon ab, dass er sich über die Begegnung zwischen Jesus und Kaiaphas in Schweigen hüllt. In deutlicher Abweichung von den synoptischen Pass ions erzählungen findet sich in joh Darstellung auch kein Hinweis auf eine wie auch immer geartete Einbindung des Hohen Rates in die Passionsereignisse. Eine erste deutliche Abweichung von der Szenenfolge der mk Leidensgeschichte erlaubt sich Mt in 27,3-10, indem er hier eine Überlieferung vom Ende des Judas vor die Szene des Verhörs Jesu durch Pilatus einschaltet. Innerhalb der Passionstradition handelt es sich bei dieser Episode um mt Sondergut. Doch kennt auch Lk eine Überlieferung vom Tod des Judas, die er jedoch in Apg 1,15-20 im Kontext der Nachwahl des Matthias verarbeitet. Vorbereitet durch die Überstellungsnotiz in 15,1 schließt sich bei Mk in 15,2-15 nahtlos der Erzählabschnitt vom Verhör Jesu durch den römischen Statthalter an. In 27,11-25 greift Mt diesen Markusfaden wieder auf. Auch Lk folgt seiner Vorlage in 23,2-5.13-25, fügt allerdings als Sondergut in 23,6-12 die Episode von der Begegnung Jesu mit dem für Galiläa zuständigen römischen Vasallenkönig Herodes ein. Schließlich fährt loh nach der vorbereitenden Notiz in 18,28a in 18,28b-19,16a erwartungsgemäß ebenfalls mit dem Pilatusverhör fort. Auch im Anschluss an das Pilatusverhör ist unter der Perspektive der Makrostruktur eine Übereinstimmung zwischen den Passionserzählungen aller vier Evangelien zu verzeichnen. Gleichermaßen kulminieren sie in den beiden Szenen der Kreuzigung lesu (Mk 15,16-32 parr. Mt 27,26-44; Lk 23,26-43; loh 19,16b-27) sowie seines Todes mit anschließender Grab-
24
2. Die Passionserzählungen der Evangelien - ein erster Überblick
legung (Mk 15,33-47 parr. Mt 27,45-61; Lk 23,44-56; Joh 19.28-42). Mt fugt der Grablegung in 27,62-66 noch eine Sondergutpassage an, die von der Sicherung des Grabes Jesu erzählt und die ihr narratives Widerlager in der mt Osterüberlieferung mit der Erzählung von der Bestechung der Grabwächter durch die Hohenpriester (28,11-15) findet. Im Ergebnis lassen sich die Beobachtungen, die zum Bestand und zur Abfolge der Szenen in den Passionserzählungen der vier Evangelien gesammelt werden konnten, wie folgt würdigen: Anders als Mt, der alle Szenen der mk Passionserzählung übernimmt, allerdings mit dem Tod des Judas (27,3-10) und der Sicherung des Grabes (27,62-66) auch zwei Sondergutszenen in den Markusfaden einfugt, ist bei der lk wie der joh Passionserzählung eine größere Variabilität zu verzeichnen. Von den ersten sieben bei Mk vorgegebenen Szenen (Todesbeschluss bis Getsemane) übernimmt Lk alle mit Ausnahme der Salbungsszene, die er in einem ganz anderen Kontext bereits in 7,36-50 erzählt hat. Über Mk hinausgehend fugt er an die Mahlszene noch Abschiedsreden Jesu an (22,24-38), in die er die Ansage der Petrusverleugnung integriert. Entsprechend reduziert sich die Szene des Weges zum ÖIberg auf eine kurze Notiz des Ortswechsels (22,39). Joh hat bezogen auf die mk Vorgaben zwischen Todesbeschluss und Getsemane einzig die Mahlszene mit Mk gemeinsam. Die beiden ersten Szenen des Todesbeschlusses (11,47-53) und der Salbung Jesu (12,1-8) überliefert er zwar im näheren Kontext, aber eben außerhalb seiner Passionserzählung, die erst in 13,1 beginnt. Deutliche Parallelen zu Lk zeigen sich bei den - allerdings erheblich umfangreicheren - Abschiedsreden (13,31-17,26), die ebenfalls die Ansage der Petrusverleugnung einschließen, und - damit zusammenhängend - bei . der Beschränkung auf die Ortswechselnotiz in 18,1. Blickt man auf die folgenden sechs Szenen der mk Passionserzählung (Verhaftung bis Tod und Grablegung Jesu), so übernimmt Lk alle, fugt jedoch in das Pilatusverhör eine eigene Szene der Begegnung Jesu mit Herodes ein (23,6-12). Und auch Joh stimmt in diesem Teil der Passionserzählung in Bestand und Abfolge der Szenen lückenlos mit dem Markusfaden überein. Es gilt also, eine gewisse Zweiteilung festzuhalten: Orientiert an Bestand und Abfolge der Szenen im Mk lässt sich bis einschließlich der Getsemaneerzählung anhand des lk und vor allem des joh Befundes eine relativ große Variabilität beobachten. Von der Verhaftung Jesu an bis zu Tod und Grablegung dagegen weisen Bestand und Abfolge der Szenen eine große Übereinstimmung zwischen allen vier Evangelien auf. Möglicherweise spiegelt sich in diesem Befund noch der traditions geschichtliche Wachstumsprozess der Passionserzählung wider (~ 1.1.).
3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu im Spiegel der vier Evangelien 3.1. Der Todesbeschluss der jüdischen Autoritäten gegen Jesus 3.1.1. Die markinische Darstellung Mk 14,1-2 Der Todesbeschluss der jüdischen Autoritäten gegen Jesus, mit dem Mk in 14,1 f seine Passionserzählung eröffnet, trifft seine Leser nicht unvorbereitet. Wiederholt nämlich sind sie in den vorausgehenden 13 Kapiteln auf das vom religiös-politischen Establishment betriebene gewaltsame Ende Jesu hingewiesen worden. So beraten Pharisäer und Herodianer schon zu einem frühen Zeitpunkt des galiläischen Wirkens Jesu, wie sie ihn umbringen könnten, nachdem er zuvor am Sabbat eine Heilung vorgenommen hat (3,6). In Mk 3,19 tritt zum ersten Mal im Kontext der Einsetzung des Zwölferkreises Judas Iskariot als die Person in den Blick, die Jesus an die jüdischen Autoritäten ausliefern wird. Doch auch Jesus selbst weiß um das Leidensgeschick, das ihn erwartet. Dreimal - in Caesarea Philippi, auf einer Wanderung in Galiläa und schließlich bereits auf dem Weg nach Jerusalem - kündigt er seinen Jüngern sein bevorstehendes Leiden und Sterben an, stets freilich bereits mit der Perspektive seiner Auferstehung nach drei Tagen (8,31; 9,31; 10,32-34). Die jesuanischen Leidensankündigungen haben für die theologische Konzeption der mk Jesusgeschichte eine geradezu konstitutive Bedeutung. 2 Um Einsicht in diese Konzeption zu gewinnen, will beachtet sein, dass auf alle Leidensansagen unmittelbar ein Beleg für das Unverständnis der Jünger folgt (8,32; 9,32.33f; 10,35-37), dem sich jeweils wieder eine Zurechtweisung der Jünger durch Jesus bzw. ihre Einweisung in seine (Leidens-)Nachfolge lmd in seinen Dienst der (Lebens-)Hingabe anfügt (8,33.34-9,1; 9,35-37; 10,38-40.41-45). Den Schlüssel zum Verständnis seines theologischen Konzepts liefert Mk dadurch, dass er die erste Leidensankündigung auf das Christus bekenntnis des Petrus (8,29) folgen lässt. Auf dieses zutreffende Bekenntnis, das er also auch keineswegs korrigiert, reagiert der mk J esus zunächst mit einem nachdrücklichen Schweigegebot an die Adresse seiner Jünger (8,30). Wie zuvor schon die Dämonen (1,25; 3,12) fährt er sie an (im Griechischen findet sich jeweils das Verb epitimaö), mit niemanden über seine messianische Identität zu sprechen. Die Funktion dieses Schweigegebots aber wird durch die Leidensankündigung (8,31) offen gelegt. Denn diese Ankündigung stellt das formal korrekte petrinische Christus bekenntnis in den notwendigen Interpretationsrahmen: Dass Jesus der Christus ist, kann und darf nur im Kontext seines Leidens, das er erdulden muss, bekannt werden. Seine christologische Hoheit bewahrt oder immunisiert ihn nicht vor dem Leiden, sondern impliziert seine Souveränität zur Lebenshingabe. Die Leidensankündigung des mk Jesus erschöpft sich also nicht darin, die Jünger nur auf sein künftiges Geschick vorzubereiten. Sie will vielmehr den Zusammenhang von Leiden und Hoheit herausstellen. Eben diesen Zusammenhang aber will Petrus nicht akzeptieren. Sein Vgl. zum Folgenden H. Merklein, Jesusgeschichte 142-147.
26
3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
heftiger Protest gegen die gerade eröffnete Perspektive des Leidens dokumentieli das Unverständnis der Jünger (8,32). Dies trägt Petrus eine scharfe Zurückweisung von Jesus ein: "Geh hinter mich zurück, Satan!" (8,33). Mit dieser Zurückweisung stellt der mk Jesus klar: Sofem Petrus nicht bereit ist, sein Christus bekenntnis in den Horizont des Leidens zu stellen, bleibt es ein zwar formal korrektes, aber gleichwohl satanisches Bekenntnis. Als Jünger Jesu muss er lemen, dass die christologische Hoheit seines Meisters das Leiden nicht aus-, sondern gerade einschließt. Daher wird Petrus von Jesus auf die Position hinter ihm verwiesen, von wo es für die Jünger Jesu Leidens- und Kreuzesnachfolge zu praktizieren gilt, um dadurch zu einem angemessenen Verständnis ilu"es Christusbekenntnisses zu gelangen (8,34-37). Auch für die nachästerlichen Jünger und Jüngerinnen ist dies der angemessene Platz, wo sie immer wieder erfahren werden, dass das Bekenntnis zu Christus gerade nicht vor dem Leiden bewahrt oder gegen das Leiden unempfindlich macht. Freilich zeigt die unverständige Reaktion der mk Jünger auf die beiden nachfolgenden Leidensankündigungen, dass es für sie ein schwieriger Lemprozess ist: Sie definieren Hoheit stattdessen weiterhin nach irdischen Maßstäben als "der Größte sein" (vgl. 9,32-34) bzw. als "Herrschen" (10,35-37) und müssen von Jesus immer wieder darauf verwiesen werden, dass Hoheit gerade auf dem letzten Platz (9,35-37) und in der dienenden (Lebens-)Hingabe (10,38--45) zu sich selbst kommt. Dennoch haben die Jünger und Jüngerinnen Jesu auch nach Ostern, wenn die Erfahrungen auf allen Ebenen innerhalb und außerhalb der Kirchen nicht täuschen, diese sperrige Lektion in ihrer überwältigenden Mehrheit wohl bis heute nicht gelernt.
Ein weiteres Mal noch vor Beginn der mk Passionserzählung deutet sich die Entschlossenheit der jüdischen Autoritäten an, Jesus in ihre Gewalt zu bringen. Zu diesem Zeitpunkt der mk Jesusgeschichte befindet sich Jesus bereits in Jerusalem. Seine Tempelaktion (11,15-17) ruft die Hohenpriester und Schriftgelehrten auf den Plan, die jetzt ihrerseits die Möglichkeit ausloten, Jesus umzubringen. Jedoch zaudern sie noch wegen seines großen Ansehens beim ganzen Volk, konkrete Maßnahmen einzuleiten (11,18). Stattdessen stellen sie ihn einen Tag später, als er sich wieder im Tempelbezirk befindet, zur Rede und verlangen Rechenschaft, was bzw. wer ihn zu sein~m Handeln ermächtigt (11,27f). Die indirekte Antwort, die Jesus ihnen mit der Gegenfrage nach der Legitimation der Johannestaufe (11,29-33) erteilt, und die indirekte Entlarvung ihrer mörderischen Pläne durch die Parabel von den bösen Weinbergspächtern (12,1-11) bestärken die Mitglieder der religiöspolitischen Oberschicht Jerusalems nur in ihrem Wunsch, Jesus verhaften zu lassen. Doch sie fürchten weiterhin das mit Jesus sympathisierende Volk (12,12). Daher schicken sie eine Gruppe von Pharisäern und Herodianem (vgl. 3,6) vor, um Jesus mit der Frage "Ist es erlaubt, dem Kaiser Steuer zu zahlen? Sollen wir sie zahlen oder nicht zahlen?" (12,14b) in die Falle zu locken. Denn beantwortete er diese Frage mit einem Ja, verscherzte er sich endgültig die Sympathien des Volkes, beantwortete er sie mit einem Nein, stellte er sich gegen die römische Hegemonialmacht und lieferte seinen Gegnern einen trefflichen Grund zur Verhaftung als politischer Rebell. Doch führt auch diese Finte nicht zum gewünschten Erfolg. Denn Jesus durchschaut ihre Absichten und entzieht sich souverän der Schlinge, die sie ihm gelegt haben (12,13-17). Die auf Jesu Tod zielende Agitation der jüdischen Autoritäten in Jerusalem
3.1. Der Todesbeschluss der jüdischen Autoritäten gegen Jesus
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wird also in der mk Jesusgeschichte bereits im Vorfeld der Passionserzählung in einern größeren Erzählabschnitt entfaltet, der sich von 11,15 bis 12,17 erstreckt. Beachtung verdient dabei, dass nach mk Darstellung ein Kausalzusammenhang hergestellt wird zwischen der Tempelaktion Jesu (11,15-17) und der Absicht des Jerusalemer Tempelestablishments, seinen Tod zu betreiben (11,18). Es sprechen nun gute Gründe dafür, dass Mk mit diesem Zusammenhang eine zutreffende Erinnerung an die historischen Ereignisse bewahrt hat. Da es nicht zuletzt für ein besseres Verständnis der literarischen Gestaltung und der theologischen Akzentuierung der Geschehnisse in den Evangelien hilfreich ist, die geschichtlichen Hintergründe zu kennen, die die Passionsereignisse ins Rollen gebracht haben dürften, sollen sie daher in einem ersten Exkurs entfaltet werden.
Exkurs 1 Jesu Tempelaktion und seine Hinrichtung als politischer Rebell im Horizont der politischen und rechtlichen Verhältnisse Judäas im 1. Jahrhundert n.Chr. Mit seiner Botschaft von der in seinem Wirken bereits anbrechenden Herrschaft Gottes spricht Jesus Israel ein neues, unableitbares Heilshandeln Gottes zu. Sachlich zutreffend fasst Mk in 1,15 diese Botschaft so zusammen: "Erfüllt ist die Zeit und nahe gekommen ist die Herrschaft Gottes. Kehrt um und glaubt an die Frohbotschaft!" Umkehr bedeutet also im Verständnis Jesu nichts anderes, als dass Israel sich auf seine Botschaft einlässt, dass es sich offen zeigt zu einem Neuanfang in seinem Verhältnis zu Gott, ein Neuanfang, der von Gott gleichsam in Vorleistung ermöglicht wurde, der aber auch die Bereitschaft des Abschieds von alten Heilsstrukturen einschließt. In Galiläa stieß Jesu Wirken offensichtlich auf große Zustimmung. Dennoch zeichnete sich wohl schon bald ab, dass Israel in seiner Gesamtheit sich auf seine Verkündigung nicht einlassen wollte. Als entscheidend dürfte Jesus dabei die Verweigerungshaltung der religiösen Autoritäten erkannt haben. Vor allem der im Umfeld des Jerusalemer Tempels etablierte und seit jeher theologisch konservative sadduzäische Priesteradel verspürte wohl kaum ein Interesse an einer Veränderung des Status quo. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Tempelaktion Jesu (vgl. Mk 11,15-17 parr. Mt 21,12f; Lk 19,45f; Joh 2,13-17) gleichsam als letzter Versuch dar, das Jerusalemer Tempelestablishment aufzurütteln und zu einer Änderung seiner Einstellung zu bewegen. Ersteres ist ihm gelungen, bedeutete freilich - historisch betrachtet - den Anfang vom Ende seines irdischen Daseins. Letzteres misslang: Der konservative sadduzäische Priesteradel verschloss sich dem von Jesus geforderten religiösen Neuanfang. Worauf aber wollte nun Jesus mit seiner Tempelaktion aufmerksam
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machen? Und noch viel grundsätzlicher: Besitzt sie überhaupt historische Plausibilität? Beginnen wir bei dieser letzten Frage. Es ist vor allem ein Argument, das immer wieder gegen die Historizität der Tempelaktion Jesu eingebracht wird: Eine solche Aktion hätte die jüdische Tempelpolizei, aber auch die an der Nordwest-Ecke des Tempelbergs in der Burg Antonia stationierte römische Kohorte zu sofortigem Einschreiten veranlasst und zur unmittelbaren Festnahme Jesu geführt. Stattdessen kann Jesus das Tempelareal ungehindert verlassen (Mk 11,19 par Mt 21,17), ja es wird weder eine Reakti on der unmittelbar Betroffenen noch der Augenzeugen berichtet. Am nächsten Tag kann Jesus ebenso ungehindert den Tempelbezirk wieder betreten und dort lehren (Mk 11,20.27 par Mt 21,18.23). Selbst Mk, der als einziger Evangelist zwischen der Tempelaktion J esu (11,15-17) und der Tötungsabsicht des jüdischen Tempelestablishments (11,18) einen Kausalzusammenhang sieht, weiß nichts von einer unmittelbaren jüdischen oder gar römischen Reaktion auf J esu provokatives Handeln. Der Einwand gegen die Historizität einer Tempelaktion Jesu setzt nun freilich voraus, dass sie mit einem spektakulären Auftritt verbunden war. Und in der Tat unterstützt die Darstellung in den Evangelien diesen Eindruck: Pauschal wird vermerkt, dass Jesus die Verkäufer und Käufer hinaustreibt, die Tische der Geldwechsler und die Stände der Taubenhändler umwirft. Mt präzisiert nur das, was auch bei Mk und Lk impliziert ist: Jesus treibt alle Verkäufer und Käufer hinaus (Mt 21,12). Und in joh Schilderung verfährt Jesus noch radikaler, indem er sich eine Geißel aus Stricken macht und sie damit - wiederum alle - hinaustreibt (J oh 2,15). Erstaunlicherweise lassen die Evangelisten aber nichts verlauten über einen Tumult, den ein solcher Auftritt Jesu doch wohl provoziert hätte. So empfiehlt, es sich zu unterscheiden zwischen der Tempelaktion Jesu selbst und ihrer Darstellung in den Evangelien. Die Stilisierung des Geschehens zu einem spektakulären Auftritt, von dem alle Geldwechsler und alle Händler und Käufer betroffen waren, dürfte auf das Konto der nachösterlichen Überlieferung oder ihrer mk Bearbeitung gehen. Das Geschehen selbst hat aber wohl durchaus einen historischen Haftpunkt. Ein erster Hinweis darauf ist, dass Jesu provokantes Verhalten im Tempel dem Kriterium der Unableitbarkeit entspricht. Denn zum einen steht es im Widerspruch zur Wertschätzung, den der Tempel in allen frühjüdischen Gruppierungen genoss. Dies gilt selbst rür die Qumran-Essener, die keine Vorbehalte gegen Tempel und Tempelkult an sich hegten, sondern die Legitimität der amtierenden Hohenpriester und die Legitimität des in J erusalem praktizierten kultischen Festkalenders in Zweifel zogen. Zum anderen steht es auch quer zur positiven Einstellung zum Tempel, die die ältesten urchristlichen Gemeinden erkennen lassen (vgl. etwa Apg 2,46; 3,1). Für die Historizität der Tempelaktion spricht ferner, dass das Mk 11,15 parr geschilderte Milieu historisch zutreffend ist: Innerhalb des riesigen Tempelareals gingen
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Geldwechsler und Verkäufer von Opfergaben (Trankopferwein, kleinere Opfertiere wie z.B. Tauben) ihren Geschäften nach, und zwar unter Billigung und Aufsicht der Tempelverwaltung. Ihre Tische und Stände befanden sich nicht mitten auf dem Tempelvorhof, sondern in einer der seitlichen Säulenhallen, möglicherweise in der sog. königlichen Halle an der Tempelsüdseite. Die Geldwechsler hatten vor allem die Aufgabe, die verschiedenen, im Umlauf befindlichen Währungen in die tyrische Währung umzutauschen. Nur in dieser einzig am Tempel akzeptierten Währung konnten rituell korrekt Opfergaben erstanden werden. Diese Opfergaben aber boten die Händler feil. Die Aufsicht durch die Tempelverwaltung garantierte dabei, dass nur kultisch einwandfreie Gaben verkauft wurden. Geldwechsler und Händler waren also für einen geordneten Kultbetrieb unverzichtbar. Aber nicht nur das geschilderte Milieu ist historisch stimmig. Darüber hinaus fügt sich die Tempelaktion Jesu auch integral in seine Verkündigung von der schon jetzt hereinbrechenden Herrschaft Gottes ein. Damit kommen wir schon zur zweiten Frage nach der Intention der Tempelaktion Jesu. Er versteht sie gewiss nicht als Protest gegen Devotionalienhandel und Geschäftemacherei mit der Frömmigkeit der Menschen, wie dies vor allem Joh 2,16 nahelegt. Auch geht es ihm nicht um eine Wiederherstellung von verlorener kultischer Reinheit. Insofern ist die gängige Bezeichnung seiner Aktion als Tempelreinigung unzutreffend. Indem Jesus die Geldwechsler und Verkäufer von Opfergaben im Tempelbereich angreift, entzieht er symbolisch dem Vollzug des Tempelkultes die Basis. Denn ohne Geldwechsler, die die gängigen Währungen in die Tempelwährung (tyrische Silberschekel) tauschen, keine Möglichkeit des Erwerbs von Opfergaben, ohne Verkäufer von Opfergaben keine Opfer! Jesus stellt also ganz grundsätzlich den Tempel und den dort praktizierten Kult in Frage. Diese Deutung wird im Übrigen auch durch die zunächst etwas seltsam anmutende Notiz Mk 11,16 unterstützt, die Mt und Lk bezeichnenderweise getilgt haben. Dort heißt es: "Und er ließ nicht zu, dass jemand ein Gefäß durch den Tempel trug." Diese Aussage könnte sich nun durchaus gegen eine Profanisierung des Tempels richten. Denn es ist belegt, dass der Tempelbezirk als Abkürzungsweg zwischen Ölberg und Weststadt benutzt wurde. Allerdings lässt aufhorchen, dass Mk 11,16 dezidiert von einem Gefäß (griechisch: skeuos) spricht. Diese Wortwahl [mdet sich aber gerade in der Septuaginta, wenn von Kultgeräten die Rede ist. Dies deutet doch darauf hin, dass auch diese Notiz Jesu Tun als gegen den Tempelkult gerichtet betrachtet.
Mit seiner Tempelaktion wollte Jesus also offenbar zeichenhaft Folgendes verdeutlichen: Angesichts des religiösen Scheiterns Israels und des aufgrund dessen von Gott ermöglichten Neuanfangs kann der Tempelkult als Mittel der Versöhnung mit Gott nicht mehr in Anspruch genommen werden. Damit aber hat der Tempel seine einstmalige Bedeutung und Funktion eingebüßt. In dieser heilsgeschichtlichen Situation muss Israel sich auf die von Gott neu gesetzten Heilsbedingungen einlassen! Eine solche Zeichenhandlung be-
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durfte aber keiner Aufsehen erregenden äußeren Dimensionen. Sie war auch so rur die Augen- und Ohrenzeugen verständlich. Dies gilt umso mehr, wenn die Zeichenhandlung von einem deutenden Wort begleitet war. Ein solches Wort überliefern nun alle Evangelien im Kontext der Tempelaktion Jesu: Ist nicht geschrieben: Mein Haus soll ein Bethaus genannt werden (für alle Völker [bei MtiLk getilgt]), ihr aber habt es zu einer Räuberhöhle gemacht (Mk 11,17 palT Mt 21,13; Lk 19,46). Und: Macht nicht das Haus meines Vaters zum Handelshaus (Joh 2,16).
Doch stimmen die Stoßrichtung der überlieferten Zeichenhandlung (gegen Tempel und Tempelkult) und die Stoßrichtung des überlieferten Deutewortes (Depravierung des Tempelsbetriebes aufgrund des moralischen Versagens der Verantwortlichen) nicht überein. Denn dieses Wort impliziert eine grundsätzlich positive Bewertung des Tempels und kann damit seinen angestammten Ort nicht im Zusammenhang der Tempelaktion Jesu haben. Andererseits ist in wechselnden Kontexten und vielfach bezeugt ein tempelkritisches Wort Jesu überliefert. Es lässt sich nicht mehr zuverlässig in seiner wohl ursplünglichen Gestalt rekonstruieren. Doch kehren Schlüsselbegriffe wie der/dieser Tempel, zerstören und aufbauen immer wieder. Es begegnet bei Mk und Mt an zwei Stellen der Passionserzählung, zunächst im Rahmen des Verhörs Jesu durch den Hohenpriester, und zwar bezeiclmenderweise im Mund von Falschzeugen (Mk 14,57f par. Mt 26,60f), sodann bei der Lästerung des Gekreuzigten durch Passanten (Mk 15,29f parr. Mt 27,39f). Lk verarbeitet das tempelkritische WO1i nicht in seiner Passionserzählung, sondern stellt es - ebenfalls unter dem Vorzeichen eines Falschzeugnisses - in einen Zusammenhang mit dem Martyrium des Stephanus (Apg 6,13f). Joh überliefert als einziger das tempelkritische Wort im unmittelbaren Kontext der Tempelaktion Jesu (2,19), die er freilich an den Beginn des jesuanischen Wirkens platziert. Allerdings deutet Joh die Aussage explizit auf Jesu Tod ("Brecht diesen Tempel ab") und Auferstehung ("und in drei Tagen will ich ihn aufrichten"), indem er diese Aussage in 2,21 kommentiert: "Er aber redete von dem Tempel seines Leibes." Schließlich findet sich zu Beginn der synoptischen Endzeitrede noch eine deutliche Anspielung auf das tempelkritische Wort Jesu (Mk 13,lfpan". Mt 24,lf; Lk 21,5f).
Die vielfache Bezeugung in sehr unterschiedlichen Kontexten sowie die offenkundige Tendenz zu Umdeutungen bzw. Entschärfungen des Wortes machen es historisch plausibel, dass Jesus sich zur Zukunft des Jerusalemer Tempels kritisch geäußert hat. Seine provokante Aktion im Tempel bildet zu dieser kritischen Äußerung den ebenso historisch plausiblen Rahmen. Jesu Äußerung ließ sich nicht einfach aus der Welt schaffen, war aber rur die Tradenten der Jesusüberlieferung aus mehreren Gründen sperrig: Es entsprach keineswegs der Einstellung der Jerusalemer Urgemeinde zum Tempel (vgl. Apg 2,46; 3,1), seine Prognose der Zerstörung erfüllte sich erst im Jahr 70, vor allem aber war es politisch heikel. Sofern also die Tempelaktion Jesu den Auslöser für seine Verhaftung und Hinrichtung bildete, lässt sich im Übrigen berechtigterweise vermuten, dass auch sein gegen den Tempel gerichtetes Wort im Verfahren gegen ihn eine Rolle spielte. Daher könnte es
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durchaus ursprünglich in der Passionsüberlieferung verankert gewesen sein. Dafür spricht noch der Beleg in der mk/mt Version des Hohenpriesterverhörs (Mk 14,57f par. Mt 26,60f), auch wenn er im jetzigen Kontext durch das Motiv der Falschzeugen entschärft ist. Historisch ist demnach von folgendem Sachverhalt auszugehen: Mit einer prophetischen Zeichenhandlung gegen Geldwechsler und Verkäufer von Opfergaben und mit einem begleitenden tempelkritischen Wort erklärte Jesus Tempel und Tempelkult von Gott her für außer Kraft gesetzt. Die Provokation lag dabei nicht in einem furiosen Auftritt, sondern in der Aussage der zeichenhaften Handlung und des begleitenden Wortes. Die einflussreiche sadduzäische Priesterschaft erfuhr von der Aktion Jesu und durchschaute ihre Brisanz. Dooh war sie nicht bereit, sich Jesu Botschaft vom endzeitlichen Heilsangebot Gottes zu neuen Bedingungen zu öffnen. So sah sie sich zum Handeln gezwungen. Denn Jesu Tempelaktion besaß nicht nur eine theologisch-religiöse Dimension, die sein ureigenes Anliegen war, sondern auch eine eminent politische Dimension. Der Tempel nämlich bildete die sensible Schaltstelle im Zusammenspiel zwischen der römischen Zentralmacht und der jüdischen Selbstverwaltung. Er war eben nicht nur religiös-kultisches Zentrum der Juden in aller Welt. Er war auch Sitz des obersten jüdischen Gerichtshofes. Dem Hohenpriester als Vorsitzendem des Hohen Rates oblag die Aufsicht über die Rechtssprechung in Zivil- und Strafrechtsangelegenheiten an allen lokalen Gerichten des Landes. Die Römer hatten diese Aufgabe - mit Ausnahme der Kapitalgerichtsbarkeit - an den Hohenpriester delegiert. Denn für sie waren die religionsgesetzlichen Grundlagen des jüdischen Rechtes völlig fremd und undurchschaubar. Hinzu kam die ökonomische Bedeutung des Tempels als Nationalbank Israels und als Eigner zahlreicher Latifundien im gesamten Land. Allein aus Gründen des inneren Rechtsfriedens und ihrer wirtschaftlichen Interessen musste also den Römern an stabilen Verhältnissen am Tempel gelegen sein. Gerade weil sich hier aber immer wieder religiös motivierte Unruhen gegen die heidnischen Fremdherrscher entzündeten, übten die Römer in diesem Bereich eine besonders strenge Kontrolle. So setzten sie die Hohenpriester ein und - meist nach relativ kurzer Amtszeit (~ 3.9.4.) - auch wieder ab. Sie hielten die hohenpriesterlichen Kultgewänder unter Verschluss, so dass sie auf diese Weise den Hohenpriester an seiner Amtsausübung während der religiösen Hauptfeste hindern konnten, sofern sie Unruhen fürchteten. Zudem war - wie bereits erwähnt - eine Kohorte römischer Soldaten in der Burg Antonia stationiert und hatte von dort aus direkten Zugang zum Tempelbezirk. So war also auch die Möglichkeit für ein unverzügliches militärisches Eingreifen im Bedarfsfall gegeben. Andererseits bedarf es kaum der Erklärung, dass auch den Mitgliedern des sadduzäischen Priester- und Laienadels daran gelegen war, den Status quo am Tempel zu erhalten. Denn sie waren auf jüdischer Seite die eigentlichen Nutznießer in
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machtpolitischer und ökonomischer Hinsicht. Angesichts dessen musste sie die Tempelaktion Jesu und sein tempelkritisches Wort aufs höchste alarmieren und zum Einschreiten veranlassen. Auf welcher Rechtsgrundlage aber konnten sie handeln? Judäa stand seit der direkten Machtübernahme durch die Römer im Jahr 6 n.Chr. als kaiserliche Provinz 3. Klasse mit einem militärischen Präfekten aus dem Ritterstand faktisch unter Kriegsrecht. Der Präfekt befand sich gleichsam an der Front und war mit entsprechend umfassenden militärischen und rechtlichen Kompetenzen ausgestattet. Zwar hatten die Römer aus pragmatischen Gründen die Rechtssprechung in Zivil- und Strafrechtsangelegenheiten weitgehend an die jüdische Obrigkeit delegiert. Doch war die Kapitalgerichtsbarkeit, also das Recht, Todesurteile zu fällen und zu vollstrecken, angesichts der "Frontsituation" in einer als potentiell aufrührerisch eingeschätzten Provinz allein dem Präfekten vorbehalten. Genau diese Rechtssituation spiegelt auch der Kommentar zur Einsetzung des ersten römischen Statthalters Coponius nach Einrichtung der Provinz Judäa im Jahr 6 n.Chr. wieder, der sich beim jüdisch-römischen Geschichtsschreiber Flavius Josephus findet: ... ein Mann aus dem römischen Ritterstand, und er hatte vom Kaiser obrigkeitliche Gewalt empfangen, bis hin zu dem Recht, die Todesstrafe zu verhängen (Jos. Bell. 2,117).
Allerdings finden sich nun bei Josephus ebenfalls Hinweise, dass die Römer in zwei eng umgrenzten Tatbeständen der jüdischen Selbstverwaltungsbehörde das Recht einer Mitwirkung in Kapitalgerichtsangelegenheiten zugestanden. Bezeichnenderweise stehen beide Tatbestände in engstem Zusammenhang mit dem Tempel. Dies bestätigt noch einmal, dass gera~e der Tempel von höchster Bedeutung für das politische Zusammenspiel zwischen römischer Zentralmacht und jüdischer Selbstverwaltung war. Der erste Tatbestand betrifft das Überschreiten der Tempelschranken, die den Vorhof der Heiden vom inneren Tempelbezirk abgrenzten, durch Nichtjuden, und der zweite Tatbestand betrifft die Prophetie gegen den Tempel. In seiner Darstellung des ersten Jüdischen Krieges lässt Josephus den römischen Feldherrn Titus in einer Rede an die in Jerusalem belagerten Juden auch folgende Aussage machen: Haben wir euch nicht gestattet, diejenigen zu töten, die dennoch [über die Schranken] hinüberstiegen, selbst wenn der Betreffende ein Römer wäre? (Jos. Bell. 6,126)
Gerade die Schlussbemerkung stellt hierbei sicher, dass das Zugeständnis nicht soweit ging, die Todesstrafe an der römischen Instanz vorbei auszuüben. Denn die Verurteilung eines römischen Bürgers zum Tod war in aller Regel sogar dem kaiserlichen Gericht vorbehalten (vgl. etwa Plin. ep. 10,96,4) und wurde nur in Ausnahmefällen an einen Statthalter delegiert. So implizierte das Privilegrecht im Fall eines Überschreitens der Tempelschran-
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ken durch einen Heiden für die jüdische Instanz wohl nur: Sie durfte das Todesurteil aussprechen. Für die Vollstreckung aber bedurfte es der ausdrücklichen Bestätigung durch die zuständige römische Instanz. Der zweite Tatbestand, für den die Römer offenkundig eine Mitwirkung der Juden in einer Kapitalgerichtssache vorsahen, war die Prophetie gegen den Tempel. Hierzu überliefert wiederum Josephus eine Episode, die in das Jahr 62 n.Chr. datiert: Vier Jahre vor dem Krieg, als die Stadt noch in höchstem Maße Frieden und Wohlstand genoss, kam nämlich ein gewisser Jesus, Sohn des Ananias, ein ungebildeter Mann vom Lande zu dem Fest, bei dem es Sitte ist, dass alle Gott eine Hütte bauen, in das Heiligtum und begann unvermittelt zu rufen: ,Eine Stimme vom Aufgang, eine Stimme vom Niedergang, eine Stimme von den vier Winden, eine Stimme über Jerusalem und den Tempel, eine Stimme über Bräutigam und Braut, eine Stimme über das ganze Volk!' So ging er in allen Gassen umher und schrie Tag und Nacht. Einige angesehene Bürger, die sich über das Unglücksgeschrei ärgerten, nahmen ihn fest und misshandelten ihn mit vielen Schlägen. Er aber gab keinen Laut von sich, weder zu seiner Verteidigung noch eigens gegen die, die ihn schlugen, sondern stieß behaITlich weiter dieselben Rufe aus wie zuvor. Da glaubten die Machthabenden, was ja auch zutraf, dass den Mann eine übelmenschliche Macht treibe und führten ihn zu dem Prokurator, den die Römer damals eingesetzt hatten. Dort wurde er bis auf die Knochen durch Peitschenhiebe zerfleischt, aber er flehte nicht und weinte auch nicht, sondern mit dem jammervollsten Ton, den er seiner Stimme geben konnte, antwortete er auf jeden Schlag: ,Wehe dir, Jerusalem!' Als aber Albinus - denn das war der Prokurator - fragte, wer er sei, woher er komme und weshalb er ein solches Geschrei vollführe, antwortete er darauf nicht das geringste, sondern fuhr fort, über die Stadt zu klagen, bis Albinus urteilte, dass er wahnsinnig sei und ihn laufen ließ." (Bell. 6,300-305)
Verschiedene Aspekte verdienen hier Beachtung: 1. Bei Jesus Ben Ananias handelt es sich um einen Unglückspropheten, der den Untergang Jerusalems und des Tempels voraussagt. 2. Die angesehenen Bürger, deren Einschreiten Josephus erwähnt, sind identisch mit den wenig später genannten Machthabenden, es handelt sich also bei ihnen offensichtlich um führende Mitglieder des Hohen Rates, möglicherweise unter Einschluss des Hohenpriesters selbst. Nur so erklärt sich, dass sie ihn festnehmen können. 3. An die Festnahme schließt sich ein Verhör an, dem durch Schläge Nachdruck verliehen werden soll, allerdings ohne eine brauchbare Aussage des Festgenommenen zu erbringen. 4. Es erfolgt die Übergabe an den römischen Prokurator Albinus, der Jesus Ben Ananias zuerst einmal geißeln lässt. Dies macht hinreichend deutlich, dass der Fall als Kapitalgerichtsverfahren behandelt wird. Denn in einem solchen Verfahren hatte die Geißelung ihren angestammten Platz. 5. Im Gegensatz zu den Vertretern der jüdischen Selbstverwaltung, die wohl für die Hinrichtung des Ananias plädieren, spricht der römische Prokurator "den Gefangenen frei. Damit belegt der Fall des Unglückspropheten Jesus Ben Ananias: 1. Unter der Voraussetzung einer Prophetie gegen den Tempel ermöglicht ein festgelegtes Verfahren der jüdischen Selbstverwaltung, selbst initiativ zu werden, konkret: eine Verhaftung vorzunehmen, eine Befragung durchzuführen und schließlich sich beim römischen Statthalter
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um Verhängung der Todesstrafe zu bemühen. 2. Trotz Mitwirkung der jüdischen Instanz behält sich die römische Instanz aber die letzte Entscheidung über eine Him'ichtung selbst vor. Es ist nun historisch plausibel und nahe liegend, dass die Mitglieder des Hohen Rates gegen Jesus aufgrund seiner Tempelaktion und seines tempelkritischen Wortes auf dem gerade dargelegten Instanzenweg das Todesurteil anstrengten. Dies bestätigt im Übrigen indirekt auch das sog. Testimonium Flavianum (Jos. Ant. 18,63f), eine Passage, in der Josephus über Jesus von Nazaret, sein Wirken und seine Anhängerschaft berichtet. In der heutigen Fassung ist das Testimonium Flavianum sicher christlich bearbeitet. Doch steht die hier interessierende Aussage nicht unter dem Verdacht, sekundär zu sein. Sie lautet: "Und obwohl ihn Pi/atus auf Betreiben der Vornehmsten unseres Volkes zum Kreuzestod verurteilte, ... "
Im Unterschied zum späteren Fall des Jesus Ben Ananias gelangte also der römische Prokurator im Fall Jesu von Nazaret zur gleichen Einschätzung eines todeswürdigen Tatbestandes wie die jüdische Instanz und ließ Jesus als politischen Rebell kreuzigen. Dies fand seinen Niederschlag im Kreuzestitulus "König der Juden". Denn Jesus hatte aus der Perspektive des jüdischen Tempelestablishments wie aus römischer Perspektive mit seiner Tempelaktion und seinem tempelkritischen Wort deutlich gezeigt, dass er der tempelstaatlichen Ordnung in der Provinz Judäa feindlich gegenüberstand. Diese Ordnung aber war von den Römern eingesetzt und legitimiert worden. Zudem hatte J esus Anhänger um sich gesammelt. Angesichts dessen fiel er für seine jüdischen und römischen Gegenspieler in die Kategorie, die einmal mehr Josephus in typisch römischer Sichtweise so beschreibt: Judäa war voller Räuberbanden. Und überall dort, wo sich eine Schar von Aufrührern zusammenfand, wählten sie einen König (basileus), der den Untergang der staatlichen Ordnung herbeiführen sollte. (Jos. Ant. 17,285)
Damit aber traf auf Jesus der Tatbestand der perduellio, des Hochverrats zu. Zu dieser Einsicht gelangte offenkundig jedenfalls Pilatus durch seine eigene gerichtliche Untersuchung und verurteilte Jesus zum Tod durch Kreuzigung und damit zu der rur Rebellen vorgesehenen Him·ichtungsart.
Wenden wir uns nach diesem Exkurs nun wieder der mk Darstellung der Ereignisse zu. Die erste Szene seiner Pass ions erzählung (14,1 f) eröffnet Mk in 14,la mit einer Zeitangabe: "Es war aber zwei Tage später das Passa und das Fest der ungesäuerten Brote." Der Verweis auf das kurz bevorstehende höchste jüdische Fest ist für den von Mk angezielten Adressatenkreis das Signal, dass die mk Jesusgeschichte sich jetzt dramatisch zuspitzt. Denn eine
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Kenntnis um die zeitliche Nähe der Hinrichtung Jesu zum Passafest konnte vorausgesetzt werden. Dass Mk selbst im Übrigen mit dem jüdischen Festkalender nicht sehr vertraut war, zeigt sich an seiner Formulierung. Denn sie suggeriert, dass es sich beim Passafest und beim Fest der ungesäuerten Brote um zwei verschiedene Feste handelt, die nur (zufällig?) zusammenfallen. In 14,lb-2 greift Mk dann auf 11,18; 12,12f(11,27) zurück. Beharrlich sind die Jerusalemer Autoritäten weiterhin bestrebt, ultimativ gegen Jesus vorzugehen. Wie schon in 11,18 agieren auch jetzt die Oberpriester - also die Inhaber der obersten Tempelämter mit dem Hohenpriester an der Spitze - gemeinsam mit den Schriftgelehrten. Bei diesen dürfte es sich übrigens nicht um die pharisäische Fraktion im Hohen Rat handeln, sondern um die Tempelschriftgelehrten, die als Experten in allen theologische, juristischen und ökonomischen Fragen den Oberpriestern mit Rat und Tat zur Seite standen. Dagegen bleiben die Ältesten, die in 11,27 neben den Oberpriestern und Schriftgelehrten genannt sind, in 14,1 unerwähnt. Mit den Ältesten sind die - wohl mehrheitlich sadduzäischen, zum Teil jedoch auch pharisäischen - Mitglieder des Hohen Rates bezeichnet. Im Hohen Rat, der als oberstes Selbstverwaltungsorgan das jüdische Volk gegenüber den Römern als den eigentlichen Machthabern repräsentierte, waren Priester- und Laienadel gleichermaßen vertreten. Allein aus den Reihen des Priesteradels rekrutierten sich aber die Inhaber der obersten Tempelämter.
Die Jerusalemer Autoritäten zeigen sich also in 14,1 b weiterhin fest entschlossen, Jesus zu vernichten. Mit einem konkreten Plan, ihren Entschluss in die Tat umzusetzen, können sie allerdings zu Beginn der mk Passionserzählung noch nicht aufwarten Doch bleiben sie ihrer Strategie treu, nicht offen gegen J esus vorzugehen, sondern ihn mit einer List in ihre Gewalt zu bringen (vgl. 12,12.13), um ihn dann zu töten (vgl. 11,18). Angesichts der herrschenden Rechtslage können sie dabei allerdings weder an den Vollzug eines Todesurteils in eigener Regie noch an Lynchjustiz denken. Vielmehr bleibt ihnen nur die Möglichkeit, Jesus den Römern als Rebell gegen die bestehende, fragile (tempel-)staatliche Ordnung zu präsentieren und ein römisches Todesurteil gegen ihn anzustrengen. Dies kann freilich in 14,1 unausgesprochen bleiben, denn die Erstadressaten der mk J esusgeschichte wussten wohl noch um die in Judäa im Jahre 30 herrschenden Rechtsverhältnisse. In Mk 14,2 wird dann ein Motiv aufgenommen, das ebenfalls bereits in 11,18 und 12,12 vorbereitet wurde, nämlich die Furcht des Tempelestablishments vor der Reaktion des Volkes auf ein gewaltsames Vorgehen gegen Jesus. Wird diese Furcht aber in 11,18; 12,12 von Mk nur kommentierend erwähnt, so lässt er jetzt in Steigerung der Dramatik die Autoritäten selbst zu Wort kommen: "Ja nicht während des Festes, damit es zu keinem Aufruhr des Volkes kommt." Diese Äußerung spielt zutreffend auf die besondere Atmosphäre in Jerusalem während der großen Wallfahrtsfeste an, die stets eine große Herausforderung für die jüdische Obrigkeit wie für die römischen Machthaber bei der Wahrung der öffentlichen Ordnung bildete. Nicht zufällig waren während dieser Feste die Römer in Jerusalem und insbesondere im
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Tempelbereich verstärkt militärisch präsent und in höchster Alarmbereitschaft (~ Exkurs 1). Denn die Pilger vermehrten die Zahl der in der Stadt anwesenden Menschen um ein Vielfaches, und zudem war die herrschende religiöse Feststimmung geeignet, angesichts der ungeliebten heidnischen Fremdherrscher messianische Erwartungen zu schüren. Vor diesem Hintergrund werden die Bedenken verständlich, die die Hohenpriester und Schriftgelehrten in Mk 14,2 äußern: Angesichts der Sympathien, die Jesus aufgrund seines Wirkens im Volk genießt (11,18), befürchten sie einen Aufruhr des Volkes, sofern sie während des Passafestes gegen Jesus vorgehen. So schließt die erste Szene der mk Passionserzählung trotz aller grundsätzlichen Entschlossenheit mit einer gewissen Ratlosigkeit der Jerusalemer Autoritäten im Blick auf ihr konkretes Handeln.
3.1.2. Die matthäisehe Bearbeitung Mt 26,1-5 Ebensowenig wie Mk konfrontiert Mt seine Leser und Leserinnen unvermittelt mit dem Todesbeschluss der jüdischen Autoritäten gegen Jesus, mit dem er im Anschluss an Mk seine Passionserzählung in 26,1-5 eröffnet. In enger Rückbindung an seine Vorlage übernimmt er ,gleichermaßen den ersten Todesbeschluss der jüdischen Autoritäten gegen Jesus noch während seines galiläischen Wirkens (12,14 par. Mk 3,6), den Hinweis auf die spätere Auslieferung Jesu durch Judas Iskariot (10,4 par. Mk 3,19), die drei Leidensankündigungen Jesu selbst (16,21 par. Mk 8,31; 17,22fpar. Mk 9,31; 20,1719 par. Mk 10,32-34), den Verhaftungswunsch der Jerusalemer Autoritäten als Reaktion auf die Parabel von den bösen Weinbergspächtern .(21,45 par. Mk 12,12) sowie den Versuch der Pharisäer, zusmmnen mit den Herodianern Jesus mit der Steuerfrage eine Falle zu stellen (22,15fpar. Mk 12,13). Gegen Mk 11,15-17.18 stellt Mt jedoch keinen Bezug her zwischen der Tempelaktion Jesu und der - daraus erwachsenden - Tötungsabsicht der Jerusalemer Autoritäten. Eine weitere Abweichung von der mk Vorlage ergibt sich daraus, dass Mt die mk Parabel von den bösen Weinbergspächtern (Mk 12,1-11 par. Mt 21,33-44) zu einer Parabeltrilogie ausbaut. So schaltet er der bei Mk vorgegebenen Parabel die Parabel von den beiden ungleichen Söhnen (Mt 21,28-32) vor und schließt ihr in 22,1-14 die Parabel vom königlichen Hochzeitsmahl an. Dadurch lockert er den Zusammenhang zwischen dem Verhaftungswunsch der Jerusalemer Autoritäten (21,45 par. Mk 12,12) und der Falle, die Pharisäer und Herodianer Jesus stellen (22,15 parr. Mk 12,13). Denn sie werden nun nicht von den Jerusalemer Autoritäten vorgeschickt, sondern arbeiten sozusagen auf eigene Rechnung. Damit verhalten sich die Jerusalemer Autoritäten in mt Darstellung außerhalb der mit Kapitel 26 beginnenden Passionserzählung etwas zurückhaltender als bei Mk. Die erste Szene seiner Erzählung vom Leiden und Sterben Jesu erweitert
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Mt im Vergleich zu seiner mk Vorlage deutlich. Eingeleitet wird sie in 26,1 a durch eine für ihn charakteristische Formulierung, die sich stets an der Nahtstelle zwischen dem Ende der fünf großen mt Jesusreden und dem Fortgang der Erzählhandlung findet: "Und es geschah, als Jesus alle diese Reden beendet hatte" (vgl. Mt 7,28; 19,1 und mit geringfugiger Variation Mt 11,1; 13,53). In 26,la bildet diese Formulierung die Brücke zwischen der letzten großen Rede des mt Jesus (Mt 23-25) und dem Beginn seiner Passion. Sachgemäß fugt Mt daher hier ein "alle" ein und ruft dadurch noch einmal kurz alle flinf Redekompositionen seiner J esusgeschichte in Erinnerung. Sofort anschließend lenkt er dann aber die Aufmerksamkeit auf die unmittelbar bevorstehenden Passionsereignisse. Dazu integriert Mt die mk Zeitangabe (l4,la), deren missverständliche Formulierung er durch Streichung von "und das Fest der ungesäuerten Brote" korrigiert, in eine letztmalige Leidensankündigung Jesu an die Adresse seiner Jünger (26,1 b-2). Durch diese über die mk Vorgaben hinaus zusätzliche Leidensankündigung hebt Mt in der erzählstrategisch wichtigen Anfangsszene seiner Passionserzählung in besonderer Weise die Souveränität hervor, mit welcher Jesus sich seinem bevorstehenden Leiden und Sterben stellt. In 26,3-5 wird dann der Blick weg von Jesus und seinen Jüngern hin auf die Aktivitäten seiner Jerusalemer Gegenspieler gelenl(t. Durch den temporalen Anschluss mit da/dann (griechisch: tote) in V. 3 entsteht geradezu der Eindruck, dass erst Jesu Worte die Oberpriester und Ältesten des Volkes initiativ werden lassen und damit die Passionsereignisse ins Rollen bringen. Beschränkt sich die Initiative der Jerusalemer Autoritäten Mk 14,1 b folgend auf ein eher informelles Bemühen um eine passende Gelegenheit zur Verhaftung und Tötung Jesu, so gewinnt sie in mt Bearbeitung einen offiziellen Charakter. So fällt zunächst auf, dass neben den Oberpriestern bei Mt nicht die Schriftgelehrten, sondern die Ältesten des Volkes agieren. Damit nennt er genau die beiden konstitutiven Gruppen des Hohen Rates, der sich zusammensetzte aus den Oberpriestern als der Gruppe der amtierenden Inhaber der obersten Tempelämter und den Ältesten als den übrigen Ratsmitgliedern aus dem Priester- und Laienadel. Damit tritt also nach Mt 26,3f das oberste Selbstverwaltungsgremium des jüdischen Volkes in Aktion, dessen Repräsentanzfunl(tion durch den Zusatz "die Ältesten des Volkes" (so auch jeweils in Ergänzung der mk Vorlage: Mt 21,23; 26,47; 27,1) noch betont wird. Diese Aktion wird präzise in ihrem Ablauf geschildert: Zunächst (V. 3) versammeln sich die Oberpriester und Ältesten im Palast des amtierenden Hohenpriesters, der eigens namentlich erwähnt wird: Kaiaphas. Sodann (V. 4) fassen sie gemeinsam einen formellen Beschluss (griechisch: §J!!1ebouleusanto, hina ... ) gegen Jesus. Inhaltlich geht dieser Beschluss parallel mit den Plänen der Jerusalemer Autoritäten in Mk 14,lb. Auch in V. 5 schließt Mt sich im Wesentlichen eng seiner Vorlage Mk 14,2 an. Bemerkenswert ist allenfalls, dass in mt Diktion nicht ein Aufruhr des Volkes, sondern ein Aufruhr im Volk befürchtet wird. Damit
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
also schätzen die jüdischen Offiziellen bei Mt die Situation ein wenig optimistischer als bei Mk ein. Denn ihrer Einschätzung nach drohen kein Generalaufstand, sondern "nur" partielle Unruhen als mögliche Folge eines gewaltsamen Vorgehens gegen Jesus während des Passafestes. Doch auch diese gilt es zu vermeiden. Im Vergleich zu seiner mk Vorlage setzt Mt also in der ersten Szene seiner Passionserzählung deutlich eigene Akzente: Die zusätzliche Leidensankündigung betont die Souveränität Jesu, die ihn angesichts seines drohenden Leidens nicht ausweichen, sondern standhalten lässt. Die offizielle Vorgehensweise des offiziellen Gremiums "Hoher Rat" unterstreicht die Bedeutung, die die politischen und religiösen Autoritäten Jerusalems dem Fall Jesus von Nazaret beimessen. Und schließlich deutet der zeitliche Konnex, der zwischen den beiden Teilszenen V. Ifund V. 3-5 zu Beginn von V. 3 hergestellt wird, vorsichtig eine Abhängigkeit der Initiative der Jerusalemer Offiziellen von der Bereitschaft Jesu zur Übernahme seines Leidens an.
3.1.3. Die lukanische Bearbeitung Lk 22,1-2 Auch Lk greift die mk Vorgaben auf, durch die die Leser und Leserinnen der Jesusgeschichte schon vor Beginn der Passionserzählung kontinuierlich auf das von den jüdischen Autoritäten betriebene gewaltsame Ende Jesu vorbereitet werden. Den ersten, bereits in Galiläa erfolgenden Todesbeschluss Mk 3,6 schwächt er allerdings etwas ab, indem er die Reaktion der Schriftgelehrten und Pharisäer (6,7) auf die von Jesus vorgenommene Sabbatheilung so zusammenfasst: "Sie aber wurden von sinnloser Wut. erfüllt und besprachen sich miteinander, was sie gegen Jesus unternehmen könnten" (6,11). In 6,16 übernimmt Lk von Mk 3,19 im Rahmen der Zwölferliste den Hinweis auf die Rolle des Judas Iskariot im Passionsgeschehen. In 9,22 (par. Mk 8,31), 9,44 (par. Mk 9,31) und 18,31-34 (par. Mk 10,32-34) folgen dann die drei jesuanischen Leidensankündigungen. In 19,47 übernimmt Lk anders als Mt aus Mk 11,18 die im Anschluss an die Tempelaktion Jesu erstmals geäußerte Tötungsabsicht der Jerusalemer Autoritäten. Allerdings lockert er den Bezug zwischen Tempelaktion und Tötungsabsicht, indem er einfügt: "Und er lehrte täglich im Tempel." Damit also bezieht sich in lk Interpretation die Tötungsabsicht auf Jesu Lehre bzw. ist eine Folge dieser Lehre. Das ist durchaus sachgerecht. Denn Jesu Tempelaktion ist untrennbar mit seiner Verkündigung von der mit seinem Wirken anbrechenden endzeitlichen Herrschaft Gottes verbunden (3.1.1. -) Exkurs 1). Auch den mk vorgegebenen Zusammenhang zwischen dem Verhaftungswunsch der Jerusalemer Oberen im Anschluss an die Vollmachtsfrage und an die Parabel von den bösen Weinbergspächtern (20,19 par. Mk 12,12) sowie der von ihnen durch "Mittelsmänner" initiierten und als Falle gedachten Steuerfrage (20,20 par. Mk
3.1. Der Todesbeschluss der jüdischen Autoritäten gegen Jesus
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12,13) übernimmt Lk. Interessanterweise formuliert Lk aber in 20,20b die Absicht der Fragesteller und ihrer Auftraggeber gegen Mk ausdrücklich: " ... so dass sie ihn der Herrschaft und Gewalt des Statthalters ausliefern könnten." Damit bringt Lk die rechtshistorische Situation in Judäa zur Zeit Jesu exakt auf den Punkt, die es der jüdischen Obrigkeit nicht ermöglichte, ein rechtskräftiges Todesurteil auszusprechen und zu vollstrecken (~ 3.1.l. Exkurs 1). Lk gestaltet den Beginn seiner Passionserzählung mit dem Todesbeschluss der Hohenpriester und Schriftgelehrten gegen Jesus in 22,lf ähnlich komprimiert wie Mk 14,1 f, formuliert allerdings sehr eigenständig. Bei der Zeitangabe in V. 1 stößt auch er sich - wie schon bei Mt beobachtet (~3.1.2.) an der ungeschickten rnk "Festkombination". Daher korrigiert er zutreffend durch "das Fest der ungesäuerten Brote, das Passa genannt wird". Gegen Mk streicht er "nach zwei Tagen" und ersetzt diesen präzisen Zeitrahmen durch die offenere Angabe "es näherte sich". Diese Angabe bildet das erste Wort der lk Passionserzählung und signalisiert daher an erzählstrategisch zentraler Position einprägsam die Zuspitzung der Ereignisse. In 22,2 gelingt es Lk sogar, seine schon knapp formulierte rnk Vorlage noch zu straffen. So fasst er das in Mk 14,1 b zweischrittig beschriebene Vorgehen der Hohenpriester und Schriftgelehrten gegen Jesus (ergreifen und töten) durch "beseitigen" zusammen und streicht darüber hinaus das Motiv der List ersatzlos. Das Motiv für das geplante Vorgehen, die "Furcht vor dem Volk" übernimmt Lk zwar aus Mk 14,2. Doch tauscht er die direkte Rede der Jerusalemer Autoritäten gegen einen zusammenfassenden Erzählerkommentar aus. Durch diese Eingriffe in seine mk Vorlage gelingt ihm ein stilistisch eleganter Einstieg in seine Passionserzählung, doch büßt die lk Eröffnungsszene gegenüber der mk deutlich an erzählerischer Dramatik ein.
3.1.4. Die johanneische Version Joh 11,47-53 Im Vergleich zu den synoptischen Evangelien weist das Joh vor Beginn der Passionserzählung in seinen ersten zwölf Kapiteln ein noch erheblich engeres Netz an Vorverweisen auf Jesu gewaltsames Ende auf. Ein lückenloser Überblick über alle diese Vorverweise führte hier zu weit. Stattdessen sollen die rür die joh Interpretation der Passion Jesu wichtigsten Aspekte und Motive kurz in den Blick genommen werden. Eine Schlüsselaussage hierzu findet sich in 10, 17f am Ende der Bildreden vorn Hirten und seinen Schafen. Dort heißt es: 17 Deshalb liebt mich der Vater, weil ich mein Leben hingebe, um es wieder zu nehmen. 18 Niemand entreißt es mir, sondern ich gebe es aus freiem Willen hin. Ich habe Macht, es hinzugeben, und ich habe Macht, es wieder zu nehmen. Diesen Auftrag habe ich von meinem Vater empfangen.
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Mit diesen Worten bringt der joh Jesus unmissverständlich zum Ausdruck, dass er selbst der souveräne Herr über die Passionsereignisse ist. Sie widerfahren ihm nicht nur noch nimmt er sie nur ergeben hin, sondern er hat vom Vater die Macht über sein Leben erhalten. Entsprechend weiß er um seine Stunde, mehr noch: er bestimmt diese Stunde - den Zeitpunkt seiner Lebenshingabe - selbst (2,4; 12,23.27). Deshalb schlagen auch alle vorzeitigen Versuche aus dem Volk oder aus den Reihen der jüdischen Autoritäten fehl, Jesus zu verhaften (7,30.32.43f.45-47; 8,20; 10,39) oder zu steinigen (8,59; 10,31). Typisch johanneisch sind auch die Vorverweise auf Jesu Kreuzestod als Erhöhungs- (3,14; 8,28; 12,32.34) und Verherrlichungsgeschehen (7,39; 11,4; 12,16.23 [in Kombination mit dem Motiv der Stunde].28), in welchem sich paradoxerweise gegen den vordergründigen Augenschein einer schmachvollen Himichtung seine göttliche Hoheit zu erkennen gibt. Innerhalb der joh Passionserzählung übernimmt die Deutung des Todes Jesu als Verherrlichungsgeschehen eine Art Rahmenfunktion für die Abschiedsreden des joh Jesus (13,3lf; 17, I [in Kombination mit dem Motiv der Stunde]. 4f).
Die Rolle Jesu als von Gott bevollmächtigter Regisseur des Passionsgeschehens bringt es mit sich, dass in der joh Darstellung die Initialzündung für dieses Geschehen nicht von Jesu Gegnern ausgehen kann. Entsprechend wird die Passionserzählung nach Johannes auch nicht mit dem Todesbeschluss der jüdischen Autoritäten gegen Jesus eröffnet. Vielmehr zieht Joh diese Szene (11,47-53) in die letzte Phase des öffentlichen Wirkens Jesu vor. In seiner Erzählkonzeption bildet sie somit den Schluss- und Höhepunkt der vielen erfolglosen Versuche, die die Widersacher Jesu in ihrem Unglauben verhaftet bereits unternommen haben, um ihn aus dem Weg zu schaffen. Zugleich kommt dem Todesbeschluss des Hohen Rates unter diesen Versuchen von Jesus her ein besonderer Stellenwert zu. Denn er hält die Handlungsfäden in Händen und initiiert gleichsam diesen Beschluss, um ihn sich zunutze zu machen und mit seiner Hilfe die Passionsereignisse in Gang zu setzen, natürlich zu der für ihn und von ihm bestimmten Stunde. So fällt auf, dass die Auferweckung des Lazarus (11,1-44) - das letzte Zeichen, das der joh Jesus wirkt - in einem direkten Begründungszusammenhang mit dem Todesbeschluss des Hohen Rates (11,47-53) steht. Getrennt sind die beiden Erzähleinheiten nur durch die kurze Notiz über die gegensätzlichen Reaktionen, die dieses Zeichen Jesu hervorruft: 45 Viele der Juden, die zu Maria gekommen waren und gesehen hatten, was Jesus getan hatte, kamen zum Glauben an ihn. 46 Aber einige von ihnen gingen zu den Pharisäern und berichteten ihnen, was er getan hatte. Aufgrund dieser Information aber kommt es zur Einberufung einer Sitzung des Hohen Rates (V. 47), die mit der endgültigen Entschlossenheit endet, Jesu Tod zu betreiben (V. 53). Ein aufmerksamer Blick zurück auf den Beginn der Lazaruserzählung entdeckt nun bald eine rätselhaft wirkende Äußerung Jesu. Auf die Nachricht von der Erkrankung seines Freundes Lazarus (V. 3) reagiert Jesus nämlich mit den Worten (V. 4):
3.1. Der Todesbeschluss der jüdischen Autoritäten gegen Jesus
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Diese Krankheit wird nicht zum Tod führen, sondern dient der Verherrlichung Gottes. Durch sie soll der Sohn Gottes verherrlicht werden. Damit findet sich in dieser Antwort mit dem Motiv der Verherrlichung des Gottessohnes ein typisch johanneischer Hinweis auf den Tod Jesu. Nicht Lazarus selbst also wird die Erkrankung zu Tode bringen, sondern seinen Freund Jesus! Doch warum? In diesem Zusammenhang fällt ein weiterer merkwürdiger Erzählzug auf. Denn statt sofort zu Lazarus aufzubrechen, wartet Jesus im Bewusstsein, dass sein erkrankter Freund stirbt (V. 11-15), noch zwei volle Tage (V. 6). Erst dann bricht er mit seinen Jüngern nach Judäa auf (V. 7), nicht ohne dass diese ihn zuvor noch daran erinnern, dass die Juden ihn dort erst kürzlich steinigen wollten (V. 8; vgl. 10,31.39). Als Jesus in Betanien, dem nahe bei Jerusalem (nach 11,18: 15 Stadien = ca. 3 km) gelegenen Wohnort des Lazarus und seiner Schwestern Marta und Maria, ankommt, ist Lazarus bereits vier Tage tot (V. 17). Den ersten Satz, den beide Schwestern übereinstimmend an Jesus richten, lautet: "Herr, wärest du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben." (V. 21.32). Ihr berechtigtes Vertrauen, das sie Jesus zuvor hatte benachrichtigen lassen, kOlmte sich auf die zuvor schon gewirkten Zeichen Jesu an Kranken stützen (vgl. 4,46-54; 5,29; 9,1-7). Doch hat sich der joh Jesus eben deshalb nicht unverzüglich auf den Weg nach Betanien gemacht, damit Lazarus starb. Denn so kann er an dem zweifelsfrei Toten - der Verwesungsprozess hat bereits erkennbar eingesetzt (V. 39) - mit der Auferweckung sein letztes und größtes Zeichen wirken. Die Totenauferweckung des Lazarus bildet also den Schluss- und Höhepunkt der Zeichen des joh Jesus. Sie führt nicht nur noch einmal viele zum Glauben an Jesus (V. 42.45), sondern bildet auch den Anlass für den Todesbeschluss des Hohen Rates als den Schluss- und Höhepunkt der gegnerischen Versuche, Jesus aus dem Weg zu räumen. Weil Jesus es jetzt so will, führt die Krankheit, obwohl sein Freund stirbt, durch sein auferweckendes Handeln nicht zum Tod des Lazarus, sondern zu seiner Verherrlichung, das heißt zu seinem eigenen Tod (vgl. V. 6). Denn erst die von Jesus bestimmte Ereignisfolge entlässt aus sich den Ratsbeschluss, dessen Umsetzung freilich wiederum von Jesu Willen abhängt. So führt die Anordnung der Jerusalemer Autoritäten, den Aufenthaltsort Jesu zu melden, um ihn verhaften zu können (11,57) zunächst zu keinem Erfolg. Vielmehr wird Jesus von der Volksmenge unter Jubelrufen nach Jerusalem hinein begleitet (12,12-19), so dass die am Todesbeschluss beteiligten Pharisäer (11,46f) geradezu resignieren (12,19). Auch bestimmt Jesus selbst darüber, öffentlich in Jerusalem zu reden (12,20-36a.44-50) oder sich zu verbergen (12,36b). Erst beim letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern - der Eröffnungsszene der joh Passionserzählung - gibt er im Wissen darum, dass seine Stunde gekommen ist (13,1), und ausgestattet mit der Bevollmächtigung des Vaters (13,3) Judas das entscheidende Signal: "Was du tun willst, das tue bald!" (13,27). Damit kann Judas der Anordnung der Hohenpriester und Pharisäer (11,57) nachkommen und ihnen den Aufenthaltsort Jesu melden (18,2f).
Obwohl nun die Szene des Todesbeschlusses der Jerusalemer Autoritäten gegen Jesus - ungeachtet ihrer Einbettung in die spezifisch joh Erzählkonzeption - eine dreifach synoptische Parallele besitzt, gestaltet Joh sie auch im Einzelnen ganz eigenständig. Infolge einer Information, die die Pharisäer von einigen Augenzeugen der Totenerweckung des Lazarus erhalten haben, wird eine Sitzung des Hohen Rates anberaumt (11,46-47a). Zu Beginn dieser Sitzung lassen die Ratsmitglieder eine gewisse Ratlosigkeit erkennen, die nach den vielen fehlgeschlagenen Versuchen, Jesus auszuschalten, nur zu verständlich ist. Doch angesichts des Wirkens Jesu und des daraus resultierenden Zulaufs des Volkes ist ihnen bewusst, dass sie aus Gründen politischer Klugheit etwas gegen Jesus unternehmen müssen. Denn wenn sie ihn gewäh-
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
ren lassen, "werden die Römer kommen und uns sowohl den Ort als auch das Volk wegnehmen" (11,4 71r48). Nur allzu deutlich spiegelt sich in dieser Befürchtung die Situation wieder, die im Jahr 70 mit der Eroberung Jerusalems und der Zerstörung des Tempels eintrat. Doch ist die Vorstellung dieses Szenarios auch vier Jahrzehnte zuvor für die mit dem Tempel eng verbundenen jüdischen Autoritäten in Jerusalem keineswegs abwegig. Denn am Tempel liefen alle Fäden der innerjüdischen Selbstverwaltung unter römischer Oberherrschaft zusammen. Sie wurde von den Mitgliedern des Hohen Rates einschließlich der 0 berpriesterlichen Amtsträger sowie von den Schriftgelehrten als ihren sachverständigen Beratern wahrgenommen. Diese tempelstaatliche Ordnung lag gleichermaßen im Interesse der römischen Oberherren, solange ihnen die jüdischen Autoritäten als Garanten innenpolitischer und wirtschaftlicher Stabilität nützlich waren, wie im Interesse der jüdischen Autoritäten selbst, insofern ihnen diese Ordnung Macht über das Volk und Wohlstand garantierte (~ 3.1.1. Exkurs 1). Jede Erschütterung des fragilen Machtgefüges musste also verhindert werden, wollten die Autoritäten nicht Gefahr laufen, ihre Privilegien zu verlieren. Eine solche Erschütterung aber konnte von einem charismatischen Menschen hervorgerufen werden, der es verstand, Anhänger um sich zu scharen und so im Urteil der Römer als politischer Rädelsführer galt. Die politischen Erwägungen, die auch noch in der synoptischen Darstellung hinter den Aktionen der Jerusalemer Autoritäten im unmittelbaren Vorfeld und zu Beginn der Passionsereignisse aufscheinen (vgl. Mk 11,18; 14,lf parr.), bringt Joh 11,47b--48 somit auf den Punkt. In 11,49f ergreift nun der amtierende Hohepriester Kaiaphas das Wort und weist einen Ausweg aus der schwierigen Situation: Angesichts der Alternative, den Tod eines einzelnen Menschen zu betreiben oder mit dem Ende der tempelstaatlichen Ordnung auch den Untergang des ganzen Volkes zu riskieren, kann die Entscheidungshilfe für die Ratsmitglieder - zumal als Nutznießer dieser Ordnung - nur lauten, "dass es besser für euch ist, dass ein einziger Mensch für das Volk stirbt" (V. 50). Dieses Votum des Hohenpriesters, das mit der Formulierung "sterben für" bereits die Leser und Leserinnen des Joh an ihnen vertraute Bekenntnissprache erinnern dürfte, wird in V. 51f durch einen Kommentar des Evangelisten auch entsprechend interpretiert. Erwähnenswert sind dabei drei Aspekte: 1. dem Hohenpriester wird kraft seines Amtes eine prophetische Gabe zugeschrieben (vgl. Philo, spec.leg. 4,192); 2. Jesus stirbt für das Volk, das heißt für Israel; 3. der Heil bringende Tod Jesu ist aber nicht auf Israel begrenzt, sondern kommt auch der Sammlung der versprengten Gotteskinder zugute, also allen, die innerhalb und außerhalb Israels an Jesus als den Sohn Gottes glauben (vgl. 1,12; 3,16.18; 10,14-16). V. 53 blendet zurück auf die Erzählebene: Das Votum des Kaiaphas hat seine Wirkung nicht verfehlt. Von jetzt an sind die Ratsmitglieder entschlossen, Jesus zu töten. Ihre Entschlossenheit wird durch die in V. 57
3.2. Die Salbung Jesu in Betanien
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nachgetragene Anordnung der Pharisäer unterstrichen, den Aufenthaltsort Jesu, falls bekannt, zu melden, um ihn verhaften zu können. Abschließend seien im Vergleich zur synoptischen Überlieferung noch zwei bemerkenswerte Bezüge zwischen der mt und der joh Darstellung genannt. So setzen zum einen Joh 11,47 wie Mt 26,3 gleichermaßen eine gezielte Versammlung der Jerusalemer Autoritäten voraus. Und zum anderen stimmen Mt 26,3 und Joh 11,49 in dieser Szene darin überein, dass sie den amtierenden Hohenpriester ausdrücklich namentlich als Kaiaphas bezeichnen.
3.2. Die Sa1bung Jesu in Betanien 3.2.1. Die markinische Darstellung Mk 14,3-9
Ohne jedes erkennbare Bemühen um einen erzählerischen Übergang lenkt die zweite Szene der mk Passionserzählung unvermittelt den Blick von den zum Tod Jesu fest entschlossenen Jerusalemer Autoritäten auf Jesus selbst. Nach Auskunft von V. 3a findet die im Folgenden erzählte Begebenheit in dem nahe Jerusalem gelegenen Ort Betanien statt. Näherhin weilt Jesus als Tischgast im Hause eines Mannes namens Simon, der zudem den Beinamen "der Aussätzige" (der "Lepröse") trägt. Nicht thematisiert wird, ob Simon noch aktuell an Lepra leidet und warum Jesus bei ihm zu Gast ist. Da Simon aber als Gastgeber eines Mahles nicht nur Jesus, sondern auch andere Gäste (vgl. V. 4a) bewirtet, muss er offenkundig nicht mehr ausgesondert leben und hat damit als geheilt zu gelten. Vermutlich setzt Mk unausgesprochen voraus, dass Simon - wie auch ein Aussätziger in Galiläa (vgl. Mk 1,40-42) - seine Heilung Jesus verdankt und daher zu seiner Ehre ein Gastmahl veranstaltet. Während dieses Mahles kommt eine anonym bleibende Frau, die ein Gefäß mit Nardenöl bei sich trägt, das eigens als echt und kostbar qualifiziert wird. Sie zerbricht das Gefäß und salbt mit dem Öl Jesu Haupt (V. 3b). Statt einer Reaktion Jesu wird in den V. 4f die Reaktion einiger (griechisch: tines), nicht näher identifizierter Augenzeugen der Salbungshandlung geschildert. Diese nehmen Anstoß am Tun der Frau. Denn sie betrachten die Salbung Jesu mit dem teuren Öl, dessen Verkaufswert sie mit mehr als 300 Denare beziffern, als Vergeudung und wissen auch sogleich einen geeigneteren Verwendungszweck, nämlich die Unterstützung der Armen. So tun sie zunächst untereinander ihren Unwillen kund und machen dann der Frau heftige Vorwürfe. Da schaltet sich Jesus selbst in die Kontroverse ein und ergreift Partei für die Frau (V. 6-9). Zunächst unterbindet er ihre Bloßstellung: "Lasst sie! Warum bereitet ihr ihr Unannehmlichkeiten?" (V. 6b). Sodann interpretiert er das, was die Kritiker der Frau Vergeudung genannt haben (V.
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
4b), als ein gutes Werk an ihm (V. 6c). Bevor er dies näher erläutert, entkräftet er das Argument der Armenfursorge. In Entsprechung zu seiner Antwort auf die Fastenfrage (vgl. 2,18-20) weist der mk Jesus auch jetzt auf den Kairos seiner Anwesenheit hin, angesichts dessen die Armenfursorge kurzfristig in den Hintergrund rücken muss. Ob ihr Wohltätigkeits argument ernst gemeint und nicht nur vorgeschoben war, dies zu beweisen werden die Kritiker der Frau Gelegenheit genug haben, wenn Jesus nicht mehr unter ihnen weilt, denn "Arme habt ihr allezeit unter euch" (V. 7). V. 8 schließt an V. 6 an und setzt damit die Verteidigung der Frau fort. Die Unannehmlichkeiten, die die Kritiker der Frau bereiten (V. 6b), stehen in krassem Widerspruch zu ihrem Einsatz: "Sie hat getan, was in ihren Möglichkeiten stand" (V. 8a). Diese Feststellung erinnert fast ein wenig an den Kommentar des mk Jesus zur Opfergabe der armen Witwe: "Sie hat aus ihrem Mangel heraus alles, was sie hatte, hineingeworfen" (12,44). Und so klingt auch hier in 14,8a gewiss die finanzielle Belastung an, die die Frau zum Erwerb des echten und kostbaren Nardenöls (V. 3b) auf sich genommen hat, um Jesus ihre Wertschätzung zu bezeugen. Dies ist freilich nur der zutage liegende Aspekt ihres HandeIns. Erst die Erläuterung Jesu, worin das gute Werk der Frau an ihm (V. 6c) konkret besteht, legt den entscheidenden Aspekt ihrer Tat offen: "Sie hat es vorweggenommen, meinen Leib fur das Begräbnis zu salben" (V. 8b). Im weiteren Verlauf der mk Jesusgeschichte wird Josefvon Arimathäa unter dem Zeitdruck des bald beginnenden Sabbats Jesus ohne Totensalbung bestatten (15,42--46). Und die Frauen um Maria von Magdala kommen am Ostermorgen angesichts des leeren Grabes und der Auferweckungsbotschaft (16,1.5f) nicht mehr dazu, ihre Absicht der nachträglichen Totensalbung in die Tat umzusetzen. In ihren Möglichkeiten also stand es nicht, .Jesus diese Ehre zu erweisen, wohl aber in den Möglichkeiten der anonym bleibenden Frau. Sie hat - in Unkenntnis der über den Augenblick hinausgehenden Bedeutung - diese Möglichkeiten in die Tat umgesetzt. Denn im Gegensatz zu ihren selbstgerechten Kritikern hat sie den Kairos der Gegenwart Jesu gespürt und genutzt. Daher müssen diese abschließend aus Jesu Mund die Verheißung eines bleibenden Andenkens an die Frau und ihr Tun vernehmen: "Amen, ich sage euch, wo immer das Evangelium auf der ganzen Welt verkündigt wird, wird auch gesagt werden, was diese Frau getan hat zu ihrem Gedächtnis" (V. 9).
3.2.2. Die matthäisehe Bearbeitung Mt 26,6-13 Mt folgt in 26,6-13 im Wesentlichen seiner Vorlage Mk 14,3-9. So platziel1 auch er die Salbungserzählung als zweite Szene seiner Passionserzählung hinter den Todesbeschluss der Jerusalemer Autoritäten. Zudem verzichtet er, abgesehen von einigen stilistischen Glättungen und erzähltechnischen Straf-
3.2. Die Salbung Jesu in Betanien
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fungen, die nicht eigens erörtert werden müssen, inhaltlich weitgehend auf eigene Akzentuierungen. Umso bemerkenswerter ist angesichts dessen, dass die Kritik am Tun der Frau in der mt Bearbeitung nicht von einigen, nicht näher identifizierten Leuten erhoben wird, sondern dass die Jünger unisono dagegen protestieren (26,8 diff Mk 14,4).
3.2.3. Die lukanische Version Lk 7,36-50
Die Erzählung von einer Salbung Jesu sucht man innerhalb der lk Passionserzählung vergeblich. Denn Lk hat die Vorlage Mk 14,3-9 nicht übernommen. Allerdings findet sich auch in seiner Jesusgeschichte eine Salbungsüberlieferung, und zwar in der galiläischen Phase des Wirkens Jesu (7,3650). Sie wird traditionsgeschichtlich durchweg als unabhängig von Mk 14,39 beurteilt, zugleich aber gilt eine Annäherung beider Salbungsüberlieferungen noch auf der Ebene der mündlichen Tradierung als wahrscheinlich. Unverkennbar weisen beide Überlieferungen große Ähnlichkeiten im Aufbau des Erzählgerüstes auf: 1. Jesus weilt als Tischgast in einem Haus (Mk 14,3a; Lk 7,36); 2. eine anonym bleibende Frau verschafft sich Zugang zu ihm und salbt ihn (Mk 14,3b-4; Lk 7,37f); 3. das Auftreten der Frau stößt auf Vorbehalte (Mk 14,4f; Lk 7,39); 4. Jesus nimmt sie gegenüber ihren Kritikern in Schutz und heißt ihr Verhalten gut (Mk 14,6-8; Lk 7,40-46); 5. er legt die positiven Folgen für die Frau offen (Mk 14,9; Lk 7,47f). Lk fand die Parallelüberlieferung zu Mk 14,3-9 wohl in seinem Sondergut und verzichtete, um eine Erzähldubletie zu vermeiden, auf die Übernahme der mk Version. Welche Gründe ihn bei seiner Entscheidung gegen die mk Version und damit auch gegen eine Verortung der Salbungsüberlieferung innerhalb der Passionserzählung bewegten, wird sich nicht endgültig klären lassen. Doch darf vermutet werden, dass Lk als begabter Schriftsteller einen größeren Gestaltungsspielraum sah, sofern er die passionsunabhängige Salbungstradition aus seinem Sondergut aufgriff und in der ga1iläischen Phase des Wirkens Jesu verankerte. Es rührte angesichts der hier auf die Passionserzählungen ausgerichteten Perspektive zu weit, den redaktionellen Anteil an der jetzigen Gestalt der lk Salbungserzählung 7,36-50 im Einzelnen herauszuarbeiten. So mag der Hinweis auf narrative Querverbindungen genügen, die Lk zu anderen Erzähleinheiten seiner Jesusgeschichte herstellt, die ebenfalls in Galiläa situiert sind und die er von Mk übernommen hat. Eine Querverbindung besteht zur Erzählung von der Heilung des Gelähmten (5,17-26 par. Mk 2;1-12), und sie verläuft über das Motiv der Sündenvergebung, und zwar in Kombination mit der gegnerischen Infragestellung der Vollmacht Jesu dazu. Eine andere Querverbindung besteht zur Erzählung von der Heilung der blutflüssigen Frau (8,43-48 par. Mk 5,25-34), und sie verläuft über das Motiv des helfenden Glaubens und der Entlassung in Frieden.
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Handlungsort der lk Salbungserzählung ist das Haus eines Pharisäers (7,36) in einer Stadt (vgl. 7,37). Von 7,11 her ist an NaYn zu denken, da zwischen 7,11 und 7,36 jeder Hinweis auf einen Ortswechsel fehlt und die in 7,37 erwähnte Stadt zudem mit einem bestimmten Artikel versehen ist. Den situativen Rahmen der Salbungshandlung bildet wiederum ein Essen (7,36 parr. Mk 14,3; Mt 26,6f), zu dem der Pharisäer Jesus eingeladen hatte. Die Frau, die die Salbung an Jesus vornimmt, bleibt auch bei Lk namenlos. Allerdings wird sie über Mk und Mt hinausgehend ausdrücklich als Sünderin qualifiziert (V. 37), freilich - wie ihre Tränen, die sie vergießt, zeigen - als reuige Sünderin (V. 38). Über die Art ihrer Sünde(n) schweigt sich die Geschichte aus. Diese Frau nun, die von Jesu Besuch im Haus des Pharisäers erfahren hat, nähert sich Jesus weinend, so dass ihre Tränen seine Füße benetzen. Daher trocknet sie sie mit ihren Haaren, bevor sie anschließend Jesu Füße mit dem mitgebrachten Öl salbt (V. 38). Mit ihrer Handlung ruft nun die Frau beim Gastgeber Jesu Kritik hervor, die er jedoch nicht ausspricht. Diese Kritik zielt freilich im Unterschied zur mk/mt Version der Erzählung nicht auf eine unnötige Verschwendung des Salböls. Entsprechend fehlt auch bei Lk gegen Mk 14,3b und - etwas abgeschwächt - auch Mt 26,7 jeglicher Hinweis auf die Kostbarkeit des Öls. Vielmehr richtet sich die Kritik gegen die Person Jesu. Denn nach Überzeugung des Pharisäers diskreditiert sich Jesus selbst als Prophet, indem er sich von einer sündigen Frau berühren lässt (V. 39). Die Reaktion Jesu auf diese unausgesprochene Kritik (vgl. 5,21f!) erweist ihn aber als Prophet, denn sie belegt, dass ihm die Gedanken des Pharisäers offenbar sind (V. 40-47). In der Einleitung des Gesprächs zwischen Jesus und seinem Gastgeber (V. 40) wird zum ersten Mal der Eigenname des Pharisäers erwähnt: Simon. Dieser Eigenname dürfte von Lk aus der mk Salbungsüberlieferung eingetragen worden sein. Wahrscheinlich war nämlich Lk überzeugt, dass die beiden ihm bekannten Salbungstraditionen auf ein und dieselbe Begebenheit im Leben Jesu zurückzufiihren seien. Der lk Jesus konfrontiert nun seinen Gastgeber in V. 41f mit einer Beispielerzählung aus dem Bereich des Geldverleihs, deren rür den gesunden Menschenverstand einzig mögliche Quintessenz er Simon selbst ziehen lässt; Wer mehr Schulden erlassen bekommt, der liebt auch mehr (V. 43). In den V. 4446 nun vergleicht Jesus Schritt rür Schritt die Versäumnisse Simons gegenüber seinem Gast mit dem Verhalten der Frau und folgert daraus abschließend (V. 47): Deshalb sage ich dir, ihre zahlreichen Sünden sind ihr vergeben, ebendeshalb hat sie so viel Liebe gezeigt. Wem aber wenig vergeben wird, der erweist (auch nur) wenig Liebe.
An die Frau gerichtet bestätigt Jesus noch eimnal explizit die ihr zuteil gewordene Sündenvergebung, die sich implizit bereits in ihrem Handeln an ihm gezeigt hatte (V. 48). Auf die inneren Vorbehalte der anderen Gäste gegen seine Vollmacht zur Sündenvergebung (V. 49; vgl. 5,21), reagiert der lk
3.2. Die Salbung Jesu in Betanien
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Jesus nicht mehr. Stattdessen bestätigt er der Frau die hilfreiche Kraft ihres Glaubens und entlässt sie mit dem Friedenswunsch (V. 50; vgl. 8,48). Sprachlich hat die lk mit der mkImt Variante der Salbungserzählung nur rudimentäre Gemeinsamkeiten. Sie beschränken sich in Lk 7,37 (parr. Mk 14,3; Mt 27,7) auf die Begriffe Frau (griechisch: gyne) und Alabaster(-gefäß) mit Salböl (griechisch: alabastron myrou) und in Lk 7,40.43 auf den übereinstimmend mit Mk 14,3 par. Mt 26,3 angegebenen Namen des Gastgebers: Simon.
Inhaltlich unterscheidet sich d'ie lk von der mklmt Version vor allem dadurch, dass nicht so sehr Jesus selbst und sein künftiges Geschick im Blickpunkt stehen, sondern die Frau und ihre existentielle Situation, die durch Sünde und Vergebung gekennzeichnet ist. Entsprechend wird die Salbung auch nicht als vorweggenommene Totensalbung interpretiert, sondern als liebende Antwort auf erfahrene Vergebung.
3.2.4. Diejohanneische Version Joh 12,1-8 Im Joh findet sich die Überlieferung einer Salbung Jesu wie im Lk außerhalb der Leidenserzählung. Doch im Unterschied zu Lk platziert Joh sie in zeitliche und sachliche Nähe zu den Passionsereignissen. Eine gewisse Parallele zur mklmt Version besteht in der Geschehensabfolge. So schließt die joh Salbungserzählung zwar nicht unmittelbar an den Todesbeschluss der Jerusalemer Autoritäten gegen Jesus an. Doch wird zwischen die beiden Szenen nur in 11,54 die Notiz vom Rückzug Jesu aus der Öffentlichkeit und in den V. 55f die Überlegungen der Jerusalemer Festpilger, ob Jesus zum Passafest in die Stadt komme, eingeschoben. V. 57 mit der Anordnung der Hohenpriester und Schriftgelehrten, den Aufenthaltsort Jesu, falls bekannt, zu melden, um ihn verhaften zu können, stellt die direkte erzählerische Verbindung zwischen Todesbeschluss (11,47-53) und Salbung (12,1-8) her. Auch die joh Variante der Salbungserzählung selbst lässt keinen Zweifel an ihren Bezug auf die Passion Jesu. Bereits die einführende Zeitangabe in 12,1 (sechs Tage vor dem Passafest) stellt die nachfolgend erzählten Ereignisse in den Kontext des Todespassa und damit der jetzt anbrechenden letzten Lebenswoche Jesu. Entsprechend deutet auch der joh Jesus in Übereinstimmung mit der mklmt Version die Salbung als vorweggenommene Totensalbung (12,7; vgl. Mk 14,8 par. Mt 26,12). Mit Mk und Mt verbindet diejoh Salbungserzählung darüber hinaus Betanien als Ort des Geschehens (12,1; vgl. Mk 14,3 par. Mt 26,6) sowie die Betonung der Kostbarkeit des verwendeten Salböls (12,3; vgl. Mk 14,3 par. Mt 26,7). Besonders enge - auch sprachliche - Berührungen bestehen dabei zwischen Mk 14,3b (ein Alabastergefäß mit echtem, kostbarem Nardenöl [griechisch: alabastron myrou nardou pistikes polytelousD und Joh 12,3 (ein Pfund von echtem, kostbaren Nardenöl (griechisch:
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
litran myrou nardou pistikes polytimou]). Indem loh statt des Gefäßes (alabastron) die Menge (litra) - ein Pfund - des Salböls erwähnt, unterstreicht er noch den Kostenaufwand für die Salbung lesu. Für Salböl der angegebenen Qualität ist ein Pfund (= 327,45 g) eine ungeheuer große Menge, die etwa zehn Monatsverdienste verschlang.
Sachlich eng mit der Kostbarkeit des Salböls verbunden wird bei Mk/Mt und Joh ebenfalls übereinstimmend der Vorwurf einer unangemessenen Verwendung der darur aufgewendeten Kosten (12,5; vgl. Mk 14,4f par. Mt 26,8f) erhoben. Allerdings ist von Mk (14,4: einige) über Mt (26,8: die Jünger) zu Joh (12,4: Judas Iskariot, einer von seinen Jüngern) eine zunehmende Präzisierung des Urheber(kreises) dieses Vorwurfs zu beobachten. In der joh Version der Salbungserzählung zeichnet nur noch Judas Iskariot allein dafiir verantwortlich. Sein Bild wird zudem zusätzlich dadurch verdunkelt, dass der Hinweis seiner Zugehörigkeit zum Jüngerkreis in V. 4 noch ergänzt wird durch den Zusatz "der ihn später auslieferte/verriet" und durch V. 6, der ohne synoptische Parallele - den Einwand des Judas (V. 5) kommentiert: "Er sagte dies aber nicht, weil ihm an den Armen lag, sondern weil er ein Dieb war und, da er die Kasse führte, ihren Inhalt veruntreute" (loh 12,6).
Die Reaktion des joh Jesus auf den Einwand des Judas entspricht weitgehend der mk/mt Version. Mit Mk 14,6 verbindet Joh 12,7 die Einleitung "lass(t) sie!", die Joh aufgrund ihres direkten Bezuges auf Judas allein entsprechend singularisch formuliert. Mit Mt 26,11 verbindet Joh 12,8 gegen Mk 14,7 die Zuspitzung auf den Gegensatz "Arme allezeit - mich nicht allezeit". Gegen Mk 14,9 par. Mt 26,13 gibt der joh Jesus keine Zusage eines dauernden Andenkens an die Frau und ihr Handeln. Mit allen drei synoptischen Salbungserzählungen ist die joh Version durch die Rahmensituation eines Gastmahls verbunden. Speziell mit der lk Variante stimmt sie darin überein, dass nicht Jesu Haupt, sondern Jesu Füße gesalbt werden und dass die Haare der salbenden Frau zum Abwischen der Füße dienen (12,3; vgl. Lk 7,38). Die entscheidende Besonderheit der joh Salbungserzählung im Vergleich zu den synoptischen Varianten gründet in ihrer narrativen Verzahnung mit der Erzählung von der Auferweckung des Lazarus (11,1-44) (~ 3.1.4.). Dadurch wird zwar der bei Mk 14,3-9 par. Mt 26,6-13 vorgegebene Bezug des Salbungsgeschehens auf Jesu Tod nicht aufgehoben, doch wird zugleich der Blick auf Jesu Auferstehung gelenkt. Denn das Zeichen der Totenauferweckung, das Jesus an Lazarus wirkt, weist voraus auf seine eigene, eschatologisch-endgültige Überwindung des Todes. Durch sie erweist er sich den an ihn Glaubenden als die Auferstehung und das Leben (11,25). Die erzählerischen Verbindungen zwischen 11,1-44 und 12,1-8 sind zahlreich. Zunächst einmal wird die joh Salbungserzählung gerahmt durch die zweifache Erwähnung des Lazarus der jeweils pointiert charakterisiert wird durch den Relativsatz "den er (= Jesus) von den Toten auferweckt hatte" (V. 1.9).
3.2. Die Salbung Jesu in Betanien
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Während des Mahles, das für Jesus in Betanien ausgerichtet wird, ist zudem Lazarus sein Tischgenosse (V. 2). Aber auch die beiden Schwestern des Lazarus sind wie in Kapitel 11 anwesend. Marta übernimmt den Tischdienst (V. 2), Maria dagegen vollzieht, wie schon in 11,2 durch einen erzählerischen Vorverweis angekündigt, an Jesus die Salbung (V. 3). Damit ist in der joh Version die salbende Frau aus ihrer synoptisch vorgegebenen Anonymität entlassen. Interessant ist nun, dass allein J oh den durchdringenden Duft erwähnt, der vom Salböl ausgeht (V. 3f: ,;Das Haus aber wurde erfüllt vom Duft des Öls."). Angesichts des von Joh unverkennbar hergestellten Bezugs zwischen Lazarus- und Salbungserzählung bildet dieser Duft das Widerlager zum Leichengestank, auf den in 11,39 angespielt wird. Ist dieser Gestank aber das Kennzeichen der beginnenden Verwesung, d.h. des unwiderruflich eingetretenen Todes, so hat der in 12,3 eigens erwähnte Duft gleichsam als das Gegenzeichen zu gelten. Er steht für das unvergängliche Leben, konkret für Jesu Auferstehung, in der dieses Leben schon Wirklichkeit geworden ist. In diesem Zusammenhang verdient noch ein anderer, bemerkenswerter Erzählzug Beachtung: Joh 12,3 stimmt zwar mit Lk 7,38 darin überein, dass Jesu Füße gesalbt werden. Allerdings wäscht die lk Sünderin Jesu Füße zunächst mit ihren Tränen, trocknet sie dann mit ihren Haaren und trägt abschließend das Öl auf. Anders die joh Lazarusschwester: Sie salbt zunächst Jesu Füße und wischt sie dann mit ihrem Haar ab. Sie nimmt also etwas von dem duftenden Öl, das sie auf Jesu Füße gegossen hat, mit ihren Haaren auf. Dies ist nun alles andere als eine ungeschickte oder unbedachte Adaption des lk Motivs. Vielmehr symbolisiert die Anteilhabe Marias am duftenden Öl ihre Anteilhabe am Auferstehungsleben Jesu, wie die Salbung selbst für ihre Anteilhabe am Tod Jesu steht. Diese Anteilhabe aber wird durch den Glauben vermittelt (11,25f), der sich im Handeln Marias an Jesus dokumentiert (12,3). Die joh Salbungserzählung verknüpft also - gerade durch ihre Rückkoppelung an die Lazarusperikope - Tod und Auferstehung Jesu ganz eng miteinander. Dies entspricht der paradoxen Einheit von Kreuz und Erhöhung, Tod und Verherrlichung Jesu, die das Evangelium wie ein roter Faden durchzieht. Der an irdischen Kriterien vermessene Gipfel der Erniedrigung des Menschen Jesus von Nazaret ist zugleich die Inthronisation des Gottessohnes als König durch die göttliche Machttat. Das Kreuz ist damit der nach menschlichen Kriterien paradoxe Thron des joh Christuskönigs. Gerade das Königsmotiv wird immer stärker ins Blickfeld gerückt, je näher der Tod Jesu kommt. Es nimmt im Verhör vor Pilatus eine zentrale Stellung ein (18,33-40) und wird noch einmal durch den Kreuzestitulus (19,19-22) eindrücklich herausgestellt. Das Königsmotiv dürfte auch den Hintergrund der Salbungserzählung bilden. Denn zum einen wird der Duft der Narde biblisch außer in Joh 12 nur im Hld 1,12 erwähnt und steht dort im explizit königlichen Kontext:
I
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu Solange der König zu Tisch lag, gab meine Narde ihren Duft.
Zum anderen gestaltet Joh die nachfolgende Erzählung vom Einzug Jesu in Jerusalem (12,12-19) als feierliche Einholung des Königs. Der Ruf der Volksmenge, die Jesus entgegen zieht und ihn als König Israels feiert (V. 13), wird vom Evangelisten gerade nicht als Fehlinterpretation des Vollces korrigiert. Vielmehr wird er durch Berufung auf die Schrift (Leitzitat: Sach 9,9) ausdrücklich bestätigt (V. 15). Freilich lässt Joh auch hier keinen Zweifel daran, dass die volle Einsicht in das besondere Königtum Jesu erst durch seine Verherrlichung am Kreuz eröffnet wird (V. 16).
Exkurs 2 Maria Magdalena - die Frau, die Jesus salbte? Auch heute in einer Zeit schwindender kirchlicher Prägung verbindet sich im Bewusstsein vieler Menschen mit der Salbung Jesu eine schillernde Frauengestalt: Maria Magdalena - die frühere Dirne, die durch ihre Begegnung mit Jesus zur reuigen Sünderin (vgl. Lk 7,38) und schließlich zur Heiligen avancierte. In jüngerer Zeit machte Maria Magdalena durch Literatur und Effekt heischenden Wissenschaftsjoumalismus sogar noch eine späte Kan-iere als Partnerin Jesu und Mutter seiner Kinder. Doch lässt sich diese Variante getrost dem weiten Feld der Phantasie zuordnen und mag hier auf sich beruhen.
Das bis heute fortwirkende populär-Iegendarische Bild von Maria Magdalena verdankt sich dagegen einem bemerkenswerten Verknüpfungsprozess der neutestamentlichen Gestalt der Maria von Magdala mit anderen im Neuen Testament begegnenden Frauengestalten. Die Einzelfäden dieses Verknüpfungsprozesses, der auf einer historisierend-harmonisierenden Lektüre der vierfachen Evangelienüberlieferung basiert, lassen sich unter dem Vorzeichen historisch-kritischer Zugangsweise zu den Texten verlässlich aufzeigen. Die Gestalt der Maria von Magdala begegnet in der neutestamentlichen Überlieferung ausschließlich in den Evangelien. In allen vier Evangelien aber ist ihr Auftreten eng mit der Kreuzigung Jesu und mit den Osterereignissen verbunden. Die älteste Erwähnung der Maria von Magdala fmdet sich Mk 15,40: Es waren aber auch Frauen, die von weitem zusahen, unter ihnen auch Maria von Magdala, Maria, die Mutter von Jakobus dem Kleinen [= dem Jüngeren] und Joses sowie Salome.
Als Augenzeuginnen der Kreuzigung Jesu werden hier Frauen genannt, unter denen drei namentlich identifiziert und damit aus der anonymen Gruppe hervorgehoben werden. Genau diese drei Frauen machen sich auch am Os-
3.2. Die Salbung Jesu in Betanien
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termorgen auf dem Weg zum Grab Jesu (Mk 16,1), nachdem zuvor Maria von Magdala sowie Maria, die Mutter des Joses, die Grablegung Jesu beobachtet hatten (Mk 15,47). Es gibt nun einen deutlichen Hinweis, dass die dreimalige namentliche Erwähnung dieser Frauen in Mk 15,40.47 und 16,1 und zwar jeweils mit Maria von Magdala als der Erstgenannten - zur vormk Passionsüberlieferung gehört. Ihr Auftreten nämlich beschränkt sich auf den Schluss der Passionserzählung und wird im vorausgehenden Teil des Evangeliums mit keiner Silbe vorbereitet. Vielmehr erweckt Mk durch 15,41 den Eindruck, als wolle er nachträglich eine Verklammerung mit den Kapiteln 1-13 herstellen. Denn er fügt hinzu: Diese [= die drei zuvor genannten Frauen] waren ihm nachgefolgt, als er in Galiläa war, und hatten ihm gedient, und viele andere, die mit ihm nach Jerusalem hinaufgezogen waren."
Wenngleich also 15,41 sich der Redaktion des Mk verdanken dürfte, so zieht er nur den logischen Schluss aus der dem vormk Passionsbericht entstammenden Notiz in 15,40: Wenn die Frauen als Zeuginnen der Kreuzigung genannt sind, setzt ihre durchaus für sie nicht ungefährliche Anwesenheit eine persönliche Beziehung zum Gekreuzigten voraus. Da Jesus aber nur wenige Tage in Jerusalem wirkte, kann diese Beziehung in dieser kurzen Zeit kaum entstanden sein. Die mk Erklärung, dass die Frauen also schon in Galiläa zur Anhängerschaft Jesu zählten, ist damit historisch glaubwürdig. Dies gilt umso mehr von der allen voran namentlich genannten Maria von Magdala. Denn ihre Herkunftsbezeichnung erweist sie als Galiläerin. Sie stammte aus Magdala, einem kleinen Fischerdorf am Westufer des Sees Genesaret, das 8km von Kafarnaum und etwa 30km von Nazaret entfernt gelegen war. Außerhalb des Zusammenhangs von Karfreitag und Ostern wird Maria von Magdala nur ein einziges Mal in Lk 8,2 und damit im Kontext einer lk Sondergutnotiz (8,1-3) erwähnt. Dort heißt es: 1 Und es geschah in der folgenden Zeit, dass er umherzog von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf, wobei er das Evangelium von der Gottesherrschaft verkündigte, und die Zwölf [zogen] mit ihm [umher], 2 und einige Frauen, die geheilt worden waren von bösen Geistern und Krankheiten, Maria, genannt die aus Magdala, aus welcher sieben Dämonen ausgefahren waren, 3 und Johanna, die Frau des Chuzas, eines Verwaltungsbeamten des Herodes, und Susanna und viele andere [Frauen], welche ihnen [= Jesus und den Zwölfen] dienten mit ihrem Vermögen.
Lk greift hier deutlich erkennbar zwei ihm vorliegende Überlieferungen auf, die er miteinander kombiniert. Mk 15,40f entnimmt er, dass Frauen, unter ihnen Maria von Magdala als Erstgenannte, Zeuginnen der Kreuzigung Jesu waren und dass sie Jesus darüber hinaus schon zuvor in Galiläa nachgefolgt waren. Lk nun präzisiert und profanisiert gleichzeitig diesen bei Mk allgemein gehaltenen und doch durch den Kontext seines Evangeliums theologisch qualifizierten Dienst der (Kreuzes-)Nachfolge (Mk 8,34; 10,45!) als
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
materielle Unterstützung. Darüber hinaus zieht er die von Mk erst im Kontext der Passion nachgelieferte Information über Frauen im Gefolge Jesu während der galiläischen Phase an eine dazu passende Stelle innerhalb seines Evangeliums vor und erweist sich so einmal mehr als begabter Erzähler. Zudem weiß Lk in 8,2 zu berichten, dass diesen Frauen Jesu exorzistisches und therapeutisches Wirken zuteil geworden war. Dabei erwies sich seine heilende Kraft in besonders eindrücklicher Weise an Maria von Magdala, aus der er - so Lukas - sieben Dämonen ausgetrieben hatte. Damit kommt die zweite Überlieferung ins Spiel, die Lk in sein Sondergut 8,1-3 einbaut. Denn mit Vers 8,1, der erzählerisch an 4,43 anknüpft, greift er auf eine traditionelle Vorgabe zurück, wie sie sich Mk 1,39 par Mt 4,23 (vgl. Mt 9,35) findet. Demnach aber ist Jesu Verkündigungstätigkeit untrennbar verbunden mit seinen Dämonenbannungen bzw. Krankenheilungen, die nach frühjüdischer Weltsicht eng aufeinander bezogen sind. Lk beschränkt sich nun in 8,1 allein auf die Predigttätigkeit Jesu und fügt erst in 8,2 das dazu gehörende heilende Wirken an. Und zwar bezieht er dies konkret auf die Frauen in seinem Gefolge. Auf diese Weise erscheinen Nachfolge und Dienst der Frauen als Ausdruck ihrer Dankbarkeit für die erfahrenen Heilungen. Die deutlich redaktionelle Gestaltung von Lk 8,1-3 rät dazu, die Aussage über die völlige Besessenheit (sieben! Dämonen) bzw. schwere Erkrankung der Maria von Magdala sehr zurückhaltend zu bewerten. Es ist denkbar, dass Maria von Magdala Jesu heilendes Wirken an sich selbst erfahren hat, nachweisen lässt es sich nicht. Historisch glaubwürdig ist nur, dass sie bereits. in Galiläa zu Jesu Jüngerschaft gehörte. Warum sie dazu stieß, muss letztlich offen bleiben. Fest verankert ist in der urchristlichen Erinnerung auch der herausragende Platz, der Maria von Magdala bei den Passions- und Osterereignissen zukommt. Aufgrund ihrer unverbrüchlichen Treue zu Jesus kann sie von ihm bezeugen, was schließlich zu den unverrückbaren Grunddaten des christlichen Bekenntnisses wird: gestorben, begraben und auferweckt (vgl. lKor 15,3-5). Doch wie wurde nun diese Maria von Magdala, von der wir zuverlässig überliefert nur wenig wissen, zur legendarischen Maria Magdalena, der Dirne, Büßerin und Heiligen? Als Ausgangs- und Anknüpfungspunkt für diese unfreiwillige "Karriere" dürfte wohl die redaktionell gestaltete lk Erzählabfolge zu betrachten sein. Denn die einzige Erwähnung der Maria von Magdala außerhalb des Passions- und Osterkontextes schließt in 8,1-3 unmittelbar an die lk Salbungserzählung 7,36-50 an. Sodann liefert die joh Salbungserzählung über die synoptischen Varianten hinaus dankenswerterweise mit Maria auch noch einen Namen der salbenden Frau, der mit dem Namen der Jesusjüngerin aus Magdala identisch ist. Und schließlich kam noch hinzu, dass die Gestalt der Maria von Magdala in der mk/lk Erzähltradition vom Grabbesuch am Ostermorgen ebenfalls untrennbar mit dem Salbungsmotiv verbunden ist (vgl. Mk 16,1; Lk 24,1.10). So kam es, wie es
3.3. Judas sucht Kontakt mit den Jerusalemer Autoritäten
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kommen musste: Im Licht einer historisierend-harmonisierenden Lektüre der vier kanonischen Evangelien wurde Maria von Magdala mit der reuigen Sünderin der lk Salbungserzählung identifiziert. Denn diese hieß ja auch Maria, wie man aus dem JohEv zu wissen glaubte. Obwohl nun Lk offen lässt, worin die Sünde der salbenden Frau bestand, wurde diese Sünde im Laufe der Zeit sexuell konnotiert und die Frau zur Dirne abgestempelt. Entsprechend wurde auch die Information über die Besessenheit der Maria von Magdala in Lk 8,2 sexuell gedeutet. Damit war die Legende der Maria Magdalena geboren: Als stadtbekaimte Dirne, die reumütig zu Jesus kommt, wird sie von ihm von ihrer sexuellen Besessenheit geheilt. Fürderhin folgt sie ihm als Bekehrte auf seinen Wegen und sitzt als Hörende zu seinen Füßen. 3
3.3. Judas sucht Kontakt mit den Jerusalemer Autoritäten 3.3.1. Die mk Darstellung Mk 14,10-11 Die nächste Szene der mk Passionserzählung, die nur von den synoptischen Seitenreferenten übernommen wird und ohne joh Parallele bleibt, knüpft über die Salbungsszene hinweg sachlich an die Eröffnungsszene mit dem Todesbeschluss der Jerusalemer Autoritäten gegen Jesus (l4,1f) an. Am Ende dieser ersten Szene sind diese Autoritäten zwar unverrückbar und endgültig entschieden, den Tod Jesu zu betreiben. Doch fehlt ihnen noch jeder konkrete Plan zur Umsetzung ihrer Absicht. Genau hier knüpft nun 14,1 Of an. In der Situation ihrer Ratlosigkeit nimmt Judas Iskariot Kontakt mit den Hohenpriestern auf. Eigens wird Judas als "einer von den Zwölfen" (V. 10a) bezeichnet. Damit erinnert Mk daran, dass Judas Mitglied des engsten Jüngerkreis ist, den J esus in einer frühen Phase seines galiläischen Wirkens konstituiert hat (3,13-19). Kaum zufällig spricht Mk in V. lOa auch davon, dass Judas "wegging (griechisch: f!J2-elthen) zu den Hohenpriestern. Denn Judas geht nicht nur zu den Hohenpriestern, sondern er verlässt damit aus mk Sicht den Zwölferkreis und wendet sich den Feinden Jesu zu. Dass Judas gleichsam das Lager wechselt, bestätigt Mk dann auch unmittelbar in V. lOb. Judas sucht die Hohenpriester auf, um ihn (Jesus) ihnen auszuliefern (griechisch: paradidömi) - so, wie Mk es schon in 3,19 im Vorgriff auf die späteren Ereignisse erwähnt. Das Verb, das Mk in V. lOb (vgl. 3,19) wählt, um die Absicht des Judas auszudrücken, besitzt ursprüJ?glich nicht die ethisch negativ wertende Konnotation verraten. Diese Konnotation
In diesem Zusammenhang ist noch aufLk 10,38-42 zu verweisen, wo ein mit Joh ll,lfnamens-
gleiches Schwesternpaar Jesus gastlich aufnimmt und schließlich eine vergleichbare "Arbeitsteilung" wie in Joh 12,2f zu beobachten ist: Marta sorgt sich um die hausfraulichen Dinge, während Maria sich ganz auf Jesus konzentriert.
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
erhält es erst allmählich im Kontext des urchristlichen Nachsinnens über die Judastat. Es stammt vielmehr aus der Gerichts- und Prozesssprache und ist ein ethisch neutraler juristischer Terminus. Als solcher beschreibt er den Vorgang des Überstellens an eine behördliche Instanz, etwa an ein Gericht. Bemerkenswert ist im Übrigen, dass die urchristliche Überliefemng im Zusammenhang mit der Passion Jesu das Verb paradidömi nicht nur zur Bezeichnung der Judastat, sondern gleichermaßen - in den sog. Dahingabeformeln - zur Bezeiclmung des Handelns Gottes verwendet. Beide - Gott wie Judas - sind also Subjekte des Auslieferns: Gott, der durch die Dahingabe seines Sohnes seinen Heilswillen für die Menschen dokumentiert, und Judas, der als Werkzeug Gottes und gleichwohl in freier Entscheidung diesen göttlichen Heilswillen umsetzt.
Wenngleich nun in 14,1 Ob nichts gegen das Verständnis einer juristischneutralen Beschreibung der Judastat als "Ausliefern" spricht, werden schon in der mk Darstellung der Kontaktaufnahme des Judas mit den Hohenpriestern subtil die Weichen rur eine Bedeutungsverschiebung in Richtung "Verrat" gestellt. Denn mit Judas leitet eben ein Mitglied des engsten Jüngerkreises Schritte gegen Jesus ein. Die Reaktion der Hohenpriester auf das Angebot des Judas ist angesichts ihrer vorherigen Ratlosigkeit, wie sie Jesus in ihre Gewalt bringen sollten, nur allzu verständlich: Sie freuen sich (V. 11a). Und so machen sie ihrerseits Judas ein Gegenangebot, indem sie ihm Geld in Aussicht stellen (V. 11 b). Die Abschlussbemerkung der Szene (V. llc) lenkt den Blick noch einmal kurz zurück auf Judas, von dem Mk geradezu nüchtern konstatiert: "Und er sann darüber nach, wie er ihn (J esus) zu einem günstigen Zeitpunkt ausliefern könne." Diese Schlussbemerkung schließt sachlich an V. lOb an. War die Auslieferungsabsicht der Anlass rur die Kontaktaufnahme mit den Hohenpriestern, so trachtet Judas nun, nachdem er in den Hohenpriestern Gleichgesinnte gefunden hat, danach, diese Absicht in die Tat umzusetzen. In der mk Darstellung steht somit das Auslieferungsbemühen des Judas im Mittelpunkt. Welche Motivation dahinter steht, lässt Mk offen. Doch spielt das Motiv des Geldes bei ihm rur das Handeln des Judas noch keine Rolle. Das Geldangebot ist vielmehr konkreter Ausdruck der Freude, die die Hohenpriester angesichts der unverhofften Unterstützung ihrer eigenen Ziele empfinden.
3.3.2. Die matthäisehe Bearbeitung Mt 26,14-16 Mt setzt in seiner Bearbeitung von Mk 14,1 Of einige bemerkenswerte eigene Akzente. So nimmt er sofort in den Eröffnungsworten (V. 14) eine Umstellung vor, indem er die Apposition in Mk 14,1 Oa "einer von den Zwölfen" vorzieht und zum Subjekt macht und die namentliche Identifizierung dieses Einen relativisch anrugt ("der Judas Iskariot genannt wird). Auf diese Weise ruhrt Mt noch eindrücklicher die Ungeheuerlichkeit vor Augen, dass ein Mitglied des engsten Jüngerzirkels Jesus den Jerusalemer Autoritäten ausge-
3.3. Judas sucht Kontakt mit den Jerusalemer Autoritäten
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liefert hat. Eine zweite Umstellung ist vielleicht noch bedeutsamer. So ordnet Mt die mk Hauptaussage ("Und Judas Iskariot [ ... ] ging zu den Hohenpriestern ... " [14,10]) als partizipiale Formulierung syntaktisch unter (26,10: "nachdem er ... aufgebrochen war ... "). Dadurch lenkt er das Hauptaugenmerk auf den bei Mk in einem finalen Nebensatz thematisierten Zweck der Kontaktaufnahme mit den Hohenpriestern. Dabei unterstreicht er noch das Gewicht dieser Zweckangabe, indem er sie in direkter Rede des Judas gestaltet: "Was wollt ihr mir geben? Und ich werde ihn euch ausliefern!" (V. 15a). Durch die einleitende Frage liefert Mt gleich noch die Motivation des Judas fiir sein Auslieferungsangebot mit, die bei Mk ungeklärt bleibt: Geldgier! Eine besonders pikante Note erhält dieses von Mt in die Szene eingefiihrte Motiv der Geldgier noch durch die enge temporale Verschränkung mit der Salbungserzählung (V. 6-13): Da(nn) (V. 14a: tote), nachdem Jesus die Frau, die ihn gesalbt hat, gegen den von den Jüngern erhobenen Vorwurf der Geldverschwendung auf Kosten der Armen in Schutz genommen hat, da(nn) geht einer aus diesem Jüngerkreis zu den Feinden Jesu und will ihn gegen eine Geldzahlung ausliefern! Subtil und gleichwohl unmissverständlich wird also der mt Judas der Heuchelei bezichtigt. Sodann gibt seine Frage ("Was wollt ihr mir geben?") den Hohenpriestern zudem Gelegenheit, einen exakten Betrag zu nennen: 30 Silberstücke (V. 15b). Genau dieser Betrag findet sich auch in Sach 11,12 (LXX): Ich sagte zu ihnen (= den Schafhändlem: V. 11): Wenn es euch recht scheint, so bringt mir meinen Lohn; wenn nicht, so lasst es! Doch sie wogen mir meinen Lohn ab, dreißig Silberstücke.
Mit dieser deutlichen Anspielung auf Sach 11,12 bereitet Mt schon hier das Reflexionszitat in 27 ,9f vor, das dort dazu dient, die komplementäre und auf 26,14-16 rückbezogene Szene von der Reue des Judas (27,3-10) (~ 3.10.) abzuschließen. Es ist also Mt ein wichtiges Anliegen aufzuzeigen, dass das Geschick Jesu kein blinder Zufall ist, durch den er den Jerusalemer Autoritäten in die Hand gespielt wurde. Vielmehr entsprechen die Ereignisse dem Plan Gottes, der bereits in den Prophetenbüchern niedergelegt ist und nachgelesen werden kann. Dies entbindet nach mt Überzeugung aber weder Judas von seiner Schuld, an der er letztlich zerbricht (27,5b), noch die Jerusalemer Autoritäten. Denn erst ihre Ablehnung zwingt Jesus das Todesschicksal auf, um sein Volk von seinen Sünden zu erlösen (vgl. 1,21; 26,28fin). In Abweichung von seiner mk Vorlage verzichtet Mt schließlich darauf, die Freude der Hohenpriester angesichts der sich ihnen durch Judas bietenden Chance zur Verhaftung Jesu zu erwähnen. Die mt Hohenpriester nutzen vielmehr völlig emotionslos die erste sich ergebende Möglichkeit, den Beschluss des Hohen Rates (26,4) umzusetzen, und gehen daher ohne Zaudern auf die Geldforderung des Judas ein. Dies entspricht der Bedeutung, die sie dem Fall Jesus von Nazaret zumessen (~ 3.1.2.).
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
3.3.3. Die lukanische Bearbeitung Lk 22,3-6 In der lk Erzählabfolge schließt sich die Szene von der Kontaktaufnahme des Judas mit den Jerusalemer Autoritäten unmittelbar an deren Beschluss an, Jesus zu töten (22,1 f). Doch nicht nur in der Erzählabfolge geht Lk hier erstmals im Rahmen der Passionserzählung eigene Wege. Auch im unmittelbaren Vergleich akzentuiert er seine Vorlage Mk 14,1 Of sehr spezifisch. Die vielleicht auffälligste Veränderung besteht in der Einführung des Satansmotivs, das den Auftakt des Erzählabschnitts bildet: "Es ergriff aber Satan Besitz von Judas" (V. 3a). Wenig wahrscheinlich ist, dass Lk mit diesem Motiv Judas entlasten will. Eher schon will er damit die Ungeheuerlichkeit erklären, dass jemand aus dem engsten Kreis der Zwölf Jesus an die jüdischen Oberen ausliefert. Dafür könnte auch sprechen, dass Lk die mk Wendung "einer der Zwölf' (14,10a par. Mt 26,14: heis tön dödeka) abändert in "der zu der Zahl der Zwölf gehörte" (V. 3: onta ek tou arithmou tön dödeka) und so die Mitgliedschaft des Judas im Zwölferkreis noch ein wenig stärker hervorhebt. Wichtig ist für Lk aber wohl besonders, dass Satan als versucherische Kraft ernst zu nehmen ist (vgl. Lk 22,31 ~ 3.5.3.), der Judas hier erliegt. In 22,4 fallen zwei Abweichungen gegen Mk 14,1 Ob auf. Zum einen steht nicht die Aussage im Zentrum, dass Judas (aus dem Jüngerkreis) zu den Jerusalemer Autoritäten weggeht, sondern dass er sich mit ihnen bespricht bzw. berät. Dadurch erscheint Judas sozusagen auf gleicher Augenhöhe mit den Jerusalemer Autoritäten, mit denen ihn die Zielstrebigkeit im Vorgehen gegen Jesus verbindet. Zum anderen nennt Lk an dieser Stelle nicht nur die Hohenpriester, sondern auch die Hauptleute der Tempelpolizei .(strategoi). Offenbar erschien es ihm passend, diese rür die Durchführung einer Festnahme zuständige Gruppe, die er entsprechend auch bei der Verhaftung J esu anwesend sein lässt (Lk 22,52 ~ 3.8.3.) schon zu diesem frühen Zeitpunkt der ersten Planung erzählerisch in das Geschehen einzubinden. Wenngleich auch Lk in 22,4.6 par. Mk 14,10.11 das juristisch einschlägige Verb "ausliefern" (paradidömi) verwendet, hat es in lk Darstellung die eindeutig moralisch abwertende Konnotation von "verraten". Denn gleich bei der Konstituierung des Zwölferkreises charakterisiert Lk in 6,16 Judas eindeutig negativ durch "der zum Verräter wurde" (griechisch: hos egeneto prodotes). Die aus 22,4 gewonnene Einsicht, dass der lk Judas mit den Jerusalemer Autoritäten auf gleicher Augenhöhe agiert, bestätigt sich noch einmal in den beiden nachfolgenden Versen. So versprechen die Autoritäten Judas kein Geld nach ihrem eigenen Ermessen (Mk 14,11), sondern sie vereinbaren mit ihm eine Geldzahlung (22,5). Und dieser Vereinbarung stimmt der lk Judas ausdrücklich zu (22,6). Damit kommt auch bei Lk das Motiv der Geldgier ins Spiel, allerdings im Vergleich zur mt Version in deutlich abgemilderter Form. Denn im Unterschied zum mt Judas kommt der lk Judas nicht in der
3.4. Die Vorbereitung des letzten Mahles Jesu mit seinen Jüngern
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Primärabsicht, Jesus gegen Geld auszuliefern, zu den Jerusalemer Autoritäten. Dennoch handelt er später gemeinsam mit ihnen wie mit Geschäftspartnern eine Geldzahlung aus und erklärt sich mit dem Ergebnis ausdrücklich einverstanden. Lk schließt in 22,6b den Erzählabschnitt in engem Anschluss an Mk 14,l1c. Auch in seiner Darstellung sucht Judas nun, nachdem man handelseinig geworden ist, nach einer günstigen Gelegenheit, Jesus an die jüdischen Oberen auszuliefern. Allerdings greift Lk gegen Mk mit den letzten Worten noch einmal das Motiv der Furcht vor dem Volk auf. Die Gunst der Stunde erweist sich also gerade darin, dass sie einen Zugriff unbemerkt vom Volk ermöglicht.
3.4. Die Vorbereitung des letzten Mahles Jesu mit seinen Jüngern 3.4.1. Die markinische Darstellung Mk 14,12-16
Die nächste Szene der mk Passionserzählung, die sich der Vorbereitung des letzten Mahles Jesu mit seinen Jüngern widmet, dürfte bei allen aufmerksamen Lesern und Leserinnen des Mk einen gewissen Deja-vu-Effekt hervorrufen. Denn sie entspricht im narrativen Aufbau und teilweise sogar bis in den WOlilaut (14,13a = 11,1b-2a; vgl. auch 11,4 mit 14,16) der Szene von der Auffindung des Reittieres für Jesu Einzug nach Jerusalem (11,1-6). In beiden Erzählszenen geht es um die Vorbereitung eines Ereignisses: in Mk 11 um die Beschaffung eines Reittieres, auf dem Jesus dann seinen Einzug in Jerusalem halten kann, in Mk 14 um die Bereitstellung und Ausstattung des Raumes, in dem das Passamahl für Jesus und seine Jünger hergerichtet werden soll. In beiden Fällen schickt Jesus zwei seiner Jünger mit dem entsprechenden Auftrag in das vor ihnen liegende Dorf (11,2) bzw. in die Stadt (= nach Jerusalem) (14,13). Dabei sagt er ihnen exakt voraus, was sie dort erwartet und was sie unternehmen sollen, um ihren Auftrag auszuführen (11,2b-3; 14,13b-15). Die Szenen schließen jeweils mit der Notiz, dass die Jünger losgehen, alles entsprechend der Ankündigung Jesu vorfinden und ihren Auftrag ausführen (11,6; 14,16). Pragmatische Absicht der beiden parallel gestalteten Erzähleinheiten ist es, jeweils durch das wundersame Vorherwissen Jesu die göttliche Legitimation seines Handelns herauszustellen. Die mk Erzähleinheit von der Vorbereitung des letzten Mahles Jesu beginnt in 14, 12a mit einer Zeitangabe, die sehr präzise wirkt und doch genauerer Betrachtung bedarf: Und am ersten Tag [des Festes] der ungesäuerten [Brote], als man das Passalamm zu schlachten pflegte ...
Bisweilen wird diese Zeitangabe als in sich unstimmig bezeichnet. Denn der biblisch-jüdischen Überlieferung nach galt der 15. Nisan als Passafest und
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
zugleich als erster Tag des siebentägigen Festes der ungesäuerten Brote. Am Tag zuvor jedoch - am so genannten Rüsttag - wurden traditionellerweise die Lämmer für das Passamahl geschlachtet. Diese Schlachtung fand um die Mittagszeit im Jerusalemer Tempel statt. Das Passamahl selbst wurde dann am Abend nach Sonnenuntergang - und damit nach jüdischer Zeitrechnung bereits am nächsten Tag, das heißt zu Beginn des ersten Festtages - gehalten. Unter dieser Voraussetzung liefert Mk in 14,12a also eine unstimmige Zeitangabe, weil der erste Tag der ungesäuerten Brote nicht identisch sein kann mit dem Schlachttag der Passalämmer. Allerdings gehörte zum Rüsttag des Passafestes nicht nur das Schlachten der Passalämmer, sondern auch das Entfernen jeglichen Sauerteigs aus den Häusern (Ex 12,18-20). Daher wurde bisweilen in volkstümlicher Zählung bereits der Rüsttag zum Fest der ungesäuerten Brote hinzu gerechnet (vgl. Jos. Bell. 5,99; ant. 2,317). Nach dieser Rechnung wird die mk Zeitangabe wieder in sich stimmig. Gewisse Probleme bereitet sie jedoch unter anderer Rücksicht. Denn die mk Datierung des letzten Mahles Jesu mit den Jüngern auf den abendlichen Beginn des ersten Passafesttages hat natürlich Konsequenzen für die Bestimmung des Todestages Jesu im ältesten Evangelium. Feiert nämlich Jesus sein letztes Mahl als Passamahl und wird im Anschluss an dieses Mahl verhaftet, so bedeutet dies, dass er noch am ersten Tag des Passafestes hingerichtet wird. Eine Hinrichtung Jesu am höchsten Feiertag im jüdischen Festkalender hat aber berechtigterweise historisch als höchst zweifelhaft zu gelten, wenngleich es nicht an freilich wenig überzeugenden Versuchen gefehlt hat, aus den rabbinischen Schriften Parallelbeispiele für Ausnahmefälle ~ etwa im Fall des Volksverrats - zu gewinnen. Daher ist der joh Datierung unter historischem Gesichtspunkt der Vorzug zu geben. Denn nach Joh wird Jesus am Rüsttag des Passafestes gegen Mittag (6. Stunde = 12h) von Pilatus zum Tod am Kreuz verurteilt (Joh 19,14). Das Urteil wird sofort vollstreckt, so dass Jesus noch vor Anbruch des Passafestes, das zudem auf einen Sabbat fällt, stirbt, sein Leichnam vom Kreuz genommen und begraben wird (Joh 19,31.42). .
Nach mk Lesart aber feiert Jesus mit seinen Jüngern noch das Passamahl, bevor er stirbt. Entsprechend schildert Mk im Anschluss an die Zeitangabe in 14,12b, wie die Jünger die Initiative ergreifen und Jesus fragen, wo sie nach seinem Willen das Passamahl vorbereiten sollen. Daraufhin schickt Jesus zwei aus der Jüngergruppe in die Stadt - das heißt nach Jerusalem (14,13a), freilich nicht ohne ihnen zuvor mitzuteilen, was sie dort erwarten wird und wie sie sich verhalten sollen: In Jerusalem wird ihnen ein Mensch begegnen, der einen Tonkrug mit Wasser trägt und diesem sollen sie folgen (14,13b). Und wo auch immer er hineingeht,4 sollen sie dem Hausherrn im Auftrag und unter Berufung auf Jesus, der sich hier selbst absolut als der Lehrer bezeichnet, die Frage stellen (14, 14a): Wo ist mein Raum, wo ich das Passa mit meinen Jüngern essen soll? (l4,14b)
Offenbar setzt Mk unausgesprochen das Betreten eines Hauses voraus. Dies legt jedenfalls die unmittelbar folgende Erwähnung des Hausherrn nahe.
3.4. Die Vorbereitung des letzten Mahles Jesu mit seinen Jüngern
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Als Antwort wird der Hausherr Jesu Jüngern ein geräumiges Zimmer im Obergeschoss zeigen, das bereits mit Polstern ausgestattet und für das Festmahl vorbereitet ist (14,15a). Dort sollen sie das Passa (vgl. 14, 12b.16) herrichten (14, 15b). 14,16 fasst die Durchführung des Auftrags an die Jünger abschließend zusammen, nicht ohne eigens zu betonen, dass sie alles so vorfanden, wie es Jesus ihnen gesagt hatte. Entsprechend der mk Erzählintention bildet die detailfreudige Jüngerinstruktion durch Jesus (14,13b-15) das Zentrum der Szene von der Vorbereitung des letzten Mahles (14,12-16). Denn gerade durch die Fülle' der Details erweist sich Jesu Vorherwissen, in dem sich seine christologische Hoheit dokumentiert, als umso frappierender. Eine gewisse Parallele bildet über 11,1-6 hinaus auch die letzte Leidensankündigung Mk 10,32-34, die sich ebenfalls durch eine präzise Vorhersage der Ereignisabfolge auszeichnet. Damit unterstreicht die Szene 14,12-16 also noch einmal, dass der mk Jesus souverän und bewusst im vollen Wissen um das Kommende seinen letzten Stunden entgegengeht. 3.4.2. Die matthäisehe Bearbeitung Mt 26,17-19 Die mt Bearbeitung von Mk 14,12-16 zeichnet sich vor allem durch eine massive Kürzung der Jüngerinstruktion Jesu aus (26,18 parr. Mk 14,13b-15), der gerade die Detailfreudigkeit des mk Jesus zum Opfer fällt. So übernimmt Mt von seiner Vorlage weder den unbekannten Wasserträger, der die Jünger, ohne es selbst zu ahnen, zu dem von Jesus auserkorenen Ort der Passamahlfeier führt (Mk 14,13b-14a). Noch weiß Mt zu berichten, dass ein großer Raum schon entsprechend hergerichtet auf Jesus und seine Jünger wartet (Mk 14,15a). Weil der mt Jesus in dieser Szene konkret auf die Mahlvorbereitungen bezogen kein spezifisches Vorherwissen erkennen lässt, fehlt auch die Notiz Mk 14,16, dass die Jünger alles so vorfanden, wie Jesus es ihnen gesagt hatte. Bei Mt beschränkt sich die Instruktion Jesu allein darauf, dass er die Jünger - und zwar alle, nicht nur zwei (26,17b-18a diff Mk 14,13b-14a) - in die Stadt schickt. Dort sollen sie einen bestimmten Menschen aufsuchen, an dessen Identität Mt sich nicht interessiert zeigt und über die er wohl auch keine über Mk hinausgehende Information besaß ("Geht in die Stadt zum Sowieso [griechisch: pros ton deina] ... "). Aufgrund der deutlichen Straffung der Mk-Vorlage liegt der Schwerpunkt der mt Jüngerinstruktion auf der Botschaft Jesu, die sie dem nicht namentlich identifizierten Mann ausrichten sollen (26, 18b): Der Lehrer lässt ausrichten: Meine Zeit (griechisch: kairos) ist nahe. Bei dir will ich das Passa feiern mit meinen Jüngern.
Damit knüpft Mt unverkennbar an seine Eröffnung der Passionserzählung, genauer an die von ihm redaktionell eingefügte letzte Leidensankündigung
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Jesu (26,2) an, durch die explizit ein enger Zusammenhang zwischen dem nahenden Passafest und der Kreuzigung Jesu hergestellt wird. Daran erinnert Mt in 26, 18b: Nun steht das Passafest unmittelbar bevor und damit auch die Zeit des Leidens und Sterbens Jesu. Im Unterschied zu Mk konzentriert Mt also das Vorherwissen Jesu auf dessen Passion und vermeidet jegliche Ablenkung seiner Leserinnen und Leser durch eine Vorhersage wundersamer und gleichwohl marginaler Begleitumstände. Die Rahmenhandlung übernimmt Mt, abgesehen von einigen Formulierungsnuancen, im Wesentlichen von seiner Mk-Vorlage (vgl. 26,17. 19 par. Mk 14,12.16). Eigene Erwähnung verdient allenfalls die Zeitangabe. Hier streicht Mt die mk Zusatzinformation zum ersten Tag der ungesäuerten Brote, nämlich "als man das Passalamm zu schlachten pflegte" (26,17a diff MkI4,12a). Offenbar hielt er diese Zusatzinformation angesichts seines judenchristlichen Adressatenkreises für entbehrlich.
3.4.3. Die lukanische Bearbeitung Lk 22,7-13 Abgesehen von stilistischen Verbesserungen schließt sich Lk in 22,7-13 in für ihn innerhalb der Passionserzählung ungewöhnlich enger Weise seiner Vorlage Mk 14,12-16 an. Bemerkenswert ist allerdings, dass in der lk Rezeption der Szene nicht die Jünger die Initiative ergreifen (diff. Mk 14,13b par. Mt 26, 17b). Vielmehr hält Jesus von Beginn an das Heft des Handeins in der Hand und erteilt von sich aus den Auftrag: Macht euch auf den Weg und bereitet für uns das Passa, damit wir es essen können (22,8b).
Wie bei Mk richtet sich dieser Auftrag an zwei Jünger, die bei Lk allerdings namentlich als Petrus und Johannes identifiziert werden (22,8a). Weil nun der lk Jesus diesen Auftrag ohne jede weitere Erläuterung erteilt, schließt sich die aus Mk 14,12b übernommene Frage der "Festbeauftragten" nach dem Ort an, wo Jesus das Passamahl feiern will (22,9). Damit sind auch bei Lk die Weichen gestellt für die ausführliche Jüngerinstruktion Jesu in engem Anschluss an die mk Darstellung (22,10-12 par. Mk 14,13b-15).
3.5. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern Bevor die Überlieferung vom letzten Mahl Jesu mit den Zwölfen in der jeweiligen Darstellung bzw. Bearbeitung durch die vier Evangelisten einzeln zu würdigen ist, soll zunächst zwecks besserer Orientierung ein Überblick über die Abfolge der einzelnen Erzählschritte gegeben werden.
3.5. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern
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Das letzte Mahl Jesu und der Gang zum Ölberg Abweichende Erzählabfolge Mt26
Mk14
Lk22
20 Einleitung
17 Einleitung
14 Einleitung
21-25 Auslieferungsansage
18-21 Auslieferungsansage
Joh 13 (-17);18,1 1f Einleitung
15f 1. eschatolog. Ausblick: Passa 17f 2. eschatolog. Ausblick: Wein 26-28 Einsetzung der Eucharistie
22-24 Einsetzung der Eucharistie
29 eschatolog. Ausblick: Wein
25 eschatolog. Ausblick: Wein
30-35 Gang zum Ölberg mit Ansage von Jüngerversagen und Verleugrrung
26-31 Gang zum Ölberg mit Ansage von Jüngerversagen und Verleugnung
19-20 Einsetzung der Eucharistie
3-5 Fußwaschung 6-11 1. Deutung: soteriologisch 12-172. Deutung: ethisch
21-23 Auslieferungsansage
18-30 Auslieferungsansage
24-38 Abschiedsreden
13,31-17,26 Abschiedsreden
darin: 31-34 Verleugnungsansage
darin: 13,36-38 Verleugnungsansage
39 Gang zum Ölberg
18,1 Aufsuchen eines Gartens jenseits des Kidronbaches
Die Szene vom letzten Mahl Jesu mit den Zwölfen findet sich in der mk Passionserzählung in 14,17-25. In der Abfolge der Erzählschritle schließt sich Mt in 26,20-29 exakt seiner Mk-Vorlage an. Mk 14,17 par. Mt 26,20 bildet die erzählerische Brücke von der Mahlvorbereitungsszene zur Mahlszene, die dieser Brückenvers zugleich einleitet. In Mk 14,18-21 par. Mt 26,21-25 schließt sich die Auslieferungsansage an. Das Zentrum der Mahlszene findet sich in Mk 14,22-24 par. Mt 26,26-28 mit der Brot- und Kelchhandlung und den zugeordneten Deuteworten Jesu. Abgerundet wer~den diese eucharistischen Handlungen in Mk 14,25 par. Mt 26,29 mit dem so genannten eschatologischen Ausblick, der in der mk/mt Version auf den Wein bezogen ist. Erst in die nächste Erzählszene, die den Gang Jesu mit den Zwölfen zum Ölberg thematisiert, ist dann in Mk 14,26-31 par. Mt 26,30-35 die jesuanische Ankündigung des Jüngerversagens und der Verleugnung durch Petrus eingebettet. Von diesem mkImt Aufbau der Mahlszene unterscheidet sich Lk deutlich. Auf den noch zu Mk 14,171Mt 26,20 parallelen Einleitungsvers 22,14 lässt
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Lk bereits vor den eucharistischen Handlungen in 22, 15f.17f einen doppelten eschatologischen Ausblick folgen, der bei ihm zunächst auf das Passa(lamm) und dann auf den Wein bezogen ist. In 22,19-20 schließen sich dann Brotund Ke1chhandlung mit den entsprechenden Deuteworten an. Erst danach fügt Lk in 22,21-23 die Auslieferungsansage ein, die damit gleichsam die Brücke zu den Abschiedsreden in 22,24-38 bildet. Diese Abschiedsreden sind eine lk Besonderheit im Vergleich zur mk/mt Version der Mahlszene. Integriert in die Abschiedsreden findet sich in 22,31-34 die Ansage der Verleugnung Jesu durch Petrus. Die Wegszene zwischen Abendmahlssaal und Ölberg (Mk 14,26-31 par. Mt 26,30-35) reduziert sich bei Lk in 22,39 auf eine kurze Notiz des Ortswechsels. Die joh Version des letzten Mahles Jesu mit den Zwölfen weist strukturell - ungeachtet der sehr eigenen inhaltlichen Gestaltung - auffallende Berührungen mit Lk auf. Zunächst ist festzuhalten: Es fehlt bei Joh eine Entsprechung zum eschatologischen Ausblick, der allen Synoptikern gemeinsam ist. Die auf die Einleitung 13,lf folgende Fußwaschung (13,3-5) mit der soterio logischen und ethischen Deutung dieser Handlung (13,6-11.12-17) steht bei Joh anstelle der synoptischen Brot- und Kelchhandlung mit den dazugehörigen Deuteworten (Mk 14,22-24 parr. Mt 26,26-28; Lk 22,19-20). Im Anschluss daran gehen Joh und Lk im Aufbau weitgehend parallel: So folgt bei Joh in 13,18-30 in Übereinstimmung mit Lk 22,21-23 auf die Jesu Lebenshingabe symbolisierende und eigens gedeutete Handlung die Auslieferungsansage. Wie bei Lk bildet auch bei Joh diese Ansage die Brücke zu den Abschiedsreden, die freilich in der joh Version ungleich umfangreicher ausfallen (13,31-17,26). Eine weitere Übereinstimmung mit Lk besteht darin, dass auch Joh die Ankündigung der Verleugnung Jesu durch P~trus in die Abschiedsreden integriert (13,36-38). Und schließlich bietet auch Joh (diff. Mk 14,26-31 par. Mt 26,30-35) kein Gespräch mehr zwischen Jesus und Jüngern auf dem Weg zum Verhaftungs ort, sondern beschränkt sich in 18,1 wie Lk 22,39 auf eine kurze Notiz des Ortswechsels. '
3.5.1. Die markinische Darstellung Mk 14,17-25
Die mk Darstellung des letzten Mahles Jesu mit seinen Jüngern gliedert sich im Anschluss an den Überleitungsvers 17 in zwei Teile: die Ansage der Auslieferung Jesu durch ein Mitglied des Zwölferkreises (V. 18-21) und die Erschließung des unmittelbar bevorstehenden gewaltsamen Endes Jesu als Selbsthingabe durch die Brot- und Ke1chhandlung, die in den eschatologischen Ausblick mündet (V. 22-25). Der Überleitungsvers impliziert eine für Mk nicht untypische erzählerische Ungenauigkeit. Denn obwohl Jesus nach Auskunft von 14,13 zwei seiner Jünger zur Vorbereitung des Mahles bereits nach Jerusalem vorausgeschickt hat, heißt es in V. 17, dass Jesus nach An-
3.5. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern
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bruch des Abends mit den Zwölfen kommt. Nun dürfte Mk kaum andeuten wollen, dass Jesus zwei Männer aus dem weiteren Jüngerkreis mit der Vorbereitung des Mahles beauftragt, an dem später nur der Zwölferkreis teilnimmt. Vielmehr setzt er wohl unausgesprochen voraus, dass die beiden Jünger nach Erledigung ihres Auftrags noch einmal zu Jesus und den übrigen Mitgliedern des Zwölferkreises zurückgekehrt sind, um sich am Abend gemeinsam mit ihnen zum Mahl zu begeben. Eine vergleichbare Ungenauigkeit bietet die mk Passionserzählung im Übrigen auch im Zusammenhang mit den Ortswechseln des Judas. Dieser begibt sich nämlich nach 14,10 zu den jüdischen Oberen und betritt erst wieder in 14,43 unter namentlicher Erwälmung bei der Verhaftung Jesu die Bühne des Geschehens. In 14,18 aber setzt Mk die Anwesenheit des Judas beim letzten Mahl selbstverständlich voraus: "Amen, ich sage euch: Einer, der mit mir isst, wird mich ausliefern."
Dieses Mahl, zu dem sich J esus also nach Mk 14,17 zusammen mit den Zwölfen einfindet, ist nun bereits durch 14,12.16 von Mk ausdrücklich als Passamahl ausgewiesen. Doch fehlt in der Mahlerzählung selbst jeder Hinweis auf diesen Passamahlcharakter, insbesondere auf das Essen des Passalammes. Vermutlich wurde also der ursprünglich selbständigen Herrenmahltradition (~ 1.1. und 3.5.3.) dieser Charakter durch die sekundäre narrative Einbettung in die Passionserzählung verliehen, sei es nun bereits vormk oder erst durch Mk selbst. Auf die Überleitung in V. 17 folgt in V. 18-21 der erste Teil der Mahlerzählung, welcher sich der Ansage der Auslieferung Jesu durch einen der Mahlteilnehmer aus dem Zwölferkreis widmet. Die Leserinnen und Leser des Mk sind bereits durch 3,19 und 14,1 Of darüber informiert, dass es sich dabei um Judas handelt. Auf der Ebene der erzählten Welt dagegen waren die Jünger durch die Leidensankündigungen Jesu bisher nur darauf vorbereitet worden, dass Jesus ausgeliefert würde (9,31; 10,33: unpersönliches Passiv). Jetzt werden sie - mit Ausnahme des Judas, dessen Entschluss seit 14,1 Of feststeht - erstmals damit konfrontiert, dass einer von ihnen diese Tat begehen wird (V. 18.20). Damit unterstreicht dieser Teil der mk Mahlszene einmal mehr Jesu wundersames Vorherwissen, das seine göttliche Legitimation dokumentiert. Dabei verzichtet der mk Jesus allerdings darauf, Judas zu entlarven. Vielmehr liegt ihm daran, durch die beiden steigernd gestalteten Ankündigungen (V. 18b.20) zwei Aspekte zu betonen: 1. Derjenige, der ihn ausliefern wird, stammt aus dem Kreis seiner engsten Vertrauten (V. 18b: "einer von euch"; V. 20: "einer der Zwölf" [vgl. 3,14: "und er setzte die Zwölf ein, damit sie mit ihm seien ... "). 2. Noch unmittelbar vor der Auslieferung findet diese Vertrautheit ihren sinnenfälligen Ausdruck in der Tischgemeinschaft zwischen ihnen (V. 18b: "der mit mir isst"; V. 20: "der mit mir [den Bissen] in die Schüssel eintunkt"). Indem der mk Jesus aber keine konkrete Identifizierung der ihn ausliefernden Person vornimmt, macht er zugleich auch
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
deutlich, dass jeder der Zwölf das Potential zu dieser Handlung besitzt. Entsprechend besteht die Reaktion der mk Jünger auf die erste Ankündigung (V. 18b) auch darin, dass sie traurig werden und Jesus einer nach dem anderen fragen: "Doch nicht etwa ich?" (V. 19). Damit will Mk wohl weniger Judas der Heuchelei bezichtigen. Denn im Vergleich mit den drei anderen Evangelien bemüht gerade er sich in der Darstellung des Judas um die größte Neutralität. Stattdessen dürfte ihm daran liegen, die erschreckende Erkenntnis der übrigen Jünger zu unterstreichen, dass jeder von ihnen prinzipiell zur Auslieferung Jesu fähig ist. Doch nicht nur Jesu Kundgabe seines Wissens um die ihm bevorstehende Auslieferung prägt den ersten Teil der mk Mahlszene. Vielmehr ergänzt er diese Kundgabe in V. 21 um den Aspekt der Schriftgemäßheit und damit der göttlichen Vorherbestimmung des Geschehens. Dabei fällt auf, dass der mk Jesus hier nicht mehr die Ich-Form verwendet, sondern von sich als vom Menschensohn spricht. Dies verbindet V. 21 vor allem mit den mk Leidensankündigungen (8,31; 9,31; 10,33). Charakteristisch für die Theologie des Mk ist nämlich, dass er gerade im Kontext des Leidens Jesus als Menschensohn bezeichnet. Damit will er freilich keineswegs den Blick für die christologische Hoheit Jesu auch und gerade im Leiden versperren. Im Gegenteil! Traditionsgeschichtlich bezeichnet Menschensohn nämlich eine eschatologische himmlische Herrschergestalt (Dan 7), die eine Heilsfunktion für die Gerechten und eine Richterfunktion für die Ungerechten ausübt (äthHen 3771 [BilderredenD. Gerade in der Hoheit des Menschensohnes stellt sich also der mk Jesus dem ilun von Gott bestimmten Leidensgeschick. Damit durchlaeuzt die Hoheit des himmlischen Menschensohnes alle irdischen Maßstäbe, indem sie sich paradoxerweise in der Übernahme des Leid~ns bekundet. Zugleich klingt im Weheruf V. 21 b über "jenen Menschen", der die Auslieferung Jesu betreibt, allerdings auch die Funktion des Menschensohnes als Richter an, vor dem er sich dereinst verantworten muss (vgl. 14,61f!). Mit V. 22 beginnt der zweite Teil der mk Mahlszene (V. 22-25). V. 22a "Und als sie aßen" greift dabei V. 18a auf und zeigt an, dass das Mahl inzwischen fortgeschritten ist. Im Zentrum dieses zweiten Teils steht nun Jesu Deutung seines bevorstehenden gewaltsamen Todes als stellvertretende Lebenshingabe. Dafür wählt Jesus zwei Handlungen aus, deren Vollzug bei einer festlichen Mahlzeit dem Hausvater bzw. dem Gastgeber vorbehalten war. Entsprechend nimmt er zu Beginn der Hauptmahlzeit Brot, konkret wohl den üblichen Brotfladen, spricht darüber das traditionelle Segensgebet (Berakah), bricht das Brot und verteilt die heraus gebrochenen Stücke an die Zwölf (V. 22b). Verbleibt Jesus mit dieser Handlungsfolge noch ganz im vorgegebenen Rahmen des jüdischen Festmahles, so sprengt er ihn durch die Deutung, mit der er das ausgeteilte Brot versieht: "Dies ist mein Leib" (V. 22c). Da nun Leib (griechisch: söma) im alttestamentlich-frühjüdischen Verständnis den Menschen als ganzheitlich-personale Existenz bezeichnet, be-
3.5. Das letzte Mahl J esu mit seinen Jüngern
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sagt diese Deutung also: Jesus gibt sich den Jüngern in dem ihnen dargereichten Brot selbst. Oder anders: In der Brothandlung manifestiert sich die Lebenshingabe Jesu. Sich dieser Lebenshingabe zu öffnen, sie fiir sich anzunehmen, dazu fordert Jesus seine Jünger mit dem einleitenden "Nehmt" auf. Auch die Kelchhandlung (V. 23f) greift eine Gepflogenheit des jüdischen Festmahles auf. Üblicherweise schloss der Hausvater bzw. Gastgeber die Mahlzeit, indem er über einen Becher Wein wiederum ein Segensgebet sprach. Im Unterschied allerdings zur Brothandlung (V. 22b.c), die erst durch die Deuteworte vom Ritus des jüdischen Festmahles abweicht, fallen in der mk Darstellung der Kelchhandlung selbst bereits Besonderheiten auf. So schließt sich die Kelchhandlung unmittelbar an die Brothandlung an, ist also nicht durch die Hauptmahlzeit von ihr getrennt. Ferner spricht der mk Jesus über den Weinbecher kein Segens- (griechisch: eulogesas), sondern ein Dankgebet (griechisch: eucharistesas). Und schließlich ist der Weingenuss aus einem gemeinsamen Weinbecher für ein jüdisches Festmahl ungewöhnlich. Andererseits erklären sich diese Besonderheiten der Kelchhandlung in Mk 14,23 aber einleuchtend durch eine gemeindlich geprägte liturgische Sprache und Praxis. Darauf wird im Zusammenhang mit der lk Version der Abendmahlsüberlieferung noch zurückzukommen sein (---) 3.5.3 .). Auch die Kelchhandlung wird in Entsprechung zur Brothandlung (V. 22c) mit einer Deutung versehen (V. 24), die keine Analogie im jüdischen Festmahlritus besitzt. Erneut und ausdrücklicher noch auf den gewaltsamen Tod bezogen wird das dargereichte Lebensmittel - jetzt der Wein - in Beziehung gesetzt zur Lebenshingabe Jesu: "Dies ist mein Blut des Bundes, das für Viele vergossene." Das Blut als der Sitz bzw. Träger des Lebens (vgl. Lev 17,11) entspricht dabei in seiner ganzheitlichen Bedeutung dem Leib im Deutewort der Brothandlung (V. 22c). Im Unterschied zum Deutewort der Brothandlung besitzt aber das Deutewort der Kelchhandlung unverkennbare Anspielungen auf biblische Traditionen. Mit der Formulierung "Blut des Bundes" ist der Bezug zum Bundesschluss am Sinai hergestellt (Ex 24,8). Wie der durch das Blut von Opfertieren geschlossene Sinaibund dem Volk Israel die Lebensgemeinschaft mit Gott ermöglichte, so eröffnet in typologischer Überbietung der durch Jesu Lebenshingabe geschlossene Bund eine neue, eschatologisch gültige Lebensgemeinschaft mit Gott. Dieser Bund bleibt freilich nicht auf Israel eingegrenzt. Dies legt jedenfalls die zweite Anspielung auf biblische Tradition nahe, die sich in V. 24 findet. Insofern nämlich das Blut eigens qualifiziert wird als "das für Viele vergossene", wird an die Vorstellung vom stellvertretenden Sühnetod erinnert, die im vierten deuterojesajanischen Gottesknechtslied begegnet: Deshalb gebe ich ihm seinen Anteil unter den Großen und mit den Mächtigen teilt er die Beute, weil er sein Leben dem Tod preisgab und sich unter die Verbrecher rechnen ließ. Denn er trug die Sünden von Vielen und trat für die Schuldigen ein (Jes 53,12).
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Diese stellvertretende Sühne des deuterojesajanischen Gottesknechtes fur die Vielen besitzt aber eine universale Dimension. Zum einen entspricht es hebräisch-aramäischer Sprachkonvention, mit "Viele" eine Gesamtheit zu bezeichnen. Und zum anderen ist die Aussage Jes 53,12 nicht nur im Kontext des vierten Gottesknechtsliedes, sondern aller vier Gottesknechtslieder zu lesen. Vor diesem Hintergrund hat der Gottesknecht freilich einen Israel und die Völkerwelt umfassenden Auftrag von Gott: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, nur um die Stämme Jakobs wieder aufzurichten und die Verschonten Israels heimzuführen. Ich mache dich zum Licht für die Völker, damit mein Heil bis an das Ende der Erde reicht (Jes 49,6; vgl. 42,6).
Damit deutet Jesus in der mk Darstellung des letzten Mahles seinen bevorstehenden Tod als Lebenshingabe im Licht der deuterojesajanischen Gottesknechtstheologie, die in Beziehung gesetzt wird zu einer eschatologisch interpretierten Bundestheologie. Als Gottesknecht stirbt Jesus stellvertretend fur die Sünden der Vielen, das heißt: fur die Sünden der gesamten Menschheit aus Juden und Heiden. Zugleich erfolgt durch diese Lebenshingabe in eschatologischer Überbietung des Bundesschlusses am Sinai ein Bundesschluss, der den Menschen eine neue, end-gültige Lebensgemeinschaft mit Gott ermöglicht. Im Rahmen seines letzten Mahles gewährt Jesus selbst den Zwölf als den Repräsentanten des eschatologischen Gottesvolkes durch Brot und Wein sinnenfällig Anteil an der stellvertretenden Kraft seiner Lebenshingabe und an dem dadurch geschlossenen Bund. Die Brot- und die Kelchhandlung samt den Deuteworten lassen bereits erkennen, dass Jesus den ihn unmittelbar bedrohenden gewaltsamen Tod nicht als Scheitern seines Wirkens oder gar als Beweis fur dessen göttliche Ablehnung versteht. Auch der so genannte eschatologische Ausblick in V. 25 bestätigt noch einmal in aller Deutlichkeit, dass Jesus bis zuletzt unverbrüchlich am Kern seiner Botschaft - also am Kommen der Gottesherrschaft, das er in seiner Person und seinem Wirken repräsentiert - festhält: Amen, ich sage euch, ich werde nicht mehr trinken von der Frucht des Weinstocks bis zu jenem Tag, wenn ich von neuem davon trinken werde in der Herrschaft Gottes.
In diesem eschatologischen Ausblick drückt sich also die Gewissheit Jesu aus, dass die Herrschaft Gottes ungeachtet seines gewaltsamen Endes kommen wird und dass er als Lebender Anteil daran haben wird. Als bemerkenswert ist für den zweiten Teil der mk Mahlszene (V. 22-25) abschließend festzuhalten: 1. Eingebettet in die Passionserzählung bietet sie keinen expliziten Hinweis auf ein Vermächtnis Jesu, die eucharistischen Handlungen nach seinem Tod zum Gedenken an ihn immer wieder neu zu vollziehen. Dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass implizit hinter der Gestaltung der V. 22-24 bereits liturgische Sprache und Praxis der urchristli-
3.5. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern
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chen Gemeinden durchschimmert. 2. Ebenso wenig wie die Schilderung des Mahlablaufs auf ein Passamahl hinweist, stellen die Deuteworte einen unmittelbaren theologischen Bezug zur Passaerzählung Ex 12 her. Dies bestärkt nur die Vermutung, dass der ursprünglich selbständigen Herrenmahlüberlieferung erst durch die Einbettung in die Passionserzählung der Charakter eines Passamahles übergestülpt wurde.
3.5.2. Die matthäisehe Bearbeitung: Mt 26,20-29 Mt übernimmt in seiner Bearbeitung der Erzählung vom letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern exakt die mk Gliederung (-) 3.5.). Ähnlich eng schließt er sich auch inhaltlich seiner Mk-Vorlage an. Umso bemerkenswerter sind die wenigen eigenen Akzente, die er zusätzlich zu einigen sprachlich-stilistischen Glättungen setzt. Gleich in der Überleitung V. 20 tilgt Mt die erzählerische Nachlässigkeit des Mk (-) 3.5.1.), indem er sich geschickt nicht schon beim Kommen Jesu in das Geschehen einblendet, sondern erst in dem Moment, als Jesus bereits mit den Zwölfen zu Tisch liegt. So umgeht er die logische Schwierigkeit, wieso Jesus mit den Zwölfen kommen konnte, obwohl sie doch (und zwar mt alle, nicht nur zwei, vgl. Mt 26,17f diff Mk 14,12f) bereits zur Vorbereitung des Passamahles vorausgeschickt worden waren. Im ersten Teil der Mahlszene betont Mt in V. 22 stärker als Mk 14,19 die Traurigkeit der Jünger angesichts der Auslieferungsansage Jesu ("Und sie wurden sehr traurig .. ,"). Zudem fügt er im selben Vers zur Jüngerfrage noch die ehrfurchtsvolle Anrede mit dem Titel Kyrios (Herr) hinzu: "Ich bin es doch nicht etwa, Herr?" Dieser Titel, der in der Septuaginta - also in der griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel, auf die die urchristlichen 5 Gemeinden vornehmlich zurückgriffen - zur Bezeichnung Gottes dient, ist bei Mt denen vorbehalten, die sich der Person und dem Wirken Jesu öffnen, vor allem also seinen JÜngern. 6 Die Zwölf als der innerste Zirkel dieser Jünger sehen sich nun in 26,22 mit der erschreckenden Möglichkeit konfrontiert, nicht nur ihren Freund oder Anführer, sondern ihren mit göttlicher Autorität ausgestatteten Herrn auszuliefern. Sehr eigenständig gestaltet Mt V. 23. Gegen Mk 14,20 streicht er "einer der Zwölf" und erweitert gleichzeitig seine Vorlage durch zwei Einfügungen: 1. "die Hand" und 2. "dieser wird mich In dieser Tradition stehend verwendet auch Mt selbst Kyrios als Gottes bezeichnung, vgl. 1,20.22.24; 2,13.15.19; 28,2; im Munde Jesu: 11,25; in alttestamentlichen Zitaten: 4,7.10; 5,33; 21;9.42; 22,37.44; 23,39; 27,10 Vgl. Mt 8,21.25: 14,28.30; 16,22; 17,4; 18,21; ferner als Anrede Jesu durch Hilfesuchende: 8,2.6.8; 9,28; 15,22.25.27; 17,15; 20,30.31.33. Dagegen verwenden die mt Gegner Jesu stets die Bezeichnung "Meister" bzw. "Lehrer" (griechisch: didaskalos): 9,11; 12,38; 17,24; 22,16.24.36. Damit wird in der Kyriosanrede des mt Jesus durch seine Jünger das Bekenntnis der urchristlichen Gemeinden zu Jesu gottgleicher eschatologischer HerrschersteIlung erzählerisch in die vorösterliche Situation transponiert.
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
verraten". Schließlich wechselt er beim partizipial formulierten Subjekt vom Verhältnis der Gleichzeitigkeit (Part. Präsens) zum Verhältnis der Vorzeitigkeit (Part. Aorist): Wer mit mir die Hand in die Schüssel getaucht hat, dieser wird mich ausliefern. Offenkundig will Mt, indem er "die Hand" einfügt, eine weitere erzählerische Nachlässigkeit in der mk: Vorlage beseitigen. Denn natürlich taucht nicht - so wörtlich bei Mk (l) - jemand mit Jesus in die Schüssel. Vielmehr nutzt dieser Jemand zusammen mit Jesus dieselbe Schüssel, um etwas - einen Bissen Brot oder eben die Hand, die diesen Bissen hält - darin einzutunken.
Doch abgesehen von dieser sinnvollen Textpräzisierung stehen die übrigen mt Eingriffe in Mk 14,20 im Dienst ein und derselben inhaltlichen Neuakzentuierung. Im Unterschied nämlich zur mk Auslieferungsankündigung (V. 18-22) liegt Mt nicht an dem Hinweis auf das alle Mitglieder des Zwölferkreises verbindende Potential zur Auslieferung Jesu. Vielmehr läuft die mt Gestaltung des ersten Teils der Mahlszene (V. 21-25) auf eine klare Identifizierung des Auslieferers zu. Wichtige Weichenstellungen hierzu erfolgen in V. 23. Indem Mt "einer der Zwölf' streicht, nimmt er auf der Ebene des erzählten Geschehens die Gesamtgruppe aus dem Spiel. Stattdessen lenkt er die Aufmerksamkeit auf eine Einzelperson ("dieser wird mich ausliefern"), die der mt Jesus zwar nicht beim Namen nennt, die er aber indirekt durch die Anspielung auf eine situative Momentaufnahme beim Mahl identifiziert. "Wer mit mir die Hand in die Schüssel getaucht hat" ist hier nicht als Erinnerung an die enge Gemeinschaft zu verstehen, die Jesus auch mit dem Jünger, der ihn nun ausliefern wird, gepflegt hat. Vielmehr ist es ein konkreter Rückverweis innerhalb der aktuellen Mahlsituation. Die Aussageabsicht des mt Jesus lässt sich daher sachgerecht so verdeutlichen: Der, bei dem es sich gerade, wie ihr vielleicht bemerkt habt, ergeben hat, dass er im selben Augenblick wie ich seine Hand in die Schüssel getaucht hat, der ist es, der mich verraten wird. Mit dieser situativ unmissverständlichen Antwort J esu (V. 23) auf die Jüngerfrage (V. 22) und seinem anschließenden Weheruf über "jenen Menschen" (V. 24 par. Mk 14,21) wird nun der mt Judas gleichsam aus der Reserve gelockt. Mit V. 25, den Mt redaktionell in die Mk-Vorlage einfügt, meldet Judas sich nochmals zu Wort, und zwar mit eben derselben Frage, die er bereits im Fragenchor der Zwölf gestellt hatte: "Ich bin es doch nicht etwa?" Bezeichnenderweise setzt er jetzt aber nicht "Herr" hinzu, sondern "Rabbi". In der mt Jesusgeschichte spricht im Übrigen allein Judas Jesus als Rabbi an, und zwar außer in 26,25 noch in 26,49 bei der Begrüßung Jesu, mit welcher er das Signal zur Verhaftung gibt.
Der mt Judas verzichtet also auf die jüngeliypische Anrede, in der sich der ehrfurchtsvolle Respekt vor der göttlichen Autorität Jesu ausspricht. Statt-
3.5. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern
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dessen degradiert er Jesus zum Schriftgelehrten und damit paradoxerweise zum Mitglied eines Berufsstandes, der sich auch und gerade bei Mt auf der Seite der Gegner Jesu exponiert und an dem sich die Jünger Jesu gerade kein Beispiel nehmen sollen (23,7f). So dokumentiert der mt Judas durch die Rabbianrede Jesu, dass er sich bereits aus dem Jüngerkreis innerlich verabschiedet hat. Angesichts dessen erhält anders als bei Mk in mt Darstellung bereits das Einstimmen des Judas in den Fragenchor der Jünger (V. 22: "ein jeder") eine heuchlerische Note, erst recht aber die herausfordernde Wiederholung der Frage in V. 25. Die Antwort Jesu "Du hast es gesagt" kann vor dem Hintergrund der gerade erfolgten (V. 23) indirekten Identifizierung dessen, der ihn ausliefern wird, nur als direkte Bestätigung verstanden werden. Damit ist Judas für jeden im Raum unmissverständlich als die Person identifiziert, von welcher Jesus seit V. 21 gesprochen hat. Und wie der mt Judas durch die Anrede Rabbi eine Distanz zu Jesus aufbaut, so bestätigt der mt Jesus seinerseits diese Distanz zu Judas ausdrücklich durch das betonte Du (griechisch: sy). So setzt sich in der Auslieferungsansage (26,21-25) unverkennbar die bereits in der Erzählung von der Kontaktaufnahme des Judas mit den Jerusalemer Autoritäten (26,14-16) beobachtete mt Tendenz f01i, im Unterschied zur vergleichsweise neutralen mk Darstellung die Person des Judas deutlich negativer zu präsentieren (~ 3.3.2.). Dazu passt auch, dass es Mt nicht versäumt, in der Einleitung des redaktionellen V. 25 Judas einmal mehr ausdrücklich bei seiner Tat zu behaften ("Judas, der ihn ausgeliefert hat [griechisch: ho paradidous auton] ... "). Im zweiten Teil der Mahlszene, die sich der Brot- und Kelchhandlung Jesu mit den dazugehörigen Deuteworten widmet (26,26-29), schließt sich Mt enger noch als im ersten Teil seiner mk Vorlage an. In V. 26 ergänzt er die sich der Brothandlung anschließende Aufforderung Jesu an die Jünger "nehmt" (Mk 14,22) durch "und esst". Vielleicht will er herausstellen, dass erst der Verzehr des von Jesus dargereichten und als sein Leib gedeuteten Brotes Anteil an Jesu stellveliretender Lebenshingabe gibt. Was hätte Mt angesichts dessen wohl zu einer eucharistischen Frömmigkeit gesagt, in deren Mittelpunkt das Schauen und Anbeten steht? Möglicherweise aber hat er die Einfügung auch vorgenommen, weil ihm die Formulierung so aus der Herrenmahlfeier seiner Gemeinde vertraut war. In V. 27 ändert Mt den mk Aussagesatz "und sie tranken alle daraus" (14,23) in eine Aufforderung Jesu: trinkt alle daraus!" Damit stellt er eine Parallelität zwischen Brot- und Kelchhandlung bzw. genauer eine Parallelität in der Einleitung zu den beiden Deutew01ien her. Gerade diese Parallelität aber dürfte sich der Prägung durch die liturgische Sprache der Herrenmahlfeier in der mt Gemeinde verdanken. In V. 28 ergänzt Mt das von Mk übernommene Deutewort zur Kelchhandlung am Ende durch den Zusatz "zur Vergebung der Sünden". Damit stellt Mt stärker als Mk das Motiv der stellvertretenden Sühnekraft des Todes Jesu heraus.
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Die Ergänzung ist vor dem Hintergrund der Gesamtkonzeption der mt Jesusgeschichte zu sehen. Bereits in der Vorgeschichte erhält Josef von einem Engel des Herrn im Traum die Weisung, dem Sohn, den Maria erwartet, den Namen Jesus ("Gott hilft", "Gott ist Rettung") zu geben, und zwar mit der Begründung: "er selbst wird sein Volk von seinen Sünden erlösen" (1,21). Diese Aufgabe aber ist dem mt Jesus allein vorbehalten. So streicht Mt in 3,1 denn auch gegen Mk 1,4 den Sünden vergebenden Charakter der Johannestaufe. Im Dienst dieser von Sünden befreienden Aufgabe steht das gesamte Wirken des mt Jesus, das jedoch zunehmend auf den entschiedenen Widerstand der politischen und religiösen Autoritäten stößt. Sie hindern das Volk daran, sich vorbehaltlos auf die Botschaft Jesu einzulassen, so dass ihm schließlich nur durch Jesu stellvertretenden Tod die Sündenvergebung zuteil werden kann. Kaum zufällig taucht daher die Formulierung, die Mt von Mk im Zusammenhang mit der Täuferpredigt nicht übernimmt, exakt im mt Deutewort der Kelchhandlung wieder auf: "zur Vergebung der Sünden" (griechisch: eis aphesin hamartiön, Mk 1,4; Mt 26,28).
Beim eschatologischen Ausblick (26,29 par. Mk 14,25) fällt besonders auf, dass der mt Jesus seine Jünger einbezieht: "bis ich von neuem davon trinken werde mit euch (griechisch: meth' hymon) im Reich meines Vaters". Abweichend von Mk 14,25 spricht der mt Jesus hier nicht vom Reich Gottes, sondern vom Reich meines Vaters. Dies dürfte primär der seiner jüdischen Identität geschuldeten Scheu des Mt vor dem Gebrauch des Gottesnamens zu verdanken sein, die ihn auch sonst anders als Mk vom Himmelreich sprechen lässt (vgl. 3,2; 4,17; 5,3.10.19.20; 7,21; 8,11; 10,7; 11,11.12; 13,11.24.31.33.34.45.47.52; 16,19; 18,1.3.4.23; 19,12.14.23.24; 20,1; 22,2; 23,14; 25,1). Dass der mt Jesus aber gerade angesichts seines unmittelbar bevorstehenden Todes beim eschatologischen Ausblick eben nicht vom "Reich der Himmel" (griechisch: basileia tön ouranön), sondern vom "Reich meines Vaters" (griechisch: basileia tau patros mau) spricht, deutet darauf hin, dass hier seine emotionale Nähe und sein ungebrochenes Vertrauen zu Gott besonders betont werden sollen.
In mt Darstellung werden also Jesu Jünger zusammen mit ihm am eschatologischen Festmahl teilhaben. Darin erweist er sich als Immanuel, als Gott mit uns (1,23). So wie Jesus in der Zeit seines irdischen Wirkens mit seinen Jüngern war und wie er in der vollendeten Gottesherrschaft mit ihnen sein wird, so lässt er sie auch nicht im Stich in der Zeit zwischen seiner Auferweckung UJid seiner Wiederkunft. Dies verbürgt das Schlusswort des Auferstandenen, mit dem die mt Jesusgeschichte endet und in dem das Immanuel-Motiv ein letztes Mal anklingt: "Und siehe, ich bin mit euch (meth' hymon) alle Tage bis zur Vollendung der Welt" (28,20). Dieses gegenwärtige "mit-ihnen-Sein" J esu werden Mt und seine Gemeinde auch und in besonderer Weise in der Feier des Herrenmahls erfahren haben.
3.5.3. Die lukanische Bearbeitung: Lk 22,14-38 Bereits der erste Überblick über den Aufbau der Erzählung vom letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern (~ 3.5.) ließ erkennen, dass Lk bei der Bearbeitung seiner mk Vorlage deutlich umgestaltet und ausweitet. Diese lk Konzeption gilt es nun, genauer zu betrachten. Der Überleitungsvers 22,14 entspricht
3.5. Das letzte Mahl J esu mit seinen Jüngern
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strukturell Mk 14,17 par. Mt 26,20. Doch deutet sich bereits in der konkreten Formulierung das hohe Maß an Eigenständigkeit an, das die Gestaltung der lk Mahlszene im Vergleich zur mk Vorlage auszeichnet. So ersetzt Lk die mk Zeitangabe "als es Abend geworden war" durch "als die Stunde gekommen war". Damit wählt er aber eine Formulierung, die sich nicht auf eine reine Information über den Zeitpunkt des nachfolgend erzählten Geschehens beschränkt, sondern offen ist rur die heilsgeschichtliche Dimension dieses Geschehens. Das Mahl Jesu im engsten Jüngerkreis beginnt zu der für das Passamahl festgesetzten Stunde nach Sonnenuntergang. Zugleich ist diese Stunde im lk Verständnis aber mehr: Sie ist die im göttlichen Heilsplan vorgesehene Stunde des Abschieds Jesu von den Seinen, in der er ihnen sein Vermächtnis hinterlässt für die Zeit zwischen seinem Tod und ihrer eschatologisch-endgültigen Gemeinschaft in der vollendeten Gottesherrschaft (22,16.18.30). Ebenfalls in Abweichung von Mk 14,17 bezeichnet Lk in 22,14 den engsten Jüngerkreis Jesu nicht als "die Zwölf', sondern als "die Apostel". Darin dokumentiert sich eine typisch lk und wirkungsgeschichtlich kaum zu überschätzende Einengung des Apostelbegriffs. Die Bezeichnung "Apostel" wird in den neutestamentlichen Schriften in sehr unterschiedlicher Weise verwendet. In dem am wenigsten theologisch qualifizierten Verständnis kann als Apostel (aus dem Griechischen übersetzt: Gesandter) geIten, wer von einer christlichen Gemeinde und in ihrem Dienst mit einem Auftrag ausgesandt wird. Solche Gemeindeabgesandte erwähnt etwa Paulus in 2Kor 8,23 und Phil 2,25. Eine solche Beauftragung kann sich freilich auch auf die Evangeliumsverkündigung beziehen. In diesem Verständnis bezeichnet auch Lk - wohl in Abhängigkeit von einer Quelle - im Zusammenhang mit der 1. Missionsreise Barnabas und Paulus in 14,4f.14 als Apostel. Darur sprechen jedenfalls Einleitung und Abschluss der Erzählung von dieser 1. Missionsreise in Apg 13,3 und 14,26f. Für Paulus selbst ist dagegen eine Offenbarung des auferweckten Christus und eine Beauftragung mit der Evangeliumsverkündigung durch Gott bzw. Christus rur den Apostelstatus konstitutiv (vgl. lKor 9,1; 15,3-11; vgl. lKor 1,1; 2Kor 1,1; Gall,1.11f.15f; Röm 1,1 u.ö.). Lk schließlich greift eine schon traditionell vorgegebene Bezeichnung der Mitglieder des Zwölferkreises als Apostel (lKor 15,5 im Kontext von 15,3-11; Mk 6,30; vgl. auch Mt 10,2) auf. Mit Ausnahme von Apg 14,4f.14 (s.o.) reserviert er in seinem Doppelwerk den Apostelbegriff konsequent rur die Zwölfergruppe. Aufschlussreich sind dabei die qualifizierenden Kriterien, die er Petrus rur die Kandidaten bei der Nachwahl zur Komplettierung des Zwölferkreises nach Ausscheiden des Judas aufzählen lässt (Apg 1,21f). Apostel sind rur Lk mehr als "nur" die nachösterlichen Zeugen des auferstandenen Jesus, die von ihm zur Evangeliumsverkündigung beauftragt werden. Sie sind zugleich die authentischen Zeugen des gesamten öffentlichen Wirkens Jesu sowie seines Leidens und Sterbens. Auf diese Weise sind sie die Garanten der Kontinuität zwischen der Zeit des irdischen Jesus und der Zeit der nachösterlich entstehenden Kirche. Daher müssen die Zwölf auch in der lk Abendmahlsüberlieferung dezidiert als Apostel bezeichnet werden, weil gerade hier durch die Einsetzung des Herrenmahls eine ganz entscheidende Weiche rur die Verbindung zwischen dem irdischen Jesus und der nachösterlichen Zeit gestellt wird (vgl. Wiederholungsbefehl in 22,19c!).
Nach der Überleitung in 22,14 präsentiert Lk in 22,15-20 eine ganz eigene Mahlszene. Sie beginnt in V. 15-18 mit einer Eröffnungsrede Jesu. Durch diese wird zunächst der Charakter des nachfolgenden Mahles (V. 19f) als
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Passamahl noch einmal nachdrücklich hervorgehoben, der bei Mk allein aus der Vorbereitungs szene 14, 12-17 (par. Lk 22,7-13) erkenntlich wird (~ 3.4.1.). Allerdings geht aus der Eröffnungsrede des lk Jesus zugleich auch hervor, dass es sich bei diesem Passa um ein Passa ganz eigener Prägung handelt. Denn es ist das Todespassa Jesu, das letzte Passa, das er in seinem irdischen Leben feiern wird. Damit kommt im Übrigen an dieser Stelle der 1k Jesusgeschichte ein Erzählbogen an sein Ende, der in 2,41-52 eröffnet wurde. Das erste öffentliche Auftreten Jesu erfolgt bei Lk nämlich im Unterschied zu den drei anderen Evangelien nicht als bereits erwachsener Mann im Zusammenhang mit dem Wirken des Täufers, sondern als Zwölfjähriger auf einer Pilgerreise mit seinen Eltern nach Jerusalem, und zwar aus Anlass des Passafestes.
Ist also lk Jesus von früher Jugend an mit der religiösen Tradition und Bedeutung des Passafestes vertraut, so erklärt dies, warum er seine Eröffnungsrede vor Mahlbeginn mit den Worten einleitet: Sehnlichst habe ich danach verlangt, dieses Passa zu essen mit euch vor meinem Leiden (22,15).
Das, was ihm so vertraut ist, feiert Jesus nun also mit dem engsten Kreis seiner Vertrauten zum letzten Mal vor seinem Leiden. Nur am griechischen Text lässt sich in V. 15 im Übrigen ein lk Wortspiel erkennen, das sich der volkstümlichen Herleitung des Sinns von Passa (griechisch: pas-cha) von leiden (griechisch: pas-chein) bedient. Die Eröffnungsrede Jesu vor dem Mahl besteht aus einer zweifachen Todesprophetie (V. 15f.17f). Doch blickt diese Prophetie jeweils über den Tod hinweg voraus auf die eschatologische Zukunft, an welcher teilzuhaben der lk Jesus gewiss ist. Das Passalamm, das er jetzt ein letztes Mal verzehrt, wird er erneut essen in der vollendeten Gottesherrschaft (V. 16). Den Wein, den er von jetzt an nicht mehr trinkt, wird er erneut trinken in der vollendeten Gottesherrschaft (V. 18). Besteht die Einleitung zur ersten Todesprophetie aus einer Mitteilung Jesu an die Jünger (V. 15), so die zweite aus einer Kelchhandlung, an die sich eine Aufforderung an die Jünger anschließt (V. 17): Und er nahm einen Kelch, sprach das Dankgebet und sagte: Nehmt ihn und teilt ihn unter euch auf!
Diese Kelchhandlung entspricht in der lk Konzeption der Mahlszene nicht Mk 14,23. Denn sie wird im Unterschied zu Mk 14,24 durch V. 18 begründet, nicht gedeutet. Vermutlich aber kannte Lk die Passamahlbräuche seiner Zeit und wusste, dass gerade dieses Mahl durch einen mit Wein gefüllten Kelch eröffnet wurde, über den der Tischherr einen traditionellen Segen sprach:
3.5. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern
73
Gepriesen seist du, JHWH unser Gott, König der Welt, der du die Frucht des Weinstocks geschaffen hast (vgl.bPes 103a,20; 106a,15.l8).
Auch dieser Segensspruch dürfte Lk vertraut gewesen sein. Zwar zitiert er ihn in V. 17 nicht. Doch ist es wohl kaum ein Zufall, dass Lk den bei Mk 14,25 vorgegebenen eschatologischen Ausblick, der gerade von der Frucht des Weinstocks spricht, in V. 18 dem Eröffnungsritus des Passamahles als Begründung anfügt. Dienen die V. 15-18 der Hinflihrung zum eigentlichen Passamahl, so widmen sich die V. 19f diesem Mahl selbst, genauer seinem Beginn mit der Brothandlung (V. 19) und seinem Abschluss mit der Kelchhandlung (V. 20). Dass Lk den Akzent auf die Rahmenhandlungen des Mahls legt, stellt in V. 20a der ausdrückliche Hinweis "nach dem Speisen" bzw. "nach Einnahme der Mahlzeit" (griechisch: meta to deipnesai) sicher. Den Präpositional ausdruck meta to deipnesai dagegen auf den Verzehr des eben dargereichten Brotes (V. 19) zu beziehen, widerrät die lk Wortwahl. Hätte Lk zum Ausdruck bringen wollen, dass Jesus unmittelbar, nachdem seine Jünger das ihnen ausgeteilte Brot gegessen hatten, die Kelchhandlung angeschlossen habe, wäre meta to phagein zu erwarten. Denn im Unterschied zu esthiein/phagein, Verben, die den Verzehr eines konkreten Nahrungsmittels bezeichnen (vgl. 22,15, wo phagein bezogen ist auf den Verzehr des Passalammes [22,7!]), leitet sich deipnein/deipnesai von to deipnon = das (Gast-)Mahl ab. Es bezieht sich daher auf die Gesamtheit der Speisen, die die Teilnehmer im Verlauf eines Gastmahls zu sich nehmen. Unter dieser Rücksicht überzeugt dann aber ebenso wenig die Variante, die den verkürzt formulierten V. 20a verdeutlichend wiedergibt mit "und den Becher (wie das Brot) nach dem Mahl". Denn zweifellos bemüht sich Lk anders als Mk, das letzte Mahl Jesu mit den Jüngern nicht nur im Vorfeld als Passamahl zu deklarieren, sondern es auch als ein solches darzustellen. So dürfte er auch darum gewusst haben, dass beim Passamahl im Unterschied zum Kelchritus ein Brotritus wohl zur Eröffnung, nicht aber zum Abschluss des Mahles einen Platz hatte. So scheint sich die Interpretation von V. 20a, die Brot- und Kelchritus als unmittelbar aufeinander folgend versteht, von der mk Fassung der Abendmahlsüberlieferung (l4,22.23f) leiten zu lassen statt die lk Eigenheiten als solche auch ernst zu nehmen und zu würdigen.
Während Lk also die Aufmerksamkeit auf die das Mahl rahmende Brot- und Kelchhandlung lenkt, lässt er den dazwischen liegenden Mahlverlauf (so vor allem den Verzehr des Passalammes) außer Acht. Dies mag einerseits durch die konkrete Überlieferungslage bedingt sein. Denn weder die mk noch die literarisch früher bezeugte paulinische Herrenmahlstradition (lKor 11,2325.26), die Lk beide gekannt und in 22,18.19-20 verarbeitet hat (~ Exkurs 3), legen Wert auf eine Schilderung des Mahlverlaufs, sondern konzentrieren sich auf die eucharistische Brot- und Kelchhandlung. Andererseits aber betont Lk, indem er in V. 19f seine Darstellung auf die spezifisch jesuanisch gedeuteten Rahmenhandlungen konzentriert, dass das Passamahl dadurch und von nun an neu durch die stellvertretende Lebenshingabe Jesu qualifiziert ist. Festzuhalten bleibt: Die lk Gestaltung der Mahlszene als Passamahl, dem Jesus im Angesicht seines drohenden Todes eine ganz eigene Akzentuierung
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
verleiht, ist in sich stimmig. Auf eine Eröffnungsrede Jesu mit doppelter Todesprophetie (V. 15-18) folgt das eigentliche Passamahl, das freilich nur mit seinen Rahmenhandlungen zu Beginn am Brot (V. 18) und zum Abschluss am Wein (V. 19) unter Ausblendung des Mahlverlauft in den Blick gefasst wird. Die Brot- und die Kelchhandlung mit ihrer jeweiligen Deutung (22,18-19) lassen einerseits die Markusvorlage (14,22-24) deutlich erkennen, berühren sich andererseits aber unverkennbar und stärker noch mit der Überlieferung, die Paulus in 11,23-25 zitiert. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verschiedenen Varianten der Herrenmahlüberlieferung sollen nachfolgend in einem Exkurs in traditionsgeschichtlicher Perspektive betrachtet werden.
Exkurs 3: Die neutestamentliche Herrenmahlüberlieferung7 Mt26
Mk14
26 Als sie aber aßen,
22 Und als sie aßen,
19 Und
nahm Jesus Brot
nahm er Brot,
er nahm Brot,
und sprach das Lobgebet, brach es und, nachdem er es den Jüngern gegeben hatte, sagte er: Nehmt, esst! Dies ist mein Leib
sprach das Lobgebet, brach es und gab es ihnen
sprach das Dankgebet, brach es und gab es ihnen,
und sagte: Nehmt! Dies ist mein Leib.
indem er sagte: Dies ist mein Leib,
27 Und er nahm einen Becher
23 Und er nahm einen Becher,
und sprach das Dankgebet, ga b ihn ihnen,
sprach das Dankgebet, gab ihn ihnen, und sie tranken alle daraus. 24 Und er sagte zu ihnen:
indem er sagte: Trinkt alle daraus!
Legende: pln/lk gegen mk/mt ~ kursiv.
~
Lk22
der fur euch gegebene. Dies tut zu meinem Gedächtnis! 20 Und den Becher auf dieselbe Weise nach dem Mahl,
indem er sagte:
Paulus (lKor 11) 23b In der Nacht, als er ausgeliefert wurde, nahm der Herr Jesus Brot, 24 und sprach das Dankgebet, brach es
und sagte: Dies ist mein Leib, der fur euch. Dies tut zu meinem Gedächtnis! 25 Auf dieselbe Weise auch den Becher nach dem Mahl,
indem er sagte:
unterstrichen; mk/mt gegen pln/lk ~ halbfett; mk/lk gegen pln
3.5. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern 28 Dies nämlich ist mein Blut des Bundes,
Dies ist mein Blut des Bundes,
Dieser Becher [ist] der neue Bund in meinem Blut,
das für Viele vergossene
das für Viele vergossene.
das für euch vergossene
zur Vergebung der Sünden.
29 Ich sage euch aber, ich werde nicht mehr trinken ab jetzt von dieser Frucht des Weinstocks bis zu jenem Tag, wenn ich mit euch neu davon trinke in der Herrschaft meines Vaters.
25 Amen, ich sage euch, ich werde nicht mehr trinken von der Frucht des Weinstocks bis zu jenem Tag, weilli ich neu davon trinke in der Herrschaft Gottes.
(18) Ich sage euch nämlich, ich werde nicht mehr trinken von jetzt an von der Frucht des Weinstocks, bis die Herrschaft Gottes kommt.
75 Dieser Becher [ist] der neu~ Bund in meinem Blut.
Dies tut, sooft ihr [daraus] trinkt, zu meinem Gedächtnis! 26 Sooft ihr nämlich dieses Brot esst und diesen Becher trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.
Die neutestamentliche Herrenmahlüberlieferung ist nicht nur in den drei synoptischen Passionserzählungen (Mk 14,22-24.25 parr. Mt 26,26-28.29; Lk 22,18.19-20) literarisch belegt. Das älteste schriftliche Zeugnis, das rund anderthalb Jahrzehnte vor Abfassung des Mk (um 70) niedergeschrieben wurde, stammt aus dem 1. Korintherbrief (um 55). Paulus zitiert in diesem Brief im Zusammenhang seiner Stellungnahme zu Missständen bei der korinthischen Herrenmahlfeier in 11,23b-25.26 die Überlieferung von der Einsetzung der Eucharistie. Von dieser Überlieferung sagt er einleitend in 11,23a, dass er sie selbst bereits empfangen hat, was auf ihr hohes Alter verweist. Ein synoptischer Vergleich des Textbestandes unter Einschluss der paulinischen Version ergibt, dass sich zwei Traditionsstränge unterscheiden lassen. Den einen Traditionsstrang repräsentiert lKor 11,23b-25.26, den anderen Mk 14,22-24.25. Mt 26,26-28.29 schließt sich, abgesehen von kleineren redaktionellen Eingriffen (~ 3.5.2.) eng an die mk Vorgaben an. Dagegen kennt Lk neben Mk 14,22::-24.25 zweifelsfrei auch den paulinischen Traditionsstrang. Denn worin er von seiner Markusvorlage abweicht, darin stammt er größtenteils mit der von Paulus in lKor 11,23b-25.26 zitierten Überlieferungsvariante überein. So findet sich in Lk 1l,19a und lKor 1l,24a bei der Brothandlung gleichermaßen das Verb eucharistein (= das Dankgebet sprechen} Die Version Mk 14,22a par. Mt 26,26a weist dagegen eulogein (= das Lobgebet/den Lobpreis sprechen) auf. Lk 22,19b und lKor 1l,24b bieten ferner bereits beim Brotwort den auf "Leib" (soma) bezogenen Zusatz "der fur euch", durch den die Lebenshingabe Jesu im Licht des stellvertretenden Sühnetodes erscheint. Über den bei Paulus tradierten Wortlaut hinaus fügt
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Lk noch das Partizip "der für euch gegebene" hinzu. Auf diese Weise schafft er eine formale Parallele zum soteriologischen Zusatz des BecherwOlies, der auf das Blut bezogen ist: "das für euch vergossene" (Lk 22,20b). Dieser Zusatz beim Becherwort findet sich im Unterschied zur paulinischen Version auch in Mk 14,24 par. Mt 26,28: "das für Viele vergossene". Mit der Formulierung "für Viele" schließt sich allerdings der mk Traditionsstrang enger an den Wortlaut Jes 53,12 an (~ 3.5.1.). Dagegen müht Lk sich weiterhin um Parallelität zwischen Brot- und Becherwort, indem er mit "für euch" dem paulinischen Traditionsstrang (vgl. 1Kor 11 ,24b) folgt. Die Variante "für euch" könnte sich bereits dem liturgischen Sitz im Leben der Herrenmahlüberlieferung verdanken, insofern sie die im Licht der Gottesknechtstheologie prinzipiell universal verstandene Lebenshingabe Jesu (~ 3.5.1.) auf die jeweils Herrenmahl feiernde Gemeinde hin konkretisiert. Anders als Mk 14,22 par. Mt 26,26 beschließen Paulus und Lk die Brothandlung jeweils mit dem Wiederholungsbefehl "Dies tut zu meinem Gedächtnis!" ab (lKor 11,24b par. Lk 22,19b). Dieser Wiederholungsbefehl, der eine Kult begründende Funktion hat und daher auf einen ursprünglich liturgischen Sitz im Leben der Herrenmahlüberlieferung verweist, findet sich bei Paulus (1Kor 11,25b) in Abweichung von Lk auch noch einmal am Ende der Ke1chhandlung ("Dies tut, sooft ihr trinkt, zu meinem Gedächtnis!"). Eine weitere wichtige Gemeinsamkeit zwischen Paulus und Lk besteht in der übereinstimmenden Notiz, wonach Brot- und Kelchhandlung durch eine Sättigungsmahlzeit getrennt sind (lKor 11,25a par. Lk 22,20a: "nach dem Mahl"). Schließlich bietet das pln/lk Ke1chwort in Anlehnung an Jer 31,31 eine Deutung des Bechers: "Dieser Becher ist der neue Bund in meinem Blut" (lKor 11,25b par. Lk 22,20b). Dagegen deklariert Mk und ihm folgend Mt unter unmissverständlicher Anspielung auf den Bundesschluss am Sinai (Ex 24,8) den Ke1chinhalt als Jesu Bundesblut: "Dies ist mein Blut des Bundes" (Mk 14,24 par. Mt 26,28). Hinter der pln/lk Version steht eine Interpretation des Todes Jesu als eschatologische Erfüllung prophetischer Verheißung. In der mk/mt Fassung wird dagegen der durch die Lebenshingabe Jesu geschlossene eschatologische Bund in ein Verhältnis typologischer Überbietung zu dem durch das Blut von Opfeliieren geschlossenen Sinaibund gebracht (~ 3.5.1.). Dass sich Lk beim Deutewort zur Ke1chhandlung der bei Paulus bezeugten Traditionsvariante anschließt statt Mk 14,24 zu übernehmen, steht möglicherweise im Zusammenhang mit seiner HervOl'hebung des Passamah1charakters von Jesu Abschiedsmahl. Denn im Unterschied zum mk Deutewort, das keinen unmittelbaren Bezug zur Passathematik aufweist, lässt sich dieser Bezug bei Jer 31,31 durch den nachfolgenden Vers jedenfalls leicht herstellen: 31 Seht, es werden Tage kommen - Spruch des HelTn -, in denen ich mit dem Haus Israel und dem Haus Juda einen neuen Bund schließen werde, 32 nicht wie der Bund war, den ich mit ihren Vätern geschlossen habe, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägypten
3.5. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüng~rn
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herauszuführen. Diesen meinen Bund haben sie gebrochen, obwohl ich ihr Gebieter warSpruch des Herrn."
Allerdings bleibt festzuhalten, dass dieser Passabezug im ältesten erhaltenen Beleg der Herrenmahltradition 1Kor 11,23-25.26 keine erkennbare Rolle spielt. Auch Lk spricht ihn nicht dezidiert an. Doch erwartet er wohl, dass seine Leserinnnen und Leser beim Becherwort V. 20 noch V. 16 im Ohr haben. Dort nämlich hatte der lk Jesus gerade darauf verwiesen, dass er in der vollendeten Gottesherrschaft erneut das Passalamm essen werde. Wie aber dem Bund, den Gott mit den Vätern bei der Herausführung aus Ägypten geschlossen hatte (Jer 31,32), das Passamahl zugeordnet ist, das Jesus jetzt zum letzten Mahl feiert (Lk 22,15), so ist das endzeitliche Passamahl (22,16) dem neuen Bund (Jer 31,31) zugeordnet, der durch die Lebenshingabe Jesu konstituiert wird (22,20). Der eschatologische Ausblick schließt sich bei Mk und Mt übereinstimmend an die Becherhandlung samt Deutewort an (Mk 14,25 par. Mt 26,29). Bei Lk ist er im Dienst der Verstärkung der Passamahlthematik redaktionell vorgezogen und in doppelter Ausführung (22,16.18) in die Eröffnungsrede Jesu vor dem eigentlichen Mahlbeginn integriert. Bei Paulus dagegen ist davon nur noch eine spärliche Reminiszenz in 11,26 übrig geblieben: "Sooft ihr dieses Brot esst und den Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er kommt." Aus den beiden aufgrund des synoptischen Vergleichs klar unterscheidbaren Traditionssträngen der Herremnahlüberlieferung die literarische Ursprungs/arm (nicht zu verwechseln mit der historischen Ur/arm!) zu rekonstruieren, ist sehr kompliziert. Entsprechende Versuche haben noch keine konsensfähigen Ergebnisse erbracht. Allerdings herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass der von Paulus in lKor 1l,23b-25.26 dokumentierte Traditionsstrang nicht nur literarisch, sondern auch traditions geschichtlich älter ist als die Version in Mk 14,22-24.25. Dafür lässt sich zum einen die Notiz der zwischen Brot- und Kelchhandlung geschobenen Sättigungsmahlzeit anführen (lKor 11,25a; vgl. Lk 22,20a). Zum anderen deutet die bei Mk erkennbare Tendenz der Angleichung von Brot- und Kelchwort auf ein jüngeres Überlieferungsstadium hin. Hier macht sich der liturgische Sitz im Leben bemerkbar: Die an das Ende der Sättigungsmahlzeit zusammengerückte zweiteilige eucharistische Handlung musste die Angleichung von Brot- und Becherwort schon aus nahe liegenden äußeren Gründen forcieren. Nun wurde also nicht mehr der von Jesus herumgereichte Becher, der die Jünger mit Gott und untereinander verbindet, als neuer Bund in Jesu Blut bezeichnet. Vielmehr wurde der Becherinhalt selbst mit dem von Jesus als Bundesopfer vergossenen Blut identifiziert - ebenso wie das Brot zuvor schon als Jesu Leib. Die Angleichung von Brot- und Becherwort auf der von Mk repräsentierten jüngeren Stufe der Herrenmahlüberlieferung ist sachlich zugleich mit der Tendenz in Zusammenhang zu sehen, aus der sich ent-
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
wickelnden sakramentalen Sichtweise heraus jetzt stärker die Elemente der eucharistischen Handlung, Brot und Wein, in den Mittelpunkt zu stellen. Als Referenztext des traditionsgeschichtlich älteren Deutewortes zur Becherhandlung ermöglichte es Jer 31,31- gelesen im Kontext von 31,31-34 - einen Bezug zur Passaerzählung in Ex 12 herzustellen, der über 31,32 verläuft. Dieser Bezug regte wohl wesentlich die spezifisch lk Gestaltung der Mahlszene in 22,15-20 mit an. Aufgrund desselben Kontextes konnten aber ebenso Verbindungslinien zum Bundesschluss am Sinai gezogen werden. Denn die in das Herz geschriebenen Bundesbestimmungen Jer 31,33 (vgl. 2Kor 3!) lassen sich gleichsam als antitypische Überbietung der auf Steintafeln geschriebenen Bestimmungen des Sinaibundes verstehen (vgl. Ex 24,12). Dieser Sinaibund aber wurde mit dem Blut von Opfertieren besiegelt. Eben dies hält mit Ex 24,8 der Referenztext des traditionsgeschichtlich jüngeren Deutewortes zur Becherhandlung (Mk 14,24 par Mt 26,28) fest. Das lk Deutewort zur Becherhandlung nutzt schließlich beide vom jeremianischen Kontext 31,31-34 her möglichen Anknüpfungspunkte, indem Lk die beiden Becherworte aus pln wie mk Tradition miteinander kombiniert.
Es ist also nicht auszuschließen, dass die frühe Verankerung der Herrenmahlüberlieferung in der gemeindlichen Liturgie und ihre dadurch bedingte Anpassung an liturgische Bedürfnisse zur Ausbildung des erstmals Mk 14,24 bezeugten jüngeren Becherwortes führte. Anhaltspunkte hierfür waren allerdings im traditionsgeschichtlich älteren Becherwort grundgelegt. Unmittelbar und unvermittelt (V. 21: Nur seht ... ) auf das Becherwort (V. 20) lässt Lk in 22,21-23 die Ankündigung Jesu folgen, dass einer seiner Tischgenossen ihn ausliefern wird. Da Judas bereits in Lk 6,16 in Abweichung von der mk Vorlage (3,19) ausdrücklich als Verräter (prodotes) charakterisiert wurde, ist der juristische Begriff des Ausliefems (paradidonai) auch jetzt wieder (~ 3.3.3.) eindeutig moralisch negativ besetzt. Dies sowie die im Vergleich zu Mk umgekehrte Erzählfolge (Lk 22,15-20 par. Mk 14,22-25; Lk 22,21-23 par. Mk 14,18-21) lassen erkennen: Die Ankündigung der Auslieferung bzw. des Verrats Jesu durch einen seiner Jünger bildet bei Lk gleichsam den finsteren Kontrast zur vorausgehenden Deutung des Todes Jesu als Lebenshingabe, kommt doch diese Lebenshingabe in ihrer endzeitliches Heil eröffnenden Kraft den Jüngern (V. 19.20: für euch) zugute. Doch scheinen die lk Jünger diesen Kontrast gar nicht zu registrieren. Im Unterschied zu Mk 14, 19 par. Mt 26,22 erfasst sie weder Trauer noch fragen sie bei Jesus verunsichert nach: Doch nicht etwa ich? Stattdessen erhebt sich unter ihnen ein fast akademischer Disput darüber, wer von ihnen das tun werde. Das sich darin dokumentierende Unverständnis der Situation und ihrer Bedeutung findet seine Bestätigung im gleich darauf entbrennenden Rangstreit unter den Jüngern. Bildet die Verratsankündigung Jesu mit der befremdlichen Reaktion seiner Jünger die Brücke zwischen dem Mahl (22,15-20) und den an das Mahl anschließenden Tischreden (22,24-38), so werden diese Tischreden als der obligatorische zweite Teil des antiken Gastmahls (Symposion) eröffnet durch den Rangsstreit der Jünger und ihre Zurechtweisung durch Jesus (22,24-27). Dieser Rangstreit war bereits in Lk
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9,46 im Anschluss an die 2. Leidensansage aufgebrochen. Übernimmt Lk in 9,47f im Wesentlichen die Reaktion Jesu darauf aus seiner Vorlage Mk 9,36f, so verzichtet er im Anschluss an die 3. Leidensansage (Lk 18,31-33 par. Mk 10,32-34) auf eine Demonstration des Jüngerunverständnis, sondern stellt es nur fest (Lk 18,34 diffMk 10,35-41). Entsprechend findet sich hier auch keine korrigierende Jüngerunterweisung durch den lk Jesus (diff Mk 10,42-45). Erst in 22,25-27 greift Lk diese bei Mk vorgegebene Jüngerunterweisung auf. Allerdings passt er sie in V. 26f der konkreten Mahlsituation an. Denn der lk Jesus demonstriert sein Verständnis vom Dienen am Beispiel des Tischdienstes. Dabei werden Rangunterschiede unter den Jüngern als ebenso selbstverständlich vorausgesetzt, wie es sie bei jeder Tischgemeinschaft und - eng damit verbunden - in jeder Familie gibt. Doch hat gerade der Größte und Vornehmste unter ihnen Maß zu nehmen am Jüngsten (in der Familie) und am Diener (bei Tisch) (V. 26). Dazu verweist der lk Jesus die Jünger auf sein eigenes Beispiel (22,27): Wer nämlich ist größer, der zu Tisch liegt oder der [bei Tisch] dient? Ist es nicht der, der zu Tisch liegt? Ich aber bin unter euch wie einer, der dient.
Doch zunächst scheint in dem eben beendeten Mahl nirgendwo ein dienendes Handeln J esu sichtbar zu werden. Vielmehr zeigte die Mahlerzählung ihn durchweg in der Rolle des Tischvorsitzenden. Nach einer vergleichbar eindrucksvollen Demonstration seines Dienstes, wie sie der joh Jesus beim letzten Mahl durch die Fußwaschung der Jünger bietet, sucht man beim lk Jesus vergeblich. Doch ist als letzte Konsequenz seines gesamten Wirkens rur die Menschen (pro existenz) sein Dienst der stellvertretenden und Heil schaffenden Lebenshingabe in der Brot- und Becherhandlung (22,19f) präsent. Angesichts dessen erweist sich Lk 22,27 als durchaus sachgerechte Interpretation von Mk 10,45: Auch der Menschensohn ist nämlich nicht gekommen, um bedient zu werden, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für Viele.
Dieses mk Lösegeldwort übernimmt Lk bezeichnenderweise nämlich nicht beim Transfer der Jüngerunterweisung über Herrschen und Dienen (Mk 10,42-44 par. Lk 22,25f) in den Kontext der Tischgespräche beim letzten Mahl Jesu. Möglicherweise empfand er es als unpassende "Konkurrenz" zu den Deuteworten (V. 19f). Startdessen ersetzt Lk das Lösegeldwort durch 22,27. Mit diesem Vers aber integriert er die Jüngerunterweisung nicht nur semantisch in den Rahmen der letzten Tischgemeinschaft zwischen Jesus und seinen Jüngern vor seinem Tod. Vielmehr weist er damit zugleich zurück auf die Brot- und Becherhandlung (22,19f). Ohne das mk Lösegeldwort direkt aufzugreifen, bestätigt er somit gleichwohl dessen Aussageabsicht: Dass Jesus ungeachtet seiner Hoheit den Weg des Dienstes bis zum letzten
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Schritt der Lebenshingabe geht, muss Konsequenzen haben. Es muss zum verbindlichen Maßstab des Umgangs der Jünger untereinander werden, an dem sich vor allem das Verhalten der "Größen" in der Gemeinde messen lassen muss. Die Erfahrungen durch die Jahrhunderte hindurch lehren freilich, dass dieser scheinbar so einfache wie einleuchtende Maßstab zumeist am menschlichen Willen zur Macht scheitert. Und so haben sich bald schon auch in der Kirche genau die weltlichen Herrschaftsstrukturen etabliert, vor denen Jesus seine Jünger warnt (Lk 22,25; vgl. Mk 10,42; Mt 20,25). Stehen die V. 24-27 unter dem Vorzeichen der Unterweisung, die die Jünger vor eitler Herrschsucht warnt und auf das Vorbild des selbstlosen Dienstes Jesu verpflichtet, so stehen die V. 28-30 unter dem Vorzeichen der Verheißung, die den Jüngern die Teilhabe am endzeitlichen Reich (V. 29), konkret am darin stattfindenden Festmahl (V. 30a) und am darin ausgeübten Richteramt (V. 30b) in Aussicht stellt. V. 28 nennt vorab den Grund dieser Verheißung: Ihr aber seid es, die mit mir ausgeharrt haben in meinen Anfechtungen.
Anfechtungen bezeichnen hier die Bedrängnisse und Schwierigkeiten, in denen die Gefährdungen der letzten Phase der vergehenden Weltzeit individuell erfahrbar werden. Hinter diesen Anfechtungen sieht Lk Satan am Werk. Vor ihnen bleibt auch Jesus nach lk Darstellung nicht verschont. Zwar weiß Jesus, dass Satan seine Anklägerfunktion bei Gott im Himmel verloren hat (10,18). Er weiß auch, dass damit die Weichen unumkehrbar in Richtung auf die endzeitliche Gottesherrschaft gestellt sind, die in seinem Wirken schon anbricht (11,20). Doch bis zur Vollendung der Gottesherrschaft bleibt Satan noch ein Handlungsspielraum. Auf der Ebene der erzählten. Welt der lk Jesusgeschichte versucht Satan schon früh, diesen Spielraum an Jesus, während dieser in der Wüste vierzig Tage fastet, auszutesten (4,1-13). Als er in drei Anläufen kläglich scheitert, lässt er bis zu gelegener Zeit (achri kairou) von Jesus ab (4,13). Während seines öffentlichen Wirkens sieht sich Jesus dann immer wieder mit Schwierigkeiten (vgl. 9,57f), Anfeindungen (vgl. 7,34; 11,15f; 16,14) und Nachstellungen konfrontiert (vgl. 11,53f; 20,20f; 13,31; 19,47; 22,1f), ohne dass freilich ausdrücklich der Urheber all dessen genannt wird. Diese negativen Erfahrungen aber teilen seine Jünger, die ihn begleiten. Darauf dürfte der lk Jesus in 22,28 primär anspielen. Doch erschöpft sich die Aussage kaum darin. Gerade in der lk Passionserzählung zeigt sich nämlich Satan noch einmal explizit am Werk. Er macht sich Judas, der der Anfechtung nicht standhält, zum Werkzeug, mit dem er die Auslieferung Jesu betreibt (22,3f). Er begehrt auch den Zugriff auf die übrigen Apostel (22,31). Und schließlich kann die Gefangennahme Jesu gelingen, weil mit der "Macht der Finsternis" Satan am Werk ist, mit dem die Jerusalemer Autoritäten über Judas gemeinsame Sache machen (22,52f). Im Unterschied aber zur mk und mt Darstellung (Mk 14,50; vgl. 14,26-28 par. Mt
3.5. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern
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26,56; vgl. 26,30-32) fliehen die lk Jünger in dieser Situation nicht. So werden sie schließlich mit der vollständigen Gruppe der Bekannten Jesu auch Zeugen seines Kreuzestodes, wenngleich von ferne (23,49). Und auch nach dem Begräbnis Jesu bleiben sie in der Stadt Jerusalem, wo ihnen am Ostertag der Auferstandene erscheint (24,9-12.33-35.36-50). So blickt also die Aussage in 22,28 nicht nur auf das Ausharren der Jünger mit Jesus im bisherigen Verlauf der lk Jesusgeschichte zurück. Sie hat zugleich eine die Zukunft voraus nehmende Funktion. Aber diese beschränkt sich nicht auf die Ebene der er'zählten Welt. Vielmehr gilt die Aussage auch in Bezug auf die nachösterlich folgenden Generationen von Jüngern und Jüngerinnen: Ihre eigenen Anfechtungen sollen sie verstehen lernen als Bedingung der Nachfolge Jesu und als Ausdruck ihrer Zugehörigkeit zu ihm, um ihnen so zu widerstehen. Gerade die unmittelbar vorausgehende Passage der Tischgespräche (V. 24-27) lässt vermuten, dass Lk zu diesen Anfechtungen nicht zuletzt auch Geltungssucht, Machtwillen und das Streben nach Herrschaft zählt. Damit die Jünger und Jüngerinnen Jesu diesen Anfechtungen nicht erliegen, bietet Lk ihnen in seiner Erzählung von der Versuchung Jesu durch den Teufel (4,1-13) die entscheidende Orientierungshilfe. In V. 29fschließt sich die Verheißung selbst an. Mit den Stichworten HerrschaftlReich (basileia) sowie Essen und Trinken greift Lk in V. 29.30a unverkennbar auf die Eröffnungsrede Jesu vor Mahlbeginn (22,16.18) zurück. Wie Jesus dOli vorausblickt auf seine Teilhabe am eschatologischen Festmahl in der vollendeten Herrschaft Gottes, so wird nun den Jüngern die Teilhabe an diesem Festmahl in Aussicht gestellt (V. 30a). Die Möglichkeit dazu eröffnet ihnen Jesus, ebenso wie ihm zuvor diese Möglichkeit von seinem Vater eröffnet worden war (V. 29). Der Wechsel von einer theologischen (V. 16.18: Reich Gattes [basileia tau theau)] zu einer christologischen (V. 30a: mein Reich [basileia mau]) Perspektive, der mit V. 29 vollzogen wird, spiegelt deutlich den Wechsel von einer varösterlichen zu einer nachösterlichen Perspektive wieder. Dies bestätigt noch einmal, dass eine auf die Ebene der erzählten Welt eingeschränkte Lektüre der Passage zu kurz greift. Die Verheißung des lk Jesus im Abendmahlsaal an die dort mit ihm versammelten Jünger gilt allen Menschen - Männern wie Frauen -, die sich zwischen der Auferweckung Jesu und seiner Wiederkunft in seine Nachfolge stellen. Kriterium für die Erfiillung der Verheißung ist dabei, dass sie wie Jesus zum Verzicht auf Herrschaftsausübung und zu dienender Selbsthingabe bereit sind. Unter dieser Voraussetzung freilich werden sie nicht nur endzeitlichendgültige Tischgemeinschaft mit Jesus pflegen (V. 30a), die im Herrenmahl in vergegenwärtigender Erinnerung an die Lebenshingabe Jesu zeichenhaft vorweggenommen wird. Sie werden zugleich auch Anteil gewinnen an der endzeitlichen Herrscherfunktion Jesu (V. 30b), die gerade aus seinem Verzicht auf Machtausübung nach irdischem Maßstab erwächst. Den Aspekt der
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Anteilhabe an der eschatologischen Herrschaft Jesu bringt Lk in 22,30b mit einem Wort aus der Logienquelle zum Ausdruck: ... und ihr werdet sitzen auf Thronen und die zwölf Stämme Israels richten.
Auch Mt rezipiert dieses Wort, allerdings außerhalb seiner Passionsgeschichte, und zwar in 19,28 ebenfalls als verheißenen Lohn für die Jüngernachfolge. Interessant ist freilich, dass Mt dabei nicht nur von den zwölf Stämmen Israels, sondern auch von zwölf Thronen spricht. .Für ihn ist also nur der Zwölferkreis, der das endzeitliche Israel repräsentiert, das Jesus mit seiner Verkündigung sammeln will, der Anwärterkreis auf die endzeitliche Herrscherfunktion. Die fehlende Zahlenangabe zu den Herrschersesseln bei Lk darf hingegen als weiteres Indiz dafür gewertet werden, dass er diesen Anwärterkreis bewusst erweitert auf alle Menschen, die in der Nachfolge Jesu stehen und ihren Kriterien des Dienstes und des Herrschaftsverzichts entsprechen. Den beiden letzten Abschnitten der lk Abschiedsreden (22,31-34.35-38) fehlt im Unterschied zu den beiden ersten (22,24-27.28-30) jeder thematische Bezug zum Mahl. Stattdessen nimmt nun der Ausblick auf die Passion mit der Petrusverleugnung und dem Verbrechertod Jesu konkrete Konturen an. Dieser Ausblick dient nicht zuletzt einer Vorbereitung der Jünger auf künftige Gefährdungen ihres Glaubens von innen und außen. Über V. 28 ist damit zugleich eine thematische Brücke zur ersten Hälfte der Abschiedsreden gegeben. Mit V. 31 richtet der lk Jesus ausdrücklich sein Wort an Petrus. Nur an dieser einzigen Stelle im LkEv redet er ihn mit seinem Eigennamen Simon an. Die verdoppelte Anrede ,,sirnon, Simon" zusammen mit dem Aufmerksamkeitshinweis "siehe" weist dabei auf den Ernst dessen hin, was Jesus ihm nun zu sagen hat. Dies betrifft aber nicht allein ihn, sondern alle Jünger. Gleichwohl kommt Petrus dabei einmal mehr eine besondere Aufgabe zu. Nachdem der lk Jesus sich also der Aufmerksamkeit des Simon gewiss sein darf, berichtet er von einer Auseinandersetzung mit Satan um den Zugriff auf seine Jünger. Diese Auseinandersetzung wurde vor einer nicht näher genannten, jedoch wohl himmlischen Instanz ausgetragen. Dabei hat Satan sich ausgebeten, die Jünger wie Weizen zu sieben, das heißt, ihren Glauben auf eine harte Probe zu stellen (V. 31 b). Unausgesprochen wird dabei vorausgesetzt, dass seiner Bitte stattgegeben wurde. Denn nur so erscheint die Gegenbitte Jesu sinnvoll, dass sich wenigstens der Glaube Simons bewähre (V. 32a). Die vom lk Jesus referierte Szene erinnert an die Rahmenhandlung des Buches Ijob (vgl. Ijob 1,6-12; 2,1-6). Allerdings geht es hier nicht um das individuelle Schicksal eines gottesfürchtigen Weisen. Es geht vielmehr um einen Entscheidungskampf von endzeitlicher Qualität, dem die Jünger Jesu ausgeliefert werden. V. 32b lässt erkennen, dass auch der Bitte Jesu vor der himmlischen Instanz entsprochen wurde. Zwar wird Simon ein Straucheln
3.5. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern
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nicht erspart bleiben. Doch er wird umkehren und auf den richtigen Weg zurückfinden. Wenn es soweit ist, dann gilt ihm der Auftrag Jesu, seine Brüder zu stärken, damit auch sie die satanische Glaubensprobe bestehen können. Auch die Wortwahl Brüder geht hier über den engsten Kreis der Zwölf hinaus und umfasst die Jüngerschaft Jesu - Männer und Frauen - als solche. Für sie alle soll sich Petrus als Fels erweisen, der ihnen Halt gibt gegen die von Satan beabsichtigten Glaubensgefährdungen. Die lk Sondergutverse 31 f bilden nun in der erzählerischen Konzeption des Lk den Auftakt der Ankündigung von der Verleugnung Jesu durch Petrus (V. 33f). Diese erscheint dadurch im Vergleich mit den anderen Evangelien abgemildert. Denn zum einen wird sie - gemessen an der gewaltigen Dimension des endzeitlichen Entscheidungskampfes, in dem die Jünger mit Satan stehen - in ihrer Tragweite relativiert. Und zum anderen steht die Verleugnung J esu durch den lk Petrus bereits im Licht seines dennoch nicht versiegenden Glaubens, den Jesus für ihn erbeten hat. Lk schließt seine Erzählung vom letzten Mahl Jesu mit den Jüngern in 22,35-38 mit einer Sondergutpassage, die wohl nicht ursprünglich im Passionskontext beheimatet war. Vielmehr dürfte sich ihre Entstehung der feindseligen Einstellung verdanken, mit der sich die Anhänger Jesu bei ihrer nachösterlichen Verkündigungstätigkeit immer wieder konfrontiert sahen. Lk bettet nun die ihm bekannte Tradition in die Abschiedsreden ein, so dass in diesem neuen Kontext der lk Jesus unmittelbar vor seiner Passion auf die nachösterlich schwierige Situation seiner Jünger vorausblickt. Nach dem Dialog mit Petrus wendet sich Jesus in V. 35 noch einmal allen bei ihm versammelten Jüngern zu. Was er ihnen abschließend zu sagen hat, dient ihrer Vorbereitung auf den gewaltigen Einschnitt, den seine Hinrichtung als Verbrecher (V. 37) für ihre Lebensbedingungen als Verkündigel' bedeutet. Dazu erinnert er sie zunächst an ihre positiven Erfahrungen, die sie als seine Gesandten gemacht haben (22,35): Und er sagte zu ihnen: Als ich euch ausgesandt habe ohne Geldbeutel und Vorratstasche und Sandalen, habt ihr da etwa Mangel gelitten? Sie aber sagten: Nein, an nichts.
Diese Frage Jesu, die sich im Abendmahlskontext unmittelbar an die Mitglieder des Zwölferkreises richtet, verweist also zurück ihre Aussendung in Lk 9,1-6. Bemerkenswert ist allerdings, dass die drei Stichworte Geldbeutel (ballantion), Vorratstasche (pera) und Sandalen (hypodemata) sich so exakt bereits bei der Aussendung des erweiterten Jüngerkreises der Zweiundsiebzig (Lk 10,1-12) finden (V. 4).8 Das deutet daraufhin, dass der lk Jesus, wie
Im Unterschied dazu wird bei der Aussendung der Zwölf aufgelistet (Y. 3): Wanderstab (rhabdos), Vorratstasche (Pera), Geld (argyrion). Zudem wird hinzugefügt, dass keiner zwei Hemden haben soll.
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
schon mehrfach zuvor in seinen Abschiedsreden beobachtet, auch jetzt noch einmal über die Zwölf hinaus die Jüngerschaft in ihrer Gesamtheit anredet. Dies entspricht im Übrigen der Eigenart und der Funktion von Reden Jesu in den Evangelienerzählungen überhaupt. Denn gerade die Redekompositionen unterbrechenden Geschehensablauf auf der Ebene der erzählten Welt, so dass Jesu Worte sich nicht nur und nicht einmal primär an Personen der erzählten Welt richten. Vielmehr überschreiten sie die Grenzen dieser Welt und richten sich unmittelbar an die konkrete nachösterliche Adressatenschaft der Evangelien.
In scharfem Kontrast zu den in V. 35 aufgerufenen Erfahrungen wendet sich der lk Jesus in V. 36 den neuen Erfahrungen zu, die seine Jünger von jetzt an machen müssen: Er aber sagte ihnen: Aber jetzt soll der, der einen Geldbeutel besitzt, ihn mitnehmen, ebenso auch eine VOlTatstasche, und wer es nicht besitzt, soll seinen Mantel verkaufen und sich ein Schwert kaufen.
Von Stund an dürfen sich die Jünger also nicht mehr vertrauensvoll darauf verlassen, bei ihrer Verkündigungstätigkeit freundlich aufgenommen und mit allem Lebensnotwendigen versorgt zu werden. Sie müssen rur sich selbst sorgen und sich wappnen gegen Angriffe. Den Grund für diesen krassen Verhaltenswandel gegenüber seinen Boten legt der lk Jesus in V. 37 mit einem Zitat aus dem vierten Gottesknechtslied (Jes 53,12b) offen: "Er wurde unter die Verbrecher gerechnet." Der Verbrechertod, den Jesus am Kreuz stirbt, ist freilich nur die Außenseite seiner stellvertretenden Lebenshingabe rur die Sünden der Vielen (Jes 53,12c; vgl. Lk 22,20 par. Mk 14,24). Damit erfüllt sich am Gottesknecht Jesus das Wort der Schrift. Dies ist die Glaubensüberzeugung der Jesusboten, die sie weiter tragen wollen. Die Adressaten ihrer Botschaft sahen allerdings oft genug nur die Außenseite des Verbrechertodes Jesu. So distanzierten sie sich von Jesus (vgl. Jes 53,4b) und seinen Boten, wobei diese Distanzierung bisweilen gewiss auch in Aggression umschlagen konnte. Die vorlk Tradition, die diese Erfahrungen der nachösterlichen Verkündiger aufgreift, hat offenbar das Recht auf Selbstverteidigung dem jesuanischen Gebot des Gewaltverzichts (vgl. Lk 6,29) übergeordnet. Lk rezipiert das eine wie das andere in seiner Jesusgeschichte. Dies mag auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen. Doch ist es das wirklich? Der lk Jesus selbst verzichtet auf jede Gewaltanwendung. Er lässt sich widerstandslos festnehmen, er weist den Jünger zurecht, der in dieser Situation zum Schwert greift und einen hohenpriesterlichen Knecht verletzt, und er heilt den angerichteten Schaden (Lk 22,50f ~ 3.8.3.). Dies entscheidet der lk Jesus so rur sich im Wissen um die Heilsnotwendigkeit seiner Lebenshingabe. Seine Jünger mag er allerdings für die kommende Zeit nicht auf einen bedingungslosen Gewaltverzicht verpflichten. Denn das jesuanische Gebot, auch die andere Wange hinzuhalten, ist kein Selbstzweck, son-
3.5. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern
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dern soll dem Abbau von Aggression dienen. Doch kann sich diese Zielsetzung in ihr Gegenteil verkehren. Gerade die Wehrlosigkeit der Jesusboten kann eine Steigerung der Aggression provozieren. Deshalb rät ihnen der lk Jesus, rur den Fall der Fälle verteidigungsbereit zu sein. So legitimiert Lk gleichsam durch die Einarbeitung der ihm vorgegebenen Sonderguttradition in die Abschiedsreden Jesu das Recht der nachösterlichen Jesusboten auf Selbstverteidigung. Die Einsicht in ihre Notwendigkeit dürfte dabei sehr schmerzlichen Erfahrungen erwachsen sein. Die Berechtigung einer solchen Legitimierung durch Jesus selbst dürfte Lk nicht zuletzt aus der ihm vorgegebenen Passionsüberlieferung gewonnen haben, bezeugt sie doch unmissverständlich, dass Jesu Begleiter bei dessen Verhaftung jedenfalls auch nicht gänzlich unbewaffnet warten. Als unwahrscheinlich muss dabei wohl gelten, dass der Erzählzug vom Versuch eines Jüngers, mit dem Schwert Widerstand gegen Jesu Verhaftung zu leisten (Mk 14,47 parr. Mt 26,51; Lk 22,50; vgl. Joh 18,10), sich nachösterlicher Legendenbildung verdankt. Jesus war als Messiasprätendent und das heißt als politischer Rebell von den Römern hingerichtet worden. Bis in die ältesten Traditionsschichten hinein lässt sich nun verfolgen, dass die Anhänger Jesu angesichts der Erfahrung seiner Auferweckung von Beginn an alles daran setzten, seine Messianität mit Hilfe der Schrift theologisch zu reflektieren und gezielt zu entpolitisieren (---+ 1.1.). In erster Linie dürfte sich dies der Tatsache verdanken, dass es das Trauma der schändlichen Hinrichtung Jesu zu verarbeiten galt. Doch war es auch sachlich gerechtfertigt, da Jesus seine Botschaft von der Gottesherrschaft stets eschatologisch und nicht politisch verstanden hat. Nicht zuletzt aber war es auch für Leib und Leben seiner Anhänger entscheidend, nicht in den Verdacht zu geraten, Sympathisanten eines politischen Aufrührers zu sein. Vor diesem Hintergrund wäre es geradezu kontraproduktiv gewesen, den bewaffneten Widerstandsversuch aus dem Jüngerkreis zu "erfinden". Andererseits aber war das Faktum wohl bekannt und konnte nicht verschwiegen werden. Daher versuchte man es zu entschärfen, indem man Jesus selbstzwar noch nicht bei Mk, wohl aber bei seinen Seitenreferenten und bei Joh - den Angreifer aus den eigenen Reihen energisch zurückweisen ließ (Mt 26,52-54; Lk 22,51 [hier heilt Jesus den Verletzen sogar!]; Joh 18,11).
Die Tatsache, dass die Gruppe um Jesus nicht gänzlich unbewaffnet war, ist im Übrigen nicht erstaunlich. Denn auf der langen Wanderung von Galiläa nach Jerusalem mussten Pilger mit räuberischen Übergriffen rechnen. Dafür Sorge zu tragen, solchen Übergriffen nicht völlig wehrlos ausgeliefert zu sein, war nur zu vernünftig. Entsprechend erzählerisch plausibel ist die Reaktion der lk Jünger in 22,38a auf die Perspektive, die Jesus ihnen unmittelbar zuvor eröffnet hat: Sie aber sagten: Herr, siehe, hier sind zwei Schwerter.
Die Antwort Jesu "Es ist genug!" (V. 38b) bleibt ein wenig rätselhaft. Gemeint sein kann wohl kaum, dass er diese bei den Schwerter als ausreichend für eine Verteidigung beurteilt. Doch betrachtet er ihren Besitz gewiss als hinreichend, um seine Gegner in ihrer Überzeugung zu bestärken, dass er ein Verbrecher (vgl. V. 37) ist. Auf jeden Fall aber signalisiert diese Antwort
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Jesu den Abbruch des Gesprächs und gibt das Signal zum Aufbruch. Somit beendet sie auch die lk Mahlszene.
3.5.4. Diejohanneische Version Joh 13,1-17,26 Die Szene vom letzten Mahl mit seinem engsten Jüngerkreis nimmt eine Schlüsselfunktion im Aufbau der joh Jesusgeschichte ein. Mit dieser Szene eröffnet ihr Verfasser seine Darstellung der Passion Jesu, die im Vergleich mit den synoptischen Passionserzählungen ein noch größeres Gewicht innerhalb der Evangeliumserzählung als ganzer besitzt. Eben dieses Gewicht aber verdankt sich nicht zuletzt der joh Gestaltung der Eröffnungsszene vom letzten Mahl Jesu. Denn mit seiner Gestaltung setzt der Evangelist im Vergleich zur synoptischen Darstellung nicht nur sehr spezifische Akzente bei der Mahlszene im engeren Sinn (Fußwaschung mit zweifacher Deutung anstelle der eucharistischen Handlungen). Es sind vielmehr die Abschiedsreden des joh Jesus im Anschluss an das Mahl (13,31-17,26), die die joh Mahlszene (wie die joh Passionserzählung insgesamt) dominieren und ihr einen unverwechselbaren Stempel aufdrücken.
3.5.4.1. Die Mahlszene Joh 13,1-30 Bereits in V. la wird einmal mehr das bevorstehende Passafest erwähnt. Eine solche Erwähnung ist im JohEv stets auf den Tod Jesu bezogen. Dies gilt etwa für 2,13 im Kontext der Tempelaktion Jesu. Es gilt aber ebepso für 6,4 im Kontext des Mahlwunders Jesu und der joh Brotrede. Zum al am Ende der Brotrede wird durch 6,51c-58 die stellvertretende Lebenshingabe Jesu in unverkennbarer Anspielung auf die in der joh Gemeinde praktizierten eucharistischen Handlungen thematisiert. Das nach Auskunft von 13,la jetzt aber nah bevorstehende Passafest ist bereits seit 11,55 - im unmittelbaren Anschluss an den Todesbeschluss der jüdischen Autoritäten! (~ 3.1.4.) - als Todespassa Jesu ausgewiesen. Dass 13, la tatsächlich als Hinweis auf dieses Todespassa verstanden werden will, bestätigt sich sofort anschließend in 13,1 b. Denn hier wird festgestellt, dass die Stunde Jesu gekommen sei. Auf diese Stunde aber hat der Verfasser des JohEv seine Leser und Leserinnen schon seit 2,4 geradezu leitmotivartig immer wieder verwiesen. Dabei hat er sie ihnen erschlossen als Stunde des Todes und zugleich der Verherrlichung Jesu. Das Wissen des joh Jesus um das Gekommensein seiner Stunde und um ihre Bedeutung belegt seine göttliche Souveränität und Allwissenheit. Jesus nimmt nicht nur bewusst sein bevorstehendes Leiden an. Von Gott dazu bevollmächtigt, liegt es sogar in seiner Hand, die Ereignisse zu initiieren (13,3a; ~ 3.1.4.). Damit zieht Joh am Beginn seiner Passionserzählung
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kräftig die Linien eines Jesusbildes aus, die in der Eingangsszene der mt Passionserzählung erst vorsichtig skizziert werden (~ 3.1.2.). Und so geht der joh Jesus seinem Leiden ohne Furcht, ja geradezu emotionslos entgegen, denn er versteht es als Weg zum Vater, von dem er ausgegangen ist und zu dem er zurückkehrt(13,3b). Es ist daher im Übrigen kein Zufall. dass in der joh Passionsdarstellung die Getsemaneszene fehlt. Denn eine Darstellung der Anfechtung Jesu und seines Ringens mit dem Vater um sein Schicksal widerspricht den hoheitsvoll-souveränen Zügen des joh Jesusbildes. Agiert Jesus in der joh Darstellung gleichsam als Regisseur der Passionsereignisse (l0,17f; 13,3a ~ 3.1.4.), kann er hier nicht wie in der synoptischen Darstellung seinen Vater anflehen: "Nimm diesen Kelch von mir!" (Mk 14,36a parr. Mt 26,39b; Lk 22,42a). Und sagt der joh Jesus von sich: "Ich und der Vater, wir sind eins" (10,30), so ist auch sein Wille mit dem des Vaters identisch. Entsprechend ist das Gebet "Nicht wie ich will, sondern wie du willst" (Mk 14,36b parr. Mt 26,39b; Lk 22,42b) im Mund des joh Jesus undenkbar, signalisiert es doch "nur" Gehorsam gegenüber dem von seinem Willen abweichenden göttlichen Willen. Aufgrund des für seine Evangeliumserzählung charakteristischen Jesusbildes kann Joh also die Getsemaneüberlieferung nicht in seine Passionsdarstellung aufnehmen. Dass er sie freilich gekannt hat, schimmert noch in 12,27-33 sowie 18,11 durch. Doch werden die Anklänge an die Getsemanetradition auch hier überlagert vom göttlichen Selbst- und Sendungsbewusstsein des joh Jesus.
V. 2 verankert das nachfolgend erzählte Geschehen in den Rahmen eines Mahles. Dieses Mahl dürften die Adressaten des JohEv aufgrund des in V. I hergestellten Passionsbezuges sogleich als das ihnen aus dem MkEv bekannte letzte Abendmahl identifizieren. In diese mk Überlieferung gehört auch das Motiv der Kennzeichnung des Verräters Jesu (~ 3.5.1.). Im Unterschied zu Mk und seinen Seitenreferenten baut Joh aber dieses Motiv in 13,21-30 allein schon umfangmäßig deutlich aus. Die Erzählung von der Fußwaschung 13,1-20 ist mit dieser unmittelbar nachfolgenden Szene von der Kennzeichnung des Verräters durch mehrere V orverweise eng verzahnt (V. 2.1 Ofin.l1.18f). Die joh Erzählung vom letzten Zusammensein Jesu mit seinen Jüngern, das ab 13,31 ganz im Zeichen seiner Abschiedsreden steht, beginnt im Unterschied zur Darstellung in den synoptischen Evangelien gerade nicht mit Worten. Sie wird vielmehr eröffnet durch eine außergewöhnliche und - wie die Reaktion des Petrus in den V. 6.8 zeigt - durchaus auch Anstoß erregende Handlung Jesu: Er wäscht seinen Jüngern die staubigen Füße. Damit leistet er ihnen einen Dienst, der ansonsten nur von Sklaven (und zwar ausschließlich von nichtjüdischen Sklaven) ausgefuhrt wurde. Nachdem nun der Evangelist in den V. 3-5 die Vorbereitung und den Beginn der Fußwaschung durch Jesus erzählt hat, fügt er in den V. 6-11 und 12-17 zwei Deutungen dieser Handlung an. Die erste Deutung der Fußwaschung entfaltet der joh Jesus im Dialog mit dem widerstrebenden Petrus. Sie ist soteriologisch orientiert, das heißt: Sie fasst die Heilsbedeutung von Jesu Tun in den Blick. Denn der Sklavendienst der Fußwaschung, den Jesus an seinen Jüngern vollzieht, symbolisiert seinen bevorstehenden Sklaventod am Kreuz. Dieser
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Kreuzestod besitzt aber Heil bringende Wirkung für alle, die an Jesus glauben (3,14; 12,32; vgl. 10,11.15.17). Somit eröffnet der Vollzug der Fußwaschung an den Jüngern ihnen die Anteilhabe an Jesus und seinem Heil wirkenden Tod (13,9). Anders ausgedrückt: Die Fußwaschung, die die liebende Selbsthingabe Jesu symbolisiert, macht rein von Schuldverstrickung und Sünde. Dabei muss der joh Jesus gegen den begriffsstutzigen Petrus festhalten, dass der symbolische Akt der Fußwaschung die Gesamtexistenz der Glaubenden umfasst (V. 10). Genau dies nun - die bleibende Verbundenheit mit Jesus und die Anteilhabe an seinem Sühne wirkenden und Heil bringenden Tod - gewährleistet aber auch das eucharistische Mahl. Es dürfte daher kaum Zufall sein, dass sich im JohEv die Fußwaschung dort findet, wo bei den Synoptikern die Einsetzung der Eucharistie überliefert wird. Schon die Kenntnis des MkEv, die das JohEv durchgehend voraussetzt, rechtfertigt folgende Annahme: Die joh Gemeinde wusste um die Überlieferung von der Einsetzung der Eucharistie im Horizont des drohenden Todes Jesu, konkret: im Rahmen eines letzten Mahles mit den Jüngern. Joh 6,51c-58 bestätigt den Vollzug des eucharistischen Mahles in der joh Gemeinde auf der Grundlage dieser Überlieferung. Ebenso bestätigt diese Textpassage das Wissen um die in der Eucharistie konstituierte Verbundenheit zwischen Jesus und den Glaubenden (6,56!). Tritt also im JohEv die Fußwaschung an die prominente Stelle des eucharistischen Einsetzungsberichtes bei den Synoptikern, so soll sie offensichtlich die Tragweite des eucharistischen Geschehens verdeutlichen. Der Grund hierfür könnte durch die zweite Deutung der Fußwaschung in den V. 12-17 ersichtlich werden, die ethisch orientiert ist. Hier nämlich stellt der joh Jesus den Jüngern sein Handeln als Beispiel und verpflichtende~ Maßstab für ihr eigenes Handeln vor Augen. Dies könnte darauf hindeuten, dass es in der joh Gemeinde z. zt. der Abfassung des Evangeliums Defizite im Umgang der Gemeindemitglieder untereinander gibt. Dies vorausgesetzt, hat die Szene der Fußwaschung in Joh 13,1-20 einen primär mahnenden Charakter. Sie zielt darauf ab, die Erfahrung des liebenden Handeins und der liebenden Hingabe Jesu, die durch die Teilhabe am eucharistischen Mahl geschenkt wird, zum Maßstab zu machen für ein liebendes Handeln der Jünger untereinander (V. 16f). Die Deutung von Jesu Lebenshingabe als (Heil bringender) Dienst, der zugleich zur Richtschnur für das Jüngerverhalten erklärt wird, rückt die joh Erzählung von der Fußwaschung in eine unverkennbar sachliche Nähe zur Jüngerunterweisung Mk 10,42--45. Eine vergleichbare Nähe zu dieser mk Jüngerunterweisung ist - wie gesehen - auch in Lk 22,24-27 vor dem Hintergrund der eucharistischen Handlungen und ihrer Deuteworte (20,19f) gegeben (~ 3.5.3.). Damit verdient also als bemerkenswert festgehalten zu werden: Für Joh und Lk stellt sich gleichermaßen das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern unmittelbar vor seinem Leiden und Sterben als die angemes-
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sene Situation dar, um die bei Mk überlieferte Jüngerunterweisung von Jesus selbst veranschaulichen zu lassen, bevor der von ihm den Jüngern vorgelebte Dienst in den nachfolgenden Passionsereignissen seine letzte, blutige Konsequenz fordert.
Die Identifizierung des Verräters (13,21-30) Die Adressaten des JohEv wissen natürlich um die Identität des Verräters. Zudem ist im bisherigen Ablauf der Evangelienerzählung bereits wiederholt Judas Iskariot als Verräter explizit benannt worden (6,71; 12,4). Allerdings geschah diese Enttarnung bisher nur durch einen KOlmnentar des Evangelisten, nicht durch J esus selbst. In Entsprechung zur synoptischen Tradition nimmt auch der joh Jesus die Identifizierung des Judas als Verräter erst im Rahmen des letzten Mahles mit seinen Jüngern vor. Doch erfolgt sie hier nicht offen im Jüngerkreis. Vielmehr antwortet Jesus ausschließlich dem Jünger, der in seiner umnittelbaren Nähe zu Tisch liegt und der die Frage nach der Identität des Verräters gestellt hat (V. 25-26a). Entsprechend missdeuten die übrigen Jünger auch die sich anschließende Aufforderung Jesu an Judas: "Was du tun willst, tue bald!" (V. 27fin; vgl. V. 28t). Den Jünger nun, der sich vetiraulich an Jesus wendet, charakterisiert der Evangelist eigens als den "Jünger, den Jesus liebte". So begegnet in 13,23 erstmals im JohEv die Gestalt des geliebten Jüngers. Bei dieser Gestalt handelt es sich wohl kaum um eine historische Person aus dem Zwölferkreis oder gar speziell um den Zebedäussohn Johannes. Dagegen spricht vor allem die Aussage in 13,lc. Nur kurz vor dem ersten Auftreten des "Jüngers, den Jesus liebte" ist hier die unterschiedslose Liebe Jesu zu all den Seinen in der Welt festgehalten. _Der geliebte Jünger ist daher in der Konzeption der joh Jesusgeschichte wohl keine individuelle, sondern eine prototypische Gestalt, eine Symbolfigur, die auf der Ebene der erzählten Welt im Kreis der beim letzten Mahl um Jesus versammelten Zwölf bereits die nachösterliche Jüngerschaft repräsentiert. Als dieser nachösterliche Repräsentant tritt der geliebte Jünger im JohEv kaum zufällig erstmals auf, als die "Stunde Jesu" gekommen ist und die Vollendung der Liebe Jesu zu den Seinen durch seine Lebenshingabe unmittelbar bevorsteht. Denn aus der durch Kreuz und Auferstehung vollendeten Liebe Jesu, also aus der nachösterlichen Perspektive erwächst die besondere Vertrautheit des geliebten Jüngers, die ihn von den anderen Jüngern im Abendmahlssaal unterscheidet. Dieser Vorsprung an Vertrautheit verdankt sich aber dem Wirken des Geistparakleten, der die Jünger nach Ostern in die volle Wahrheit einführen, ihnen also volle Erkenntnis schenken wird (vgl. 14,25t). Die darin gründende Vertrautheit wird in 13,23 durch die Nähe des geliebten Jüngers zu Jesus ausgedrückt. Er liegt an der Brust Jesu, also ebenda, wo der präexistente Sohn beim Vater ruht Cl,18). Wie dieser Präexistente durch seine Fleischwerdung zum authentischen Exegeten Gottes für die Menschen wird Cl, 18), so wird auch der Jün-
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
ger par excellence zum authentischen Exegeten und Zeugen Jesu (vgl. 19,35 im Kontext von 19,26). Dies ist von großer ekklesiologischer Bedeutung. Denn fur den Verfasser des JohEv besteht kein Zweifel daran, dass nur die Gemeinschaft der Glaubenden die authentische Kunde von Jesus garantiert. Dies gilt unbeschadet der Möglichkeit, dass im Laufe der Zeiten aus dieser Gemeinschaft auch immer wieder eine Verdichtung des geliebten Jüngers in Gestalt einer historischen Person hervorgehen kann. Beachtung verdient schließlich auch, wie in der joh Jesusgeschichte die Verantwortlichkeit fur den Verrat Jesu bestimmt wird. Durch 13,27b wird jeder Zweifel daran ausgeschlossen, dass es sich bei diesem Verrat um eine Tat des Judas handelt. Möglicherweise schwingt bei dem Futur des Verbs "tun" im Griechischen auch der Aspekt des Wollens mit ("Was du tun willst, das tue bald!"). Dies würde die Verantwortung und Schuld des Judas nur noch unterstreichen. Auf jeden Fall aber deutet die Schlussbemerkung in V. 30 ("Es war aber Nacht.") darauf hin, dass Judas die Konsequenzen seines Handeins zu tragen hat: Mit dem Verlassen Jesu und des Jüngerkreises begibt er sich unwiderruflich in die Sphäre der Finsternis und damit der Gottferne. Andererseits wird aber auch Satan verschiedentlich als Urheber des Verrats genannt. So lässt er nach 13,2 die Idee eines Verrats Jesu in Judas gedeihen. In 13,27a leitet er die Ausfiihrung des Verrats ein, indem er ganz Besitz von Judas ergreift. Doch gemäß der Tradition alttestamentlich-frühjüdischen Denkens hat Satan nur den Handlungsspielraum, den Gott (und Jesus) ihm einräumen. So entspricht der Verrat Jesu durch Judas dem Wort der Schrift, in dem sich Gottes Willen manifestiert (13,18). Diesen Verrat sagt Jesus seinen Jüngern voraus und offenbart sich ihnen in diesem Kontext mit dem absoluten "Ich bin es" noch einmal in seiner göttlichen So~veränität (13,19). Schließlich ist auch an Folgendes zu erinnern: Das Motiv der Stunde Jesu zieht sich wie ein roter Faden durch den ersten Hauptteil des JohEv. Dabei entspricht diese Stunde als die Stunde seines Todes und seiner Verherrlichung dem wechselseitigen, identischen Willen von Vater und Sohn. Daraus folgt: Das von Satan initiierte verräterische Handeln des Judas ist zwar gegen den Sohn Gottes gerichtet. Doch ist es in geheimnisvoller Weise umfangen und getragen vom Heil schaffenden Handeln Gottes, das der von ihm gesandte Sohn mit seinem Leben und Sterben bezeugt.
3.5.4.2. Die johanneischen Abschiedsreden (13,31-17,26) Die Reden Jesu in den Evangelien, die ja keine protokollarische Wiedergabe von Reden des irdischen Jesus darstellen, sondern durchweg von den Evangelisten unter mehr (z.B. Bergpredigt [Mt 5-7] bzw. Feldrede [Lk 6,17-49]) oder weniger (z.B. Brotrede [loh 6,22-59]) intensiver Verwendung von Jesusüberlieferungen komponiert wurden, halten auf der Ebene der erzählten
3.5. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern
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Welt den Fortgang des Geschehens an. Sie sprechen stattdessen vor allem und unmittelbarer als die erzählenden Passagen den jeweils intendierten Adressatenkreis an. Diese Besonderheit trifft nun in besonderem Maße auf die joh Abschiedsreden zu. Denn sie richten in der Situation des bevorstehenden Sterbens Jesu ihren Blick bewusst auf die Zeit nach Ostern und damit auf die Zeit der Gemeinden. Thematisch kreisen die Abschiedsreden um das Fortgehen J esu, das als Verherrlichungsgeschehen erschlossen wird, und um sein Wiederkommen. Alle anderen Themen sind diesen Zentralthemen zugeordnet.
Die Bedeutung der Verherrlichung Jesujür seine Jünger (13,31-38) V or dem Hintergrund des gerade Gesagten lässt sich nun die Verschmelzung der Zeitebenen in 13,31 verstehen: Zum einen schaut 13,31 - aus der Perspektive der erzählten Welt - auf den in der Stunde des Abschieds erreichten Abschluss des irdischen Wirkens Jesu. Schon das irdische Wirken Jesu ist joh als wechselseitiges Verherrlichungsgeschehen von Vater und Sohn zu begreifen. Sodann bringt 13,31 die Perspektive der nachösterlichen Gemeinde zum Ausdruck, die bereits auf das Verherrlichungsgeschehen am Kreuz zurückblickt und es im Glauben überhaupt erst als solches erfassen kann. Eben dieses Verherrlichungsgeschehen tritt aber in 13,32-33a auf der Erzählebene als unmittelbar bevorstehend in den Blick. Die Jünger in ihrer vorösterlichen Situation können Jesus auf seinem Weg (ans Kreuz), also auf seinem Weg zum Vater nicht folgen (13,33c.36f). Für dieses Jüngerunvermögen und das daraus resultierende Unverständnis steht exemplarisch Petrus bzw. seine von Jesus vorausgesagte Verleugnung (13,37f). Erst das Verherrlichungsgeschehen am Kreuz, das die nachösterliche Phase einleitet, eröffnet ein wirkliches Verstehen Jesu, das Nachfolge ermöglicht. In diese (nachösterliche) Phase hinein zielt auch das Liebesgebot Jesu (13,34f), das als neues Gebot bezeichnet wird. Dies darf freilich nicht als Abwertung des alttestamentlichen Liebesgebotes missverstanden werden. Als neu gilt dieses Gebot in joh Perspektive vielmehr, weil es in Jesu Lebenshingabe seinen verpflichtenden Maßstab hat. Genau dies sollte ja die kurz zuvor erzählte Szene der Fußwaschung symbolisch erschließen. Bemerkenswert ist, dass das Liebesgebot joh eingeschränkt wird auf den innergemeindlichen Raum. Von einer Nächsten- oder gar Feindesliebe über diesen Raum hinaus ist keine Rede. Gegenüber der Welt, also rür die Menschen jenseits der Gemeindegrenze soll freilich diese an Jesu Verhalten Maß nehmende Liebe der Glaubenden untereinander Zeichen- und Überzeugungs charakter besitzen (13,35). Diese Gedanken werden in 15,1-16,4a noch vertieft. Die Verheißung der Wiederkehr Jesu und der Gegenwart des Geistes (14,1-31) Kapitel 14 bildet innerhalb der Abschiedsreden eine deutlich nach vorn und hinten abgrenzbare Einheit. Nach dem kurzen Dialog mit Petrus (13,36-38)
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
wendet sich Jesus in 14,1 mit einem Trostwort wieder an die Gesamtgruppe der Jünger. In 14,31 b fordert Jesus die Jünger dazu auf, den Ort des letzten Mahles zusammen mit ihm zu verlassen. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass er sich den Ereignissen der Passion stellen kann. Kapitel 14 weist zwei Gliederungskriterien auf: Im Mittelpunkt der V. 414 steht der Weggang Jesu von den Seinen. Zugleich sind diese Verse geprägt durch das Motiv des Glaubens an Gott und an Jesus in ihrer Verbundenheit und Einheit. Thematisches Zentrum der V. 15-26 ist dagegen das Wiederkommen Jesu zu den Seinen. Korrespondierend wird das Motiv der Liebe zu Jesus und des Geliebtwerdens vom Vater entfaltet. Folge und Ausdruck dieser Liebe ist die Sendung des Geist-Beistandes durch den Vater, der nach dem Fortgang Jesu an dessen Stelle treten und dessen Funktion übernehmen wird (l4,16f.25f). Fortgang und Wiederkommen Jesu sind aber bereits in der Einleitung (V. 1-3) aufeinander bezogen. Kapitel 14 schließt in V. 27-31 mit der Zusage eines Friedens, der alle menschlichen Vorstellungen von Frieden übersteigt. Es ist der göttliche Shalom, der auf das umfassende und letztlich endzeitliche Heil der Menschen zielt. Eben diesen Frieden wird der Auferstandene und Verherrlichte dann am Ostertag seinen verängstigten Jüngern nochmals zusprechen (20,19.21). Er ist die einzig tragfähige Grundlage für Ruhe und Unverzagtheit innerhalb der feindlichen und ungläubigen Welt, mit der nicht nur die Jünger durch die hereinbrechenden Passionsereignisse konfrontiert werden, sondern der sich auch die joh Gemeinde nach Ostern weiterhin ausgesetzt sieht (15,18-16,4a). In 14,2f verarbeitet Joh offensichtlich eine ihm bekannte Tradition. Dafür sprechen zum einen die singuläre Wortwahl bzw. die singulären Metaphern (Haus des Vaters; viele Wohnungen; einen Platz bereiten u.a.). ZU1;ll anderen wird diese Vermutung dadurch gestützt, dass joh sonst nicht die Vorstellung von der endzeitlichen Wiederkunft Christi vom Himmel her (vgl. etwa 1Thess 4,16f; Mk 13,26fparr.) bemüht wird. Allerdings kennt der Verfasser des JohEv durchaus eine futurische Eschatologie im Sinne eines künftigen Gerichts (3,18; 5,24.26-29 [hier: durch den Menschensohn]). Daher wirkt die Aufnahme der Tradition nicht wie ein Fremdkörper. In 14,23 wird allerdings geradezu seitenverkehrt - das Motiv der himmlischen Wohnungen aus 14,2f wieder aufgegriffen. Während nämlich nach 14,2f Jesus die Seinen zu sich in den himmlischen Bereich holt, nachdem er dort für sie Wohnungen vorbereitet hat, kommen nach 14,23 Vater und Sohn vom himmlischen Bereich hinab, um bei den Glaubenden Wohnung zu nehmen. Die Metapher in 14,23 gründet in der alttestamentlichen Vorstellung des Wohnens Gottes bei seinem Volk, die in Ex 25,8 kultisch verstanden ist: "Macht mir ein Heiligtum! Dann werde ich in ihrer Mitte wohnen" (vgl. 29,45; Lev 26,11). In prophetischer Tradition wird diese Vorstellung dann auf die Endzeit bezogen: "Ich schließe mit ihnen einen Friedensbund; es soll ein ewiger Bund sein. Ich werde sie zahlreich machen. Ich werde mitten unter ihnen fur immer
3.5. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern
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mein Heiligtum errichten, und bei ihnen wird meine Wohnung sein. Ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein" (Ez 37 ,26f; vgl. Sach 2,14; Offb 21,3.22f [das himmlische Jerusalem, das auf die Erde herabkommt, als Wohnstatt Gottes!]). Angesichts dieses traditionsgeschichtlichen Hintergrundes und angesichts des Rückbezuges auf 14,3 dürfte auch 14,23 auf die noch ausstehende endzeitliehe Vollendung zielen. Von der endzeitlichen Wiederkunft des Verherrlichten zu unterscheiden ist das Kommen des Geistes der Wahrheit (14,17) bzw. des Heiligen Geistes (14,26). In 14,16.26 wird er jeweils in seiner Funktion als Beistand (Paraklet) bezeichnet. Das griechische Wort Paraklet (parakletos) bedeutet wörtlich übersetzt der Herbeigerufene. Verwendet wird es im profanen Bereich vor allem im juristischen Kontext. Hier bezeichnet es den Anwalt, der vom Angeklagten als Rechtsbeistand zur Verteidigung herbeigemfen wird (vgl. im Lateinischen: advocatus). Doch kann es auch außerhalb rechtlicher Zusammenhänge im weiteren Sinn verwendet werden für jemanden, der für jemand Anderen Fürsprache einlegt bzw. sich helfend an die Seite eines Schutzbedürftigen stellt. Im Frühjudentum erfolgt eine Übernahme des Begriffs Paraklet als LehnwOli ins Hebräische bzw. Aramäische, wo er vor allem im religiösen Kontext begegnet. Näherhin bezeichnet er hier personale (etwa Propheten, Gerechte oder Engel) wie auch nichtpersonale (etwa gute Werke oder Buße) Fürsprecher vor Gort. Erst sekundär erfolgte dann die Erweitemng um die aktivischen Bedeutungsnuancen des Tröstens, Ermutigens oder Mahnens.
Dieser Geistparaklet soll nun Joh 14,16b zufolge bis in die Ewigkeit mit (V. 16) bzw. bei und in (V. 17) den Gläubigen sein. Er ist für sie also gleichermaßen schützender und stärkender Beistand sowie ihnen innewohnender und vertrauter Wegbegleiter. Beachtung verdient, dass in 14,16 ausdrücklich von einem anderen Beistand die Rede ist, um den Jesus den Vater bitten will. Das heißt also: Dieser andere Beistand soll die Funktion des von Gott gesandten Sohnes in der Zeit zwischen der Verherrlichung J esu am Kreuz und seiner Wiederkunft erfüllen. Daher erfolgt also im JohEv sofort am Ostertag die von Jesus in den Abschiedsreden zugesagte Geistsendung (20,22), und mit dieser Geistsendung beginnt eine Zeitphase, die auf die noch ausstehende Parusie ausgerichtet ist (vgl. auch 14,3.23). Auf die Geistsendung durch den Auferstandenen, die in 20,19-23 auf der Ebene der erzählten Welt szenisch ausgestaltet wird, dürfte auch die Aussage von 14,18-20 zielen, die unmittelbar an den 1. Parakletspruch anschließt: Vor dem Waisenstatus in der Zeit zwischen seiner Auferstehung und Wiederkunft bewahrt Jesus selbst seine Jünger, indem er ihnen den anderen Beistand zueignet, der an seine Stelle tritt. Denn die Begegnung mit dem Auferstandenen am Ostertag begründet gerade noch kein dauerhaftes Zusammensein mit ihm. Dieses wird in 14,3.23 erst für die Zeit der endzeitlichen Vollendung in Aussicht stellen. Andererseits bricht mit Jesu Auferstehung bereits die Endzeit anfanghaft in diese Welt ein, so dass 14,20 durchaus zutreffend auf den Ostertag mit der endzeitlich gefärbten Formulierung "an jenem Tag" vorausblickt.
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
14,26 konkretisieli nun noch die Funktion des Geistparakleten, der die Glaubenden in der Zeit bis zur Wiederkunft Jesu Christi an seiner Statt begleiten soll: Es ist ein Lehren und Erinnern an alles, was Jesus gesagt hat. Gemeint ist damit keineswegs die Gewährleistung eines bloß rückblickenden, konservierenden Wissens um das Wirken Jesu. Vielmehr geht es um eine vertiefende und zugleich aktualisierende Erschließung seiner Person und Botschaft, die die Glaubenden zu neuen, vom Geist gewirkten Erkenntnissen fuhren soll. Mit der Aufforderung zum Aufbruch ("Steht auf, wir wollen weggehen von hier!") in 14,31b scheinen die joh Abschiedsreden an ihr Ende gekommen zu sein. Entsprechend unvermittelt und hart wirkt der unmittelbare Anschluss der Bildreden vom Weinstock und den Reben, die mit 15,1 einsetzen. Dies zusammen mit der Beobachtung, dass 18,1 nahtlos an 14,31b anschließt, ließ die joh Abschiedsreden zu einer beliebten literarkritischen Spielwiese werden. Die einflussreichsten Erklärungsmodelle seien kurz genannt und bewertet: 1. Die uns überlieferte Gestalt der joh Abschiedsreden ist nicht ursprünglich, sondern Ergebnis späterer Textumstellung (etwa R. Bultmann). Jeder Rekonstruktionsversuch der "ursprünglichen" Textfolge muss Joh 14,1-31 an das Ende der joh Abschiedsreden stellen. Dies nötigt aber dazu, das Gebet Jesu in Joh 17 als den klar erkennbaren Höhepunkt der Komposition der Abschiedsreden von seiner exponierten Stellung zu verdrängen. Zudem ist zu fragen, warum man überhaupt eine Umstellung vorgenommen haben sollte, mit der man sich die Schwierigkeit der Trennung von 14,31b und 18,1 durch einen größeren Redenkomplex einhandelte. 2. Joh 15-17 sind Nachtrag einer späteren Redaktion, die bewusst Korrekturen an der Vorlage vornehmen wollte (etwa R. Schnackenburg, J. Becker). Dieses Erklärungsmodell muss freilich dem Redaktor ein höchst ungeschicktes Vorgehen unterstellen. Warum sollte er es versäumt haben, 14,31 b einfach zu streichen oder alternativ unmittelbar vor 18,1 zu platzieren? Zudem ist es schwierig, den redaktionellen Charakter der Kapitel 15-17 auch inhaltlich überzeugend nachzuweisen. 3. Der jetzige Text Joh 13,31-17,26 ist Ergebnis eines Relecture-Prozesses (etwa 1. Zumstein; U. Wilckens). Dies bedeutet, dass ein Grundtext durch Ergänzungen weiter geschrieben wurde, die bedingt waren durch eine veränderte Situation oder durch eine vertiefte theologische Reflexion. Im Unterschied zu These 2 betrachtet das Relecturemodell Joh 15-17 also nicht als bewusste Korrektur von Joh 13,31-14,31. Zudem wird die Fortschreibung auch eher einer Gruppe (joh Schule) als einer Einzelperson zugewiesen. Grundsätzlich gelten aber auch hier die gleichen kritischen Einwände wie gegen These 2. Eine plausible und auch am Textbefund verifizierbare Erklärung des Problems bietet sich dagegen an, wenn - wie in der neueren Johannesforschung immer öfter vertreten - eine Kenntnis der MkEv bei Verfasser und Adressaten des JohEv vorausgesetzt werden darf. Zunächst einmal entnahm Joh dem MkEv, dass Jesus auf dem Weg zum Ölberg mit den Jüngern ein Gespräch über ihr bevorstehendes Versagen und ihre nachösterlichen Perspektiven geführt hatte (Mk 14,26-31 ~ 3.6.1.). Insbesondere die nachösterlichen Perspektiven bilden aber einen Themenschwerpunkt der joh Abschiedsreden. Hinzu kommt, dass die von Joh nicht rezipierte Getsemaneszene in Mk 14,42 mit den Worten schließt: Steht auf, lasst uns gehen! (vgl. Joh 14,31b) Siehe, der mich verrät, ist nahe (vgl. Joh 14,30b)." Die unmittelbar anschließende Szene der Gefangennahme wird aber bei Mk eingeleitet mit den Worten "Und alsbald, während er noch redete ... " (Mk 14,43). Dem Markustext konnte der Verfasser des JohEv also entnelunen, dass Jesus in der Phase zwischen dem Ende des eigentlichen Mahles und der Begegnung mit dem Verhaftungstrupp mit seinen Jüngern wiederholt gesprochen hatte. Die Getsemaneszene konnte und wollte er aufgnmd seines sem' spezifischen Jesusbildes nicht übernehmen (~ 3.5.4.1.). Den Aufbruchsbefehl Mk 14,42, der damit neben 12,27 und 18,11 als weiteres Indiz für die joh Kenntnis der mk Getsemaneszene gewertet werden darf, aber be-
3.5. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern
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trachtete Joh offensichtlich angesichts der Fortfiiluung in Mk: 14,43 als geeigneten Anknüpfungspunkt, um noch weitere Abschiedsworte hinzuzufiigen. Im Unterschied zu Mk: verlagert er diese Abschiedsworte allerdings in den Abendmahlssaal hinein. Erzählerisch geschickter wäre es zweifellos gewesen, wenn er sie als Unterweisung auf dem Weg zum Verhaftungsort gestaltet hätte.
Das Bleiben in der Liebe Jesu (15,1-17) Der Abschnitt 15,1-17 ist zweigeteilt: 15,1-8 entwickeln aus dem Offenbarungswort Jesu "Ich bin der Weinstock" (V. la) eine Bildrede, die das Verhältnis zwischen Jesus und seinen Jüngern thematisiert. Im Unterschied zum vorausgehenden Teil der Abschiedsreden (13,31-14,31) und im Unterschied zu 16,4b-17,26 steht jetzt bis 16,4a nicht die vorösterliche Perspektive des Abschieds und der Verheißung im Zentrum. Vielmehr liegt der Akzent nun auf der nachösterlichen Perspektive der bleibenden Verbundenheit und (ab 15,18) auf der Schicksalsgemeinschaft zwischen Christus und den Seinen. Die Bildrede in 15,1-8 steht motivgeschichtlich ganz in alttestamentlich-frühjüdischer Tradition, in der Israel als der von Gott gepflanzte Weinberg gilt, den dieser hegt und pflegt, ohne dass der Weinberg jedoch immer die erwarteten Früchte bringt (vgl. Jes 5,1-7; 27,2-6; Jer 2,21; 5,10; 6,9; Ez 15,1-8 u.ö.). Dominiert wird diese Bildrede durch die Begriffe "bleiben" (V. 4 [3x], V. 5.6.7 [2x]) und "Frucht bringen" (V. 2 [3x] 4.5.8): Im verherrlichten Christus zu bleiben, ist die Voraussetzung fruchtbarer und damit wahrer Jüngerschaft. 15,9-17 führt die Thematik des Fruchtbringens vertiefend fort, verzichtet aber auf die zuvor bemühte Metaphorik. Nun wird deutlich, dass die Liebe der Jünger untereinander die entscheidende Frucht ist, die aus der Verbundenheit mit dem verherrlichten Christus erwächst. Sie konkretisiert sich im Gehorsam gegenüber Jesu Auftrag (V. 14). Ihren verpflichtenden Maßstab hat sie in der hingebenden Liebe Jesu für die Seinen (V. 12f), die schon in der Fußwaschung symbolisch vorweggenommen wurde. Der Hass der Welt in der Verfolgung der Jünger (15,18-16, 4a) 15,18-16,4a sind antithetisch auf 15,1-8 bezogen: Der Erfahrung, die aus der innigen Glaubens- und Lebensgemeinschaft zwischen Christus und der Jüngerschaft erwächst, tritt nun die Erfahrung des Widerstandes und des Hasses der (ungläubigen) Welt gegenüber. Hier dürfte sich sehr konkret die aktuelle Gemeindesituation als eine Situation der Bedrängnis und auch der Ausgrenzung aus Sicherheit gewährenden religiösen und sozialen Bindungen (Synagogenausschluss 16,2!) widerspiegeln. Dem widerspricht nicht die Beobachtung, dass sich der Verfasser des JohEv in 15,18-16,4a der bereits ausgebildeten und in den synoptischen Evangelien breit bezeugten Topik von Verfolgungsaussagen bedient (vgl. etwa 15,18fmit Mk 13,13 paff; Mt 10,22; 15,20 mit Mt 10,24f; Lk 6,40; 15,21 mit Lk 21,12, ähnlich: Mk 13,9; Mt 10,18; 15,26f mit Mk 13,11; Mt 10,19f; Lk 12,11f). Sowenig zu bezweifeln
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
ist, dass hinter dieser Verfolgungstopik reale Erfahrungen stehen, die ihre Ausbildung veranlasst haben, sowenig dürfte der Verfasser des JohEv sie ohne reale Erfahrungen rezipiert haben. Vielmehr betrachtet er sie als angemessene Ausdrucksform, die Situation seiner Gemeinde zu benennen. Diese seine Gemeinde versteht er als Schicksalsgemeinschaft mit Christus, die aus der zuvor dargelegten Verbundenheit mit ihm erwächst. Zugleich aber ist es diese liebende Verbundenheit mit Christus und untereinander, die den Hass der Welt ertragen lässt. Der Beistand des Geistes als Ankläger der Welt und die Rückkehr Jesu (16,4b-33) In 16,4b-33 dominiert wieder die Abschiedssituation, die in Kapitel 15 etwas in den Hintergrund gerückt war. Zentrales Thema ist wie schon in 13,3114,31 der Fortgang Jesu, und zwar im Blick auf die daraus für die Jünger erwachsenden Konsequenzen. 16,4b-15 wird der Fortgang Jesu als Voraussetzung für die Sendung des Geistparakleten herausgestellt. Der Geistparaklet erfüllt eine zweifache Funktion: Die Welt gilt es zu überführen und zu richten (V. 8-11); den Jüngern gilt es, Wegführer in der umfassenden Wahrheit zu sein. Dieser Vorgang zielt auf eine Änderung der subjektiven Aufnahmefähigkeit der Jünger, nicht auf eine objektive Vervollständigung der Wahrheit, er bewirkt keinen Offenbarungszuwachs, sondern einen Erkenntniszuwachs. Die Passage 16,16-28 knüpft deutlich an 14,18-20 an. Sie blickt voraus auf die durch das Osterereignis veränderte Situation der Jünger. Allerdings wird zwischen den - auf der Ebene der erzählten Welt unmittelbar bevorstehenden - Passionsereignissen und der österlichen Erfahrung des Auferstandenen eine (kurze) Phase der Trauer liegen (V. 16-24). V. 25-28 fassen die ~ituation der dank des Geistparakleten veränderten Erkenntnisfähigkeit der Jünger nach Ostern ins Auge. Sie präzisieren die V. 16-24, und zwar insofern, als die veränderte Situation durch die veränderte Erkenntnisfähigkeit erklärt wird. Ein beredtes Zeugnis für diese veränderte Erkenntnisfähigkeit ist das JohEv selbst. "An jenem Tag" (V. 26) zielt somit auf den Beginn einer Zeitphase, die mit dem Ostertag beginnt und sich bis zur Wiederkunft erstreckt. Es ist die Phase, in der die joh Gemeinde (und alle Glaubenden bis heute) leben. 16,29-33 beenden den direkt an die Jünger gerichteten Teil der Abschiedsreden. Die Verse lassen noch einmal sehr prägnant das Verwobensein von nachösterlicher Perspektive und der erzählten Situation aufscheinen, das die joh Abschiedsreden insgesamt kennzeichnet. Das Votum der Jünger ist aus nachösterlicher Perspektive gesprochen Die Antwort Jesu (V. 31-33) führt zurück in die konkrete Situation der bevorstehenden Passion. Diese Situation wird gerade nicht durch das Verständnis der Jünger, sondern durch ihre Flucht und Zerstreuung (V. 32; vgl. Mk 14,27 par. Mt 26,31) gekennzeichnet sein.
3.5. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern
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Jesu Fürbittefür die Seinen (17,1-26) Kapitel 17 markiert den Höhepunkt der Abschiedsreden, indem Jesus sich nun direkt im Gebet an seinen Vater wendet. Die V. 1-8 bieten eine rückblickende Zusammenfassung des Wirkens Jesu im Gehorsam gegenüber Gottes Willen und können sachgerecht als eine Art "Rechenschaftsbericht" bezeichnet werden. Die V. 9-19 umfassen eine Bitte Jesu für die Jünger, die ihn - auf der Ebene der erzählten Welt - als engste Gefährten begleitet haben. Diese Bitte zielt auf Beistand und Schutz angesichts ihres Gegenübers zur (ungläubigen) Welt. Die V. 20-23 schließen eine Bitte an für die, die durch das Zeugnis der Jünger künftig an Jesus glauben werden. Damit zielt diese Bitte Jesu direkt in die Gegenwart der joh Gemeinde und kann als "Herzstück" des Gebetes Jesu an den Vater bezeichnet werden. Im Zentrum dieser Bitte steht der Gedanke der Einheit. Diese Einheit dürfte in der joh Gemeinde durch innergemeindliche Kontroversen (Eucharistieverständnis, vgl. 6,51-60!) und durch die Abwanderungsbewegung hin zum sich formierenden Mehrheitsjudentum (vgl. 6,66-69) aktuell gefährdet sein. Die V. 2023 haben vor diesem Hintergrund auch eine sehr emotionsgeladene Pragmatik: Der Gemeinde soll bewusst werden, dass diese Kontroversen gegen das Vermächtnis Jesu im Angesicht seines Todes verstoßen. Dass diese Pragmatik von bleibender Relevanz ist, braucht angesichts der Kirchenspaltungen im Laufe der Geschichte wohl nicht eigens betont zu werden. Die V. 24-26 markieren den Abschluss der Fürbitte Jesu für die Seinen. V. 24 blickt voraus auf die endzeitliche Vollendung und greift damit der Sache nach 14,3.23 auf. V. 25 untermauert noch einmal den Gegensatz zwischen Jesus und seinen Jüngern einerseits sowie dem Kosmos andererseits. Dieser Gegensatz entzündet sich an der Erkenntnisfähigkeit bzw. -bereitschaft, was Gott und sein Handeln in Jesus von Nazaret betrifft. Die Jünger bilden mit Jesus gleichsam eine Erkenntnisgemeinschaft, die in V. 26 in Verbindung gestellt wird zu der Liebesgemeinschaft der Jünger, die sie mit der Liebe zwischen Vater und Sohn und untereinander zusammenschließt (15,9-17! vgl. 13,34f; 14,21). Das Motiv der Liebe setzt also den entscheidenden Schlusspunkt hinter das Gebet Jesu zum Vater und hinter die Abschiedsreden insgesamt, damit aber auch hinter das gesamte Wirken des joh Jesus, das im letzten Mahl mit den Seinen noch einmal wie in einem Brennglas gebündelt wird.
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
3.6. Der Gang zum Ölberg und die Ansage der Verleugnung Jesu durch Petrus 3.6.1. Die markinische Darstellung: Mk 14,26-31
Im Anschluss an das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern erfolgt ein Ortswechsel der Mahlteilnehmer zum Ölberg. In der mk Passionserzählung steht dieser Ortswechsel ganz im Zeichen eines Weggesprächs zwischen Jesus und seinen Jüngern, bei welchem sich freilich Petrus in den Vordergrund drängt. V. 26 weist Mk eine Brückenfunktion zu. Einerseits blickt dieser Vers auf den Abschluss des Mahles zurück. Denn er erwähnt, dass die Mahlteilnehmer vor ihrem Aufbruch Lobgesänge angestimmt haben, die bereits im 1. Jh. n.ehr. - wie Philo bezeugt (Specleg 2,148) - zusammen mit Gebeten zu den traditionellen Gepflogenheiten der Passamahlfeier gehörten. Andererseits blickt V. 26 mit der Erwähnung des Ölbergs voraus auf das Ziel des Weges, den Jesus und seine Jünger nun antreten. Das Weggespräch selbst wird dann in V. 27a von Jesus eröffnet, der seine Jünger zunächst mit zwei Voraussagen konfrontiert. Die erste Voraussage betrifft das Jüngerversagen beim unmittelbar bevorstehenden Passionsgeschehen (V. 27b). Wie die Jünger im gesamten Verlauf der mk Jesusgeschichte unverständig geblieben sind gegenüber dem notwendigen Zusammenhang zwischen dem Leiden und der Hoheit Jesu genauso wie zwischen dem Leiden Jesu und ihrer Leidensnachfolge (~ 3.1.1.), so wird eben dieses jetzt beginnende Leiden Jesu für sie zum anstößigen Ärgernis werden. Nicht nur, dass es gewiss so kommen wird, sondern auch, wie sich das Anstoßnehmen der Jünger konkret zeigt, leitet der mk Jesus in V. 27c aus der Schrift ab. Genauer beruft e.r sich auf Sach 13,7, und zwar in einer auch in Qumran belegten Textversion der Septuaginta: Ich werde den Hirten schlagen, und die Schafe werden sich zerstreuen.
Mit diesem Prophetenwort wird also das bevorstehende Jüngerversagen