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Das Buch Auf einer Parallelerde haben Neandertaler eine grundlegend andere Zivilisation entwickelt. Als der Quantenphysiker Ponter Boddit aus dieser Welt nach Kanada, in einen Schwerwassertank, versetzt wird, können die Wissenschaftler sein Leben nur mit knapper Not retten. Die Sprachbarriere ist schnell überwunden - dank eines Innenohr-Implantats, das jeder Neandertaler trägt. Aber dieser computerisierte Schutzengel kann nicht die kulturellen Gegensätze auslöschen, die einen unterschiedlichen Umgang mit Überbevölkerung, Religiosität und Sexualität mit sich bringen ... Der Autor Robert J. Sawyer, geboren 1960 in Ottawa, gehört zu den führenden SF-Autoren unserer Zeit. Nach dem Studium im Fachbereich >Funk und Fernsehen< an der York-Universität, Toronto, begann er 1983 eine Laufbahn als populärwissenschaftlicher Drehbuchautor. 1990 erschien sein erster SF-Roman, dem mittlerweile sechzehn weitere folgten. Sie wurden bisher in elf Sprachen übersetzt und haben mehr als dreißig Preise gewonnen. Für »Die Neanderthal-Parallaxe« erhielt er den Hugo Award 2003. Sawyer arbeitet regelmäßig für das kanadische Fernsehen und ist ein gern gesehener Gast in Talkshows. Er lebt mit seiner Ehefrau Carolyn Clink in Mississauga bei Toronto.
Robert J. Sawyer
DIE NEANDERTHAL-PARALLAXE Roman Deutsche Erstveröffentlichung Die amerikanische Originalausgabe Hominids. Volume One of The Neanderthal Parallax erschien ursprünglich in Fortsetzungen von Januar bis April 2002 in >Analog Science Fiction and FactPing< des Neutrino-Detektors hörte. Der kurze Alarmton ertönte etwa ein Dutzend Mal am Tag, und obwohl es normalerweise das Aufregendste war, was hier unten passierte, schaute sie dennoch nicht von ihrer Cosmopolitan auf. Aber dann ertönte das Signal erneut, und noch einmal, und schließlich erfüllte ein ununterbrochener, gleichmäßiger Ton, wie beim EKG eines Sterbenden, den Raum. Louise erhob sich von ihrem Tisch und ging zum Schaltpult des Detektors hinüber. Darauf stand ein gerahmtes Foto von Stephen Hawking - leider nicht signiert. Hawking hatte dem Observatorium vor einigen Jahren einen Besuch abgestattet, 1998, bei der großartigen Eröffnung. Louise klopfte auf den Lautsprecher, um zu prüfen, ob er hinüber war; aber das Piepen hielt an. 3 Paul Kiriyama, ein dürrer Diplomand, kam von irgendwo aus der weiten unterirdischen Anlage in den Kontrollraum geschossen. Normalerweise war er in Louises Gegenwart ziemlich nervös,
doch dieses Mal hatte es ihm die Sprache nicht verschlagen. »Was ist hier los, zum Teufel?«, fragte er. Auf dem Kontrollpult des Detektors waren 98 mal 98 Lämpchen, entsprechend der 9604 Lichtsensoren, zu einem Gitter angeordnet - und alle waren hell erleuchtet. »Vielleicht hat jemand versehentlich die Scheinwerfer in der Höhle eingeschaltet«, erwiderte Louise, aber es klang, als zweifele sie an ihren eigenen Worten. Endlich verstummte das ununterbrochene Piepen. Paul schaltete jene Monitore ein, die mit den Unterwasserkameras innerhalb der Observationskammer verbunden waren. Die Bildschirme bildeten fünf vollkommen schwarze Rechtecke. »Naja, wenn die Scheinwerfer an waren«, meinte er, »sind sie jetzt wieder aus. Ich frage mich, was ...« »Eine Supernova!«, verkündete Louise und schlug die Hände mit den langen Fingern zusammen. »Wir sollten beim Central Bureau for Astronomical Telegrams anrufen, Vorranggespräch.« Obgleich das SNO eigentlich zum Studium der Sonnen-Neutrinos eingerichtet worden war, konnte es natürlich Teilchen von überall her im Universum aufspüren. Paul nickte, warf sich in einen Stuhl, rollte zum nächsten Rechner und wählte sich beim Bureau ein. Ein Bericht wäre die Sache wohl wert gewesen, selbst wenn sie sich noch nicht sicher waren. Eine neue Folge von >Pings< ertönte vom Kontrollpult. Louise sah auf die Warnlämpchen; mehrere hundert Lichter leuchteten auf. Merkwürdig, dachte sie. Neutrinos von einer Supernova sollten nur aus einer bestimmten Richtung kommen ... »Vielleicht ist was mit dem Apparat nicht in Ordnung?«, meinte Paul, der zum gleichen Schluss gekommen war. »Oder die Verbindung zu einem der Photosensoren brennt durch, und die anderen empfangen den Lichtbogen.« 41 Ein Knirschen und Ächzen schnitt durch die Luft. Es kam von nebenan - vom Raum oberhalb des gigantischen Detektorraums. »Wir sollten wohl doch die Scheinwerfer anschalten«, meinte Louise. Das Ächzen hielt an. Es klang wie ein Untier, das in der Dunkelheit umherschlich. »Aber was, wenn es eine Supernova ist?«, fragte Paul. »Der Detektor ist nutzlos, wenn die Lampen brennen, und ...« Ein weiteres lautes Krachen. Jetzt klang es wie ein Hockeyspieler beim Schlagschuss. »Schalt die Lichter ein!« Paul entnahm die Schutzabdeckung über dem Schaltknopf und betätigte den Schalter. Die Bilder auf den Monitoren flammten grell auf, wurden dann wieder dunkler und zeigten ... »Mon dieu!«, entfuhr es Louise. »Da ist was im Tank mit dem schweren Wasser!«, meinte Paul. »Aber wie konnte ...?« »Hast du das gesehen?«, fragte Louise. »Es bewegt sich, und ... mein Gott, es ist ein Mensch!« Das Krachen und Stöhnen ging weiter, und dann ... Sie sahen es auf den Monitoren und hörten es durch die Wände. Die gigantische Kunststoffkugel brach entlang mehrerer Nahtstellen auseinander. »Gottverdammt noch mal!«, fluchte Louise, der klar wurde, dass sich das schwere jetzt mit dem normalen Wasser in der fassförmigen Kaverne mischen musste. Ihr Herz raste. Eine halbe Sekunde lang wusste sie nicht, ob sie sich mehr Sorgen um die Zerstörung des Detektors oder um den Mann machen sollte, der offensichtlich darin ertrank. »Komm schon!«, drängte Paul, der bereits zur Tür rannte, die zum Bereich über der Beobachtungskammer führte. Die Kameras waren an Videorekorder angeschlossen, ihnen würde nichts entgehen. »Un moment!«, sagte Louise. Sie schoss durch den Kontrollraum, schnappte sich ein Telefon und drückte die Nummer 4 für einen Nebenanschluss, die sie der Liste an der Wand entnommen hatte.
Es klingelte zweimal. »Dr. Montego?«, fragte Louise, als sich der Arzt der Mine mit jamaikanischem Akzent meldete. »Hier ist Louise Benoit, vom SNO. Wir brauchen Sie sofort hier unten im Neutrino-Observatorium. Da ertrinkt gerade jemand in der Detektorkammer.« »Jemand ertrinkt?«, erwiderte Montego. »Aber wie konnte dort jemand reinkommen?« »Wissen wir nicht. Beeilung, bitte!« »Bin schon unterwegs«, sagte der Arzt. Louise hängte ein und rannte zu eben jener blauen Tür, durch die Paul zuvor verschwunden und die hinter ihm ins Schloss gefallen war. Die Aufschrift darauf kannte sie in- und auswendig:
TÜR GESCHLOSSEN HALTEN! Achtung, Hochspannung! Lebensgefahr! Ab hier nur noch genehmigte elektronische Geräte Luftqualität überprüft - Eintritt gestattet Louise packte den Griff, zog die Tür auf und lief auf das weite metallene Deck hinaus. Auf einer Seite befand sich eine Falltür, die in die eigentliche Detektorkammer hinabführte; die letzten Arbeiter waren hier herausgekommen, und sie war hinter ihnen verschlossen worden. Zu Louises Erstaunen war sie nach wie vor mit vierzig Schraubbolzen versiegelt - natürlich sollte das auch so sein, aber es war schlicht ein Ding der Unmöglichkeit, dass jemand auf einem anderen Weg als durch diese Falltür hätte eindringen können ... Die Wände waren mit dunkelgrünem Kunststoff verkleidet, der Felsstaub fernhalten sollte. Dutzende Isolierrohre und Polypropylenleitungen liefen an der Decke entlang, Stahlträger folgten der Form des Raumes. An einigen Wänden reihte sich Rechner an Rechner; an anderen standen Regale, in denen Paul verzweifelt herumwühlte. Wahrscheinlich 5
suchte er eine Zange, die groß genug war, um damit die Bolzen zu lösen. Metall kreischte gequält. Louise rannte zur Falltür - nicht, dass sie diese mit den bloßen Händen hätte öffnen können. Ihr Herz vollführte einen Satz. Die Bolzen sausten in die Höhe und veranstalteten dabei einen Lärm wie Maschinengewehrfeuer. Die Falltür sprang auf und schlug dröhnend auf den Metallboden. Louise war beiseite gesprungen, aber das kalte Wasser, das wie ein Geysir herausgeschossen kam, durchnässte sie von Kopf bis Fuß. Der oberste Teil der Detektorkammer war mit Stickstoff gefüllt gewesen, der jetzt herausströmte. Der Wasserstrahl sank rasch in sich zusammen. Sie ging zu der Öffnung und sah hinab, wobei sie versuchte, möglichst wenig zu atmen. Das Innere wurde von den Scheinwerfern, die Paul eingeschaltet hatte, erhellt. Das Wasser war glasklar, Louise konnte die ganzen dreißig Meter bis auf den Grund hinab sehen. Sie erkannte die gigantischen gewölbten Teile der Kunst-stoffkugel. Der Brechungsgrad des Kunststoffs war fast identisch mit dem des Wassers, so dass es schwierig war, etwas deutlich zu erkennen. Die geborstenen Einzelteile waren mit synthetischen Seilen an der Decke befestigt, sonst wären sie bereits auf den Boden der geodätischen Hülle gesunken. Das Sichtfeld war durch die Falltür eingeschränkt, Louise konnte die Person, die dort ertrank, nicht entdecken. »Merde!« Die Scheinwerfer in der Kammer waren erloschen. »Paul!«, rief Louise. »Was tust du da?« Pauls Stimme - die jetzt wieder aus dem Kontrollraum kam - war über dem Rauschen der Lüftung und dem Schwappen des Wassers in der gewaltigen Kaverne kaum zu verstehen. »Wenn er noch lebt«, rief er zurück, »wird er durch die Falltür die Lichter sehen.« Louise nickte. Paul ging von einem Mann aus. Sie konnten es nicht wissen. Aber wer immer dort trieb und ertrank, müsste jetzt ein einzelnes erleuchtetes Quadrat von einem 5 Meter Kantenlänge in einer endlosen Dunkelheit erkennen können.
Einen Augenblick später kehrte Paul zurück. Louise warf erst ihm, dann wieder der offenen Falltür einen Blick zu. Von dem Mann war immer noch nichts zu sehen. »Einer sollte runter«, meinte sie. Pauls Mandelaugen wurden groß. »Aber ... das schwere Wasser ...« »Was anderes bleibt uns nicht übrig«, erwiderte Louise. »Wie gut kannst du schwimmen?« Paul wirkte verlegen. Alles wollte er, wie sie wusste, nur keinen schlechten Eindruck bei ihr hinterlassen, aber ... »N-nicht besonders«, stotterte er mit gesenktem Blick. Es war peinlich genug, dass Paul sie die ganze Zeit über anhimmelte, aber Louise konnte schlecht in ihrem blauen Nylonoverall vom SNO schwimmen. Darunter trug sie, wie fast alle anderen, die am SNO arbeiteten, lediglich ihre Unterwäsche. So tief unter der Erde war es tropische 40,6 Grad heiß. Sie schleuderte die Schuhe weg und öffnete dann den Reißverschluss vorn am Overall. Gottseidank trug sie heute einen BH - obgleich sie viel darum gegeben hätte, wenn es nicht gar so verführerische Spitze gewesen wäre. »Schalte die Scheinwerfer unten wieder ein«, sagte Louise. Es sprach für Paul, dass er sich prompt auf den Weg machte. Bei seiner Rückkehr war Louise längst durch die Falltür ins kalte Wasser geglitten; es war auf zehn Grad Celsius heruntergekühlt, um Bewuchs zu unterdrücken und das Rauschen der Lichtsensoren zu reduzieren. Plötzlich überkam sie Panik. Es war das jähe Gefühl, sehr hoch oben zu sein, ohne festen Boden unter den Füßen zu haben. Wassertretend hielt sie Kopf und Schultern noch in der Öffnung und wartete ab, bis der Anfall vorüberging. Anschließend holte sie drei Mal tief Luft, schloss den Mund und tauchte hinab. Beim Umherschauen konnte Louise alles deutlich erkennen, das Wasser brannte ihr nicht in den Augen. Sie suchte 6
diesen seltsamen Mann, aber die vielen Acrylteile behinderten ihre Sicht... Da! Er war tatsächlich nach oben getrieben. Zwischen der Wasseroberfläche und der darüberliegenden Etage gab es einen Spalt von vielleicht fünfzehn Zentimetern, der normalerweise mit reinem Stickstoff gefüllt war. Der Arme musste tot sein, drei Atemzüge reichten aus. Traurige Ironie: Er hatte sich, in der Hoffnung Luft zu finden, wahrscheinlich bis zur Oberfläche hochgekämpft und war von dem Gas, das er dort eingeatmet hatte, getötet worden. Mittlerweile hatte sich wahrscheinlich atembare Luft aus der offenen Falltür mit dem Stickstoff gemischt, aber für ihn kam vermutlich jede Hilfe zu spät. Erneut schob Louise Kopf und Schultern durch die Falltür hinauf. Sie sah Paul, der verzweifelt darauf wartete, dass sie etwas sagte - irgendetwas. Doch dazu war keine Zeit. Sie füllte ihre Lungen mit so viel Luft wie nur irgend möglich und tauchte erneut. Es gab nicht genügend Platz, um die Nase über Wasser zu halten, ohne sich ständig den Kopf am Metalldach zu stoßen. Der Mann war nur etwa zehn Meter entfernt. Louise schwamm los, legte die Distanz so rasch wie möglich zurück, und sah ... Eine Wolke im Wasser. Etwas Dunkles. Mon dieu! Es war Blut. Die Wolke umgab den Kopf des Mannes, so dass seine Züge nicht recht zu erkennen waren. Er rührte sich nicht. Wenn er noch lebte, war er gewiss bewusstlos. Louise verrenkte sich den Hals, um Mund und Nase in den engen Spalt zu stecken. Zaghaft atmete sie ein - jetzt war mehr als ausreichend atembare Luft vorhanden. Dann packte sie den Mann am Arm und drehte ihn herum - er war mit dem Gesicht nach unten dahingetrieben -, so dass seine Nase in den Spalt ragte. Keine Bläschen traten ihm aus dem Mund. Nichts deutete daraufhin, dass er noch atmete. 6
Louise zog ihn durchs Wasser. Das war harte Arbeit. Der Mann war ziemlich stämmig, vollständig bekleidet, und die Kleidung war mit Wasser vollgesogen. Louise stand unter Zeitdruck, aber sie registrierte, dass der Mann keinen Overall und keine Sicherheitsschuhe trug. Er konnte unmöglich einer der Bergmänner der Nickelmine sein, und obwohl sie nur einen flüchtigen Blick auf das Gesicht des Mannes geworfen hatte - ein Weißer mit blondem Bart -, sah sie, dass er auch nicht vom SNO war. Paul hockte neben der Falltür, steckte den Kopf ins Wasser und sah zu, wie sie und der Mann näherkamen. Unter anderen Umständen hätte Louise zunächst die verletzte Person aus dem Wasser gehievt und dann sich selbst. Aber die Falltür bot nicht genügend Platz für beide, und sowohl sie als auch Paul waren nötig, um diesen Hünen herauszuziehen. Louise ließ den Arm des Mannes los und steckte den Kopf durch die Falltür. Paul war inzwischen zurückgewichen. Sie schöpfte kurz Atem, dann drückte sie die Handflächen auf das nasse Deck und stemmte sich hoch. Erneut hockte sich Paul hin und half ihr. Der Mann war im Begriff davonzutreiben, aber Louise packte ihn am Arm und zog ihn zurück unter die Öffnung. Schließlich gelang es ihnen unter Aufbietung aller Kräfte den Verletzten aus dem Wasser zu ziehen. Er blutete stark aus einer Verletzung am Kopf. Sofort kniete Paul sich hin und begann mit der Mund-zu Mund-Beatmung. Bald war auch sein Gesicht blutverschmiert, da er regelmäßig nachsah, ob die breite Brust des Mannes sich bewegte. Inzwischen hatte Louise das rechte Handgelenk des Mannes gefunden und tastete nach dem Puls. Es gab keinen -nein, nein, warte mal! Da war einer! Da war ein Puls! Paul blies weiterhin Luft in die Lungen des Mannes, immer und immer wieder, und schließlich setzte dessen eigene Atmung keuchend wieder ein. Wasser und Erbrochenes 7 quollen ihm über die Lippen. Paul drehte ihm den Kopf zur Seite und die Flüssigkeit, die er ausstieß, ergoss sich aufs Deck, vermischte sich dort mit dem Blut und spülte einen Teil davon. Dennoch schien der Mann nach wie vor bewusstlos zu sein. Louise, klatschnass, fast nackt und immer noch vom kalten Wasser durchgefroren, gab ihrem Schamgefühl nach. Sie kämpfte sich wieder in ihren Overall und zog den Reißverschluss hoch - wobei ihr Paul zusah, auch wenn er vorgab, gerade eben dies nicht zu tun. Bis zu Dr. Montegos Ankunft würde es noch eine Weile dauern. Das SNO befand sich nicht bloß in zwei Kilometern Tiefe; es war darüber hinaus einen guten Kilometer vom nächsten Aufzug entfernt. Selbst wenn der Aufzugkäfig oben gewesen war - und dafür gab es keinerlei Garantie -, würde Montego immer noch über zwanzig Minuten benötigen, bis er hier wäre. Louise war der Ansicht, den Mann aus seiner nassen Kleidung herausholen zu müssen. Sie griff nach der Vorderseite seines dunkelgrauen Hemds, aber ... Es hatte keine Knöpfe - und keinen Reißverschluss. Es war anscheinend auch kein Pullover, obwohl es kragenlos war, und ... Ah, da waren sie! Versteckte Druckknöpfe oben auf den breiten Schultern. Louise versuchte, sie zu öffnen, doch es gelang ihr nicht. Sie warf einen Blick auf die Hose des Mannes. Das dunkle Olivgrün mochte im trockenen Zustand heller sein. Ein Gürtel war nicht zu sehen, stattdessen umgaben eine Reihe von Druckknöpfen und Falten den Bund ... Plötzlich kam Louise der Gedanke, dass der Mann vielleicht an der Caissonkrankheit litt. Die Detektorkammer war dreißig Meter tief; wer wusste denn, wie weit unten er gewesen oder wie rasch er aufgestiegen war? Der Luftdruck in einer solchen Tiefe betrug 130 Prozent des normalen Drucks. Das bedeutete, dass der Mann jetzt eine höhere 7 Sauerstoffkonzentration aufgenommen hatte als über der Erde und das wäre bestimmt von Vorteil. Man konnte nur abwarten. Der Mann atmete, und sein Puls schlug kräftiger.
Schließlich erhielt Louise Gelegenheit, dem Fremden richtig ins Gesicht zu sehen. Es war breit, aber nicht flach; vielmehr wichen die Wangenknochen stark zurück. Und seine Nase war gigantisch, hatte fast die Größe einer geballten Faust. Der Unterkiefer des Mannes war von einem dicken, dunkelblonden Bart bedeckt, glattes blondes Haar klebte ihm auf der Stirn. Seine Gesichtszüge erinnerten vage an einen Osteuropäer, zeigten jedoch nicht deren olivbraune Färbung, sondern erinnerten vielmehr an die eines Skandinaviers. Die weit auseinander stehenden Augen waren geschlossen. »Woher könnte er kommen?«, fragte Paul, der jetzt im Schneidersitz neben dem Mann hockte. »Niemand hätte hier runterkommen können, und ...« Louise nickte. »Und selbst wenn, wie hätte er in die versiegelte Detektorkammer gelangen sollen?« Sie hielt inne und kämmte sich das Haar aus den Augen - wobei ihr zum ersten Mal auffiel, dass sie ihr Haarnetz verloren hatte, während sie im Tank geschwommen war. »Weißt du, das schwere Wasser ist hinüber. Wenn er das hier überlebt, wird er sich einer Schadensersatzklage gegenüber sehen, die sich gewaschen hat.« Sie ertappte sich dabei, wie sie den Kopf schüttelte. Wer war dieser Mann? Vielleicht ein einheimischer Kanadier, ein Fanatiker - ein Indianer, der das Gefühl hatte, dass die Mine auf heiligem Grund und Boden lag? Aber das Haar des Mannes war blond, was unter den Einheimischen eher selten war. Ein Dummejungenstreich kam nicht in Frage, denn der Bursche schien so um die fünfunddreißig zu sein. Vielleicht war er ein Terrorist oder ein Kernkraftgegner? Doch obwohl die Atomic Energy of Canada Limited tatsächlich das schwere Wasser zur Verfügung gestellt hatte, spielten 8 Kernkraft und Radioaktivität hier vor Ort eigentlich keine Rolle. Wer er auch sein mochte, überlegte Louise, wenn er seinen Verletzungen erliegen würde, wäre er ein idealer Kandidat für den Darwin-Award. Das war klassisch angewandte Evolution: Eine Person tat etwas so unglaublich Dummes, dass es . sie das Leben kostete. 8
KAPITEL ZWEI Louise Benoît hörte, wie sich eine Tür öffnete. Jemand betrat den Raum über der Detektorkammer. »Huhuu!«, rief sie, um Dr. Montego auf sich aufmerksam zu machen. »Hier drüben!« Reuben Montego, ein kanadischer Jamaikaner Mitte dreißig, kam zu ihnen herübergeeilt. Er hatte sich den Kopf völlig kahl rasiert - was bedeutete, dass er die einzige Person war, die das SNO ohne Haarnetz betreten durfte, aber wie alle anderen einen Helm tragen musste. Der Arzt kauerte sich hin, drehte das linke Handgelenk des Verletzten und ... »Was zum Teufel ist das denn?«, fragte Reuben. Er sprach mit deutlichem Akzent. Louise sah es auch: etwas, das anscheinend in die Haut am Handgelenk des Mannes gepflanzt war; ein rechteckiger, hoch auflösender, matter Bildschirm von etwa acht mal zwei Zentimetern Größe. Eine Reihe von Symbolen war darauf zu erkennen, und das Symbol ganz links veränderte sich nahezu im Sekundentakt. Sechs kleine, jeweils verschieden gefärbte Perlen bildeten eine kleine Reihe unter dem Display, und etwas - vielleicht eine Linse - war am äußersten Ende des Gerätes, oben am Arm des Mannes, angebracht. »Eine seltsame Uhr?«, meinte Louise. Reuben ließ die Sache für den Augenblick auf sich beruhen. Er legte den Zeige- und Mittelfinger über die Speichenschlagader des Mannes. »Er hat einen recht ordentlichen Puls«, verkündete er. Daraufhin schlug er dem Mann leicht auf die Wange. Vielleicht gelangte er so rasch wieder zu Bewusstsein. »Komm schon«, sagte er ermutigend. »Komm schon. Aufwachen!« Schließlich regte sich der Mann. Er hustete heftig und weiteres Wasser spritzte ihm aus dem Mund. Dann öffnete er flatternd die Lider. Seine Iris waren von einem fesselnden
9 Goldbraun, wie Louise es noch nie zuvor gesehen hatte. Anscheinend benötigten seine Augen ein oder zwei Sekunden, bis sie sich an das Licht gewöhnt hatten, dann wurden sie riesengroß. Der Mann starrte Reuben völlig erstaunt an. Er drehte den Kopf, sah Louise und Paul und zeigte erste Anzeichen eines Schocks. Er bewegte sich ein wenig; vielleicht im Versuch, von ihnen wegzurücken? »Wer sind Sie?«, fragte Louise. Der Mann sah sie verständnislos an. »Wer sind Sie?«, wiederholte Louise. »Was wollten Sie da unten?« »Dar?«, erwiderte der Mann, und seine tiefe Stimme hob sich, als stellte er eine Frage. »Ich muss ihn ins Krankenhaus bringen«, sagte Reuben. »Er hat offensichtlich einen heftigen Schlag auf den Kopf bekommen. Wir müssen seinen Schädel röntgen.« Der Mann schaute sich auf dem Metallboden um, als könne er nicht glauben, was er da sah. »Dar barta dulb tinta?«, sagte er. »Dar hoolb k a tapar?« »Was für eine Sprache ist das?«, fragte Paul Louise. Sie zuckte mit den Achseln. »Ojibwa?«, meinte sie. Unweit der Mine lag ein Reservat der Ojibwa. »Nein«, erwiderte Reuben kopfschüttelnd. »Monta has palap ko«, ließ der Mann vernehmen. »Wir verstehen Sie nicht.«, versuchte Louise dem Fremden zu erklären. »Sprechen Sie Englisch?« Nichts. »Parlez-vous français?« Immer noch nichts. »Nihongo ga dekimasu k a ?«, versuchte es Paul, und Louise vermutete, dass das wohl heißen sollte: »Sprechen Sie Japanisch?« Mit immer noch weit geöffneten Augen starrte sie der Mann nacheinander an, gab aber keine Antwort. Reuben stand auf und streckte dem Mann eine Hand entgegen. Der sah sie eine Sekunde lang an und ergriff sie. Er besaß eine gewaltige Pranke sowie einen außergewöhnlich langen Daumen. Der Mann ließ sich hochziehen. Dann legte 9 ihm Reuben einen Arm um den breiten Rücken und half ihm, aufrecht stehen zu bleiben. Der Mann brachte gut und gern dreißig Kilo mehr als Reuben auf die Waage, und das waren alles Muskeln. Paul trat auf die andere Seite des Fremden und stützte ihn ebenfalls mit einem Arm. Louise ging den dreien voraus und hielt die Tür zum Kontrollraum auf, die sich nach Reubens Eintritt automatisch geschlossen hatte. Im Kontrollraum zog Louise ihre Sicherheitsschuhe an und stülpte den Helm über, Paul tat es ihr nach. Die Helme hatten Stirnlampen und einen eingebauten Gehörschutz, den man, falls nötig, herunterklappen konnte. Sie setzten sich zudem eine Schutzbrille auf. Reuben trug nach wie vor seinen eigenen Helm. Auf einem metallenen Spind fand Paul einen weiteren und bot ihm dem Verletzten an. Doch bevor der hätte reagieren können, schob der Arzt den Helm beiseite: »Keinen Druck auf seinen Schädel, bevor wir ihn geröntgt haben.« »Na gut, dann bringen wir ihn nach oben. Ich habe von unterwegs einen Krankenwagen gerufen.« Die vier verließen den Kontrollraum, schritten einen Korridor entlang und betraten den Empfangsbereich des SNO. Das Observatorium arbeitete unter sterilen Bedingungen -nicht, dass das jetzt noch eine Rolle spielte, dachte Louise wehmütig. Sie gingen am Staubsaugerraum vorüber, der einer Duschkabine ähnlich sah und Staub und Schmutz, von jeder Person absaugte, die das SNO betrat. Dann passierten sie eine Reihe echter Duschkabinen; jeder musste sich vor dem Betreten des SNO waschen, aber auf dem Weg nach draußen war das nicht nötig. Hier befand sich auch eine Erste-Hilfe-Station, und Louise sah, dass Reuben dem Schrank mit der
Aufschrift >Tragen< kurz einen Blick zuwarf. Aber der Fremde hielt sich gut auf den eigenen Beinen. Sie schalteten ihre Helmlampen ein und marschierten die eineinviertel Kilometer den schwach erleuchteten Tunnel mit dem irdenen Boden entlang. Die grob behauenen 10 Wände waren durchsetzt mit Stahlstangen und bedeckt mit Drahtnetzen. Zwei Kilometer unter der Erde war der Druck auf das Gestein so gewaltig, dass es ohne Abstützung in jedem frei liegenden Bereich einbrechen würde. Während sie den Stollen entlanggingen, immer wieder Schlammlöchern ausweichend, erholte der Fremde sich zusehends von seinen Strapazen. Paul und Dr. Montego waren in eine lebhafte Debatte darüber verstrickt, wie dieser Mann in die versiegelte Kammer hatte gelangen können. Louise war in Gedanken versunken - sie grübelte darüber nach, welchen Einfluss die Zerstörung des Neutronendetektors auf ihre Forschungsgelder haben würde. Den ganzen Weg durch den Stollen blies ihnen Wind ins Gesicht; gigantische Ventilatoren pumpten ständig frische Luft herab. Schließlich erreichten sie die Aufzugstation. Reuben hatte angeordnet, den Aufzugkäfig hier, auf der 6800-Fuß-Ebene, anzuhalten - die Beschilderung der Mine stammte aus der Zeit vor Kanadas Umstellung auf das metrische System. Der Aufzug wartete nach wie vor auf sie, zweifelsohne zum Ärger der Bergleute, die nach unten oder wieder hinauffahren wollten. Sie betraten den Käfig, und Reuben drückte wiederholt den Summer, der den Aufzugführer benachrichtigte, die Winde zu starten. Zitternd setzte sich der Aufzug in Bewegung. Der Käfig besaß keine eigene Beleuchtung, und Reuben, Louise und Paul hatten ihre Helmlampen ausgeschaltet, um einander nicht zu blenden. Lediglich aus den Stollen, die sie alle zweihundert Fuß passierten, blitzte das Licht durch die offene Frontseite des Käfigs. In dem unheimlichen, stroboskopartigen Schein warf Louise interessierte Blicke auf die kantigen Gesichtszüge und die tief in den Höhlen liegenden Augen des Fremden. Während sie immer höher stiegen, knackte es wiederholt in Louises Ohren. Bald hatten sie die 4600-Fuß-Ebene passiert, ihre Lieblingsebene. Die Inco zog dort Bäume für 10 Wiederaufforstungsprojekte rund um Sudbury. Die Temperatur lag konstant bei zwanzig Grad Celsius, künstliche Beleuchtung verwandelte die Etage in ein prächtiges Gewächshaus. Louise kamen verrückte Gedanken, mehr als seltsame Ideen ganz im Akte-X-Stil, wie der Mann wohl in die Kugel gelangt sein konnte, wo doch die Falltür fest verschlossen gewesen war. Aber sie behielt sie für sich. Es musste auf jeden Fall eine rationale Erklärung geben, redete sie sich ein. Es musste sie geben. Der Käfig setzte seinen langen Aufstieg fort, und der Mann schien sich allmählich über seine Lage klar zu werden. Seine seltsame Kleidung war anscheinend immer noch feucht, obgleich die Zugluft in den Stollen viel dazu beigetragen hatte, sie zu trocknen. Er versuchte, das Hemd auszuwringen, wobei ein paar Tropfen auf den gelb gestrichenen Metallboden des Aufzugkäfigs fielen. Danach strich er sich mit der großen Hand das nasse Haar aus der Stirn und offenbarte zu Louises Erstaunen eine ausgeprägte Wölbung über beiden Augen. Schließlich kam der Aufzug zitternd zum Stehen. Paul, Louise, Dr. Montego und der Fremde verließen ihn und gingen an einer kleinen Gruppe verdutzter Bergarbeiter vorbei, die darauf warteten, nach unten fahren zu können. Die vier schritten die Rampe zu dem Raum hinauf, wo die Arbeiter sich jeden Tag umzogen und ihre Kleidung gegen einheitliche Overalls eintauschten. Zwei Rettungssanitäter erwarteten sie. »Ich bin Reuben Montego«, erklärte Reuben, »der Arzt der Mine. Dieser Mann ist fast ertrunken, und er hat ein Schädeltrauma erlitten ...« Die beiden Sanitäter und der Arzt besprachen das weitere Vorgehen, während sie den Fremden in den heißen Sommertag schafften.
Paul und Louise folgten ihnen und sahen zu, wie der Arzt, der Verletzte und die Sanitäter den Rettungswagen bestiegen und auf der Schotterstraße davonjagten. »Was jetzt?«, fragte Paul. 11 Louise runzelte die Stirn. »Ich muss Dr. Mah anrufen«, erwiderte sie. Bonnie Jean Mah war die Leiterin des SNO. Sie hatte ihr Büro an der Caleton University in Ottawa, fast fünfhundert Kilometer entfernt, und ließ sich im Observatorium nur selten blicken. Das Alltagsgeschäft wurde Postdoktoranden und Examensstudenten wie Louise und Paul überlassen. »Was wirst du ihr sagen?«, fragte Paul. Louise sah dem Rettungswagen mit seinem absonderlichen Passagier nach. »Je ne saispas«, erwiderte sie, langsam den Kopf schüttelnd. 11
KAPITEL DREI Alles hatte wesentlich heiterer angefangen. »Gesunder Tag«, sagte Ponter Boddit leise, stützte das Kinn auf den gebeugten Arm und sah zu Adikor Huld hinüber, der am Waschbecken stand. »He, du Schlafmütze!«, erwiderte Adikor, drehte sich um, lehnte den muskulösen Rücken gegen den Kratzbaum und ruckelte hin und her. »Gesunder Tag!« Ponter erwiderte Adikors Lächeln. Er sah gerne zu, wie Adikor sich bewegte, wie die Muskeln seines Brustkastens arbeiteten. Ponter wusste nicht, wie er den Verlust seiner Gefährtin Klast ohne Adikors Unterstützung überlebt hätte - obwohl es immer noch Zeiten der Einsamkeit gab. Wenn Zwei Eins wurde - und das letzte Mal war gerade erst vorüber -, ging Adikor zu seiner eigenen Gefährtin und ihrem Kind. Auch Ponters Töchter waren älter geworden, und er hatte sie dieses Mal kaum zu Gesicht bekommen. Natürlich gab es viele, viele ältere Frauen, deren Männer gestorben waren, aber Frauen so voller Erfahrung und Weisheit -Frauen, die alt genug waren, um zur Wahl zu gehen! -, wollten nichts mit jemandem zu tun haben, der so jung wie Ponter war und erst 447 Monde gesehen hatte. Aber auch wenn sie sich nicht mit ihm abgegeben hatten, Ponter hatte die Zeit mit seinen Töchtern genossen, obwohl ... Es hing von der Beleuchtung ab. Manchmal jedoch, wenn die Sonne in ihrem Rücken stand und sie den Kopf einfach so neigte, war Jasmel das völlige Ebenbild ihrer Mutter. Es verschlug Ponter den Atem. Er vermisste Klast mehr, als Worte ausdrücken konnten. Adikor füllte jetzt die Wanne auf der anderen Seite des Zimmers. Er hatte sich darüber gebeugt, die Brause in der Hand, und wandte Ponter den Rücken zu. 11 Ponter legte den Kopf auf das scheibenförmige Kissen zurück und schaute zu. Einige hatten ihn davor gewarnt, zu Adikor zu ziehen. Es hatte nichts mit dem zu tun, was in der Akademie geschehen war. Es war einfach die Tatsache, dass es sehr heikel werden konnte, wenn man zusammen arbeitete und lebte. Obwohl Saldak eine große Stadt war (die Einwohnerzahl betrug über fünfundzwanzigtausend, aufgeteilt zwischen Stadtrand und Zentrum), lebten hier bloß sechs Physiker, und drei davon waren weiblich. Ponter und Adikor machte es großen Spaß, über ihre Arbeit zu sprechen und neue Theorien zu diskutieren, und sie wussten es zu schätzen, jemanden um sich zu haben, der verstand, worum es ging. Abgesehen davon ergaben die beiden auch in anderer Hinsicht ein gutes Paar. Adikor war ein Morgenmensch: Frisch und munter sprang er aus dem Bett und genoss es, das Badewasser einlaufen zu lassen. Ponter hingegen lebte auf, je weiter der Tag voranschritt. Stets kümmerte er sich um die Zubereitung des Abendessens. Aus der Brause spritzte das Wasser. Ponter mochte das Geräusch, dieses kratzige weiße Rauschen. Er stieß einen zufriedenen Seufzer aus und stieg aus dem Bett. Das Moos auf dem Fußboden kitzelte ihn an den Füßen. Er trat hinüber zum Fenster, packte die Metallplatte an den
Griffen und hob die Läden vom magnetischen Fensterrahmen. Dann langte er weit über sich zur Decke und heftete sie an eine ebenfalls magnetische Vorrichtung, wo sie tagsüber ihren festen Platz hatten. Die Sonne stieg durch die Bäume. Ihr Licht schmerzte Ponter in den Augen. Er senkte den Kopf und legte das Kinn auf die Brust, so dass die Wölbung über den Brauen einen Schatten über die Augen warf. Draußen trank ein Hirsch aus dem dreihundert Schritte entfernten Bach. Ponter ging hin und wieder auf die Jagd, aber nie in bewohnten Gebieten; diese Hirsche wussten, dass sie nichts zu fürchten hatten -nicht hier, von keinem der Menschen. In einiger Entfernung 12 erkannte Ponter das Glitzern der Solarzellen auf dem Boden neben dem Nachbarhaus. »Hak«, sagte er ins Nichts hinein, womit er sein Gefährten-Implantat bei dem Namen rief, den er ihm gegeben hatte, »wie ist die Vorhersage?« »Ziemlich gut«, erwiderte der Gefährte. »Höchste Tagestemperatur: sechzehn Grad. Tiefste Nachttemperatur: neun.« Der Gefährte benutzte eine weibliche Stimme. Ponter hatte ihn vor kurzem neu - und, wie er zugeben musste, dummerweise - so programmiert, dass er Aufzeichnungen von Klasts Stimme, die er aus ihrem Alibi-Archiv entnommen hatte, als Grundlage für die eigene Sprechweise benutzte. Er hatte geglaubt, wenn er ihre Stimme hörte, würde er sich weniger einsam fühlen. Stattdessen verspürte er jetzt jedes Mal, wenn sein Implantat mit ihm sprach, einen Stich in der Brust. »Keine Aussicht auf Regen«, fuhr sein Gefährte fort. »Wind aus zwanzig Prozent Deasil mit achtzehntausend Schritten pro Zehnteltag.« Ponter nickte. Die Scanner des Implantats konnten seine Kopfbewegung leicht erkennen. »Bad ist fertig!«, hörte er Adikor. Ponter drehte sich um. Adikor glitt gerade in die kreisrunde Wanne, die im Boden eingelassen war. Er schaltete den Sprudler an, und das Wasser brodelte um ihn herum. Ponter - nackt wie Adikor -ging hinüber und stieg ebenfalls ins Wasser. Adikor mochte es wärmer als Ponter, aber sie hatten sich schließlich auf einen Kompromiss geeinigt: eine Temperatur von siebenunddreißig Grad Celsius - Körpertemperatur. Ponter reinigte mit einer Goföas-Bürste und den Händen jene Körperteile Adikors, die dieser nicht selbst erreichen konnte oder sich lieber von Ponter säubern ließ. Dann half Adikor Ponter beim Waschen. Die Luft war sehr feucht. Ponter atmete tief ein, um seine Nebenhöhlen zu befeuchten. Pabo, eine große rötlichbraune Hündin, kam ins Zimmer. Sie wurde nicht gern 12 nass, also hielt sie mehrere Schritte Abstand von der Wanne. Aber sie verlangte nach ihrem Futter. Ponter warf Adikor einen Blick zu, der besagte: »Was soll man da machen?« und stieg aus der Wanne, wobei einzelne Tropfen auf die Moosdecke fielen. »Schon gut, Mädchen«, beruhigte er sie. »Ich zieh' mich doch schon an.« Zufrieden, dass ihre Botschaft verstanden worden war, trottete Pabo aus dem Schlafzimmer. Ponter ging zum Waschbecken hinüber und wählte eine Trockenschnur aus. Er packte die beiden Griffe und zog sie hin und her über seinen Rücken. Daraufhin nahm er einen der Griffe zwischen die Zähne und trocknete auf die gleiche Weise auch seine Arme und Beine. Ponter betrachtete sich in dem rechteckigen Spiegel über dem Waschbecken und kämmte sich adrett mit den Fingern das Haar zu beiden Seiten des Mittelscheitels. In einer Ecke des Zimmers lag ein Stapel sauberer Kleidung. Ponter ging hin und musterte sie. Normalerweise dachte er nicht viel über Kleidung nach, aber wenn Adikor und er heute Erfolg hatten, würde vielleicht einer der Exhibitionisten zu ihnen kommen. Er nahm ein dunkelgraues Hemd, streifte es über und schloss mit den Druckknöpfen oben an den Schultern die breiten offenen Streifen. Dieses Hemd war eine gute Wahl, dachte er - es war ein Geschenk von Klast.
Er wählte eine Hose, zog sie hoch und schlüpfte mit den Füßen in die bauchigen Taschen unten an den Beinen. Anschließend zog er die Lederwinkel und Bänder zu, so dass sich die Hose bequem an seine Haut schmiegte. Adikor verließ gerade den Pool. Ponter warf ihm einen Blick zu und sah dann auf das Display seines Gefährten. Sie mussten sich wirklich beeilen, der Schwebebus würde gleich kommen. Ponter eilte in den Hauptraum des Hauses. Sofort sprang Pabo an ihm empor. Er beugte sich hinab und kraulte der Hündin den Kopf. »Keine Sorge, Mädchen«, sagte er. »Ich habe dich nicht vergessen.« 13 Er öffnete die Vakuumtruhe und holte einen großen Bisonknochen heraus, ein Überbleibsel des gestrigen Abendessens. Dann legte er ihn auf den Boden - über dem Moos lagen hier Glasplatten, damit das Putzen einfacher war -, und Pabo machte sich daran, den Knochen zu benagen. Adikor kam zu Ponter in die Küche und bereitete das Frühstück. Er nahm zwei Scheiben Elchfleisch aus der Vakuumtruhe und legte sie in den Laserkocher, der sich sogleich mit Dampf füllte, damit das Fleisch wieder feucht wurde. Ponter sah durch das Fenster des Kochers, wie rubinrote Dampfschwaden in komplizierten Mustern hin und her zuckten und jeden Teil des Steaks perfekt grillten. Adikor füllte eine Schüssel mit Pinienkernen und stellte Becher mit verdünntem Ahornsirup dazu. Dann holte er die fertigen Steaks heraus. Ponter schaltete den Voyeur ein und der rechteckige Schirm an der Wand wurde sofort lebendig. Er war in vier kleinere Rechtecke unterteilt: Eines zeigte Übertragungen von Hawsts erweitertem Gefährten, ein weiterer denjenigen von Talok, der nächste präsentierte Gawlts Leben und rechts unten war Lulasm zu erkennen. Adikor war, wie Ponter wusste, Fan von Hawst, also wies er den Voyeur an, dieses Bild zu vergrößern, so dass es den ganzen Schirm ausfüllte. Ponter musste zugeben, dass Hawst stets etwas Interessantes zu bieten hatte - an diesem Morgen war er in die Außenbezirke von Saldak gefahren, wo fünf Menschen bei einem Erdrutsch lebendig begraben worden waren. Dennoch: Sollte heute ein Exhibitionist zum Eingang der Mine kommen, wäre es hoffentlich Lulasm. Ponter war der Ansicht, dass sie normalerweise die aufschlussreichsten Fragen stellte. Ponter und Adikor setzten sich und streiften sich Esshandschuhe über. Adikor streute einige Pinienkerne aus der Schüssel über sein Steak und drückte sie mit der Handfläche ins Fleisch. Ponter lächelte; das war eine von Adikors seltsamen Angewohnheiten - ihm war bisher noch nie jemand begegnet, der Ähnliches tat. 13 Ponter nahm das eigene Steak, welches immer noch leicht brutzelte, und biss ein Stück ab. Es hatte jenen scharfen Geschmack, den nur Fleisch hatte, das nie tiefgefroren worden war. Wie hatten die Leute eigentlich vor der Erfindung der Vakuum-Vorratshaltung überlebt? Kurz darauf sah Ponter den Schwebebus vor dem Haus landen. Er wies den Voyeur an, sich abzuschalten, beide warfen ihre Esshandschuhe in den Ultraschall-Reiniger, Ponter tätschelte Pabo den Kopf, dann verließen sie das Haus. Die Tür blieb offen, damit Pabo nach Lust und Laune ein- und ausgehen konnte. Sie bestiegen den Schwebebus, begrüßten die sieben anderen Fahrgäste und fuhren zur Arbeit, als wäre es ein ganz gewöhnlicher Tag. 13
KAPITEL VIER Ponter Boddit war in diesem Teil der Welt aufgewachsen; die Nickelmine war Bestandteil seines Lebens, er konnte sie sich gar nicht mehr wegdenken. Dennoch war er nie jemandem begegnet, der ihre Tiefen ergründet hatte. Der Erzabbau wurde ausschließlich von Robotern vorgenommen. Als dann bei Klast Leukämie festgestellt worden war, hatten Ponter und sie sich mit anderen
getroffen, die an Krebs erkrankt waren - zur seelischen Unterstützung und zum Austausch von Informationen. Sie trafen sich in einer Kobalanl-Einrichtung, die abends gewöhnlich frei war. Ponter hatte erwartet, dass einige der Betroffenen in der Mine gewesen waren, schließlich wären sie tief im Gestein bestimmt abnorm hoher Radioaktivität ausgesetzt gewesen. Aber niemand aus der Gruppe war jemals in die Mine hinabgestiegen. Ponter hatte herumgefragt und herausgefunden, dass es eine ungewöhnliche Nickelmine war; die Hintergrundstrahlung in dem uralten Granitgestein war extrem niedrig. Daraufhin war ihm eine Idee gekommen. Als Physiker arbeitete er mit Adikor Huld am Bau eines Quantencomputers. Die Quantenregister reagierten außerordentlich sensibel auf äußere Einflüsse; kosmische Strahlung etwa stellte ein echtes Problem dar, weil sie Inkohärenzen hervorrief. Anscheinend befand sich die Lösung direkt unter ihren Füßen. Tausend Armspannen Fels waren auch für kosmische Strahlung ein unüberwindliches Hindernis. Lediglich Neutrinos würden das Gestein durchdringen, die Experimente, die Ponter und Adikor durchführen wollten, aber nicht weiter stören. Delag Bowst war Saldaks oberster Verwaltungsbeamter, die Stellung hatte ihm der Graue Rat aufgezwungen. Aber das 14 war bei Verwaltungsbeamten natürlich immer so; niemand, der solche Aufgaben freiwillig wählte, wäre dafür geeignet. Ponter hatte Bowst seinen Vorschlag unterbreitet. Man solle ihm eine Quantencomputeranlage in der Mine errichten. Und Bowst hatte den Grauen Rat so weit überzeugt, dass er sein Einverständnis gegeben hatte. Die Anlage war schließlich gebaut worden. Ponter und Adikor hatten zwar immer noch Probleme mit unerwarteten Inkohärenzen, piezoelektrischen Entladungen etwa, die in solchen Tiefen vom Druck auf das Gestein hervorgerufen wurden, aber die beiden Physiker fanden Lösungen und die Forschungen kamen gut voran. Ponter und Adikor verließen den Schwebebus am Eingang zur Mine. Es war ein wunderschöner Sommertag, der Himmel strahlte in hellem Blau, genau, wie Ponters implantierter Gefährte versprochen hatte. Ponter roch Pollen in der Luft und hörte die klagenden Rufe der Seetaucher auf dem Wasser. Er holte einen Kopfschutz aus dem Vorrat und befestigte ihn an den Schultern: ein flaches Brett, gestützt von zwei Streben. Adikor setzte sich seinen auf. Der Aufzug am Minenaufgang war zylindrisch. Die beiden Physiker betraten die Kabine und Ponter tippte mit dem Fuß auf den Aktivierungsschalter. Der Lift begann seinen langen Abstieg. Am Ende des Schachtes angelangt verließen Ponter und Adikor den Aufzug und gingen durch den langen Stollen zum Quantencomputer-Labor; natürlich war es in einem Teil der Mine eingerichtet worden, wo keine wertvollen Erze zu finden waren. Sie schritten schweigend dahin. Es war das behagliche, gesellige Schweigen zweier Männer, die einander seit Jahren kannten. Schließlich erreichten sie die Anlage. Sie bestand aus vier Räumen. Der erste war eine winzige Zelle zum Einnehmen der Mahlzeiten; es hätte zu viel Zeit gekostet, mit dem Aufzug den ganzen Weg zurück nach oben zu fahren und dort 14 zu essen. Der zweite beherbergte eine Trockentoilette; hier unten gab es keine sanitären Installationen, daher musste der Abfall am Ende eines jeden Tages nach oben geholt werden. Der dritte umfasste den Kontrollraum mit einer Unmenge an Instrumenten und Arbeitstischen und der vierte war eine gigantische Rechnerkammer, größer als sämtliche Räume des Hauses, welches Ponter und Adikor miteinander bewohnten. Normalerweise bestand das Ziel beim Entwerfen von Rechnern darin, sie so klein wie möglich zu bauen. Die Verzögerungen durch die lichtschnelle Übertragung wurden so auf ein Minimum
beschränkt. Aber Ponters und Adikors Rechneranlage basierte auf einem anderen Prinzip: Auf Quantenebene miteinander gekoppelte Protonen wurden als Register benutzt. Daher musste es eine Möglichkeit geben, zwischen Reaktionen zu unterscheiden, die auf Grund der Kopplung gleichzeitig abliefen, und jenen, die Ergebnis einer normalen lichtschnellen Kommunikation zwischen den Protonen waren. Die einfachste Art und Weise, dies zu ermöglichen, bestand darin, den Abstand zwischen den einzelnen Registern zu vergrößern. Die Zeit, die das Licht für die Strecke zwischen zwei Registern benötigte, war so leichter messbar. Daher wurden die Protonen durch magnetische Säulen, die über die ganze Kammer verteilt waren, an Ort und Stelle gehalten. Ponter und Adikor setzten ihren Kopfschutz ab und betraten den Kontrollraum. Adikor war der Praktiker. Er fand Mittel und Wege, Ponters Ideen umzusetzen. Er wandte sich einer Konsole zu und ließ Routineprozeduren ablaufen, die erforderlich waren, um den Quantencomputer betriebsbereit zu machen. »Wann sind wir fertig?«, fragte Ponter. »Noch ein halber Zehnt«, erwiderte Adikor. »Ich habe immer noch Schwierigkeiten mit der Stabilisierung von Register 69.« »Meinst du, es wird funktionieren?«, fragte Ponter. »Ich?«, meinte Adikor. »Natürlich wird es funktionieren. 15 Das habe ich gestern gesagt, und vorgestern, und vorvorgestern.« »Der ewige Optimist«, schmunzelte Ponter. »He«, sagte Adikor, »wenn du so weit unten bist, gibt's nur noch den Weg nach oben.« Ponter lachte, ging in den Essraum und holte sich eine Tube Wasser. Er hoffte, dass das Experiment heute auch wirklich ein Erfolg werden würde. Die nächste Versammlung des Grauen Rats stand unmittelbar bevor. Er und Adikor hätten erneut zu erklären, was sie der Gemeinschaft durch ihre Arbeit zurückgeben wollten. Normalerweise wurden die Vorschläge der Wissenschaftler genehmigt - allen war bewusst, wie sehr die Wissenschaft das Leben verbessert hatte -, aber es war dennoch stets befriedigender, von positiven Ergebnissen zu berichten. Mit den Zähnen riss Ponter die Kunststoffkappe der Wassertube auf und trank etwas von der kühlen Flüssigkeit. Dann kehrte er in den Kontrollraum zurück, setzte sich an seinen Schreibtisch, studierte blassgrüne, rechteckige Plastikkärtchen und sah sich die Notizen ihres letzten Versuchs noch einmal an. Dabei trank er gelegentlich einen Schluck Wasser. Ponter hatte Adikor, der auf der anderen Seite des kleinen Raums mit verschiedenen Schaltern hantierte, den Rücken zugewandt. Die Hauptwand des Raums bestand größtenteils aus Glas, so dass der riesige Rechnerraum gut einzusehen war. Die beiden Physiker hatten bereits beträchtliche Erfolge mit ihrem Quantencomputer erzielt. Im letzten Zehntmonat war es ihnen gelungen, eine Zahl zu faktorisieren, die 1073 Wasserstoffatome als Register erfordert hatte - eine größere Menge als der gesamte Wasserstoff dieser Galaxis sowie eine über sechzigmal höhere Kapazität als die des gesamten Rechnerraums, selbst wenn er völlig mit Wasserstoff gefüllt gewesen wäre. Ihr Erfolg lag darin begründet, dass die begrenzte Anzahl physikalischer Register gleichzeitig in vielfachen, superpositionierten Zuständen existierte. 15 In gewisser Hinsicht war das nächste Experiment lediglich eine Steigerung des vorherigen: der Versuch, eine noch größere Zahl zu faktorisieren. Ponter las noch ein paar ältere Ausdrucke und justierte dann die Kameras und Tonbandgeräte neu. Er wollte sichergehen, dass das gesamte Experiment aufgezeichnet werden würde, damit hinterher kein Zweifel am Ergebnis bestünde. Wenn sie bloß ... »Fertig!«, sagte Adikor. Ponter spürte, wie sein Herz zu rasen begann. Er wünschte so sehr, dass das Experiment gelang sowohl für sich als auch für Adikor. Er hatte viel Glück im Verlauf seiner Karriere gehabt, in Physikerkreisen war sein Name wohl bekannt. Selbst wenn er heute sterben würde, man würde
sich seiner erinnern. Adikor war nicht so erfolgreich gewesen, obwohl er es ebenfalls verdient hätte. Wie wunderbar wäre es für sie beide, wenn sie Digandals Theorem beweisen könnten - oder widerlegen; beide Ergebnisse wären von Bedeutung. Zwei Schaltkonsolen waren zu bedienen, eine auf jeder Seite des kleinen Raums. Ponter blieb gleich neben der Tür, die zum Essraum führte, stehen, Adikor ging auf die gegenüberliegende Seite des Raums. Alle Bedienelemente hätten sich an einem Ort befinden sollen, aber diese Anordnung hatte fast dreißig Armspannen des kostspieligen Quantenleitungskabels gespart. »Alles klar?«, fragte Adikor. Ponter ließ den Blick über die Reihe von Lämpchen auf seiner Konsole gleiten. Alle zeigten Rot, die Farbe des Bluts, die Farbe der Gesundheit. »Ja.« Adikor nickte. »Zehn Schläge«, sagte er und begann mit dem Countdown. »Neun. Acht. Sieben. Sechs. Fünf. Vier. Drei. Zwei. Eins. Null.« Auf Ponters Konsole blitzten mehrere Lämpchen auf und zeigten an, dass die Register arbeiteten. Theoretisch hätten innerhalb eines Schlages alle möglichen Faktoren auspro 16 biert und die Ergebnisse als Reihe von Interferenzmustern auf einem photographischen Film gebannt werden sollen. Ein konventioneller Rechner müsste die Interferenzmuster dekodieren, um die Liste von Faktoren zusammenzustellen - die, falls Digandal sich irrte und diese Zahl keine Primzahl wäre, allerdings sehr lang sein konnte. Ponter verließ seine Konsole und setzte sich. Adikor ging auf und ab, sah durch das Glas auf die Reihen von Registertanks. Jeder einzelne war eine versiegelte Säule aus Glas und Stahl, die eine bestimmte Menge Wasserstoff enthielt. Schließlich ertönte von einem konventionellen Rechner ein >Ping!< - das Zeichen, dass die Auswertung der Interferenzmuster beendet war. Im Zentrum von Ponters Schaltpult befand sich ein rechteckiger Monitor, die Ergebnisse erschienen in schwarzen Hieroglyphen auf gelbem Grund. Und sie lauteten ... »Knorpel!«, fluchte Adikor, der hinter Ponter stand, eine Hand auf dessen Schulter. Auf dem Display stand: »Fehler in Register 69, Faktorisierung abgebrochen.« »Wir müssen es ersetzen«, meinte Ponter. »Es hat uns bisher nur Schwierigkeiten bereitet.« »Es ist nicht das Register«, entgegnete Adikor. »Es ist die Platte, die es am Boden festhält. Aber es wird einen Zehntag dauern, um eine neue herzustellen.« »Wir können also vor der Versammlung des Grauen Rats nichts unternehmen?«, fragte Ponter. Er freute sich nicht gerade darauf, den älteren Einwohnern sagen zu müssen, dass ihrem Wissen seit der letzten Ratsversammlung nichts hinzugefügt worden war. »Es sei denn ...« Adikors Stimme erstarb. »Was?« »Na ja, das Problem mit 69 besteht darin, dass es dazu tendiert, auf seiner Platte zu vibrieren. Die Klammern sind fehlerhaft hergestellt worden. Wenn wir etwas finden könnten, um sie irgendwie zu verankern ...« 16 Ponter sah sich im Raum um. Nichts. »Wie wäre es, wenn ich mich einfach draufstelle? Du weißt schon, die Platte mit meinem ganzen Gewicht runterdrücke. Würde sie dann auch noch vibrieren?« Adikor runzelte die Stirn. »Du wirst sie sehr ruhig halten müssen. Der Apparat toleriert natürlich eine gewisse Bewegung, aber ...« »Ich kann's versuchen«, meinte Ponter. »Nur - wird meine Anwesenheit im Rechner nicht eine Inkohärenz hervorrufen?« Adikor schüttelte den Kopf. »Nein. Die Registersäulen sind stark genug abgeschirmt. Es wäre ein wesentlich stärker radioaktiv oder elektronisch strahlendes Element als ein menschlicher Körper notwendig, um Fehler zu provozieren.«
»Na, und?« Erneut runzelte Adikor die Stirn. »Ist kaum eine besonders elegante Lösung des Problems.« »Aber es könnte funktionieren.« Adikor nickte. »Schätze, einen Versuch ist's wert. Besser, als mit leeren Händen zum Rat zu gehen.« »Also schön!«, erwiderte Ponter entschlossen. »Dann tun wir's.« Adikor nickte, und Ponter öffnete die Tür, die die anderen drei Räume von der großen Kammer mit den Registertanks trennte. Er stieg die Treppe zu dem polierten Granitboden hinab, der mit Laserstrahlen geglättet worden war. Ponter bewegte sich vorsichtig, er war hier schon einmal ausgerutscht. Als er Zylinder 69 erreicht hatte, legte er eine Hand auf die gekrümmte Oberfläche, bedeckte sie mit der anderen Hand und drückte sie dann mit aller Kraft nach unten. »Von mir aus kannst du!«, rief Ponter. »Zehn«, rief Adikor zurück. »Neun. Acht. Sieben.« Ponter mühte sich verzweifelt, die Hände ruhig zu halten. So weit er sagen konnte, vibrierte der Zylinder nicht im Geringsten. »Sechs. Fünf. Vier.« 17 Ponter holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Er hielt sie an. »Drei. Zwei. Eins.« Also los, dachte Ponter. »Null!« Adikor hörte das Glas im Fenster des Kontrollraums heftig klirren. »Ponter!«, rief er und rannte zur Scheibe. »P-Ponter?« Aber dieser war wie vom Erdboden verschluckt. Adikor zog am Griff der unverschlossenen Tür und ... Wusch! Die Tür schwang nach außen. Sie flog förmlich auf und riss Adikor den Griff aus der Hand, als ein gewaltiger Luftstrom vom Kontrollraum an ihm vorüber in die Rechnerkammer drang. Fast wäre Adikor mit dem Gesicht voran die kleine Treppe hinabgefallen. Luft strömte rasend schnell aus dem Kontrollraum und der Mine in den Raum hinein -als wäre die Luft, die sich vorher hier befunden hatten, irgendwie schlagartig abgezogen worden. In Adikors Ohren knackte es wiederholt. »Ponter!«, rief er wieder, als der Sturm abgeflaut war. Der Raum war zwar groß, aber die in einem weiten Gitter angeordneten Registertanks waren allesamt schlanke Säulen. Ponter hätte sich unmöglich dahinter verstecken können. Was war geschehen? Wäre eine Felswand irgendwo in der Mine zusammengebrochen, hinter der sich ein Bereich niedrigen Drucks befunden hätte, dann hätte es vielleicht... Aber im gesamten Minenkomplex gab es seismische Sensoren, und die hätten den Ausstoß von Alarmgerüchen hier im Rechnerlabor ausgelöst, wenn es eine solche Störung gegeben hätte. Adikor rannte über den Granitboden. »Ponter!«, rief er immer weder. »Ponter?« Es gab keinen Spalt im Boden, er hätte also nicht vom Erdboden verschluckt werden können. Adikor konnte Register 17 tank 69, an dem Ponter gearbeitet hatte, am anderen Ende des Raums genau erkennen. Ponter war offensichtlich nicht dort, aber Adikor rannte trotzdem hinüber und suchte nach einem Hinweis, und ... Knorpel! Seine Füße fanden keinen Halt mehr und er schlug mit dem Rücken auf den Granitboden. Die Oberfläche war mit Wasser bedeckt - mit viel Wasser. Woher stammte es? Ponter hatte zuvor aus einer Tube getrunken, aber Adikor war sich sicher, dass er sie oben geleert hatte. Und abgesehen davon war das hier bei weitem mehr, als in eine Tube gepasst hätte. Das Wasser - wenn es denn Wasser war - sah sauber aus, klar. Adikor hob die nasse Handfläche ans Gesicht und schnüffelte. Nichts. Ein vorsichtiges Lecken.
Uberhaupt kein Geschmack. Es war anscheinend rein. Reines, klares Wasser. Adikors Herz klopfte heftig, seine Gedanken rasten, und er zog los, um sich einige Behälter zu besorgen und das Wasser einzusammeln. Es war der einzige Hinweis, den er hatte. Woher mochte es wohl kommen? Und wohin, um alles auf der Welt, war Ponter verschwunden? 18
KAPITEL FÜNF Was zum ...? Vollkommene Schwärze. Und - Wasser! Ponter Boddits Beine waren nass, und ... Und er versank. Das Wasser reichte ihm bis zur Taille, bis zur Brust, bis zum Kinn. Ponter trat heftig um sich. Er hatte die Augen weit geöffnet, aber da war nichts -absolut nichts - zu erkennen. Er schlug mit den Armen um sich, während er Wasser trat, schnappte nach Luft. Was war geschehen? Wo mochte er sein? Im einen Augenblick hatte er noch im Quantencomputerraum gestanden, und im nächsten ... Dunkelheit - so unerbittlich dunkel war es, dass Ponter glaubte, erblindet zu sein. Oder die Schwärze war Folge einer Explosion. Zersplitterndes Gestein stellte in diesen Tiefen stets eine Gefahr dar, und ... Und ein Einbruch unterirdischen Wassers lag durchaus im Bereich des Möglichen. Er ruderte noch etwas mit den Armen, streckte dann die Füße aus, tastete nach dem Grund, aber ... Da war nichts, überhaupt nichts. Einfach bloß noch mehr Wasser. Er konnte eine Handspanne vom Grund entfernt sein oder tausendmal so weit. Er dachte daran, hinabzutauchen, um es herauszufinden, aber da es so dunkel war, er frei dahintrieb und es keinerlei Licht gab, verlor er womöglich das Gefühl dafür, wo oben war und würde es nicht mehr rechtzeitig zurück zur Oberfläche schaffen. Er hatte Wasser in den Mund bekommen, als er nach dem Grund getastet hatte. Es hatte überhaupt keinen Geschmack, von einem unterirdischen Fluss hätte er erwartet, dass er brackig schmecken würde, aber dieses hier schien so rein wie Schmelzwasser zu sein. 18 Er schnappte weiterhin nach Luft. Sein Herz raste, und ... Er wollte zum Ufer schwimmen, wo es auch immer sein mochte ... Ein Ächzen, ein ganz, ganz tiefes Ächzen rings umher. Und wieder, wie ein erwachendes Tier, wie ... Wie etwas unter großer Spannung? Schließlich hatte er genügend Luft in den Lungen, so dass es ihm gelang, einen Schrei auszustoßen. »Hilfe!«, rief Ponter. »Hilfe!« Das Wort hallte unheimlich wider, als befände er sich in einem geschlossenen Raum. War er immer noch in der Rechnerhalle? Aber wenn ja, warum antwortete Adikor nicht? Er konnte nicht einfach hier bleiben. Noch war er nicht erschöpft, aber das würde nicht mehr lange dauern. Er musste zur Oberfläche finden, oder etwas im Wasser, das er zum Festhalten benutzen konnte, um sich damit treiben zu lassen, und ... Erneut das Ächzen, lauter, hartnäckiger. Ponter versuchte es mit Hundepaddeln. Wenn es nur etwas Licht gäbe - irgendwelches Licht. Er schwamm ein kurzes Stück, zumindest wollte es ihm so vorkommen, und ... Heftiger Schmerz! Ponter prallte mit dem Kopf gegen etwas Hartes. Er trat wieder Wasser, seine Gliedmaßen begannen zu schmerzen. Er spreizte die Finger und streckte die Hand aus, die Handfläche nach vorn. Was auch immer ihn getroffen hatte, es war hart und warm - also weder Metall noch Glas. Und es war völlig glatt, vielleicht leicht konkav, und ... Ein weiteres Ächzen. Es kam von ...
Sein Herzschlag geriet ins Stolpern; er spürte seine Augen groß werden, aber sie sahen überhaupt nichts in dieser verdammten Schwärze. ... von der harten Wand vor ihm. Er schwamm in die entgegengesetzte Richtung, der Lärm war mittlerweile ohrenbetäubend. Wo war er? 19 Immer lauter wurde es. Er schwamm weiter und ... Aua! Das tat weh! Er war gegen eine weitere harte, glatte Wand geprallt. Das waren bestimmt nicht die Wände in der Quantencomputerkammer, die waren mit weichem, schalldämpfendem Stoff ausgelegt. Schschschschsch! Plötzlich geriet das Wasser rings um Ponter in Bewegung, wurde immer schneller, wurde zum brüllenden Strom, riss ihn mit, als befände er sich in einem wütenden Fluss. Ponter holte tief Luft, atmete zugleich etwas Wasser ein, und dann ... Dann spürte er, wie ihn etwas Hartes am Kopf traf, und zum ersten Mal, seit dieser Wahnsinn angefangen hatte, erblickte er Licht: Sterne vor den Augen. Und dann wieder Schwärze, und Schweigen, und ... Nichts mehr. Adikor Huld kehrte zum Kontrollraum zurück. Erstaunt schüttelte er den Kopf, ungläubig. Ponter und er waren schon ewig Freunde, sie waren beide 145er und sich zum ersten Mal als Studenten an der Akademie der Wissenschaften begegnet. Doch während dieser ganzen Zeit hatte er nie erlebt, dass Ponter etwas für dumme Scherze übrig gehabt hätte. Abgesehen davon gab es keinen Ort, an dem er sich hätte verstecken können. Feuerschutzvorkehrungen erforderten überirdisch eine Vielzahl von Ausgängen aus einem Raum, aber hier unten war das praktisch unmöglich. Der einzige Weg nach draußen führte durch den Kontrollraum. Einige Rechnereinrichtungen hatten falsche Fußböden, um die Verkabelung zu verstecken, aber hier lag sie offen, und der Boden bestand aus uraltem, glatt poliertem Granit. Adikor hatte die Konsolen beobachtet und nicht durch die Glaswand in die Rechnerkammer geschaut. Trotzdem -er hatte kein Aufblitzen oder Ähnliches bemerkt. Wenn Ponter - nun ja, was? Verdampft? Wenn er also verdampft 19 worden wäre, hätte bestimmt Rauch oder der Geruch von Ozon in der Luft gelegen. Aber da war nichts. Er war schlicht verschwunden. Benommen ließ sich Adikor in einen Stuhl fallen - Ponters Stuhl. Er wusste nicht, was er als Nächstes tun sollte, er hatte buchstäblich keine Ahnung. Er benötigte mehrere Herzschläge, um sich zu sammeln. Er sollte die Stadtverwaltung davon in Kenntnis setzen, dass Ponter verschwunden war, dafür sorgen, dass man eine Suche organisierte. Es war vorstellbar, dass der Boden sich geöffnet hatte und Ponter in einen anderen Stollen, eine andere Ebene der Mine gefallen war und sich verletzt hatte. Adikor erhob sich. Dr. Reuben Montego, die beiden Sanitäter und der Verletzte traten durch die Automatiktüren der Notfallambulanz am St. Joseph's Health Centre, das zum Regionalkrankenhaus von Sudbury gehörte. Der Mann in der Unfallaufnahme war ein Sikh, Mitte fünfzig, mit einem jadegrünen Turban. »Was fehlt diesem Mann?«, fragte er. Reuben warf einen kurzen Blick auf das Namensschildchen des Mannes, auf dem N. SINGH, M.D., stand. »Dr. Singh«, sagte er, »ich bin Reuben Montego, zuständiger Arzt für die Creighton-Mine. Dieser Mann hier ist fast in einem Tank mit schwerem Wasser ertrunken, und er hat, wie Sie sehen, ein Schädeltrauma erlitten.« »Schweres Wasser?«, meinte Singh. »Woher haben Sie ...« »Im Neutrino-Observatorium«, entgegnete Reuben.
»Ach ja«, sagte Singh. Er drehte sich um und rief nach einem Rollstuhl, sah daraufhin wieder die Männer an und machte sich Notizen auf einem Klemmbrett. »Ungewöhnliche Körperform«, stellte er fest. »Ausgeprägte Uberaugenwülste. Sehr muskulös, sehr breitschultrig. Kurze Gliedmaßen. Und - hallo! -, was ist das denn?« 20 Reuben schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ist anscheinend in seine Haut implantiert.« »Sehr seltsam«, murmelte Singh. Er sah dem Mann ins Gesicht. »Wie fühlen Sie sich?« »Er spricht kein Englisch«, bemerkte Reuben. »Aha«, sagte der Sikh. »Naja, seine Knochen werden für ihn sprechen. Bringen wir ihn in die Radiologie.« Reuben Montego ging in der Notaufnahme auf und ab und unterhielt sich gelegentlich mit einem vorbeikommenden Arzt. Schließlich erfuhr er von Singh, dass die Röntgenaufnahmen fertig seien. Reuben hoffte, aus beruflicher Höflichkeit zur Auswertung hinzugezogen zu werden, und Singh bat ihn in der Tat, ihm zu folgen. Der Verletzte hielt sich nach wie vor im Röntgenraum auf, wahrscheinlich für den Fall, dass Singh weitere Bilder haben wollte. Er saß jetzt in einem Rollstuhl und wirkte erschrockener als ein kleines Kind. Der Radiologie-Assistent hatte die Röntgenbilder des Mannes - eine Frontansicht und eine Lateralansicht - vor eine erleuchtete Wandtafel geklemmt. »Sehen Sie sich das mal an!«, sagte Reuben leise. »Bemerkenswert«, meinte Singh. »Einfach bemerkenswert.« Der Schädel war lang - viel länger als ein normaler Schädel -, und er hatte eine abgerundete Ausbuchtung am Hinterkopf, fast wie ein Haarknoten. Die beiden gebogenen Wülste über den Brauen standen hervor, und die Stirn war niedrig. Die Nasenhöhlen waren gigantisch, und seltsame dreieckige Fortsätze wiesen von beiden Seiten darauf. Der riesige Unterkiefer war am unteren Bildrand zu erkennen, und es zeigte sich jetzt, was der Bart verborgen hatte: Ein Kinn fehlte. Außerdem gab es eine Lücke zwischen dem letzten Backenzahn und dem übrigen Kiefer. »So etwas habe ich noch nie gesehen«, staunte Reuben. Singhs braune Augen weiteten sich. »Ich schon«, meinte 20 er. »Ich schon.« Er wandte sich zu dem Mann um, der nach wie vor im Rollstuhl saß und sinnloses Zeug vor sich hin brabbelte. Dann konsultierte Singh erneut die geisterhaft grauen Bilder. »Unmöglich«, sagte der Sikh. »Unmöglich!« »Was?« »Es kann nicht sein ...« »Was? Dr. Singh, um Gottes willen ...« Singh hob die Hand. »Ich weiß nicht, wie das sein kann, aber ...« »Ja? Ja?« »Ihr Patient«, sagte Singh völlig verwundert, »ist anscheinend ein Neanderthaler.« 20
KAPITEL SECHS »Gute Nacht, Professor Vaughan.« »Gute Nacht, Daria. Bis morgen.« Mary Vaughan warf einen Blick auf die Uhr. Es war jetzt fünf Minuten vor 9 Uhr abends. »Seien Sie vorsichtig!« Die junge Examensstudentin lächelte. »Werd' ich.« Und sie verließ das Labor. Mary sah ihr nach und dachte wehmütig an die Zeit, als sie selbst so schlank und rank wie Daria gewesen war. Mary war achtunddreißig, kinderlos und lebte seit langem von ihrem Gatten getrennt. Sie kehrte zu ihrer Arbeit am Autoradiographenfilm zurück und las Nukleotid für Nukleotid ab. Die DNS, die sie gerade studierte, war einer Wandertaube entnommen, die im naturgeschichtlichen Museum stand. Sie war hierher an die York-Universität geschickt worden, um nachzuprüfen, ob die Gensequenz vollkommen aufgelistet werden konnte. Schon zuvor
waren Versuche unternommen worden, aber die DNS war bisher immer zu stark degeneriert gewesen. Marys Laboratorium hatte allerdings schon beispiellose Erfolge bei der Rekonstruktion von DNS vorzuweisen. Leider war auch die vorliegende Sequenz unvollständig; unmöglich, anhand dieser Probe zu bestimmen, welcher Nukleotidstrang ursprünglich vorhanden gewesen war. Mary rieb sich die Nasenwurzel. Sie müsste diesem Taubenexemplar weitere DNS entnehmen, aber sie war zu müde, um das noch heute Abend zu erledigen. Sie warf einen Blick auf die Wanduhr. Inzwischen war es kurz vor halb zehn. Das war nicht so spät. Eine Menge Seminare des Sommersemesters gingen bis 21.00 Uhr, es sollten also immer noch recht viele Menschen unterwegs sein. Wenn sie bis nach 22.00 Uhr arbeitete, rief sie gewöhnlich jemanden vom Campusbegleitdienst, der sie zu ihrem Wagen brachte. Aber 21 so früh am Abend, nun ja, da schien das noch nicht nötig zu sein. Mary zog sich den blassgrünen Laborkittel aus und hängte ihn an das Regal neben der Tür. Es war August, das Labor hatte eine Klimaanlage, aber es war bestimmt noch ziemlich warm draußen. Mary schaltete das Licht aus; eine der Neonröhren flackerte. Kurz darauf schloss sie die Tür ab und ging den Flur des zweiten Stockwerks entlang, vorbei am Pepsi-Automaten. (Pepsi hatte der York-Universität zwei Millionen Dollar dafür bezahlt, auf dem Campus der Exklusiv-Versorger für Erfrischungsgetränke zu sein.) An den Wänden hingen die üblichen schwarzen Bretter mit Ankündigungen freier Fakultätsstellen, Seminarnachrichten, Clubtreffen, Lockvogelangeboten für billige Kreditkarten und Zeitschriftenabos, dazu Zettel mit allen möglichen Dingen, die von den Studenten und der Fakultät verkauft wurden. Darunter war ein armer Tropf, der auf jemanden hoffte, der ihm tatsächlich noch Geld für eine alte elektrische Schreibmaschine geben würde. Mary folgte dem Korridor, wobei ihre Absätze auf den Fliesen klackten. Niemand war zu sehen. Sie hörte das Rauschen der Urinale aus der Herrentoilette, als sie daran vorüberging. Aber das geschah automatisch, gesteuert von einer Zeitschaltuhr. Die Tür zum Treppenhaus hatte Fenster aus Sicherheitsglas mit einliegendem Drahtgeflecht. Mary drückte sie auf und lief die Betontreppen hinab. Im Erdgeschoss angekommen, verließ sie das Treppenhaus und betrat einen weiteren Flur, der, von einem am Ende des Ganges arbeitenden Hausmeister abgesehen, ebenfalls menschenleer war. Sie betrat den Eingangsbereich, ließ die Verteilerboxen für die Campuszeitung The Excalibur hinter sich und gelangte schließlich durch die Doppeltür in die warme Nachtluft. Der Mond war noch nicht aufgegangen. Mary schritt über den Bürgersteig und kam dabei an ein paar Studenten vorbei. Sie verscheuchte ein paar lästige Insekten und ... 21 Eine Hand legte sich über ihren Mund und sie spürte etwas Kaltes und Scharfes an der Kehle. »Keinen Mucks!«, befahl eine tiefe, heisere Stimme, und jemand zog sie zurück. »Bitte ...«, flehte Mary. »Schnauze!«, fuhr der Mann sie an. Er zog sie weiter und drückte ihr dabei das Messer an den Hals. Marys Herz klopfte heftig. Die Hand über ihrem Mund löste sich, und einen Moment später lag sie auf ihrer linken Brust und quetschte sie grob und schmerzhaft. Er zerrte sie in eine kleine Nische zwischen zwei Betonmauern, die von einer großen Kiefer fast ganz verborgen war, und warf Mary herum. Er presste ihre Arme gegen die kalte raue Wand, das Messer jetzt in der Linken, mit der er zugleich ihr Handgelenk umklammert hielt. Jetzt war es ihr möglich, einen Blick auf ihren Peiniger zu werfen. Er hatte sich eine schwarze Sturmhaube über den Kopf gezogen, war jedoch eindeutig ein Weißer - um die blauen Augen herum sah sie seine Haut. Mary versuchte, ihm das Knie in die Geschlechtsteile zu rammen, aber er wich zurück.
»Kämpf nicht gegen mich!«, sagte die Stimme. Mary roch Tabak in seinem Atem und spürte, dass seine Handfläche auf ihrem Gelenk schweißnass war. Der Mann zog den Arm von der Wand zurück, riss Mary mit sich, dann drückte er beide Arme erneut gegen den Beton, das Messer bedrohlich nahe an ihrem Gesicht. Seine andere Hand tastete vorne an seiner Hose herum, und Mary hörte das Geräusch eines sich öffnenden Reißverschlusses. Ihr stieß es sauer auf. »Ich ... ich habe AIDS!«, presste sie hervor, die Augen fest verschlossen. Der Mann lachte. Ein krächzendes, humorloses Geräusch. »Dann sind wir schon zwei«, meinte er. Marys Herz setzte einen Schlag lang aus, aber er log wahrscheinlich auch. Wie vielen Frauen hatte er das schon angetan? Wie viele hatten das gleiche verzweifelte Spiel versucht? Eine Hand zerrte an ihrer Hose und zog sie hinab. Mary spürte, wie sich der Reißverschluss teilte und die Hose über 22 ihre Hüften glitt, wie sein Becken und sein steinharter Schwanz an ihrem Slip rieben. Sie schrie und plötzlich schloss sich die Hand des Mannes um ihre Kehle, seine Fingernägel drangen in ihr Fleisch. »Maul halten, Hure!« Warum kam niemand vorbei? Warum war niemand in der Nähe? Mein Gott, warum ... Eine Hand riss ihren Slip herunter, dann spürte sie seinen Penis an ihren Schamlippen. Der Mann rammte ihn ihr in die Scheide. Der Schmerz war unerträglich; ein grausames, alles vernichtendes Feuer wütete in ihrem Unterleib. Es geht nicht um Sex, dachte Mary, und Tränen quollen ihr aus den Augen. Das ist ein Gewaltverbrechen. Ihr Kreuz schlug heftig gegen die Betonmauer, als der Mann sich mit seinem vollen Gewicht gegen sie warf, seinen Penis tief in sie hineinrammte, wieder, und wieder, und noch einmal, und sein tierisches Grunzen wurde bei jedem Stoß lauter. Und dann war es endlich vorüber. Er zog sich zurück. Mary wusste, dass sie hinabschauen, nach besonderen Kennzeichen suchen sollte, dass sie nachsehen sollte, ob er beschnitten war. Alles, was helfen könnte, das Schwein zu bestrafen, wäre wichtig, aber sie ertrug es nicht, hinzusehen, ihn anzusehen. Sie legte den Kopf in den Nacken, schaute zum dunklen Himmel auf, und alles verschwamm hinter einem Tränenschleier. »So, jetzt bleibst du schön hier«, sagte der Mann und klopfte ihr mit der flachen Seite des Messers auf die Wange. »Du sagst kein Wort und bleibst fünfzehn Minuten hier stehen.« Sie hörte erneut das Geräusch seines Reißverschlusses, und anschließend die Schritte, als der Mann über den grasbedeckten Boden davonrannte. Mary lehnte sich an die Mauer, rutschte auf den Bürgersteig und zog die Knie bis ans Kinn. Sie verabscheute sich für das Gewimmer, das sich ihrer Kehle entrang. Nach einer Weile schob sie behutsam eine Hand zwischen ihre Beine, zog sie dann wieder weg. Sie betrachtete ihre Finger: kein Blut! Gott sei Dank! 22 Sie wartete, bis sich ihr Atem beruhigt und ihr Magen wieder so weit erholt hatte, dass sie aufstehen konnte, ohne sich gleich zu übergeben. Und dann erhob sie sich, schmerzgepeinigt und langsam. Sie hörte Stimmen - Frauenstimmen - in der Ferne, zwei plappernde und lachende Studentinnen, die vorübergingen. Etwas in ihr wollte nach ihnen rufen, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken. Sie wusste, dass hier draußen vielleicht fünfundzwanzig Grad Celsius waren, aber ihr war kalt, kälter, als es ihr je im Leben gewesen war. Sie rieb sich die Arme, um sich zu wärmen. Sie brauchte - ja, wie viel? Fünf Minuten? Fünf Stunden? -, bis sie ihre Sinne wieder beieinander hatte. Sie sollte ein Telefon suchen, den Notruf wählen, die Polizei von Toronto anrufen ... oder die Campuspolizei, oder - sie hatte davon gehört, hatte in Campus-Handbüchern davon gelesen das Nothilfezentrum für Vergewaltigungsopfer der York-Universität, aber ... Aber sie wollte mit niemandem reden, wollte niemanden sehen - wollte nicht, dass jemand sie so sähe.
Mary schloss die Hose, holte tief Luft und ging los. Es dauerte einige Augenblicke, bis sie sich der Tatsache bewusst wurde, dass sie nicht zu ihrem Wagen ging, sondern vielmehr zurück zum Farquharson-Gebäude für Biowissenschaften. Als sie dort angekommen war, klammerte sie sich bis hinauf in den zweiten Stock ans Treppengeländer. Sie hatte Angst, loszulassen, hatte Angst, das Gleichgewicht zu verlieren. Zum Glück lag der Flur noch genauso verlassen vor ihr wie wenige Minuten zuvor. Es gelang ihr, ungesehen ins Labor zurückzukehren. Sie musste sich keine Sorgen machen, schwanger geworden zu sein. Sie nahm die Pille - in ihren Augen keine Sünde, sehr wohl aber in denen ihrer Mutter -, seit sie Colm geheiratet hatte, und auch nach ihrer Trennung hatte sie sie nicht abgesetzt, obwohl es wenig Sinn hatte, sie weiter 23 zu nehmen. Aber eine Klinik würde sie aufsuchen und sich einem AIDS-Test unterziehen, einfach nur, um auf Nummer Sicher zu gehen. Mary würde keine Anzeige erstatten, das stand für sie bereits fest. Wie viele Male hatte sie von Frauen gelesen, die eine Vergewaltigung verschwiegen hatten, und sie verflucht? Sie verrieten andere Frauen, ließen ein Ungeheuer davonkommen, gaben ihm Gelegenheit, es einer anderen anzutun - ihr, in diesem Fall, und dennoch ... Es war so leicht, sie zu verfluchen, wenn man selbst nicht betroffen war, es nicht selbst erlebt hatte. Sie wusste, was mit Frauen geschah, die Männer der Vergewaltigung beschuldigten, sie hatte es zahllose Male im Fernsehen gesehen. Die Männer würden ihr die Schuld in die Schuhe schieben. Sie würden behaupten, die Frau sei keine glaubwürdige Zeugin, sie sei irgendwie einverstanden gewesen, sie habe einen lockeren Lebenswandel. »Also, Sie sagen, Sie seien eine gute Katholikin, Mrs. O'Casey - oh, tut mir Leid, Sie führen diesen Namen nicht mehr, stimmt's'? Seitdem Sie Ihren Gatten Golm verlassen haben. Nein, jetzt heißt es Miss Vaughan, nicht wahr? Aber Sie und Professor O'Casey sind immer noch nach Recht und Gesetz miteinander verheiratet, oder? Sagen Sie doch bitte dem Gericht, ob Sie mit anderen Männern geschlafen haben, seitdem Sie Ihren Gatten verließen!« Die Gerechtigkeit, das wusste sie, war selten in einem Gerichtssaal anzutreffen. Sie würde in der Luft zerrissen und zu etwas Neuem zusammengesetzt werden, das sie nicht wiedererkennen würde. Und am Ende lief es aufs Gleiche hinaus. Das Ungeheuer würde davonkommen. Mary holte tief Luft. Vielleicht würde sie irgendwann ihre Meinung ändern. Aber das Einzige, was jetzt wirklich wichtig war, war ein handfestes Beweisstück, und sie, Professor Mary Vaughan, war mindestens ebenso kompetent wie eine Polizistin mit einem Notfallkoffer, um es sicherzustellen. Die Tür zu ihrem Labor hatte ein Fenster. Sie bewegte 23 sich so, dass niemand sie sehen konnte, der zufällig draußen im Flur vorüberkäme. Dann zog sie sich die Hose aus, wobei ihr bei dem Geräusch, das der eigene Reißverschluss hervorrief, fast das Herz stehen blieb. Sie holte eine Petrischale und ein paar Baumwolltupfer und sammelte den Schmutz in sich ein, wobei sie hastig einige Tränen davonblinzelte. Anschließend verschloss sie den Probenbehälter, schrieb mit roter Tinte das Datum darauf und klebte ein Etikett mit der Aufschrift >Vaughan 666< darauf, ihren Namen und die passende Zahl für ein solches Ungeheuer. Daraufhin verstaute sie ihren Slip in einem undurchsichtigen Probenbehälter, schrieb das gleiche Datum und den gleichen Namen darauf und stellte beide Behälter in den Kühlschrank, neben die DNS-Proben einer Wandermöwe, einer ägyptischen Mumie und eines Wollmammuts. 23
KAPITEL SIEBEN »Wo bin ich?« Ponter wusste, dass aus seinen Worten Panik klang, aber er konnte sie nicht unterdrücken. Er saß immer noch in dem merkwürdigen Stuhl, der auf Rollen fuhr, und das war gut so, denn er hatte seine Zweifel, ob er selbst stehen könnte. »Beruhige dich, Ponter«, sagte sein Gefährte, das Implantat. »Dein Puls ist bis auf ...« »Mich beruhigen?«, fauchte Ponter, als hätte Hak etwas völlig Lächerliches vorgeschlagen. »Wo bin ich?« »Ich weiß es nicht genau«, erwiderte der Gefährte. »Ich fange keine Signale von den Positionstürmen auf. Darüber hinaus bin ich völlig vom planetarischen Info-Netzwerk abgeschnitten und empfange keinerlei Bestätigung von den Alibi-Archiven.« »Du bist nicht defekt?« »Nein.« »Dann ... dann kann dies nicht die Erde sein, oder? Du würdest Signale empfangen, wenn ...« »Ich bin mir ganz sicher, dass es die Erde ist«, unterbrach Hak. »Hast du die Sonne bemerkt, während sie dich zu diesem weißen Fahrzeug hinübergebracht haben?« »Was ist damit?« »Ihre Farbtemperatur betrug 5200 Grad, und sie nahm ein Siebenhundertstel des Himmelsgewölbes ein - genauso wie Sol, aus dem irdischen Orbit betrachtet. Auch habe ich die meisten Bäume und Pflanzen wiedererkannt. Nein, das ist ganz eindeutig die Oberfläche der Erde.« »Aber der Gestank! Die Luft ist faulig.« »Da muss ich mich auf dein Wort verlassen«, erwiderte Hak. »Könnten wir - könnten wir in der Zeit gereist sein?« »Unwahrscheinlich«, entgegnete der Gefährte. »Aber wenn 24 ich heute Nacht die Sternbilder erkenne, werde ich imstande sein zu sagen, ob wir uns zeitlich eine beträchtliche Strecke vor oder zurück bewegt haben. Und wenn ich einige der anderen Planeten und die Mondphase entdecken kann, sollte ich das exakte Datum berechnen können.« »Aber wie können wir nach Hause? Wie können wir ...« »Ponter, beruhige dich! Du bist nahe daran zu hyper-ventilieren. Hol tief Luft! Jetzt langsam wieder ausatmen. Genau so. Entspanne dich. Noch einen Atemzug ...« »Wer sind diese Kreaturen?«, fragte Ponter und zeigte auf die dürre, haarlose Gestalt mit der dunkelbraunen Haut sowie auf die andere mit der helleren Haut und dem Tuch auf dem Kopf. »Soll ich raten?«, meinte Hak. »Es sind Gliksins.« »Gliksins?«, rief Ponter so laut, dass die beiden seltsamen Gestalten sich zu ihm umwandten. Er senkte die Summe. »Gliksins? Oh, nun komm schon ...« »Sieh dir diese Schädelbilder da drüben an!« Hak sprach durch zwei Implantate im Ohr zu ihm und konnte, indem er die Balance seiner Stimme von rechts nach links verschob, eine Richtung ebenso deutlich zu erkennen geben, als würde er mit Fingern darauf zeigen. Ponter stand auf -zitternd -, durchquerte den Raum, wobei er sich von den seltsamen Wesen entfernte und sich einer weiteren erleuchteten Tafel näherte. Mehrere Röntgenbilder von Schädeln waren darangeheftet. »Ach, du grünes Fleisch!«, stammelte Ponter beim Anblick der merkwürdigen Schädel. »Das sind Gliksins - oder?« »Ich würde sagen, ja. Keinem anderen Primaten fehlen die Wülste über den Augen, und bei keinem anderen steht der Unterkiefer so hervor.« »Gliksins! Aber die sind doch ausgestorben, und zwar seit - na ja, seit wann?« »Vielleicht 400.000 Monde«, erwiderte Hak.
»Aber dies kann unmöglich die Erde vor so langer Zeit sein«, bemerkte Ponter. »Ich meine, eine Zivilisation, wie 25 wir sie gesehen haben, muss auf jeden Fall Spuren hinterlassen, die bei archäologischen Grabungen zu finden sein müssten. Gliksins haben bestenfalls Stein zu groben Keilen gehauen, stimmt's?« »Ja.« Ponter gab sein Bestes, nicht hysterisch zu klingen. »Also, noch mal, wo sind wir?« Reuben Montego sah den Unfallarzt, Dr. Singh, mit offenem Mund an. »Was meinen Sie damit, >er ist anscheinend ein Neanderthaler