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Buch Liath und Prinz Sanglant sind mit ihren Getreuen und Verbündeten getrennt voneinander und auf unterschiedlichen Wegen unterwegs nach Aosta. Dort versucht Sanglants Vater, König Henry, der sich immer noch im Banne eines Dämons befindet, seine Macht weiterhin zu festigen und das Kaiserreich in altem Glanz auferstehen zu lassen. Eine Konfrontation zwischen Vater und Sohn scheint unausweichlich, doch nun, da die neuerliche Große Umwälzung immer näher rückt, mischen sich plötzlich auch andere Mächte in das Geschehen ein. Denn Liath und die Mathematiki sind nicht die Einzigen, die um die magischen Tore wissen - und sich ihrer bedienen können ... Autorin Kate Elliott hatte bereits unter dem Namen Alis A. Rasmussen mehrere Science-Fiction-Romane veröffentlicht, bevor sie gemeinsam mit Melanie Rawn und Jennifer Roberson »Die Chronik des Goldenen Schlüssels« verfasste. »Sternenkrone« ist ihr erstes großes Soloprojekt in der Fantasy und wurde von Kritikern und Lesern begeistert aufgenommen. Von Kate Elliott bereits erschienen: STERNENKRONE: 1. Erben der Nacht. Roman (24742), 2. Im Namen des Königs. Roman (24743), 3. Auf den Flügeln des Sturms. Roman (24744), 4. Die Kathedrale der Hoffnung. Roman (24842), 5. Der brennende Stein. Roman (24843), 6. Das Rad des Schicksals. Roman (24844), 7. Kind des Feuers. Roman (24131), 8. Schatten des Gestern. Roman (24132), 9. Ins Land der Greife. Roman (24138) SAMMELBÄNDE DER STERNENKRONE: Sternenkrone 1 + 2. Erben der Nacht/Im Namen des Königs (24349), Sternenkrone 3 + 4. Auf den Flügeln des Sturms/Kathedrale der Hoffnung (24373) Weitere Bände sind in Vorbereitung.
Kate Elliott
Die magischen Tore Sternenkrone 10 Ins Deutsche übertragen von Susanne Gerold blanvalet Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Crown of Stars, vol. 5: The Gathering Storm« (Part 3) bei Orbit/Time Warner Books UK, London. Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. 1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung Januar 2006 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München. Copyright © der Originalausgabe 2003 by Katarina Elliott Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by Verlagsgruppe Random House GmbH Published in arrangement with the author c/o BAROR International, Inc., Armonk, New York, USA Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Luserke/Vladimir Bondar Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck UH ■ Herstellung: H. Nawrot Printed in Germany ISBN-10: 3-442-24139-1 ISBN-13: 978-3-442-24139-1 www.blanvalet-verlag.de Kate Elliott — Sternenkrone (Was bisher geschah) In den Vereinigten Königreichen von Wendar und Varre herrschen unruhige Zeiten. Die Küstengebiete leiden
unter den Raubzügen der nichtmenschlichen Aikha, die in ihren Booten von Norden über das Meer kommen, Städte und Klöster niederbrennen und das Land verwüsten, während die Grenzmarken im Osten von den Reiterhorden der »geflügelten« Qumaner bedroht werden. Im Licht des Vollmonds erwachen alte, halb verfallene Ruinen zu neuem Leben, bevölkert von den seit langer Zeit verschwundenen Verlorenen, und dunkle Geister streifen am helllichten Tag durch das Land. Und als wenn das alles noch nicht genug wäre, zieht auch noch ein Bürgerkrieg herauf, denn Prinzessin Sabella will mit der Unterstützung einiger Edelleute ihrem Bruder Henry die Königskrone entreißen. In diesen Bürgerkrieg geraten zwei junge Menschen: Liath, die ihr Leben lang mit ihrem Vater auf der Flucht vor unbekannten Feinden war, und Alain, ein junger Mann aus einfachen Verhältnissen, dessen Herkunft im Dunkeln liegt. Eines Tages wird Liaths Vater ermordet, und sie selbst gerät in die Fänge des machtgierigen Mönchs Hugh, der ihr nicht nur das »Buch der Geheimnisse«, das sie von ihrem Vater geerbt hat, entreißen will, sondern auch das alte geheime Wissen, das tief in ihrem Innern verborgen ist. Nach einer langen Zeit des Leidens gelingt es ihr schließlich, mit viel Glück und der Unterstützung eines geheimnisvollen Fremden namens Wulfhere, Hughs Nachstellungen zu entfliehen, und gemeinsam mit ihrer Freundin Hanna tritt sie den Adlern des Königs bei, königlichen Boten, die nur dem König selbst verantwortlich sind. 9 Alain hingegen wird Zeuge eines Aikha-Überfalls auf ein Kloster und begegnet der Herrin der Schlachten, die für sein weiteres Leben noch eine große Bedeutung haben wird. Auf Gut Lavas sieht er zum ersten Mal Fünfter Sohn, einen Aikha, der dort gefangen gehalten wird und den er heimlich freilässt - ohne zu wissen, dass ihrer beider Lebenswege auf besondere Weise miteinander verknüpft sind. Und er wird von Graf Lavastin als sein Erbe erkannt, eine Tatsache, die nicht bei allen dem Graf verpflichteten Edelleuten auf Verständnis stößt. Liath kommt mit ihren Begleitern in die unweit der Küste gelegene Stadt Gent und begegnet dort einem Menschen, der in ihrem zukünftigen Leben eine wichtige Rolle spielen wird: Sanglant, dem Hauptmann der Königlichen Drachen, der Elitereiterei Henrys - und sein Sohn, den er mit einer Aoi gezeugt hat. Dass die geheimnisvolle, fremdartige Frau ihn kurz nach der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes verlassen hat, ist noch immer ein Stachel im Fleisch des Königs. Genau wie die Tatsache, dass er Sanglant, den Bastard, nicht zum Thronerben machen kann, sondern sich schon bald für eine seiner Töchter - die impulsive Sapientia oder die zurückhaltende Theophanu - entscheiden müssen wird. Kurz darauf erhält König Henry eine weitere Hiobsbotschaft, denn die Aikha haben Gent erobert - und allem Anschein nach ist Sanglant bei den Kämpfen um die Stadt ums Leben gekommen. Doch dem ist nicht so. Sanglant, der »Prinz der Hunde«, wird nämlich von Blutherz, dem Anführer der Aikha, in der Kathedrale von Gent gefangen gehalten - wie ein räudiger Hund. Das Blut seiner Mutter verleiht Sanglant eine unmenschlich große Lebenskraft, so dass er den normalen Tod nicht fürchten muss - doch wird er von der immerwährenden Furcht beherrscht, früher oder später wahnsinnig zu werden. Wer sollte ihm auch Hilfe bringen? 10 Die ist allerdings bereits unterwegs: König Henry hat den Edlen seines Landes Männer und Waffen abgetrotzt und ein Heer zusammengetrommelt, in dem sich auch Alain und Graf Lavastin befinden. Alain muss sich nicht nur mit dem Misstrauen und dem Neid der ehemals engsten Vertrauten Lavastins auseinander setzen, er wird auch von Visionen heimgesucht - denn er sieht manchmal durch die Augen von Fünfter Sohn, mit dem ihn ein geheimnisvolles Band verbindet. Auch Liath, die - ebenso wie Hanna und Wulfhere und der ehrgeizige Mönch Hugh, der sie immer noch bedrängt - an König Henrys Feldzug teilnimmt, verfügt über ungewöhnliche Fähigkeiten. Da ist zum einen die Adlersicht, die Wulfhere ihr beigebracht hat und mit der sie manchmal Orte und Wesen sieht, die nicht von ihrer Welt zu sein scheinen. Zum anderen kann sie Feuer herbeirufen, wenn sie in höchster Not ist. Durch List und Opferbereitschaft gelingt es den Menschen von Wendar und Varre, Gent von den Aikha zurückzuerobern. Sanglant wird von Liath befreit, Blutherz kommt bei den Kämpfen ums Leben, und Alain, der eigentlich nichts sehnlicher als den Frieden wünscht, wird mit Hilfe der Herrin der Schlachten zum gefeierten Helden. Die Gefahr durch die Aikha scheint fürs Erste gebannt. Liath und Sanglant kommen sich näher, doch ihre Liebe ist in König Henrys Lager nicht gern gesehen. Als ihre Nöte immer größer werden, taucht plötzlich Liaths totgeglaubte Mutter Anne auf und bietet ihr an, mit ihr ins Nest der Mathematiki zu fliehen, ein Angebot, das sie und Sanglant schließlich annehmen. Liath hofft, bei dem geheimen Zirkel von Zauberern, deren Anführerin ihre Mutter ist, das alte Wissen studieren zu können - etwa über die Steinkronen, die es nicht nur ermöglichen, von hier nach dort zu reisen, sondern deren Macht die Mathematiki auch dazu benutzen wollen, die Wie11 derkehr der Verlorenen in diese Welt zu verhindern - und mehr darüber zu erfahren, wer oder was sie wirklich ist. Doch ihr und Sanglant wird nur allzu rasch klar, dass sie eigentlich nirgendwo in Sicherheit sind. Und nachdem Liath herausgefunden hat, dass ihre Abstammung sie zu einer möglichen Erbin des alten Kaiserreichs macht, wird sie kurz nach der Geburt ihrer Tochter von den Verlorenen auf magische Weise in deren Sphären
geholt. Inzwischen kehrt Sanglants Aoi-Mutter auf der Suche nach ihrem Sohn, den sie als Säugling zurückgelassen hat, in die Welt der Sterblichen zurück. Sie ist über die Ebenen im Osten gekommen, wo sich die Qumaner unter Bulkezu zu einem neuen Raubzug sammeln. Hoch im Norden ist Fünfter Sohn derweil damit beschäftigt, die zerstrittenen Stämme der Aikha zu einen. Dies gelingt ihm nach und nach, und er wird allmählich zu einem großen, klugen Heerführer, der schließlich den Namen Starkhand erringt - und der sich fest vorgenommen hat, eines Tages nach Wendar und Varre zurückzukehren. König Henry ernennt derweil seine Tochter Sapientia zur Thronerbin und verheiratet sie mit dem ungrischen Prinzen Bayan, einem polternden, aber rechtschaffenen Mann. Alain hingegen, der sich mit Sabellas Tochter Tallia vermählt hat, wird nach dem tragischen Tod seines Vaters Lavastin - ein Geschehen, das sozusagen die letzte Rache des längst toten Aikha-Anführers Blutherz ist - mittels einer Intrige, an der auch seine frömmlerische Frau beteiligt ist, um sein Erbe gebracht. Im Osten greifen erneut die Qumaner an, und Bayan und Sapientia stellen sich ihnen mit einem Heer entgegen. Es kommt zu einer Schlacht, in die auch König Henrys jüngster Sohn Prinz Ekkehard und seine Freunde verwickelt werden, die auf Irrwege des Glaubens geraten und zu Ketzern geworden sind, und in deren Verlauf Bayan fällt. Das Reich befin12 det sich in großer Gefahr, da König Henry weit entfernt vom Ort des Geschehens ist und die Soldaten Sapientia nur unwillig folgen. Alain gerät auf magische Weise durch eine der Steinkronen in ein unbekanntes Land, wo er nicht nur seine große Liebe Adica kennen lernt, sondern auch Zeuge eines verzweifelten Überlebenskampfes wird, als er unabsichtlich in den uralten Konflikt zwischen der Menschheit und ihren Feinden, den Verfluchten, gezogen wird. Liath hingegen befindet sich weit weg von Sanglant und ihrer Tochter im Land der Verbannung, wo sie sich ihrer schwierigsten Aufgabe gegenübersieht. Doch dort liegt auch ihre einzige Hoffnung, etwas über ihre wahre Herkunft sowie über die Art und das wirkliche Ausmaß ihrer einzigartigen Fähigkeiten zu erfahren. Und schließlich öffnet sich ihr der Weg zu den himmlischen Sphären. Auch Sanglant verlässt mit seiner Tochter Gnade das Nest der Mathematiki. Er ist fest entschlossen, seinen Vater König Henry aufzusuchen, denn nur er kann ihm die Warnung über die Verschwörung der Zauberer überbringen, die geschworen haben, die Aoi - die Verlorenen - ein für alle Mal auszulöschen. Und er weiß, dass es die Mathematiki - allen voran ihre Anführerin Anne, die inzwischen auch die Skopos von Darre ist - nicht kümmert, welche Zerstörungen sie mit ihrer Magie anrichten werden. Doch König Henry hat inzwischen seinem geplagten Reich den Rücken gekehrt. Er will Adelheid zu Hilfe eilen, der jungen verwitweten Königin von Aosta, getrieben von dem Wunsch, an ihrer Seite den Thron von Aosta zu besteigen und sich in Darre zum Kaiser krönen zu lassen. Dazu muss allerdings erst Johann Eisenkopf, einer der aostischen Fürsten, besiegt werden, was nach einigem Hin und Her auch gelingt. Während Henrys Tochter Theophanu - die sich ursprüng13 lieh seinem Tross angeschlossen hatte - nach Wendar und Varre zurückkehrt, wo Sabella - dieses Mal mit Unterstützung Conrads des Schwarzen - erneut einen Umsturz plant, gerät Rosvita, die Leiterin der Königlichen Schule und eine enge Vertraute von Henry, in die Gefangenschaft von Hugh; Hathui gelingt im letzten Augenblick die Flucht. Henry ist nun nur noch von Leuten umgeben, denen er zwar vertraut, die aber ihre eigenen Ziele verfolgen; das gilt für Adelheid ebenso wie für Bruder Hugh oder Anne, die Skopos. Sanglant stößt auf Sapientias Heer und wird von den Soldaten so begeistert empfangen, dass Sapientia ihm grollend den Oberbefehl überlässt. Er kann schließlich nicht nur ein qumanisches Heer unter Bulkezu besiegen, sondern auch Hanna befreien, die in Bulkezus Hände gefallen war. Sanglant, der sich mit Gnade, Sapientia und dem Heer immer weiter in die östlichen Steppen vorwagt, schickt Hanna zurück nach Wendar, um Theophanu über die Situation ins Bild zu setzen. Nach einem kurzem Aufenthalt an Theophanus Hof wird Hanna weiter nach Darre gesandt, wo sie durch Zufall von der eingekerkerten Rosvita erfährt. Es gelingt ihr, Rosvita zur Flucht zu verhelfen und zusammen mit ihr und den übrigen Geistlichen der Königlichen Schule aus Aosta zu fliehen. Während Henry sich mit den letzten aufständischen aostischen Edelleuten herumschlägt, bereiten Anne, Hugh und die übrigen Mathematiki sich auf den entscheidenden Augenblick vor. Liath ist inzwischen aus den himmlischen Sphären zurückgekehrt, doch zunächst einmal ist ihr kein längeres Zusammensein mit Sanglant - dem weit mehr gelungen ist, als einfach nur ein paar Greifenfedern zu erbeuten und ihrer Tochter vergönnt. Ihre Wege müssen sich wieder trennen, da sie dem Plan der Mathematiki auf unterschiedliche Weise und an unterschiedlichen Orten entgegenwirken wollen. M Alain, der an Körper, Geist und Seele verletzt dem Kataklysmus in der Vergangenheit entronnen ist, findet für kurze Zeit Aufnahme in ein Kloster, ehe er im wahrsten Sinne des Wortes in die ewige Schwärze stürzt. Starkhand schließlich, der erste Aikha mit Zielen, die über rasche Überfälle und Plünderungen hinausgehen, erobert mit Geschick und List und mittels der Unterstützung der Ureinwohner das Inselreich Alba - seine
zukünftige Basis, von der aus er seine nächsten Schritte zu unternehmen gedenkt. Und somit haben alle wichtigen Personen den Platz erreicht, den ihnen das Schicksal in dieser Geschichte zugedacht hat, oder sie eilen ihm mit schnellen Schritten entgegen - so wie - Liath, die sich erneut von ihrem Mann und ihrer Tochter trennt, um durch die Steinkronen zu schreiten und an jenen Ort zu gelangen, an dem die entscheidende Konfrontation ihres Lebens auf sie wartet. - Sanglant, der mit seinem Heer und seinen neu gewonnenen Verbündeten - zu denen nicht zuletzt ein Greifenpärchen zählt - in Richtung Aosta zieht, um Henry, seinem Vater, gegenüberzutreten. - Alain, der aus den düsteren Minen in die ebenso dunkle Welt der Skrolin gerät. - Starkhand, der auf Alba schon seine nächsten Schritte plant und nebenbei das Volk der Aikha für immer verändern wird. - König Henry, der in seinem Trachten nach der Kaiserkrone in die Falle gestolpert ist, die Hugh ihm gestellt hatte, und der schon längst nicht mehr er selbst, sondern nur noch eine von einem Dämon besessene Hülle ist. - Anne, Hugh und die anderen Mathematiki, die mit den magischen Kräften der Steinkronen die Aoi erneut ins Nichts schleudern wollen, endgültiger, als es in der Vergangenheit bereits geschehen ist. 15 - Hanna, die zusammen mit Rosvita und den übrigen Geistlichen der Königlichen Schule auf der Flucht vor Hughs Häschern einen verzweifelten Plan in die Tat umsetzt. - Und schließlich Zacharias und Ivar und viele andere vermeintlich - oder doch nicht? - unbedeutende Personen, die unaufhaltsam in den Gang der Ereignisse gezogen werden - ohne zu ahnen, dass einigen von ihnen bei dem, was geschehen wird, eine wichtige Rolle zufallen wird ... I In die Grube
1 Die Klippe, unter der das Schiff ankerte, war so hoch und steil, dass es aussah, als hätte ein Riese die Insel mit einem Messer durchtrennt und dann die eine Hälfte weggetragen. Rechts von ihnen fiel das Land in Form holpriger Terrassen und schroffer Felsabstürze zum Meer hin ab, ging dann in eine geschwungene Linie aus kleinen Inseln und Felsen über, so dass ihr Ankerplatz in einer geschützten Bucht lag. Das Wasser unter ihnen war dem Kapitän zufolge zu tief, um ausgelotet werden zu können. Sanfte Wellen brachten das Deck zum Schaukeln. Zacharias empfand diese Bewegung als äußerst beruhigend, nachdem sie viele Wochen lang durch eine steife Brise aus dem Norden gekreuzt waren. Das grelle Licht machte ihn benommen. Er beschattete die Augen und blinzelte zu einem Gewirr aus weißen Häusern hoch, die oben auf der Klippe standen. Was für eine Aussicht! Der Gedanke, so hoch oben zu wohnen und jeden Tag auf das herrliche Meer blicken zu können, machte ihn ganz schwindMarcus stand neben ihm und hielt sich an der Reling fest, den Blick auf ein Boot gerichtet, das zwischen zwei mit Gebüsch bewachsenen Inseln geradewegs auf sie zukam. Neben den vier Männern an den Rudern befanden sich sechs Passagiere darin, darunter eine Person, die kaum größer als ein Kind war. Als das Boot der Länge nach beidrehte, warf ein Seemann eine Strickleiter hinunter. Wulfhere kletterte zuerst an Bord, zusammen mit dem Arethusanisch sprechenden Seemann, der ihn als Übersetzer begleitete. Der alte Adler blies auf seine Hände und betrachtete sie stirnrunzelnd; sie hatten vom Rudern ein paar Blasen bekommen. Als Nächstes kamen zwei kräftig wirkende Bedienstete, ein Mann und eine Frau, die in schlichte, aber schöne Gewänder gekleidet waren. Unten im Boot wurde die wie ein Kind wirkende Gestalt in eine Schlinge gehoben, die um den Körper eines dritten Bediensteten - eines Mannes mit der muskulösen Gestalt eines Soldaten - gebunden war. Wie ein Bündel gelangte sie so an Bord. Marcus eilte zur Strickleiter. Er hatte einen seltsamen Gesichtsausdruck, den Zacharias erst deuten konnte, als der Geistliche der alten Frau in der Schlinge die Hand drückte. »Ihr seht gut aus, Schwester.« Er sorgte sich um sie. »Nun ja, ganz gut für eine Frau, die Schiffbruch erlitten hat.« Obwohl sie mit den schwarzen Haaren und der dunklen Haut eindeutig fremdländisch aussah, schwang nur ein leichter Akzent in ihrer Stimme mit. »Zwei Monate auf dieser Insel haben meiner Lunge ziemlich gut getan.« »Ich habe mir in Darre Sorgen um Euch gemacht.« »Die Luft in der Stadt ist geeignet, den stärksten Bullen zu fällen. Der Gestank hat mich jedenfalls fast umgebracht, aber die Seeluft hat mich wiederbelebt.« Früher einmal war sie eine Schönheit gewesen, schwarzhaarig und hübsch. Jetzt schimmerten weiße Strähnen in ihren Haaren, und ihre mit Altersflecken übersäten Hände zit18
terten. Ihr Blick blieb jedoch scharf und eindringlich. Sie fing Zacharias' Blick auf und nickte. »Wer ist das?« »Ein Schüler«, erklärte Marcus. »Oh.« Ihr kühler Blick ließ Zacharias nervös zusammenzucken. »Ich werde später mit ihm sprechen.« Die Bediensteten stellten einen zusammengefalteten Stuhl aus Zeltstoff auf, und während sie die alte Frau in diesen bequemeren Sitz setzten, kamen auch die letzten zwei Passagiere an Deck geklettert: eine zweite Dienerin und ein gut aussehendes Mädchen, das nicht älter als vierzehn oder fünfzehn sein konnte. Sie besaß einen kräftigen Körperbau, und ihre Haut war dunkler als die der wendischen Bediensteten, aber nicht ganz so dunkel wie die der alten Frau. »Großmutter, ich kümmere mich darum, dass die Kabine für dich vorbereitet wird.« Die alte Frau und Marcus hatten sich auf Aostanisch unterhalten, das Zacharias besser verstand, als er es selbst sprechen konnte, aber das Mädchen sprach Wendisch. »Elene, ich möchte, dass du meinen Kameraden kennen lernst, Bruder Marcus von der Schule der Presbyter. Wir werden mit ihm reisen, bis wir Qahirah erreichen.« »Sehr erfreut«, sagte Marcus mit der ungezwungenen Höflichkeit eines Mannes, der unter Edelleuten aufgewachsen war. »Presbyter Marcus.« Sie neigte den Kopf wie gegenüber einem Gleichrangigen. Wessen Kind war sie, so eindrucksvoll, mächtig und stolz, wie sie aussah? Und auch so wendisch, wenngleich sie das Äußere einer Ungläubigen hatte ? Er wagte nicht zu fragen. »Wird Bruder Lupus bei uns bleiben, Großmutter?« »Für eine Weile, ja, aber seine Aufgabe erfordert es, dass er dann eine andere Straße nimmt als wir. Und jetzt geh hinunter und sorge dafür, dass alles behaglich eingerichtet wird.« 19 Während die Seeleute einige Kisten an Bord brachten, gestattete Elene dem Kapitän, sie zu der winzigen Kabine im Heck zu begleiten, die sie sich mit ihrer Großmutter teilen würde. »Ich hätte nicht gedacht, dass Ihr einen Mann wie ihn dazu bringen könnt, auf eine seiner Töchter zu verzichten«, sagte Marcus. Seeleute versammelten sich an der Reling, um mit den Einheimischen im Boot zu sprechen und etwas von ihren eigenen Vorräten zu tauschen. »Er ist mein Sohn. Er muss tun, was ich ihm sage.« »Und eine von ihnen opfern? Ist sie diejenige, die er am wenigsten geliebt hat?« »Nein. Sie ist diejenige, die er am meisten geliebt hat.« Ein Aufblitzen von Wut ließ Meriam die zerbrechlichen Schultern straffen. »Ihr solltet nicht zu leichtfertig über die Liebe eines Vaters reden, Marcus, da Ihr selbst nicht das Geringste davon versteht. Mein Vater hat bittere Tränen vergossen, als ich zum Tempel von Astareos gebracht wurde, um dort als Akolythin zu dienen. Das war, bevor ich von den Khshäyathiya als Teil des Geschenkes an den barbarischen König nach Norden geschickt wurde. Mein Sohn liebt seine beiden Töchter so, wie ein jeder Mann es tun sollte. >Das Blut eines Vaters wird geschwächt durch Söhne, aber gestärkt durch Töchtern Sie sind beide sehr wertvoll für ihn, da er von seiner geliebten Eadgifu keine weitere Tochter mehr bekommen wird, möge sie in Frieden in Gottes Licht ruhen. Aber er kennt seine Pflicht gegenüber seiner Mutter. Er hat mir gegeben, worum ich ihn gebeten habe.« »Seine Pflicht gegenüber der Mutter oder gegenüber der Kirche ? Was ist mit seiner Pflicht gegenüber der Menschheit in ihrem Krieg gegen die Kräfte, die uns bedrohen?« »Wenn jemand Euch ein Pferd gibt, das Euch die Fortsetzung Eurer Reise ermöglicht, solltet Ihr nicht fragen, wieso er das tut, denn es könnte sein, dass Euch die Antwort nicht 20 gefällt. Seid einfach glücklich darüber, dass Ihr Euren Weg weiterverfolgen könnt.« »Ist es das, was Eure jinnischen Verwandten sagen? Die Absichten Eures Herzens sind wichtiger als die Taten Eurer Hände.« »Verdient die Frau, die den Armen widerwillig hundert Brotlaibe gibt, weniger Dank als der Mann, der nur zehn gibt, aber mit aufrichtigem Herzen? Wir können uns wünschen, dass sie mit einem liebenden Herzen gegeben hätte, aber das Brot, das sie verteilt, ernährt die Hungrigen dennoch.« »Ihr argumentiert wie eine Weise aus Hessu. Wollt Ihr Euch jetzt ausruhen, Schwester?« »Das würde ich in der Tat gern tun.« Die Anteilnahme und Rücksicht, die Marcus zur Schau gestellt hatte, überraschten Zacharias. Verblüfft sah er zu, wie der Presbyter die alte Frau zu ihrer Kabine begleitete. Die ganze Zeit über blieb Wulfhere an der Reling stehen und starrte stumm nach Norden über das Meer. Weil das Wetter schön blieb, wurde Zacharias an Deck unterrichtet. »Wie viele Stunden hat eine Woche?« »Einhundertachtundsechzig.« »Wie viele Punkte?« »Sechshundertzweiundsiebzig.« »Wie viele Minuten?« »Eintausendsechshundertundachtzig.«
»Wie viele Teile?« Diese Übungen, in denen Marcus überprüfte, was er von dem zuvor Gelernten behalten hatte, nahmen häufig die Hälfte einer Übungseinheit in Anspruch. Wann immer Zacharias sich über diese Wiederholungen ärgerte, rief er sich in Erinnerung, dass sie sich dem Gipfel stetig näherten, wie ein Mann, der einen Berg bestieg. 21 »Wie lange dauert ein Aufstieg?« »In Schaltjahren ist die Dauer des Aufstiegs von der Wintersonnenwende zur Sommersonnenwende genauso lang wie die einhundertdreiundachtzig Tage Abstieg vom Sommer zum Winter. Ansonsten ist die Dauer des Abstiegs kürzer als der Aufstieg, weil die Sonne sich unterschiedlich lange durch die vier gleichen Teile des Universums bewegt. Von der Wintersonnenwende bis zur Frühlingstagundnachtgleiche sind es neunzig und ein Achtel Tage. Von der Frühlingstagundnachtgleiche bis zur Sommersonnenwende sind es vierundneunzigeinhalb Tage. Von der Sommersonnenwende bis zur Herbsttagundnachtgleiche sind es zweiundneunzigeinhalb Tage. Von der Herbsttagundnachtgleiche bis zur Wintersonnenwende sind es achtundachtzig und ein Achtel Tage.« »Ein guter Schüler.« Meriam hatte es sich in einer Schlinge aus Zeltstoff bequem gemacht, die in der Nähe des Hecks angebracht worden war, damit sie frische Luft schnappen konnte. Eine Markise schützte sie vor der Sonne, bot aber kaum genug Platz, dass sie zu viert dort sitzen konnten. »Er hat ein gutes Gedächtnis«, sagte Marcus. »Das Verstehen hat noch nicht Wurzeln gefasst. Welches sind die Zonen der Erde?« »Es gibt fünf. Zwei arktische Zonen, eine an jedem Pol. Zwei gemäßigte Zonen, in denen die Menschen leben. Und eine heiße Zone entlang des Äquators, in der kein Lebewesen leben kann.« »Und doch leben dort welche«, bemerkte Meriam freundlich. »Menschen hausen dort in Stämmen. Sie leben in Zelten. Es heißt, dass einst Sphinxe, die Löwenköniginnen aus früher Zeit, in der großen Wüste gelebt hätten.« »Vielleicht haben sie das einmal getan«, erwiderte Marcus, »aber jetzt sind sie Legende.« »Vieles wird Legende genannt, das möglicherweise noch immer existiert, verborgen vor dem Blick der Menschen.« 22 Marcus lachte. »Ich bin nicht so abergläubisch wie Ihr, Schwester. Ich kann mir dessen, dass etwas existiert, erst sicher sein, wenn ich es mit eigenen Augen gesehen habe.« »Habt Ihr Gott gesehen, Marcus?« »An Gott muss ich glauben, aber ich würde es vorziehen, Sie mit meinen eigenen Augen zu sehen, um ganz sicher zu sein.« Meriam lächelte streng. »Das hoffen wir alle zu tun, wenn wir gestorben sind, aber nicht, solange wir leben. Lasst die anderen nicht hören, welch ketzerische Worte Ihr sprecht. Es sind schon Menschen aus nichtigeren Gründen verbrannt worden.« »Ihr könnt sicher sein, dass ich nicht vorhabe, einer von ihnen zu sein.« Der Sommer war gekommen und vergangen; die Herbsttagundnachtgleiche war vorüber, und jetzt marschierten die Tage unerbittlich auf die Wintersonnenwende zu. Sie hatten Sordaia kurz nach der Sommersonnenwende verlassen und waren am Ufer des Ketzermeers entlang Richtung Süden zum Hafen des sagenhaften Arethusa gesegelt. Zacharias hatte nicht von Bord gehen dürfen, aber er hatte zwei Tage lang an der Reling gestanden und voller Staunen auf die große Stadt auf den Hügeln geblickt, während der Kapitän das Entladen von Holz, Fellen und Weizen vom Markt von Sordaia und die Aufnahme von Wein, Tuch und Eisenmessern beaufsichtigte. In Arethusa hatten Wulfhere und Marcus auf unbekannte Weise eine dringende Nachricht erhalten, die sie nach Südosten und nicht entlang der dalmiakanischen Küste Richtung Westen nach Aosta geführt hatte. Ein starker Wind namens Halhim hatte ihre Reise entlang der aetilianischen Küste verzögert und sie einmal sogar gezwungen, einige Tage zwischen ihren angenehmen Inseln Zuflucht zu suchen. Schließlich waren sie auf einer Insel namens Tiriana gelandet, von der sie dann Meriam und ihre Enkelin gerettet hatten. Dass Meriam eine Mathematika war, musste niemand laut 23 sagen. Marcus informierte den Kapitän, dass sie einen Umweg zum Hafen von Qahirah machen würden, ehe sie nach Aosta zurückkehrten. Da der Mann eine Sonderzulage erhielt, beklagte er sich nicht. Vielleicht war er auch klug genug zu erkennen, dass er ohnehin keine Wahl hatte. Am Ende diente er der Skopos, die reich und mächtig genug war, um ihm Befehle zu erteilen, obwohl sein Schiff ziemlich weit von ihrem Thron entfernt war. Was für eine Rolle spielten die Absichten seines Herzens, solange er tat, was man ihm auftrug? »Jetzt werden wir mit den Sphären fortfahren«, sagte Marcus. »Die Erde liegt in der Mitte des Universums ...« Stück für Stück nahm die Architektur des Kosmos Gestalt vor Zacharias an, doch manchmal fragte er sich, ob sie wirklich mit dem Ehrfurcht gebietenden Anblick mithalten konnte, den er Jahre zuvor im Palast der Irrungen gesehen hatte. Er zitterte noch immer, wenn er daran dachte, aber er sprach über diesen Anblick nicht mit Marcus, der sich für die Erfahrungen anderer nicht interessierte. Marcus wusste, was er wusste, und das genügte ihm. Elene gesellte sich nie zu ihnen. Sie wurde allein von ihrer Großmutter unterrichtet, sofern sie überhaupt Stunden erhielt. Ansonsten blieb sie in ihrer Kabine oder stand an Deck, starrte nach Norden und nach Osten zu den Ländern, die sie hinter sich ließen. Oft waren Tränen auf ihren Wangen, aber sie weinte niemals laut.
»Ist sie immer so mürrisch?«, wollte Zacharias eines Nachmittags von Wulfhere wissen, während er den Seeleuten beim Lavieren zusah, als der Wind sich drehte. »Habt Ihr jemals erlebt, dass sie zu irgend jemandem auf diesem Schiff ein falsches Wort gesagt hätte?« Wulfhere verbrachte ebenso viel Zeit wie Elene damit, aufs Meer zu starren, aber er sah nicht in eine bestimmte Richtung. Mal fand Zacharias ihn gen Süden blickend, mal gen Norden, Osten oder Westen. 24 »Ich habe nicht gehört, dass sie überhaupt mehr als zehn Worte gesprochen hätte.« »Nun«, sagte Wulfhere, als wäre die Angelegenheit damit erledigt. Aber das war sie nicht, denn Zacharias fragte sich, wie es möglich war, dass jemand in der Gesellschaft solch erfahrener Mathematiki nicht fröhlich war. Als er Marcus die gleiche Frage stellte, bevor dieser mit der nächsten Unterrichtseinheit begann, erhielt er eine ganz andere Antwort. »Zehn Worte? Wieso sollte die Tochter eines Herzogs und die Enkelin einer Königin überhaupt mit Euch sprechen, Zacharias? Ihr seid ohne jede Bedeutung für eine Edelfrau, die in ein solch vornehmes Geschlecht hineingeboren wurde wie sie.« »Natürlich habt Ihr Recht, Bruder Marcus. Aber gerade weil sie die Erbin eines Herzogs und mütterlicherseits die Enkelin einer Königin ist, erstaunt es mich, dass sie von einem solch hohen Platz weggeschafft werden konnte, um sich wie ein gewöhnlicher Wanderer auf einem solchen Pfad wiederzufinden.« »Es gibt keinen Pfad von größerer Bedeutung als den, dem wir folgen. Und jetzt hört auf zu fragen und passt auf.« Marcus trat unter dem Vordach hervor und beschattete die Augen, während er zu den Klippen sah. Dann schüttelte er ungeduldig den Kopf und ließ sich wieder im Schatten nieder. Elene tauchte am Heck auf und legte ihre Hände auf die Reling, starrte dabei zu dem in der Ferne sichtbaren Land. Kurz darauf trat Wulfhere zu ihr und beugte den Kopf, um ihr zuzuhören. Voller Neid fragte sich Zacharias, was sie wohl miteinander besprachen. »Passt auf, Zacharias!« Er zuckte zusammen und richtete seinen Blick auf den Geistlichen. Marcus hatte die Angewohnheit, höchst sarkastisch zu lä25 cheln - auf eine seltsame Weise die Mundwinkel hochzuziehen und die Augen zusammenzukneifen, die Zacharias dazu brachte, sich zu winden. »Seid Ihr so weit?« Er wartete die Antwort nicht ab. »Zur Wiederholung. Die Ekliptik und die Bewegung des Mondes. Weil sich der Pfad des Mondes in Schräglage zur Ekliptik befindet, quert der Mond sie in regelmäßigen Abständen von Süden nach Norden und von Norden nach Süden. Die Punkte der Ekliptik, an denen er quert, nennt man den aufsteigenden Knoten und den absteigenden Knoten oder auch Caput Draconis und Cauda Draconis - also den Kopf des Drachen und den Schwanz des Drachen.« »Segel!«, schrie Wulfhere. Der Ausguck wiederholte den Ruf. Seeleute eilten zur Reling. Elene beugte sich vornüber, so dass es aussah, als würde sie gleich über Bord gehen. Ihr Gesicht strahlte, als glaubte sie, ihr Vater würde endlich kommen. »Piraten!«, rief sie eifrig. Eine von Rudern vorangetriebene Galeere durchpflügte das Wasser. Der Wind war zu schwach, um sich in Sicherheit zu bringen, und obwohl sie zusätzlich rudern konnten, war es hoffnungslos zu glauben, dass ihr robuster Handelssegler ein rasches Kriegsschiff abhängen könnte. »Es ist ein jinnisches Schiff!«, rief Wulfhere. »Seht das Banner! Sie versklaven gewöhnlich diejenigen, die sie nicht töten.« Zacharias erhob sich, aber er konnte sich kaum auf den Beinen halten, so sehr zitterten seine Knie. Der Schweiß brach ihm aus. Der Kapitän hastete zu Marcus, gestikulierte wild und rief dabei weiter. Marcus wirkte lediglich verärgert, als hätte er es mit einem widerborstigen Kind zu tun, das einfach nicht aufhören wollte zu stören, obwohl man ihm gesagt hatte, dass es still sitzen und sich ruhig verhalten sollte. »Genug!«, rief er, und der Kapitän verstummte. »Holt Schwester Meriam her«, fügte er hinzu, und ein Diener be26 gab sich zu ihrer Kabine, um sie aus dem Mittagsschlaf zu reißen. »Setzt Euch, Zacharias. Ihr steht mir im Weg.« Zacharias prallte hart mit dem Steiß auf das Deck; er zitterte am ganzen Körper. Seeleute packten Speere und Stangen und machten ihre Messer bereit. Wulfhere rührte sich nicht, er fuhr nicht einmal mit der Hand zum Griff seines Schwertes. Er starrte so angestrengt auf das herannahende Schiff, dass Zacharias sich fragte, ob er verzaubert worden war. Marcus klopfte mit den Füßen auf das Deck, in einem rhythmischen Tip-tip-tap, Tip-tiptap, das den Frater fast zum Schreien gebracht hätte. Der Diener tauchte wieder aus der kleinen Kabine auf und trug Meriam in der Schlinge. Er blieb neben Marcus stehen, und sie schätzte die Situation ab, während sich in der Ferne Ruder hoben und senkten und Trommelschläge über die glatte Wasseroberfläche hallten. »Ich sehe das Schiff«, sagte sie. »Ja, es ist eine jinnische Mannschaft.« »Dann möchte ich einen Wind heraufbeschwören, der unsere Segel füllt. Es wäre gut, wenn Ihr irgendetwas
hervorbringen könntet, das ihre Leidenschaft mindert.« »Ja«, stimmte sie voller Eifer zu, und staunend sah Zacharias zu, wie sie gemeinsam arbeiteten, als würden sie von ein und demselben Geist gelenkt. Sie unterschieden sich in nichts von den Arbeitern, die während der Erntezeit einträchtig ihre Lieder sangen, um die Mühen an den langen Tagen angenehmer zu gestalten. Ruder blitzten auf, als die Galeere auf sie zuraste. Der Wind ließ nach. Die Segel wurden schlaff, obwohl die Seeleute verzweifelt lavierten und versuchten, den letzten, ersterbenden Hauch der Brise einzufangen. »Es ist zu spät«, jammerte Zacharias. »Sie werden uns kriegen. Wir werden versklavt werden.« Schon wieder. 27 »Sie haben einen Zauberer an Bord«, erklärte Meriam. »Elene! Hol meinen Beutel.« Elene verschwand in der Kabine. »Passt auf, dann lernt Ihr etwas«, blaffte Marcus, während Zacharias sich bemühte, die Tränen zurückzuhalten. Der Frater hasste sich für seine unterwürfige Feigheit, aber der Anblick der sich unerbittlich hebenden und senkenden Ruder erfüllte ihn mit solcher Furcht, dass er kein Wort herausbrachte. Das Trommeln des Rudermeisters bebte durch seinen Körper, jeder Schlag kündete von seinem Untergang. Marcus winkte den Kapitän zu sich. »Lasst an Bord nach irgendwelchen verschlungenen Seilen suchen, besonders dort, wo zuvor alles in Ordnung gebracht worden ist.« Der Kapitän war kaum zwei Schritte gegangen, als ein Beobachtungsposten vom Bug her rief, und Marcus eilte zu ihm. Das Ankerseil war so verworren und verknotet, dass sicherlich kein Mensch dafür verantwortlich sein konnte. Ein Seemann wäre mit einem Seil niemals so leichtsinnig umgegangen. Zacharias stolperte hinter Marcus her, angestrengt bemüht, sich auf den Beinen zu halten, obwohl das Deck jetzt nicht mehr so schwankte wie zu dem Zeitpunkt, da Wulfhere das Piratenschiff gesichtet hatte. Der letzte Windhauch erstarb, das Segel hing schlaff nach unten. In der Flaute knarrte das Schiff, und Wellen plätscherten gegen die Bordwand. Es hätte ein beruhigendes Geräusch sein können, wäre da nicht das Hämmern der Trommel gewesen, das die jinnische Galeere vorantrieb. Marcus kniete neben dem Seil nieder und hielt seine Hände über das Knäuel. Zacharias brach neben ihm zusammen, während Marcus leise Worte sprach, die er weder verstand noch erkannte. Verschwamm ihm die Sicht vor Augen, oder sah es wirklich so aus, als würde das Seil plötzlich beginnen, sich wie Schlangen zu winden? Ein Lied erhob sich vom Heck, und er warf einen Blick zu28 rück, überrascht, eine solch kräftige, wunderschöne Altstimme zu hören, wo doch der Tod auf sie zueilte. Schwester Meriam stand an der Reling, umfasste mit ihren Händen etwas, auf das sie sanft blies, während ihre Enkelin neben ihr mit einer so durchdringenden Klarheit sang, dass es schmerzte. »Es wird nicht reichen«, flüsterte Zacharias; er wollte nicht, dass jemand seine Worte hörte. »Unterschätzt unsere Macht nicht«, sagte Marcus. »Ihr seid kein Mann des Glaubens, Zacharias. Ihr zweifelt zu sehr.« Das ruhige Wasser, das alles war, was sie von der herannahenden Galeere trennte, wirbelte auf und schäumte. Das Trommeln brach einmal ab, doch dann wurde der gleichmäßige Rhythmus schneller wieder aufgenommen als zuvor, während die Ruder sich im Einklang dazu hoben und senkten. Das Wasser kochte in Dampfwolken auf. Ein Engel erhob sich aus dem Meer, so prachtvoll wie der Sonnenaufgang und so hoch aufragend wie ihr Schiffsmast. Die Haare des Engels strömten wie Sonnenlicht um den unbedeckten Kopf; die Miene war grimmig und unerbittlich. Bei jedem langsamen Schlag der flammenden Flügel sprühten Funken, die zischend und knisternd ins Salzwasser stürzten. Er hielt einen Bogen aus schimmerndem, blauem Feuer in der Hand, hatte einen Pfeil an die Sehne gelegt. Das Trommeln geriet ins Stottern und versiegte. Schreie voller Angst und Entsetzen zerrissen jetzt die Luft, bildeten einen Kontrapunkt zu Elenes Gesang, während die Ruder über die Wellen hüpften. Die Galeere wurde langsamer. Eine Schlange glitt rau über Zacharias' Hand. Er schrie seinerseits auf, fiel rücklings auf das Deck, aber es war nur ein Tau, das sich entrollt hatte wie ein Korb voller Schlangen. Ein sanfter Windhauch strich über seine Wange, eine Berührung, die sich wie ein scheuer Kuss anfühlte und ihm etwas zuzuflüstern schien. 29 Wind füllte die Segel. Sie ließen die jinnischen Piraten hinter sich, als die Flügel des riesigen Engels sich in einem Regen aus heißen Funken auflösten, der auf das Deck der treibenden Galeere fiel. Zacharias kämpfte sich auf die Beine und trat an die Reling; er sah, wie die Ruderer ihre Ruderschläge veränderten und sich bemühten, rückwärts aus dem brennenden Regen zu gelangen. Ein weißer Fetzen flatterte wie ein Schmetterling aus Meriams Händen und flog im Zickzack über das Wasser; er wurde so klein, dass er ihn eigentlich gar nicht mehr hätte sehen dürfen, als der Abstand immer größer wurde - doch ein starkes Schimmern machte ihn weiterhin sichtbar, während er auf seinem unberechenbaren Kurs hin und her pendelte. Die Galeere blieb hinter ihnen zurück. Der dampfende Nebel, der mit dem Engel aufgestiegen war, breitete sich aus und verhüllte sie ebenso wie Meriams Schmetterling, den Zacharias noch ein letztes Mal aufblitzen sah, ehe
er im Dunst verschwand. Elene lachte laut, als sie ihr Lied beendete, und einen Augenblick fürchtete Zacharias, sie wollte ins Meer springen und hinter der strahlenden Vision herschwimmen, die jetzt verklungen war. Marcus kniete noch immer bei dem Seil. Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck angestrengter Konzentration, während der Wind das Segeltuch blähte. Wulfhere schritt unruhig nach vorn, während die Seeleute Seile und Tauwerk zurechtrückten. Sie lachten und scherzten erleichtert angesichts ihrer Rettung, wirkten aber nicht entspannt. Das Meer lag still hinter ihnen, während ein unnatürlicher Wind sie vorantrieb. »Gut gemacht, Bruder Marcus«, sagte Meriam. »Die Künste der Tempestari sind schwer zu beherrschen.« »Wir müssen das Wetter kontrollieren, wenn wir die Hoffnung haben wollen, im Weben erfolgreich zu sein.« »Wulfhere, ich bitte Euch«, flüsterte Zacharias. 30 Der alte Adler trat zu ihm, das Gesicht und der graue Bart von der Gischt benetzt. »Er hat ausgesehen wie Liath«, murmelte der alte Mann; sein Tonfall war ebenso beunruhigt wie sein Gesichtsausdruck. Seine Finger öffneten sich und schlössen sich um das Holz der Reling. »War es ein echter Engel oder eine Illusion?«, fragte Zacharias, aber Wulfhere antwortete nicht. Nachdem der Wind sie über das große Mittlere Meer gebracht hatte, segelten sie fünf Tage lang an der südlichen Küste entlang. Backbord war nichts als Wüste und rechts von ihnen blassgrünes Wasser. Marcus verschlief den größten Teil dieser Zeit, erschöpft von der Anstrengung, und auch Schwester Meriam blieb in ihrem Bett. Die Bediensteten und ihre Enkelin kümmerten sich um sie. Auch Letztere sah Zacharias nur dann, wenn sie sich unter den Schatten der am Heck angebrachten Markise zurückzogen und berieten. Er wusste nicht, was solche Sorge in ihnen ausgelöst hatte, aber er sah aus einigem Abstand zu, wie Marcus Zeichen und Markierungen auf ein abgenutztes Pergament kritzelte, häufig die Notierungen mit einem Messer wegkratzte und Neues aufschrieb, bis die Haut ganz durchlässig war. Sobald Zacharias jedoch näher zu kommen versuchte, verscheuchte ihn Meriams kräftiger Diener. »Ich habe keine Zeit, um Unterrichtsstunden zu geben.« Das war Marcus' einzige Bemerkung, die er so kurz und bündig von sich gab, dass es schmerzte. Auch Wulfhere leistete ihm keine Gesellschaft. Sein Leben war so öde wie das Land, an dem sie entlangsegelten. Die Wüste stieg an und senkte sich in sanften Wölbungen, bot nichts als Sand und blasse Hügel ohne jedes Lebenszeichen. Nicht einmal Gras oder Büsche waren zu sehen. Und auch kein einziger Mensch. Während des Tages brachte das Sonnenlicht Sand und Steine so zum Gleißen, dass die Augen 31 schmerzten. Nur die Meeresbrise machte die Hitze erträglich. Zacharias konnte nichts anderes tun als warten. Er war daran gewöhnt, auf den rechten Zeitpunkt zu warten. Der Rückenwind hielt an, bis sie den Hafen von Qahirah erreichten. Sie segelten an einem Vorgebirge vorbei; halb verfallene Säulen erhoben sich vom Rücken der niedrigen Berge. Dann gelangten sie in eine von blühenden Bäumen und Gärten umgebene Bucht. Die Stadt der kuppelförmigen Tempel und weiß getünchten Gebäude leuchtete in der Herbstsonne. »Ein wahres Paradies«, sagte er. Marcus stand neben ihm und runzelte die Stirn. »Eine Verlockung, mehr nicht. Eine Versuchung des Feindes. Die Stadt stinkt vor Ungläubigen.« »Findet Ihr das hier etwa nicht schön? Nach der Wüste?« »Die Wüste ist rein. Sie gibt nicht vor, etwas anderes zu sein als das, was sie ist: Trostlosigkeit. Dieses schöne Gewand verbirgt darunter liegende Fäulnis.« Aber die Fäulnis roch süß, wie eine Mischung aus Lavendel, Ysop, Jasmin, Minze und Rosmarin. Jede wendische Stadt von solch bemerkenswerter Größe hätte wie eine offene Kloake gestunken. Hier jedoch sah Zacharias, während die Seeleute die Ruder einzogen und den wartenden Arbeitern die Seile zuwarfen, sauber gekehrte Straßen vor Hauswänden, die mit den weißen Blumen der Jasminranken bedeckt waren oder leuchteten, als wären sie erst an diesem Morgen geschrubbt worden. Qahirah war eine schöne Stadt, gut gepflegt und gastfreundlich. Drei Zöllner kamen an Bord, und einige Stunden vergingen, in denen jedes Fass, jede Tasche und jede Kiste geöffnet und überprüft wurden. Zacharias beobachtete sie, während ein Schreiber in der geschwungenen Handschrift der Jinnen eine umfassende Liste anfertigte. Ausführlich rechneten sie 32 die Abgaben zusammen, die Steuer, die von Qahirahs Herrscher auf alle in den Hafen geschafften Güter erhoben wurde. Münzen und ein paar der guten Eisenmesser wechselten die Hände, und die Reisenden durften in Begleitung eines Jugendlichen das Schiff verlassen. Dieser versprach ihnen, sie zu dem einzigen Gasthaus der Stadt zu bringen, in dem Fremde geduldet wurden. Es dauerte fast die gesamte Strecke vom Schiff zu dem im Außenbezirk der Stadt gelegenen Gasthaus, bis der Boden unter seinen Füßen nicht mehr schwankte. Es dauerte noch einmal so lange, bis er aufhörte zu gaffen. Da er auf dem Land aufgewachsen war und viele Jahre als Sklave bei den Qumanern gelebt hatte, hatte er nur wenige Städte gesehen und sicherlich keine wie Qahirah. Diese Stadt war kleiner als Arethusa, aber größer als Sordaia, und sie besaß eine unirdische Ausstrahlung. Kein Abfall beschmutzte die Straßen. Alte Männer patrouillierten mit Besen und Schaufeln. Frauen mit Schals über Kopf und Schultern und Männer in
bescheidenen, die Körper verhüllenden Gewändern gingen auf ordentliche, wirksame Weise ihrer Arbeit nach. Auf dem Markt, an dem sie vorbeikamen, herrschte lebhaftes Treiben, aber es gab keine streunenden Hunde, die auf der Suche nach Abfall waren, ja tatsächlich gab es keinerlei Abfall, nicht einmal Obstschalen unter den Früchteständen. Dieser unerwartete Anblick traf Zacharias wie ein Schwall kaltes Wasser, und sein Gang wurde sicherer, so dass er festen Schrittes dahinstapfte, als der Führer auf eine geschlossene, in Bronze eingefasste Doppeltür zeigte. Die Tür war in eine Mauer eingelassen, die an die äußere Stadtmauer grenzte. Beide Mauern bestanden aus weiß getünchten Backsteinen. Der jinnische Jugendliche wartete darauf, dass Marcus ihn mit einer Münze belohnte, ehe er sich umständlich verneigte und davoneilte. Wulfhere klopfte an die Tür. Nach einer Weile öffnete sie 33 sich knirschend, und ein alter Mann unbestimmten Alters musterte sie, ehe er sie schließlich hereinbat. »Wie schön das ist«, sagte Zacharias, als sie zu einem weiß getünchten Innenhof kamen, in dem Jasmin und helle, weiß-rosa Rosen in üppiger Pracht blühten. Ein Springbrunnen mit verspielten Fontänen und fingerbreiten Wasserfällen thronte von Bänken umringt in der Mitte des Hofes. Ein paar Reisende in langen, alles verhüllenden Gewändern saßen auf diesen Bänken und starrten die Neuankömmlinge an. An drei Seiten war der Innenhof von Gästezimmern umgeben; auf der vierten Seite befand sich eine offene Küche, und daneben waren Teppiche, Kissen und niedrige Tische angeordnet. Der Lärm der zeternden Hühner und verärgerten Gänse, das klagende Meckern der Ziegen und das Wiehern eines Pferdes ließen Zacharias vermuten, dass sich nebenan, hinter einem eleganten Torbogen, der Stall befand. Selbst ein Prinz hätte sich einen solchen Luxus gern gefallen lassen. Marcus musterte den Hof voller Abscheu, während er darauf wartete, dass Meriams Bedienstete ihr Gepäck von der Straße hereinschafften. »Mir gefällt der Geruch nicht.« Es roch nach Jasminblüten - und noch nach einem anderen, etwas schwächeren Duft, den Zacharias nicht kannte. »Ist dies ein Gasthaus für die Wohlhabenden?«, wollte Zacharias von Wulfhere wissen. Der Adler schüttelte den Kopf. »Dies ist eine schlichte Unterkunft für Reisende, ähnlich vielen anderen, in denen ich geschlafen habe, als ich vor langer Zeit in diesem Land umhergereist bin.« »Ihr seid durch Jinna gereist? Wieso?« Wulfhere blickte ihn an, dann sah er zur Seite. »Ich habe etwas gesucht.« »Habt Ihr es gefunden?« »Am Ende ja.« Als er sich jetzt an diesen Erfolg erinnerte, war offensichtlich kein Triumphgefühl damit verbunden. Er 34 ging zum Springbrunnen und ließ sich Wasser über die Finger rinnen, ehe er sich den Schweiß von der Stirn und vom Nacken wischte. Zacharias folgte ihm; die Blicke der anderen Reisenden, deren Gesichter unter Kapuzen und hinter Schleiern verborgen waren, machten ihn nervös. Auf diese Weise konnten sie andere mustern, ohne selbst beobachtet zu werden. Er fühlte sich ungeschützt. Sie konnten alles Mögliche über ihn denken, wenn sie ihn so anstarrten, und doch würde er sie nicht erkennen, selbst wenn er sie unverhüllt auf einem Marktplatz wiedertreffen sollte. Es war besser, niemandem zu erlauben, sich so zu verhüllen. Er spritzte sich Wasser ins Gesicht, genoss die kühle Berührung auf der heißen Haut. Wulfhere schniefte und warf den Kopf in den Nacken. »Es heißt, dass man Thymian an Orten riecht, an denen ein Mord begangen wurde. Könnt Ihr es riechen?« »Ich weiß nicht, wie Thymian riecht. Dieser kräftige Geruch - das ist Jasmin, nicht wahr?« »Und der andere - riecht Ihr ihn? Das ist Thymian.« Zacharias sah sich um. Meriam feilschte mit dem Herbergsvater, während Marcus geringschätzig dreinblickte und die Bediensteten geduldig mit dem Gepäck warteten. Elene hatte sich einen Schal über die dunklen Haare gezogen, hielt die Enden des Schals knapp unter dem spitzen Kinn fest. Sie stand im Schatten, und ein wütendes Stirnrunzeln lag auf ihrem hübschen Gesicht. Die Schultern waren steif vor Verärgerung. Der Frater senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Glaubt Ihr, dass hier ein Mord begangen wurde?« »Ich weiß es. Vor langer Zeit. Ich habe die Leiche gesehen.« »Seid Ihr schon einmal hier gewesen?« »Ja, allerdings.« Der Herbergsvater war ein Mann mittleren Alters mit ei35 nem schmalen Gesicht, und seine Haut war doppelt so dunkel wie die von Meriam. Er sah in ihre Richtung, stutzte und verneigte sich dann hastig vor Meriam, ehe er zu Wulfhere eilte. Er kniete vor ihm nieder, packte die Hand des Adlers und tätschelte sie mit offenkundiger Freude. »Freund! Freund!«, rief er auf Wendisch, aber mit starkem Akzent. »Freund!« Vielleicht war es das einzige Wort auf Wendisch, das er kannte. Er wandte sich wieder Meriam zu. »Was sagt er?«, fragte Zacharias, als er den Herbergsvater heftig gestikulieren sah. »Ich weiß es nicht. Ich kenne nur ein paar Worte in dieser Sprache.« Aber die zusammengekniffenen Augen und
die eindringliche Miene, mit der Wulfhere den Austausch zwischen dem Herbergsvater und Schwester Merian verfolgte, legten etwas anderes nahe. »Er lässt uns eine Nacht hier umsonst verbringen, ohne dass wir für irgendetwas zahlen müssen, und dann stellt er uns auch noch einen Führer zur Verfügung, der uns nach Kartiako begleitet. Alles als Gegenleistung für einen Dienst, den Ihr ihm vor zehn Jahren erwiesen habt. Was mag das wohl gewesen sein?« »Nichts, was für Euch eine Rolle spielen würde, Marcus, oder etwas mit dem Zweck unserer Reise hierher zu tun hätte.« Die Bediensteten hatten das Gepäck in dem geräumigen Zimmer untergebracht, in dem die Männer schlafen würden - die Frauen übernachteten in einem anderen Flügel. Jetzt, als die Sonne untergegangen war und die Lampen angezündet worden waren, ließen Marcus, Wulfhere und Zacharias sich auf Kissen nieder, während ein paar junge Männer ihnen eine Schüssel mit Wasser brachten, damit sie sich vor dem Essen die Hände waschen konnten. 36 »Gibt es keine Stühle oder Bänke?«, flüsterte Zacharias. »Essen wir nicht an einem Tisch wie zivilisierte Leute?« »So ist es der Brauch dieses Landes«, sagte Wulfhere. »Wo sind Schwester Meriam und Edelfrau Elene?« »Sie werden allein essen.« »Dann ist es also auch Brauch dieses Landes, Männer und Frauen zu trennen, als müssten die Männer, so wie Tiere, von ihnen fern gehalten werden?« Marcus verzog die Lippen zu einem spöttischen Grinsen. »Zweifellos finden die Jinnen die wendischen Bräuche ebenso seltsam wie wir die ihren.« Marcus schnaubte, aber da in diesem Augenblick mehrere Tabletts voller Speisen hereingebracht wurden, ließ er das Gespräch versiegen. Er entpuppte sich als wählerischer Esser, der den größten Teil der Speisen wegen ihres würzigen Geschmacks mied. Zacharias hatte in seinem Leben jedoch zu viel Hunger gelitten, um Essen zu verschwenden. Das eine Gericht mit Hühnchen kannte er, auch wenn die scharfe Soße seine Zunge verbrannte, aber die anderen Speisen konnte er nicht benennen. Dennoch aß er so viel, wie er in sich hineinstopfen konnte. Später, als er mit den Bediensteten auf den harten Pritschen lag, litt er entsprechend. Er warf sich immer wieder von einer Seite auf die andere, während seine Kehle brannte und er sich bemühte, Rülpser zu unterdrücken. Sein Bauch rumorte. Irgendwann musste er aufstehen, um sich zu erleichtern. Er tastete sich durch die aus einem Vorhang bestehende Tür und glitt hinaus. Das Mondlicht tauchte den Hof in silbriges Licht, und er ging so leise wie möglich den Pfad entlang, der unter dem Torbogen in den Stallhof führte, denn dort befand sich das Necessarium des Gasthauses. Irgendeine freundliche Seele hatte eine Öllampe darin brennen lassen. Nachdem er sein Geschäft erledigt hatte, stellte er fest, dass er gar nicht müde war. Er ging zu dem dunklen Torbogen zu37 rück und blieb dort stehen, um die Sterne zu betrachten. Die Luft hier war so klar, dass sie noch heller schimmerten als im Norden. Die sphärische Sichel des aufgehenden Viertelmondes stellte einen deutlichen Kontrast zum Nachthimmel dar. Jemand - nein, zwei Leute standen beim Springbrunnen und unterhielten sich leise. Er glitt von Schatten zu Schatten, bis er nahe genug heran war, um lauschen zu können. »Wie ist das möglich? Traut Ihr ihm nicht mehr?« »Schwester Anne traut ihm nicht mehr. Ich habe ihn in der Gesellschaft von Prinz Sanglant gefunden. Ich sage Euch, er schien mir nicht sehr eifrig darum bemüht, den Prinzen und dessen Gefolge zu verlassen, und doch behauptet er, keinerlei Wissen über die Pläne des Prinzen zu besitzen. Er sagt, er wäre von den Beratungen des Prinzen ausgeschlossen gewesen.« »Das mag sein. Prinz Sanglant hat nicht unbedingt Grund, ihm zu trauen. König Henry hatte ihn ganz sicher nicht.« »Und doch hat er mir nicht geholfen, als ich die Tochter des Prinzen als Geisel nehmen wollte. Ich mache mir auch Gedanken über die Reisen, die er vor vielen Jahren unternommen hat, und über die Dienste, die er König Arnulf geleistet hat. Bruder Lupus verbirgt einfach zu viel. Er hält sich so bedeckt wie diese Jinnen. Aber wenn man sich bedeckt hält, deutet das auf Schuldbewusstsein hin.« »Vielleicht. Er war immer höchst loyal Anne gegenüber. Ist er das nicht mehr?« »Es ist schwer zu sagen. Ich glaube, dass er Anne gegenüber sehr wohl noch loyal ist. Sie sind zusammen aufgewachsen, er war ihr treuer Diener. Wie kann er sich von dem lösen, wozu er erzogen worden ist?« »Was beunruhigt Euch dann?« »Ich frage mich, ob er den Sieben Schläfern gegenüber noch loyal ist. Folgt er noch immer unserer Sache? Ich weiß nicht mehr, was in seinem Kopf und in seinem Herzen vor38 geht. Wir können ihm nicht trauen. Deshalb kann ich ihn nicht mit Euch und Elene nach Süden reisen lassen. Was ist, wenn er Euch verrät?« »Ich glaube nicht, dass er das tun wird. Wir brauchen noch einen weiteren erfahrenen Reisenden, eine starke
Hand und ein scharfes Auge. Die Wüste ist gefährlich. Wir könnten auf hundert verschiedene Weisen zu Schaden kommen. Ich bin eine alte Frau, Marcus. Meine Enkelin ist stark, aber sie ist jung und unerfahren. Meine Bediensteten sind mir treu ergeben und äußerst zäh, und wir können hier in Qahirah ein ansehnliches Gefolge anheuern. Dennoch wünschte ich, Bruder Lupus würde uns ebenfalls begleiten.« »Nein. Mein Plan ist besser. Ihr werdet durch die Kronen reisen, falls wir sie benutzen können. Auf diese Weise müsst Ihr nicht die Strapazen einer langen Reise durch das öde Land auf Euch nehmen. Wenn sich ein Tor nach Südosten öffnet, werdet Ihr hindurchgelangen. Wenn nicht, heißt das, die Krone im Südosten ist verloren. Beten wir, dass dem nicht so ist.« »Lasst mich Bruder Lupus mitnehmen. Wir brauchen ihn. Meine Enkelin mag ihn. Es wird mir meine Aufgabe leichter machen.« »Nein.« »Ihr nennt mir keinen guten Grund, nur Eure eigenen Zweifel.« »Also schön. Schwester Anne hat mir in aller Deutlichkeit aufgetragen, ihn zu ihr zurückzuschicken. Wenn sie ihn nach der Befragung zu Euch schicken will, wird sie das tun. Wenn nicht, dann ist das so.« »Sie traut ihm nicht mehr?« »Ihr Wille ist auch mein Wille. Ich hinterfrage ihre Anweisungen nicht, weder in dieser Sache noch in einer anderen. Und Ihr solltet es auch nicht tun.« »Gut.« Schwester Meriams kurzes Schweigen war so beredt wie ihre Worte. »Dann müssen wir uns auf die Diener 39 verlassen, die wir hier in Qahirah anheuern können. Ich hoffe, sie werden sich als vertrauenswürdig erweisen. Ich hoffe, die Wüste ist nicht voller Banditen, Ungeheuer und Stürme.« Marcus kicherte. »Ihr seid nicht hilflos, Meriam. Und Elene ist es auch nicht. Ihr habt sie gut unterrichtet.« Meriams Ton war so trocken, wie Zacharias es noch nie bei ihr gehört hatte. »Das müssen wir hoffen.« Hinter dem Springbrunnen, an der gegenüberliegenden Mauer, bemerkte Zacharias eine schwache Bewegung, wie sie ein Raubtier machen mochte, wenn es auf der Jagd nach einem Vogel hinter einem Gebüsch umherschlich. Marcus und Meriam, selbst kaum mehr als Schemen, verabschiedeten sich voneinander und schlüpften in ihre Zimmer, aber Zacharias blieb noch zurück. Er wusste, dass es besser war, noch etwas zu warten, bis er sicher war, dass er sich rühren konnte, ohne ein Risiko einzugehen. Bei den Qumanern hatte er gelernt, sich stundenlang still und ruhig zu verhalten, in der Hoffnung, Bulkezus Zorn zu entkommen. Doch in all der Zeit, die er hier wartete, sah er keinen Hinweis mehr auf diesen Schatten. Wer hatte da noch gelauscht? Eine Brise brachte die Ranken in Bewegung, und er schnappte ihren Duft auf - und da war auch wieder dieser andere, unklarere Geruch. Es herrschte eine ungute Stille. Er hörte nicht einmal Hunde bellen. Schließlich wurden seine Beine müde, denn er war nicht mehr daran gewöhnt, so still zu stehen. Immer bemüht, in den Schatten zu bleiben, glitt er ins Zimmer zurück. Der Vorhang strich gegen sein Gesicht, als er hineinschlüpfte, aber seine nackten Füße verursachten keinerlei Geräusch, und niemand sprach ihn an, als er sich zum Schlafen hinlegte. Am Morgen wurde Wulfhere vermisst. Seine Pritsche war leer, und seine Sachen fehlten auf dem Stapel mit den Gepäckstücken. 40 »Er ist fort!« Marcus schlug mit der Faust gegen die Wand und fluchte angesichts des Schmerzes. Aber seine Wut verrauchte so rasch, wie sie gekommen war. »So sei es«, sagte er zu Meriam, während sie sich zum Aufbruch zu der Ruinenstadt Kartiako bereitmachten. »Er hat sich durch seine Taten verraten.« Sie sagte nichts. Elene weinte. 2 Er roch den erstickenden Gestank der schwelenden Feuerstellen lange, bevor seine Füße ihm mitteilten, dass sie den Lehmboden des Waldes verlassen hatten und jetzt über einen schmutzigeren Pfad gingen, der durch Asche und Staub führte. Verkohlte und zersplitterte Trümmerstücke knirschten unter seinen Füßen. Die beißende Spreu bedeckte seine Lippen. In der Ferne hörte er, wie Männer Bäume fällten, Echos des Pochens in seinem Kopf. Das Pochen verschluckte alles. Er konnte sich nicht erinnern, wie lange er gegangen war oder woher er gekommen war oder was er getan hatte, bevor er mit den anderen Gefangenen aneinander gebunden worden war. Er fror nicht - was gut war -, aber sein linker Fuß schmerzte noch immer. Ein paar Tage zuvor war der Maulesel darauf getrampelt, und das Gehen tat weh, während er sich an dem Seil festhielt, das ihn an den Gefangenen vor ihm band. Neben dem Kaufmann und seinen zwei angeheuerten Wachen gab es noch sechs weitere Gefangene, die zum Steinbruch unterwegs waren. Zumindest hatte er im Laufe der Reise gelernt, neun Stimmen auseinander zu halten, und mehr als einmal hatte er von einer der Wachen einen Stoß 41 mit dem Stab zu spüren bekommen. Er wäre bestimmt hundert Mal gestürzt, wären nicht die beiden Männer vor und hinter ihm gewesen, ein salianischer Verbrecher namens Willehm und ein Straßenräuber, der sich selbst »Wanderer« nannte.
»Vorsicht, Schweiger«, rief Will; er gebrauchte den Namen, mit dem auch die anderen ihn ansprachen. Ein sehr passender Name, da er keinerlei Erinnerung an einen anderen hatte, nur eine vage Ahnung von heißen Tränen und wütendem Gebrüll. »Vor dir geht's gleich steil runter. Du musst einen großen Schritt machen und dich darauf einstellen.« Das Seil hinter ihm spannte sich, als Wanderer sich zurücklehnte, um ihm zu helfen. Er schwang den Fuß weit nach vorn und spürte ihn fallen, immer weiter, ganz im Vertrauen auf Wills Hinweis. Der Fuß traf auf lose Erde, zerstoßene Blätter und die glatten Überreste von Holzkohle; er rutschte zur Seite weg und ruderte mit den Händen in der Luft. Schlagartig spannte sich das Seil beiderseits von ihm, und er richtete sich wieder auf und grub die Zehen in den Boden, um Halt zu bekommen. An diesem Ort herrschte ein Gestank, der seine Nase reizte und dazu führte, dass ihm schwindlig wurde und seine blinden Augen schmerzten. Bei jedem Atemzug brannte es in der Lunge. »Weiter!« Die Peitsche des Meisters knallte so dicht bei ihm, dass er den Luftzug an der Wange spürte. Aber er hatte schon zu viele Verletzungen und Prellungen erlitten, um noch zusammenzuzucken. Wanderer stieß einen leisen Fluch aus, als Will am Seil zog, um ihn weiterzutreiben. »Wir gehen durch die Reste zweier alter Holzkohlenmeiler«, sagte Will, der ihm häufig die Gegend um ihn herum beschrieb. »Sie sind bis auf den Grund niedergebrannt und abgeräumt worden. Da ist ein brennender Meiler im Westen 42 nein, es sind zwei. Ich kann Rauch zwischen den Bäumen sehen.« »Es stinkt grauenhaft«, sagte Wanderer. »Die Luft ist pechschwarz vor Rauch. Hier sollen irgendwelche Dämonen hausen, habe ich gehört. Sie brennen Eisen aus der Erde und verschmelzen es mit dem Blut von Menschen.« »Nein, das ist nicht wahr. Ich sehe Männer, die Bäume fällen. Weshalb sind wir hier, wenn nicht deshalb, um in den Schmieden zu arbeiten?« »Sie werden uns töten und unser Blut in geschmolzene Speere und Schwerter gießen.« »Sie werden uns zu Tode arbeiten lassen, glaube ich eher«, wandte Will ein. »Wir sollen Erz zutage fördern. Gruben graben.« »Bäume fällen wie sie? Das ist eine Arbeit, bei der man stark genug wird, um Fesseln sprengen und fliehen zu können.« »Du glaubst, sie geben uns Äxte, mit denen wir unsere Seile durchhauen könnten?« Will lachte kurz auf. »Nein, wir sind für den Bergbau und die Schächte gedacht. Und dabei hasse ich die Dunkelheit.« »Ich habe gehört, dass Kobolde da unten hausen. Sie essen das Fleisch der Menschen, wenn sie welche zu fassen kriegen. Wenn ein Gefangener zu schwach zum Arbeiten ist, lassen die Meister ihn in den tiefsten Schacht runter und überlassen ihn den Kobolden. Und die stopfen als Gegenleistung Silber und Blei in Eimer. Sie lieben Menschenfleisch! Sie fressen einen ganzen Menschen mit Haut und Haaren! Lebendig!« »Woher hast du bloß solche Geschichten?«, fragte Will. »Ich glaube dir nicht.« »Du bist ein Narr, wenn du mir nicht glaubst. Hast du nicht die Dämonen gesehen, die uns verfolgen? Sie sehen wie zwei große schwarze Hunde aus, aber sie haben rote Augen und 43 Fänge, und sie fressen totes Fleisch! Ich habe gesehen, dass die Wachen eines Abends Pfeile auf sie abgeschossen haben. Hast du sie in der Nacht nicht bellen gehört?« »Viele hungrige Hunde streifen durch die Wälder. Wer den Wald nicht kennt, sieht alle möglichen Kreaturen in den Schatten, aber das heißt nicht, dass es sie wirklich gibt.« »Du kannst glauben, was du willst. Ich habe fünf Winter in den Wäldern gelebt. Ich habe dunkle Schatten umherschleichen sehen. Ich habe Geister im Wind zittern sehen. Ich habe gegen Wölfe gekämpft. Ich habe Waldnymphen geküsst, aber ihr Atem stank nach verfaulten Wasserpflanzen. Hättest du gesehen, was ich gesehen habe, würdest du nicht zweifeln.« »Das mit den Wölfen glaube ich«, sagte Will. »Der Sohn von dem Vetter meiner Tante ist von Wölfen gefressen worden. Sie haben ihn in Stücke gerissen. Dabei war er auf dem Heimweg von der Messe gewesen, an Dhearc.« »Also im Winter«, erwiderte Wanderer. »Da sind die Wölfe am hungrigsten. Sie fressen alles. Am liebsten mögen sie allerdings fette Säuglinge.« »Still, ihr plappernden Krähen!«, blaffte der Mann, der hinter Wanderer angebunden war. Er hatte eine harte, unangenehme Stimme, die wie ein Hieb war, wenn sie einen traf, und er roch außerordentlich schlecht, wie verrottendes Süßes. »Still«, murmelte Will, denn die anderen hatten Angst vor dieser Stimme; ihre eigenen Stimmen verrieten das, wenn sie sich nachts leise unterhielten oder auf die Bemerkungen oder Sticheleien des Mannes antworteten. Um die ihn umgebende Welt zu verstehen, musste er zuhören. Er hatte ihre leisen Bekenntnisse gehört; sie sprachen häufig so, als wäre er gar nicht da. Will hatte für seine verkrüppelten Eltern Brot vom Tisch eines Bischofs gestohlen; Wanderer war mit einer Bande hungernder Straßenräuber 44 erwischt worden, als sie die Milchkuh einer Edelfrau stehlen wollten; die Übrigen waren um nichts besser oder schlechter - viele waren hungrig, und die letzten beiden Ernten waren schlecht gewesen. Aber der, den sie Robert
nannten, hatte den anderen niemals von seinem Verbrechen erzählt, und es kam ihnen so vor, als wäre er ein übler Mörder. In der Nähe wurden Äxte in Holz geschlagen; ein Mann rief eine Warnung, und ein Baum knirschte, ächzte und stürzte schließlich mit einem lauten Krachen um, das den Boden erzittern ließ und durch die Fußsohlen drang. Der Wind drehte, trug den Gestank zum größten Teil weg. Kein einziger Vogel sang. Furcht kroch über seine Schultern. Auch an einem anderen Ort waren die Vögel geflohen, alle. Alle waren weg. Ein schrecklicher Schmerz breitete sich in seinem Bauch aus, als er jetzt weinte, sich an nichts anderes erinnerte als daran, dass seine Hände nass von Blut gewesen waren. Wo war er gewesen? Was hatte er getan? Wer bin ich? Gedankenblitze flackerten auf. Schiffe gleiten geräuschlos ans Ufer, an einen schimmernden Sandstrand, der berührt wird vom Licht der sich über die niedrigen Berge erhebenden Morgensonne. Weil sie von Westen kommen, liegen die Schiffe einigermaßen im Schatten - vielleicht ist es aber auch nur der Hauch des Todes und der Zerstörung, der über ihnen schwebt. Was ihnen entströmt, kann unmöglich menschlich genannt werden, aber diese Kreaturen sind auch keine Tiere. Mit ihren seltsamen, scharfkantigen Gesichtern, ihren Gliedmaßen und dem Rumpf ähneln sie den Menschen sehr. Aber im Sonnenlicht glänzt ihre Haut, als wäre sie mit Metallschuppen aus Bronze, Kupfer oder Eisen versehen, und jeder von ihnen trägt auf seinem Körper ein Muster aus weißen Narben oder leuchtende Zeichen aus schreiend gelber, weißer oder roter Farbe. 45 Furcht erregende Hunde laufen neben ihnen her, springen ins Gewühl, beißen und reißen. Die Verteidiger dieses ruhigen Guts kämpfen heftig und mit großem Mut, angeführt von einem gut aussehenden jungen Edelmann mit einem Schild und einem Schwert, aber die Eindringlinge sind in der Überzahl. Es ist nur eine Frage der Zeit. Die Halle des Edelmanns fängt Feuer, und Flammen lodern aus dem Strohdach. »Heh! Du kannst jetzt stehen bleiben, Schweiger. Wir sind da.« »Ist es nicht seltsam, dass er uns manchmal zu hören scheint, aber dann wieder den Eindruck macht, als wäre er übergeschnappt? Vielleicht ist er einer von denen, deren Seelen von Wichten ausgesaugt worden sind.« »Ich bedaure ihn, den armen Mann.« »Nun gut, Freund. Ich bedaure uns alle, wenn ich mich umsehe und erkenne, in was für ein Loch wir hier geraten sind. Ein großes, klaffendes Loch im Boden. Sieh nur diese Teiche mit dem dreckigen Wasser! Puh, wie das stinkt! Ich habe nicht vor, den Rest meines Lebens hier zu verbringen, das schwöre ich dir.« »Still, Wanderer. Darüber reden wir später, wenn uns niemand hören kann. Komm jetzt, Schweiger, setz dich. Der Meister spricht mit dem Aufseher. Gott mögen uns helfen, das hier ist ein bitterer und hässlicher Ort.« Eine Hand drückte ihn nach unten, und er setzte sich hin, benommen und verblüfft. Nur wenn er träumte, konnte er sehen, und dann erlitt er solch beängstigende Visionen, dass es fast eine Erleichterung war, wenn die Dunkelheit ihm die Träume nahm, was sie immer tat. Wind wehte über sein Gesicht. Die anderen Gefangenen um ihn herum murmelten unruhig. Gesteinsstaub machte die Luft klebrig, und überall erklangen die Geräusche von 46 Hacken und Schaufeln und das Knirschen von Rädern auf Stein. »Da geht der Meister«, sagte Wanderer. »Zurück nach Hause, zu einem weichen Bett, gutem Bier und dem nächsten Haufen unglücklicher Männer. Er muss froh sein, diesem Höllenloch zu entkommen.« »Ich hasse dich«, sagte Robert. Die Gefangenen rührten sich unruhig, als sie diese Worte hörten. Er konnte spüren, wo die anderen sich befanden; drei waren links von ihm und fünf zu seiner Rechten, mit so viel Platz zwischen sich und Robert, wie sie nur aufbringen konnten. »Ich glaube nicht, dass er mit dir spricht«, flüsterte Will. »Die Wichte haben seine Seele auch gestohlen«, murmelte Wanderer. »Ich hasse dich. Nein. Nein, sieh hin! Sieh all das Blut! Ist das ihr hübsches Gesicht?« Die Wut und die Verzweiflung in dieser Stimme vergifteten die Luft genauso sicher wie all der Staub, die Asche und der Gestank der Schmieden in der Ferne. Er streckte die Hand aus, packte zu und fand einen behaarten, muskulösen Arm, der zu Robert gehörte, aber eine Hand schlug die seine weg, und die Stimme verfluchte ihn, während sie zugleich weinte, Tränen und Wut untrennbar vermischt. Er zog die Hand zurück, die jetzt nass von den Tränen des anderen Mannes war. »Auf! Auf! Ihr kriegt hier nicht dafür was zu essen, dass ihr auf eurem Hintern sitzt! Hört zu, Männer. Ich bin Fautscher, der Aufseher hier. Ihr werdet Steine vom Steinbruch herschleppen. Arbeitet hart, dann kriegt ihr was zu essen und seid in zwei Jahren wieder frei.« »In zwei Jahren.« Wills Atem strich an seiner Haut entlang, trug die gemurmelten Worte zu ihm. 47 »So lange werde ich nicht warten«, flüsterte Wanderer. Willehm und Wanderer saßen so dicht beiderseits von ihm, dass er sich tatsächlich beschützt fühlte.
»Wer von euch ist der Taubblinde? Und wer der Verrückte? Diese beiden da? Bringt sie zu den Rädern.« Seine Kameraden fluchten leise vor sich hin, als sich Schritte näherten. »Wie kann ein blinder Mann auf dem Rad gehen?«, fragte Will kühn. »Er kann sich nicht wehren, wenn der Verrückte auf ihn losgeht«, sagte Wanderer. »Bewegt euch, ihr beiden! Was geht das euch überhaupt an ? Wer wäre besser für die Tretmühle geeignet als ein Blinder? Für ihn ist doch alles gleich!« Fautscher kicherte. »Und dem Verrückten können wir keine Werkzeuge in die Hand geben, deshalb wird auch er auf dem Rad gehen. Andernfalls wird er sich seinen Aufenthalt hier in den tiefen Schächten verdienen müssen! Was auch für euch gilt, sobald mir einer von euch Ärger macht.« Sie murmelten, rückten aber zur Seite. Eine Hand packte ihn am Ellbogen, zog ihn hoch, während gleichzeitig grob an den Seilen gezerrt wurde, mit denen er festgebunden war. Sie schürften seine Haut auf, ehe sie sich lockerten. Die anderen verhielten sich ruhig, als er unsanft weggeführt wurde. Jeder Schritt ging durch Mark und Bein, zuckte das Rückgrat hinauf und pochte in seinem Kopf. Die stechenden Schmerzen hinter seinen Augen und seinem geschwollenen Ohr waren so groß, dass er stolperte und stürzte, sich die Knie an spitzen Steinen aufschlug. Agonie verschluckte ihn. Der Lärm verklang in einem Nebel aus Geräuschen, wie Wellen, die sich an Felsen brachen. Wasser rauscht durch einen schmalen Kanal, der in den Fels gehauen ist, zischt dann den verborgenen Strand entlang, ein halbmondförmiges Ufer, das aus wenig mehr als 48 Steinen und Kieseln besteht und schon bald vom kommenden Sturm verschluckt werden wird. Hier, inmitten der Inseln, die die Schnatterinseln bilden, wartet er mit seinem Gefolge an einer Stelle zwischen Meer und Land, wo weder er noch seine Verbündeten einen Vorteil haben. Ein blasser Rücken zerteilt das schäumende Wasser, gefolgt von einem zweiten. Regen prasselt auf den Strand und trommelt auf die Steinsäulen, die den größten Teil dieser Insel ausmachen, Gebeine, die auch die endlosen Gezeiten des Meeres nicht weiter abzutragen vermögen. Hin und wieder sieht er Knicknas-Fels durch den dunstigen Regen, jene Faust, an der er seine Eroberung von Alba begonnen hat. Wolken und Regen verhüllen die Küste, aber er muss nicht sehen, was jetzt ihm gehört. »Da! Habt Ihr das gesehen?« »Was denn, Lord Erling?« »Da!«, ruft der junge Erling, macht einen Schritt zurück und erinnert sich plötzlich, dass er dadurch vor den anderen seine Furcht verraten hat - vor denen, die stets bereit sind, die kleinste Schwäche seiner Landsleute wahrzunehmen. Aber die anderen, sogar die von seinem eigenen Volk, zucken ebenfalls zusammen. Nur er allein hat keine Angst vor dem, was aus dem Meer kommt. Vier von ihnen ziehen sich selbst aus dem Wasser, bis nur noch ihre Schwänze in der Brandung hängen. Wellen bäumen sich ächzend auf und umhüllen sie, ziehen sich dann murmelnd zwischen die Steine zurück. Die flachen, roten Augen lassen nicht im Geringsten auf einen Verstand schließen, aber dieser befremdliche Eindruck täuscht. Sie grinsen, enthüllen dabei scharfe Zähne. Ihre Haare zucken und wirbeln, leben auf eine ganz eigene Weise, denn jede dicke Strähne besitzt einen nach Luft schnappenden Mund, der Luft oder Beute oder Wasser sucht oder eine Spur seiner Gedanken - wer kann das schon wissen? 49 Der größte von ihnen wuchtet sich ganz den Strand hoch. Sein riesiger Schwanz macht ihn unbeholfen, aber trotzdem nähert sich ihm niemand von denen, die ans Land gebunden sind. Die Klauen und Zähne der Merwesen können einen Menschen in wenigen Augenblicken in Stücke reißen; nicht einmal die Haut der FelsenKinder ist vor ihnen sicher. Die gespaltene Nase öffnet und schließt sich, als würde das Merwesen schnüffeln. Es spricht in einer Weise, die eigentlich zu leise ist, als dass man sie hören könnte, und die Worte klingen seltsam, zu rund und zu flach, denn der Mund und die Kehle sind nicht dazu gedacht, menschliche Laute hervorzubringen. Dennoch sind sie in der Lage, die Sprache der FelsenKinder zu sprechen. »Wir sind auf deinen Ruf hin hierher gekommen.« »Das seid ihr, und dafür danke ich euch.« »Was willst du, Starkhand? Wir geben dir unsere Hilfe. Du gibst uns Nahrung. Was willst du jetzt von uns?« »Ich habe das Gerücht gehört, dass dein Volk flussaufwärts schwimmen kann, ins Süßwasser. Dass ihr nicht ans Meer gebunden seid.« Das Merwesen antwortet nicht. »Hätte ich das gewusst, hätte ich deinesgleichen gebeten, mir als Kundschafter zu dienen. Wenn ich eine wirksamere Möglichkeit hätte, euch zu rufen, könnten wir hierbei zusammenarbeiten.« »Was könntest du uns sonst noch geben?«, fragt das Merwesen. »Was willst du?« Die Antwort der Merwesen kommt als Summen, so leise, dass sich die Worte zuerst nicht voneinander unterscheiden lassen, aber die Kieselsteine am Ufer beben und beginnen tatsächlich zu rollen, scheuern gegeneinander, rutschen weg und verlagern sich. Leisen stürzen von den hohen Steinsäulen überall um sie herum und fallen krachend ins Wasser.
50 Der Wind heult durch die felsige Bucht, als der Sturm hereinbricht. Regen fällt in Strömen, so kalt und heftig, dass er eine kleine Wunde an Erlings Wange aufreißt, woraufhin dieser sich duckt und den Umhang schützend über das Gesicht zieht. »Rache.« »Er ist blind und stumm, Hauptmann.« »Ist er auch taub?« Gelächter folgte. Manche Menschen pflegten so zu lachen, wenn sie Tiere ertränkten - wenn sie sich nicht um ihr Leiden scherten, sondern erheitert ihren Todeskampf beobachteten. Er wurde sich der Gerüche und Geräusche bewusst, auch des kalten Windhauchs, der von unten aufstieg. Der Atem der Grube. Wo war er? Wie war er hierher gekommen? In der Ferne bellte ein Hund, aber das Gelächter eines Mannes übertönte es einen Augenblick später. »Umso besser, Fautscher. Wir werden ihn zum untersten Rad schaffen, wo es keinen Unterschied macht, ob er sehen kann oder nicht. Er braucht keine Ketten. Seile werden reichen. Wie soll er weglaufen, wenn er blind ist?« »Bist du sicher, dass er arbeiten kann? Er sieht aus, als wäre er schwachsinnig.« »Mir kommt er stark genug vor.« »Und wenn er zu dumm ist, um zu wissen, was er zu tun hat?« Wieder erklang Gelächter, diesmal vermischt mit dem Geruch von Zwiebeln, nach denen der Atem des Mannes roch. »Behandle ihn wie ein Tier, dann wird er's schon merken. Wenn er geht, passiert nichts. Wenn er stehen bleibt, kriegt er die Peitsche.« »Ich hasse dich.« Die Bemerkung verursachte Aufruhr. Er hörte Männer um 51 sich herum flüstern. Es waren zu viele, um die Stimmen auseinander zu halten, aber ihre Furcht hatte einen prickelnden Duft, der sich wie Nadeln in seine Haut bohrte. »Gott im Himmel, für den da werden wir allerdings Ketten brauchen«, sagte derjenige, der Hauptmann genannt wurde. »Sie nennen ihn Robert. Er hat einen üblen Blick. Wir stecken ihn mit dem Blindstummen nach unten. Was der eine nicht sehen und hören kann, kann der andere nicht zum Unruhestiften benutzen.« »Glaubst du, der Blinde wird bei dem Verrückten auch nur eine Woche am Leben bleiben, Hauptmann? Er wird von der Tretmühle geschubst werden. Er wird lebendig gefressen werden.« »Sie sind doch sowieso alle schon tot, Fautscher. Was machst du dir Sorgen um sie?« »Der Herzog ist unzufrieden, dass wir letztes Jahr unsere Quote nicht erreicht haben.« »Das war nur wegen der Überschwemmung. Diese Räder sollten das beheben.« »Bei den ganzen Unruhen im Grenzland und dem Bürgerkrieg in Salia will der Herzog dieses Jahr noch mehr haben. Noch mehr Eisen und noch mehr Waffen.« »Dann schaff sie runter und lass sie mit der Arbeit anfangen! Wen hast du mir sonst noch gebracht?« »Verbrecher. Die üblichen Rüpel und vagabundierenden Taugenichtse. Hauptsächlich Diebe. Ich habe sie zum Steinbruchmeister geschickt.« »Wir brauchen vielleicht noch welche in den Schächten, um die beiden Felsstürze wegzuräumen.« »Besser sie als wir. Ich fürchte dieses Geflüster, Hauptmann, das muss ich sagen.« »Ich werde dich nicht in die tiefen Schächte schicken, Fautscher. Du hast mir gut gedient. Deine Knochen werden nicht von den Kobolden angeknabbert!« Er lachte erneut, so mun52 ter, dass man hätte einstimmen können, wäre da nicht die Bemerkung gewesen, die dem Lachen vorausgegangen war. Solche Hinweise ermutigten den Schweiger nicht gerade weiterzugehen. Jemand stieß ihn von hinten mit einem Speerschaft an, und er stolperte vorwärts, während die Männer um ihn herum angesichts seiner Verwirrung schallend lachten. Er wurde an den Rand eines offenen Lochs gedrängt, aus dem Luft strömte; Luft, die einen scharfen, trockenen Geruch mitbrachte, den er schon einmal gerochen hatte. Welche Erinnerung nagte da an ihm? Kreaturen, die in der Dunkelheit umherschlurfen. Er strich mit den Fingern über das Bronzearmband, seinen einzigen Besitz, und Bilder flackerten auf, wie Lampenlicht, das eine schwarze Höhle beleuchtet: Er zerrt Kel und Beor vom Rand der klaffenden Spalte weg, während ein sengender Wind vom Abgrund heraufweht und in seinen Augen brennt. Seine geliebte Adica lebt, und sie haben sie vor den Ashioi gerettet, die jetzt auf der anderen Seite der Spalte stehen und sie verfluchen. In den Schatten jenseits des sich bewegenden Lichts schnattern Skrolin mit leisen Stimmen und verschwinden im Felsen. Das Bronzearmband pocht auf der Haut seines Oberarms; als die Dunkelheit hereinbricht, leuchtet es mit dem unheimlichen Glanz von Magie. »Weiter!« Eine Hand schlug ihm aufs Ohr, kam aus dem Nichts und traf genau dort, wo es bereits geschwollen war. Der Schmerz barst in seinem Schädel und ließ seine Erinnerung in tausend Scherben zerplatzen. »Weiter! Stell deinen Fuß auf die Sprosse. Da. Da! Was für ein Dummkopf!« »Sei nicht so grob zu dem Mann, Fautscher. Er kann nichts dafür, dass er blind ist.«
»Vielleicht. Vielleicht aber doch.« 53 »Was ist das für ein Armband, das er da hat? Es sieht wertvoll aus.« »Meister Richard hat mich gewarnt. Er sagt, es verbrennt jeden, der es anfasst.« »Wirklich?« »Wenn du seinen gierigen Blick gesehen hättest, würdest du ihm glauben. Ich bin dafür, dass wir warten und es ihm wegnehmen, wenn er gestorben ist.« »Ich frage mich ...«, sinnierte der Hauptmann, aber ihre Stimmen verklangen, als er in einem Tumult aus Gepolter, Krachen und Echos versank. Eine Holzsprosse rutschte unter seinem tastenden Fuß weg. Er fand Halt und kletterte nach unten, ohnehin die einzige Richtung, die er nehmen konnte. Andere führten ihn, reichten ihn von einer Hand zur nächsten weiter, erst einen, dann einen zweiten Schacht hinunter, bis er den Eindruck hatte, als würde sich der Fels um ihn herum schließen und dabei leise von seinem Alter und der Schändung seiner verborgenen Bereiche künden. Jetzt roch er wieder brennendes Öl und eine Rauchschwade. Einmal stolperte er in einen Graben voll strömenden Wassers. Schließlich ketteten sie ihn auf einem geschwungenen hölzernen Laufgang an, der ein riesiges Rad war. Sie schubsten ihn so lange, bis er begriff, dass sie von ihm verlangten, dass er gehen sollte, um beim Gehen das Rad unter den Füßen zu drehen. Wasser gurgelte und spritzte, wogte aus der Tiefe auf und schoss nach oben. Das ständige Ächzen und Poltern anderer Räder unter den Schritten anderer Männer über ihm war zu hören. Er ging weiter, die Ketten rasselten, und nach einer Weile bekam er den richtigen Dreh raus; seine Schritte wurden sicherer, und er fürchtete nicht mehr, dass er stolpern und fallen und endlos tief in die Dunkelheit stürzen könnte, die sich überall um ihn herum ausbreitete. Die Holzleisten des Rades 54 glitten sanft unter seinen Schritten dahin, abgenutzt von den vielen gleichmäßigen Schritten all der unglücklichen Sklaven, die vor ihm hier gewesen waren. Waren sie hier auch gestorben? Aber es fiel ihm so schrecklich schwer zu denken, weil sein Kopf schmerzte. Er hörte nie auf zu schmerzen. Es war einfacher, nur weiterzugehen. Nach einer sehr langen Zeit machten sie ihn von den Ketten los und führten ihn in eine Höhle, in der er den süßen, brandigen Geruch des irren Robert roch. Flüche hallten durch die Dunkelheit, als der Verrückte an der Stelle angekettet wurde, die er soeben verlassen hatte. Hier auf diesem harten Stein durfte er schlafen, obwohl Roberts Raserei ihn auch noch in seinen unruhigen Träumen verfolgte. Sie weckten ihn, gaben ihm Haferschleim, stießen ihn hoch und ketteten ihn wieder an das Rad, wo er schier ewig weiterging, stumm und in Dunkelheit. 3 »Da«, sagte Marcus. »Das haben wir gesucht.« Zacharias zuckte angesichts der Ruinen von Kartiako zusammen. Nie hatte er etwas so Prachtvolles gesehen, das derart verfallen gewesen war. Sie gingen den halben Morgen von der Gartenstadt Qahirah in ein Gebiet, das schlagartig ab einer bestimmten schroffen Linie bar jeden Lebens war, so dass auf der einen Seite bewässerte grüne Felder standen, während der Boden auf der anderen Seite kahl war. Auf drei Hügeln, die aus dem Vorgebirge oberhalb des Meeres ragten, erhoben sich die Überreste einer großen Stadt, die jetzt mutwillig zerstört war und in Trümmern lag. Dennoch staunte, wer immer sich ihr näherte, angesichts der Säulen und Bö55 gen, der zerbrochenen Aquädukte und umgestürzten Mauern, der komplizierten Anlage einer großen Stadt, die einst das Mittlere Meer beherrscht hatte. »Ihr seht in die falsche Richtung«, sagte Marcus zu Zacharias, als sie den staubigen Pfad verließen, der über die öde Ebene auf die Hügel und die Stadt zuführte. Die Maulesel wirbelten Dreck auf, dessen Staub die Luft vernebelte. Die Ortsansässigen, die Schwester Meriam angeheuert hatte, zogen die Enden ihrer Turbane über die Gesichter, um sich vor dem beißenden Staub zu schützen. »Hierher. Seht Ihr es?« Ein niedriger Berg befand sich außerhalb der eingestürzten Mauer, die einmal Kartiako umgeben hatte, und dahinter lagen die Kammlinien eines zerklüfteten Landes, Felsen und Sand ohne jeden Hinweis auf irgendwelches Leben. Knochen ragten aus dem Hang dieses Berges, aber als sie näher kamen, begriff er, dass es Säulen waren, die in einem in die Länge gezogenen Kreis standen. Das flache Land täuschte, was Entfernungen betraf; salziger Staub knirschte zwischen ihren Zähnen, während sie den Rest des Morgens marschierten und erst nach Mittag den Fuß des Berges erreichten. Ein schmaler Pfad schlängelte sich zur Kuppe hoch, und Zacharias musste zweimal blinzeln, ehe er begriff, dass es sich bei dem dunklen Wesen, das hastig den Pfad herabeilte, nicht um ein Insekt handelte, sondern um einen in schwarze Wüstenkleidung gehüllten Mann, der einen Stab in der Hand hielt. »Nicht ein einziger Stein ist umgestürzt«, sagte Meriam. Der Herbergsvater hatte seinen ältesten Sohn zur Verfügung gestellt, um sie zu der Ruine zu führen, und jetzt bedeutete der junge Mann ihnen zu schweigen. Er kniete nieder, und auch die anderen Ortsansässigen knieten nieder, neigten die Köpfe, während der alte Mann vor ihnen stehen blieb. Das Gewand, das er trug, verbarg alles bis auf Augen und Hände.
56 Für jemanden, der von so kleiner Statur war, sprach er mit überraschend tiefer Stimme. Meriam übersetzte. »Wer sind diese Geehrten? Welche Wünsche könnten sie an diesen heiligen Ort führen? Ich bin der Wächter hier. Ich kann ihre Fragen beantworten.« »Ich gebe zu, dass ich neugierig bin, wieso der Steinkreis sich in solch gutem Zustand befindet«, sagte Marcus. »Bei allen anderen, die wir gefunden haben, musste mindestens ein Stein aufgerichtet werden, um den Kreis zu vollenden.« Es war Zacharias unmöglich, irgendeine Gefühlsregung in der Haltung oder Miene des alten Mannes zu erkennen, denn beides war von seinem Gewand verborgen. Die Augen verrieten gar nichts; er kniff sie hin und wieder zusammen, während Meriam die Fragen von Marcus übersetzte und zweifellos ein paar eigene Erklärungen hinzufügte. Als sie geendet hatte, warteten sie schweigend, während der Hüter nachdachte. Weit entfernt, jenseits der staubigen Ebene, schimmerten grüne Felder wie ein Trugbild. »Kommt.« »Was habt Ihr ihm gesagt ?«, fragte Marcus, während sie den Berg hinaufstiegen. Ihr Gefolge marschierte hinter ihnen her. Meriam ritt auf einem der Maulesel, den ein Diener führte. »Dass wir gekommen sind, um die Kronen zu sehen. Er ist ein gebildeter Mann. In diesem Gebiet sprechen die meisten Leute die ortsübliche Sprache, und nur wenige sind in der Sprache der Priester unterrichtet worden. Dass er sie so gut beherrscht, ist ein Zeichen dafür, dass er mehr weiß, als wir vielleicht ahnen. Er ist kein gewöhnlicher Hüter, der einfach nur sauber macht und für Ordnung sorgt. Seid vorsichtig. Begegnet ihm respektvoll.« Marcus schnaubte. »Wenn Ihr ihn nicht mit Respekt behandeln wollt, weil er ein Ungläubiger ist, Bruder, bitte ich Euch, wenigstens um meinetwillen höflich zu ihm zu sein.« 57 »Also gut, Schwester. Um Euretwillen. Ich habe kein Vertrauen in die Bildung von Ungläubigen.« »Ihr werdet Euch noch viele weitere Monate bei ihnen aufhalten müssen, Marcus. Passt auf, dass Euer Hochmut sie nicht dazu bringt, sich gegen Euch zu wenden.« Er kicherte. »Ich werde vorsichtig sein und schweigen, wo ich Falsches sehe.« Als sie die Bergkuppe erreicht hatten, begann der Wind heftiger zu wehen, und Zacharias machte es den jinnischen Angeheuerten nach, indem er wie sie Mund und Nase mit Stoff bedeckte, um den Staub fern zu halten. Er hatte noch nie so salzige Luft geschmeckt, vermischt mit Staubkörnern, die sich zwischen den Zähnen festsetzten. Von der Bergkuppe aus konnten sie durch den Dunst hindurch in Richtung Westen bis nach Qahirah sehen und im Nordwesten bis zur Ruine von Kartiako. Der alte Mann schritt in die Mitte des Kreises, öffnete die Arme und machte eine ausschweifende Bewegung, die die gesamte Szenerie einschloss. Meriam übersetzte, als er zu sprechen begann. »Ihr fragt Euch, wieso dieser heilige Ort nicht in Trümmern liegt. Das liegt daran, weil die jinnischen Magi ihn bewahren. Es ist ein heiliger Ort. Ein uralter Kampf ist hier gefochten worden, eine große Schlacht gegen die Eindringlinge, die Verfluchten.« »Ist es möglich, dass die Geschichte sich bei den Ungläubigen so lange erhalten hat?«, fragte Marcus. »Still«, erwiderte Meriam. »Ich möchte hören, was er zu sagen hat.« Der alte Mann ging zur östlichen Seite des Berges, die scharf zu einer Senke abfiel und sich dann zu den kahlen Felskämmen auffaltete, die bis weit zum östlichen Horizont verliefen. Die Flanke des am nächsten liegenden Kammes war mit Löchern übersät. 58 »Unter diesen Bergen befinden sich Höhlen. In den alten Tagen haben die Alten eine Zeit lang da unten gelebt, aber jetzt ist dort alles verfallen. Verflucht. Sie haben Götzen gehuldigt und Kinder geopfert.« Der alte Mann sah ihnen der Reihe nach in die Augen, als suche er nach dem Bösen. Zacharias zuckte zusammen, als ihn der Blick traf; all seine Sünden schienen aus ihm herauszuströmen und nackt im Licht zu stehen. Aber der alte Mann zeigte keine Reaktion, sondern sah Marcus an, dann Elene und schließlich Meriam. Er nickte. »Astareos hat uns all diese Gräuel verboten, entsprechend den Gesetzen des Himmels. Respektiert ihr die Gesetze des Himmels?« »Oh Gott, Meriam, erwartet er von uns, dass wir irgendeinen heidnischen Eid schwören? Wir huldigen Gott auf die richtige, angemessene Weise. Ich kann sein Gefasel nicht länger ertragen. Wenn die Steinkrone keiner Ausbesserungen mehr bedarf, gibt es keinen Grund, wieso wir unsere letzten Berechnungen nicht heute Nacht anstellen sollten. Dann könnt ihr euch morgen Nacht mit Elene auf den Weg machen. Die Himmel werden ihr Wirken nicht unserer menschlichen Schwächen wegen verlangsamen. Es gibt viel zu tun -und wir haben weniger Zeit, als wir brauchten. Es sind kaum noch achtzehn Monate bis zu dem Tag, auf den wir uns schon so lange vorbereiten.« »Seid nicht so hastig, Marcus. Was er weiß, könnte sich für uns als sehr wertvoll erweisen, wenn wir am wenigsten damit rechnen.« Aber obwohl sie noch mindestens eine Stunde mit dem Mann sprach, gestand sie Marcus gegenüber am Ende
ein, dass sie nichts Besonderes erfahren hatte, abgesehen von den in dieser Gegend herrschenden Legenden über Ungeheuer, Sandstürme und verlorene Höhlen voller augenloser Schlangen. Die Bediensteten stellten Zelte zum Schutz vor dem 59 Wind auf, und als die Dämmerung hereinbrach, wurde die Luft ruhiger, der Dunst löste sich auf, und die Sterne schimmerten so hell und klar, dass man den Eindruck hatte, als könnte man geradewegs nach ihnen greifen. Marcus nahm seinen Stift und die Wachstafel und setzte sich mit gekreuzten Beinen auf eine auf dem Boden ausgebreitete Decke. Rechts von ihm brannte eine Lampe. Hastig kritzelte er Berechnungen auf die Tafel und wischte sie dann wieder weg. Die ganze Zeit über murmelte er vor sich hin. Zacharias hockte sich neben ihn. »Kann ich lernen, das zu tun?« Marcus antwortete ihm, ohne aufzublicken. »Könnt Ihr schreiben? Seid Ihr mit Zahlen, Summen und Geometrie vertraut? Nein? Dann müsst Ihr warten. Ich kann Euch nur Schritt für Schritt etwas beibringen. Ihr müsst jetzt die Rolle von Bruder Lupus übernehmen.« »Was ist die Rolle von Bruder Lupus?« »Cauda Draconis. Der Schwanz des Drachen. Der Geringste von uns. Und jetzt seid still.« Es war schwer, still zu sein. Er wünschte sich so sehr, das zu haben, was Marcus besaß, dass sein Wunsch sich wie der Sand überall eingrub, in sämtliche Hautfalten und in die Mundwinkel drang, sich in seinen Augenbrauen verfing und den Weg in seine Haare fand. Jedes Mal, wenn er seine Position veränderte, schüttelte er Sand von der Kleidung, der durch Beinkleider und Stiefel drang und knirschend zwischen den Zehen hing. Er hatte sich eine Blase geholt, obwohl er gedacht hatte, dass seine Füße zu kräftig waren, um etwas anderes als Schwielen hervorzubringen. Niemandem war es gestattet, oben auf dem heiligen Berg ein Feuer zu entfachen, und der kalte Nachtwind, der von der Wüste heranwehte, vertrieb die Hitze des Tages. Zacharias zitterte in seinem Umhang, als er im Mondlicht umherging. Im Osten kennzeichneten winzige Lichtpunkte die Mauern 60 von Qahirah, und er stellte überrascht fest, dass er für einen kurzen Moment das unstete Flackern eines Feuers in der Ruine von Kartiako sehen konnte. Hatte er sich die Flammen nur eingebildet, oder waren sie gelöscht worden? Die öde Ebene lag dunkel und nichts sagend da, wirkte mehr wie ein Ozean als ein Stück Land. Ihre Position hier draußen, so weit weg von all den Orten, an denen sich Menschen trafen, kam ihm gefährlich vor, obwohl Meriam immerhin zwanzig Leute angeheuert hatte. Gab es hier draußen Banditen? Sein Stiefel schlurfte über den Boden, und ein kleiner Gegenstand klapperte und rollte weg, blieb an einer Stelle liegen, an der der Boden wieder leicht anstieg. Waren das Fingerknöchelchen? Er zitterte und drehte sich wieder zu der Lampe um, in deren flackerndem Schein er Marcus neben Meriam sitzen sah; der Geistliche widmete sich seinen Zeichen und wischte die Tafel sauber, während die alte Frau ihm leise Bemerkungen zuflüsterte. Elene schritt zwischen den Steinen umher, hob einen Stab, der nicht länger war als ihr Arm, und maß damit die Steine, hielt ihn vor die Sterne. Sie alle blickten immer wieder zum Himmel empor. Ein scheußlicher Schrei erhob sich von Osten, ein Wehklagen, das die klare Nachtluft erzittern ließ. Meriams Bedienstete sprangen auf, und die Ortsansässigen schrien hysterisch und packten ihre Stäbe und Äxte. Einer weinte. Das Wehklagen ließ Zacharias frösteln, bis er regelrecht zitterte, und doch brach ihm der Schweiß aus, als er in die Dunkelheit starrte. Es gab nichts zu sehen. Ein Geruch hing über ihnen, herbeigeweht vom Wind: Aasgestank, mit Honigsüße getränkt, so widerlich und übel, dass ihm schlecht wurde. Der Hüter tauchte aus den Schatten auf, die die Steine zur Hälfte verschluckten, und eilte zu der Decke, auf der Marcus und Meriam an ihren Formeln arbeiteten. Er rief den ande61 ren etwas zu, und die angeheuerten Ortsansässigen eilten gemeinsam ins Innere des Steinkreises, vollkommen still und offensichtlich verängstigt. »Kein Licht! Kein Licht!« Die Worte kamen in verständlichem Dariyanisch, aber das Entsetzen, das im Blick des Hüters lag und ihn die Augen zusammenkneifen ließ, war in jeder Sprache zu verstehen. »Wo ist Elene?«, rief Meriam. Der alte Mann rief Worte, die Zacharias nicht kannte, und reckte den Stab über seinen Kopf. Licht blitzte aus den Steinsäulen auf. Fäden tanzten zwischen den Sternen und der Erde, bildeten einen schimmernden Zaun um die Säulen herum. Durch dieses Licht erkannte Zacharias, wie gleich jenseits der Steine ein gewaltiger Schatten zuckend und zitternd in den Lichtschein eintauchte und ihn wieder verließ, zuerst in Gestalt einer Frau, dann als riesige Schlange. Die Männer hinter ihm stöhnten vor Entsetzen, riefen: »Akreva! Akreva!«, und sanken zu Boden, als wollten sie sich vor dem Feind in den Staub werfen. »Im Namen Gottes, Meriam, was ist das für ein Wesen?«, fragte Marcus. »Wo ist Elene?« Eine Gestalt kam vom Berghang heran geschossen, aber die abscheuliche Frau-Schlange glitt schneller voran, als
es irgendeiner irdischen Kreatur möglich war, und schnitt Elene so den Rückweg ab. Das Mädchen saß jenseits des vom Beschwörungsbann geschützten Zufluchtsortes fest, leichte Beute für das näher kommende Ungeheuer. Sie hob ihren Stab, aber es handelte sich nur um einen dünnen Stock, mit dem man den Tod nicht abwehren konnte. Das würgende Geräusch, das sich Meriams Kehle entrang und Ausdruck ihres Kummers und Entsetzens war, veranlasste Zacharias zu handeln. Er würde nicht wieder daneben stehen und zusehen wie damals, als die Qumaner vor Wal62 bürg diejenigen angegriffen hatten, die Gnade hatten bewachen sollen. Er würde nicht weglaufen. Es war besser zu sterben, als sich wieder wie ein Feigling zu verhalten. Er riss einem der kauernden Diener einen Stab aus der Hand und stürmte durch das glimmende Netz des Banns. Die Fäden brannten, wenn er mit ihnen in Berührung kam; der Stoff wurde schwarz, seine Haut schmerzte und wurde weiß. Das Ungeheuer bäumte sich vor dem verdutzten Mädchen auf, sein Schwanz peitschte den Boden. Die Schuppen waren mit einer widerlichen Substanz überzogen, die phosphoreszierend glühte. Das Schwanzende lief in einem Stachel aus, und jetzt schlug das Ungeheuer damit zu. Elene schoss zur Seite. Der Stachel am Schwanzende grub sich in den Boden. Staub wirbelte auf. Das Ungeheuer riss den Rachen auf, um seine Wut herauszubrüllen, und ein hoher, schrecklicher Schrei hallte von den fernen Bergen zurück und ließ die Steine erbeben. Die Lichtfäden funkelten und zitterten. Die Männer hinter dem Netz der Beschwörung schrien vor Entsetzen auf. Zacharias sprang vor und versetzte dem Ungeheuer mit aller Kraft einen Schlag auf den in Windungen daliegenden Leib. Es bäumte sich auf, drehte sich zu ihm um. Sein Körper war gewaltig, so dick wie ein Baumstamm und von Muskeln durchzogen. Es schimmerte blass und sah so grotesk aus, dass er am liebsten geweint oder sich erbrochen hätte. Der Gestank trieb ihm Tränen in die Augen. Der lange Schlangenkörper verwandelte sich in eine Ungeheuerlichkeit, die auf groteske Weise einer Frau mit vollen Brüsten und einem schmalen Gesicht ähnelte, dabei jedoch so unbeholfen geformt war, dass das Ganze aussah wie die stümperhafte Arbeit eines schlecht ausgebildeten Handwerkers. Elenes Stimme erklang. »Hört mich, Misael, Charuel, Zamroch. Folgt meinem Ruf. Ich rufe euch an, Sabaoth, Mi63 siael, Mioael. Bereitet für mich ein scharfes Schwert vor, das ihr mit der rechten Hand zieht. Bereitet für mich sieben leuchtende Lichter vor. Vertreibt dieses Ungeheuer aus unserer Mitte!« Es schlug zu. Er war langsam, im Gegensatz zu dem Mädchen. Die Spitze durchbohrte seine Schulter. Er erinnerte sich nicht daran, dass er geschrien hatte. Plötzlich lag er auf dem Boden, und ein kaltes, rasches Brennen breitete sich von der Wunde her aus, verwandelte sein Fleisch in Stein. Er konnte sich nicht rühren. Es starrte auf ihn herunter; das junge Gesicht erinnerte an das eines Mädchens, war aber bar jeder Intelligenz und jeden Gefühls. Scharfe Zähne machten ein klackendes Geräusch, und es holte mit dem Schwanz zu einem zweiten Schlag aus. Wie seltsam, dass die Zeit so langsam verging, während er nach oben starrte. Der Kopf der Kreatur war scheinbar von Haaren bedeckt, aber im letzten Augenblick erkannte er, dass es keine Haare waren, sondern eine sich windende Masse aus zischenden Schlangen, die um ihr Gesicht zuckten. Eine Sternschnuppe blitzte am Himmel auf. Feuer explodierte vor seinen Augen, und das grelle Licht blendete ihn und nahm ihm die Sicht. Das Ungeheuer schrie so gequält auf, dass das Geräusch jede Seele in Stein hätte verwandeln können. Er konnte sich nicht rühren, sondern zitterte nur von Krämpfen geschüttelt, als der Schwanz sich über ihn hinwegbewegte, von einer Kraft gezogen, die er nicht kannte, die er auch nicht sehen konnte. Er sah nur die schweren, grauen Windungen, die auf seiner Brust lasteten. Der Schwanz schrumpfte, bis der weiße Stachel vor seinen Augen trieb; ein Tropfen Gift hing an der Spitze, bereit, jeden Augenblick in seinen Mund zu fallen. Er würde ihm die Zunge verbrennen. Er würde nie wieder sprechen können. 64 Der Boden bewegte sich unter ihm. Hände packten ihn und zerrten ihn über Steine und Sand, ließen ihn dann auf die harte Erde fallen, während um ihn herum furchtsame, aufgeregte Stimmen erklangen. »Es war ein Dämon!« »Nein, es war ein Engel, du Narr!« »Es war ein Phönix! Bist du blind?« »Nicht so blind, dass ich einen Blitz nicht erkennen würde. Das war überhaupt keine Kreatur.« »Gnn, Gnn, Gnn«, sagte er, aber es kamen keine Worte. »Geht es ihm gut?« »Er ist gestochen worden, Schwester.« Sie berieten sich, aber er konnte nur hoch zum Himmel starren, wo Licht brannte, so wie seine Haut brannte. Er zitterte. Es war so kalt, so kalt. »Und der Alte sagt, es gäbe kein Heilmittel gegen den Stich dieses Ungeheuers?«
»Das sagt er, aber ich bin nicht bereit, einen tapferen Mann so schnell aufzugeben.« Wann war es so neblig geworden? Dunst trieb vor seinen Augen. Aber diese Worte erstrahlten vor ihm: einen tapferen Mann. Diese Worte machten ihm Mut. »Was schlagt Ihr also vor?« »Ich bin die Einzige hier, die Fähigkeiten im Heilen besitzt. Wir werden hier bleiben, während ich versuche, mein Möglichstes zu tun.« »Wir haben keine Zeit für so etwas, Meriam. Abgesehen davon ist die Kreatur verwundet, aber nicht tot. Sie könnte zurückkommen.« »Auch wenn wir gehen, werdet Ihr noch in Gefahr sein.« »Vielleicht. Es ist leichter, einen einzelnen Menschen zu beschützen als ein ganzes Gefolge. Ihr wisst, dass ich meine Pläne ändern musste, weil Bruder Lupus uns verlassen hat. 65 Ich kann hier in Qahirah bleiben, bis Schwester Anne ein paar Soldaten schickt, die mich beschützen, wenn es nötig werden sollte.« »Soldaten können ein solches Ungeheuer nicht besiegen.« »Genug! Ihr und Elene müsst morgen bei Anbruch der Abenddämmerung mit den anderen aufbrechen.« »Wollt Ihr ihn dem Tod überlassen, nachdem er meiner Enkelin das Leben gerettet hat?« »Nein. Er kann unser Bote zu Anne sein. Er kann uns noch immer dienen, und indem er uns dient, kann er sich selbst dienen und ...« Der ächzende Wind trug Marcus' letzte Worte davon. Schwester Meriam hatte ihn einen tapferen Mann genannt. Es war besser, tapfer zu sterben, als in Schande zu leben. Es war besser zu sterben, aber er hatte eigentlich gar keine Schmerzen, sondern war nur unfähig, sich zu bewegen oder etwas zu sehen. Er lag da und spürte die Sonne aufgehen, obwohl die Berührung des Lichts ihn schmerzte. Sie spendeten ihm mit einem Stück notdürftig aufgespanntem Stoff Schatten, und dort lag er also, während Meriam ihm etwas mit Honig gesüßtes Wasser die Kehle hinunterzwang. Der Geruch des Honigs ekelte ihn an. Der Gestank nach Honig und Aas, der das Ungeheuer umgeben hatte, wallte in seiner Erinnerung, in seiner Kehle auf, und er erbrach alles wieder. Elene saß neben ihm, starrte ihn mit ernsten Augen an. »Ich habe ihn nie angesehen«, sagte sie zu ihrer Großmutter. »Ich dachte, er wäre meine Aufmerksamkeit nicht wert. Wie seltsam, dass Gott durch einen so gewöhnlichen, hässlichen, schmutzigen Mann handeln.« »Sogar ein kriecherischer Hund kann beißen, Elene. Sieh dir die Menschen genauer an. Das Äußere entspricht nicht immer dem Inneren.« »Das weiß ich! Das weiß ich!«, sagte das Mädchen unge66 duldig, als hätte sie diese Lektion schon hundert Mal zuvor erhalten. »Das meine ich nicht! Er schien nur einfach keine Rolle zu spielen.« »So wenig wie die Maus, die von der Gefangenen verschont wird und die dafür später ihre Seile durchnagt und sie befreit.« Der Schatten bildete eine Linie über der Tunika des Mädchens, als sie sie jetzt glatt strich; ihr Kopf befand sich in der Sonne, die Beine lagen im Schatten. »Ich habe Angst, Großmutter. Ich will nicht in die Wildnis gehen. Wir wissen nicht, was wir auf der anderen Seite dieses Tores finden werden. Was ist, wenn es dort auch Ungeheuer gibt?« »Wir müssen stark sein, Elene. Wir haben beide eine Aufgabe bekommen. Ich allein kann die Sprache derjenigen sprechen, die in der Wüste leben, und daher muss ich gehen. So sei es also.« »So sei es also«, hauchte das Mädchen und neigte den Kopf. »Gnn«, flüsterte er, aber das Geräusch verklang im Rieseln der Sandkörner, die von dem schräg aufgespannten Stück Stoff fielen, als der Wind von der Ebene hoch wehte. Sein Körper war eiskalt, seine Gedanken waren träge. Irgendwie kam der aufgespannte Stoff herunter, und er wurde darauf gerollt, über den unebenen Boden gezogen und dann wieder losgelassen. Dort blieb er liegen, während sich ein Stein in seinen Rücken bohrte. Dort lag er. Dunst senkte sich herab, und eine Weile hörte er schwache Geräusche, von denen aber keines deutlich genug gewesen wäre, dass er es hätte verstehen können. Ein Tropfen Feuchtigkeit machte seine Handfläche nass. Durch den Dunst schimmerte die Sonne, während sie tief nach Westen sank, aber ihr Glanz hatte die Kraft von Eis und kroch in seine Glieder. Er trieb dahin. Es war immer schwerer, Leute zu erkennen; sie wirkten so dünn und gegenstandslos vor den blassen Bergen und dem dunkler werdenden Himmel. Licht blitzte am 67 Himmel auf; ein Stern kam in Sicht. Gestalten bewegten sich außerhalb des Kreises, hoben und senkten Stäbe und murmelten Worte, die so leise waren, dass er sie nicht verstand. Ein Spinnenfaden kam vom Himmel herunter und verband sich mit einem der Steine, gefolgt von einem zweiten.
Sein Herz raste, als er begriff, dass sie sich in den Künsten der Mathematiki übten, die die Bewegungen der Himmel deuten und ihnen ihre Geheimnisse entlocken konnten. Jahre zuvor hatte Kansi-a-lari einen Bann in die Steine gewebt, während er daneben gekauert und gebetet hatte, aber sie hatte den Bann mit dem Ziel gewebt, dass sie an Ort und Stelle blieben, während die Zeit um sie herum vorangeschritten war. Marcus webte ein Tor in die Steine, durch das Meriam, Elene und ihr Gefolge in ein fernes Land reisen konnten. Die Steinkreise waren Tore, jedes einzelne ein Tor zu einem der anderen Kreise, aber er wusste nicht, wie man eine solche Beschwörung webte. Er wollte wissen, wie das ging. Er versuchte, den Kopf zu heben, um zu sehen und zu lernen, aber seine Glieder gehorchten ihm nicht, und die zunehmende Erstarrung zog ihn nach unten, in den Abgrund hinab. Ein Schatten beugte sich über ihn; Hände befestigten Pergament an seinem Gewand; der Stoff, auf dem er lag, straffte sich und zog an seinem Körper, und er wurde ins Netz des Lichts gelegt. Blind schwebte er dahin, während um ihn herum blaues Feuer mit einem kalten Hauch loderte, der bis in seine Knochen drang. Es ist so kalt, dass es brennt. Er sieht abzweigende Korridore und in jedem eine Vision, aber er vermag nicht zu sagen, ob sie falsch oder wahr sind. Ein Mann, schmutzig, dünn, halb nackt, geht und geht, während unaufhörlich ein Rad polternd unter seinen Füßen rollt. Verhutzelte Gestalten flüstern und drücken sich in der Tiefe der Erde herum, lauschen. 68 Ein Merwesen gleitet durch rauchgraues Wasser, gezogen vom Kielwasser eines schlanken Schiffes. Eine kleine Gruppe von Gewandeten eilt hastig durch blauweißen Nebel. Ist ein bekanntes Gesicht darunter? Ist das nicht der Adler namens Hanna, die junge Frau, die aus Bulkezus Sklaverei befreit wurde? Sie dreht sich um, als könnte sie seine Gedanken hören, und ruft laut: »Wer seid Ihr?« Licht flackerte, erstarb wieder, und er schlug hart auf dem Boden auf. Sein Rücken, der Kopf und die Hüfte schmerzten von dem heftigen Aufprall. Das Flackern des Lichts versiegte, bis nichts mehr übrig blieb. War es Nacht ? Oder war er blind ? Er konnte die Lippen nicht mehr bewegen. Aber er konnte noch immer hören. »Wer ist das?« »Seht nur, da ist eine Botschaft an dem Gewand, mit einer schönen Brosche befestigt. Oh Gott, wie er stinkt!« »Bruder Marcus hat das unterschrieben. Da ist der Mann, der den Schmutzigen gezogen hat. Er sieht aus wie ein Diener.« »Was fehlt ihm?« »Ich weiß es nicht. Er sieht aus, als wäre er geschlagen worden, aber ansonsten scheint er gesund zu sein. Wir müssen die beiden zur Heiligen Mutter bringen.« »Das ist ein weiter Weg.« Eine warme Hand berührte seine Lippen, dann seine Kehle und schließlich seine Augen. »Gott im Himmel! Er ist eiskalt! Ich fürchte, er stirbt. Beeilt Euch! Schickt nach Presbyter Hugh!« Die Stimmen versiegten zu einem Zischen, aber auch das verklang schließlich, während er in die Stille des Abgrunds eintauchte. II Seine Stimme
1 Es regnete wieder, so heftig, dass der Regen die neu gepflanzte Saat zu ertränken drohte und möglicherweise die gefürchtete Viehseuche unter den kostbaren Schafen streute. Sie hatten Gerüchte gehört, denen zufolge dieses Leiden den Ländern weiter südlich zusetzte. Ivar stand auf der Veranda des Krankentraktes und lauschte dem auf das schräge Dach prasselnden Regen, ein Geräusch, das begleitet wurde von dem Husten der Leidenden, die sich in der Obhut von Schwester Nanthild befanden. Ermanrich, Hathumod und Sigfrid litten alle an einer Brustfellentzündung, die drei Viertel ihrer kleinen Gruppe befallen hatte. Eine ältere Nonne war gestorben, aber die Übrigen schienen dazu verdammt, lediglich viele Wochen leiden zu müssen und sehr geschwächt zu sein. »Da seid Ihr ja, Bruder Ivar.« Schwester Nanthild konnte sogar mit Hilfe zweier Stöcke kaum laufen, und sie ging niemals weiter als bis zur Veranda des Krankentraktes. Trotzdem herrschte sie energisch und klug über ihre winzige Domäne. »Noch immer gesund, wie ich sehe. Kaut Ihr Süßholzwurzel?« 70 »Mehr als ich mir jemals gewünscht hätte, Schwester.« Der Geschmack hatte ihm den Appetit verdorben, da jede Nahrung nur noch nach Anissamen stank. Sie kicherte. »Ihr seid ein gehorsamer Junge, auch wenn Ihr ein Ketzer seid. Gibt es etwas, das Ihre Exzellenz
von mir wünschen? Ich kann Euch nicht zu Euren Kameraden lassen, falls Ihr mit ihnen sprechen wollt. Wir sind auf Eure Gesundheit angewiesen, Bruder Ivar. Wir dürfen nicht das Risiko eingehen, dass Ihr Euch ansteckt.« »Das weiß ich.« »Aber es gefällt Euch nicht.« »Bin ich so leicht zu durchschauen, Schwester?« Ihr Lächeln vertiefte die vielen, seit langem eingegrabenen Falten in ihrem runzligen Gesicht. Er hatte sie nie die Geduld verlieren sehen, nicht einmal gegenüber den mürrischsten Patienten - und viele forderten sie mit ihrem Jammern und ihren Klagen heraus. »Im Laufe meiner Jahre habe ich alle Arten von Menschen erlebt, Bruder. Ihr seid kein Geheimnis für mich!« Die Bemerkung machte ihm Angst, obwohl er wusste, dass das nicht so sein sollte. Er hatte hart gearbeitet, um die Dämonen zu beschwichtigen, die ihn piesackten, aber sie konnte bis in sein Herz sehen. »Schon gut, Kind. Ich kenne nicht alle Eure Geheimnisse, und ich will sie auch gar nicht alle kennen. Ich habe selbst meine Geheimnisse.« »Aber Ihr habt doch gewiss ein tadelloses Leben geführt!« »Als ich ein junges Mädchen war, gestattete man mir, die Hand der heiligen Königin Radegundis zu küssen. Es mag sein, dass ein geringfügiger Teil ihrer Heiligkeit mich mit einem langen Leben und wenigen Sorgen gesegnet hat. Aber ich habe meinen eigenen Anteil an Üblem in der Welt gesät, wie wir alle es tun. Nun ja. Wie geht es Ihrer Exzellenz?« »Ich soll Euch sagen: >Es ist so weit.r<s.« 76 »Ja, Heilige Mutter.«
Die Frauenstimme wurde leiser, während sie sprach. Hin und wieder drangen einzelne Sätze an sein Ohr. »...Akreva ... Schwester Meriam hat dieses Rezept für ein Heilmittel beigefügt, das dem Gift entgegenwirken soll ... sie ist ohne weitere Zwischenfälle aufgebrochen, aber wo sie angekommen ist, weiß ich nicht. Sie wird mir einen Diener zurückschicken, aber ich weiß nicht, wann ich mit ihm rechnen kann ... Ich bleibe hier, um diese Krone zu bewachen, und bereite mich auf die Konjunktion vor ... Bruder Lupus' Verrat ... unsere Berechnungen der Orte und Winkel, die notwendig sind, um jede Krone zu bestimmen und entsprechend der alten Beschwörung miteinander zu verbinden ... aber es wird notwendig sein, diese Berechnungen noch einmal mit denen in den Tabellen von Bischöfin Tallia zu vergleichen ...« Die Stimme ließ ihn wieder in die Benommenheit zurücksinken, ein hilfloses Opfer der Hände, die ihn berührten, und des Wassers und des Lappens, als Bedienstete ihn wuschen und ankleideten und sich über seine Verstümmelung äußerten. Er spürte, wie der Dunst sich lichtete und zu etwas mehr als grauem Nebel wurde, als vage Schemen Gestalt annahmen und er sie als Menschen erkannte, die sich über ihn beugten, um seine Haut und seine Augen zu untersuchen. Er spürte, wie sein Geruchssinn zurückkehrte, weil der unerwartete Geruch nach warmem, ofenfrischem Brot seinen Speichelfluss beschleunigte und er schlucken musste. Das Gefühl der Bewegung schockierte ihn. War er so vollständig erstarrt? Wie hatten sie ihn all die Zeit über ernährt? Und doch war er nicht tot. Als er versuchte, die Zunge zu bewegen, konnte er nur das störrische »Gnn« in der Kehle bilden. Tag für Tag kämpfte er gegen seine Stummheit an, bis er den Versuch zu sprechen ganz aufgab, weil es schlimmer war, sich vorzustellen, dass er 77 diese Fähigkeit völlig verloren hatte. Tag für Tag kamen Leute und bestaunten ihn, ohne dass er den Grund wusste, und er konnte sie auch nicht danach fragen. Stumm. Sprachlos. Nichts konnte schlimmer sein. Selbst der Tod war besser. Aber eines Tages, als der unauffällig aussehende Diener Eigio, der sich stets um ihn kümmerte, ihn auf die Seite rollte, um die Bettlaken unter ihm zu wechseln, versuchte er es wieder, denn er konnte den Drang zu sprechen nicht unterdrücken. »Wo bin ich?« Der Mann schrie erschrocken auf, ließ das halb ausgetauschte Bettzeug fallen und rannte aus dem Zimmer; er blieb zurück wie ein auf die Seite gestelltes Brett. War das wirklich seine eigene Stimme gewesen, so rau und leise? Er versuchte es erneut. »Wo bin ich? Welcher Tag ist heute?« Die Freude trieb ihm Tränen in die Augen, und sie liefen ihm die Wangen hinunter und fielen auf das zerknüllte Bettzeug. Ermutigt spannte er die Muskeln an und wiegte sich hin und her, verlor das Gleichgewicht und fiel vornüber, landete mit dem Gesicht auf der klumpigen Matratze. Sein Gesicht lag in einer Mulde, so dass er atmen konnte, und er sog den Geruch des staubigen Strohs und der rauen, schweißfeuchten Segeltuchbezüge ein. »Ja! Er hat ganz klar und deutlich gesprochen, Eure Exzellenz. Gott im Himmel! Seht nur! Er hat sich selbst weggerollt.« Hände packten ihn an der Schulter und an der Hüfte und rollten ihn wieder an die Wand. Er sah den besorgten Diener an, erblickte hinter ihm einen Mann mit goldblonden Haaren in einer schönen, hellen Leinentunika, der so tiefsinnig auf ihn herabstarrte, dass Zacharias schon glaubte, der Mann würde gleich zu weinen beginnen. »Könnt Ihr mich hören, Bruder Zacharias?«, fragte diese 78 herrliche Gestalt mit schöner, honigsüßer Stimme. »Könnt Ihr sprechen?« »Wer seid Ihr?«, krächzte er. »Ah.« Der Mann wandte sich an eine vierte Person im Raum, die nicht zu sehen war. »Vindicadus, bring mir mein Gewand.« »Ja, Eure Exzellenz.« Der Rhythmus der Schritte versiegte, während der Edelmann Zacharias untersuchte. »Was sollen wir mit Euch tun?«, sinnierte er. »Was sollen wir mit Euch tun? Zwei Tage noch bis zum Aufstieg des Königs. Könnt Ihr Euch bewegen?« Zacharias versuchte, mit dem Fuß zu wackeln, die Hände zu bewegen, aber nichts geschah. Er hätte ein Stein sein können, und der Gedanke, dass er hier in hilflosem Schrecken dalag, während ein Tag nach dem anderen verstrich, bereitete ihm Übelkeit. »Bin ich ein Krüppel, Eure Exzellenz?« »Seine Finger haben sich bewegt, Eure Exzellenz«, sagte Eigio. »Ja. Schwester Meriams Heilmittel zeigt seine Wirkung, wie sie uns in ihrem Brief versprochen hat, aber schneller als erwartet. Seltsam.« Er biss sich in einer Art und Weise auf die Unterlippe, die an ein Kind erinnerte, das über eine unbeantwortete Frage nachgrübelte. Er wirkte verblüffend jung und seltsam Furcht erregend, aber das kurze Aufwallen von Angst ging gleich wieder vorüber. »Also gut, Eigio.« Er ging zur Tür und blieb dort stehen. »Lass niemanden herein. Sage allen, dass sein Zustand sich verschlechtert hat und er dem Tode nahe ist. Lass unter keinen Umständen zu, dass jemand mit ihm spricht. Deine Mahlzeiten werden dir wie üblich gebracht werden, und eine Wache wird vor der Tür stehen. Du wirst
dieses Zimmer nicht wieder verlassen. Hast du das verstanden?« »Ja, Eure Exzellenz. Es wird so geschehen, wie Ihr gesagt habt, Eure Exzellenz.« 79 »Davon gehe ich aus.« Eigio schloss die Tür hinter ihm, und sie waren eingeschlossen. »Wo bin ich?«, fragte Zacharias, und der Mann sah ihn überrascht an, als hätte er vergessen, dass Zacharias da war. »Nein, Bruder«, erwiderte er und runzelte betrübt die Stirn. »Nur Presbyter Hugh darf mit Euch sprechen, das hat er ganz klar gesagt. Ihr könnt fragen, was Ihr wollt, aber ich darf Euch nichts sagen.« Zacharias hatte nichts anderes zu tun, als mit den Zehen und den Fingern zu wackeln, während er sich in dem Zimmer umsah: Es gab ein Bett, eine Bank und eine Pritsche für den Diener, einen Tisch an der Seite mit einer Schüssel und einem Wasserkrug darauf und eine Girlande über der Tür. Auf der Bank lag ein Tablett mit Krimskrams, darunter ein Ball aus leuchtend rotem Garn und zwei große, gekrümmte Holznadeln, ein Weinbecher, ein Schachspiel aus Elfenbein, eine Schüssel und ein Löffel, ein Bündel Rosmarin mit ein paar hellblauen Blüten unter den stacheligen Blättern und ein Schreibmesser, ein zugestöpseltes Tintenhorn und einige ungeschnittene Gänsefedern. Zwei Läden lehnten an den weiß getünchten Wänden neben einer einzelnen Schießscharte. Draußen war Tag. »Wo bin ich?«, wiederholte Zacharias, aber Eigio blieb stumm und antwortete nicht auf seine Fragen, gab ihm lediglich grauenhaft süßen Met zu trinken. Er schlief, und als er wieder aufwachte, war es dunkel. Nur eine einzige Kerze erhellte das Zimmer, tauchte den blonden Kopf des Edelmannes, den Eigio Presbyter Hugh genannt hatte, in ein goldenes Licht. Der Presbyter hatte die Bank an den Seitentisch herangezogen, auf den eine schräge Schreibplatte gelegt worden war. Der Stift erzeugte beim Schreiben auf dem Pergament ein kratzendes Geräusch, während er eif80 rig arbeitete, ganz und gar darauf konzentriert, eine Kopie eines Schriftstücks anzufertigen, das außerhalb von Zacharias' Blickfeld lag. Er war ein bemerkenswert gut aussehender Mann, hatte ein Gesicht, das vom Licht geschätzt wurde und Frauen sicherlich zu Ohnmachtsanfällen trieb, und mit den üppigen goldenen Haaren und dem wohlproportionierten Körper sah er eher wie ein Engel als wie ein Mensch aus. Augenblicklich wusste Zacharias, wer dieser Mann war, und daraufhin wusste er auch, wo er sich befinden musste. »Bin ich in Darre? Wie bin ich hergekommen?« Hugh legte den Stift beiseite und kratzte mit dem Schreibmesser einen Tintenklecks weg, ehe er sich zu ihm umdrehte und ihn mit dem gleichen nachdenklichen Gesichtsausdruck musterte, den er zuvor gehabt hatte. »Ich habe die halbe Nacht an Eurem Bett gewacht, Bruder Zacharias. Habt Ihr gewusst, dass Ihr im Schlaf ziemlich viel redet? Doch auf eine solch unzusammenhängende Weise, dass ich sehr verwirrt bin. Was könnt Ihr mir über Prinz Sanglant sagen?« Fast wäre er mit Hathuis Anschuldigungen herausgeplatzt, aber er hielt sich zurück. Er war hilflos und allein. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, sich Feinde zu machen. »Ich habe Prinz Sanglant verlassen, um Bruder Marcus zu dienen. Er hat mir versprochen, mich in die Geheimnisse der Mathematiki einzuweihen.« »Hat er das?« »Das hat er! Er hat angefangen, mich über die Bewegungen der Himmel und die herrliche Architektur der Welt zu unterrichten. Wenn ich diese beherrsche, will er mir beibringen, wie man die Kronen webt. Das hat er mir versprochen.« »Tatsächlich!« Hugh warf einen Blick zum offenen Fenster, sah ihn aber kurz darauf wieder an. »Stattdessen wurdet Ihr von einer grauenhaften Kreatur gestochen, die man Akreva nennt, und von ihrem Gift gelähmt. Bruder Marcus hat es für 81 angemessen gehalten, Euch zu uns zu schicken, als Überbringer einer Botschaft an die Heilige Mutter.« »Wie bin ich hergekommen? Ich bin doch in Darre?« »Bruder Lupus, so scheint es, hat Marcus verlassen. Er hätte die Nachricht überbringen sollen, aber da er abwesend war, hat Marcus sich entschieden, Euch zu schicken. Was ist passiert, dass Bruder Lupus seine Pflicht aufgegeben hat?« »Ich habe keine Ahnung, Eure Exzellenz.« »Ihr habt keine Ahnung, wer Bruder Lupus ist?« »Ich habe keine Ahnung, warum er die Gruppe verlassen hat, Eure Exzellenz. Er ist eines Nachts weggelaufen, als wir in einer Herberge in Qahirah übernachtet haben. Das ist alles, was ich weiß.« Sein sanftes Lächeln brachte Zacharias zum Zittern, und diese Bewegung brachte eine weitere Bewegung hervor, denn seine Hände verkrampften sich und seine Füße zuckten. Es war eine Warnung. Wenn er diese Lähmung überlebte, wenn sie wieder verging, konnte er vielleicht fliehen. Er hegte schließlich keine Loyalität gegenüber Wulfhere. »Wir haben uns in eine Herberge begeben, in der Bruder Lupus vor vielen Jahren schon einmal gewesen ist.« »Er ist zuvor in Qahirah gewesen?« »Das hat er gesagt. Ich weiß nicht, wieso. Der Wirt hat ihn erkannt. Bruder Lupus hat ihm vor vielen Jahren
einmal einen Gefallen getan, daher sind wir sehr gut behandelt worden und haben ein großartiges Festmahl erhalten und schmackhaften Wein, so viel wir trinken wollten. In dieser Nacht musste ich aufstehen, um den Abort zu benutzen. Als ich zu meinem Bett zurückkehren wollte, hörte ich zufällig eine Unterhaltung zwischen Bruder Marcus und Schwester Meriam. Marcus hat Bruder Lupus nicht mehr vertraut. Er war der Meinung, er hätte zu lange in der Gesellschaft von Prinz Sanglant verbracht und wäre nicht willens, unter die Fittiche der Kirche zurückzukehren. Schwester Anne hatte befohlen, dass Bruder 82 Lupus zu ihr zurückkehren sollte, wenn wir erst einmal die Krone gefunden hätten, die jenseits des alten Kartiako liegt. Am nächsten Morgen stellten wir fest, dass er weg war. Vielleicht hatte er diese Unterhaltung ebenfalls gehört. Vielleicht wusste er, dass sie ihm misstrauten, und ist deshalb geflohen.« »Wenn dem so ist, scheint es, als wäre ihr Verdacht richtig gewesen. Wulfhere.« Er sprach den Namen so genüsslich aus, als würde er einen süßen Wein genießen. »Es scheint, als wäre das Misstrauen des Königs ihm gegenüber berechtigt.« So sprach der Mann, der Hathui zufolge den König verdorben hatte, indem er einen Daemon in seinen Körper geschickt hatte! Zacharias hielt den Mund. Es war mühsam, nicht mit dem Vorwurf herauszuplatzen, nur um einfach Hughs Reaktion zu sehen, aber sein Instinkt warnte ihn. Hugh war nicht Bulkezu, er war anders, und er wusste noch nicht, ob das zum Besseren oder Schlechteren war. »Seid Ihr ein Mathematikus?«, fragte er stattdessen. »Könnt Ihr mich unterrichten, jetzt, da ich nicht mehr mit Bruder Marcus reise? Er hat versprochen, dass ich Unterricht erhalten würde, wenn ich mich seiner Sache anschließe.« »Ist das Euer Wunsch, Bruder Zacharias ? Unterrichtet zu werden?« »Ja! Mehr als alles andere!« »Und doch habt Ihr mir noch nicht gesagt, was Ihr über Prinz Sanglant wisst. Und über diesen Adler namens Hathui. Ihr habt ihren Namen im Schlaf gesprochen. Was wisst Ihr über sie? Habt Ihr sie vielleicht gesehen? Sie war einmal König Henrys vertrauteste Beraterin, aber es geht das Gerücht, dass sie Helmut Villam nach einem Streit unter Liebenden umgebracht hat und danach geflohen ist.« Wie schwer es war, still zu bleiben. Aber Zacharias hielt den Mund. Er kämpfte und zuckte innerlich, aber er hielt den Mund. »Jemand, der mir Informationen über diesen Adler bringt, 83 über Hathui, würde als vertrauenswürdiges Mitglied in meinen Haushalt aufgenommen werden. Ein solcher Mensch könnte davon ausgehen, in jedem Bereich unterrichtet zu werden, der ihn interessiert. Sogar als Mathematikus. Denn ich bin ein solcher. Ich könnte ihn als Schüler aufnehmen. Ich könnte ihm beibringen, die Kronen zu weben, und noch vieles mehr.« Um den Preis, dass er seine Schwester verriet. Hatte er nicht einmal gesagt: »Ich würde alles tun für die Person, die mich unterrichtet«? Er schloss die Augen und hielt den Mund, obwohl er wusste, dass sein Schweigen ihn verriet. Wunsch und Treue stritten miteinander, aber die Treue gewann, und er besaß keine gewandten Worte, die ihm halfen, sich aus dieser Klemme herauszuwinden. Er hatte möglicherweise gerade das verloren, was er sich am meisten ersehnte - die Geheimnisse der Himmel kennen zu lernen -, und doch spielte es keine Rolle. Er hatte Hathui verlassen, aber er würde sie nicht verraten. Niemals. »Nun«, sagte Hugh, »ich werde Euch Zeit lassen, darüber nachzudenken.« Er stöpselte das Tintenhorn zu, reinigte die Feder und ordnete seine Schreibarbeiten, ehe er ging. An seiner Stelle kehrte Eigio zurück, blies die Kerze aus und legte sich dann zum Schlafen nieder. Zacharias lag in der Dunkelheit da und lächelte, als er erkannte, was ganz unerwartet in seinem Herzen erblühte: Frieden. Hathui hatte ihm vorgeworfen, niemals mit irgendetwas zufrieden zu sein, aber jetzt war er zufrieden. Er hatte Elene gerettet, trotz seiner Angst. Er war im Gedenken an das Band zwischen ihm und Hathui standhaft geblieben. Waren dies nicht die Taten eines guten Mannes ? Eines anständigen Mannes? Eines mutigen Mannes? 84 Am nächsten Morgen lehnte Eigio ihn gegen die Mauer, und er stellte erfreut fest, dass er die Arme gut genug bewegen konnte, um selbstständig etwas Haferschleim zu essen. Er war gierig. Er hatte so viel Gewicht verloren, dass er nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen schien, und als er sich hinzustellen versuchte, hatten seine Beine nicht genügend Kraft, um ihn aufrecht zu halten. Noch ein paar Tage zuvor hatte er nicht einmal schlucken oder sprechen können. Wenn er jetzt aß und sich ausruhte, würde er seine alte Kraft bald wieder zurückgewinnen. Die Mahlzeit am Nachmittag - Haferschleim und Wein - machte ihn überaus schläfrig. Er döste immer wieder ein und wachte auf, weil seine Haut abwechselnd brannte und sich dann wieder eiskalt anfühlte und seine Zunge wie geschwollen wirkte und ihm Übelkeit bereitete. Die Nacht kam und ging, während er mit kribbelnden Händen und benommenem Kopf immer wieder einschlief und wach wurde. Das Licht kehrte zurück, und er lag auf seinem Bett und versuchte sich zu bewegen, aber seine Glieder fühlten sich so schwer an wie Stein, und
seine Zunge klebte am Gaumen. Presbyter Hugh tauchte plötzlich auf, strahlend in seinem Hofgewand und einem scharlachroten Umhang, der wie Wasser hin und her wogte, wenn er sich umdrehte. »Gib ihm das Gegengift und bring ihn dann zu mir«, sagte er und ging weg. Eigio flößte ihm etwas sauren Wein ein. Die Hälfte floss seine Wangen hinunter und tröpfelte über sein Kinn, aber der Diener wischte ihm das Gesicht ab und zog ihm ein schlichtes Gewand an, eines von der Art, in dem man einen armen Mann beerdigen würde. Er konnte sich nicht bewegen. Bedienstete kamen herbei und rollten ihn auf eine Trage. Ruckelnd wurde er durch die Halle getragen, Treppen hinunter, hoch und wieder hinab und in solch verrückten Kehren, 85 dass er ganz benommen wurde. Galle brannte in seiner Kehle, aber er konnte sie weder hinunterschlucken noch hinauszwängen. Er konnte nicht einmal blinzeln, sondern musste nach oben auf manchmal schlichte, manchmal kunstvolle Holzarbeiten starren, einmal sogar auf ein Stückchen strahlend blauen Himmel, bis das Ruckeln ihn zu einer Arkade brachte, die von einem Ozean murmelnden Wassers umgeben war. Aber es war nur das Gemurmel von Menschen, denn die Bediensteten trugen ihn an unglaublich vielen Leuten vorbei, deren Gesichter genauso kurz in seinem Gesichtsfeld aufflackerten wie die Cherubinen, mit denen die Gewölbe über ihm bemalt waren. Eine riesige Menschenmenge hatte sich hier versammelt, aber wo genau er war und wieso die Menschen alle hier waren, das wusste er nicht. Sie gingen unter einem Türsturz hindurch und kamen zu einem Platz, der voller Frauen und Männer war und nach ihrem Schweiß und nach Kopfschmerzen verursachendem, beißendem Weihrauch stank, der hinter seine tränenden Augen drang. Das Dach entfernte sich von ihm, schwang sich zu einer unmöglichen Höhe auf, von der aus feierliche Engel und düstere Heilige mit riesigen Augen und glühenden Händen und Köpfen herabstarrten. War er nun doch gestorben und in der Kammer des Lichts angekommen? Flüsternde Stimmen drangen an seine Ohren, als die Bediensteten ihn durch die Menge trugen. »Da! Das ist der Krüppel, den sie vor einem Monat gefunden haben.« »Er kann weder reden noch sich rühren, der Arme. Und doch lebt er.« »Es heißt, er wäre vom Feind besessen.« Männerstimmen erhoben sich im Gleichklang. 86 Der Engel sprach zu dem Erwählten: Frohlocke! Empfange das Licht, denn der Ruhm Gottes erleuchtet dich. Frohlocke! Eine Kuppel öffnete sich über ihm, und der Luftzug war so stark, dass er kaum die gemalten Figuren erkennen konnte, die gütig zu ihm herabblickten - zu ihm, der der Kleinste und der Geringste war. Die Leute starrten ihn an, aber seine Träger ließen sich nicht beirren, und so wurde er unter der Kuppel hindurch weitergetragen, bis unter einen niedrigen Bogen der Apsis. Hier waren weniger Menschen, und er wurde inmitten einer Gruppe von in leuchtende Gewänder gehüllten Edelleuten auf den Boden gelassen. Einer von ihnen stand mit dem Rücken zu Zacharias; das durch ein großes Fenster fallende Licht säumte seine Gestalt. Er drehte sich um. Die Sonne machte Zacharias ganz benommen, als der Mann neben ihm niederkniete. Er war in Gold gekleidet, und die goldenen Stoffe waren mit Edelsteinen bestickt; eine schwere Goldkrone saß auf seinem Kopf, und ein Goldreif schmückte seinen Hals. Er hatte braune Haare mit Silbersträhnen darin und das ruhige, gut aussehende und bärtige Gesicht eines Mannes in mittleren Jahren. Er war tatsächlich so herrlich wie die Sonne. Immer wieder schwammen Gesichter von oben in Zacharias' Blickfeld und verschwanden wieder: eine hübsche junge Frau mit einer Krone und in einem Gewand, das genauso prächtig war wie das des knienden Mannes; Presbyter Hugh; eine in Weiß gekleidete Frau mit einem zierlichen Goldreif um den Hals und einer bestickten, goldenen Kappe, die ihre Haare verbarg. Der Chor verstummte. Stille erzitterte im Luftzug. Der gekrönte Mann zog sanft eine rote Gartennelke über Zacharias' Lippen und dann einen kitzelnden Eibenzweig. 87 »Wenn Gott diesem Tag Ihr Wohlwollen schenken«, sagte er mit einer so kraftvollen Stimme, dass sie ganz sicher bis in die hintersten Reihen drang, »wenn der Herr und die Herrin freundlich auf die Geburt dieses neuen Heiligen Reiches blicken, bitte ich Sie, dass Sie diesen armen Unglücklichen heilen mögen. Mein Kuss soll für ihn der Atem des Lebens sein.« Er beugte sich herunter und küsste Zacharias auf die Lippen. Er roch so stark nach einem berauschenden Parfüm, dass es in Zacharias' Nase kitzelte und er ganz plötzlich und völlig ungebeten niesen musste, gerade als der gekrönte Mann sich zurücklehnte. Ein hörbares Keuchen ging durch die Menge. »Fangt ihn! Fangt ihn!«, rief eine Frau aufgeregt. »Der Dämon ist ausgetrieben!«
Zacharias brannte am ganzen Körper, als er zu dem gekrönten Mann hochstarrte. Oh Gott, so herrlich und stolz wie er war, konnte es sicher nur einer sein. Der Mann, den Hathui mehr als alle anderen achtete. Ihr König. Zacharias versuchte sich zu rühren und stellte fest, dass seine Glieder ihm jetzt gehorchten. Der gekrönte Mann erhob sich, und Zacharias stützte sich auf die Ellbogen, so dass er sich mit unglaublicher Anstrengung ein bisschen erheben konnte. »Eure Majestät!«, sagte er heiser. »Er spricht! Er spricht!« »Ein Wunder! Der Kaiser hat ihn geheilt!« Stimmen schallten durch die Kathedrale, ein wahres Getöse aus lauten Rufen und fröhlichem Weinen. König Henry starrte ausdruckslos auf Zacharias herunter. Sein Blick war immer noch genauso ruhig, aber plötzlich bemerkte Zacharias, dass die Augen des Königs zuerst grün wirkten, dann blau und schließlich wieder grün, als wäre er sowohl er selbst als auch ein ganz anderes Wesen. 88 Hathuis von seelischer Qual zeugende Behauptung stahl sich in seine Gedanken, denn dank seines hervorragenden Gedächtnisses hatte er natürlich nichts von dem vergessen, was sie zu Prinz Sanglant gesagt hatte - auch wenn es schwierig war, überhaupt zu denken, bei so viel Lärm um ihn herum und angesichts der vielen Menschen, die sich näher heranschoben und ihn anstarrten, die das Wunder anstarrten. »Schafft ihn weg«, sagte Hugh, dessen Stimme in dem Geschrei fast unterging. Die Trage ruckelte, und er wurde in die Luft gehoben, streckte die Arme aus und keuchte. »Eure Majestät! Eure Majestät!« Sie schoben ihn an den aufgeregten Leuten vorbei und eilten durch eine Nebentür und durch Korridore und Höfe, achteten nicht auf seine Bitten, ihn herunterzulassen, damit er zum König zurückkehren konnte, der jetzt kein König mehr war, sondern Kaiser. Und die ganze Zeit über hörte er, immer schwächer werdend, den Lärm der Menge und als Kontrapunkt dazu eine Hymne. Stimmt ein neues Loblied an! Legt den alten Mann nieder und nehmt den neuen an. Ehre! Ehre! Ehre! Sie gelangten schließlich in ein ruhiges Zimmer, dessen Fenster offen standen. Sonnenlicht strömte herein und beleuchtete die Wandmalereien. Sie legten ihn in einer Ecke hinter zwei hübschen Stühlen, die auf einem niedrigen Podest standen, auf eine Pritsche, zogen einen Vorhang zu und ließen ihn abgesehen von zwei Wachen bei der Tür allein. Dort weinte er, ohne dass er genau hätte sagen können, aus welchem Grund. Ein Wunder! Vielleicht weinte er wegen der Lüge. 89 3 Starkhands Schiff kam an einem ruhigen Tag im späten Frühling im Rikin-Fjord an. Diakonissin Ursuline war bei jenen, die ihn am Strand begrüßten; sie sah wohlbehalten und gesund aus, so wie alle, die auf den Feldern und Weiden gearbeitet hatten. »Mein Herr«, sagte sie und neigte respektvoll den Kopf. Er hatte gelernt, die verschiedenen Gesichtsausdrücke der Menschen zu deuten, und es schien, als wäre sie aufrichtig erfreut, ihn zu sehen. »Wir haben von Eurem Sieg in Alba gehört. Ich bitte Euch darum, dass einige der jungen Leute, die ich in den Weisen Gottes unterrichte, in dieses Land geschickt werden, um jenen das Licht zu bringen, die dem Feind huldigen.« »Die Königin von Alba ist tot«, bestätigte er, »und auch ihre Erben sind es. Wenn dort noch Baumzauberer übrig sind, müssen sie in die Wildnis und ins Hochland geflüchtet sein. Ich möchte dich nicht verlieren, Diakonissin, denn du hältst hier an meinem Geburtsort den Frieden aufrecht, aber wenn du irgendwelche Schüler nach Alba schicken möchtest, werde ich dafür sorgen, dass sie mit den nächsten Schiffen segeln, die sich dorthin aufmachen.« »Ihr seid sehr großzügig, mein Herr.« »Vielleicht. Wenn der Glaube an deinen Gott das Volk von Alba gehorsam macht und gedeihen lässt, ist es die Mühe wert, sie diesem Glauben zuzuführen.« »Es stimmt, dass gute Taten besonders fruchtbar sind, wenn sie aus einem rechtschaffenen Herzen kommen, aber Ihr tut das Werk Gottes trotz Eurer Ungläubigkeit, mein Herr.« Sie sah an ihm vorbei auf die Gruppe von Geistlichen, die gerade über eine Rampe das Boot verließen. »Es scheint, als hättet Ihr selbst ein paar Geistliche mitgebracht, mein Herr. Was sind das für Leute?« 90 »Sie sind gekommen, um die Weisheit der WeisMütter zu suchen, auch wenn ich nicht glaube, dass sie verstehen, was sie dort finden. Heiße sie willkommen, Diakonissin, und gib ihnen zu essen. Ich muss der AltMutter Bericht erstatten.« »Oh.« Sie nickte. »Sie wird froh sein, ihn zu erhalten, mein Herr.« Er war schon einen Schritt weggegangen, doch ihre Stimme und die seltsamen Worte brachten ihn dazu, sich noch einmal umzudrehen.
Sie hatte damit gerechnet. »Wir haben dieses Land gut verwaltet, mein Herr, wie Ihr selbst sehen werdet, und haben Euch treu gedient. Ihr seid lange Zeit weg gewesen, und daher habe ich es mir zur Angewohnheit gemacht, mit AltMutter zu sprechen, wenn ich Fragen habe.« »Das hast du getan?« »Wir haben so viel voneinander zu lernen.« »So wie ich, wie es aussieht.« Sie blickte ihn scharf an und schob ihren Schal selbstbewusst nach hinten. Obwohl ihr Gesicht und ihre Hände sauber waren, hatte sie Schmutz unter den Fingernägeln, und der Saum ihres Gewands war fleckig, als wäre sie gerade aus dem Garten gekommen. »Missfällt es Euch, mein Herr?« Ihr Ton war alles andere als unterwürfig. Ganz im Gegenteil. Er bleckte die Zähne, so dass sie einen winzigen Augenblick aufblitzten, und genoss das Vergnügen zu sehen, wie ihre Augen sich bestürzt weiteten. Einen Herzschlag später umspielte ein ironisches Lächeln ihre Mundwinkel. »Hätte AltMutter nicht mit dir sprechen wollen, hätte sie dir niemals erlaubt, einen Fuß in ihre Halle zu setzen«, antwortete er. »So sei es also.« Doch als er sich auf den Weg zu AltMutters Halle machte, dachte er über ihre Worte nach. Es hätte ihn nicht überraschen dürfen, dass AltMutter mit derjenigen sprach, die bei den Weichen selbst so etwas wie AltMutter war, so schwach 9i diese auch sein mochten. Dennoch beunruhigte es ihn. Kein Sohn des Stammes betrat AltMutters Halle ohne ihre Einladung, und eine solche Einladung erhielten nur diejenigen Söhne, die anführen, Nachkommen zeugen oder sterben würden. Er hatte noch nie gehört, dass irgendwann in all den Jahren, seit die FelsenKinder auf Erden wandelten, eine Alt-Mutter mit den Menschen gesprochen hätte. Wieso jetzt? Die RaschTöchter hatten ihn dank der Wachfeuer kommen sehen, die entlang des Fjords brannten, um die Einwohner vor herannahenden Schiffen zu warnen, und sie hatten sich vor der Halle versammelt, um ihn zu begrüßen. Er hatte die Schönheit ihrer Gestalten vergessen, oder vielleicht hatte er sie nie richtig zu schätzen gewusst. Ihre Haare schimmerten mit dem Glanz von Erz, und dieser Glanz webte Adern aus Licht auch in ihre Haut, so dass die Mittagssonne sie zum Leuchten brachte. Sie bewegten sich mit einer Anmut, die die meisten Menschen mit ihren unbeholfenen, plumpen Gliedern nicht nachahmen konnten, und die kalten Lippen und strahlenden Augen waren überaus ausdrucksvoll. Doch wie seine Verwandten waren sie, so weit er wusste, namenlos; im Gegensatz zu den meisten Menschenfrauen würden sie niemals selbst Kinder zeugen und eine eigene Brut hervorbringen. War dies nicht die Schwäche der FelsenKinder, die in so vielerlei Hinsicht stärker waren? Die Menschen würden sie zahlenmäßig immer übertreffen. Er trat über die Schwelle in die riesige Düsternis von AltMutters Halle mit den seltsamen Sternen, die über ihm glitzerten, obwohl die Halle doch ein Dach besaß. Während er nach vorn ging, verwandelte sich der festgetretene Erdboden unter seinen Füßen in harten Fels. Ein Abgrund gähnte vor ihm, und er wagte nicht, sich AltMutters Platz weiter zu nähern. Ein Winterwind kühlte sein Gesicht und seinen Rumpf, wehte aus unermesslicher Tiefe zu ihm herauf. Eis bildete sich auf seinem Zopf und bedeckte seine Lippen. 92 Ihre Stimme klang kratzig. »Du bist kühn, Starkhand. Du führst deine Schiffe aufs Meer hinaus und kämpfst darum, andere Länder zu besitzen als diejenigen, für die du geboren wurdest. Du zwingst die vielen Häuptlinge dazu, vor einem einzigen Führer niederzuknien, der du selbst bist. Du suchst sowohl das Leben als auch den Tod. Du lädst Zauberer in deine Heimat ein, die sich nicht das Geringste aus uns machen, obwohl es ihre Art war, die uns das Leben gegeben hat. Wohin werden diese Pläne führen?« »Das bleibt abzuwarten. Ich benutze die Werkzeuge, die ich finde.« »Aber gefährdest du nicht deine eigenen Pläne, indem du Fremden hilfst?« »Vielleicht. Ich werde das Risiko eingehen. Sie sprechen von einer großen Umwälzung, die von ihren uralten Feinden in Gang gesetzt wurde, die sie Aoi nennen - die Verlorenen.« Ihr Schweigen ermutigte ihn weiter zusprechen, doch kam es ihm so vor, als wäre sie nicht allein, als würden sehr viel mehr anwesend sein und zuhören, während er sprach. »Sie suchen eine Steinkrone in diesen nördlichen Landen, durch die sie eine Beschwörung zu weben versuchen, die sich von den Ländern im Norden bis zu denen im Süden und von Osten nach Westen erstreckt.« »Sie werden finden, was sie suchen«, erwiderte sie. »Doch es wird nicht das sein, was sie erwarten.« »Sie behaupten, nur Wissen und Weisheit zu suchen, aber ich kann spüren, dass sie auch Macht suchen.« »Was das angeht, so folgst du dem Pfad der Menschen, Starkhand. Sei vorsichtig.« »Das bin ich.« »Du hast eine Frage.« Ihre Bemerkung verblüffte ihn, aber er war klug genug, um nicht zu versuchen, AltMutter zu täuschen. »Wieso hast du deinen Söhnen keine Namen gegeben?« 93 »Weil sie nie danach gefragt haben.«
»Jetzt tun sie es.« Der schneidende Wind beruhigte sich schlagartig und erstarb. Er sah nichts, nur Dunkelheit, aber AltMutters Anwesenheit umhüllte ihn. »Ein unentrinnbarer Sturm zieht auf, Starkhand. Dies wissen meine Schwestern und ich. Bereite dich und jene, die unter deinem Schutz stehen, darauf vor. In diesem Sturm wurden vor langer Zeit die FelsenKinder geboren. Die Mütter unserer Stämme wollen nicht, dass unsere Kinder umkommen, sondern dass sie überleben, wenn der Sturm zurückkehrt.« »Was muss ich tun?« »Tritt vor.« Er war zu klug, um ihr nicht zu gehorchen. Beim nächsten Schritt stürzte er in die Kluft, und er fiel hinunter und hinunter in tiefe Schwärze. gehen und gehen und gehen und dann eine Pause, um beim Gemurmel des Verrückten, das seine Träume heimsucht, unruhig zu schlafen, und dann wieder aufstehen und weitergehen, eine hoffnungslose Aufgabe, die weder Anfang noch Ende hat, und immerzu dreht sich das Rad unter seinen Füßen, während er endlos weitergeht und nirgendwo ankommt, und das Rad rumpelt herum und herum, bis er sich an gar nichts mehr erinnert, abgesehen von diesem dunklen Loch und dem unaufhörlichen Drehen des Rades. Jedes Mal, wenn er in den Schlaf sinkt, erzählt der Verrückte, der sich mühsam im Geschirr dahinschleppt, eine so schlimme Geschichte von Blut, Furcht und Wut, dass Bilder seine Träume vergiften, bis er nur noch Feuer sehen kann und Tränen, obwohl manchmal kurz Überraschung darüber in ihm aufflackert, dass er überhaupt sehen kann, wenn auch nur in seinen Träumen. »Nein, nein, ich bitte Euch, mein Herr, lasst sie in Ruhe, sie 94 ist noch jung und unschuldig, meine Tochter, bitte, sie hat niemandem etwas getan, oh Gott, das Blut, nein, Ihr müsst hinsehen, Ihr werdet hinsehen, ich werde Euch töten, seht Euch das Baby an, seht ihr Gesicht an, ich bin froh, dass er tot ist, was habt Ihr mit ihr gemacht?« Das Wasser, das aus der Tiefe heraufgeholt wird, um den Schacht unter ihnen trocken zu halten, ergießt sich endlos in den Graben, von dem aus es in einen Teich fließt, wo das nächste Rad es auf die nächste Stufe befördert und so immer höher, nie endet der Strom, er dreht sich immer weiter und ergießt sich aufs Neue. »Nein, geh nicht da hin, ich werde ihn töten, ihm seine Eier abschneiden und wieso auch nicht, sieh nur das ganze Blut, ich hasse dich, mein armes Mädchen, denn es wird niemanden mehr zurückbringen, töten werde ich dich, töten, töten, töten.« Er fällt, denn dieses Loch hat keinen Boden, es geht einfach weiter und weiter, und eines Tages erreicht der Schmerz des Verrückten seine Zunge, und es regt sich dort etwas, für das er keinen Namen mehr hat. Er spricht, aber seine Stimme ist rau, weil er sie so lange nicht benutzt hat. »Wieso verzweifelst du?« Eine schreckliche Stille folgt seinen Worten; nichts ist zu hören, abgesehen von dem Rumpeln des Rades und dem Plätschern und Gurgeln des Wassers und dem Echo der Räder über ihm, die sich ohne Unterlass drehen. Stille. »Wer bist du?«, fragt der Verrückte, ohne dass er aufhört, auf dem Rad zu gehen, das unter seinen Schritten stöhnt und so hart ist wie das Schicksal. »Was ist mit dem Stummen passiert?« »Ich weiß es nicht.« »Haben sie einen Neuen hier runtergebracht? Ist der 95 Stumme gestorben? Bist du ein Spion für sie und gekommen, um mir meine Geheimnisse zu entlocken? Ich weiß, wo der Schatz vergraben ist, er ist mit meinem Schatz vergraben, meiner Süßen, meiner Unschuldigen. Und wenn ich den hätte töten können, der sie beraubt hat, dann hätte ich es getan, aber er hat sich genommen, was er haben wollte, und ist wieder weggegangen, denn er war ein Edelmann, und wir sind nur der Boden, auf dem er gegangen ist. Hast du das Blut gesehen?« »Ich kann nicht sehen. Hat jemand Schaden erlitten, der dir lieb und teuer war?« »Mach dich nicht über mich lustig!«, brüllt der Verrückte und hämmert mit den Fäusten auf das Holz. Das Rad kommt mit einem Stottern zum Stehen. »Mach dich nicht über mich lustig! Ich habe sie beschützt! Sie alle! Aber was hätte ich tun können, wenn sie doch Schwerter und Speere hatten und ich nur meine Hacke und meine Schaufel, die aus Holz waren, ich konnte nichts tun, als sie vorbeigekommen sind, oh Gott, ich war hilflos, ich hatte Angst, ich habe zugelassen, dass sie das Mädchen nehmen, aus Angst vor dem, was sie uns Übrigen antun könnten, obwohl sie geweint hat und sich an mich geklammert hat, und jetzt werde ich dafür bestraft, denn ich bin ein Feigling, und habe ich sie nicht mit meinen eigenen Händen getötet, indem ich nicht gegen sie gekämpft habe?« Der Verrückte weint, während oben Stimmen zu hören sind und dann die Geräusche von Männern, die herabsteigen und nachsehen wollen, was mit dem Rad passiert ist. Derjenige, der einst stumm war, erhebt sich von dem kalten Lager aus Stein, auf dem er sich ausgeruht hat, und tastet sich den Gang entlang. Auf eine seltsame Weise kann er die Mauern sehen, denn sein Körper spürt die Anwesenheit des Steins so nah, dass er sein Atmen spüren kann, jeder Atemzug dringt wie Feuchtigkeit durch seine Foren, so langsam
96 wie das Vergehen der Jahrhunderte. Es ist, als wollte der Stein zu ihm sprechen, aber seine Stimme kann ihn nicht erreichen. »Beeil dich«, sagt er, als er an seiner Wange das Aufwallen der Kälte aus dem untersten Schacht spürt. Er packt den Rand des reglosen Rades. »Du musst gehen. Sonst werden sie dich auspeitschen.« »Was machst du dir um einen Mann Gedanken, der Blut an den Händen hat? Ich bin ein Mörder! Das bin ich! Das bin ich! Ich habe ihn getötet, der das getan hat! Nicht ihn, aber seinen Diener, denn ihn konnte ich nicht kriegen! Ich habe den getötet, der sich hinterher über das hergemacht hat, was übrig geblieben war. Mehr konnte ich nicht tun. Sie war ein gutes Mädchen. Sie war ein gutes Mädchen. Mehr konnte ich nicht tun. Meine Erstgeborene. Mein Schatz.« Aber der Verrückte geht wieder weiter, er weint und heult, bis Worte und Schluchzen sich vermischen, denn es ist eine andere Peitsche, die ihn antreibt. »Oh Gott«, sagt er, während er dem Rumpeln des Rades lauscht und dem zusammenhanglosen Gemurmel des Verrückten. »Kein Wunder, dass du dich so grämst. Ich wünsche dir, dass du Frieden findest.« Es war gar keine Kluft da. Starkhand stolperte in einen Graben, und seine Füße rutschten auf Kies aus, während Wasser seine Schienbeine umspülte. Der Schock des Frühlingswassers riss ihn ins Bewusstsein zurück, und er bemerkte, wie still es geworden war - als hätte die Welt den Atem angehalten. In diese beunruhigende Stille hinein sprach AltMutter. »Wir sehen in das Herz der Erde, und wir spüren die Fäden, die die Himmel binden. Unsere Erinnerungen reichen weit zurück in die Vergangenheit, aber ein Schatten liegt über unserer Sicht. Wir sehen nicht alles. Wir sind dort blind, wo un97 sere Erinnerung am dringendsten sehen muss. Die Fäden, die Himmel und Erde weben, sind nicht willkürlich. Finde denjenigen, der in deinen Träumen lebt. Er kann sehen, wo wir nicht sehen können.« »Er ist blind! Er hat sein Gedächtnis verloren, sogar seinen Namen vergessen. Wie kann er euch helfen?« »Es ist schwer zu erkennen, wer verloren ist und wer blind. Kannst du es?« Die Frage ließ ihn innehalten. »Ich kann es nicht. Was ist mit den Fremden, die ich mitgebracht habe, den Kreispriestern? Auch sie suchen etwas.« »Meine Töchter werden sie zum Fjell führen. Dort werden wir sehen, ob sie weise sind oder dumm, ob ihre Pläne uns bedrohen oder uns helfen. Was dich betrifft, Sohn von Rikin: Finde ihn. Er hat gesehen, was wir nicht gesehen haben. Er kann uns sagen, was wir wissen müssen.« 4 Zu sehr geschwächt, um sich bewegen zu können, lag Zacharias auf der Pritsche und starrte durch eine Lücke im Vorhang auf die Malereien an der Wand. Sie zeigten Szenen aus den alten Tagen des ersten Kaiserreichs und von noch früher, so wie das Lied von Helen und die Triumphe des Sohnes des Donners. Es waren auch Szenen dabei, die er nicht kannte, von rehäugigen Frauen auf den Rücken von geflügelten Sphinxen. Weil die Diener den Vorhang nicht ganz geschlossen hatten, der ihn von den Stühlen trennte, konnte er auch einen Blick auf die Tür werfen, die zum Korridor hinausging. Das schwarzweiße Schachbrettmuster auf dem Boden machte ihn ganz benommen, und er döste ein, wurde aber abrupt wach, als er anschwellendes Stimmengewirr hörte. Die Türen 98 wurden von Wachen aufgestoßen. Leute strömten ins Zimmer. Ihre leuchtenden Gewänder und die lauten Stimmen verursachten ihm so starkes Kopfweh, dass er die Augen mit einer Hand bedeckte. Da er nicht die Kraft hatte zu fliehen, konnte er nur hoffen, im Schatten nicht weiter beachtet zu werden. Der Kaiser und seine Gemahlin betraten das Podest und setzten sich unter den zustimmenden Rufen der Menge, aber nur sehr viel weniger Leute genossen das Vorrecht, in dieser eher persönlichen Atmosphäre eine Audienz bei Henry zu erhalten. Geistliche und Verwalter versammelten sich hinter den Stühlen, und durch ihre Beine hindurch sah Zacharias zu, wie die Edelleute nacheinander vortraten, vor dem Kaiser und der Kaiserin niederknieten und ihnen die Treue schworen. Ein unaufhörliches Stimmengewirr begleitete diese Treueschwüre. Zwei Geistliche flüsterten miteinander, standen so dicht bei ihm, dass sie ihn fast traten, aber sie schienen sich nicht bewusst zu sein, dass er nur einen Schritt hinter dem Vorhang lag. »Nun, so hat die Skopos sich schließlich für den ersten Tag im Sormas entschieden, wie ich es dir gesagt habe.« »Ja, das stimmt.« Die Worte kamen widerwillig. »Dass die Strahlende Somorhas, die Glückverheißende, in Konjunktion zum Halsband des Kindes tritt, spricht für den rechtmäßigen Aufstieg des wahren Erben.« »Das stimmt, aber ich dachte, die Zeichen für den zweiundzwanzigsten Novorian im letzten Jahr wären noch verheißungsvoller gewesen.« »Damals waren noch die arethusanischen Eindringlinge auf der Halbinsel. Es hätte voreilig ausgesehen, wenn der König ein Kaiserreich beansprucht hätte, das noch nicht seiner Kontrolle unterstand. Es wäre eine Herausforderung des Schicksals gewesen.« 99
»So hat es die Skopos gesagt. Und doch - wie hätten wir oder irgendjemand sonst vorhersehen können, dass es drei Jahre dauern würde, die Banditen, Eindringlinge und Rebellen aus Südaosta zu vertreiben?« »Das ist jetzt alles Vergangenheit. Der letzte arethusanische Ketzer ist geflohen, die jinnischen Banditen sind alle tot, und Tiorno hat sich endlich ergeben. Nun, kaum spricht man vom Feind, da kommt er schon! Da sind Edelfrau Tassila und ihr Neffe. Seit ihr Bruder tot ist, herrscht sie anstelle des Jungen, aber sie will das Herzogtum für sich selbst beanspruchen und dafür sorgen, dass nach ihr ihre eigenen Kinder herrschen.« »Kann sie das tun?« »Wieso nicht? Ihr Bruder hat bis letzten Winter gegen König Henry gekämpft. Der Junge könnte wegen des Todes seines Vaters einen Groll hegen. Man kann ihm nicht trauen. Da ist dieser neue Feldzug, der dazu dienen soll, die dalmiakanische Küste von den Arethusanern zurückzuerobern. Dazu brauchen sie die Truppen von Edelfrau Tassila und ihre Loyalität. Ich habe gehört, dass Kaiserin Adelheid -« »Schscht.« In ganz anderem Ton sagten sie gemeinsam: »Eure Exzellenz.« Füße scharrten. Der Stoff ihrer Gewänder raschelte, als die beiden Geistlichen die Knie beugten und die Köpfe neigten und ihm die Sicht versperrten. »Ich bitte Euch«, sagte Hugh freundlich. »Könnt Ihr mir helfen?« »Natürlich, Eure Exzellenz! Was wünscht Ihr?« »Geht bitte in meine Gemächer. Fragt nach meinem Verwalter. In seinem Besitz befindet sich ein kleines Kästchen, das ich benötige.« »Natürlich, Eure Exzellenz!« Sie eilten davon. Zacharias sah, wie eine schöne, saubere und starke Hand nach dem Vorhang griff und ihn mit einem 100 kräftigen Ruck zuzog, so dass er im Dunkeln lag. Jenseits des Vorhangs wurden weiter Eide geschworen, aber es klang jetzt gedämpfter. Lange Zeit lag er so da, verärgert und wütend. Er hätte laufen können, aber nicht kämpfen. Er konnte schwatzen, aber er konnte sich nicht aus dem Durcheinander herausreden, in das er gestolpert war. Hathui war geflohen, weil sie keine echte Macht am Hof des Königs besaß, lediglich die Gunst des Königs, die sich jetzt gegen sie gewandt hatte. Und doch hatte er Marcus die Treue geschworen, als Gegenleistung dafür, dass er unterrichtet wurde. Seine Loyalität hätte hier liegen müssen, aber das Band mit Hathui war zu fest. Wenn er sie verriet, würde er nichts anderes sein als ein seelenloser, gefesselter Sklave im Griff der Menschen, die sie vernichten oder sogar töten wollten. Nach einiger Zeit tastete er um die Pritsche herum und rollte sich so leise wie möglich in die Lücke zwischen der Matratze und der Wand. Er ruhte sich aus. Als er wieder normal atmen konnte, stemmte er sich auf Hände und Knie und kroch zitternd und schwitzend an der Wand entlang. Er hatte noch nicht einmal die ganze Länge des Bettes hinter sich gebracht, als er zusammenbrach und scheinbar eine Ewigkeit dort liegen blieb, ehe er es erneut versuchen konnte. Der Vorhang, der die Wand verbarg, bewegte sich, als Menschen hin und her gingen. Einoder zweimal berührte er ihn sogar; die Lücke zwischen Vorhang und Wand war nicht größer als zwei Armspannen. Niemand bemerkte etwas. Er kroch weiter. Vielleicht gab es tatsächlich Wunder, oder vielleicht diente der Vorhang auch nur dazu, dass Bedienstete im Verborgenen kommen und gehen konnten. Eine Tür offenbarte sich seinen tastenden Fingern, und mit großer Mühe zog er sich auf die Knie hoch und drückte den Riegel nach oben. Sie öffnete sich 101 nach innen. Er sank in das angrenzende Zimmer und lag keuchend und benommen und voller Schmerzen da, den Kopf und den Oberkörper auf einem Teppich, die Hüfte und die Beine auf der anderen Seite der Türschwelle. Schließlich zog er sich ganz durch die Öffnung und schob die Tür mit dem Fuß zu. Der Riegel schob sich klickend an seinen alten Platz. Er streckte sich mit geschlossenen Augen aus, unfähig, sich zu rühren. Er lag einfach nur da, während seine Muskeln zuckten, und er glaubte, in den Teppich hineinzuschmelzen, dessen Fasern sich in seine Wange drückten. Ein freundlicher Windhund stupste ihn an, leckte ihm das Gesicht, und als er nicht reagierte, rollte er sich in seinen angewinkelten Kniekehlen zusammen. Vielleicht schlief er. Was er als Nächstes mitbekam, war, dass jemand seine Arme packte und ihn über den Teppich zerrte, während der Hund ergeben jaulte. Er riss die Augen auf und sah, dass der Tag vergangen war. Lampen erhellten jetzt ein Zimmer, das voller Schatten war, die zu Dingen erstarrten, die er erkennen konnte: ein Tisch aus Ebenholz, ein herrlich breites Bett mit Vorhängen darum herum, zwei riesige Kisten, eine Frau in einem goldgesäumten Gewand, die sich umdrehte und ihn mit dem schwachen Ausdruck von Überraschung auf ihrem hübschen Gesicht ansah. »Ist es der Gleiche?«, fragte sie, als die Hände seine Arme losließen, ihn umdrehten und eine Körperlänge von ihr entfernt rücklings auf den Boden legten.
»Ja, Eure Majestät. Das ist er.« Hugh trat aus den Schatten oder kam durch eine unsichtbare Tür herein. Ein Diener eilte an ihm vorbei und stellte eine Kohlenpfanne mit rot glühenden Kohlen an die Wand, dann verschwand er auf dem gleichen Weg, den er gekommen war. »Ich kann nicht lange bleiben. Es muss rasch geschehen.« 102 Die Kaiserin nickte, starrte Zacharias noch immer neugierig an, aber als sie sich dem Bett näherte, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Mann, der dort schlief und den Zacharias bisher nicht gesehen hatte. Es war der Kaiser. »Oh, Gott«, flüsterte sie, als sie neben ihrem Mann zu Boden sank, die Hände zum Gebet gefaltet. »Können wir ihn retten, Vater Hugh?« »Das können wir, aber wir dürfen nicht nachlassen, auch wenn die Straße dunkel zu sein scheint. Habt Ihr ihm das Schlafmittel gegeben?« »Ja. Er ist gleich nach der Mitternachtsglocke eingeschlafen. Meine Dienerinnen werden uns nicht stören. Sie glauben, dass er und ich vorhaben, heute Nacht ein neues Kind zu zeugen, ein kaiserliches Kind, nicht nur das eines Königs und einer Königin. Den vier Wachen draußen würde ich mein Leben anvertrauen. Sie werden uns nicht verraten.« »Das müssen wir hoffen. Wenn sie es tun, ist alles verloren, denn dann wird die Skopos erfahren, was wir vorhaben.« Der Schein der Lampe beleuchtete ihr Gesicht, so dass sie jung und verletzlich aussah, aber es blieb eine eiserne Festigkeit um ihren Mund, die vermuten ließ, dass sie wild entschlossen war, einen grausamen Weg zu beschreiten. »Aosta gehört endlich Henry und mir, Vater. Henry würde nach Norden gehen, wenn er könnte. Das wisst Ihr.« »Das weiß ich.« »Aber jetzt hören wir, dass es die Bestimmung des Kaisers ist, nach Osten zu reiten, nach Dalmiaka, um Krieg gegen Arethusa zu führen. Und weswegen ? Wegen eines Steinhaufens, wie meine Spione mir sagen! Ich hatte gehofft, wir könnten diesen schrecklichen Daemon jetzt loswerden und Henry wiederherstellen.« »Das können wir noch nicht riskieren.« Eine Träne rollte ihre Wange hinunter, als sie den schlafen103 den Kaiser betrachtete. »Seht ihn Euch an, wenn er schläft! Seht dieses geliebte Gesicht!« Sie berührte zärtlich seine Wange, strich mit ihren Fingern durch seine Haare. »Ich schwöre Euch, Vater Hugh, immer mal wieder, wenn er wach wird, sehe ich hinter seinen Augen einen Schimmer von ihm. Er ist wütend. Ich schwöre es Euch. Er ist wütend, weil ihm diese Grausamkeit angetan wird. Noch dazu von jenen, die ihn am meisten lieben!« »Es war die einzige Möglichkeit, ihn zu beschützen. Die Heilige Mutter wird ihn töten lassen, wenn er nicht genau das tut, was sie will.« »Ich weiß, dass die Skopos behauptet, diese Krone aus umgestürzten Steinen wäre alles, was die Welt vor einer schrecklichen Umwälzung retten würde. Dass unser Kaiserreich die Ländereien besitzen muss, in denen die Krone liegt. Also müssen wir Krieg gegen die Arethusaner führen, die jetzt über dieses Gebiet herrschen!« »Sie ist eine Frau, die nur von einer einzigen Sache besessen ist«, pflichtete er ihr bei. »Man kann Henry nicht wie einen gewöhnlichen Hauptmann hin und her schicken, nicht einmal die Skopos kann das! Er hätte darauf bestanden, jetzt nach Norden, nach Wendar zu marschieren, da unsere Aufgabe hier erfüllt und das Kaiserreich wiederhergestellt ist. Er hat die Berichte all dieser Adler gehört, er kennt die schrecklichen Entwicklungen. Hätten wir Aosta früher verlassen, wäre es für immer verloren gewesen. Jetzt aber ist unsere Arbeit hier getan, und wir können in Ruhe nach Wendar marschieren. Die Skopos kann selbst ein Heer nach Dalmiaka führen, um gegen die Arethusaner zu kämpfen. Die Chroniken berichten von Heiligen Müttern, die ihre Heere ausgeschickt haben, wie sie es wollten. Die ihre Soldaten begleitet haben. Wieso muss sie Henry zwingen, sich nach ihr zu richten?« »Ihr habt Recht.« Während Hugh sprach, trat er näher an 104 das Bett, in dem Henry schlief und vor dem die schöne Adelheid bekümmert kniete. »Wir müssen ihn auf die einzige Weise beschützen, auf die wir es können. Nun, Eure Majestät. Ich bitte Euch. Nur für diese Stunde müssen wir das wegnehmen, was ihn vor jedem Schaden bewahrt, den die Skopos ihm antun könnte. Er wird nie erfahren, dass der Schutz weggenommen wurde. Er wird niemals erfahren, dass er erneut in seinen Körper zurückgekehrt ist, sobald ich habe, was ich benötige.« »So sei es also«, murmelte sie. Sie machte das Kreiszeichen vor der Brust und ging mit einem Seufzer zum Fußende des Bettes. Hugh setzte sich neben Henrys schlafende Gestalt, während sie über ihm wachte. Die Art und Weise, in der Schatten und Licht über dem Ganzen spielten, machten es für Zacharias schwer zu erkennen, was da eigentlich vor sich ging, nur dass ein Band zwischen Hughs Fingern hindurchgeschlungen war. Er wedelte mit dieser Hand über Henrys Gesicht herum, während er Worte murmelte, und das Band wurde lebendig, wand sich in seinem Griff, als würde es versuchen, ihm zu entkommen. Wie konnte ein Band einen eigenen Willen haben ?
Obwohl Henry immer noch schlief, entspannte sich sein Körper so plötzlich, dass er seltsam anders aussah als noch einen Augenblick zuvor; dabei zuckte er weder mit der Wimper noch ließ irgendein anderes Zeichen darauf schließen, dass er wach war. Die junge Kaiserin keuchte auf, dann biss sie sich auf die Lippe, aber sie rührte sich nicht. Sie wirkte wie eine der schönsten Statuen, die Zacharias jemals gesehen hatte, eine entzückende Frau in der Blüte ihrer Jahre und strahlend in ihrem goldenen, prachtvollen kaiserlichen Gewand. Eine wahre Königin. Hugh erhob sich, durchquerte den Raum und kniete neben Zacharias nieder. Das rote Band zwischen seinen Fingern zuckte und wand sich, aber es konnte nicht entkommen. Sei105 ne goldenen Haare schimmerten, sobald das Licht auf sie fiel. Er lächelte sanft. »Was wisst Ihr über Prinz Sanglant, Bruder Zacharias?«, fragte er. »Was über den Adler Hathui?« Er war zu schwach, um wegzulaufen, aber er war stark genug, um zu schweigen. Niemals würde er sie verraten. Niemals. Hugh führte das Band an Zacharias Lippen, und mit melodischer Stimme sang er die Namen von Engeln, heiligen Kreaturen, und bat sie, zu seiner Hilfe herbeizueilen. Eine kühle Empfindung glitt Zacharias' Kehle entlang, drang durch die Nase ins Innere und bohrte sich durch seine Augen. Da war etwas in ihm. Er wehrte sich, aber er konnte nichts tun. Eine wesenlose Anwesenheit durchströmte ihn, wand sich in seine Haut, in seine Eingeweide, selbst in die Halle, in der er jede seiner Erinnerungen aufbewahrte, genau platziert und unheimlich ordentlich. »Kannst du mich hören?«, fragte Hugh. »Das kann ich«, antwortete seine Stimme. Seine Zunge formte die Worte, aber er war es nicht, der sprach. Er kämpfte, aber es war umsonst. Er war sowohl Gefangener als auch Sklave. »Sag mir alles, was du über Prinz Sanglant weißt. Wo hast du ihn zum letzten Mal gesehen ? Wie lauten seine Pläne ? Wo ist seine Tochter? Was ist mit dem Adler, der mir entkommen ist? Was weiß der Prinz? Was hat Hathui gesehen?« Der Daemon, der sich in ihm festgesetzt hatte, streifte durch seine Erinnerungen und gab mit seiner Stimme und seiner Zunge alle seine Geheimnisse preis. Jedes einzelne von ihnen. III Ein stummes Tier
1 »...Bruder Zacharias.« Mit einem großen Schreck kam er wieder zu sich: Er war frei, unbefleckt, unversehrt und allein in seinem Körper. Der entsetzliche Vorgang ließ ihn erschauern und prickelte auf seiner Haut, wie eine Million Ameisen oder tausend Wespenstiche. Es war zu furchtbar, um darüber nachzudenken. »Er kann unter dem Einfluss des Daemons nicht lügen«, sagte Hugh. »Nun. Der Adler ist mir entkommen und hat Prinz Sanglant alles verraten.« »Das stimmt«, sagte Adelheid nachdenklich. »Aber jetzt sind wir vorgewarnt und daher gewappnet.« Tränen der Scham liefen über Zacharias' Wangen. Die anderen bemerkten es nicht. Sie kehrten ihm den Rücken zu. »Wenn er Greifen und Zauberer sucht und mit ihnen nach Aosta marschieren will, hat er drei Möglichkeiten, um das Alfar-Gebirge zu überqueren: entweder über den St.-Barnaria-Pass, den Julier-Pass oder den Brinne-Pass.« »Wo liegt der Brinne-Pass?«, fragte Hugh. »Ich habe noch nie von ihm gehört.« 107 »Er befindet sich tief im Osten. Nur wenige Leute benutzen ihn, denn er führt ins östliche Avaria und die Marklande, und es gibt nur wenig Handel in dieser Richtung. Die Straße liegt oberhalb der nordöstlichen Küste und führt ins Inland nach Zuola, wo Marquesa Richildis herrscht. Sie ist uns gegenüber loyal.« Zacharias hörte, wie sie sich auf dem Teppich umdrehte. Ihre Stimme blieb kühl und gelassen, aber ihr Umherschreiten verriet ihre Unruhe. »Wir müssen an jedem der Pässe Männer stationieren, die nach dem Prinzen und seinem Heer Ausschau halten.« »Es könnte Monate oder Jahre dauern, bevor ein Heer auftaucht, wenn das überhaupt jemals der Fall sein wird.« »Dann ist das eben so. Es ist der einzige Weg, wie wir erfahren können, dass er kommt.« »Sofern er wirklich aus dem Osten kommt«, erwiderte Hugh. »Wenn er das nicht tut, ist er keine Bedrohung für uns.« »Vielleicht. Wenn er sich entschließt, in Wendar einen Bürgerkrieg zu entfachen, könnte sich der Norden gegen
Henry erheben.« »Henry wird mit der Skopos nach Osten reiten. Wenn er aus Dalmiaka zurückkehrt, haben wir eine starke Position. Dann können wir nach Norden marschieren, um seine Herrschaft in Wendar und Varre wieder zu festigen. Jetzt können wir nur die Pässe bewachen und uns vorbereiten.« Hugh kicherte. »Ihr seid eine Strategin, Eure Majestät. Das ist gut so, denn Ihr werdet diese Schlacht allein kämpfen müssen. Ich werde schon bald für das große Weben nach Norden aufbrechen.« »Wieso müsst Ihr gehen?« »Weil die Heilige Mutter es verlangt.« »Was ist mit Henry?« »Anne wird das Band nehmen. Sie wird über den Kaiser wachen.« 108 »Das gefällt mir nicht. Können wir ihn der Heiligen Mutter anvertrauen? Sie könnte alles tun, wenn wir nicht da sind. Dass wir Henry haben, ist das einzige Schwert, mit dem wir uns vor ihr schützen können.« »Es gibt vieles in dieser Welt, das uns nicht gefällt und das wir trotzdem ertragen müssen, weil es der einzige Weg ist, wie wir unser Ziel erreichen. Wir müssen so tun, als würden wir ihr vertrauen, indem wir ihr das Band geben, ansonsten wird sie wissen, dass wir ihr nicht trauen. Sie könnte zu der Überzeugung gelangen, dass wir gegen sie vorgehen wollen. Sie ist im Augenblick mächtiger, als wir es sind. Wir müssen geduldig sein. Wir werden warten. Der Tag wird kommen, wenn alles, was wir erstreben, sich fügen wird.« Zu spät suchte Zacharias nach der Tür. Er lag noch immer auf dem Rücken, und die Tür war weit weg, unmöglich weit, und doch war sie seine einzige Hoffnung. Wenn es ihm gelang, aus der Kammer zu entkommen, konnte er vielleicht jemanden warnen - irgendjemanden -, möglicherweise sogar der Skopos selbst vor die Füße fallen und seine Zunge einsetzen, um diese beiden zu verdammen, die ihn gezwungen hatten, seine geliebte Schwester zu verraten. »Also gut.« Adelheids Schritte erklangen auf dem Teppich, als Zacharias die Schultern hob, um herauszufinden, ob er sich nach hinten schieben konnte. »Werdet Ihr ihn töten?«, fragte die Kaiserin mit kühler Stimme. »Er ist unschuldig«, sagte Hugh. »Bruder Marcus hat ihm versprochen, ihm die Geheimnisse der Mathematiki beizubringen. Doch wie es steht, ist er eine Gefahr für sich und für den Kaiser, denn er weiß zu viel.« Zu spät begriff Zacharias, dass sie nicht mehr von Prinz Sanglant sprachen. Es war Hugh, der neben ihn getreten war, nicht Adelheid; sie befand sich noch immer beim Bett des Kaisers. 109 »Ist er so gebildet, dass er die geheimen Pfade lernen könnte, die nur den Mathematiki bekannt sind?«, fragte sie. Hughs hübsches Gesicht zeigte einen Ausdruck von Mitleid, aber seine Augen blieben kalt. »Es gibt vieles, das er lernen kann. Aber - nein, er ist nicht gebildet. Doch gerade deshalb, weil er weder schreiben noch lesen kann, können wir Gnade walten lassen.« Zacharias stützte sich auf den Ellbogen. Auf dem Bett schlief Henry, aber eine Steifheit in seinen Gliedern verriet, dass der Kaiser nicht friedlich schlief. Das rote Band lag über seiner Kehle und rührte sich nicht. »Werdet Ihr mich unterrichten?«, fragte er unter Tränen -und hasste sich sogleich dafür, dass er auch nur einen Augenblick seinem verzehrenden Wunsch nachgegeben hatte. »Nein! Ich will nicht von dem unterrichtet werden, der mich gezwungen hat, meine Schwester zu verraten!« »Ich werde Euch beibringen, die Kronen zu weben«, sagte Hugh geduldig. »Wenn Ihr gut lernt, könnt Ihr meinen Platz als Cauda Draconis einnehmen, wenn die Zeit gekommen ist.« Eine erbitterte Heiterkeit stachelte ihn an. »Ich werde mich nicht mit denen zusammentun, die meiner Schwester schaden wollen!« »Ich brauche alle vier Wachen«, sagte Hugh zu der Kaiserin. »Ihr könnt Euch auf ihre Loyalität verlassen?« »Sie tragen die Amulette, die Ihr für sie gewebt habt.« »Ah. Dann brauchen wir keine Angst zu haben, dass sie uns verraten könnten.« Sie ging zur Tür und sagte etwas, und vier Wachen betraten den Raum, Männer mit breiten Schultern und kräftigen Händen. »Haltet ihn fest.« Hugh drehte sich zu der Kohlenpfanne um, die vergessen an der Wand stand, streifte einen Handschuh über die rechte Hand, bückte sich und zog ein Messer aus den Kohlen. Die Klinge glühte weißrot. 110 Die Wachen drückten Zacharias auf den Boden. Er wehrte sich. »Oh Gott! Oh Gott! Ich bitte Euch, habt Erbarmen! Ich werde alles tun, was Ihr wollt! Alles, was Ihr wollt!« »Ja, das wirst du«, sagte Hugh. »Haltet ihn gut fest. Einer muss den Kopf packen.« Obwohl er schwach war, kämpfte er wie ein Löwe, der in einem Netz gefangen war, biss zu und trat um sich, kratzte die Wachen, die ihn verfluchten oder lachten, ganz wie es ihrer Natur entsprach. Sie waren stärker als er. Sie waren wie ein Schraubstock. Als sie ihn niedergedrückt und seinen Kopf wie zwischen Eisenklauen gepackt hielten, zuckte er immer noch, obwohl er sich kaum bewegen konnte. Er kämpfte, und er krümmte sich; er weinte und er bettelte, aber sie rissen ihm den Mund auf und zogen mit Zangen seine Zunge heraus, hielten sie ausgestreckt hin, während Hugh das Messer senkte. Auf seinem hübschen Gesicht
zeigte sich keinerlei Schadenfreude, lediglich der finstere Eifer eines Mannes, dem Leid tat, dass er tun musste, was notwendig war. Als die Klinge ihn berührte, explodierten Schmerz und Feuer in seinem Kopf, aber das Schlimmste war, dass er nicht das Bewusstsein verlor, wie es vor so langer Zeit bei den Qumanern gewesen war, als Bulkezu ihn verstümmelt hatte. Er spürte den Schnitt des Messers, und er schrie. Es war die einzige Sprache, die er noch besaß. 2 Sie trat als Letzte in den Bogen aus Licht, den sie zwischen Stern und Menhir gewebt hatte. Das blaue Licht, das sie umhüllte, machte sie blind gegenüber der Welt unten, während 111 es sie im gleichen Augenblick ihre Spalten sehen ließ, die Pfade, die in jedem Winkel von der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft wegführten. Doch ihr Blick blieb auf einen Magnetstein geheftet, den sie hinter sich zurückließ: ihre Tochter, eine Fremde für sie, die schlafend auf dem kalten Boden lag, während Liath sich mit jedem Schritt weiter von ihr entfernte, weil sie den Funken folgen musste, die Sorgatanis Wagen beim Vorbeiziehen verursachte. Sie wagte es nicht, sie zu verlieren. So wie sie Sanglant ein zweites Mal verloren hatte. Sie erhaschte kurze Blicke auf ihn. Mit jedem Schritt entschwanden er und sein Heer mehr, und mit jedem Schritt verschwamm ihr Blick mehr, oder sein Heer wurde größer, wuchs zu einer riesigen Menge von Soldaten, denen sich zuerst zwei qumanische Banner hinzugesellten, dann vier, dann acht - eine Abfolge von Bildern, kurze Blicke in die Zukunft, während Tage oder Wochen außerhalb des Webens vergingen. Wie lange würde es dauern, ehe sie ihn wieder sah? Gefühle schimmerten in ebenso vielen Farben wie die glitzernden Sterne, die zusammengewebt waren, um die Faser ihres Seins zu bilden: das Gefühl des Triumphs angesichts der Leichtigkeit, mit der sie die Krone gewebt hatte, der nagende Zweifel, dass sie es vielleicht falsch gemacht hatte und sie an einem unbekannten Ufer stranden würden, Trauer darüber, dass sie ihre Tochter und ihren Mann wieder zurückließ, Wut auf Anne, auf die Bürde der Verantwortung, die sie auf sich genommen hatte, Begehren, das sich auf ihn richtete, aber das würde sie nur ablenken, also durfte sie so etwas nicht denken, abgesehen davon, dass er auf eine ganz besondere Art und Weise lachte, wenn »Liath!« Sie kam stolpernd auf unebenem Boden auf und sank auf ein Knie. Ein starker Arm hielt sie, als ihr schwindlig wurde 112 und ihre Beine nachgaben. Sie wäre hingefallen, wenn sie nicht jemand festgehalten hätte. »Ich bin so müde«, murmelte sie verwundert. Eine Brise fuhr durch ihre Haare, ließ ihren Zopf über die Schulter wippen. Staub wirbelte über nackte Erde. »Wo sind wir?«, flüsterte sie. Sie blickte auf. Unten, am Ende des Hangs in einem kleinen Bergtal, stand der vertraute Turm, in dem sie so viele Monate lang gelernt hatte. Es kam ihr so vor, als hätte sie diesen Ort erst vor wenigen Tagen verlassen. Verna. Sie wurde ganz benommen, und ihr schwanden die Sinne. Als sie aufwachte, lag sie im Schatten eines Apfelbaums auf ihrem Umhang, während Edelfrau Bertha neben ihr saß und wurmige Stellen aus Äpfeln schnitt. Berthas gefütterte Tunika war fleckig von Schweiß. Ein Band hielt ihr die Haare aus dem Gesicht, aber die ausgefransten Enden berührten nicht ihre Schultern. »Es ist Sommer, ohne Zweifel«, sagte Bertha zu jemandem, den sie nicht sehen konnte. Liath starrte zum Laubdach des Apfelbaums hoch, an dessen Konturen sie sich aus der Zeit, als sie in Verna gelebt hatte, noch gut erinnern konnte. Sie hatten viele Äpfel von diesem Baum gegessen. Einmal hatte sie sich mit Sanglant in der Nacht hierher geschlichen, und sie hatten sich unter diesen Zweigen geliebt, während sanfte nächtliche Brisen - oder Annes gefangene Daemonen - um sie herumgetänzelt waren. Aber er war jetzt weit weg, für sie unerreichbar. Für ihn waren Monate vergangen, während sie durch eine einzige Nacht getreten war. Sie konnte es kaum ergründen, aber der Schmerz verließ sie nie, und der Apfelbaum erinnerte sie bitter an all das, was sie zurückgelassen hatte. »Wenn wir in den Bergen sind, müssen wir einen Pass fin113 den, der uns gen Norden nach Wendar oder gen Süden nach Aosta führt«, fuhr Bertha fort. Liath setzte sich stöhnend auf. »Liath!« Breschius beugte sich über sie; er hielt eine Apfelscheibe zwischen den Fingern. »Seht mich nicht so an! Es geht mir gut. Das Weben der Krone hat einfach nur an meinen Kräften gezehrt, weiter nichts.« »Wisst Ihr, wo wir sind?«, fragte Bertha. »Oh Gott, ich fürchte, ich weiß es. Wir sind zu den Ruinen von Verna gekommen. In einer einzigen Nacht sind wir von der Wildnis im Osten mitten ins Zentralmassiv des AlfarGebirges gelangt.« Bertha pfiff anerkennend. »Es stimmt, mit einer solchen Macht könnte man seine Feinde vollkommen unerwartet
angreifen. Adler könnten mit nur wenigen Schritten große Entfernungen zurücklegen.« »Abgesehen davon, dass in dieser einen Nacht Tage und Monate vergehen«, sagte Breschius, der offenbar eine Unterhaltung fortführte, die Liath durch ihr Wachwerden unterbrochen hatte. »Welche Jahreszeit ist jetzt?«, fragte Liath. »Davon hängt ab, ob wir Erfolg haben werden.« Sie legte Breschius eine Hand auf die Schulter und stand auf. Der Boden blieb ruhig, als sie ihren Blick über die Umgebung schweifen ließ: Heriberts schöne Halle war verkohlt und eingestürzt, der alte Turm war geborsten, und Steine lagen an seinem Fuß herum. Die Hütten waren niedergebrannt. Soldaten pflückten Trauben in dem Gewirr von Pflanzen, in das sich der Weingarten verwandelt hatte, der seit Jahren nicht versorgt worden war. Tannen und Fichten bedeckten die oberen Hänge des Tals, abgesehen von der Schneise, die das Feuer geschnitten hatte; dort waren nur noch die Gerippe von Bäumen zu sehen. Drei Berge türmten 114 sich darüber auf - Jungfrau, Mönchskamm und Schrecken -, deren gewaltige Höhen mehr aus Fels als aus Schnee bestanden. »Sommer«, sagte sie. Von weiter weg hörte sie das Plätschern von Wasser, das über Steine rann; viele Bäche führten hinunter in dieses Tal und nährten den zugewucherten Garten und den Teich, der sich hinter einem Hain aus grünen Buchen befand. Die Sonne stand hoch über ihnen. »Es ist Sommer«, pflichtete Bruder Breschius ihr bei. »Zumindest hat es den Anschein.« Die Soldaten hatten noch nicht das Lager aufgeschlagen, aber die Männer hatten sich den Hang und die Breite des Tals zunutze gemacht, damit die Pferde grasen und sich erholen und getränkt werden konnten. Sorgatanis Wagen stand mitten auf einem Flecken aus neuem Gras; ihre Kohorte von Kerayiten-Kriegern hatte sich wie ein Zaun aufgebaut, obwohl die Markländer offensichtlich gesagt bekommen hatten, sich fern zu halten. Liaths jinnische Diener Mücke und Moskito knieten einen Steinwurf von ihr entfernt und zitterten wie Hunde, die an einer Leine zerrten; erst als sie ihnen zunickte, ließen sie sich auf die Fersen zurücksinken, um etwas geduldiger zu warten. Sorgatanis junge Dienerin hockte im Schatten des nächsten Apfelbaums und beobachtete Liath. Hitzewellen wogten durch die Bergluft, oder war das ein wesenloser Daemon? Sie war nie in der Lage gewesen, sie zu sehen, aber jetzt bemerkte sie huschende Bewegungen. »Wir sind in der Morgendämmerung angekommen«, sagte Bertha. »Ihr habt den ganzen Morgen geschlafen.« »Wir werden bis zum Einbruch der Nacht warten müssen«, erklärte Liath. »Ich werde versuchen, mit Hilfe der Adlersicht mit Hathui zu sprechen, und danach werde ich die Sterne berechnen. Wir müssen uns entscheiden, ob wir jetzt marschieren oder noch einmal die Kronen benutzen.« 115 »Wenn meine Erinnerung an die Lage des Landes stimmt, können wir kaum näher an Aosta herankommen und trotzdem unbemerkt bleiben«, sagte Bertha. »Nein.« Sie schüttelte den Kopf, unzufrieden mit sich selbst. »Hätte ich mehr Erfahrung im Weben der Kronen, wären wir nicht hier gelandet. Ich habe gesehen, wie die Sternenkrone sich über das Land verteilt. Südöstlich von hier, unweit vom Ufer des Mittleren Meeres, befindet sich der mittlere Stein dieser Krone. Dorthin müssen wir gehen, denn Anne wird ebenfalls dort hingehen. Wenn wir nicht zu spät dran sind - wenn nur ein paar Monate seit unserem Aufbruch aus dem Osten vergangen sind -, haben wir noch Zeit, ein ganzes Jahr oder sogar mehr.« Breschius leckte sich die klebrigen Reste des Apfels von den Fingern. »Wir könnten durch Aosta und dann an der östlichen Küste entlangmarschieren und diese Krone suchen.« »Das könnten wir. Und wir müssten uns jeden Schritt erkämpfen, erst durch Aosta und dann in Dalmiaka, das von den Arethusanern regiert wird. Sollten wir das überleben, haben wir den Vorteil der Überraschung verloren. Und das ist unser einziger Vorteil. Ich werde die Sterne heute Nacht beobachten, während das Heer sich ausruht und vorbereitet. Morgen Nacht werden wir wieder durch die Kronen gehen.« »Ich bitte Euch, Liath«, sagte Breschius leise, »lehrt mich, wie das Datum an den Sternen abgelesen werden kann. Ich weiß, dass es Flut gibt, wenn der Drache sich in der Abenddämmerung erhebt, und dass das Kind im Herbst gegen Mittag in den Zenit steigt. Mok reitet alle zwölf Jahre um die Häuser der Nacht herum, und beim Abendstern und beim Morgenstern ist es das Gleiche, sie steigen in einem regelmäßigen Muster auf und ab. Könnt Ihr mich unterrichten?« Sie lächelte den Frater an. Das Lächeln, mit dem er antwortete, verlieh seinem Gesicht eine Lebendigkeit, die sein starkes Herz enthüllte, seinen Mut und eine gütige Wärme, die 116 ihre eigenen Wangen rot werden ließen, als sie sah, was für ein attraktiver Mann er war, wenn auch schon ziemlich alt -ganz sicher über vierzig. »Ja, Bruder. Ich werde meine eigene Schule von Mathematiki benötigen, wenn ich Anne besiegen will.« »Eine Gelehrtenschule!«, murmelte Bertha angewidert. Dann lachte sie. »Wir haben nur einen Geistlichen. Genügt das für eine Gelehrtenschule?« »Es spielt für mich keine Rolle, ob ein Schüler ein Geistlicher ist oder das Kind eines Holzfällers, Edelfrau Bertha. Ich werde jede Frau und jeden Mann unterrichten, sofern sie genügend Geduld, ein gutes Gedächtnis und die Bereitschaft zum Lernen haben.« An der Art, wie Bertha den Kopf hob, konnte Liath erkennen, dass sie die Edelfrau verblüfft hatte. »Jede Frau und jeden Mann?«
»Jede und jeden, unabhängig von ihrem Stand oder davon, was sie jetzt sind, solange sie arbeiten, denn es ist eine schwierige und trübselige Arbeit, und nur wenige werden Lust dazu haben. Versammelt in der Abenddämmerung jene, die zusehen und zuhören möchten.« »Was wollt Ihr tun?«, fragte Breschius. »Ich weiß, an welchem Tag wir die Steppe verlassen haben, denn Ihr und Heribert habt den Verlauf der Zeit während Eurer Reise gut verfolgt. Es ist möglich, dass wir bei unserer Reise durch die Kronen Monate oder Jahre übersprungen haben.« »Wie kann das passieren?« »Ich bin nur ein paar Tage im Land der Aoi gewandelt, während hier auf der Erde Jahre vergangen sind. Wenn wir die Kronen durchqueren, berühren wir den Äther, wo die Zeit anders verläuft als in der Welt unten. Ich nehme an, es muss einen Weg geben, zu berechnen, wie lange jede Durchquerung dauert. Wir wissen, wie lange es her ist, dass das Land 117 der Aoi in den Äther gestoßen wurde. Wenn wir das genaue Alter von Ältester Onkel kennen würden, könnten wir herausfinden, wie vielen Tagen oder Monaten hier auf der Erde ein Tag im Äther entspricht. Und wenn wir dann auch noch wissen, wie weit wir durch die Kronen reisen wollen, können wir vielleicht genau voraussagen, wie viel Zeit wir in den Kronen verbringen, während wir diese Entfernung zurücklegen. Es sei denn, es gibt noch einen anderen Faktor, der das Berechnen der Tage beeinflusst. Was ist, wenn die Zeit nicht konstant bleibt, wenn ein Tag im Äther nicht immer einem Monat auf der Erde gleicht, sondern sich abhängig -« »Oh Gott«, sagte Bertha lachend. »Jetzt komme ich nicht mehr mit! Was ist, wenn wir geradewegs mitten in die Umwälzung marschiert sind? Was ist, wenn sie bereits geschehen ist?« »Wenn die Umwälzung uns getroffen hätte, während wir zwischen den Steinkreisen waren, würden wir das wissen. Da die Erde und das vertriebene Land über das Band miteinander verbunden sind, hätten wir den Aufprall bemerkt. Wir haben noch Zeit. Ich muss herausfinden, welche Wandelsterne am Himmel stehen und in welche Richtung sie sich bewegen. Dann kann ich rückwärts bis zu den Stellen rechnen, an denen sie gestanden haben, als wir die Krone im Osten betreten haben. Dadurch werde ich ein ungefähres Datum erfahren.« »Die Überlieferungen der Mathematiki werden kein Geheimnis mehr sein, wenn es jeder Frau und jedem Mann gestattet ist, sie zu erlernen«, unterbrach Bertha sie plötzlich. »Was von wenigen gehütet wird, verliert seine Macht, sobald mehrere Anteil daran haben. Denkt nur daran, was geschehen könnte, wenn nicht nur die Adler die Fähigkeit erlernen, durch Feuer zu sehen. Wenn Kaufleute Zauberer anheuern, um die Kronen zu weben und es ihnen zu ermöglichen, unbehelligt von Lawinen und Wegelagerern diese Berge zu überqueren. Denkt nur an Annes Macht, die sie sehr gut ab118 gesichert hat. Wenn mehr gegen sie kämpfen würden, wäre sie jetzt nicht die Skopos, die den König an einer selbst hergestellten Kette herumführt. Amulette schützen uns vor ihrem Blick, aber sie verkrüppeln uns auch, denn wir können meine Adlersicht nicht benutzen, weil sie uns entlarven könnte. Wir können es nur riskieren, sie höchstens einmal am Tag anzuwenden, wie ich es mit Sanglant vereinbart habe. Wenn wir keine Angst hätten, wären wir nicht so schwach. Was ich sehr gut weiß, denn ich war auch einmal ängstlich und schwach.« »Ihr würdet sogar die gewöhnlichen Leute unterrichten?«, fragte Bertha. »Alle, die lernen können. Wieso nicht? Pa und ich haben sowohl unter hochgeborenen Leuten als auch unter Gewöhnlichen gelebt. Ich habe keinen großen Unterschied zwischen ihnen bemerkt. Einige haben sich für das Böse entschieden, andere für das Gute. Einige haben einen ehrlichen Weg gewählt, andere einen Weg, der mit Lügen gepflastert war. Einige waren schlau, andere hatten nicht mehr Verstand als ein Schaf. Jeder Adler könnte Euch genau das Gleiche sagen, denn sie alle sind von niedriger Geburt und folgen dennoch Wegen, die von Prinzen benutzt werden.« Bertha sah sie seltsam an. »Ihr stammt aus einem edlen Geschlecht.« »Tue ich das? Ich bin nicht Annes Tochter. Ich bin nicht Taillefers Urenkelin. Pa wurde in ein edles Geschlecht hineingeboren, das stimmt, aber ich nehme an, sie waren so etwas wie freie Bauern, die zur Zeit meiner Urgroßmütter einen Fuß in unberührtes Land gesetzt haben. Wieso sollte ich stolzer sein als Hathui? Wieso sollte ich mich über sie erheben? Mit dem Gold, das sie von den Qumanern erhalten hat, kann sie ihren Nichten und Neffen eine Mitgift geben, und wer darf sagen, dass diese, wenn sie Erfolg haben, nicht die Söhne und Töchter einer Edelfrau heiraten dürfen? Oder dass ein 119 Edelmann, der harte Zeiten durchmachen musste, seinen jüngsten Sohn nicht als Soldat in das Heer eines anderen Edelmannes geben darf, und dass, wenn dieser Junge jemals heiratet und das Glück ihm weiterhin nicht hold ist, seine Kinder nicht besser dran sind als die eines Dieners, der dem Willen eines Grafen gehorcht?« Als sie atemlos aufhörte zu reden, stellte sie fest, dass die anderen sie ansahen, als hätte sie getobt, als wäre sie eine Irre, die vor ihren Augen wild geworden war. »Ich bitte euch«, sagte Bertha, »holt ihr etwas Wein.« Mücke und Moskito sprangen eifrig auf, holten eine Flasche Wein und ein Tablett mit Brot und Käse sowie einen gerade erst gepflückten Zweig besonders süßer Trauben. Bertha ließ sie in Breschius' Obhut zurück und ging weg, um mit den Soldaten zu sprechen.
»Ich habe sie beunruhigt«, sagte Liath schließlich zu Breschius. »Das war nicht meine Absicht. Ich habe nicht nachgedacht.« »Ihr habt eine seltsame Straße bereist, Liath. Gewiss verändert die Berührung des Äthers die Sichtweise einer Person.« »Das ist in der Tat so.« Sie sah Edelfrau Bertha nach, die mit zwei Soldaten lachte. Trotzdem war sie die Herrin, während die beiden ihre Diener waren, was offensichtlich wurde an der Art und Weise, wie sie beieinander standen, an der Haltung, die sie einnahmen, als die Edelfrau eine letzte Bemerkung machte und dann weiterging. »Es gibt kein Zurück zu dem, was ich vorher war. Und ich würde es auch gar nicht wollen.« Breschius nickte zustimmend. Er schien sie nicht für krank zu halten. »Es stimmt, dass der heilige Daisan uns lehrt, dass alle Seelen vor Gott gleich sind.« »Wieso sind wir dann auf der Erde ungleich?« »Unser Rang auf der Erde ist ungleich, unsere Seelen sind es nicht. Gott haben die Welt so geordnet, Liath. Deshalb ist sie so.« 120 »Das ist keine echte Antwort, nicht wahr? Haben Gott die Welt so geordnet? Oder haben die Menschen das getan und Gott die Verantwortung zugeschoben, um ihre Taten zu rechtfertigen?« »Das grenzt an Ketzerei, Liath.« »Tut es das?« Er lächelte, und sie sah, dass er kein bisschen beleidigt war. Dies war ein Mann, der gern mit schwierigen Fragen kämpfte. »Das tut es. Ich frage Euch also: Welche andere Ordnung könnte es geben? Wie sonst könnte die Menschheit gedeihen, wenn es nicht jene gibt, die befehlen, und andere, die gehorchen? Wenn wir keine Ordnung auf der Welt haben, leben wir im Chaos und sind nicht besser als die wilden Tiere. Und sogar bei den Tieren nehmen sich die Starken, was sie brauchen, und die Schwachen sterben.« »Tiere denken nicht, nicht in der Weise, wie wir es tun«, sagte sie hartnäckig, aber sie konnte seine Frage nicht beantworten. Gott hatten die Erde so geordnet, Herrscher standen oben und Sklaven unten, und die Übrigen hatten ihre eigenen Plätze. Wie kam sie auf die Idee, das ändern zu wollen? »Trotzdem werde ich jede Person unterrichten, die zu mir kommt, egal wie ihr Rang auch sein mag«, sagte sie, während sie die saure Haut von einer Weintraube schälte und das süße Innere kostete. »Sie müssen sich nur lernwillig und lernfähig zeigen.« Er kicherte. »Jeden? Auch diese zwei jinnischen Götzendiener?« Mücke und Moskito beobachteten sie wie Hunde, die darauf warteten, die Absicht und Stimmung ihres Herrchens zu erkennen. Sie musste immer noch lernen, sie auseinander zu halten. Moskito war der mit der runden Narbe auf der linken Wange und dem fehlenden Zahn. Mücke hatte breitere Schultern, ein breiteres Gesicht, und ihm fehlte der Daumen an der rechten Hand. 121 »Würdet ihr die Fähigkeiten eines Zauberers erlernen wollen, wenn ihr die Gelegenheit dazu hättet?«, fragte sie sie auf Jinnisch. »Möchtet ihr das Wissen der Sterne beherrschen?« Sie dachten nach, sahen sich an, als könnten sie das, was der andere dachte, an einem hochgezogenen Mundwinkel oder einem Stirnrunzeln erkennen. Schließlich sprach Moskito. »Wer würde uns unterrichten, Strahlende?« »Ich würde es tun.« Wieder sprachen sie allein durch ihre Mimik miteinander, und als sie diesmal fertig waren, antwortete Mücke. »Wir würden tun, was Ihr befehlt, Herrin.« »Aber wünscht ihr es?« »Ja, Herrin«, sagten sie. Breschius lächelte, während er sie beobachtete. »Was sagen sie?« »Ich weiß nicht, ob sie mich zufrieden stellen oder wirklich lernen wollen!« »Aus diesem Grund müssen Prinzen sich gegen Schmeichler wappnen. Sklaven sind in gewisser Weise wie Höflinge, aufgrund ihrer Furcht - die mehr als begründet ist -, dass sie keine Existenz ohne die Gunst ihres Herrn haben. Deshalb weiß man nie, ob sie die Wahrheit sagen oder lügen, um sich zu schützen.« Sie lächelte. Sie mochte ihn. »Nehmt ein paar Trauben, Bruder. Ich bitte Euch, schmeichelt mir nicht, weil Ihr glaubt, dass ich es mir wünsche, denn das tue ich nicht. Ich glaube, wir sollten herausfinden, ob es in unserer Gruppe zusätzlich zu diesen zweien irgendwelche anderen geeigneten Schüler gibt. Wenn Ihr damit einverstanden seid, möchte ich, dass Ihr anderen das beibringt, was Ihr bei mir lernt. Und ich möchte, dass Ihr mein Hauptmann seid. Sofern Ihr einverstanden seid.« Er musterte sie mit beunruhigender Eindringlichkeit, als 122 würde er hinter ihrem Gesicht noch ein anderes sehen. »Wollt Ihr ein Heer aus Zauberern ausheben und Kaiserin werden?« »Ich habe nicht den Wunsch, ein Reich zu besitzen. Ich möchte nicht über andere herrschen und sie dazu bringen, das zu tun, was ich will. Ich brauche keinen Hof von Schmeichlern um mich herum! Wenn ich Anne besiegen kann, möchte ich in die Geheimnisse des Himmels und der Erde eintauchen. Es gibt noch so viel zu
lernen und zu verstehen. Das wird genug für mich sein.« Ein Lächeln huschte über seine Lippen und verschwand wieder. »Ihr erinnert mich an jemanden«, murmelte er, »der mir einmal sehr teuer war.« Er neigte den Kopf, berührte die Stirn mit den Fingern in einer Geste des Respekts und sah sie direkt an. »Ja, ich möchte Euer Hauptmann sein, Herrin.« In seiner Miene funkelte ein leises Lächeln; er rieb sich den Stumpf der fehlenden Hand und drückte ihn gegen die Brust auf sein Herz. »Gerne diene ich Euch so, wie Ihr es befehlt.« Sanglant hatte schon immer Schwierigkeiten gehabt, still zu sitzen, aber jetzt saß er den ganzen Nachmittag im Schatten eines Baldachins, der das Einzige war, das ihn vor der heißen Sommersonne schützte. Die Bittsteller, die darauf warteten, mit ihm sprechen zu können, hatten keinen solchen Schutz, aber er hatte Hauptmann Fulk angewiesen, dafür zu sorgen, dass alle einen Becher zu trinken bekamen, auch wenn dadurch die Vorräte des Heeres geschmälert wurden. Die Geschichten, die er hörte, klangen inzwischen fast alle gleich, und trotzdem tat ihm jede einzelne Frau und jeder einzelne Mann Leid, die vor ihm niederknieten. »Ich bitte Euch, Eure Hoheit. Den ganzen Sommer ist kein Regen gefallen, und der Weizen ist auf den Halmen vertrocknet. Wir haben nichts zu essen außer Beeren und Gras und keinerlei Vorräte für den Winter.« 123 »Mögen Gott uns helfen, Eure Hoheit. Zweimal haben Banditen unser Dorf überfallen. Meine Tochter und mein Sohn sind geraubt worden.« »Meine ganze Familie ist an der Pest gestorben, Eure Hoheit, bis auf mich und meine Verwandte. Wir haben uns nicht getraut, sie zu begraben, so schlimm war es. Wir mussten unser Dorf verlassen.« »Ich bitte Euch, Eure Hoheit. Helft uns.« Obwohl er ihnen nichts geben konnte, gingen sie alle erleichtert weg, als hätte allein die Berührung seiner Hand ihre Sorgen gelindert. Als hätten die Greifen ihn dadurch, dass er sie gezähmt hatte, zu einem Heiligen gemacht. Er war schlecht gelaunt, und seine Schultern juckten unter der schweißnassen Tunika, aber er wagte es nicht, Unbehagen zu zeigen. Seine unbedeutenden Sorgen waren nichts im Vergleich zu den Leiden, die diese Leute hier hatten erdulden müssen. Das Feld, auf dem sein Heer lagerte, befand sich in den Marklanden, im Grenzland, wo niemand genau wusste, welches Gebiet unter die Oberherrschaft welcher Edelfrau oder welchen Edelmannes fiel. Die meisten Leute hier glaubten, dass sie in Ostfall lebten, aber nur wenige waren sich dessen sicher; ihre Sorgen waren unmittelbarer und so drängend, dass sie sogar ein Lager betraten, in dem zwei schimmernde Greifen hausten, von denen der eine zwar angepflockt war, der andere aber frei herumlief. »Da sind zwei adlige Familien, die eine Blutfehde austragen, Eure Hoheit. Sie haben angefangen, unsere Schafe zu stehlen, obwohl wir nur Bauern sind. Ihre Streitereien haben nichts mit uns zu tun. Könnt Ihr sie davon abhalten?« »Mein Prinz, unser Kloster ist von den Qumanern niedergebrannt und die Hälfte der Mönche getötet worden diejenigen, die nicht die Zeit hatten, sich zu verstecken. Alle unsere kostbaren Gefäße und Gewänder sind von den Barbaren 124 gestohlen worden. Wir haben die gesamte Ernte verloren, denn es war niemand da, der sie einbringen konnte.« Der Bittsteller, Bruder Anselm, kaute offensichtlich an den Nägeln, und er machte den Eindruck, als hätte er es auch jetzt am liebsten getan, als er zu dem Teil des Lagers hinüberstarrte, wo die Kriegstruppen von acht qumanischen Stämmen ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Ihre Flügel flatterten im auffrischenden Wind, der von Südosten kam, und die Banner knatterten hörbar. Gyasi stand mit verschränkten Armen direkt hinter Sanglant. Seine ausdruckslose Miene war Furcht erregender als jedes finstere Gesicht. »Entspannt Euch, Bruder«, sagte Sanglant. »Diese Qumaner dienen mir, nicht ihrem früheren Herrn. Sprecht weiter.« Der Mönch nickte etwas zu schnell und kam ins Stottern, als er fortfuhr. »W-wir leben in der Klosterruine, so gut es geht, aber diesen Sommer sind zwanzig Findelkinder am Tor abgegeben worden. Einer der Jungen war noch ein Säugling. Ihre Familien können sie zweifellos nicht ernähren. Die älteren sind gut und arbeiten eifrig, aber wir brauchen Saatgut, um den Winterweizen pflanzen zu können, und auch für den nächsten Frühling, und Vorräte, um uns über den bevorstehenden Winter zu bringen.« Es dämmerte allmählich, und der Wind türmte dunkle Wolken auf. Er hatte gerade einmal mit der Hälfte der Leute gesprochen, die hier warteten. Einige waren tagelang marschiert, um hierher zu gelangen, nachdem sie gehört hatten, dass sein Heer durch dieses Gebiet kommen würde. Vierhundert oder mehr lagerten in der Nähe, vielleicht der größte Teil der Bevölkerung des umliegenden Gebietes. Ein paar schienen darauf erpicht, sich den Truppen anzuschließen oder der Nachhut zu folgen. Viele schienen einfach nur hören zu wollen, dass jemand irgendjemand - vorhatte, sie vor dem nächsten Unheil zu beschützen. Er konnte ihnen nur wenig versprechen, aber dass er sich alles anhörte, dass er seinen 125 Fuß in dieses Land gesetzt hatte, schien den meisten zu genügen. Es schmerzte ihn zutiefst. Henry hätte Wendar niemals verlassen dürfen, um seinen Träumen von einem Kaiserreich nachzujagen. Henry wurde hier gebraucht. Einem Kaiserreich nachjagen konnte man, wenn das eigene Haus stark war, nicht wenn es wackelte.
»Mein Prinz!« Hathui trat herbei, und ihr Umhang flatterte, als eine Böe aufkam. Sie war nass geworden, aber in guter Stimmung; ein Grinsen schien ihr Gesicht fast zu zerreißen. »Ich komme mit Neuigkeiten von Walburg. Und vom Feuer.« Walburg bedeutete Villam, aber das Feuer bedeutete, dass Hathui endlich durch die Flammen mit Liath gesprochen hatte. Er winkte ungeduldig einem seiner Verwalter zu. »Der Adler soll etwas zu trinken bekommen.« Ein Soldat brachte Wein. Obwohl er bereits umgekippt und so sauer war, dass er fast nach Essig schmeckte, stürzte sie ihn in großen Schlucken hinunter, während der Wind an dem Baldachin zerrte und die Zelte und Banner seines Heeres flattern ließ. Ganz hinten in den letzten Zeltreihen, wo gerade Hathuis Eskorte ins Lager einzog, kam Unruhe auf; offensichtlich waren die neuen Rekruten aufgeschreckt worden, die sich ihm in der Zeit angeschlossen hatten, als Hathui bereits auf seinen Befehl hin den Umweg nach Walburg gemacht hatte, während er selbst weiter Richtung Südwesten marschiert war. Es fiel ihm schwer zu warten, aber er tat es; er riss sich zusammen, klopfte mit einem Fuß auf den Boden, bis sie endlich ausgetrunken hatte, obwohl es kaum länger als zehn Atemzüge gedauert haben konnte. »Was für Neuigkeiten?«, fragte er mit leiser Stimme. »Was für Neuigkeiten gibt es von Liath?« »Jeden Abend, wenn die Dämmerung hereinbrach, habe ich ein Feuer entfacht und mein Amulett abgenommen, um 126 in die Flammen zu sehen, so wie wir es verabredet hatten, aber ich habe nichts gesehen. Erst heute Nacht. Sie ist in Verna.« »In Verna!« Der Name erschütterte ihn; er trat so kräftig mit den Beinen aus, dass sein Stuhl schwankte, und Gyasi sprang vor, damit er nicht umfiel. Hathui verlagerte ihr Gewicht stärker auf das andere Knie, das nicht unter einer alten Verletzung litt. »Verna. Das hat sie gesagt. Sie hält es für wahrscheinlich, dass sie heute Nacht wieder durch die Kronen reisen.« Es ärgerte ihn, denn er hatte nicht die Fähigkeit, durch Feuer zu sprechen oder zu sehen, aber vielleicht war es auch besser, sie nicht sehen und ihre Stimme nicht hören zu müssen. Es wäre eine Qual. Sogar die Zentaurinnen fingen an, anziehend zu wirken, und er gab sich große Mühe, Frauen von sich fern zu halten. Es war die einzige Möglichkeit, das Versprechen zu halten, das er ihr gegeben hatte. »Wir marschieren seit fünf Monaten in einem anstrengenden Tempo«, sagte er schließlich, »doch sie springt mit einem einzigen Satz sehr viel weiter.« »Ja, mein Prinz. Wir haben alle unseren Weg gesucht. Hättet Ihr es gewollt, hättet Ihr durch die Kronen gehen können, aber Ihr musstet die Greifen führen und Euer Heer ausheben.« »Was ich auch getan habe. Was ist mit Villam? Ist Edelmann Druthmar mit Euch zurückgekehrt?« »Ja, das ist er. Die Stadtsoldaten, die nach Osten marschiert sind, sind wieder auf ihre Höfe zurückgekehrt. Er führt ein Heer von fünfhundert Soldaten an. Mehr konnte die Markgräfin nicht entbehren. Dies sind ihre Worte: >Mein Prinz, marschiert nach Süden, wenn es sein muss, aber beeilt Euch. Wendar leidet und wird zerbrechen, wenn Ihr wie Euer Vater zu lange in den südlichen Landen bleibt. Nehmt Euch in Acht. In den südlichen Landen sind welche, die die Gabe der 127 Adlersicht beherrschen. Sie werden Euch ausspionieren, wenn sie es können, und sich wappnen. Beeilt Euch. Bringt die Krone nach Hause und den Mantel, mit dem wieder in Frieden über Wendar geherrscht wird.rückläufig